Zur Theorie der vergleichenden Literaturwissenschaft [Reprint 2020 ed.] 9783110842791, 9783110036220


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Zur Theorie der vergleichenden Literaturwissenschaft [Reprint 2020 ed.]
 9783110842791, 9783110036220

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Komparatistische Studien Band 1 Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft

Komparatistische Studien Beihefte zu „arcadia" Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Horst Rüdiger

Band 1

W DE G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1971

Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft Mit Beiträgen von Gerhard Bauer • Erwin Koppen • Manfred Gsteiger Mit einer Einleitung versehen und herausgegeben von Horst Rüdiger

w DE

G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1971

ISBN 3 11 003622 3 © Copyright by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . G u t t e n tag» Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J . Trübner — Veit & C o m p . , Berlin 30 — P r i n t e d in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Obersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der A n f e r tigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Thormann fc Goetsdi, Berlin 44

INHALT HORST RÜDIGER Grenzen und Aufgaben der Vergleichenden Literaturwissenschaft GERHARD BAUER Theorie der Literatur in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ERWIN KOPPEN H a t die Vergleichende Literaturwissenschaft eine eigene Theorie? MANFRED GSTEIGER Zum Begriff und über das Studium der Literatur in vergleichender Sicht

HORST RÜDIGER

Grenzen und Aufgaben der Vergleichenden Litaraturwissenschafl. Eine Einführung Die im Sommer 1969 in Bonn gegründete Deutsche Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft hielt am 3. und 4. Juli 1970 in Mainz ihre erste wissenschaftliche Tagung ab. Das Thema der Vorträge und Diskussionen war die Theorie der Allgemeinen Literaturwissenschaft und der Komparatistik. Drei Gelehrte der jüngeren Generation, Gerhard Bauer (Darmstadt), Erwin Koppen (Bonn, jetzt Mainz) und Manfred Gsteiger (Fribourg), waren zu Vorträgen eingeladen worden, und es wurde beschlossen, ihre Ausführungen einer breiteren Öffentlichkeit vorzulegen. Den Referenten wurde freigestellt, den Text ihrer Beiträge zu überarbeiten, zu erweitern und die Ergebnisse der Diskussionen einzubeziehen. Von dieser Möglichkeit haben sie in verschiedenem Maße Gebrauch gemacht, am ausgiebigsten Gerhard Bauer, dessen Referat am meisten umstritten war. Keiner der hier gedruckten Vorträge hat also protokollarischen Charakter; nur ihre Reihenfolge ist beibehalten worden. Unter dem Titel Komparatistische Studien — Beihefte zu „arcadia" — Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft wird mit der vorliegenden Aufsatzsammlung gleichzeitig eine neue wissenschaftliche Buchreihe eröffnet. Sie ist durch ihren Herausgeber mit der Zeitschrift verbunden, welche — nunmehr im VI. Jahrgang — die seit 1910 unterbrochene Tradition der alten Zeitschrift für Vergleichende Literaturgeschichte und Renaissance-Litteratur fortführt. Die Komparatistischen Studien werden umfangreichere Un1

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tersuchungen aufnehmen und auf diese Weise dazu beitragen, den verschwommenen Umrissen des Faches festere Konturen zu geben. Das Bedürfnis, auch auf dem Gebiete der Literaturwissenschaft theoretische Grundlagenforschung zu betreiben, ging vor allem vom New Criticism und von verwandten Strömungen aus. Sie bemühten sich, den Inhalt des Begriffes 'Literatur' genauer zu bestimmen und die Art und Weise des Verstehens von Literatur gegen unkritische Methoden abzugrenzen. In diesem Bemühen äußerte sich der Überdruß am Mißbrauch bestimmter historischer, meist ideologisch gebundener Methoden. Die Ergebnisse, die nun allmählich zu überblicken sind, haben zwar erwünschte Klärung gebracht, zugleich aber zu einem Verlust an historischem Bewußtsein geführt und die Beschäftigung mit der Literaturtheorie zu einem akademischen Spiel werden lassen, dem sich nur noch wenige Forscher entziehen wollen. Die Komparatistik nimmt leidenschaftlich daran teil, weil sie sidi einerseits noch im Stadium der Entwicklung und Konsolidierung, anderseits aber schon seit langem in einer vielberufenen Krise befindet. Einer der Gründe, der gegen ihre Existenzberechtigung als autonomes Forschungs- und Lehrgebiet ins Feld geführt wird, ist der Hinweis, daß auch die traditionellen, an die Nationalliteraturen gebundenen Zweige der Literaturforschung komparatistische Gesichtspunkte berücksichtigen, ja noch mehr: daß sie selbst gelegentlich 'komparatistischen' Charakter haben, sofern man darunter lediglich die Beschäftigung mit mehr als einer Nationalliteratur verstehen will. In der Tat behandelt die klassische Philologie die griechische und die lateinische Literatur; die Romanistik und die Slavistik bearbeiten ein ganzes Bündel von Literaturen mit stark ausgeprägter Eigenart, und selbst die am meisten autarken Fächer unter den literarischen Disziplinen, die Anglistik und die Germanistik, sind mit der Amerikanistik bzw. der Nordistik und Neerlandistik oft in Personal- und Sachunion verbunden. Diese Aufteilung in 'Fächer' und Fächerkombinationen ist historisch bedingt und u. a. eine Folge der im Grundstudium notwendigen Verbindung von Sprach- und Literaturunterricht, und sie ist nicht

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nur ein Merkmal des akademischen Betriebes im deutschen Sprachbereich; anderswo sind andere Kombinationen üblich, aber das Prinzip ist das gleiche. Ob eine solche Gliederung den Erkenntnissen der modernen Literaturkritik standhält, ob sich in ihr nicht auch die Übertragung konventioneller nationalstaatlicher und -politischer Denkgewohnheiten des XIX. und XX. Jahrhunderts spiegelt, kann hier dahingestellt bleiben. Für die Komparatistik ist die Literatur, in welcher Sprache sie auch geschrieben sein mag, jedenfalls e i n s u n d u n t e i l b a r . Mit Sicherheit spiegelt die Zersplitterung in nationale Literaturen und das Prinzip ihrer Aufteilung das Denken in sprachgeschichtlichen und sprachphilosophischen Kategorien, die Vorstellung also, das literarische Kunstwerk sei vornehmlich durch seine Sprache in einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung charakterisiert und daher an sein 'Material' enger gebunden als die anderen Künste. Akzeptiert man überdies die These, daß Geist und Sprache identisch seien, so ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der weiteren Vorstellung, daß die Literaturen beispielsweise der 'germanischen Völker' in einer nahen inneren Beziehung stünden: ein Schluß, der mindestens für die modernen Literaturen Skandinaviens und der Niederlande übereilt scheint, weil diese offensichtlich in ebenso enger geistiger Verbindung mit der französischen, russischen, angelsächsischen Literatur stehen wie mit der deutschen. — Ein anderer Fehlschluß liegt ebenfalls nahe. Da sich Sprache nicht nur als Klang manifestiert, sondern auch Trägerin von 'Weltanschauung', von Ideen und Ideologien ist, glaubt man annehmen zu dürfen, Literatur sei vornehmlich oder gar ausschließlich Manifestation von Weltanschauungen, Ideen und Ideologien, Literaturwissenschaft eine Hilfswissenschaft der Philosophie, der Politologie, der Soziologie. Sie ist es aber nur dort, wo Literatur nicht als künstlerisch geformtes Gebilde, sondern in erster Linie als Dokumentation verstanden wird. Anderseits ist aus der Sicht der Komparatistik vor der Uberschätzung des Kriteriums der Fiktion durch den New Criticism zu warnen. Nicht nur das Wort des Dichters, des 'vates', sondern das Wort eines jeden Autors, der seinen Gegenstand in angemessene 1»

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Form zu bringen vermag, hat Anspruch darauf, als literarisches Kunstwerk zu gelten; nicht nur das Epos, das Gedicht, das Drama, der Roman, die Novelle, sondern auch der Essay, der theologische und philosophische Traktat, die Biographie, die Geschichtschreibung, die Fachprosa usw. können literarische Kunstwerke sein und müssen als solche von der Literaturwissenschaft ernst genommen werden — freilich immer nur insoweit, als ihre Form dem Inhalt angemessen ist. A n g e m e s s e n h e i t , das 'prepon' der griechischen, das 'aptum' der lateinischen Literaturkritik, ist so schwer zu fassen wie die meisten ästhetischen Kategorien; sie bleibt dem Geschmacksurteil des Kritikers unterworfen und damit subjektiv. Doch der Geschmack läßt sich am Vorbild der Meister bilden, und hier liegt die Notwendigkeit für einen aus dem Consensus der Kenner entstandenen, wenngleich jederzeit revidierbaren Kanon ästhetisch vorbildlicher, 'klassischer Autoren begründet. Der klassische Autor setzt in Vers und Prosa dem Geschmack das Maß des Möglichen; um dieses Maß zu kennen, lesen wir die Klassiker — aber nicht nur die Oden und Satiren des Horaz, sondern auch die Ars poetica, nicht nur Dantes Divina Commedia, sondern auch die Vita nova und De vulgari eloquentia, neben Rabelais und Racine auch Montaigne und Pascal, neben Goethes Gedichten, Dramen und Romanen auch die kritische und wissenschaftliche Prosa, die Briefe und Gespräche. Wir erweitern also den Umfang des Literarischen sowohl über die Sprachgrenzen als auch über die Grenzen des Nur-Fiktiven, der 'Dichtung', der 'Imagination'. Aber wir steigern zugleich den Qualitätsanspruch durch ein ästhetisches Kriterium, um nicht Gefahr zu laufen, unter den Massen des Nur-Fiktiven, des Abgeschmackten, der poetischen 'Sternschnuppen' zu ersticken. Noch weniger als für die nationalliterarisch gebundenen Zweige der Literaturwissenschaft ist die Geschichte der Literatur für die Komparatistik ein Telefonbuch, in dem sämtliche Teilnehmer verzeichnet sind, oder eine Vollversammlung der UNO, in der die Stimmen der Großmächte so viel zählen wie die der politischen Provinz. Sie ist der liber aureus der ästhetisch geglückten und historisch wirksamen Werke der Literatur in allen Sprachen. Nur diese Beschränkung, welche die Forderung nach Inten-

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sivierung des Studiums der Quellen zur logischen Folge hat, madit sinnvolle komparatistische Arbeit möglich. Sie läßt dem einzelnen Forscher die freie Wahl seines Gegenstandes. Trotzdem ist der Einwand, die Komparatistik habe keine Existenzberechtigung als autonome Disziplin, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Werke wie Friedrich Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist, Mario Praz' La Carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, Ernst Robert Curtius' Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Forscher wie Georg Brandes, Arturo Farinelli, Erich Auerbach oder Hellmuth Petriconi sind von den Nationalliteraturen ausgegangen und waren als Germanisten, Anglisten, Romanisten tätig. Sie setzen jedoch die innere Einheit der europäischen Literatur als gegeben voraus und haben stets mehrere Nationalliteraturen präsent, ohne sich ausdrücklich als Kmparatisten zu bezeichnen. Sogar Literarhistoriker wie Croce, welche die Komparatistik ablehnten, sind in diesem Sinne gern 'komparatistisch' verfahren. Bei der lebenden und vor allem der jüngeren Generation von Literarhistorikern hat sich die Tendenz verstärkt. Es hat sich so etwas wie ein kosmopolitisches, genauer: ein kosmoliterarisches Bewußtsein entwickelt. Die Grenzüberschreitung ist nicht mehr Ausnahme oder geduldete Eskapade; sie wird vielfach mit einer Selbstverständlichkeit vollzogen, die auf Unbehagen an den schiefen Aspekten der einseitig nationalliterarischen Betrachtungsweise schließen läßt. Im Wirkungsbereich der deutschen Geistesgeschichte, besonders im Gefolge ihrer klassischen Epoche, liegt das kosmoliterarisch-komparatistische Verständnis der Literatur ohnehin nahe; darf sich die Komparatistik doch auf Lessing, Herder, Goethe, die Brüder Schlegel, auf Danzel und Dilthey und einige andere Literaturkritiker des XIX. Jahrhunderts mit vollem Recht berufen. Doch gerade diese Überlegungen sprechen nicht für die Etablierung der Vergleichenden Literaturwissenschaft als eines selbständigen akademischen Forschungs- und Unterrichtsgegenstandes. Man könnte sich gut vorstellen (und in der Praxis wird ja oft in dieser Weise verfahren), daß die Komparatistik eine — mehr oder minder willkommene — Ergänzung zu den etablierten philologisch-litera-

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turwissenschaftlichen Fächern bilde, sei es zur klassischen Philologie als Nachleben-Forschung jeder Art (Götter, Mythen, legendäre oder historische Gestalten, Symbole, Gattungen, Metren usw.), sei es zu den modernen Philologien als allgemeine Literaturtheorie, Analyse von wechselseitigen 'Einflüssen', d. h. von Wirkung und Rezeption, Geschichte und Theorie des Ubersetzens, Untersuchung der Tätigkeit literarischer Vermittler usw. Eine solche Eingliederung der Komparatistik in den Betrieb der Einzelphilologien verspricht Bereicherung der traditionellen Gesichtspunkte des Literaturstudiums; denn kein gewissenhafter Forscher wird sich heute noch der Illusion hingeben, er sei ein uomo universale seines Faches. Und sie läßt sich vor allem damit begründen, daß die Vergleichende Literaturwissenschaft im Prinzip dasselbe Ziel verfolgt wie die übrigen literaturwissenschaftlichen Disziplinen, nämlich das literarische Kunstwerk zu verstehen. Doch selbst wenn diese Ergänzungsfunktion der Komparatistik nicht ausdrücklich institutionalisiert wäre und das 'Fach' in eigener Regie aufträte, sollte sich jeder Komparatist klar darüber sein, daß er ein philologisches Fach betreibt. Er verliert an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, wenn er die Verbindung mit den philologischen Disziplinen löst und die philologischen Methoden als Grundlagen seiner Tätigkeit leichtfertig preisgibt. Und er begibt sich in die Gefahr des Dilettantismus, wenn er sich ausschließlich auf die modernen Literaturen beschränkt oder bestimmte, heute verbreitete Gattungen wie Roman und Drama bevorzugt. Literatur ist nicht nur regional, sondern auch h i s t o r i s c h e i n s u n d u n t e i l b a r . Ihre Ursprünge vernachlässigen, gleichgültig ob sie bei Homer, in der Bibel, im Epos der Inder, in den Weisheitslehren der Chinesen oder wo auch immer liegen, wo der Mensch seine Visionen und Ideen in ästhetisch angemessene Form gebracht hat — ihre Entwicklung überspringen heißt den Geist der komparatistischen Forschung mißverstehen. Er rächt sich durch halbe und schiefe Erkenntnisse. Der Einwand, der Stoff der Weltliteratur sei uferlos, eben darum müsse man sich auf die Neuzeit oder die neueste Zeit beschränken, ist leicht zu widerlegen. Wie der regionale Querschnitt nur sinnvoll ist, wenn er paradigma-

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tisch erfolgt, so auch der historische Längsschnitt. Nicht das Ideal einer stets zweifelhaften Vollständigkeit, nicht die verarbeiteten Massen an Stoff adeln die Tätigkeit des Literarhistorikers und insbesondere des Komparatisten, sondern allein die Auswahl heuristisch fruchtbarer Gesichtspunkte. Sie ist wie jede andere Tätigkeit, die man mit Passion betreibt, durch persönliche Neigung, durch Liebe bestimmt. Doch nur den gleichgültigen Liebhaber wird die Vergangenheit seiner Geliebten gleichgültig lassen. Durch den vom Gegenstand selbst bedingten Zwang zu sinnvoller Auswahl aus den Stoffmassen ergibt sich, daß die Vergleichende Literaturwissenschaft nicht beansprucht, eine literaturwissenschaftliche 'Superdisziplin' zu sein. Sie lehnt es aber auch ab, als Lückenbüßerin für das gescheiterte Studium universale einzutreten, indem sie eine gedrängte Übersicht über die 'great books' gibt oder ihren Adepten eine leichte Bestäubung mit 'Geschichte der Weltliteratur' zuteil werden läßt. Vergleichende Literaturwissenschaft hat nur Sinn, wenn sie i n t e n s i v betrieben wird. Intensives Literaturstudium ist philologisches Studium, dies aber nicht in erster Linie als Lehre von der Geschichte oder Struktur einzelner Sprachen oder Sprachfamilien verstanden, sondern als Studium der kleineren und größeren l i t e r a r i s c h e n E l e m e n t e : der rhetorischen und stilistischen Figuren, der Topoi und Metaphern, der Verse und Strophen, Stoffe und Motive, der Bauformen, Gattungen und Naturformen der Dichtung, der Allegorien und Symbole. Sprachen spalten die Literatur in Literaturen auf; literarische Formen verbinden die Literaturen zur Literatur. Hier steht die Vergleichende der Allgemeinen Literaturwissenschaft nahe oder ist mit ihr identisch. Da aber jene Elemente historisch und unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen entstanden sind und sich entwickelt haben, kann es keine Komparatistik ohne vergleichende L i t e r a t u r g e s c h i c h t e geben, und darin unterscheidet sie sich von der Allgemeinen Literaturwissenschaft. Aber wiederum bedarf es weniger der breiten Ubersichten als der intensiven Untersuchung bestimmter Epochen und exemplarisch gültiger Probleme. Unter der allgemeinen Voraussetzung, daß Literatur eins und unteilbar, daß sie Weltliteratur ist, wird die Kom-

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paratistik also mit Vorliebe Epochen oder Themen behandeln, in denen die kosmoliterarisdie Auffassung selbstverständlich war oder Phänomene vorliegen, die mehreren Nationalliteraturen gemeinsam sind: den Hellenismus, das Mittelalter, den Humanismus, Barock und Aufklärung, Klassik und Frühromantik in Deutschland, den Symbolismus und das Fin de siècle, die jüngste, zum Universalen drängende Entwicklung der Literatur — oder die Formen des Epos, der Lyrik, des Dramas, des Romans, den Petrarkismus, die Bukolik, die Autobiographie usw. Das gleiche gilt für diejenigen Autoren, die zwar allein in der Sprache ihrer Nation ästhetisch und gedanklich Gültiges aussprechen, aber auch jenseits der nationalen Grenzen verstanden werden, weil das, w a s sie sagen und w i e sie es sagen, jeden Menschen angeht. Die Voraussetzung der bisherigen Überlegungen war die Idee der Weltliteratur, als deren legitime Erbin sich die Komparatistik verstehen darf. Damit ist noch nichts über ihre s p e z i f i s c h e n M e t h o d e n gesagt, die sie von den Verfahrensweisen der Wissenschaft von den Nationalliteraturen unterscheidet. Zu Mißverständnissen gibt die Bezeichnung 'Vergleichende Literaturwissenschaft' Anlaß. Sie ist dem nicht glücklicheren französischen Terminus 'Littérature comparée' nachgebildet (der sich seinerseits auf Bildungen wie 'Anatomie comparée' stützen konnte) und entspricht dem englischen 'Comparative Literature'. Wir behalten sie darum bei, weil noch keine bessere vorgeschlagen worden ist; 'Literaturwissenschaft' wäre zu unbestimmt, 'Wissenschaft von der Weltliteratur' sowohl zu vage als zu anspruchsvoll. Doch fast zwangsläufig erweckt sie den Eindruck, als erschöpften sich die Aufgaben der Komparatistik im Vergleichen, oder schlimmer: als gäbe sich die Komparatistik der Illusion hin, individuell gestaltete Kunstwerke seien überhaupt 'vergleichbar'. Natürlich vergleichen wir dauernd und fast automatisch, wenn wir von Literatur sprechen. Ohne Vergleiche wären keine Wertungen möglich, und der Traum von der 'Wertfreiheit' der Literaturwissenschaft ist ausgeträumt, nicht zuletzt unter tatkräftiger Mitwirkung der Komparatistik. Doch dieses Vergleichen erfolgt in der Regel unbewußt und unmethodisch. Es kann erst dann beanspruchen,

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eine Methode zu sein, wenn es reflektiert — wenn das Verfahren so verfeinert wird, daß es dem Kritiker die Möglichkeit gibt, das Besondere, Einmalige, Individuelle, das Charakteristische und Spezifische eines bestimmten literarischen Werkes zu erkennen und zu beschreiben. Diesem Ziel dient die vergleichende Analyse nach den oben genannten literarischen Elementen. Mit ihrer Hilfe kann die vergleichende Methode allerdings ein präziser arbeitendes Werkzeug werden als die sogenannte werkimmanente Interpretation, weil sie differenziertere Gesichtspunkte in den Blick bringt. Sofern sie nicht dilettantisch betrieben wird, arbeitet die immanente Interpretation freilich ebenfalls — bewußt oder unbewußt — mit Vergleichen; denn auch wenn sie den Anschein erwecken möchte, als könnte sie die Krücken des Vergleiches entbehren und aus erster Hand der Kunst schöpfen, beruht sie auf der geistigen Präsenz zahlreicher literarischer Fakten und Zusammenhänge. Um Krücken aber handelt es sich beim Vergleich auf jeden Fall: um ein bescheidenes, aber in seinem heuristischen Wert nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel, mit dem wir versuchen, das Unvergleichliche eines Kunstwerkes besser zu verstehen. Da sich die Komparatistik stets mit mehreren Nationalliteraturen beschäftigt, gehört die Untersuchung der interliterarischen Wechselbeziehungen zu ihren traditionellen Aufgaben. Denn die Literatur eines Volkes steht nicht nur in einem andauernden historischen (vertikalen) Traditionszusammenhang, auf den die Geschichtschreiber einer Nationalliteratur besonders zu achten pflegen, sondern auch in einem meist ununterbrochenen regionalen (horizontalen) Austausch mit anderen Nationalliteraturen, der nur durch Gewalt, nicht aber durch geographische oder politische Grenzen unterbunden werden kann. Solche Wechselbeziehungen finden zunächst zwischen den europäischen Nationalliteraturen untereinander, dann auch zwischen diesen und den außereuropäischen Literaturen statt. Durch die erleichterten Kommunikationen haben sie das Gesicht der Literatur in jüngster Zeit rapide verändert. Man pflegte sie früher als 'Einflüsse' zu bezeichnen und begnügte sich oft mit deren simpler Feststellung, wodurch freilich nicht mehr gewonnen war als Fakten der Literatur-

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geschichte. Ähnliches gilt für die Stoff- und motivgeschichtlichen Untersuchungen alten Stils, deren Gefahr die Stoffhuberei ohne Rücksicht auf ästhetische Qualitäten oder die Zerfaserung des literarischen Kunstwerkes in einzelne Motivstränge war. Es ist kein geringes Verdienst der intensiven Interpretationsmethode, daß sie durch Kritik und Beispiel die Kinderkrankheiten der Komparatistik hat überwinden helfen. Die ursprüngliche Fragestellung bleibt jedoch fruchtbar, und hier setzt die Aufgabe der modernen Komparatistik ein. Zunächst tut sie gut daran, die ominöse Bezeichnung 'Einfluß 5 zu meiden und von Wirkung und Rezeption zu sprechen — von Tätigkeiten also statt von einem passiven Verhalten, dem ein Autor anscheinend willenlos unterliegt. Es soll also nicht e i n Begriff durch zwei andere ersetzt und junger Wein in alte Schläuche gefüllt werden; vielmehr soll die andere Terminologie andeuten, daß etwas prinzipiell Anderes gemeint ist. Wirkungen gehen von lebendigen Kräften aus, mögen diese auch durch abstrusen Gehalt oder durch unzulängliche Formen verdeckt sein. Und Rezeption meint wiederum die Leistung einer lebendigen Kraft, die das Übernommene — den Stoff, das Motiv, die Form, den Stil, die Metapher, den Topos, die Allegorie, das Symbol, das (oft versteckte) Zitat — in einer ganz bestimmten, allein für sie charakteristischen Weise adaptiert. Sie gestaltet es um, damit sicb's nicht zum Starren waffne, und verleiht ihm einen neuen literarischen Stellenwert, der zugleich ein anderer religiöser, philosophischer, psychologischer, politischer, sozialer Wert sein kann. Nun verlaufen aber Wirkung und Rezeption erfahrungsgemäß nicht immer geradelinig von Autor A zu Autor B, und wohl noch seltener rezipiert ein bedeutender Autor Form oder Gehalt unmittelbar von einem bedeutenden Vorgänger. Vielmehr sind in der Regel bescheidene, manchmal triviale Vermittler die Träger und oft unfreiwilligen Mitgestalter der Rezeption. Bei der übersetzten Literatur ist, vor allem in neuester Zeit, zunächst die von Agenten, Lektoren, Verlegern getroffene Vor-Auswahl zu bedenken, die oft genug durch außerliterarische, kommerzielle oder ideologische, Beweggründe bestimmt ist. Hier stellen sich der Komparatistik literatursoziologische

