Die Gattungen in der vergleichenden Literaturwissenschaft [Reprint 2018 ed.] 9783110856569, 9783110044966


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INHALT
Vorwort
Permanente Mutation
Zur Dynamik literarischer Gattungen
Probleme und Möglichkeiten vergleichender Gattungsforschung
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Die Gattungen in der vergleichenden Literaturwissenschaft [Reprint 2018 ed.]
 9783110856569, 9783110044966

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Komparatistische Studien Band 4 Die Gattungen in der Vergleichenden Literaturwissenschaft

Komparatistische Studien Beihefte zu „arcadia" Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Horst Rüdiger

Band 4

W DE Walter de Gruyter • Berlin • New York 1974

Die Gattungen in der Vergleichenden Literaturwissenschaft Mit Beiträgen von Jörg-Ulrich Fechner • Gerhard R. Kaiser Willy R. Berger

Herausgegeben von Horst Rüdiger

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1974

ISBN 3 11 004496 X

Library of Congress Catalog Card Number: 73-88304 © Copyright 1973 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Alle Rechte des Nachdrucks, der Übersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Drude: Omnium-Druck, Berlin Printed in Germany

INHALT H. R. Vorwort JÖRG-ULRICH FECHNER Permanente Mutation — Betrachtungen zu einer .offenen' Gattungspoetik GERHARD R. KAISER Zur Dynamik literarischer Gattungen WILLY R. BERGER Probleme und Möglichkeiten vergleichender Gattungsforschung

Vorwort Am 23. und 24. Juni 1972 hielt die Deutsche Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft ihre zweite wissenschaftliche Tagung in Regensburg ab. Das Thema lautete: Das Problem der literarischen Gattungen in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; es war nach Befragen der Mitglieder vom Vorstand beschlossen worden. Wie bereits bei der ersten Tagung im Jahr 1970 wurden drei Gelehrte der jüngeren Generation zu Vorträgen eingeladen: Jörg-Ulrich Fechner (Cambridge, jetzt Bochum), Gerhard R. Kaiser (Mainz, jetzt Gießen) und Willy R. Berger (Bonn). Ihre Ausführungen, denen sich eine erfreulich lebhafte Diskussion anschloß, werden hier der weiteren Öffentlichkeit übergeben. Den Referenten stand es frei, ihre Manuskripte für den Druck zu überarbeiten und die Ergebnisse der Diskussion einzubeziehen; von dieser Möglichkeit haben sie in verschiedenem Maße Gebrauch gemacht. Die Anordnung entspricht der Reihenfolge der Vorträge in Regensburg. Dieses Heft trägt den Reihentitel Komparatistische Studien — Beihefte zu „arcadia" — Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft — Band 4. Damit ist die in Band 1 {Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Berlin/New York 19711) gegebene Zusage erfüllt worden, eine neue wissenschaftliche Buchreihe zu eröffnen. Auf die beiden unterdessen im gleichen Verlag erschienenen Werke sei ausdrücklich hingewiesen: Erwin Koppen: Gegen diese Publikation, welche die während der Tagung unserer Gesellschaft in Mainz gehaltenen Vorträge zusammenfaßt, ist — ohne die Presseberichte zur Kenntnis zu nehmen oder beim Herausgeber zurückzufragen — der Verdadit geäußert worden, die gedruckten Vorträge seien aus einer größeren Zahl a u s g e w ä h l t worden. Diese Unterstellung entspricht nicht der Wahrheit: Sowohl der erste wie der vorliegende vierte Band enthält a l l e Vorträge, die während der Tagung gehalten worden sind — selbstverständlich ohne Eingriffe des H e r ausgebers in den Text, für den die Autoren die Verantwortung tragen. 1

VIII Dekadenter Wagnerismus — Studien zur europäischen Literatur des Tin de Siecle, Berlin/New York 1973 (VIII, 386 S.), und Martin Brunkhorst: Shakespeares „Coriolanus" in deutscher Bearbeitung — Sieben Beispiele zum literaturästhetischen Problem der Umsetzung und Vermittlung Shakespeares, ebd. 1973 (XI, 187 S.). Der Unterzeichnete hofft, daß sich die Reihe im Laufe der Jahre zu einer komparatistischen Bibliothek entwickeln wird. H. R.