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Aufgaben, deren Tragweite für die Literatur selbst in vollem Umfang erst jüngst erkannt worden ist. Im engeren Bereich der Literatur sind es die Ubersetzer, Herausgeber, Kommentatoren, Kritiker, welche die charakteristische Art der Rezeption durch ihre — ebenso charakteristische — Auswahl und Interpretation beim rezipierenden Autor wie beim Publikum vorentscheidend mitbestimmen. Wo jedoch direkte Übernahme vorliegt, gehört die Quelle oft der trivialen, der unterhaltenden, der ästhetisch und ideell unteren oder mittleren Schicht der Literatur an. Ein klassisches Beispiel sind die vielfach trüben Quellen und Ubersetzungen, aus denen Shakespeare geschöpft hat. Wir lesen sie nicht um ihrer selbst willen; sind sie doch nur insofern von Belang, als sie uns in die Lage versetzen, Shakespeares Eigenart unter Gesichtspunkten zu analysieren, die sich der immanenten Interpretation seines Werkes verschließen. Hier ist also eine Ergänzung dessen nötig, was wir oben den Grundbestand der ästhetisch geglückten und historisch wirksamen Werke nannten, auf den sich die Komparatistik aus theoretischen Überlegungen wie aus Gründen der zeitlichen Ökonomie stützen muß. Die Quelle, welche Rezeption bewirkt, ist in ihrer Funktion als auslösende Kraft für die Komparatistik von erheblichem Wert, selbst wenn sie geringe literarische Bedeutung hat — wenn sie auch nur eine literarische 'Sternschnuppe' ist. Sie ermöglicht den fruchtbaren Vergleich, der zum differenzierteren Verständnis des literarischen Werkes führt. Ein weiteres traditionelles Thema der Vergleichenden Literaturwissenschaft ist das 'Bild5 einer Nation oder eines Nationalcharakters im Spiegel der Literatur einer anderen Nation. Dabei pflegt sich herauszustellen, daß eine 'image' zum 'mirage' tendiert, zum Mythos, wobei idealisierende oder karikierende oder beide Züge über die emotionsfreie Darstellung dominieren. Diese Forschungsweise hat sich vor allem in Frankreich im Gefolge des Deutschland-Buches der Madame de Staël entwickelt. Je nach Sympathie oder Antipathie der Autoren, die sich mit dem Nachbarvolk auseinandersetzten, je nach der politischen Lage, in der sich die Nachbarn gerade befanden, ist das Deutschland-Bild der französischen Literatur teils verklärt, teils verzerrt; auch die Darstellungen selbst sind oft nicht frei von

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politischen Leidenschaften, zumal wenn ihre Verfasser auf die politische Willensbildung ihrer Nation einwirken wollten. So sieht das Deutschland-Bild der französischen Literatur zur Zeit Napoléons und der Befreiungskriege anders aus als nach dem Krieg von 1870/71 und nach der Reichsgründung. Umgekehrt ergeben sich ähnliche Schwankungen: Von Kleists Gallophobie bis zu Nietzsches Gallomanie werden viele Variationen des Themas durchgespielt. Und nicht allein für das Deutschland-Bild der französischen und das Frankreich-Bild der deutschen Literatur gelten diese Beobachtungen, sondern für die ganze Bildergalerie, die im Zeichen der Image-Forschung entstanden ist. Nur ganz vereinzelt sind so leidenschaftslose, hellsichtige, realistische Analysen geschrieben worden, wie sie Tocqueville von Amerika gegeben hat. Denn in der Regel ist es weniger die Erfahrung als die Phantasie, die an den jeweiligen 'Bildern' arbeitet: Die 'image' erhält durch 'imagination' ihre charakteristischen Merkmale. Doch es ist nicht die freischaffende poetische Einbildungskraft, die hier am Werke ist, sondern eine durch außerliterarische Kräfte, durch religiöse oder politische Leidenschaften dirigierte und verwirrte Phantasie. Selten vom Urteil und meist vom Vor-Urteil bestimmt, sagt sie mehr über den Bildner als über den Abgebildeten aus. Porträtähnlichkeit ist von ihr nicht zu erwarten. Da diese Art von säkularisierter Mythologie für das Zusammenleben der Völker meist eine verhängnisvolle Rolle spielt, ist es nützlich und notwendig, sie zu analysieren. Nur fragt es sich, ob eine derartige Aufgabe die Kompetenz der Literaturwissenschaft nicht überschreite und besser der Psychologie, der Soziologie oder Politologie überlassen bleiben solle. Für sie darf das literarische Werk den Charakter eines Dokumentes haben, für den Literaturkritiker nur insoweit, als er das Dokument in genuin literaturkritische Zusammenhänge zu stellen vermag. Bei der Kritik der Image-Forschung ist indessen zu wenig beachtet worden, daß die Bilder nicht ausschließlich durch Emotionen, Sympathien und Antipathien geformt werden. Im Hintergrund wirkt oft eine andere Kraft mit, die deutlicher hervortritt, wenn sie sich nicht auf das Kollektivbild eines politischen Nachbarn bezieht,

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welchem die menschliche Natur mit Mißtrauen zu begegnen pflegt. Es ist die Faszination durch das Fremde überhaupt, das NichtAutochthone, das Exotische, oft in Gestalt des Femininen; sie führt eher zur Verklärung als zur Verzerrung des Bildes. Goethes Mignon oder M^rimees Carmen haben eine andere Qualität als Lessings die Fortune korrigierender Riccaut oder der krautverschlingende, biertrinkende, selig schunkelnde, brutal reagierende deutsche Spießer des Vaudeville, so treffend sie im einzelnen karikiert sein mögen. An der Wiege a l l e r dieser Gestalten stand die grenzüberschreitende, vom Reiz des Andersartigen faszinierte oder perhorreszierte Phantasie. Aber es ist ein wesensmäßiger Unterschied, ob sie sich den Anschein der Porträtierfähigkeit gibt oder, auf jeden Scheinrealismus von vornherein verzichtend, eine Gestalt hervorbringt, deren charakteristisches Merkmal gerade die unreale, nicht selten phantastische, durch einen mehr imaginären als realen nationellen Akzent bestimmte Existenz ist. Nicht als Italienerin ist Mignon, Carmen nicht als spanische Zigeunerin interessant, beide aber als exotische Gestalten, deren Reiz durch Heimat und Herkunft sein unverwechselbares Timbre erhält. Solcher Exotismus ist in der Literatur weit verbreitet, und nicht nur in der Romantik, wo man ihn zuerst sucht und meist auch findet. Er setzt mit den fremden Frauen ein, denen Odysseus auf der Heimfahrt begegnet; er erscheint im hellenistischen und im barocken Roman als märchenhaftes 'Afrika', im mittelalterlichen Epos als abenteuerreiches 'Arabien' und 'Indien'; er ist eine Triebkraft aller Robinsonaden und ein Element des deutschen GriechenSyndroms — denn nicht nur Mignon, auch Helena spielt mit dem Charme der Fremden, als sie von Faust das Reimen lernt, und noch Marianne wird als Suleika kostümiert; Baudelaire besingt ihn in Gestalt einer dunkelhäutigen Frau; Melville jagt ihm über die Weltmeere nach, und als trivialster Aufguß geistert er wohl noch durch die Subliteratur über kleinbürgerliche Maghrebinien-Fahrten und durch die Science Fiction der Halbwüchsigen und Halbgebildeten. Das Exotische gehört offenbar zu den primären Reizen der literarischen Phantasie, und selbst der Heimatroman kann es in Gestalt eines unheimlichen Ahasver als Gegenbild zum verwurzelten Biedermann

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nicht entbehren. Diesen Exotismus zu untersuchen, und zwar in allen Masken, unter denen er auftritt: als Lust am Abenteuer und an der Verkleidung, als Escapismus aus einer ennuyant gewordenen Umwelt, als Fernweh, 'Sehnsucht' oder als Xenophobie, die ihn zur Rechtfertigung der eigenen Borniertheit braucht, aber auch als sublimiertestes Streben zur Vereinigung mit dem, was man, sehnsüchtigster Gewalt, ins Leben ziehn möchte, um das Ungenügen am eigenen Wesen zu befriedigen — diesen Urtrieb der bildenden Phantasie zu analysieren scheint eine lohnendere Aufgabe als die Untersuchung emotionsbelasteter Kollektivbilder. Welcher literaturwissenschaftlichen Disziplin stünde sie besser an als derjenigen, die ihrem Wesen nach die Grenzen überschreitet? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit haben wir einige spezifische Aufgaben der Komparatistik zu umreißen versucht. Andere, auch solche der Allgemeinen Literaturwissenschaft, ergeben sich aus den folgenden Referaten. Wenn sich die Komparatistik veranlaßt sieht, ihre Gesichtspunkte zur Literaturtheorie zur Diskussion zu stellen, so nimmt sie nicht allein zu ihrem Vergnügen an einem Vorgang teil, der selbstgenügsames Spiel zu werden droht. Als umstrittene, bisher nur an wenigen Universitäten im deutschen Sprachgebiet eingeführte Disziplin ist sie gezwungen, die Grundlagen ihrer Existenz genauer zu durchdenken als die literarischen 'Schulfächer', an deren Existenzberechtigung kein vernünftiger Mensch zweifelt, selbst wenn er ihre Methoden der Kritik unterzieht. Ohne die Probleme erschöpfen zu können, möchten die folgenden Abhandlungen auch die Grundlagendiskussion befördern helfen. Der beste Nachweis der Unentbehrlichkeit ist aber nicht die theoretische Diskussion, denn Gründe und Gegengründe erschöpfen sich rasch und dienen am Ende, mit Goethe zu sprechen, der Unterhaltung der Gelehrten untereinander. Den Nachweis erbringt allein die überzeugende Leistung. Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen hätte ihren vornehmsten Zweck erfüllt, wenn sie komparatistische Studien anregte, die im Geiste der kosmoliterarischen Tradition zu neuen Ergebnissen führen. Cornell University, 21. Februar 1971

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Theorie der Literatur in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft Das Thema ist nicht dadurch zu erfüllen, daß die theoretischen Äußerungen zusammengestellt werden, die von praktizierenden Komparatisten aufgestellt wurden und das Selbstverständnis sowie den wissenschaftlichen Fortgang dieser Disziplin garantieren sollen. 'Theorie' erschöpft sich nicht, wie Wellek meint, in einem „Organon von Methoden und allgemeinen Begriffen", erst redit nicht in den vielen Regeln (oft Faustregeln), Einordnungen, Abgrenzungen und Vorentscheidungen, mit denen Literaturwissenschaftler gern deklamatorisch festsetzen, warum etwa poetische Literatur 'eigentlichere' Literatur sei als andere oder warum die innere Organisation von Werken einen 'genuineren' Forschungsgegenstand darstelle als alles, was in dieser Organisation organisiert ist. Die Frage nach der Theorie der Literatur ist eher zur Kritik und Revision als zur Bestätigung des laufenden Wissenschaftsbetriebs angetan. Eine solche Kontestation scheint mir auch nötig und der Wissenschaft bekömmlicher als ihre „Konsolidierung", die in der Programmerklärung der arcadia 1966 propagiert wurde, oder gar ihre Erhebung von einer nur komparativen zur „absoluten" Wissenschaft, die François Jost 1968 postulierte. Diese zugegeben vorlaute, meinetwegen unverschämte Polemik theoretische Besinnung versus Wissenschaftsbetrieb scheint mir deshalb unerläßlich, weil der fatale Hang zu einer abgeschlossenen 'autonomen' Wissenschaft viele komparatistische Arbeiten in einen zu engen theoretischen wie praktischen Rahmen eingrenzt und nützliche interdisziplinäre (nicht nur interphilologische) Erkenntnisse,

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für die dieses Fach durchaus den Boden böte, verkürzt oder vereitelt. Spezialisierung hatte einen großen und hat noch einen beträchtlichen methodischen Wert. Komparatistik ist aber ihrer Bestimmung nach ein anti-spezialistisches Fach, dazu da, die Beschränkung auf eine Einzelerscheinung oder Einzelperspektive zu korrigieren und Zusammenhänge zu erschließen, die ein Werk, eine Strömung, eine Epoche historisch vollständiger, also auch theoretisch richtiger erkennen lassen. Diese Erweiterung der Reflexion durch den Gegenstandsbereich sollte nicht dadurch kompensiert werden, daß der Komparatist, um doch noch eine 'Eigenständigkeit' seines Fachs zu wahren, nun einen rigorosen Maßstab zur sachlichen Bestimmung seiner Gegenstände anlegt und etwa nur 'Texte', nur die 'wertvollen', ästhetischen, 'eigentlich' literarischen von ihnen oder das 'Innerliterarische' daran zur Domäne seiner Forschung macht. Es ist zwar ein wissenschaftlicher und leider auch geisteswissenschaftlicher Habitus, einen Forschungsgegenstand auf das zu begrenzen, wovon der Forscher als Spezialist etwas versteht, ein literarisches Werk also auf sein literarisches Funktionieren. Aber das ist nicht das einzige und kein sehr befriedigendes Wissenschaftskonzept. Wie fragwürdig es ist, verrät sich spätestens dann, wenn solche Puristen den Autoren (sei es Hölderlin oder Shaw oder Majakovskij) verübeln, daß sie keine Fachidioten f ü r Dichtkunst sind und sich auch praktisch und systematisch mit dem beschäftigen, was sonst als Inhalt, als Strukturmodell, als Zielprojektion und als Werkzeug in ihre Dichtungen eingeht. Die 'Vergleichende' Literaturwissenschaft sollte sich nicht furchtsam an die ästhetisch verdinglichte ontologische und statische Bestimmung der Literatur als Werk, 'Gefüge' oder Text halten, die sich schon in den Einzelphilologien höchst prekär auswirkt. Sie hätte zumal in ihrer ehrenvollen Verbindung mit der 'Allgemeinen' Literaturwissenschaft die Aufgabe, einen weiteren, dynamischen Begriff von der Literatur zu entwickeln, der ihrem gesellschaftlichen Inhalt, ihrer geschichtlichen Bedingtheit, ihrer wirkungsgeschichtlichen Potenz, ihrer Stellung im gesamten Produktions- und Kommunikationsprozeß gerecht wird. D a die Komparatistik (wie Escarpit postuliert, wenn auch selten praktiziert) eine spezifisch kollektive

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Wissenschaft ist und zu ihrer Selbstrevision die praktische Arbeit vieler Komparatisten benötigt, kann ich hier nur roh und provokativ einige Thesen dazu anbieten. 1. Der Gegenstand der Literatur und daher auch ihrer Wissenschaft sind nicht literarische oder 'poetische' Verhältnisse, sondern reale, weltliche, geschichtlich-gesellschaftliche Verhältnisse. Die Forschung hat zwar in den letzten fünfzig Jahren, seit dem Anstoß durch den russischen Formalismus, beträchtliche Fortschritte in der Erkenntnis der 'Eigengesetzlichkeit von dichterischen Texten gemacht. Ein gedichtetes Werk unterscheidet sich danach in seinem Weltaufbau, seiner Kausalität und zeitlichen Kontinuität, seinem (expressiven statt pragmatischen) Sprachgebrauch signifikant von jedem alltäglichen oder wissenschaftlichen Text. Wenn die Forscher jedoch aus diesen validen formalen Feststellungen eine 'eigene Realität des Kunstwerks ableiten und sie von der Welt der sonstigen sprachlichen und gesellschaftlichen Interaktion abtrennen, machen sie aus einem eigenartigen Lebewesen ein Gespenst. Gerade ihre Realität verdanken diese Gebilde nicht ihrer imaginativen Besonderheit, sondern ihrem wie auch immer verfremdeten Bezug auf historische und psychische Realien. Linguistisch ausgedrückt liegt die falsche Verabsolutierung daran, daß bisher mit einseitiger Beharrlichkeit die Syntax der Literatur (sowie ihrer Phonetik) herausgestellt wurde und daß ihre Semantik und Pragmatik, die mehr als nur literarische Kenntnisse erfordern, noch kaum in Angriff genommen wurden. Der verbreitete philologische Glaubenssatz, daß in einem literarischen Werk die ästhetische Funktion 'überwiege' oder jeden programmatischen Inhalt neutralisiere', ist durch nichts gerechtfertigt als durch das Interesse des Betrachters oder Forschers, sich auf die ästhetische Erscheinung zu konzentrieren und alle störenden Bedingungen auszuschalten. Gewiß kann man den Werther, nachdem er lange genug abgelagert und in den Bildungskanon eingegangen ist, 'rein ästhetisch' betrachten und sein politisch-psychologisch-voluntatives Konzept für demgegenüber vergänglich, auch wegen seiner Inkonsistenz und historischen 2

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Unentschiedenheit für tatsächlich vergangen deklarieren. Man kann ihn aber nicht aus seiner ästhetischen Kraft (oder Systematik oder Dignität) erklären. Denn ohne jenes historisch-politische Konzept wäre er nicht nur insgesamt ungeschrieben geblieben, sondern hätte auch keine einzige ästhetische 'Struktur ihre konkrete spannungsreiche Verwirklichung gefunden. Ehe Autoren tot sind, leben sie, behauptet Sartre. Literarische Werke, auch das subjektivste Gedicht und der hermetischste Weisheits- oder Nonsense-Spruch, spielen niemals in einem 'rein literarischen' Bereich, einem Raum des autonomen Bewußtseins. Sie enthalten in ihrem Vor- und Darstellungsmaterial die Produktions-, Distributions- und Herrschaftsverhältnisse ihrer Zeit und haben aktiven Anteil an den Verinnerlichungs- und Disziplinierungskonventionen, mit denen die historischen Verhältnisse im subjektiven Verhalten befestigt werden. Natürlich reproduzieren sie nicht nur die Verhältnisse und ihre Spiegelungen im Bewußtsein. Wenn sie nicht mehr als das leisteten, bloße Belege für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte lieferten, wären sie jederzeit auch durch statistisch und ökonomisch signifikanteres Material ersetzbar. Vielmehr enthalten sie in jedem Zug der Darstellung zugleich eine Stellungnahme pro oder contra: Sie befestigen, verklären, kritisieren oder entlarven die geltenden Organisationsformen des materiellen Daseins, unterstützen oder verwerfen zu Ende gehende Formen, propagieren neu aufkommende oder warnen vor ihren Folgen oder postulieren weit vorgreifende, noch kaum oder gar nicht realisierbare Veränderungen. Der Wert dieser niemals nur mechanischen, immer zugleich wertenden Widerspiegelung läßt sich durchaus als 'geistiger' oder Erkenntniswert begreifen, aber eben deshalb nicht von den materiellen Verhältnissen lösen: Diese werden durch die verkürzende und verfremdende, typisierende, wohlwollende oder kritische Abbildung im literarischen Modell erkennbar gemacht, auf ihr Recht, ihre Macht, ihre Kosten untersucht. Zwar werden sie transformiert, neu gebaut nach Gesetzen der phantastischen Veränderung, Uberbietung, Kontrastbildung. Aber sie liegen noch den autonomsten dichterischen Konstruktionen zugrunde als das Fundament, von dem

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aus die gedichteten Verhältnisse erst ihren beschreibenden und intentionalen Sinn erhalten. Selbst die Idylle ist als Abstoßung von und Auseinandersetzung mit den wahren unidyllischen Zuständen ihrer Zeit zu lesen. Sie enthält in ihrer fragilen, unglaublichen Zufriedenheit die Unzufriedenheit mit "der Welt'; sie antwortet in ihrem beschränkten Autarkismus auf die realen Befreiungsbemühungen und deren Ohnmacht; sie trägt noch mit dem reaktionärsten Teil ihres Programms: mit der Verklärung einer schon zu Theokrits und Vergils Zeiten nicht mehr heilen Natur zur kostbaren, mit Bildungswerten befestigten Natur, zur Forderung nach einer 'Natur' bei, die nicht idyllisch draußen anzuschauen, sondern von Menschen in humanen Sozietäten zu verwirklichen wäre. Literatur ist vorgestellte Weiterarbeit an der Realität, deutende, wertende, prospektive Auseinandersetzung mit ihr, auch da, wo sie die häßliche Realität ablehnt und sich von ihr zurückziehen will. Literarische 'Formen' samt ihrer 'Eigengesetzlichkeit' lassen sich nur dann wissenschaftlich analysieren, wenn man ihre Funktion in dieser Auseinandersetzung mit der Realität bestimmt. 2. Literatur ist nie ohne Tendenz. Nicht nur in ihrem Gegenstand, auch in ihrem Fertigungs- und Wirkungsprozeß ist Literatur gesellschaftlich. Ein Autor kann so introvertiert sein wie er will, ein Werk so 'selbst'-genügsam wie Valerys Narcisse — alles Erdachte und Geschriebene nimmt teil an der Interaktion zwischen Hersteller und Empfängern. Dieser Wirkungszusammenhang setzt nicht erst ein, wenn das Werk publiziert, dem aktuellen Verständnis und Mißverständnis der Konsumenten ausgeliefert ist. Schon bei der Konzeption und Ausführung bezieht sich der Autor notwendig auf die Vorstellungen, Erwartungen, Vorurteile, Tabus, Verhaltensweisen seiner Zeit, der derzeitigen Öffentlichkeit und seiner (oder einer anderen angesprochenen) sozialen Gruppe. E r arbeitet mit und an diesen Vorstellungen, baut sie aus zu geschlossenen Konstruktionen, macht sie dadurch sichtbar, in ihrem Begründungszusammenhang und ihren Konsequenzen durchschaubar. Mit der Arbeit an den Vorstellungen seiner Adressaten zieht er 2*

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diese Adressaten selbst in seine Arbeit hinein, zieht sie an, schmeichelt ihnen, provoziert, kompromittiert sie, macht sie haftbar für das, was sie annehmen und tun. Jeder formulierte Satz evoziert eine solche Vorstellung vom Leser und von seinem Verhalten, übt also, potentiell, eine Wirkung auf ihn aus, zielt auf eine Bewußtseins- und Verhaltensänderung. Das gilt nicht nur von der kritischen und aufklärenden Literatur. Auch die verklärende, beruhigende, harmonisierende Literatur ist in diesem Sinne tendenziös, vom Panegyricum über die vielen Genrebilder und 'poetischen Realistica' bis zum Wiegenlied; denn sie bestärkt, isoliert, verabsolutiert Haltungen, die noch nicht so fest waren und noch Rechtfertigung nötig haben. Ebenso enthält die einfache, vermeintlich neutrale Feststellung mindestens dasjenige Wirkungsquantum, das von einem erkannten Verhältnis im Gegensatz zum gleichen als unerkannten ausgeht. Deshalb ist jede ontologische Literaturbetrachtung, die von diesem Interaktionszusammenhang absieht und das Kunstwerk als in sich ruhendes zweckfreies Gebilde auffaßt („so rein, so seiend") prinzipiell inadäquat und irreführend. Es gibt keine Werke, die für bedürfnislose, nur schauende Menschen, für die Augen Gottes oder des idealen, darüberschwebenden Komparatisten geschrieben wären. Und es gibt keine menschlichen Subjekte, die ihre praktischen Intentionen und Erkenntnisinteressen bis auf Null reduzieren und eine Dichtung in ihrem reinen Ansichsein betrachten könnten. Die es dennoch behaupten, verraten sich durch ihren Gebrauch von Substantialitäts-, 'Qualitäts-', Wert- und Ordnungsvorstellungen als durchaus interessenverhaftet und tragen diese bourgeoisen Interessen lediglich undiskutiert in ihre rein wissenschaftlichen Analysen hinein. So ist leider festzustellen, daß die vier obersten 'Werte' der Literaturwissenschaft, im statistischen Durchschnitt aus ihren namhaftesten Lehrbüchern, heute noch in der Fassung geltend gemacht werden, die sie zuletzt in der Blütezeit des Individualismus, des kapitalistischen Liberalismus und schöpferischen Unternehmertums erhalten haben: 'handwerkliches' Können; Vollendung oder 'Ganzheit'; 'Harmonie' oder Ausgewogenheit, meist mit dem Zusatz: nicht ohne Spannung, oder möglichst komplex; Eigenständigkeit wenn nicht des Autors, so

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doch des Werks. Der allzu irdische Bezug auf die realen Vorurteile und Interessen des Publikums wird zum bloßen 'Material' oder 'äußeren' Anlaß herabgesetzt, die eigentliche Substanz in die Gestaltung verlegt, welche eine desengagierte, gegenüber den Interessen neutrale, durch poetische Mittel überlegene und 'gerechte5 Haltung herstelle und für den ebenso enthobenen Leser bereitstelle. Dichtung macht heiter oder wenigstens ruhig, stellen zahlreiche Komparatisten an ihrer Ruhe und Heiterkeit fest. Nur welchen Interessen diese Ruhe, die Neutralisierung von Interessen und Entschärfung von Interessenkonflikten dient, mögen sie weder an der Dichtung noch an ihren Auslegungsmustern untersuchen. Natürlich ist die hartnäckig behauptete Reduktion von materiellen Wirkungsabsichten auf eine reine, interesselose Anschauung in Kunstwerken nicht einfach falscher Schein. Sie ist erstens historisch begründeter Schein, zweitens eine verkehrte Kategorisierung von durchaus zutreffenden Beobachtungen zur Wirkungsweise der Kunst. Historisch läßt sich der ästhetische Substantialismus und damit der fatale Konservatismus der Literaturwissenschaft einigermaßen simpel erklären. Sie beschäftigt sich fast ausschließlich mit abgeschlossen vorliegenden Werken, mit viel mehr vergangenen als zeitgenössischen, und begreift seit den Alexandrinern zumeist die neueren Werke nach dem Muster der alten statt umgekehrt. Je älter aber ein Werk ist, umso schwerer erkennbar sind die historischen Tendenzen und Auseinandersetzungen, die in ihm eine Lösung (als Handlungsabschluß und als programmatische Summe) gefunden haben. Die politisch-sozialen Fronten der damaligen Entwicklungsstufe sind nicht nur vergangen, sie sind auch im Laufe der Wirkungsgeschichte in immer neue Fronten übersetzt und dabei zunehmend verallgemeinert und allegorisiert worden. Shakespeares Könige und große Herren oder Balzacs Vitalbürger oder gar die Räuber und rivalisierenden Adligen der alten Epen sind für uns nicht mehr die akute, erregende, bestechende und herausfordernde Gefahr, die sie für ihre Autoren und deren Zeitgenossen waren. Ihre Kämpfe und Siege tun keinen Heutigen direkt weh. Sie wurden dem Bildungsbürger mit historischer Notwendigkeit zu Paradigmen von überzeitlichem,

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geistigem, anthropologisch bedeutsamem Verhalten. Wirkungsgeschichte bedeutet immer auch ein Verblassen, Neutralisieren, Entpolitisieren der ursprünglichen Wirkung. Es fragt sich nur, ob die Wissenschaft diesen tendenziellen Wirkungsnachlaß mitmachen und mit eigenen Programmen der ästhetischen Auslegung rationalisieren soll, oder ob umgekehrt ihre Aufgabe darin bestünde, die historisch verblaßte oder verschüttete Frontstellung durch Aktualisierung samt Politisierung wieder bewußt und neu wirksam zu machen. Die wirkungsgeschichtliche wie die wissenschaftliche Neutralisierung der Interessen kann sich allerdings auf einen Prozeß der Distanzierung in der Verfertigung des Werks selber stützen, und darüber ist die Hauptauseinandersetzung zwischen materialistischer und formalistischer Literaturbetrachtung zu führen. Es trifft zu, daß viele Autoren sich der direkten Parteinahme und eines genau definierten Wirkungsprogramms enthalten. Sie nehmen sich alle Freiheiten der Kunst und des Spiels, schweifen aus, phantasieren, schaffen Unsinn und Unordnung, halten Aussagen oder Verhältnisse in der Schwebe. Kunst oder Literatur läßt sich nicht auf die konventionellen Normen der Erkenntnis und Beeinflussung verpflichten. Sie protestiert gegen die eingeengte, von Gewohnheiten verstellte Wahrnehmung, gegen den Leistungs-, Ablieferungs- und Anwendungszwang für ihre Produkte, gegen die Hast und prompte Abschließung des Urteils. Sie schafft eben damit neue, utopische', von den vorhandenen abweichende und ihrer Intention nach effektiv vorantreibende Modelle gesellschaftlicher Interaktion, erprobt weiter ausgreifende, am Bestehenden weniger festklebende Wahrnehmungsmöglichkeiten und übt andere Kommunikationsformen ein. Nach der formalistischen Erklärung ist es die Autonomie der Kunst, ihre Enthaltsamkeit von weltlichen Wirkungsabsichten, ihre Zweck- und Interesselosigkeit, die sie zu dieser Entdeckung neuer Möglichkeiten befreit. Die Erklärung ist jedoch kaum stichhaltig, streng genommen eine Art von Hokuspokus. Nicht das Ausklammern von Interessen, sondern das erweiterte, mehr und scheinbar Fernliegendes einbeziehende Urteil über Interessen, das seinerseits selbstverständlich ein interessiertes Urteil ist, ermöglicht die Abwei-

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chung von den fixierten und den Entwurf neuer Verhältnisse. Das 'Spiel' selbst, das so häufig für die realitätsenthobene und interessefreie Eigenständigkeit der Kunst angeführt wird, ist ein eminent gesellschaftlicher Vorgang (etwa Becketts Endspiel). Alle seine Rollen enthalten Deutungen und mithin Stellungnahmen zu sozialen Positionen. Die Spielregeln, so willkürlich sie gesetzt sein mögen, sollen immer auch den Leser zur Eintragung seines eigenen Verhaltens einladen, verführen oder überrumpeln. Noch das luftigste Spiel mit Worten setzt sich in Wirklichkeit zugleich mit dem Bezeichneten und den ablenkenden oder brutalen oder fahrlässigen Verfahren der Bezeichnung auseinander, sei es im beschimpften Publikum selbst, pauschal, oder gezielt in einzelnen Gruppen oder vornehmer in der Allgemeinheit oder Öffentlichkeit. Was an einem Kunstwerk 'herauskommt' an Erkenntnis, an Befreiung und an Mut zur Befreiung, ergibt sich nicht als Abfallprodukt eines nur auf Formen gerichteten Bewußtseinsspiels. Es muß schon in das Werk hineingesteckt, d. h. bei seiner Produktion, mit allen Mitteln der Kunst, reflektiert und wirksam gemacht werden. Die Kunst durchdringt nach Hegel die harte Schale der Wirklichkeit. Das heißt zum einen: nach den Soliditätsvorstellungen, die seine Ästhetik entscheidend bestimmen, daß sie auf eine vorzügliche Weise dazu beiträgt, durch die erkenntnishemmende äußere Erscheinun in die wahre Realität einzudringen. Schon das könnte sie nicht, wenn sie nicht an einem bestimmten ('wahren') Bild der Realität und am Aufbrechen von bestehenden Abkapselungen interessiert wäre. Es heißt zum anderen (was erst die philosophisch-ästhetische Weiterarbeit an Hegel gezeigt hat): daß die Kunst die harte Realitätsschale, die uns selber einschließt, aufbricht, also nicht in die Realität hinein-, sondern aus ihr hinausführt. Diese polemische Absetzung von der 'Wirklichkeit' — als der engen, unbefriedigenden, bestehenden Ordnung der Verhältnisse und Erkenntnisse — wird von den älteren und neuen Formalisten, am leidenschaftlichsten von den Surrealisten und ihren Fürsprechern, als eine prinzipielle, kategoriale Befreiung von den Beschränkungen durch die Realität überhaupt, als Eröffnung einer permanenten Möglichkeitsform verstanden. Aber der

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Widerspruch gegen die Wirklichkeit beansprucht, wenn er sich nicht selbst auslöschen will, seinerseits Wirklichkeit — in einer neuen' oder 'besseren' Ordnung — und übt reale, nicht nur erdachte Wirkungen aus. Selbst die unaufhörliche Reflexion und Revision, selbst der perfekte Möglichkeitsmensch oder Mann ohne Eigenschaften zielen auf Veränderungen, die sich sedimentieren und damit Wirklichkeit jeder (auch der abgelehnten) Art gewinnen würden. Die Poesie schafft eingebildete Gärten mit wirklichen Kröten darin, sagt Marianne Moore. Das bedeutet mehr, als daß das imaginierte Gebilde eigene Realität als poetisches Werk gewinnt. Die geschaffene Realität wird wirksam und drastisch: Kröten haben ihre Realität nicht als Anschauungsobjekte, sondern darin, daß sie uns ins Gesicht springen und bestimmte praktische Reaktionen hervorrufen. Wenn die Literaturwissenschaft Wissenschaft sein will, darf sie sich nicht gutgläubig in diesen Gärten der Einbildung ergehen. Sie muß die realen Wirkungen sowohl des Scheins wie seines Zusammenstoßens mit der unpoetischen empirischen Wirklichkeit studieren. Die raffinierteste Form der Entwirklichung von Werken, Adornos Kunstphilosophie, insbesondere sein Verdikt über das „Engagement", reinigt das energisch festgehaltene Wirkungsmoment der Literatur, ihr prinzipielles „Es soll anders sein" so weit von aller empirischen Einwirkung auf die Realität, daß es tatsächlich suspendiert und die Literatur zur Totenstarre verpflichtet wird. Werke sind nach Adorno heute nur noch als „rücksichtslos autonome" gerechtfertigt. Sie dürfen nicht agitieren, nichts wollen oder verkündigen, kein kompromittierendes „Einverständnis" mit den Lesern suchen, sich nicht in den Wirkungsmechanismen des Kunstbetriebs und der Politik „encanaillieren". Sie sind „Anweisungen auf die Praxis, deren sie selbst sich enthalten": Nur durch ihren Verzicht auf alle positive, anwendbare Programmatik können sie ihr Gegenbild gegen die heute überall falsche Praxis zu der notwendigen Schärfe verdichten. So philosophisch jedoch diese Gegenüberstellung von künstlerischem Bild und weltlichem Wirkungszusammenhang klingt, so undialektisch ist sie in ihrer Verabsolutierung. Adorno postuliert Reinheit und Askese an einer Stelle, wo Vermittlung schwierig, aber

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nötig ist und de facto immer geleistet wird. Er läßt als Kunst nur gelten, was die radikale Ausweglosigkeit beweist und allenfalls noch eine ebenso totale, ferne, durch keine Aktivität zugängliche „Rettung" verheißt. Damit reduziert er das Subjekt, das auf die noch so abgelösten Bilder des Unheils immer als menschliches, also auch wollendes und planendes Subjekt reagiert, auf eine bloße Anschauungsund Urteilspotenz. Doch nicht einmal sein Kronzeuge Beckett schreibt für fatalistische manichäische Philosophen. Gerade wenn er den Menschen als untauglichen, krepierenden zeigt, fordert er vorläufig noch lebende und mehr verlangende Menschen damit heraus, und zwar wirksam, wie der Widerstand beweist, den seine Texte immer noch auslösen. Von einer generellen „Abdankung des Subjekts" als „geistesgeschichtlichem Sachverhalt" kann bei ihm ebensowenig wie bei den Engagierten die Rede sein: Jede entsetzte und mit dem Entsetzen spielende Zeile appelliert an das noch nicht oder nicht genügend schockierte oder das im Schock sich einrichtende Subjekt. Wenn aber auch in den 'autonomen' Werken das geballte, jeder Anbiederung enthobene Gegenbild auf Wirkungen hin — und natürlich auf spezifische Wirkungen in konkreten Empfängergruppen — vermittelt ist, läßt sich ihre kategoriale Erhebung über alle direkter auf Wirkungen ausgehenden Arbeiten nicht aufrechthalten. Es ist eine kaum reflektierte erkenntnistheoretische Eitelkeit Adornos, daß er sämtliche Werke an ihrer Wirkung auf ihn mißt, als ob die Autoren nichts als Belege für die anwendungsenthobene, reine Wahrheitswerte zuteilende „Kritische Theorie" schrieben. Viele wenden sich jedoch an dankbarere Subjekte, die mit anderen Mitteln anzusprechen und in ihrem Verhältnis zum Tun weniger gelähmt sind. Warum sollten sie, wenn sie vorläufigere und dringlichere Veränderungen vorzuschlagen haben als die globale bürgerlich-kritische Resignation, dazu nicht direktere, weniger vornehme Wirkungsmittel einsetzen, die ihren Adressatengruppen verständlicher sind? Den Beifall der Literaturtheoretiker können sie verschmerzen. Nur sollten wir Theoretiker uns fragen, ob wir die unfeine, Grenzen verwischende, bis in die Empirie hinabreichende und jede rein geistige Konzeption „encanaillierende" Tendenziosität und selbst die un-

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freiwillige Bedingtheit durch zufällige Wirkungskonstellationen ohne Einbuße für die Theorie vernachlässigen können. 3. Das Subjekt des Singularetantums 'Literatur ist nicht allein die Summe der isolierten oder nur durch Kulturtraditionen verbundenen Autoren. Das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen ein Werk entsteht, schreibt ebenso an ihm mit wie die gesamte geistige, literarische und sprachliche Kompetenz der potentiellen Empfänger. Die dritte These ergibt sich bereits aus den Ausführungen zur ersten und zweiten. Hier ist nur noch die personalistische Zuspitzung des angefochtenen Autonomieglaubens zu diskutieren: daß ein Verfasser im freien schöpferischen Akt, allenfalls an 'Strukturgesetzlichkeiten' des dichterischen Materials oder der Ausdrucksformen gebunden, 'seine Konstruktion der Welt oder schlechthin 'seine Welt erstelle. Der schiere Spontaneitätsglaube ist freilich in der Komparatistik seltener als in den Einzelphilologien. Komparatisten sehen zu viele Faktoren, durch die die individuelle Leistung bedingt und relativiert wird. Jedoch setzen sie diese Faktoren immer noch zu hoch, zu nahe am persönlichen Schöpfertum an: im 'Einfluß' anderer Schöpfer, vergangener Vorbilder und Traditionsmuster. Noch fester als die Nationalphilologen klammern sie sich an die vorliegenden ausgeführten Werke, die Produkte der literarischen 'Performanz'. Das geschichtlich-soziologische Fundament des ganzen Prozesses, die literarische Kompetenz einer Epoche, die den Produktionsformen korrespondierenden (oder widersprechenden) Rezeptionsformen, die Erwartungen, Fragestellungen, Bedürfnisse, auf die die einzelnen Werke antworten, werden nie im Zusammenhang, wie es einer 'Komparatistik' anstünde, sondern höchstens punktuell für ein solches Endprodukt oder eine Serie davon untersucht. Bei aller literaturgeschichtlichen Bedingtheit erscheint der Autor doch in einem idealistischen, verklärenden Licht. Das Angebot, der Wille, die Leistung bestimmen das Gesamtbild der literarischen Produktion. Demzufolge wird diese Produktion von allen Literaturhistorikern prinzipiell als Positivum gewertet, als Bereicherung für jedermann,

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der sich bereichern lassen will. Zwar wird nicht jedes Werk geschätzt, aber jedes ist eine weitere, sei es auch unnütze Gabe, ein Geschenk vom Autor, der es auch hätte unterlassen können. Mit der scheinbar realistischen Beschränkung auf das Vorliegende und mit seiner Erklärung aus dem Willen der Autoren sanktioniert die Wissenschaft die bildungsbürgerliche Leitvorstellung von der Literatur als einer langen Galerie des Neben- und Übereinander: nicht nur einer Ahnengalerie, sondern in komparatistischem Polytheismus einem Pandämonium von unterschiedlichsten, doch einander nie ausschließenden Erbstücken, aus denen jeder sich jederzeit das seinem Geschmack Gemäße aussuchen kann. Die Wissenschaft unterstützt und kontrolliert die Platzanweisung in diesem imaginären Museum; in den abgelegenen Teilen übt sie allein die ganze Museumsregie aus. Leider ist auch die lebendigste, politischste Funktion der Komparatistik, die Wiedergutmachung von historischem und noch anhaltendem Unrecht, mit dieser kustodialen Vorstellung vom rechten Platz verbunden. Es war für mich der imponierendste Eindruck der Komparatistentagung, mit welchem Engagement die versammelten Forscher dieses Selbstverständnis verfochten, Gerechtigkeit herzustellen gegenüber verkannten Autoren, unterdrückten, sprachlich oder historisch benachteiligten Minderheiten und kleineren Nationen. Nur blieb die Frage unbeantwortet, was die Rehabilitierten (oder wer sonst) von ihrer ästhetischen Aufwertung und Anerkennung haben. Die Rettungen der Aufklärer waren vergleichsweise eingreifender, nicht auf die (Wieder-)Herstellung eines Ehrenplatzes beschränkt. Wenn auch Lessing sein moralisches Geschäft mit dem physischen der Aufsicht über einen Bildersaal vergleicht — es besteht nicht darin, unverdiente Flecken vom toten Horaz abzuwischen. Er muß und will dazu den Grund von Anerkennung und Mythenbildung, das Recht auf Natürlichkeit, Sinnlichkeit, die diffizile Verbindung von Einbildungskraft und Vernunft zeitgemäß und wirkungsvoll neu bestimmen. Eine solche aufklärende Untersuchung nicht nur der Produkte, sondern ihrer Fundamente ist heute noch nötiger als im X V I I I . Jahrhundert. Gerade wenn wir den Optimismus der Aufklärung nicht teilen, den Trug ihres Einheitsglaubens,

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ihrer direkten Identifikation durch bloße 'Menschlichkeit' durchschauen, müssen wir von jedem Gegenstand der Würdigung zurück fragen nach den Gründen unserer und der sonstigen Wertschätzung, nach den spezifischen Motiven und Interessen, denen er sein Verständnis, seine Erhaltung und Übertragung verdankt. Erst im Rahmen einer historisch-literarischen Gesamtrechnung läßt sich der Wert einer einzelnen Produktion bestimmen, und zwar sein Gebrauchswert für eine Zeit und eine Sozialpartei, nicht sein Adorationswert in einem Dichtungsmausoleum. 4. Literatur ist niemals nur süß oder/und nützlich. Sie nützt den einen und schadet anderen. Poesie erfreut ihre Anhänger und betrübt oder empört diejenigen, die von ihr ausgeschlossen sind, besonders wenn sie dann noch die Kosten des Spiels zu tragen haben. Geben wir die isolierende Betrachtung der Literatur als eines eigenen Bereichs auf und bestimmen sie nach ihrer Funktion im gesamten Produktions-, Distributions-, Zirkulations- und Konsumtionsprozeß von Meinung und Rechtfertigung, so relativiert sich einerseits der ihr zuzuschreibende Einfluß, gewinnt aber andererseits der ganze Komplex gerade durch seine Relativierung an Realität. Der geistig-materielle Gesamteffekt eines Werks ist in Wirklichkeit selten so groß, wie wir ihn machen, wenn wir auf dieses eine Werls starren und alle umgebenden Faktoren in bilateralen Bezug zu ihm setzen. Schon sein Abstand von dem, was gleichzeitig wirkt, an anderen Werken und an nicht oder kaum werkhaft geformten und dennoch einflußreichen öffentlichen Vorstellungen, ist immer nur relativ, denn jedes Werk verarbeitet, bewahrt und verstärkt solche Vorstellungen, und zwar aus der gesamten materiellen Kultur, nicht nur der literarischen. Was beim Leser ankommt und auf ihn einwirkt, ist nie der isolierte Impuls eines Werks, sondern ein Konglomerat von vielleicht authentischen Aussagen und überlagernden Vermittlungen, vorauslaufenden Deutungen usw., also ein nach keiner Seite streng begrenzbares Stück Zeitgeist um einen zufälligen oder absichtlich gewählten Kristallisationskern. Wie es dann auf den Lesei wirkt, ist mehr von dessen gesamter psychischer und sozialer Verfas-

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sung als von der reinen Form oder Absicht des "Werks abhängig. Kein Leser ist Tabula rasa, nur Ohr oder Auge. Jede Aufmerksamkeit ist präokkupiert, in mehr oder minder hohem Grad besetzt und gelenkt von allem bisher Erfahrenen. Mit diesem muß das neu eindringende Werk konkurrieren, kann bestenfalls ein rigides Erfahrungsmuster aufbrechen, doch die Summe der Erfahrungen nicht außer Kraft setzen. Es fügt sich also, auch wenn es vom Autor aus noch so absolut auftritt, als kleine weitere Partikel in den Horizont der angeeigneten Meinung ein. Auch die gewaltigen Wirkungen, die aus der bürgerlichen Epoche vor allem von Werken der Empfindsamkeit und kollektiven Gefühlserregung (von Richardson bis Zola) berichtet werden, sind keine spezifisch literarischen, nur von diesen Werken entzündeten Wirkungen. Sie kamen nicht durchs bloße Lesen, sondern durch massive Verstärkungen, Projektionen, präformierte individuelle Bereitschaft und mit vielen geteilte Erwartungen zustande. Das Werther-Yieber wurde von den aufgeregten, in Gemeinschaft schwärmenden Zeitgenossen, nicht von Goethe erzeugt. Gerade weil aber literarische Werke nicht als isolierbare geistige Entitäten auftreten, sondern mit allen Faktoren öffentlicher Interaktion und Kommunikation zusammenwirken, sind sie ernst zu nehmen und zu kritisieren, d. h. für Ziele und Folgen verantwortlich zu machen. Sie sind niemals 'unschuldig', nur zusätzliche, für Desinteressierte belanglose Spielereien, so harmlos sie auch mitunter (vom Rokoko bis zur Dada-Nachfolge) konzipiert sein mögen. Auch wenn sie nicht spürbar für eine Partei und gegen eine andere Stellung nehmen, durch die Wahl spezieller Gegenstände und Medien, durch die bevorzugten Vorstellungen und Ausdrücke arbeiten sie für die herrschende oder aufstrebende oder unterdrückte Schicht, helfen ihr Selbstverständnis ausbilden oder befestigen und ausbreiten. Eben diese nicht thematisch-argumentierende, nur in der Struktur des Kommunikationsvorgangs angelegte Verstärkungsfunktion macht die Literatur zu einem höchst wichtigen Sektor des Gesamthaushalts von Meinung und Uberzeugung. Die meisten Konventionen des verbalen Umgangs miteinander sind literarisch bestimmt oder sanktioniert, zumindest stark von literarischen Prägungen be-

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einflußt. Was man sagt und wie man es sagt, ist nie unabhängig von dem, was man gelesen (oder aus anderen Kanälen aufgenommen) hat. Selbst im spontansten Fall bildet sich der neue Ausdruck noch in Auseinandersetzung mit dem überall wirksamen Muster. Literatur im ganzen, in ihrer realen Verflechtung mit vielen vor- und außerliterarischen Komponenten ist eine bedeutende und gefährliche Macht. Sie kann zur Aufklärung und zur Verschleierung beitragen, beides umso wirkungsvoller, weil sie die Materialien und Instrumente des Bewußtseins überformt, mit idealistischen und anderen Mustern besetzt hält oder zur zeitgemäß höchsten Schlagkraft befreit. Wirkungsvoll ist Literatur in dieser Gesamtbetrachtung sogar noch durch ihre Versäumnisse. Auch das, was sie vernachlässigt und zu bearbeiten verschmäht, braucht und erhält natürlich eine Form, aber eine notdürftige, vom anerkannten Kulturbetrieb verwahrloste Form. Der größte Teil der heutigen 'Subliteratur' und noch mehr der alltägliche, als 'normal' geltende mündliche und schriftliche Ausdruck für triviale Interessen und ihre Durchsetzung ist gekennzeichnet von einer schon lange andauernden Vernachlässigung. Die westlichen Dichter und Schriftsteller seit dem späteren XIX. Jahrhundert setzten sich bis auf wenige Ausnahmen höhere Aufgaben als die verständliche Reflexion materieller Probleme. In immer radikalerem Avantgardismus und im Bewußtsein der zunehmenden Kompliziertheit geistiger Ordnungsversuche schufen sie immer abstraktere, von der Basis der einfachen Verständigung zunehmend gelöste Gebilde. Sie deklarierten damit, absichtlich oder als ungewollte Folge, die Sprache der alltäglichen Verständigung als untauglich zur kulturellen Gestaltung, unwürdig einer besonnenen Formung, und überließen sie faktisch der Herrschaft technisch-bürokratischer Formeln und ungereinigter, aus früherem Kulturbesitz abgesunkener Klischees. Die generelle Selbsterhebung der Intelligenz über die arbeitende Bevölkerung und ihre Sprache soll hier weder moralisch beklagt noch historisch verrechnet werden. (Einen Ansatzpunkt zur komparatistischen Verrechnung böte der Vergleich mit der Rolle der vorrevolutionären russischen Intelligenz, die soziologisch minde-

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stens ebenso 'freischwebend 1 war, in ihren Zielen und ihrer Sprache aber durchweg die Verbindung zum 'Volk' und seiner geschichtlichen Lage suchte.) Es soll nur prinzipiell gegen das naive Axiom unserer Wissenschaft, Autoren seien nach ihrer individuellen Leistung und an den Zielen zu messen, die sie selbst im Sinn haben, ein schärferer, materialistischer Verrechnungsmodus gefordert werden, der bei allen literarischen Errungenschaften auch die Kehrseiten und Versäumnisse einbezieht. Gegen eine solche soziologische Relativierung der literarischen Leistung wird eingewandt, daß doch die Leistung erst einmal gegeben und als solche zu würdigen sei. Sie müsse also in ihrem formalen, funktionalen und geistigen Binnenhaushalt interpretiert werden, ehe man zusätzlich nach ihrem Nutzen oder ihrer Schädlichkeit frage. Ist nicht Homer ein unbezweifelbarer Wert, gleichgültig welches historische Recht wir der epischen Heldenbegütigung zu seiner Zeit oder in der Renaissance des X V I I I . Jahrhunderts oder heute — z. B. im Schulgebrauch — zugestehen mögen? H a t nicht gute Literatur als solche, unabhängig von Verfasserinteressen und Zielgruppen, nur durch die zwingende Intensität ihrer Darstellung immer einen positiven Effekt: Sensibilisierung, Konkretisierung von Vorstellungen und Wünschen, praktische Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis, Erweiterung des Reflexionsspielraums, also Aufklärung im weiteren Sinne? — Diese gutgläubige generelle Bejahung der Literatur ist noch weniger stichhaltig als die diskriminierend formalistische (s. oben S. 22). Kein einziger der erfreulichen Effekte ist ein eindeutig positiver Wert, wenn er sich auf nicht mehr als formal-ästhetische und intellektuelle Vorgänge stützt. Eine Sensibilisierung für die Möglichkeiten, Nacht zu empfinden und auszudrücken, macht nicht eo ipso sensibel für die brutalen isolierenden und u. a. auch das Naturgefühl verstellenden Folgen des Privateigentums. Die Kultivierung überhaupt, die mit literarischer Bildung zweifellos geleistet wird, ist nie nur formal, kein bloßer Obungs- und Erziehungswert, der sich f ü r alle erst noch auszumachenden rationalen Erziehungsziele einsetzen ließe. Sie ist selbst in ihren formal bildenden Verfahren der Distanzierung, Ironie und