JÖRG-ULRICH

FECHNER

Permanente Mutation Betrachtungen zu einer .offenen' Gattungspoetik'"" In nova fert animus mutatas dicere formas. Ovid: Metamorphosen I 1 In seiner Autobiographie berichtet Charles D a r w i n eine köstliche A n e k d o t e aus seiner Studentenzeit 1 : [...]

no pursuit

much eagerness It was

at Cambridge

was followed

or gave me so much pleasure

the mere

them,

and rarely

ished

descriptions,

passion compared

for

collecting,

their external

but got them

named

with

nearly

as collecting for

I did

characters anyhow.

not with

so

beetles. dissect publ-

I will give

a

* Nachstehender Text gibt die vollständige ursprüngliche Fassung wieder, die aus Zeitgründen auf der Regensburger Tagung leicäit gerafft vorgetragen wurde. Bemerkungen der Diskussion wurden für den Abdruck nicht eingearbeitet. Das geschieht nidit etwa, um einen Aussdiließlichkeitsansprudi zu erheben, sondern um die vorgetragene These zur Gattungspoetik und -geschickte in ihrer ursprünglichen Konzeption zu belassen. Auch für die Gattungstheorie gelten die Sätze, mit denen Johann George Sulzer die Vorrede zu seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste [ . . . ] beschließt (Leipzig 2 1792, Bd. I, S. X X ) : In dem Reiche des Geschmaks giebt es, so wie in der Philosophie, verschiedene Sekten und Schulen, die in ihren Grundsätzen und Lehren weit auseinander sind, und wo die meisten Anhänger der Häupter der Schulen, ohne weitere Untersuchung, beym Loben und Tadeln nachsprechen, was diese einmal für gut gefunden haben. Ich habe vermuthlich oft gegen solche Schullehren angestoßen. Dieses soll nun weiter nichts auf sich haben, als daß ich mir die Freyheit nehme, auch meine Meinung zu sagen, so wie es die, die vor mir anders geurtheilt haben, audi gethan. Hanc veniam damus petimusque vicissim. 1

Autobiogr. No. 7), 25.

of Charles Darwin [ . . .], London 1929 ( = The Thinker's Libr. —

1 Komparatistisdie Studien 4

2

Jörg-Ulrich

Fechner

proof of my zeal: one day, on tearing off some old bark, I saw two rare beetles, and seized one in each hand; then I saw a third and new kind, which I could not bear to lose, so that I popped the one which I held in my right hand into my mouth. Alas! it ejected some intensely acrid fluid, which burnt my tongue so that I was forced to spit the beetle out, which was lost, as was the third one. Die Anekdote hilft, uns gleich eingangs die verschiedene Bedeutung des Gattungsbegriffes in verschiedenen akademischen Disziplinen zu vergegenwärtigen. Darwins Eifer beschränkt sich auf das Sammeln und Etikettieren der vielfältigen, aber numerisch endlichen Erscheinungen seines Spezialgebiets. Diese Vielfalt ist bereits vor ihm erfaßt und durch beschreibende Kataloge mitgeteilt. Ziel seiner Sammlung ist daher eine möglichst vollständige Erfassung der Vielfalt in je einem typischen Stück. Und das, worum es ihm zu tun ist, liegt eben in dem typischen Charakter des Specimen, dessen äußerliche Kennzeichen die Einordnung in das bereits vorhandene und abgeschlossene System ermöglichen. Anders der historische Forscher, dem kein solches System zur Verfügung steht und dem audi an der typischen Qualität des einzelnen Untersuchungsgegenstandes nicht besonders viel gelegen ist. Ihn interessiert vielmehr die Einzigartigkeit als auszeichnende und wertbestimmende Kategorie des Objektes. Wo die Naturwissenschaft von vornherein ihr System abschließen kann, bis eine unvorhersehbare Mutation ein weiteres Schubkästchen mit neuem Etikett nötig macht, ist der Historiker auf die permanente Mutation1® angewiesen, die allein seinen Gegenstand vor musealer Verödung bewahrt. Und nur dem Historiker entspricht so jener Sinn für die Individualität seines Gegenüber, die in ihrer freundlichsten Variante Uncle Toby zu einer Fliege sagen läßt 2 , die ihm die ganze ,a Zum Mutationsbegriff vgl. die bedeutenden Schriften des Naturwissenschaftlers Hugo de Yries ( 1 8 4 8 — 1 9 3 5 ) : Die Mutationstheorie I — I I , 1903/06, und Arten und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation, 1906. 2 Laurence Sterne: Tristram Schandis Leben und Meinungen, übertragen von Johann Joachim Bode, neu hg. v. Otto Julius Bierbaum, München 1921 ( = Die Bücher der Abtei Thelem — I. Bd.), I 335.

Permanente Mutation

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Mahlzeit über um die Nase herum sumsete: — „Geh, — geh armes Ding," sagt' er — „mach, daß du weg kommst. — Warum sollt ich dir Leids thun? Diese Welt hat Raum genug für dich und für mich." Was aber heißt nun .Gattung' innerhalb der historischen Disziplinen? Eine begriffsgeschichtliche Ubersicht mag uns den Weg weisen, denn Wie schwer es seit jeher gewesen, die Bedeutungen der in den schönen Künsten und Wissenschaften vorkommenden Wörter richtig zu bestimmen, erhellet aus den mancherley Versuchen, welche in alten und neuern Zeiten darüber angestellt worden und bald gelungen, bald verunglückt sind3. Die griechische Philosophie bei Piaton und besonders dann bei Aristoteles bringt den Begriff der .Gattung' als relativ unterscheidende Kategorie der logischen Definition auf und verwendet schon dort die anthropo- bzw. zoomorphe Metapher, die auch hinter dem deutschen Wort .Gattung' steht. Diese Bedeutungsebene einer relativen Einordnung wirkt bis in die Neuzeit nach, etwa bei Gottsched, für den gilt4: Die ähnlichkeit der bestimmung in einzelnen dingen macht den begriff einer art aus; die ähnlichkeit verschiedener arten von dingen giebt eine gattung ab. Ähnliches gilt für Kant, der zwei Arten des Gattungsbegriffs nach den Kategorien der ,Verwandtschaft' einerseits und der .Ähnlichkeit' andererseits unterscheidet5. Zwischen Gottsched und Kant fällt die bedeutende Ausrichtung der Naturwissenschaften auf eine systematische Gattungslehre, besonders in den Arbeiten von Buffon und s

Carl Friedrich Flögel: Gesch. der komischen Litt., Liegnitz/Leipzig 1784, I 3.

4

Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (1743), Theoretischer Theil, 138; zit. n a d i : Dt. Wb. I V 1, Leipzig 1878, Sp. 1514, s. v. .Gattung', 3 b. — Vgl. ebd. die entgegengesetzte Begriffsverwendung bei H e l f r i d i Peter S t u r z : Fragment über die Schönheit (Erstdruck: Dt. Museum 1776). 5 Vgl. Kant-Lexikon, bearbeitet von R u d o l f Eister, Berlin 1930, 173 f.; ferner Fritz Mauthner: Wb. der Philos., Leipzig 2 1923, I 77—86 s. v. ,Art'.