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Utopie geprägt von den Inhalten der Kultur, die sie vermittelt einer überwiegend bürgerlichen Kultur mit signifikanten antibürgerlichen Einsprengseln. Literarische Bildung verhilft zur Kritikfähigkeit, zum eigenen fundierten Urteil, zum vergleichenden Abwägen von Alternativen, und sie trägt eben durch diese distanzierenden Qualitäten zu der insgesamt beschaulichen, räsonierenden, sich mit Sehen und Reden befriedigenden Haltung der solchermaßen Gebildeten bei. Die gleiche Literatur, die die vielen Möglichkeiten des Tuns abwägen lehrt und sie dazu nur nebeneinanderstellt (wie die modernen Totalrelativisten Valéry, Musil, Pound u. v. a.), hindert auch ihre Leser, das für ihre Lage notwendige Tun und sich als Subjekte dieses Tuns zu begreifen. Auch die Gegenrechnung kann zu einem einseitigen Urteil verführen. Literatur ist nicht schon als solche nützlich und gut, aber sie ist auch nicht eo ipso schädigend, ablenkend und damit affirmativ. Sie dient nicht ausschließlich dem Bürgertum, sondern auch dem Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaftsordnung und Selbstrechtfertigung. Nicht nur die (schwächere, aber bedeutsame) antibürgerliche Tradition seit dem frühen XIX. Jahrhundert, auch die kritischen Partien der bürgerlichen Literatur selbst geben wichtige, potentiell auch praktisch wirksame Zeugnisse für den früheren Stand von heute noch anhaltenden Kämpfen. Literatur hat immer noch eine mobilisierende Funktion: Sie erweitert die Gewissensinstanz, macht die Angesprochenen, zum Miturteil Aufgerufenen vor einem sei es auch nur fiktiven Forum statt allein vor sich selbst verantwortlich. Diese appellative Wirkung der Literatur ist deshalb unentbehrlich, weil unser aller Gewissen in bezug auf die Gesellschaft regredient ist, d. h. zum Rückzug auf das eigene Idi, zur Autarkie und Selbstzufriedenheit tendiert. „Gewissen hat doch immer nur der einzelne." Natürlich ist diese Abschließungstendenz des Individuums ebensowenig wie der literarische Widerspruch dagegen eine ungeschichtliche Konstante. In der vorliegenden Literatur und auch heute nodi ist die Instanz über dem Individuum zumeist bürgerlich-liberal konzipiert: als Öffentlichkeit aus den versammelten räsonierenden, arbeitsenthobenen Privatleuten, als gedachtes, in seinen Prozeduren ideales

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Parlament und als Gerichtsbarkeit, oft in metaphysischer Überhöhung des 'Rechts'-begriffs. Dennoch geht diese Vorstellung in ihrer bürgerlichen Erfüllung nicht auf. Uber die lockeren und die organisatorisch verfestigten Schemata von öffentlicher Rechtfertigung und strikter Rechtszuteilung hinaus hat die Literatur in neueren Spiel- und Ausdrucksformen auch Möglichkeiten der direkteren Kontrolle des individuellen Verhaltens durch das Kollektiv entwickelt: Aufbau und Verrat von Gruppensolidarität durch ein simuliertes, dem Konsumenten auf den Kopf zugesagtes Verhalten, Bezug auf vorausgesetzte und evozierte konkrete Gruppeninteressen bis zur Aktivierung bestimmter interessenhomogener Publikumsgruppen (in Betriebsversammlungen, Wohnviertelzentren, Gefängnisveranstaltungen usw.) zu Planungs- und Aktionsgruppen. Freilich ist diese kollektive Ausrichtung und Kontrolle des Einzelverhaltens, ebenso wie die historische Räte-Konzeption, die ihr zugrundeliegt, selbst wieder als eine eminent literarische Vorstellung zu kritisieren, da ihre bisher entwickelten Formen den Notwendigkeiten von Organisation und Technik nie genügt haben. Doch als Widerstand gegen die weltweit organisierte Abdankung des Gewissens vor technischen Zwängen ist sie notwendig und unaufgebbar, und ebenso als Korrektur an der Reduktion des Gewissens auf privates Urteil und private Anwendung, mit der diese reale Abdankung der eigentlich gesellschaftlichen Instanz beschönigt wird. 5. Der Umfang der Literatur läßt sich nicht begrenzen durch elitäre Forderungen nach einem gewissen Niveau der Reflexion oder Gestaltung, auch nicht durch die opportunistische Voraussetzung einer gewissen Breitenwirkung durch Schrift oder Druck. Prinzipiell kann alles als Literatur gelten, was mit der Absicht gesprochen und geschrieben wird, eine Wirkung auf ein angesprochenes Bewußtsein oder Verhalten auszuüben. In der Einbeziehung der trivialen Literatur, wenigstens der kommerziell und deshalb auch kulturell bedeutsamen, hat die Wissenschaft in den letzten zwanzig Jahren Fortschritte gemacht. Nicht ganz so weit ist man mit der Anerkennung von nicht-fiktiver Lite3

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ratur, wissenschaftlichen und praktischen Texten als gleichberechtigtem Gegenstand der Literaturwissenschaft, obgleich die Forderung danach seit den Anfängen der Philologie erhoben und z. T. energischer als heute praktiziert wurde. (Sie spielt in der Komparatistik durchweg eine größere Rolle als in den Nationalphilologien.) Der vollen Gleichberechtigung solcher Texte wird immer wieder eine diskriminierende Auslese der speziell literarisch wertvollen (Schopenhauer eher als Hegel) oder eine Beschränkung auf ihre stilistische Seite (mehr die sprachliche als die gedankliche und sachliche Dialektik) entgegengesetzt. Aber auch wenn man diese ungerechtfertigte, nur bequeme Begrenzung wegläßt und beide Gebietserweiterungen zusammennimmt, bleibt man noch auf die betriebsmäßige Literaturverfertigung von Experten des Geistes oder des Geschäfts (oder beider) beschränkt. Es ist jedoch nötig, diejenigen Formen einzubeziehen, die zur Zeit die Literatur überhaupt noch lebendig halten: den Protest gegen den Betrieb, gegen die Bevormundung durch wenige und Gebildete (oder Manager), die seit langem begonnene und immer radikalere Sprengung des formalen Rahmens, die Versuche, mit Schocks und direkten Dokumenten zu informieren und zu agitieren, Mauersprüche, Flugblätter, Infos, Straßentheater, Hörsaaltheater usw. Dann die „ambulanten Gattungen", wie Rühmkorf sie nennt, mündliche Formen vom bösen, gar nicht reinlichen Kindervers über die vielfältigen Parodien, Witze, Bosheiten bis zum taktischen und spontanen Diskussionsverhalten. Die konventionelle zaghafte Einbeziehung von mündlicher Tradition in die Literaturforschung krankt an einem Sehfehler: Als literarisches Gut wird nur anerkannt, was früh, rein und unberührt ist, allenfalls noch zersungenes Kulturgut, aber davon nur die Auswahl, die die Gebildeten für 'volkstümlich' halten. Was real in heutigen Geschäftszentren, Reihenhäusern und Slums gedichtet und umgedichtet wird, die trotz der mächtigen technischen Medien noch nicht erstickte Kontrafakturbildung und Oppositionsspruchdichtung, wird kaum wahrgenommen. Sie würde mehr Feldforschung lohnen als überlebende Heldenlieder in jugoslawischen Uraltdörfern. Aber auch diese nonkonformen Bekundungen von Literatur sind noch werk-

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haft verdinglicht, oft viel rigider als die lockeren Spielformen der Experten. Auch unterhalb dieser Barriere der Schlagfertigkeit (wie unterhalb der Bildungsbarriere insgesamt) läßt sich noch Literatur konstatieren. Die alltägliche Sprache ist voll von Mythen, also literarischen Gestaltungen oder Gerippen. Die gesamten Rollen, Formen und Klischees, in denen sich die Bewußtseinsstellung einer Schicht in einer Epoche ausdrückt, bilden nicht nur die Kompetenz, mit der diese Schicht Literatur konsumiert (soweit sie das tut). Sie werden immer auch von den Leuten selber artikuliert, also literarisch 'performiert', wenn auch in weit mehr traditionellen als spontanen weiterführenden Bildungen. Schließlich müssen wir auch die pädagogisch-politische Arbeit an solchen Klischees, die Kritik und Destruktion ebenso wie die Entwicklung rationaler Strategien zur Selbstbestimmung, als literarische Arbeit anerkennen und in die Forschung einbeziehen. Es versteht sich, daß diese Arbeit, wie das meiste hier in die Literatur Einbezogene, dadurch nicht nur oder vornehmlich zu Literatur werden soll. Ihre sachliche, wissenschaftliche, aufklärende oder mythisierende Bedeutung wird in diesem Literaturverständnis nicht zurückgedrängt, sondern gerade als zentral herausgestellt. Die vorgeschlagene Erweiterung des Literaturbereichs wurde in Mainz heftig kritisiert. Der Begriff der Literatur verschwimme völlig, wenn so beliebig viel in sie hineingepackt werde. Es genüge nicht, diese Zusatzgebiete oder ihre Produkte nur von ihrer Herkunft, ihren soziologischen Komponenten aus zu bestimmen; wissenschaftlich diskutabel würden sie erst, wenn man ihre Funktionen und gerade die vernachlässigten ästhetischen Wirkungen wie Witz, Befriedigung, intellektuelles Vergnügen nachweise. Prüfe man aber die vermeintlichen Neuerwerbungen ernsthaft auf ihre literarischen Funktionen, dann gäben sie (ganz abgesehen von der Frage nach Beständigem oder Wertvollem) auch wenig wirklich Neues her, so daß man doch besser bei den bisher anerkannten Werken und Gattungen bleibe. — Die Forderung nach einer sachlichen statt nur gebietsmäßigen Bestimmung dessen, was zur Literatur gezählt werden soll, läßt sich nicht von der Hand weisen. Aber erst dogmatisch fest3'

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zusetzen, worin das 'spezifisch Literarische bestehe, und dann alle Produkte danach zu sichten oder zu verwerfen, scheint mir ein Zirkel, der sich auch nicht mehr als hermeneutischer rechtfertigen läßt. Umgekehrt wird das zu enge Verständnis vom Wesen der Literatur gerade durch diejenigen Literatursorten in Frage gestellt, die sich ihm nicht einfügen. Zwar nicht durch ihr schlichtes Vorhandensein, aber durch ihren begründeten, von Produzenten und Konsumenten vertretenen Anspruch, auch zur Literatur zu gehören. Über das Recht dieses Anspruchs läßt sich nicht nach den 'rein literarischen Kriterien urteilen, die selbst in diesem Urteil zur Debatte stehen. Ihr Recht läßt sich nur in einer Funktionsbestimmung der Literatur insgesamt, anhand ihrer Stellung und Leistung im Gesamthaushalt der Information, Kommunikation, Rechtfertigung, Kritik und Utopie diskutieren. Die geforderten ästhetischen Werte, die sich fast alle als funktionale Werte erweisen, müssen dabei gerade ihrer Wirksamkeit wegen ernst genommen werden. Aber sie lassen sich nicht als solche verabsolutieren: Entscheidend für jede wissenschaftliche Beurteilung ist, wofür und in wessen Dienst sie fungieren. Daß bei einer solchen Verrechnung vieles für eine Erweiterung des Literaturbegriffs bis zur Einbeziehung der Rudimente in der alltäglichen mündlichen Prosa spricht, scheint mir ausgemacht. Dem Einwand, ob dann nicht alle sprachlichen Äußerungen zur Literatur gezählt werden müßten, ist mit Hilfe einer ohnedies nötigen Kooperation mit der Linguistik leicht zu begegnen. Man müßte nur in Abhebung vom allgemeinen sprachlichen Zeichensystem diejenigen Verbindungen und Konzentrate von Zeichen (Modelle, Spiegelungen, Projektionen, Schlagworte, Mythen) bestimmen, die der Literatur, in ihren Alltagsrelikten wie ihren geschlossenen Formen, ihre Intentionalität, Verständlichkeit und Wirksamkeit verschaffen. So wäre etwa 'kaputtmachen in allen Konjugationsformen Gegenstand des Sprachforschers, dagegen gehörte „du machst dich selbst kaputt" mit seiner kurzgeschlossenen, doch traditionsbeladenen Individualkausalität und erst recht die aggressive Umkehrung „Macht kaputt was euch kaputt macht!" außerdem auch zur Literatur. Die Erweiterung des Literaturbereichs zielt auf eine Demokrati-

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sierung dieser kulturellen Macht, die selbst in ihrer historischen Entwicklung immer wieder von demokratischen Impulsen vorangetrieben und in ihren Ausformungen immer wieder elitär verfestigt wurde. Aber die bloße Einbeziehung von bisher vernachlässigten Gebieten bewirkt noch keine Demokratisierung. Wenn die Forschung als Kompensation für ihre Lieblingsbeschäftigung mit der hohen Literatur sich jetzt auch der Trivialliteratur annimmt und diese Lektüre den niederen Schichten so zuordnet wie die bessere den höheren, trägt sie höchstens zum faden Schein der Gleichheit bei. Jeder bekommt, was ihm zusteht, in der Wissenschaft wie auf dem Markt. Erst wenn man davon ausgeht, daß die meiste kommerzialisierte 'Literatur der kleinen Leute' weder von ihnen noch für sie, sondern streng genommen gegen sie gemacht wird und daß auch diejenige Literatur, an der sie selbst sprechend und schreibend mitwirken, vielen und meistens stärkeren Kräften (der sprachlichen und ideologischen Konvention) gehorcht als dem Willen der Sprecher, erhält man eine realistische Grundlage, auf der wenigstens das Problem der Gleichheit oder der Mitwirkung aller an der Literatur formuliert werden kann. Demokratische Verhältnisse lassen sich auch im Kultursektor nicht durch Neuinterpretation dekretieren; sie müssen durch aktive Veränderung der Produktions- und Konsumformen geschaffen werden. Die Wissenschaft allerdings hätte die Aufgabe, über die Notwendigkeit, die Richtung und die Radikalität der Veränderung mitzureflektieren und insofern auch praktisch zur Veränderung beizutragen. 6. Literaturwissenschaft ist immer parteilich, so allgemein und vergleichend sie auch verfährt. Die Reflexion über ihre Stellung und die eigenen Wirkungen gehört notwendig zu ihrem historischen, ideologiekritischen Geschäft. Die allgemeine Einsicht, daß eine hermeneutische Wissenschaft immer auch wertet, daß sie ohne Interessen gar nichts erkennen könnte, hat sich nach vielen Anstößen vom frühen Historismus an und vielen nominalistischen Abweisungen in der neueren Hermeneutik-Diskussion anscheinend durchgesetzt. Auf schlichte Objek-

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tivität oder Neutralität kann sich kein Forscher mehr ungestraft berufen. Auch die noch immer versuchte formalistische Rettung, die Wertung aus 'der Sache selbst' zu nehmen, Literaturwissenschaft also als 'Dienst an der Dichtung' zu betreiben, ist durch die gleiche hermeneutische Reflexion diskreditiert. Auch der Dichtungsdiener wählt aus, setzt Prioritäten, bildet Urteile und reproduziert Vorurteile. Selbst wenn er seinen Begriff von 'der Dichtung so weit formalisiert, daß dieser nur noch das Gerippe enthält, welches Epos und Oper, christlichem und dadaistischem Gedicht gemeinsam ist, hat er immer noch, durch die Bestimmung der zentralen Formen und die Ausschließung noch weiterer, seine Willensentscheidung und die historische Wertung seiner Zeit darin. Frei von Vorlieben und Vorurteilen wird die Wissenschaft überhaupt nicht, es kommt nur darauf an, daß sie sie selbst erkennt, mitreflektiert und auch nach außen kenntlich macht. Die allgemeine Einsicht jedoch, daß Erkenntnisse stets persönliche und zeitgemäße Wertungen implizieren, reicht nicht aus. Gerade ihre Allgemeinheit verführt zur relativistischen Abdankung und zur dezisionistischen Willkür, die gewöhnlich zusammen auftreten. Wenn die eine Epoche strenge Formen, die andere lockere, freie, konventionssprengende vorzieht, dann hält sich der Forscher für frei, nach Prüfung ihrer historischen Gründe und selbstkritischer Betrachtung seiner Reaktion darauf der einen oder der anderen den Vorzug zu geben. Gegen solche Beliebigkeit der Betrachtung und der Wahl ist festzuhalten, daß jedes Stück Literatur, also auch jedes Urteil darüber, nicht nur zu Form- und Geschmacksfragen, sondern immer auch, oft nur durch Verschweigen und Schönfärben, zur Einschätzung, Regelung, Veränderung der ökonomischen und sozialen Lebensgrundlagen Stellung nimmt. Die Reflexion über die Berechtigung des eigenen Urteils ist darum mehr als eine erkenntnistheoretische Pflichtübung: Das Urteil enthält notwendig eine materiale politische Stellungnahme zu den damaligen Produktions-, Herrschafts- und Sozialverhältnissen, und diese ist unmöglich ohne eine ebenso bestimmte Stellungnahme zu den Verhältnissen der eigenen Zeit. Diese Stellungnahme ist nicht dem freien Belieben überlassen.

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Sie ist belastet durch die gesamte Erziehung, die bei westlichen Literaturwissenschaftlern nahezu ausnahmslos eine bürgerliche Erziehung ist, aber sie ist dadurch nicht determiniert. Der Wissenschaftler kann nicht umhin, seine Einstellung auch rational zu vertreten. Als Wissenschaftler aber kann er die negativen, zunehmend anachronistischen Seiten der bürgerlichen Sozialisierung nicht übergehen: die Steuerung der gesamten Produktion und beträchtlicher Partien der Dienstleistungen durch den Profit; die Disziplinierung im Dienst undurchschauter und oft ungewollter Produktionsinteressen; das Festhalten am historisch überholten Konkurrenzdruck und seine Ausdehnung auf immer weitere Gebiete des Lernens, der Reflexion, selbst der sogenannten Kompensation; die systematische Zerstörung von Solidarität durch Förderung, Benotung, Prämierung künstlich individuierter Leistungen. Die Parteinahme des Literaturwissenschaftlers für oder gegen den Kapitalismus (in seiner heutigen konzentrierten und organisierten Form) kann ebensowenig willkürlich wie naturbedingt sein. Sie muß, da der Forscher seinem Forschungsgebiet nach auf Vernunft und Humanität Anspruch erhebt, einem nicht nur formalen, sondern substantiellen, an realen Lagen und Bedürfnissen orientierten Begriff von Vernünftigkeit und Menschlichkeit gehorchen. Zu den Anforderungen an eine rationale Theorie gehört schließlich, daß der Wissenschaftler sich um die Umsetzung seiner — und nicht nur seiner — wissenschaftlichen Ergebnisse in die Praxis selber kümmert. Wir dürfen unsere Forschungen nicht zum beliebigen Gebrauch abliefern; wir müssen den tatsächlichen Verständnis- und Aufklärungseffekt, den wir uns davon versprechen, kontrollieren und, wo wir ihn nicht gutheißen können, korrigieren. Ein Kardinalfehler unseres Forschungsbetriebs ist es, daß wir ständig versucht sind, 'in die Höhe' zu interpretieren, also den Kern aus historischen oder fremdsprachlichen Werken in so allgemeinen Begriffen herauszuschälen, daß er dann auch für heute und hier als unbestreitbar nützlich, wichtig, fortschrittlich usw. erscheint. Gerade in dieser Allgemeinheit aber werden die nach unserer Vorstellung rein humanistischen Konzeptionen von Freiheit, Individualität u. dgl. am

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leichtesten vom Antikommunismus in Dienst genommen. Unsere Aufgabe wäre statt dessen, auch auf der Anwendungsseite von den Abstraktionen der Bildungsbegriffe wieder herabzusteigen bis in die Niederungen des realen Gebrauchs und Mißbrauchs. Wir müssen sehen, was für nicht-humanistische Kräfte ständig auf diese Umsetzung von Ideen einwirken. Und wir müssen das, was die Vergangenheit oder andere Völker oder heutige bekannte oder verkannte Gruppen an Befreiung, an Strategien zur Wahrung berechtigter Bedürfnisse zu bieten haben, gegen diese Kräfte durchfechten, nicht nur in papierener Form (wie auch in dieser theoretischen Besinnung) proklamieren.

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Hat die Vergleichende Literaturwissenschaft eine eigene Theorie? Ein Exempel: Der literarische Einfluß Verfügt die Vergleichende Literaturwissenschaft über eine eigene Theorie? Diese Fragestellung ist nur dann sinnvoll, wenn sie zu Gegenüberstellungen mit anderen akademischen Disziplinen führt, zu deren Aufgabenbereich ebenfalls literaturtheoretische Fragestellungen gehören. Hier wäre zunächst einmal, wie es schon das Programm dieser Tagung und die offizielle Bezeichnung der veranstaltenden Gesellschaft gebieten, die sogenannte Allgemeine Literaturwissenschaft zu nennen. Mit ihr lebt die Vergleichende Literaturwissenschaft in einem eheähnlichen Verhältnis, und dies nicht erst, seitdem sich dieses Gremium 1969 auf dem Wege der Selbsttaufe den Namen einer „Deutschen Gesellschaft für Allgemeine u n d Vergleichende Literaturwissenschaft" verliehen hat. Schon vor Jahren erhielt Hugo Dyserinck in Erlangen die Venia legendi für „Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft", und seit 1964 kann man beide Disziplinen integriert an einem entsprechend denominierten Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin studieren. Dieses enge Miteinander sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Konstitution beider Partner — auch hier ist der Vergleich mit einer Ehe gestattet — eine folgenreiche und reizvolle petite difference gibt. Freilich ist es nicht einfach, die Individualität beider Partner genau zu bestimmen. Die Beziehungen 'Allgemeine' und 'Vergleichende' Literaturwissenschaft sind bloße Etiketten, aus denen sich keine Rückschlüsse auf den Inhalt der hier in Frage stehenden Disziplinen ziehen lassen. Immerhin lassen sich durch den Dunst der vor-

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liegenden, oft widersprüchlichen Definitionen doch einige schemenhafte Umrisse ausmachen. Allgemeine Literaturwissenschaft — darüber scheint sich allmählich ein Consensus herzustellen — ist nicht, was noch Paul van Tieghem vor vierzig Jahren unter 'littérature générale' verstand — und Simon Jeune noch heute darunter versteht — n ä m l i c h eine Disziplin, die sich jener literar h i s t o r i s c h e n Phänomene annimmt, die mehr als eine Nationalliteratur angehen, z. B. der Romantik. Sie ist auch nicht das von René Wellek angestrebte neue Fach 'literature', die neue allumfassende Disziplin, die als drittes kunstwissenschaftliches Fach neben Kunstgeschichte und Musikwissenschaft treten soll2. Mehr und mehr wird die Bezeichnung heute in dem Sinn verwandt, in dem sie Max Wehrli in seinem Forschungsbericht von 1949 konsekriert hat 3 : nämlich von „theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft". Demnach grenzt es an Tautologie, von „Theorie der Literatur in der Allgemeinen Literaturwissenschaft" zu sprechen, denn Gegenstand par excellence der Allgemeinen Literaturwissenschaft ist ja eben die Theorie der Literatur. Anders liegen die Verhältnisse bei der Komparatistik im engeren Sinne des Wortes. Sie ist nicht per definitionem eine Wissenschaft, deren Aufgabe darin besteht, Theorien zu entwickeln, sondern eine vergleichsweise empirische Disziplin, die sich mit mehr oder weniger greifbaren Gegenständen auseinanderzusetzen hat, nämlidh geschichtlichen Sachverhalten und literarischen Texten. Sie wäre also als historisch-philologische Wissenschaft zu qualifizieren, während die Allgemeine Literaturwissenschaft der Philosophie, insbesondere der Ästhetik und Wissenschaftstheorie, näher zu stehen scheint als der Philologie. Es wäre verführerisch, das Verhältnis zwischen Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft nach einem 1 Simon Jeune: Litt, générale et litt. comp. — Essai d'orientation, Paris 1968, 11 ff. 2 Wellek hat diese Idee von Albert Thibaudet übernommen und sie mehrfach aus wechselnder krit. Distanz vertreten; vgl. z. B. The Concept of Comp. Lit., in: Yearb. Comp. Lit. 2 (1953), 1—5, bes. Sdilußabsatz. 3 Allgemeine Lit.wiss., Bern 1951, 4.