l*

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Linné. Sie ergeben eine enge Begriffsdefinition, die sich auf die besonderen Formen der Reproduktionsverhältnisse gründet". Als Begriff allgemeiner, nicht spezifischer Unterscheidung wird ,Gattung' bereits hie und da in griechischer und häufiger dann in lateinischer Zeit in bezug auf Literatur verwendet7. Das spiegelt sich in der unkritischen Verwendung des Gattungsbegriffs in der poetologischen Literatur bis zum Ausgang des X V I I I . Jahrhunderts, wenn der Begriff der ,Gattung' überhaupt gebraucht wird. So fehlt bei Pierre Bayle im Dictionnaire historique (Rotterdam 1697) eine Behandlung des ,genre', während Voltaires Dictionnaire philosophique (London [d.i.Genf] 1764) und die Grande Encyclopédie (Paris 1751—57) unter dem Einfluß der naturwissenschaftlichen Diskussionen den Begriff berücksichtigen, ohne ihn jedoch auf die schönen Wissenschaften und Künste anzuwenden. Das erste umfängliche Werk zu einer umfassenden Theorie der schönen Künste spiegelt noch dieses Zwischenstadium. Sulzers historisch bedeutendes Nachschlagewerk enthält noch keinen Einzelartikel zum Begriff und Problem der ,Gattung', wohl aber vielfältige Artikel zu den einzelnen Gattungen, darunter nicht zuletzt solchen, die wir inzwischen kaum noch als Gattungen anzusehen gewohnt sind. Natürlich wird beiläufig mit dem Begriff der ,Gattung' gearbeitet, doch fehlt ihm jegliche kritische Schärfe. So wird zum Beispiel in dem Artikel ,Dichtkunst', der nach den Aspekten ,Poesie' und ,Poetik' getrennt behandelt wird, von dem verschie-

denen Charakter der drey Hauptgattungen, schen, und des dramatischen

Gedichts

des lyrischen, des epi-

gesprochen und daran die

6 Vgl. die knappe Obersicht der Lehrmeinungen in dem Artikel .Gattung' von J. Hasemann, in: Ersdi und Gruber: Allgemeine Encyklopädie der Wiss. und Künste, I. Section, 53. Theil, Leipzig 1851, 3 9 7 — 4 0 4 . 7 Vgl. die einschlägigen Stellenangaben, etwa in: Thesaurus Graecae Linguae, ab Henrico Stephano constructus, edd. C. B. Hase, G. Dindorfius, L. Dindorfius, Paris 1833, II, Sp. 5 7 4 — 5 7 6 s. v. yâvos, bes. Sp. 575 f.; Thesaurus Linguae Latinae, Leipzig 1925—1934, V I 2, Sp. 1 8 9 8 — 1 9 0 0 s. v. ,genus', C : de rebus incorporalibus.

Permanente

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Auffassung von dem größten Alter der Lyrik angeschlossen8. Und in dem parallel laufenden Artikel zur .Dichtkunst-Poetik' findet sich die Auffassung der Gattung programmatisch in Zusammenhang mit dem Plan einer noch ungeschriebenen allgemeinen Theorie der Poetik so9: Dann würde der wahre Begriff des Gedichtes fest zu setzen und bestimmt zu zeigen seyn, wodurch es sich von jedem andern Werk der redenden Künste unterscheidet. Es würde sich hieraus ergeben, was in der Materie oder in den Gedanken, was in der Sprache und in der Art des Ausdrukes poetisch ist. Hierauf müßte man versuchen, die verschiedenen Gattungen des Gedichts allgemein zu bestimmen, und den besondern Charakter einer jeden Gattung festzusetzen. Man müßte den Ursprung der Gattung und Arten in der Natur des poetischen Genies aufsuchen, und daher wieder die, jeder Art vorzüglich angemessene Materie, die geschiktesten Formen, und den wahren Ton bestimmen. Es ist schwer sich vorzustellen, wie eine solche Gattungstheorie ausgesehen hätte, besonders im Hinblick auf Sulzers grundsätzliche Prämisse, daß die ästhetischen Erscheinungen zur Beförderung der allgemeinen menschlichen Glückseligkeit beitragen und in diesem Ziel ihre Berechtigung und ihren Sinn besitzen10. Sulzers eigene Arbeiten verwenden die Gattungen zur Einteilung der vorgegebenen Dichtkunst und erschöpfen sich darin. Das ist jener historisch sich wandelnde Bereich, über den die kluge Arbeit von Irene Behrens wichtigen Aufschluß erteilt". Zu einer Ausführung seiner gattungstheoretischen Pläne gelangte Sulzer nicht. Diese Aufgabe führte Eschenburg aus, der schon für die späteren 8 Johann George Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, abgehandelt, Leipzig 2 1792, I 623; Erstausg. Berlin 1771 ff. 8 Ebd. I 656. 10 Immer nodi unentbehrlich ist Anna Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Sulzer, Frauenfeld/Leipzig 1933 ( = Die Schweiz im dt. Geistesleben, Bd. 11 Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, vornehmlich vom 16. Jahrhundert, Halle 1940 (= Zs. für roman. Philol., Bh. 40).