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naturwissenschaftlichen Modell zu definieren, nämlich nach den Beziehungen zwischen Theoretischer und Angewandter Physik: Die Allgemeine Literaturwissenschaft würde die Theorien und Methoden erarbeiten, die dann die Komparatistik im direkten Umgang mit dem Objekt, also den Texten, fruchtbar macht. Ein solches Modell wäre aber aus mancherlei Gründen anfechtbar. Da wäre zunächst einmal die grundsätzliche Erwägung anzuführen, daß eine Theorie der Literatur sich wohl kaum von dem praktischen Kontakt mit den Texten dispensieren darf, ebensowenig wie eine empirisch-philologische Literaturwissenschaft theorielos bleiben könnte. Aber auch aus einem praktischen Grunde erweist sich das Modell als reine Fiktion. Allgemeine wie Vergleichende Literaturwissenschaft sind ja nicht allein auf weiter akademischer Flur, sondern dienen beim gegenwärtigen Stand der Dinge de facto nur der Ergänzung und Abrundung der bestehenden Universitätsphilologien, deren aus dem XIX. Jahrhundert stammende Einteilung die Philosophischen Fakultäten der deutschen — und nicht nur der deutschen — Hochschulen beherrscht. Wer heute Worte wie 'Literaturwissenschaft' und 'Literaturtheorie' hört oder ausspricht, denkt in den seltensten Fällen dabei an 'Komparatistik' oder 'Allgemeine Literaturwissenschaft', sondern an Romanistik, Anglistik, Slawistik usw. — und hierzulande natürlich vor allen Dingen an die Germanistik. Auf diese haben sich dann auch die neueren Kritiker der literaturwissenschaftlichen Forschung und Lehre, liberale Reformer wie linke Revolutionäre, mit besonderer Vorliebe und oft erstaunlicher Treffsicherheit eingeschossen, und es ist verständlich, daß sie gerade dieses Ziel gewählt haben: Das Studium der Literatur und die literaturwissenschaftliche Forschung sind nun einmal auf Grund der traditionellen Fächereinteilung zu 95 % Sache der nationalen Philologien, vornehmlich der heiß befehdeten Germanistik. Diese Philologien, Germanistik an der Spitze, haben auch den Löwenanteil an der literaturtheoretischen Lehre und Forschung. Nicht selten findet die Literaturtheorie ihre Grenzen an den Grenzen der einzelnen Fächer. Dies sei an einem älteren Beispiel demonstriert, auf das ich bereits in einem anderen Zusammenhang

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einmal eingegangen bin 4 . Als im Jahre 1927 die deutsche Ubersetzung eines der wichtigsten literaturtheoretischen Werke dieses Jahrhunderts, der Ästhetik Benedetto Croces, erschien, reagierte die deutsche wissenschaftliche Öffentlichkeit darauf mit etwa zwei Dutzend Rezensionen, davon freilich nur ganze drei aus der Feder von Literaturwissenschaftlern. Ihre Namen waren Viktor Klemperer, Fritz Schalk und Hugo Friedrich, d. h. es handelte sich um Vertreter der deutschen Romanistik. Eine germanistische Besprechung des — wohlgemerkt: übersetzten! — Werkes erschien nicht. Zu diesem Bild paßt auch, daß bis heute alle wichtigeren deutschen Publikationen über Croces Literaturtheorie von Romanisten stammen, während — wie Johannes Hösle gerade wieder zu Recht beklagt hat 5 — die Crocianische Literaturästhetik in germanistischen Werken literaturtheoretischen Charakters wenn überhaupt, dann nur beiläufig und meist kenntnislos abgehandelt wird. Die akademische Fächerteilung wirkt sich hier also unmittelbar auf die literaturtheoretische Diskussion aus: Als italienischer Autor gehört Croce in Deutschland zur Domäne der Romanisten und allenfalls der Philosophen. Da er aber seinen entscheidenden Beitrag zur Literaturtheorie auf einem Gebiet geleistet hat, das in Deutschland vorwiegend von der Germanistik verwaltet wird, die sich ihrerseits wieder um Autoren fremder Zunge wenig kümmert, wird in Deutschland eher der Student der Romanistik etwas über diese Theorie erfahren als der Germanist. Eine ähnliche Rechnung hätte man bis vor recht kurzer Zeit auch für den New Criticism oder den russischen Formalismus aufmachen können, um die sich in Deutschland vorwiegend Anglisten bzw. Slawisten kümmerten. Und hätte Georg Lukacs nicht den größten Teil seines Werkes in deutscher Sprache oder in von ihm selbst kontrollierten Ubersetzungen herausgebracht, so wüßten selbst die Marxisten unter den deutschen Germanisten von ihm allenfalls vom 4 Erwin Koppen: Benedetto Croce als Theoretiker der Dichtungskritik u. Lit. gesch., in: Die Neueren Sprachen, Jg. 1963, 295 f. 5 Vorwort zu: Benedetto Croce: Die Dichtung, übers, v Wolfgang Eitel, Tübingen 1970, S. XII.

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Hörensagen, und er würde fast ausschließlich in den Kleinstseminaren der Hungaristen diskutiert. Man könnte mir nun entgegenhalten, daß das von mir skizzierte Bild doch recht einseitig sei, daß die germanistische Literaturtheorie immerhin schon vor Jahren den Polen Roman Ingarden oder den Tschecho-Amerikaner René Wellek in ihr Herz geschlossen habe, daß andererseits auch in anglistischen Seminaren und Kollegs zuweilen der Name germanistischer Literaturtheoretiker falle und die bedeutendste literaturtheoretische Zeitschrift Deutschlands von einem Romanisten herausgegeben werde. In der Tat ist zu beobachten, daß — zumal im letzten Jahrzehnt — auch die nationalliterarischen Disziplinen beginnen, sich in literaturtheoretischer Hinsicht zu internationalisieren. Das lawinenartige Anschwellen des Interesses für Literaturtheorie und literaturwissenschaftliche Methodenfragen hat die Verleger auf den Plan gerufen, die dem theoriebeflissenen Germanisten nunmehr auch russische Formalisten, französische Strukturalisten sowie Soziologen und marxistische Literaturtheoretiker aller Zungen in mundgerechten Ubersetzungen und zu oft sehr niedrigen Preisen anbieten. An manchen Universitäten gehören sie schon zur Pflichtlektüre der Anfangssemester. Es bleibt aber immer noch die Tatsache bestehen, daß der übergroße Teil der literaturwissenschaftlichen und damit auch der literaturtheoretischen Forschung sich in den Händen der Einzelphilologien befindet und von diesen oft nach mehr oder weniger nationalliterarischen Gesichtspunkten verwaltet wird. Wer über Literaturtheorie in der Komparatistik spricht, tut also gut daran, diesen Sachverhalt in Rechnung zu stellen. Es scheint uns wenig sinnvoll, blindlings der Wellekschen Prämisse zu folgen, es könne nur eine einzige allgemeine Theorie der Literatur geben, so wie es prinzipiell nur eine einzige Literatur gebe, die nur durch ein ärgerliches Versehen der Schöpfung in verschiedenen Sprachen bei verschiedenen Nationen entstanden sei. Wir möchten vielmehr ganz pragmatisch davon ausgehen, daß es nun einmal Literaturen in verschiedenen Sprachen gibt und daß sich die akademische Einteilung der literaturwissenschaftlichen Disziplinen an diesem Faktum orientiert. Dementspre-

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chend wird Literaturtheorie auf den Universitäten der Welt an Lehrstühlen der verschiedensten Denominationen gelehrt, gelernt und erforscht: vor allem anderen unter dem Panier der einzelnen Philologien, denen gegenüber die Komparatistik und übrigens auch die (akademisch nur schwach vertretene) Allgemeine Literaturwissenschaft die Rolle einer quantité négligeable darstellen. Wir möchten uns im folgenden bemühen, die Rolle der Literaturtheorie in den nationalen Philologien und der Komparatistik zu vergleichen und mit Hilfe eines Beispiels etwas näher zu bestimmen. Dabei sind wir uns im klaren, daß eine solche Zielsetzung, so unverfänglich sie zunächst klingen mag, auf blankes Glatteis führt. Sie ist nämlich für eine zwar nicht mehr gerade junge, aber nach fast 80jähriger Existenz als akademisches Lehrfach immer noch umstrittene und angefeindete Disziplin wie die Komparatistik nicht ohne Tücken und Gefahren. Denn es könnte sich ja erweisen, daß die Komparatistik auf dem Gebiet der Literaturtheorie in Methode, Gegenstand und Ziel haargenau das gleiche tut wie die nationalen philologischen Disziplinen, daß also diejenigen gerechtfertigt würden, die schon seit jeher behaupten, die Komparatistik sei überflüssig und ihre Aufgaben könnten von den traditionellen Fächern ohne Aufhebens und gleichsam am Rande miterledigt werden. Wer — von welchem Standpunkt auch immer — theoretische Fragen an die Komparatistik stellt, fragt damit gleichzeitig nach der Existenzberechtigung dieses Faches. Durchmustert man die komparatistischen Bibliographien und Zeitschriften, die stattlichen Aktenbände der AILC-Kongresse, ist man gezwungen, die zahlreichen Grundrisse und Handbücher unseres Fachs zu studieren, so kann man sich fürs erste des Eindrucks nicht erwehren, daß sich die Komparatisten mit den Fragen der literarischen Theorie und dem eng damit zusammenhängenden Gebiet der literaturwissenschaftlichen Methodenlehre um einiges angelegentlicher beschäftigen als ihre Kollegen von den nationalliterarischen Philologien. Wie wäre es sonst — um auf ein bekanntes Beispiel zurückzugreifen — möglich, daß Ulrich Weissteins Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft im Grunde doch nichts

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anderes darstellt als ein Handbuch der komparatistischen Literaturtheorie und Methodenlehre (ganz abgesehen davon, daß es alles andere, nämlich weitaus mehr und anspruchsvoller ist als eine 'Einführung')? Übrigens gilt das, von einer Ausnahme abgesehen, für alle anderen Werke dieser Art, in welcher Sprache sie auch abgefaßt sind: für die französischen Einführungen van Tieghems, Guyards, Simon Jeunes und Pichois-Rousseaus, für Stallknecht-Frenz und Aldridge, für die Introduction to the Comparative Study of Literature des Holländers Jan Brandt Corstius, für die in spanischer Sprache erschienenen Principios de literatura comparada von Cioranescu und auch für die Principii de literatura comparatä des Bukarester Komparatisten Alexandru Dima. (Einzig der Outline of Comparative Literature von Werner P. Friederich sieht von der Diskussion und Darstellung literaturtheoretischer und methodologischer Probleme ab und setzt 'Comparative Literature' recht einseitig mit der Geschichte der internationalen literarischen Beziehungen gleich.) Man wird also insgesamt sagen dürfen, daß in den komparatistischen Handbüchern theoretische und methodologische Fragen dominieren. Wirft man zum Vergleich einen Blick in entsprechende germanistische Handbücher und Einführungen, wird man feststellen, daß hier die Akzente weitaus gleichmäßiger verteilt sind. In der Deutschen Philologie im Aufriß gelten insgesamt nur zwei von mehreren Dutzend Abhandlungen theoretischen Fragen, und die Einführung von Hans Otto Conrady berücksichtigt zwar Theorie und Methodik in gebührendem Maße, erschöpft sich aber nicht in diesen Gebieten. Es wäre nun falsch, aus den Befunden, die sich bei unserem Vergleich komparatistischer und germanistischer Handbücher ergeben haben, den voreiligen Schluß zu ziehen, die Komparatisten hätten ein wacheres theoretisches Bewußtsein und ein brennenderes methodologisches Interesse als die Germanisten. Gerade in der Germanistik wurde und wird — heutzutage mehr denn je — der Streit um Theorien und Methoden mit einem Aufwand an Geist, Fleiß, Konzentration und Stimmkraft geführt, der von den Ergebnissen kaum gerechtfertigt wird. Wenn sich nun die Komparatistik — wenigstens in

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ihren Handbüchern — als noch theoriebeflissener darstellt, theoriebeflissener auch, als sie es in Wirklichkeit ist, so ist auch dies ein Effekt jenes auf den ersten Blick so äußerlichen Faktums der akademischen Fächerteilung: Die Komparatistik ist überall und besonders in Deutschland ein Fach, dessen Lehrstühle erst zu einem Zeitpunkt eingerichtet wurden, als die nationalen Philologien bereits ein jahrzehnte- und teilweise jahrhundertelanges akademisches Bürgerrecht besaßen. Bis heute leidet die Vergleichende Literaturwissenschaft unter dem Komplex, sie spiele im Grunde genommen in den Philosophischen Fakultäten die Rolle des 'Zugroasten', den die Einheimischen mit scheelen Blicken verfolgen und dessen Niederlassungsund Existenzrecht sie grundsätzlich in Frage stellen möchten. Diese Situation zwingt nun gleichsam die Komparatisten aller Herren Länder dazu, durch ständige theoretische Bemühungen und methodologische Reflexion die Autonomie und Existenzberechtigung ihrer Disziplin immer von neuem unter Beweis zu stellen. Die Beschäftigung der Komparatisten mit der Literaturtheorie hat also unter anderem — übrigens fast stets unausgesprochene und oft wohl auch unbewußte — apologetische Gründe. Diese Motivation mag Menschen von ungetrübtem wissenschaftlichen Ethos als fachegoistisch erscheinen. Sie ist aber angesichts der Situation des Faches doch wohl verständlich. Meine bisherigen Betrachtungen betrafen nur einige allgemeine Aspekte unseres Themas. Literaturtheorie aber ist ein Gegenstand, den man nicht generell abhandeln kann, ohne nicht gelegentlich auch einmal sehr speziell oder paradigmatisch zu werden. Ich möchte versuchen, meinen Thesen und Spekulationen über die Literaturtheorie in der Komparatistik und den philologischen Disziplinen mit Hilfe eines detailliert ausgeführten Beispiels etwas Substanz zu verleihen. Vor allem möchte ich, ganz im Sinne der üblichen apologetischen Motivation, mit Hilfe dieses Beispiels die Frage stellen, ob der Komparatist in Sachen Methodologie und Literaturtheorie anders vorgehen muß als beispielsweise der Romanist oder Germanist. Kurz, ich stelle folgende Frage: Gibt es überhaupt eine die Autonomie des Faches rechtfertigende komparatistische Theorie und Methodologie?

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Wenden wir uns unter diesem Blickpunkt einem literaturtheoretischen Sondergebiet zu, nämlich der Theorie des literarischen Einflusses. Was literarischer Einfluß sei oder ob es überhaupt einen solchen gebe, ist lange Zeit hindurch eine recht umstrittene Frage gewesen. Das lag zum großen Teil daran, daß Begriff und Erscheinung des literarischen Einflusses mit einem Lieblingsbegriff der Poetik des X V I I I . und X I X . Jahrhunderts kollidierten, nämlich dem der Originalität. Die Befürchtung, der Nachweis von Einflüssen könne der Originalität des Autors oder der Einzigartigkeit des literarischen Kunstwerkes nicht gerecht werden, ist immer wieder geäußert worden. Schon Goethe empfand diesen Aspekt des philologischen Forschungsdrangs als sehr lächerlich und hatte für dieses sein drastisches Urteil eine ebenso drastische und im übrigen einleuchtende Begründung zur Hand 8 : Man könnte ebensogut einen wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben. [. . .] Ich verdanke den Griechen und Franzosen viel, ich bin Shakespeare, Sterne und Goldsmith Unendliches schuldig geworden. Allein damit sind die Quellen meiner Kultur nicht nachgewiesen; es würde ins Grenzenlose gehen und wäre auch nicht nötig. Hinzu kommt seit einem etwa halben Jahrhundert eine andere Art der Argumentation: Wer in einem literarischen Werk nach Einflüssen suche, so hört man etwa, betreibe nutzloses positivistisches, stoffhuberisches Teufelswerk und zeige sich einem öden Determinismus ä la Taine oder naturwissenschaftlichem Kausalitätsdenken verhaftet. Auch hier komme, um mich einer Formulierung Emil Staigers zu bedienen7, die „Seinsart und die eigentümliche Würde der Welt des Dichterischen" zu kurz. Aller dieser Einwände ungeachtet steht, wie allgemein bekannt, das Erforschen literarischer Einflüsse seit jeher auf der Tagesordnung der philolo6 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Ernst Beutler, Zürich 1948 ( = Gedenkausg. von Goethes Werken, Bd. X X I V ) , 300 f. (Gespräch vom 16. 12. 1828). 7 Die Kunst der Interpretation, Zürich 1955, 10.

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gischen Disziplinen, und ein Blick auch in Bibliographien neueren Datums zeigt, daß sich an diesem Zustand bisher nichts geändert hat. Allerdings gibt es keine Einfluß-Forschung in dem Sinne, wie es eine Goethe-Forschung, eine Romantik-Forschung, eine Topos-Forschung usw. gibt. Das liegt zunächst daran, daß die Untersuchungen meist punktuellen Charakter haben, nicht aufeinander aufbauen und sich nicht zu einem System von Erkenntnissen und Ergebnissen zusammenschließen. Aber wenn die Einfluß-Forschung einen seltsam unsystematischen Eindruck macht, so hat dies auch einen anderen Grund, der in diesem Zusammenhang besonders interessiert. Die Arbeiten sind nämlich nicht nur in thematischer Hinsicht heterogen, sondern entbehren auch einer gemeinsamen theoretischen Grundlage. Jahrzehntelang hat die Literaturgeschichte literarische Einflüsse dargestellt und dabei Termini wie 'Einfluß', 'Wirkung', neuerdings 'Rezeption' usw. verwendet, ohne sich recht der theoretischen Probleme bewußt zu sein, die solche Untersuchungen aufwerfen. Als Zeugen dieses fehlenden Problembewußtseins seien die literaturwissenschaftlichen Realienbücher zitiert, die sich auch in ihren umfangreichsten Vertretern wie dem Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte über Begriffe wie 'Einfluß', 'Rezeption', 'Wirkung' usw. ausschweigen. Was ich eben über die fehlende theoretische Basis der Einfluß-Forschung sagte, mag freilich nicht für die Zeit um 1900 gelten, als man die Erscheinung des literarischen Einflusses ohne Schwierigkeit als einen Ursache-Wirkung-Prozeß im naturwissenschaftlichen Sinne deuten konnte. Nachdem aber der Erforschung von Einflüssen durch Denker wie Dilthey oder Croce diese positivistische Basis entzogen war, machte man sich nur noch gelegentlich Gedanken darüber, was denn Einfluß eigentlich sei, wie man ihn darstellen könne und welchem Zweck ein solcher Nachweis überhaupt dienlich sei. Ein bis teilweise in die neuesten Handbücher hineinreichender terminologischer Wirrwarr ist Zeugnis und gleichzeitig auch wieder fortwirkende Ursache dieser Ratlosigkeit. So scheiterte der Oxforder Romanist Gustave Rudier, der sich 1923 an einer theoretischen

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Durchdringung des Einflußproblems versucht hatte 8 , bereits an der Terminologie. Er sah in 'influence' — aller Etymologie zum Trotz — die Wirkungen, die von einem Dichter ausgehen, während er die empfangenen literarischen Einflüsse als 'sources' bezeichnete. Oskar Walzel wiederum sah 1929, dem allgemeinen und auch heutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch entsprechend, den Einfluß als Vorgang einer individuellen Rezeption an9, während ihn zehn Jahre später Julius Petersen als Teil der inneren Biographie eines Dichters gedeutet hat10, als einen neben vielen anderen biographischen Faktoren wie Kindheitseindrücken und Landschaft, Schule und Hochschule, Bibliotheksbenutzung und Bücherbesitz. Solche Abweichungen im terminologischen Gebrauch waren also einer systematischen theoretischen Bestimmung des literarischen Einflusses höchst hinderlich. Hinzu kamen Schwierigkeiten außerliterarischer Natur. Auf sie hat 1930 Arturo Farinelli in einem Aufsatz „Gli influssi letterari e l'insuperbire delle nazioni" hingewiesen11, der eher einen warnendpolitischen als theoretischen Charakter trägt. Der italienische Hispanist, Germanist und Komparatist stellt sich in dieser Abhandlung gegen Bestrebungen, aus Einfluß-Forschung eine Frage des nationalen Prestiges zu machen und aus der Quantität der ausgestrahlten oder empfangenen Einflüsse auf die Potenz bzw. die Bedürftigkeit der jeweiligen Nationalliteratur zu schließen. Eine solche Warnung mochte berechtigt sein; es gibt auch heute noch akademische Hüter bestimmter Nationalliteraturen, die ausgestrahlte Einflüsse als literarische Statussymbole ansehen, empfangene Einflüsse hingegen als anrüchig betrachten und sie nach Möglichkeit zu leugnen versuchen. Alle die bisher genannten Bemühungen haben sich aus verschiedensten Gründen als wenig geeignet erwiesen, dem Begriff des literarischen Einflusses etwas festere theoretische Umrisse zu verleihen. 8 Vgl. das betreffende Kapitel in: Les techniques de la critique et de l'hist. litt, en litt, française moderne, Oxford 1923. 9 Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Wildpark-Potsdam 1929, 46 ff. 10 Die Wiss. von der Dichtung — System und Methodenlehre der Lit.wiss., Berlin 21944, Abschnitt „Anpassung und Beeinflussung", 322—336. 11 Erschienen in: Mélanges d'hist. litt, générale et comp, offerts à Fernand Baldensperger, Paris 1930, I 271—290.

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Noch um 1950 bietet sich das paradoxe Bild eines sehr produktiven Forschungszweiges, dessen Gegenstand, Methoden, Zielsetzungen und Nutzeffekt noch keiner wirklichen theoretischen Prüfung unterzogen worden sind. Inzwischen hat diese Uberprüfung stattgefunden, und zwar im Rahmen einer großen theoretischen Debatte, die man in den Vereinigten Staaten über den Begriff und das Wesen des literarischen Einflusses geführt hat. Zeit (1950 bis etwa 1965) und Zentrum (die Vereinigten Staaten) dieser Debatte sind kein Zufall: Es ist das Land und es ist die Zeit, in der sich die Literaturtheorie René Welleks mit beträchtlicher Geschwindigkeit und Intensität verbreitet hatte und zu einer dominierenden Lehrmeinung geworden war. Die Grundkonzeption dieser Theorie, der zufolge das literarische Kunstwerk ein autonomes „Normensystem idealer Begriffe, die intersubjektiv sind", sei12, dem nur ein „intrinsic approach", d. h. eine Untersuchung der dem Werk immanenten Normen, Strukturen und Begriffe, gerecht werde, betraf direkt die Theorie wie übrigens auch die praktische Erforschung des literarischen Einflusses. Denn innerhalb des Wellekschen theoretischen Modells gehörte der literarische Einfluß zweifellos zu jenen Phänomenen, die als „extrinsic" gelten, d. h. als eine Erscheinung, die für die Erklärung dessen, was Literatur bedeute und darstelle, zwar gelegentlich beitragen könne, im übrigen aber belanglos sei. Die Einfluß-Forschung sah sich also auf den zwar wohlwollend geduldeten, aber doch zur Randzone der Forschung deklarierten Sektor der außerliterarischen Methoden abgedrängt und war genötigt, sich durch theoretische Besinnung als einen nach wie vor fruchtbaren Sproß der Literaturwissenschaft zu qualifizieren. Es kann nicht Aufgabe dieses Referates sein, die Argumentationen und Ergebnisse dieser Debatte bis ins letzte Detail darzustellen13. Jedenfalls können Studenten und Forscher, die sich heute Einfluß-Studien zuwenden wollen, von ganz anderen theoretischen Voraussetzungen ausgehen als etwa vor zwanzig Jahren. Diese Voraussetzungen sind — und dies ist besonders René Wellek — Austin Warren: Theorie der Lit., Darmstadt 1959, 174. Uber diese Debatte berichtet ausführlich Ulridi Weisstein in seiner Einführung, in die Vgl. Lit.wiss., Stuttgart 1968, Kapitel III. 12

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bemerkenswert — zum großen Teil der Komparatistik zu verdanken. Genauer gesagt: die Debatte wurde vorwiegend von Komparatisten oder doch wenigstens in komparatistischen Spezialpublikationen wie etwa dem Yearbook of Comparative Literature oder den Comparative Literature Studies geführt. Auch die französischen Einführungen in die Komparatistik von Pichois und Rousseau und Simon Jeune behandeln und diskutieren die Frage des Einflusses". Als Resultat der Debatte sei vor allem notiert, daß ein gewisser Consensus hinsichtlich der Terminologie und der Abgrenzung der Erscheinung des Einflusses gegenüber verwandten Phänomena hergestellt zu sein scheint. So ist man heute ziemlich übereinstimmend der Meinung, daß alle Erscheinungen, die sich aus der Breitenwirkung eines Autors oder eines Werkes ergeben, nicht mit dem literarischen Einfluß identisch sind, sondern allenfalls sein Substrat darstellen. Buchtitel wie L'influence de Zola en Allemagne oder gar Der Einfluß der englischen Literatur auf die deutsche sollten nach neuerer Auffassung vermieden werden, da es sich hier um Sachverhalte handelt, die besser mit den Worten 'Rezeption' oder 'Nachleben' bezeichnet würden, wozu dann im Deutschen noch das Wort 'Wirkung' käme. Übrigens verdiente jeder dieser drei Termini, vor allem der der 'Rezeption', eine spezielle theoretische Klärung, die den Rahmen dieser Betrachtungen sprengen würde. Auf jeden Fall zeichnet sich in der Forschung eine deutliche Tendenz ab, mit der Vokabel 'Einfluß' nur den individuellen Vorgang der Einwirkung eines Werks oder Dichters auf einen anderen Dichter oder ein anderes Werk anzuwenden. Der individuelle Charakter dieses Vorgangs gebietet es auch, literarische Einflüsse nicht dort zu sehen, wo es sich um Nachahmung oder Tradition handelt. Nachahmung ist die bewußte Reproduktion bestimmter literarischer Muster, deren Einfluß in der Regel keineswegs von der Nachbildung vorgegebener Prototypen geprägt und oft sogar ganz unbewußt ist. Literarische Traditionen wiederum sind gleichsam Einfluß-Petrefakte oft verschiede1 4 Jeune aaO. (vgl. Anm. 1) 27 ff. (sehr gedehnter Einfluß-Begriff, der sogar die „images" umfaßt). — Claude Pidiois — André M. Rousseau: La litt, comp., Paris 1967, 73 ff.

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nen Alters, die von Generation zu Generation weitergereicht werden und somit kollektiven Charakter haben. Dies gilt z. B. für den Petrarkismus des X V I . und X V I I . Jahrhunderts, der nicht etwa die Summe unzähliger individueller Einflüsse Petrarcas darstellt, sondern ein zur Konvention, ja Tradition gewordenes literarisches System erotischer Metaphern und Bilder, das sich an Petrarca orientierte. Aber auch bei einem Einfluß in engerem Sinne, d. h. bei einem individuellen Rezeptionsvorgang, hat dieser individuelle Charakter seine Grenzen, denn: ein Einfluß kommt selten allein. Diese an sich auf der Hand liegende Tatsache hat der Literaturästhetiker Ihab H . Hassan für die Theorie des literarischen Einflusses fruchtbar gemacht15. Er sieht in jedem einzelnen Einfluß nur ein Element eines ganzen Geflechts literarischer und natürlich auch außerliterarischer Einflüsse, die sich teils aus literarischen Traditionen und Konventionen, teils aber auch aus durchaus individuellen Vorlieben und Entscheidungen ergeben. Allerdings dürfte die sorgfältige Entflechtung und analytische Darstellung eines solchen Einfluß-Netzes, das unsichtbar jedes Werk der Weltliteratur überzieht, in der Praxis kaum durchführbar sein; indessen scheint es doch wichtig, daß sich auch der Erforscher einzelner Einflüsse der Existenz eines solchen Netzes stets bewußt bleibt. Auch der Anglist Wolfgang Clemen hat auf das Phänomen der „Einfluß-Mischung" hingewiesen, worunter er das „Zusammenführen von mehreren Einflüssen, das die Stil- und Formgestalt des betreffenden Dichters charakterisiere", versteht 16 . Die Frage, was literarischer Einfluß sei, wäre also mindestens ex negativo zu beantworten. Er ist weder Tradition noch Konvention, sondern ein — unter den angemeldeten Vorbehalten — individueller Vorgang literarischer Anverwandlung. Eine positiv definierende Lösung des Problems, die mehr darstellen würde als eine Privatmeinung, scheint bisher freilich noch nicht möglich. In der Forschung redet man aneinander vorbei, und das Spektrum der vorgetragenen 15 The Problem of Influence in Lit. Hist. — Notes toward a Definition, in: American Journal of Aesthetics and Art Criticism 14 (1955), 6 6 — 7 6 . " Was ist lit. Einfluß? i n : Neusprachliche Mitteilungen aus Wiss. und Praxis 22 (1969), 139 ff.

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Meinungen ist recht breit. So stößt man zu seiner Überraschung sogar noch auf Definitionen, die wie die folgende von Pichois und Rousseau ein antiquiertes kausalgenetisches Denken entlarven 17 : „Les influences proprement dites peuvent être définies le mécanisme subtil et mystérieux par lequel une oeuvre en engendre une autre." Als brauchbar, wenn auch farblos erweist sich hingegen die Formel des amerikanischen Slawisten und Komparatisten Joseph T. Shaw 18 : „An author may be considered to have been influenced by a foreign author when something from without can be demonstrated to have produced upon him and/or his artistic works an effect his native literary tradition and personal development do not explain." Einen besonders originellen und interessanten Versuch, dem Phänomen des literarischen Einflusses in etwas differenzierterer Weise gerecht zu werden, hat Claudio Guillen unternommen 19 . Der in Princeton lehrende Sohn Jorge Guilléns sieht im literarischen Einfluß einen psychologischen Vorgang: Nicht der Autor X beeinflußt den Autor Y, sondern X verfaßt ein Werk, das Y liest und dessen Gedächtnis dieses Werk in bestimmter Auswahl und unter bestimmten Gesichtspunkten registriert. Verfaßt Y nun seinerseits ein Werk, so werden während des Schöpfungsprozesses diese Gedächtnisfragmente bewußt oder auch unbewußt aktiviert und gehen in das entstehende Werk über. Die Frage, was literarischer Einfluß sei, ist freilich bis heute theoretisch noch nicht eindeutig beantwortet. Doch kann man sich damit angesichts der Tatsache abfinden, daß der von werkimmanenten Interpreten und eingeschworenen Crocianern oder Wellekianern verketzerte oder gar verleugnete literarische Einfluß wieder rehabilitiert ist und man sich über Ziel und heuristischen Wert der Einfluß17

AaO. (Anm. 14) 75. Joseph T. Shaw: Lit. Indebtedness and Comp. Lit. Studies, in: Newton P. Stallknecht — Horst Frenz (Hg.): Comp. Lit. — Method and Perspective, Carbondale 1961, 65. 19 Lit. como sistema. Sobre fuentes, influencias y valores literarios, in: Filología Romanza 4 (1957), 1—29. Ders.: The Aesthetics of Influence. St. in Comp. Lit., in: Comp. Lit. — Proc. of the Second Congress of the ICLA, ed. by Werner P. Friederich, Chapel Hill 1959, I, 175—192. 18

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Forschung einig ist. Auch die alte Streitfrage, ob der Nachweis literarischer Einflüsse nicht den Eindruck der Einzigartigkeit und Einheit des Kunstwerkes störe oder gar zerstöre, scheint nunmehr mit einiger Eleganz gelöst worden zu sein. Nach der Opinio communis, die auch meine Meinung ist, kann Einfluß-Forschung nicht lediglich in Nachweis von Quellen und Vorbildern bestehen. Auf diesen Nachweis kann freilich nicht verzichtet werden, doch hat er nur den Charakter einer unentbehrlichen Vorarbeit. Letztlich aber kommt es darauf an zu zeigen, was der rezipierende Autor mit seinem Vorbild angefangen hat, wie er es umgestaltet, seinen eigenen künstlerischen Intentionen untergeordnet und welche neue poetische Funktion er ihm verliehen hat. „Hinter Euphorion steht die Gestalt Lord Byrons" — eine solche Feststellung hätte vor siebzig Jahren genügt, um allgemeine hermeneutische Zufriedenheit herzustellen. Heute wären sie nur Ausgangspunkt für neue Fragen, etwa der nach der Bedeutung dieser Byron-Reminiszenz im Gesamtzusammenhang des den II. Teil des Faust tragenden Bilder- und Ideengefüges. Stand also in der Einfluß-Forschung des ausgehenden X I X . Jahrhunderts die Ermittlung des gebenden Parts im Vordergrund — man war stolz darauf, wenn man die Ursache einer Wirkung gefunden hatte —, so ist man sich heute darüber einig, daß sich die Untersuchungen auf den empfangenden Teil zu konzentrieren haben. So weit zur Theorie des literarischen Einflusses. Kehren wir vorerst zu unserem Ausgangspunkt zurück und stellen die Frage: Gibt es eine spezielle komparatistische Literaturtheorie oder nicht? Nun, die Antwort kann auf Grund unseres bisherigen Befundes nur negativ sein. Alles, was ich zur Theorie des literarischen Einflusses vorgetragen habe, alle diese Abgrenzungen, Rechtfertigungen, Thesen und Theorien, ob brauchbar oder nicht, ob auf schwachen oder festen Füßen stehend, sind zwar im wesentlichen von Komparatisten entwickelt und in komparatistischen Spezialpublikationen vorgetragen worden, spezifisch 'komparatistisch' aber sind sie nicht. Sie sind es deshalb nicht, weil sie sowohl anwendbar sind auf Einflüsse, die sich innerhalb einer einzigen Nationalliteratur abspielen, wie auf soldie, die die Grenzen einer Nationalliteratur überschreiten. Ist es nicht,

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so könnte man fragen, eine Anmaßung, wenn Ulrich Weisstein den literarischen Einfluß als „Schlüsselbegriff der Vergleichenden Literaturwissenschaft" bezeichnet20? Ist es nicht vielmehr so, daß die Vergleichende Literaturwissenschaft auf einem Forschungsgebiet, das sie als ihre ureigene Domäne betrachtet, in theoretischer Hinsicht mit den traditionellen Philologien so gut wie identisch ist? Hat nicht René Wellek recht, wenn er 1953 im Yearbook of Comparative Literature folgendes äußerte 21 : „There is no methodological distinction between a study of the influence of Ibsen on Shaw and of the study of the influence of Wordsworth on Shelley", oder soll man es mit Haskell M. Block halten, der fünf Jahre später in offensichtlicher Palinodie dieses Satzes folgende Zeilen drucken ließ 22 : „There is a tremendous difference between the study of — let us say — the influence of Ibsen on Shaw from a comparative standpoint and a study of the influence of Wordsworth on Shelley wholly from the standpoint of the student of English literature." Nun, ehe wir unsere Entscheidung treffen, möchten wir darauf hinweisen, daß es in den beiden letzten Zitaten nicht mehr um eine reine Theorie des literarischen Einflusses geht, sondern um methodische Fragen der Forschung. Theorie der Literatur ist nämlich, um an eine Binsenwahrheit zu erinnern, kein reines Glasperlenspiel, das man aus der Freude an der Abstraktion, der Deduktion und Spekulation treibt, sondern sie wird erst dort interessant, wo sie anwendbar wird, wo sie in Methodologie übergeht, dem Forscher und Studenten zeigt, wie er sich seines Gegenstandes bemächtigen kann, welche Fragen er an ihn stellen muß und mit welchen Mitteln er arbeiten muß, um Antworten auf diese Fragen zu erhalten. Wenn wir also am Beispiel der Theorie des literarischen Einflusses nachgewiesen haben, daß es so etwas wie eine komparatistische Literaturtheorie nicht gibt, so gilt dies nur dann, wenn wir Theorie als ein Glasperlenspiel mit reinen Abstraktionen, Begriffsbildungen und !0

AaO. (vgl. Anm. 13) 88. « The Concept of Comp. Lit., in: Yearb. Comp. Lit. 2 (1953), 1 f. " The Concept of Influence in Comp. Lit., in: Yearb. Comp. Lit. 7 (1958), 35.

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Definitionen auffassen. In diesem Reich der reinen Idee hat zweifellos René Wellek recht, wenn er sagt, es gebe nur e i n e Literaturtheorie, so wie es nur e i n e Literatur gibt — womit er übrigens nicht nur der Komparatistik, sondern auch der Anglistik, Germanistik und allen anderen nationalen Philologien den Boden unter den Füßen fortzieht, d. h. ihre Existenz theoretisch in Frage stellt. Aber erweisen sich die Thesen einer so verstandenen Literaturtheorie auch dann noch als brauchbar, wenn es darum geht, aus ihnen methodologische Folgerungen zu ziehen? Kehren wir noch einmal zu unserem Beispiel zurück. Haskell M. Block bezeichnet den methodologischen Unterschied zwischen einer komparatistischen Einflußstudie und einer monoliterarischen Einflußstudie als „tremendous". Der Gebrauch dieses Adjektivs erscheint zunächst zu polemisch, um sachlich gerechtfertigt zu sein. Auch die Gründe, die Block im folgenden für seine These anführt, nämlich, die komparatistische Einfluß-Forschung zeichne sich vor der nationalliterarischen durch eine größere „comprehensiveness of insight" und eine besondere „richness of implication" aus, sind recht vage. Im übrigen sollte kein Komparatist die Eigenständigkeit seines Gebiets und seiner Methode gegenüber anderen philologisch-literarischen Fächern zu beweisen und zu bewahren versuchen, indem er mit der vorgeblich größeren Quantität des von ihm behandelten Stoffes auftrumpft. Denn dieser Stoff ist nicht umfangreicher, er verteilt sich nur anders. Unter diesem Vorbehalt möchte ich mich aber Blocks These anschließen, d. h. auch ich postuliere, daß sich die komparatistische Einfluß-Forschung methodisch von einer rein innergermanistischen oder inneranglistischen Einfluß-Forschung in mancher Hinsicht unterscheidet. Ich möchte dies an einem Beispiel demonstrieren und gestatte mir zu diesem Zweck eine absurde Hypothese. Setzen wir den Fall, Calderón wäre ein deutscher Autor gewesen, und ein Germanist würde sich nun darin versuchen, den Einfluß dieses bedeutenden barocken deutschen Dramatikers auf Goethe zu untersuchen. Er würde zunächst einmal versuchen, einen solchen Einfluß philologisch nachzuweisen, und er könnte konstatieren, daß Goethe mit Calderón

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offenbar recht vertraut war, daß er ihn in seinen Briefen, Gesprächen, Annalen usw. erwähnt, daß er sogar einen kleinen Aufsatz über ihn verfaßt hat. Von dieser Basis könnte unser imaginärer Forscher dann ohne weitere Umstände zur Untersuchung der Frage schreiten, welche Rolle Calderón im Denken und Wirken Goethes spiele, wobei er — den gegenwärtigen Stand der theoretischen Diskussion berücksichtigend — diesen Einfluß als einen Prozeß geistiger und literarischer Anverwandlung und Metamorphose deuten würde. Da nun aber Goethe in Calderón nicht einem deutschen, sondern einem spanischen Autor begegnet ist, wird er auf Schwierigkeiten stoßen, von denen in der reinen Theorie nicht die Rede war. Schon der Nachweis der Calderón-Kenntnis und der Calderón-Lektüre Goethes steckt voller methodischer Fallstricke. Denn es stellt sich dem Forscher die banale und doch recht wichtige philologische Gretchen-Frage nach dem benutzten Text, und zwar mit noch einer weitaus größeren Dringlichkeit, als sie selbst in philologisch so wachen und sorgfältigen Disziplinen wie der Klassischen Philologie und der älteren Germanistik gestellt wird. Aber dort, wo diese Fächer nadi Handschriften oder Editionen fragen, stellt der komparatistische Einfluß-Forscher in der Regel die Frage nach der Ubersetzung. Goethe z.B. las Calderón nicht im spanischen Original, sondern in Ubersetzungen verschiedener Herkunft und verschiedener Qualität. Die Frage nach der Beschaffenheit dieser Texte ist wesentlich. Sprache ist der Werkstoff aller Literatur, und wenn Wirkung und Einfluß einer ausländischen Dichtung nur mit Hilfe eines Ersatzmaterials möglich sind, so ist dieser substituierte Text sorgfältig auf seine Qualitäten hin zu überprüfen. Noch einem anderen Problem gälte es in unserem Falle nachzugehen. Auf einen deutschen Calderón wäre Goethe aller Wahrscheinlichkeit nach von selber gestoßen, auf einen spanischen Calderón mußte er, dem die iberische Welt wenig vertraut war, erst gestoßen werden. Von wem also ging der Anstoß aus? War er vielleicht so mächtig, daß er Goethe in eine bestimmte Richtung trieb? Erst nach Klärung all dieser Fragen wird eine komparatistische Untersuchung über Goethe und Calderón zur Lösung des entschei-

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denden Problems vorstoßen, nämlich dem der gedanklichen und poetischen Integration 23 . Hat man also erst einmal jenen kritischen Punkt überschritten, an dem die Theorie in Methodologie übergeht, so erweist sich die postulierte Gleichheit der Theorie für alle literaturwissenschaftlichen Disziplinen als reine Abstraktion. Zumindest bei unserem Beispiel, dem literarischen Einfluß, setzt hier eine deutliche Differenzierung ein. Der Einfluß, den ein fremdsprachiger Autor ausübt, durchläuft bestimmte Brechungen und Metamorphosen, die bei Einflüssen innerhalb einer Nationalliteratur von vornherein entfallen; insbesondere die Anderssprachigkeit der beeinflussenden Texte ist keineswegs ein beiläufiges Phänomen, wie oft gemeint wird, sondern für das Problem des literarischen Einflusses wesentlich. Der mühelose, direkte sprachliche Zugang zum Text, innerhalb einer Nationalliteratur eine Selbstverständlichkeit, ist ja nur in den nicht gerade häufigen Fällen gegeben, wo der in Frage stehende Autor die fremde Sprache so beherrscht, daß er den in ihr verfaßten Text nicht nur schülerhaft übersetzen, sondern fließend und fehlerfrei lesen und seine stilistischen Qualitäten bis in die feinsten Nuancen erspüren und würdigen kann. Aber selbst in diesem Fall hat der Komparatist eine besondere Aufgabe zu lösen: nämlich eine solche Sprachbeherrschung erst einmal nachzuweisen. Keinesfalls kann er sich hier aufs Hörensagen verlassen wie so manche Literarhistoriker: Goethes Kenntnis des Italienischen war z. B. so lückenhaft wie Thomas Manns Französisch. In den meisten Fällen aber wird die Fremdsprachenkenntnis nicht vorhanden oder so gering sein, daß nicht der fremdsprachige Text selbst, sondern seine Ubersetzung die Grundlage jenes Vorganges darstellt, den man als literarischen Einfluß versteht. Diese Ubersetzung muß der Komparatist nicht nur ermitteln, sondern er muß auch untersuchen, wie stark sie in sprachlicher oder ästhetischer Hinsicht vom Original abweicht. Oft erweisen sich angebliche Einflüsse des Originals als Einflüsse der sprachlichen Eigentümlichkeiten 2 S Ein ähnliches Vorgehen findet man in der Tat bei Swana L. Hardy: Goethe, Calderon und die romantische Theorie des Dramas, Heidelberg 1965.

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der Ubersetzung. Bertolt Brechts Schweyk etwa ist von Jaroslav Hasek mindestens ebenso beeinflußt wie durch dessen Übersetzerin Grete Reiner. Denn sie erst hat Haseks Schwejk, der im Original natürlich tschechisch spricht, zu jenem unnachahmlichen böhmischkakanischen Pseudodialekt verholfen, der auch den Brechtschen Schweyk charakterisiert. Selbst im Hinblick auf Probleme, die mit dem stilistischen Gewand eines literarischen Werkes offensichtlich nichts zu tun haben (Komposition, Gattungsmerkmale, typische Charaktere usw.) erscheint eine Ubersetzungsanalyse nicht unangebracht: Bekanntlich gab es zu allen Zeiten Ubersetzer, die sich keinesfalls damit begnügten, den ihnen anvertrauten Text redlich in die andere Sprache umzusetzen, sondern die ihre Vorlage kürzten, verlängerten, nach eigenem Gusto umschrieben, Szenen und Kapitel umstellten, handelnde Personen mit einem gänzlich neuen Charakterbild versahen usw. — kurz, alles das taten, was noch heute in den Synchronisationsanstalten unserer Filmindustrie gang und gäbe ist. Übrigens verschafft nicht nur das Problem der Ubersetzung der komparatistischen Einfluß-Forschung eine Sonderstellung. Weitaus häufiger etwa als im literarischen Leben einer geschlossenen Sprachgemeinschaft wird im internationalen literarischen Verkehr das Bild eines Autors und seines Werkes durch einen sogenannten Mediateur, einen vermittelnden Kritiker, fixiert und damit der Einfluß häufig vorprogrammiert. In Deutschland las man Calderón jahrzehntelang mit den Augen der Brüder Schlegel, in Frankreich die Autoren der deutschen Klassik und Romantik durch die Brille der Madame de Stael. Schließlich sei noch auf eine Erscheinung hingewiesen, die sich leider objektiver wissenschaftlicher Betrachtung und theoretischer Begriffsbildung entzieht, aber nichtsdestoweniger die Methode einer komparatistischen Einflußuntersuchung mitzubestimmen hat. Ich möchte sie zunächst mit der unverbindlichen Formel vom Reiz und der Eigenart des Fremden umschreiben. Es gibt in der Komparatistik als Überbleibsel aus jenen Tagen, da sich diese Disziplin als Gegenkraft zu einem damals noch virulenten philologischen Nationalismus verstand, eine Tendenz zum perfekten Kosmopolitismus, zur Einebnung und zur Ignorierung der Unterschiede zwischen den

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Nationalliteraturen. Indessen wird sich auch der kosmopolitischste Komparatist nicht der Einsicht entziehen können, daß in der Literatur nicht nur ein abstrakter homo scribens zu Worte kommt, sondern auch der Angehörige einer bestimmten Nation, deren Denkund Lebensgewohnheiten und deren politischen, geistigen und literarischen Traditionen und Konventionen er mehr oder weniger stark verhaftet ist. Die Weltliteratur schillert nun einmal in den verschiedensten nationalen Farben, und sehr oft ist es gerade jenes nationale Kolorit, das einen bestimmten Autor und sein Werk für das Publikum und die Dichterkollegen des Auslandes reizvoll macht. Es ist kaum zu leugnen, daß etwa der englische 'appeaP Shakespeares auch für seinen literarischen Einfluß auf Sturm und Drang wie auf die Romantiker von großer Bedeutung war. Audi Heine, Hoffmann und Wagner haben auf die französische Literatur des X I X . Jahrhunderts u. a. deshalb eine so starke Wirkung ausgeübt, weil man sie so faszinierend 'deutsch' fand. Am Beispiel des literarischen Einflusses und seiner Erforschung läßt sich also nachweisen, daß die Komparatistik zwar keine eigene literarische Theorie hat, wohl aber über eine eigene Methodologie oder — wenn Sie so wollen — Heuristik verfügt. Die vergleichende Einfluß-Forschung geht ihren eigenen Weg mit einem eigenen Ziel. Dieser Weg — und das ist eine wichtigste Besonderheit — führt über die Sprachgrenzen, die die Literaturen der Welt voneinander trennen und die weder aufzuheben noch wegzudiskutieren sind. Er führt auch über die weniger trennenden, aber nicht minder augenfälligen Grenzen, die zwischen den Nationen als politischen und Kulturgemeinschaften existieren und wohl auch bei künftigen politischen oder gesellschaftlichen Umwälzungen nicht verwischt werden können. All dies gilt zwar zunächst nur für das von uns gewählte Beispiel des literarischen Einflusses. Ob sich eine ähnliche Rechnung für andere Teilgebiete der literarischen Theorie und literaturwissenschaftlichen Methodik aufmachen ließe, z. B. für die Theorie der literarischen Gattungen oder für die literaturwissenschaftliche Hermeneutik, ist nicht ausgemacht, darf aber doch wenigstens hypothetisch vorausgesetzt werden. Man wird also in zusammenfassender Formu-

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lierung wiederholen dürfen, daß es zwar keine komparatistisch 'reine' Literaturtheorie gibt, wohl aber eine spezifisch komparatistische Methodologie. Versuchen wir nun auf Grund dieser These, die Rolle der Literaturtheorie in der Allgemeinen Literaturwissenschaft, der Komparatistik und den monoliterarischen Disziplinen zu bestimmen. Für die Allgemeine Literaturwissenschaft haben sich keine neuen Aspekte ergeben. Ihr eigentlicher Gegenstand ist Literaturtheorie und literaturwissenschaftliche Heuristik; sie besitzt insofern eine starke Affinität zur Komparatistik, als sich ihre Reflexionen und Deduktionen notwendigerweise kaum auf der schmalen Basis einer einzigen Literatur vornehmen lassen. — Etwas komplizierter sind umgekehrt die Beziehungen der Komparatistik zur Literaturtheorie. Die Vergleichende Literaturwissenschaft, obwohl ihrer Herkunft nach eine historisch-philologische Wissenschaft, widmet sich ihrerseits mit Interesse und Intensität theoretischen und heuristischen Fragen. Sie tut es zunächst einmal deshalb, weil der Entwicklungsstand der Theorie und der Methodologie einen Gradmesser für die wissenschaftliche Zuverlässigkeit der Ergebnisse darstellt, die eine Disziplin vorlegen kann. Sie tut es gleichzeitig, um die Autonomie der Komparatistik theoretisch und heuristisch zu untermauern, sofern sie nicht, wie eine komparatistische Schule in den Vereinigten Staaten, auf die endgültige Aufhebung der Grenzen zwischen allen literaturwissenschaftlichen Disziplinen zusteuert und damit einen Weg einschlägt, der, wie ich meine, geradewegs an den Realitäten vorbei in ein wissenschaftliches Niemandsland führt. Fazit: Theorie der Literatur in der Komparatistik und Theorie der Literatur in den nationalliterarischen Fächern sind zwar im abstrakten Sinne identisch, doch erweist sich diese Identität als trügerisch, wenn die Theorie in Methodologie übergeht. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß es bestimmte literaturtheoretische Fragen gibt, die nur mit den Mitteln einer vergleichenden Heuristik gelöst werden können, während der Vertreter einer monoliterarischen Betrachtungsweise die Waffen strecken müßte. Hierzu gehört natürlich eo ipso die Theorie der Ubersetzung, aber auch z. B. bestimmte Aspekte der literari-

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sehen Wertung und sogar — was überraschen mag — Einzelprobleme der Literatursoziologie. Ein Anglist, der sich mit den theoretischen Aspekten der Bildung literarischer Gruppen und Schulen beschäftigt — der Fall ist nicht fingiert —, ist vom Gegenstand her gezwungen, komparatistisch zu arbeiten, da eine Theorie der literarischen Gruppenbildung, die sich nur auf die entsprechenden Erscheinungen der englischsprachigen Literaturen stützte, falsche Akzente setzen würde. Die Komparatistik zeigt also im Kreise der verschiedenen philologisch-literarischen Disziplinen ein eigenes und unverwechselbares Profil. Sie wird sich dieses Profil aber nur dann bewahren können, wenn sie sich selbst und den Nachbarfächern immer wieder ins Bewußtsein ruft, daß sie keine literarische Universalwissenschaft sein kann — auch nicht im Hinblick auf die Theorie der Literatur und die Methodologie der Literaturwissenschaft. Dem Komparatisten steht die Rolle eines Hans Dampf in allen philologischen und theoretischen Gassen schlecht zu Gesicht. Die Vergleichende Literaturwissenschaft ist nicht die Summe der Philologien, sondern sie nimmt nur jene Sektoren ein, auf denen sich die Kreise dieser Philologien überschneiden. Ultra posse nemo obligatur.

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Zum Begriff und über das Studium der Literatur in vergleichender Sicht Beginnen wir unsere Betrachtung mit dem Einfachsten, mit der naiv klingenden Frage: Was ist Literatur? Dieses Einfachste stellt sich ohne Aufschub als das zugleich Komplizierteste heraus. Nicht eine, sondern zahllose und zum Teil widersprüchliche Antworten bieten sich an. Sollte es sich um eine bloß scholastische, um eine unnütze Frage handeln? Aber spätestens seit Jean-Paul Sartres 1947 erstmals veröffentlichtem Essay Qu' est-ce que la littérature? läßt sie sich aus unserem Bewußtsein nicht mehr ausklammern. U n d wie sollen wir über etwas sprechen und schreiben, wenn wir nicht wissen, worüber wir im Grunde sprechen und schreiben? Literatur: immer wieder wird versucht, den Begriff zu bestimmen, ihn einzugrenzen, sei es auch auf die allgemeinste und unverbindlichste Weise. Für Knaurs Lexikon ist 'Literatur' „das schriftlich niedergelegte geistige und künstlerische Schaffen". Sogleich erheben sich Zweifel: nur das „schriftlich niedergelegte"? U n d weiter: ist jenseits des „Geistigen" und „Künstlerischen", was immer das im Zeitalter maschinell herstellbarer Poesie heißen mag, keine Literatur möglich? Der Petit Larousse umschreibt 'littérature' als „ensemble de productions littéraires d'un pays, d'une époque". Abgesehen davon, daß hier ein unbestimmter Begriff A einfach durch einen anderen unbestimmten Begriff A ' ersetzt wird, melden sich sofort Bedenken gegen die Einengung des Literaturbegriffs durch mehr oder weniger willkürlich geographische oder zeitliche Grenzen. So erweisen sich selbst die großzügigsten Definitionsversuche als unzulänglich, weil zu ausschließlich. Sollen wir also ehrlicherweise auf jede Definition verzichten und 5

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uns mit der resignierten Einsicht begnügen, Literatur sei eben — Literatur, oder, subjektiv gefaßt, sie sei das, was sie in einem bestimmten Augenblick für ein bestimmtes Individuum bedeute? Das hieße dann nichts anderes, als daß es unendlich viele Literaturen gibt, nämlich die Zahl aller entstandenen und noch entstehenden literarischen Äußerungen multipliziert mit der Zahl aller möglichen Leser, Hörer und Betrachter. Dieser Pluralismus hätte wenigstens den Vorteil, daß er uns von der abstrakten Spekulation zurückführte zu den Werken, von denen ja in der Tat jedes seine unverwechselbare Wirklichkeit besitzt. Er erinnerte uns daran, daß ohne Werke keine Literatur ist, daß Literatur nur in den Werken erfahrbar bleibt. Ein Literaturstudium, das sich 'vergleichend1 oder 'allgemein' nennt und vom einzelnen Phänomen zu größeren Zusammenhängen vordringen will, hätte hier aber auch zugunsten eines 'werkimmanenten' Literaturverständnisses, eines unendlich erneuerten Dialogs zwischen Leser und Werk, abzudanken. Aus dem zauberhaften Spiegellabyrinth einer solchen Immanenz können wir uns vielleicht nur mit Hilfe des Fadens nach außen finden, wie ihn allein das historische Bewußtsein spinnt. Die 'Wissenschaft von der Literatur' muß sich dann allerdings dazu bequemen, wieder altmodische Literaturgeschichte zu treiben. Versuchen wir die Probe aufs Exempel, und blicken wir zurück. Da muß einem bei der Beschäftigung mit älteren Zeugnissen des literarischen Verständnisses und Selbstverständnisses bald einmal auffallen, daß die Grundsatzfrage nach dem Wesen der Literatur allgemein vermieden oder zum mindesten nicht in unmißverständlich radikaler Form gestellt wird. Wir erfahren zwar sehr viel über literarische Gattungen und Techniken, über Ziel und Zweck des Schreibens, über das Verhältnis zwischen Autor und Publikum; aber das Problem, was denn Literatur eigentlich sei, scheint nicht als solches empfunden zu werden. Wir könnten, einen Satz Hofmannsthals variierend, sagen, der Schriftsteller erkenne sich selber nicht als Seher und Denker, sondern als Handwerker, an den Zeichen von Winkelmaß, Brille, Zirkel und Lineal. Boileau, Handwerker unter Handwerkern, geht mit seinem Art

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poétique, dem Vorbild der antiken Poetiken folgend, in médias res ein, ohne sich bei einleitenden Begriffsbestimmungen aufzuhalten. Anstatt nach Literatur fragt er gleich zu Beginn nach dem Autor, das heißt nach den individuellen Voraussetzungen, die es zum Schreiben braucht. Erst Voraussetzung aber ist die Begabung: C'est en vain qu'au Parnasse un téméraire auteur Pense de l'art des vers atteindre la hauteur: S'il ne sent point du ciel l'influence secrète ... Andere Poetiken und Handbücher der Rhetorik lassen es sich zwar angelegen sein, auf den Spuren Aristoteles', Quintilians, Ciceros, der Rhetorica ad Herennium oder Horazens die literarischen Gattungen und die ihnen zugehörigen Techniken zu definieren, sie verzichten aber darauf, Literatur gegenüber Nicht-Literatur abzugrenzen. Wesentlich ist nicht das Konzept Literatur, sondern das Konzept Poesie (das geht bekanntlich bis zu Croce, für den 'Poesie' dann der entscheidende Oberbegriff wird). Welches sind die Kennzeichen der Poesie? Eine Hauptrolle spielen hier die Vorstellungen des Angenehmen, des Erfreulichen, ferner des Nützlichen, des Belehrenden und des Schicklichen — also zum guten Teil gesellschaftlich bestimmte Kriterien. In seiner Schrift über La Manière de bien penser dans les ouvrages de l'Esprit läßt der Père Dominique Bouhours am Ende des XVII. Jahrhunderts seinen Eudoxe unter Berufung auf den spätantiken Rhetor Hermogenes von der poésie sprechen, qui tend presque toute au plaisir, nous amuse, et nous réjouit. Das Vergnügen besteht in den von Bouhours erwähnten Fällen — er verweist unter anderem auf Theokrit und Virgil — im von der Dichtung evozierten Bild der schönen Landschaft mit Blumen, Gewässern und Gehölzen, also des klassischen locus amoenus. Boileau mahnte bereits eindringlich: N'offrez rien au lecteur que ce qui peut lui plaire. Um ein komplexeres und wenig bekanntes Beispiel aus dem deutschen Sprachgebiet zu nehmen: Johann Bernhard Basedow schreibt in seinem 1756 publizierten Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit, man sehe das Vergnügen des Lesers in der Poesie für eine weit notwendigere Ab5*

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sieht an als in der Prosa. Als Endzweck der Poesie bezeichnet er: erstens die Lebhaftigkeit der Lehren und die Stärke der Empfindungen in der Religion, zweitens den patriotischen Eifer, die Pflicht der Großen, die heroische Ehrliebe und die Staatsklugheit, drittens die Darstellung der Moral der Privatpersonen und des guten Geschmacks, viertens den Ausdruck der Affecte und Empfindungen, fünftens das Gefallen an einer edlen Unschuld und Mäßigkeit, sechstens Ehrerbietung, Freundschaft und Liebe. Dabei werden den verschiedenen Endzwecken der Poesie bestimmte Gattungen zugeordnet und diese durch Hinweise auf Autoren und Werke von der Antike bis zu Rousseau, Young und Klopstock illustriert. Die ganze buntscheckige Zusammenstellung, in der Traditionelles und Zeitgenössisches mehr nebeneinanderstehen als sich verbinden, zeigt, wie stark hier die Dichtungstheorie bereits nach den Werken selber orientiert ist, inbegriffen die avanciertesten Erzeugnisse der damaligen Moderne. Die Frage, was älter sei, Dichtung oder Poetik, Literatur oder Literaturtheorie, mag der Frage nach dem Huhn und dem Ei gleichen. Mehr noch: Huhn und Ei sind in diesem Fall oft identisch. Zu allen Zeiten sind die Autoren mit programmatischen Erklärungen über Wesen, Ziel und Zweck ihrer Arbeit nicht sparsam gewesen; nicht selten haben sie sich für kürzer oder länger das literaturtheoretische Metier zu eigen gemacht und darin unter Umständen, wie Boileau, sogar ihr Bestes geleistet. Es ist also nicht erstaunlich, daß Vergnügen und Belehrung auch in den Werken selber als erklärte Ziele der dichterischen Bemühungen erscheinen. La mutiere est delitable a oyr et proufitable a retenir, sagt der Verfasser des altfranzösischen Bérinus, und im Lyoner Ysopet, einer Fabelsammlung, heißt es, das Werk sei der Garten, die Blüten seien die Exempla der Fabeln, die Früchte aber die nützlichen Lehren, die es daraus zu ziehen gelte. Nützlichkeit nimmt ein halbes Jahrtausend später auch Rousseau für seine Confessions in Anspruch: un ouvrage utile et unique, lequel peut servir de première pièce de comparaison pour l'étude des hom-

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mes. Selbst der Marquis de Sade glaubt sich auf einen didaktischen Hintergrund seiner Schauergeschichten berufen zu müssen. Die gesellschaftskritische Literatur der Moderne weist ihren anklägerischen Schilderungen unbefriedigender Zustände fast immer eine lehrhafte Funktion zu. Ein so restloses Schuldbekenntnis, dieser Menschheit anzugehören, meint Karl Kraus zu seinen Letzten Tagen der Menschheit, müsse trotz allem irgendwie willkommen und irgendeinmal von Nutzen sein. Daneben gibt es freilich zu jeder Zeit auch das unverhohlene Bekenntnis zur Subjektivität des literarischen Unternehmens, sei es in der in der europäischen Uberlieferung wohlbekannten pathetischen Form des Ewigkeitsanspruchs, wo das Werk zum Instrument eines höchst persönlichen Bedürfnisses wird, über den leiblichen Tod hinaus zu dauern, sei es in der untertreibenden Feststellung eines Montaigne, er habe seinem Buch proposé aucune fin, que domestique et privée. Theoretiker und Praktiker, theoretisierende Praktiker und praktizierende Theoretiker ziehen es also insgesamt vor, statt über das Wesen der Literatur über ihre 'Faktur' zu sprechen. Das gilt sowohl dort, wo ein mehr oder weniger geschlossenes 'System', eine Poetik, vorgelegt wird, als auch dort, wo bloß einzelne Reflexionen und beiläufige Bemerkungen erscheinen. Konkrete Anweisungen und Beispiele aus der literarischen Praxis sind wichtiger als begriffliche Spekulationen. Und diese Feststellung trifft nicht allein für die Vergangenheit zu. Die von Sartre im Titel seines Buches formulierte scheinbar so theoretische Frage erfährt bei ihm ebenfalls eine ganz konkrete, in der bestimmten historischen, gesellschaftlichen und persönlichen Situation des Jahres 1947 begründete Antwort. Das abstrakte Qu'est-ce que la littérature? löst sich auf in drei eindeutig faßbare Aspekte, drei Teilfragen: Was heißt Schreiben? Warum schreibt man? und Für wen schreibt man? Die Analyse Sartres zeigt uns nicht das Bild 'der' Literatur, sondern 'seine' Literatur. Interessant ist dabei, daß die klassische Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa beibehalten wird. Ist die letztere für Sartre in ihrem eigentlichen Wesen 'engagiert', also belehrend, so bleibt die erstere 'reine' Kunst, sprachliches Ereignis, und das heißt doch wohl nichts

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anderes als delectatio. Durch das moderne Literaturmanifest schimmern unverkennbar die traditionellen Muster durch. Eine konkrete Bedeutung hat das Wort Literatur in den Anfängen ja überhaupt. Ernst Robert Curtius wies darauf hin, daß 'litteratura' zunächst als „Ubersetzungsäquivalent" für 'grammatica' gebraucht wurde und mit Literatur im heutigen Sinn wenig zu tun hatte. Litterae autem sunt indices rerum, signa verhör um, heißt es bei Isidor von Sevilla. Das 'Buchstabenwesen' wurde erst mit der Zeit zum 'Schrifttum'. Im deutschen Sprachgebiet bedeutete 'Literatur vorerst 'Wissenschaft' schlechthin. Lessing war, wie Wolfgang von Einsiedel feststellte, einer der ersten, der unter 'Literatur die zeitgenössische Publizistik und das literarische Leben verstand. Das XVIII. Jahrhundert, das den Begriff der Literatur ungefähr mit dem französischen 'Belles-lettres', also dem schöngeistigen Schrifttum, gleichsetzte, war in Deutschland aber zugleich die Epodie der eigenen sprachlich-literarischen Bewußtwerdung. Damit erhielt der moderne Literaturbegriff in der kulturpolitischen Diskussion von Anfang an eine nationale Spitze, die sich — nicht selten in polemischer Weise — vor allem gegen die Vorherrschaft der romanischen Literaturtradition richtete. Auf die Notwendigkeit der intellektuellen Emanzipation vom französischen Vorbild hatte schon Christian Thomasius hingewiesen. Der Sturm und Drang, die deutsche Variante der europäischen Vorromantik, spielte die germanische gegen die mediterrane Welt aus. Herder, Goethe, Frisi und Moser publizierten 1773 ihre fliegenden Blätter Von deutscher Art und Kunst. Justus Moser konnte 1781 in seinem Versuch Über die deutsche Sprache und Litteratur schreiben: Die wahre Ursache, warum Deutschland nach den Zeiten der Minnesinger wieder versunken, oder so lange in der Kultur seiner Sprache und der schönen Wissenschaften überhaupt zurückgeblieben ist, scheinet mir hauptsächlich darin zu liegen, daß wir immer von lateinisch gelehrten Männern erzogen sind, die unsre einheimischen Früchte verachteten und lieber Italiänische oder Französische von mittelmäßiger Güte ziehen, als deutsche Art und Kunst zur Vollkommenheit bringen wollen .. .

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Die französische Literatur und Sprache hatten im X V I I . Jahrhundert ihre europäische Stellung begründet. Frankreich verstand — und versteht weitgehend heute noch — seine kulturelle Mission nicht als 'nationales', sondern als internationales Anliegen. Dieser Anspruch gründet auf einem Traditionsbewußtsein, das nicht bloß konservative Züge trägt. Die moderne Nation erscheint als Trägerin einer weltumspannenden Zivilisation der Humanität und Vernunft und als Wahrerin der klassischen Bildungsüberlieferung. Schon bei Chrestien de Troyes wird Frankreich als die Mehrerin des griechischrömischen Erbes dargestellt. In einer berühmten Stelle im Roman Cligès schreibt der altfranzösische Dichter, Rittertum und Gelehrsamkeit seien von Griechenland nach Rom und nach Frankreich gekommen, wo sie, so es Gott gefalle, für immer bleiben sollten : Puis vint chevalerie a Rome Et de la clergie la some Qui ore est en France venue. Des doint qu'ele i soit retenue, Et que Ii leus li abelisse Tant que ja mes de France n'isse L'enors qui s'i est arestee. Die 'Universalité de la langue française' wurde noch am Ende des X V I I I . Jahrhunderts von den Bildungsschichten fast aller europäischen Staaten anerkannt. Es ist das Verdienst unter anderen Madame de Staëls, daß sich die französische Literatur den modernistischen Strömungen der Romantik öffnete und sie ihrem klassischen Geist anverwandelte. Il est impossible d'être un bon littérateur, sans avoir étudié les auteurs anciens, sans connaître parfaitement les ouvrages classiques du siècle de Louis XIV. Mais l'on renoncerait à posséder désormais en France des grands hommes dans la carrière de la littérature, si l'on blâmait d'avance tout ce qui peut conduire à un nouveau genre, ouvrir une route nouvelle à l'esprit humain, offrir enfin un avenir à la pensée . . ., schrieb sie schon im Jahre 1800 im Vorwort zu De la Littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales. Diese Offenheit wurde

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Madame de Staël von den damaligen Machthabern Frankreichs, die in künstlerischen Dingen einen nationalen Klassizismus bevorzugten, sehr übelgenommen. Nous n'en sommes pas encore réduits à chercher des modèles dans les peuples que vous admirez, erklärte der Polizeiminister Napoleons der Autorin, als er die erste Auflage von De l'Allemagne einstampfen ließ. Der romantische Kosmopolitismus, der sich in vielen Fällen mit politischem Liberalismus verband — man erinnere sich der Rolle Lamartines oder derjenigen Hugos —, setzte sich in Frankreich trotzdem durch, und die französische Literatur konnte sogar in manchen europäischen Ländern zur Vermittlerin romantischen Geistes und romantischer Moden werden. So egozentrisch die französische Literatur im X I X . Jahrhundert und zum Teil bis heute blieb und bleibt, so lebendig erhielt sich in ihr das kosmopolitische Element. Nationalistische und chauvinistische Züge fehlen in der französischen Kulturgeschichte keineswegs; aber der Begriff der 'Literatur' konnte in diesem Land nicht rundweg auf einen militanten Nationalismus festgelegt und gegenüber dem Fremden abgegrenzt werden. Französische Literatur bedeutete immer auch europäische und Weltliteratur. Für die Entstehung der modernen Komparatistik im Frankreich des X I X . Jahrhunderts ist dieser Umstand wichtig. Kosmopolitismus gab es natürlich auch im Deutschland Mosers und der Brüder Grimm. Vor allen Dingen gab es jedoch einen literarischen Regionalismus, der nichts mit Hinterwäldlertum zu tun hatte, einen Universalismus des Partikularen, dem die deutsche Literatur einige ihrer hervorragendsten Leistungen verdankt. Das Problem der Nation in ihrem Verhältnis zur Literatur konnte in dieser Sicht als nebensächlich erscheinen. Genau das meinte Wieland, wenn er in seinem Aufsatz über Nationalpoesie feststellte, die deutsche Nation sei eigentlich nicht Eine Nation, sondern ein Aggregat vieler Nationen, und das von vielen Seiten geäußerte Verlangen nach einer Nationaldichtkunst als lächerlich bezeichnete. Goethe hat im Aufsatz über Literarischen Sansculottismus zu der Frage, wann und wo ein klassischer Nationalautor entstehen könne, mit der ihm eigenen Klarsicht bemerkt: Wir wollen die Umwälzungen nicht

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wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten. Nun, die Umwälzungen sind gekommen, aber eine klassische Nationalliteratur brachten sie nicht, sondern bloß eine nationale und manchmal auch chauvinistische Interpretation des literarischen Erbes. Der gesellschaftskritische Kosmopolit Heine wurde da zum spätromantischen Sänger umstilisiert und Theodor Körner in den Rang eines Klassikers erhoben. Die Universalität der Brüder Schlegel wurde auf Dimensionen zurückgeschnitten, die sich zum Hausgebrauch eigneten. Georg Gottfried Gervinus, der die Geschichte der Poetischen National-Literatur der Deutschen schrieb, hatte noch eine sehr präzise Vorstellung von den weltliterarischen Dimensionen und meinte, wer es nicht verstehe, den Geist fremder Zeiten und Völker wie seiner eigenen zu fassen, und am kleinen Maaß seiner persönlichen oder nationeilen, seiner gelehrten oder dogmatischen Beschränktheit die Welt ausmessen wolle, es nicht wagen dürfe, nach der Palme in der Geschichtsschreibung zu ringen. Bei Erich Schmidt heißt es dann bloß noch, Litteraturgeschichte solle ein Stück Entwicklungsgeschichte des geistigen Lebens eines Volkes mit vergleichenden Ausblicken auf die anderen Nationalliteraturen sein. Nationalliteratur konnte das Gegenstück zur nationalen Wirtschaft oder zur nationalen Armee werden. Ernest Renan charakterisierte die Nation als une grande agrégation d'hommes, saine d'esprit et chaude de cœur, die une conscience morale schaffe. Der in Deutschland beliebte Terminus 'Volk' zielte dagegen von jeher auf die Sprache als das verbindende Element. Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden, formulierte Jacob Grimm. An die Stelle einer sprachlichen Universalité — auch Beat von Muralt, Sismondi, Senghor und Ionesco sind französische Autoren! — tritt hier die 'Muttersprache' mit ihrem mythischen oder pseudomythischen Gehalt. Die Frage, ob eine Nation im modernen Sinn eine eigene, gleichsam personifizierte Nationalliteratur überhaupt brauche, stellte sich in diesem Kontext gar nicht: Die Sprache — und durch sie die Literatur — hatte ja gerade den entscheidenden Beweis für die Existenz von Volk und Nation darzustellen. In Frankreich bedurfte es eines solchen Be-

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weises nicht; die Nation war politisch konkret seit dem Spätmittelalter da, verkörpert in der Royauté und dann in der République. Man wird auch im Falle der Schweiz sagen dürfen, die politische Nation reiche bis weit ins Mittelalter zurück, obwohl von einer modernen Nation erst seit 1848 zu sprechen ist. Dabei behielt die Struktur des neuen Staates stark föderalistische Züge, die mehr an die alte Reichsidee als an den Einheitsstaat des industriellen Zeitalters erinnern. Eine politische Interessengemeinschaft von sehr beschränkten geographischen Dimensionen und zugleich ohne sprachliche und kulturelle Einheit, wie die Schweiz sie darstellt, konnte den Anspruch, eine eigene Nationalliteratur zu besitzen, nie ernsthaft erheben. Gonzague de Reynold ging in der kulturpolitischen Publizistik des XVIII. Jahrhunderts den Spuren eines gemeinsamen Nationalgefühls in der französischen und in der deutschen Schweiz nach; Fritz Ernst deutete aus komparatistischer Sicht die Funktion der Helvetia mediatrix in Vergangenheit und Gegenwart; das war aber auch das Maximum, was für die gesamtschweizerische Sache aus der Literatur zu holen war. In seiner Schrift Gibt es eine schweizerische Nationalliteratur? mußte sich sogar Fritz Ernst auf die Feststellung beschränken, eine solche sei „mehr eine Idee als eine Institution". Was sich in einer traditionell nationalistischen Perspektive als Mangel darzustellen scheint, war und ist jedoch in Wirklichkeit ein Gewinn. Die Inkongruenz von Nation und Literatur in der Schweiz zeigt auf die allerdeutlichste Weise, wie wenig die beiden Begriffe an sich miteinander zu schaffen haben. Die Betonung liegt auf 'an sich'. Natürlich gibt es zahlreiche Relationen zwischen Nation und Literatur und ist es sinnvoll, diese von Fall zu Fall zu untersuchen und zu bestimmen als mögliche Beziehungsformen zwischen Literatur und Gesellschaft. Es handelt sich dabei um nicht mehr und nicht weniger als ein literatursoziologisches Problem, das es rational zu durchdringen, nicht metaphysisch zu beweihräuchern gilt. Der Begriff der Nation ist heute noch — und bei den jungen Staatsgebilden der Dritten Welt erst recht — Träger starker Gefühlswerte. Trotzdem und gerade deshalb kann nur ein entemotionalisiertes Verhältnis zwischen Literatur und Nation ein wahrhaft fruchtbares Verhält-

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nis sein. Eine sinnvolle Verwendung des Begriffs der 'Nationalliteratur' ist in der Gegenwart überhaupt wohl nur noch dann möglich, wenn wir darunter so viel wie 'Sprachliteratur, das heißt Literatur eines bestimmten Sprachgebiets, verstehen. Ich habe bis jetzt versucht, einige individuelle und einige kollektive Vorstellungen dessen, was Literatur sei oder sein könne, aus dem raschen Blick in den historischen Rückspiegel zu beschreiben. Ich bin dabei bereits vergleichend vorgegangen; daß ich mich auf die Polarität Deutschland-Frankreich konzentriert habe, ist ein Mangel, den ich mit dem Hinweis entschuldigen darf, daß man sich nur über Dinge äußern soll, die man einigermaßen kennt. Die angedeutete Spannung zwischen der romanischen und der germanischen Literaturtradition ist, unter speziellen politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen, auch ein Motiv der schweizerischen Geistesgeschichte, das übrigens im intellektuellen Leben der Gegenwart noch deutlich vernehmbar bleibt. Aus diesem Grund, und weil es sich um eine Sache handelt, die ich in einem unmittelbaren Sinn als die meine bezeichnen darf, habe ich unser Thema auch in die helvetische Perspektive gestellt, die hoffentlich keine Froschperspektive ist. Auf jeden Fall haben wir damit den Umkreis des 'einzelsprachlichen' oder 'monoliterarischen Literaturbegriffs überschritten und sehen uns wiederum mit einer komplexeren Wirklichkeit konfrontiert. Mit einer Literaturkonzeption, die von vornherein auf universelle Gültigkeit Anspruch erheben könnte, haben wir es zwar nicht oder noch nicht zu tun, aber doch mit einer, die neue, breitere und tiefere Dimensionen gewinnt. Diese Mehrdimensionalität ist das Zeichen der Literaturbetrachtung, die wir die 'vergleichende' oder 'komparatistische' nennen. Mehrdimensionalität heißt jedoch noch lange nicht Totalität, und Komparatistik heißt — ich möchte gegenüber meinem Landsmann François Jost daran festhalten — nicht 'Absolutistik'. Wir werden uns nun sogar fragen müssen, wie weit sie so etwas wie 'Generalistik' sein kann — oder wie weit Vergleichende und Allgemeine Literaturwissenschaft verschiedene Dinge bezeichnen. Von der Entstehungsgeschichte her läßt sich die Identität der beiden Begriffe

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jedenfalls nicht vertreten, und ich glaube, daß sie sich auch von der Praxis unserer Arbeit her nur partiell vertreten läßt. Vergleichende Literaturwissenschaft wurde bekanntlich im letzten Jahrhundert in Frankreich als Ergänzung zur 'einzelsprachlich' betriebenen 'nationalen' Literaturwissenschaft begründet, mit der konkreten Aufgabe, die Jean-Marie Carré noch 1951 ganz klar umschrieben hat: „La Littérature comparée est une branche de l'histoire littéraire: elle est l'étude des relations spirituelles internationales, des r a p p o r t s de f a i t . . . " In diesem Zusammenhang bedeutet 'international' eindeutig 'zwischennational' und nicht 'übernational' (dem letzteren entspricht ungefähr 'supranational'). Man hat diesen Standpunkt, ob zu Recht oder Unrecht, oft als orthodox bezeichnet, und die französische Komparatistik hat sich vor allem in neuerer Zeit immer wieder den Vorwurf des 'Positivismus' gefallen lassen müssen. Sehen wir einmal davon ab, daß ein solcher Vorwurf auch eine Reverenz gegenüber gewissenhafter historischer Dokumentation — oder eine willkommene Entschuldigung für mangelhafte eigene Sorgfalt — bedeuten kann, und begnügen wir uns mit dem Hinweis darauf, daß sich die französische Komparatistik von Anfang an keineswegs in bloßer Zettelkastengelehrsamkeit erschöpfte, sondern über die „rapports de fait" hinaus allgemeine Zielsetzungen anvisierte. Schon Joseph Texte erkannte 1895 jenseits der Taineschen Begriffe der 'race' und des 'milieu' die Möglichkeit, daß der komparatistische Kosmopolitismus zu einem „culte de la littérature du monde" führen könne. Fernand Baldensperger gab in seinem bekannten, 1921 in der ersten Nummer der Revue de Littérature Comparée veröffentlichten Aufsatz der Hoffnung Ausdruck, daß die Komparatistik einen neuen Humanismus begründe. Und der vielgeschmähte Marius-François Guyard möchte in den 'Images'- und 'Mirages'-Studien eine „leçon de lucidité et d'humilité" finden, indem sie uns auf die Relativität unserer scheinbar absolut gültigen Urteile aufmerksam machen. Ob das ein so 'veralteter' Standpunkt ist, wie gelegentlich behauptet wird, scheint mir sehr fraglich; sicher wird niemand behaupten wollen, derartige Lektionen seien in unserer Zeit überflüssig geworden. „Die Untersuchung des literarischen

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'Bildes vom andern Land'", schrieb Hugo Dyserinck vor wenigen Jahren, „könnte . . . in hohem Maße zur weiteren Entideologisierung der Literaturwissenschaft beitragen." Fügen wir ruhig bei: auch zur Entideologisierung der Literatur schlechterdings. Richtig ist, daß in der Perspektive der traditionellen französischen Komparatistik das 'Kunst'-Element der Literatur gegenüber den historischen und soziologischen Bedingtheiten zurücktritt. Es fragt sich nur, ob das unbedingt ein Nachteil ist. Man mag darin mit Redit eine Gefahr sehen; andererseits hat man vor allen Dingen in der Germanistik generationenlang derart beharrlich metaphysisdie Vernebelungsmanöver auf dem Gelände der Literatur durchgeführt, versucht man heute noch und immer wieder, das literarische Faktum, den „fait littéraire", als Offenbarung geschichtslos-'ewiger' Mächte zu verabsolutieren, daß es ein notwendiger Akt intellektueller Hygiene sein kann, dieses literarische Faktum wieder ins überschaubare Koordinatennetz der „rapports de fait" einzuordnen. Die Komparatistik kann und soll hier ohne Zweifel die wichtige Rolle eines Korrektivs spielen, das die Literatur vor einer Isolierung vom historischen und gesellschaftlichen Kontext bewahrt. Es ist kein Zufall, daß es gerade der jüngste internationale Komparatistenkongreß in Bordeaux war, der das „Ende der werkimmanenten Interpretation" und den Anbruch einer „literatursoziologischen Epoche" verkündete. Man wird sich nun allerdings davor zu hüten haben, daß die Soziologie absolut gesetzt wird, als ein neuer Fetisch an die Stelle einer abgetakelten Volkstumsmystik tritt und den Glauben an die Wahrheiten orphischer Sprüche auswechselt gegen den Glauben an die Heiligkeit von Marx, Engels und Adorno — alte Unfreiheit ersetzt durch neue Unfreiheit. Wenn die Vergleichende Literaturwissenschaft im engeren Sinn des Wortes stark von soziologischen Gesichtspunkten mitbestimmt ist, so ist es in der Allgemeinen Literaturwissenschaft das literaturtheoretische Element, welches dominiert. Die Komparatistik hat sich von Anfang an unter anderem die Aufgabe gestellt, die Rolle der 'kleineren' Literaten, der Vermittler, Ubersetzer, Publizisten usw.

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im internationalen commerce der Literatur ins richtige Licht zu stellen; die 'Generalistik' (um sie nun einmal so zu nennen) wendet ihre besondere Aufmerksamkeit den Kritikern und Theoretikern, den Verfassern von Poetiken und Rhetoren zu. Die beiden Sparten werden, wenn auch auf etwas andere Weise, bereits von Paul van Tieghem unterschieden. In seinem Handbuch La Littérature comparée (1931) behandelt die Littérature comparée im engern Sinn die Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Einzelliteraturen, während sich die Littérature générale den großen literarischen Strömungen auf internationaler Ebene zu widmen hat und schließlich in eine Histoire littéraire internationale, also in eine Geschichte der Weltliteratur, einmündet. Van Tieghem hat selber die drei Forschungsrichtungen praktiziert; sein Ossian en France repräsentiert die klassische Rezeptions- und Einflußstudie, Le Romantisme dans la littérature européenne die zugleich analytisch und synthetisch vorgehende Untersuchung einer 'übernationalen Strömung, seine 1941 publizierte Histoire littéraire de l'Europe et de l'Amérique de la Renaissance à nos jours schließlich den dritten Typus der 'universalen' bzw. in diesem Fall europäisch-amerikanischen Literaturgeschichte. Es ist offensichtlich, daß der weltliterarische Anspruch des zuletzt genannten Entwurfs weitaus am schwierigsten zu rechtfertigen ist, daß die Gefahr einer bloß lexikonartigen Aufzählung von Autoren und Werken, die man schließlich doch nur zum kleineren Teil selber gelesen und bedacht hat, ein solches Unternehmen in die Nähe enzyklopädischer Stoffhuberei rücken und damit die ganze Komparatistik in den Geruch der Oberflächlichkeit und leichtfertiger Synthese bringen kann. Man muß sich, glaube ich, darüber im klaren sein, daß auch im Bereich der Literatur niemand alles lesen und kennen kann, auch dann nicht, wenn — wie an manchen nordamerikanischen Universitäten — dem Forscher eine bewundernswerte bibliographisch-dokumentarische Organisation zur Verfügung steht. Und trotz allen gegenteiligen Behauptungen geht doch auch in der Literaturwissenschaft die Quantität nicht selten auf Kosten der Qualität, die Breite auf Kosten der Tiefe. Die Lektüre von Werken wie Der Mann ohne Eigenschaften oder A la Recherche du temps perdu

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braucht nun einmal ihre Zeit, und es ist vielleicht gar nicht wünschenswert, daß diese Zeit mit irgendwelchen Schneilese-Techniken reduziert werde. Andererseits wird sich auch der Komparatist nicht damit begnügen können, die Texte in der Reader's Dige5i-Fassung des Laffont-Bompiani und von Kindlers Literaturlexikon kennenzulernen. So nützlich summarische Ubersichten immer wieder sind, so wenig dürfen sie uns den Zugang zu den Texten selber verstellen. Ich halte es deshalb für eine positive Erscheinung, daß sich die Komparatistik in jüngster Zeit im gesamten gegenüber allzu anspruchsvollen Synthesen eher zurückhaltend zeigt, sich entschiedener wieder auf ihre Sonderaufgaben besinnt und die großen Aufgaben im Teamwork zu bewältigen sucht, wie es etwa für die von der internationalen Komparatistenvereinigung konzipierte Histoire comparée des littératures de langues européennes der Fall ist. N u n ist freilich der Begriff einer 'Allgemeinen Literaturwissenschaft' in den philologischen Bemühungen des X X . Jahrhunderts aller Spezialisierung zum Trotz ein Zentralbegriff geworden, der nicht nur die Fragwürdigkeit, sondern auch den Imperativ einer 'totalen' Literaturbetrachtung im Zeitalter weltweiter Interdependenz andeutet. Aber dieser Begriff läßt sich auf recht verschiedene Arten konkretisieren. Ähnlich wie der Schriftsteller dem Begriff der Literatur von seiner individuellen Praxis her den tatsächlichen Gehalt verleiht, so erfüllt auch der Wissenschaftler und Kritiker den seinen von der persönlichen Forschungsarbeit her. Wenn bei van Tieghem von 'allgemeiner Literatur' im Sinne einer Erweiterung und Krönung der Komparatistik die Rede ist, so läßt sich der Begriff auch unter den Gesichtspunkten der einzelsprachlichen bzw. 'nationalen' Philologien praktisch verwirklichen. So haben als Germanisten Max Wehrli seine Allgemeine Literaturwissenschaft und Wolfgang Kayser sein Sprachliches Kunstwerk geschrieben. Walter Muschgs Tragische Literaturgeschichte ist ein von der Konzeption her weltliterarisch orientiertes Werk, und die Arbeiten von Fritz Strich sind germanistisch und kosmopolitisch zugleich. Dies sind nur einige Beispiele aus der neueren Germanistik; sie könnten durch andere ergänzt werden (aber es ist vermutlich kein Zufall, daß von

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den vier genannten Forschern zwei Nichtdeutsche sind und die zwei andern längere Zeit im Ausland lebten . . . ) . Neben solchen Fällen, in denen die universale Betrachtungsweise der Literatur aus der 'nationalen' gleichsam herauswächst und mehr oder weniger komplementär zu dieser erscheint, gibt es ja auch heute eine Allgemeine Literaturwissenschaft, die sich von allem Anfang an als eine solche versteht. Literatur 'an sich' ist das Thema sowohl der auf eine allgemeine Literaturtheorie hin orientierten Forschungen René Welleks als auch mindestens zum Teil der marxistischen Literaturwissenschaft. Wellek sieht einen wesentlichen Aspekt der literaturkritischen Arbeit darin, die „Schranken der Sprachen und historischen Formen der Sprachen" zwischen Werken, Werkgruppen und Lesern aufzuheben und ein universales Musée imaginaire der Literatur einzurichten. Praktisches Beispiel für die Erfüllung dieses hochgespannten Programms ist Welleks eigene Geschichte der Literaturkritik; aber auch eine Textsammlung wie Enzensbergers Museum der modernen Poesie als Dokumentation der lyrischen Avantgarde der sechziger Jahre quer durch alle Nationalliteraturen könnte genannt werden. Für einen Gelehrten wie Viktor Jirmunskij erlaubt dagegen „die marxistische Konzeption des historischen Prozesses... zum ersten Male, eine 'Weltliteratur' aufzubauen, nicht nur als einfache Summe nationaler Literaturen . . . , sondern als gesetzmäßige Entwicklung der gesellschaftlichen (Klassen-)Ideologie auf der Grundlage der sozial-ökonomischen Beziehungen". Schließlich ist daran zu erinnern, daß die moderne Mediävistik, von ihren besonderen Vorausetzungen herkommend, zwar nicht mit dem Begriff der Weltliteratur, wohl aber mit demjenigen der europäischen Literatur zu arbeiten gelernt hat. Ernst Robert Curtius hat dafür ein Maß gesetzt, dem nicht leicht zu genügen ist. In seinem Mittelalterbuch empfahl — und praktizierte — er die Methoden der klassischen, mittellateinischen und der neueren Philologie; wer sich damit vertraut mache, erklärte er, werde lernen, „daß die europäische Literatur eine 'Sinneinheit' ist, die sich dem Blick entzieht, wenn man sie in Stücke aufteilt". Die Richtung, in der sich die gegenwärtige Literaturwissenschaft

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bewegt, scheint eindeutig zu verlaufen: entsprechend den politischen, wirtschaftlichen, sozialen Entwicklungen tendiert sie zur Universalität, zu einem globalen Bewußtsein, und dies nicht nur in geographischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Im selben Maß, wie die sogenannten unteren Gesellschaftsschichten, die einst 'namenlosen Massen', geschichtsbestimmend werden, erfährt auch der Literaturbegriff eine Erweiterung: von der früher von der Forschung oft noch als folkloristisches Amüsement betrachteten 'Volksliteratur' bis zur Trivialliteratur, zur agitatorischen und Pop-Literatur, bis zu Mauerinschriften und Bandes dessinées, von den Formen der Radiound Fernsehübermittlung gar nicht zu reden, scheint nun kaum mehr eine schriftliche oder mündliche Äußerung als grundsätzlich 'unliterarisch' zu gelten — ja unter Berufung auf den vielzitierten Satz, mit dem Ludwig Wittgenstein seinen logisch-philosophischen Traktat beschließt, ist selbst die Nicht-Äußerung in den literarischen Rang erhoben worden. Man kann, man muß sich angesichts dieser verwirrenden Situation, in der wir von einem allgemeinen Einverständnis über das Wesen der Literatur weiter denn je entfernt sind, fragen, ob hier für eine Vergleichende Literaturwissenschaft überhaupt etwas zu holen sei. Denn was kann Vergleichung noch bedeuten, wenn alles und jedes vergleichbar geworden ist! Der Ring unserer Betrachtung hätte sich damit geschlossen, und wir wären wieder beim Ausgangspunkt, bei der naiv-großartigen Frage nach der Literatur überhaupt angelangt. Die Komparatistik hätte dann bescheiden abzudanken. Übrig bliebe allenfalls Friedrich Schlegels progressive Universalkritik als eine noch mögliche Form einer an keine Grenzen gebundenen 'Generalistik'. Ohne sich auf solch radikale Fragestellungen einzulassen, hat bereits René Wellek in seiner Theory of Literature die Existenzberechtigung einer eigentlichen Komparatistik bezweifelt. Die Unterscheidung zwischen Vergleichender und Allgemeiner Literatur lasse sich, so schreibt er, in der Praxis nicht aufrechterhalten. Als Beispiel nennt er den historischen Roman in der Romantik, der sich als generelles Phänomen nicht von der Einflußgeschichte Walter Scotts auf die nichtenglischen Autoren trennen lasse. Das Beste wäre deshalb, 6

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meint Wellek, nur von 'Literatur' zu sprechen. Man könnte sich hier auch Benedetto Croces erinnern, der Mehrsprachigkeit als selbstverständliche Voraussetzung der literaturkritischen Arbeit betrachtete und den Textvergleich als nützliche Methode anerkannte und selber praktizierte, für die Bemühungen der Komparatisten, ihrer Disziplin einen Platz an der akademischen Sonne zu erwerben, jedodi nicht das geringste Verständnis aufbrachte. Die Formel, die sich auch hier darbietet, würde lauten: Allgemeine Literaturwissenschaft ja, Vergleichende Literaturwissenschaft nein. Wir sind also, auf Umwegen, wieder beim Stichwort 'Absolutistik' angelangt. Man gestatte mir dennoch, im folgenden für die scheinbar nicht gerade zum besten stehende Sache der 'klassischen' Komparatistik ein weiteres Wort einzulegen. Darauf, daß die komparatistische Mehrdimensionalität noch lange nicht so viel wie Totalität bedeutet, und auf die persönlichen und methodischen Schwierigkeiten des 'weltliterarischen' Anspruchs habe ich bereits hingewiesen. D a ß die Unterscheidung zwischen allgemeiner und vergleichender Literaturbetrachtung trotz allem weiterhin eine sinnvolle und brauchbare Arbeitshypothese darstellt, diese Annahme bringe ich ferner mit der Uberzeugung in Zusammenhang, daß das dialogische Verhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in der Literatur — wie im Leben überhaupt — weder durch die wirklichen oder scheinbaren Errungenschaften der Avantgarde noch auch durch das Gegenbeispiel einiger weniger weltliterarisch gebildeter Forscher und Kritiker hinfällig geworden ist. Es scheint mir vielmehr, gerade in der modernen Welt komme der Vergleichenden gegenüber der Allgemeinen Literatur eine besondere Funktion zu. Robert Escarpit hat einmal die Aufgabe des Komparatisten als diejenige der Differenzierung bezeichnet. Das ist das Gegenteil von Generalisierung. In einer Welt, die mehr und mehr dazu neigt, die Dinge über einen Leisten zu schlagen, ist das Bekenntnis zur Differenzierung ein wissenschaftliches und zugleich ein menschliches Engagement. Aber bleiben wir zunächst beim praktischen Aspekt des Problems, wie er sich in der literaturgeschichtlichen und -kritischen Arbeit zeigt.

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Natürlich ist es weder möglich noch wünschbar, die Vergleichende von der Allgemeinen Literatur in allen Fällen konsequent zu trennen. Die von Wellek erwähnten Überschneidungen sind häufig. Stil-, Epochen-, Motiv- und Gattungsforschung müssen zugleich komparatistisch und allgemein vorgehen. Aber auch hier betont die Komparatistik in viel höherem Maß das Partikulare. Eine allgemeine Studie über den europäischen Symbolismus zum Beispiel hat „den Symbolismus als Gesamtheit, als historische Bewegung in der Literaturgeschichte zu überschauen, das heißt seinen Beginn und Verlauf, sein Wollen und Können"; dabei wird die Untersuchung vor allem auf die gemeinsamen „Wesenszüge symbolistischer Kunst" ausgerichtet sein, wie es in Wolfgang Kaysers Essay Der europäische Symbolismus — Versuch einer Einführung der Fall ist, aus dem die obigen Formulierungen stammen. Eine komparatistische Studie wird dagegen etwa die Aufnahme und Übernahme der französischen symbolistischen Lyrik im deutschen Sprachgebiet, ihre Darstellung in Publizistik und Literaturkritik und ihre Aneignung in Übersetzung und Nachdichtung behandeln. Sie wird weniger das generell 'Symbolistische als das Besondere des deutschen Bildes vom französischen Symbolismus — mit all seinen Veränderungen und Verzerrungen — nachweisen. Die Untersuchung hat sich dabei keineswegs auf die reine Einfluß- bzw. Images-Forschung zu beschränken. Über die im restriktiven Sinn des Wortes komparatistische Behandlung des Themas hinaus stellt sich die Frage nadi der allgemeinen Rezeption der französischen Symbolisten in der deutschen Literatur, also nach dem, was wir heute als die Wirkungsgeschichte bezeichnen. Man wird auf diese Weise zum Beispiel von der Analyse der Ubersetzungsleistung K. L. Ammers (Karl Klammers) auf das Verhältnis zwischen Trakl und Rimbaud kommen oder von Georges BaudelaireUmdichtungen auf die Hymnen, die Pilgerfahrten, den Algabal, das Jahr der Seele. Ich möchte indessen annehmen, daß es einen Punkt gibt, an dem eine solche Untersuchung nicht mehr als komparatistisch, sondern als national- bzw. 'monoliterarisch' zu bezeichnen ist. Wo liegt dieser Punkt? Das heißt: wo verläuft die Grenze zwischen einer nationalliterarischen Betrachtungsweise, die sich gelegent4*

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lieh komparatistischer Methoden bedient — die von Erich Schmidt erwähnten „vergleichenden Ausblicke" — und der Vergleichenden Literatur? Dieses Problem sei zum Schluß kurz gestreift. Zunächst nochmals: Jede nationale' Philologie stellt im wesentlichen auf eine einzige Sprache und die in ihr verfaßten literarischen Zeugnisse ab, während die Komparatistik prinzipiell — der Akzent liegt auf diesem 'prinzipiell'! — von zwei oder mehreren Sprachen ausgeht. Aus diesem Grund ist die Komparatistik auch das geeignete, ja wie mir scheint das einzige Instrument, mit dem sich in einem mehrsprachigen Staat literaturkritisch mit dem Blick aufs Ganze arbeiten läßt. Eine Realität wie diejenige der literarischen Schweiz in ihrer Gesamtheit von Genf bis Romanshorn und von Chiasso bis Porrentruy kann ich gar nicht anders als komparatistisch verstehen. Sie ist — ich habe das schon betont — kein 'monoliterarisches', sondern ein zusammengesetztes, ein pluralistisches Phänomen, dessen einzelne Bestandteile historisch und soziologisch in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu vergleichen sind. Dasselbe gilt für Staaten wie Belgien, Kanada, die Sowjetunion usw., und es muß sogar für ein Land wie Frankreich im Verhältnis etwa der littérature d'oc zur littérature d'oïl gelten — wobei über die Existenzbedingungen der Minoritäten, über ihre Vergewaltigung, ihre Verkümmerung, ihre Vernichtung oder ihr Uberleben höchst aktuelle Betrachtungen anzustellen sind. Es wird eines Tages ohne Zweifel auch für eine europäische Föderation gelten dürfen. Eine solche Betrachtungsweise, die im Sinne Robert Escarpits zur Differenzierung nur scheinbar einheitlicher Erscheinungen führt, scheint mir die Bezeichnung komparatistisch zu verdienen, und im Umstand, daß die Vergleichende Literaturwissenschaft den marginalen' oder peripheren Literaturen ihre besondere Aufmerksamkeit zuwendet — ich nenne etwa die französische Schweiz, den französischsprachigen Teil Kanadas, die neuprovenzalische Literatur, um mich an einige naheliegende Fälle zu halten —, sehe ich einen wichtigen Unterschied zur 'Generalistik'. Eine ähnliche Auffassung äußerte der Belgier Jean Weisgerber 1967 beim Belgrader Komparatistenkongreß im Zusammenhang mit der geplanten Histoire com-

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parée des littératures de langues européennes: „L'idée de subordonner les littératures 'nationales'", sagte er, „aux courants et, le cas échéant, aux genres, me paraît excellent. Mais, m'est-il permis, en tant que spécialiste de la littérature 'flamande', de rompre une lance en faveur des caractères propres à certaines régions ou pays à l'intérieur des grands ensembles linguistiques. Le cas des littératures suisses, canadiennes, 'austro-hongroises' et belges de même que, dans un autre ordre d'idées, celui des littératures américaines, australiennes etc., nécessiteront une attention particulière." Dabei geht es, möchte ich beifügen, nicht darum, sich aus irgendeiner 'Sonderliteratur' eine private gelehrte Spezialität zu machen. Daß die Komparatistik bei der Beschäftigung mit diesen Sonderliteraturen immer wieder auf das Problem der Beziehungen zwischen Minoritäten und Majoritäten kommt, stellt die ganze Thematik in den größeren Zusammenhang der Möglichkeiten und Schwierigkeiten des menschlichen Zusammenlebens, in einen Kontext also, der gerade in unserer Zeit ernste gesellschaftliche und politische Fragen aufwirft. Der 'monoliterarisch1 orientierte Forscher wird, ähnlich wie der 'Generalist', den angedeuteten Sonderformen immer nur ein beschränktes Interesse abgewinnen und die historisch-soziologische Differenzierung der literarischen Verhältnisse eines Sprachgebiets oder der Literatur schlechterdings als bloß komplementär zu seinen eigentlichen Angelegenheiten betrachten. Dieser Unterschied zwischen 'nationaler' und Vergleichender Literaturwissenschaft vertieft sich in der Praxis noch mehr. Während die erstere einen zwischensprachlichen Vergleich stets im Hinblick auf ein bestimmtes Phänomen der eigenen Literatur unternimmt, also nolens volens von einer Art Rangordnung ausgeht, stehen für die letztere beide Elemente des Vergleichs grundsätzlich auf demselben Niveau. Ein Beispiel: Für den Germanisten sind die bereits erwähnten Baudelaire-Umdichtungen Georges vor allem interessant im Hinblick auf die künstlerische Selbstwerdung des deutschen Dichters; sie markieren ihm einen Abschnitt in der Entwicklungsgeschichte Georges, einen zwar wichtigen Abschnitt, der ohne eine gewisse Kenntnis des französischen Vorbildes nicht völlig verständlich werden kann, der aber

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seinen Sinn nicht in sich selber, sondern in der Perspektive auf die Gesamterscheinung Georges trägt, auf das, was dieser Mann für die deutsche Literatur bedeutet. Der Komparatist wird eine solche Betrachtungsweise, die ich 'finalistisch' nennen möchte, nicht teilen. Für ihn beruht der Vergleich auf der Ambivalenz der Fleurs du Mal und der Blumen des Bösen; Baudelaire wird ihm nie weniger wichtig als George, und wenn er versucht, die deutschen Umdichtungen in ihrem Wert und in ihrer Bedeutung einzustufen, so bleibt ihm der Hintergrund der französischen Originale stets präsent. Seine ganze Arbeit steht, wenn ich es so ausdrücken darf, unter dem Zeichen der Zwillinge. Das alles will nicht heißen, daß der Komparatist sich nicht auch bemüht, ästhetisch-kritisch zu urteilen — es heißt aber, daß für ihn die Hierarchie von Toesia' und 'Non-poesia' so wenig das einzige Kriterium sein kann wie die „geistige Entwicklungsgeschichte des Volkes", dem er angehört, oder die Vorstellung von der schöpferischen Potenz des Individuums. Den Vorwurf, er verliere bei seinen Grenzgängen und Brückenschlägen, beim Umgang mit den Bewohnern der literarischen Randzonen das Maß für das, was Literatur als Kunst sei, wird er sich gefallen lassen müssen im Bewußtsein, daß er sich wenigstens jederzeit strebend bemüht, den terribles simplifications, unter denen unsere Welt schon so viel gelitten hat und immer wieder leidet, weder sich selber noch die andern zum Opfer zu bringen — auch nicht jener verlockenden, vielleicht schönsten Vereinfachung, daß Literatur das Alpha und Omega aller Dinge sei.

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