einzeln, Artikeln Georg 79/80). bis 19.

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Auflagen von Sulzers Allgemeiner Theorie umfängliche Literaturaufstellungen zu den einzelnen Sachartikeln beigesteuert hatte. Eschenburgs Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783; 21789; '1805; 41817) geht wie Sulzer von einem statischen Gattungsverständnis aus, das ohne Einschränkung durch Zeit- oder Sprachgrenzen allgemeingültig sein soll. Diese induktiv gespeiste Auffassung wird durdi eine ergänzende Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (I—IX; 1788—1795) ausführlich und in bemerkenswert komparatistischer Ausrichtung unterbaut. Wie in den Naturwissenschaften wird hier der induktiv an Einzelgebilden der Geschichte erkannte Sachverhalt analysiert und dann in subsumierenden OrdnungsbegrifFen formuliert". Die Methode Eschenburgs entspricht somit bereits dem positivistischen Verfahren der Gattungsbetrachtung, dem wir die herkömmlichen Gattungsgeschichten verdanken, die — gleichsam unter einer Brille, die nur für eine ausschließliche Gattung Augen hat — die gewaltigen Stoffmassen sichten und übersichtlich anordnen. Obwohl eine derartige Erfassung der Stoffmasse unumgänglidi ist, wollen die ausschließlich so gewonnenen Ergebnisse nidit recht befriedigen. Das ist nicht erst heute so; bereits die Xenien enthielten das böse Distichon13: Nicht bloß Beispielsammlung, nein, selber warnendes Beispiel, Wie man nimmermehr soll sammeln für guten Geschmack. Die Betonung des ,Geschmacks', der ,inneren Form' und wie andere Bezeichnungen auch lauten, führt dann in der Goethe-Zeit zu einer intensiven Kritik an der äußerlich rubrizierenden Einteilung der Dichtung und strebt eine tiefere Typologie an. Der berühmteste Vertreter dieser Auffassung ist Goethe, der ironischste Jean Paul. Goethe stellt in den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Vgl. hierzu Manfred Pirscher: Johann Joachim Eschenburg — Ein Beitrag zur Lit - und Wiss.gesch. des achtzehnten Jh.s, Diss. Münster (reprogr.) 1960, 130 bis 132. 13 WA, I. Abt., L I 225, N r . 139. 12

Permanente

Mutation

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Divan die Lehre von den Naturformen der Dichtung auf14; und wie weitreichend seine Gedanken zu diesem Fragenkomplex waren, zeigt ein häufig übersehener Brief, der wie der Druck des Divans aus dem Jahre 1819 stammt. Ein damals siebzehnjähriger Breslauer namens Blumenthal, der später in Berlin Professor wurde, hatte sich an Goethe mit der Bitte um Rat gewendet, wie er bei seinem Plan verfahren solle, neulateinische Dichtung in die deutsche Sprache zu übertragen. Unter dem Einfluß der Divan-hrbeitzn zeigt Goethe bereitwilliges Verständnis und antwortet dem Bittsteller wie ein philologischer Lehrer seinem Schüler16: Ferner möchte ich Sie anmahnen, dass, wenn Sie die Dichter chronologisch gestellt, Sie alsdann einen jeden nach seinem eigentümlichen Charakter schildern; daraus folgt schon, wie und was er gedichtet hat. Lassen Sie sich ja nicht auf die Rubriken ein, wornach man die schönen Redekünste zu sondern und zu ordnen pflegt. Auf Ihrem Felde werden Sie ohnehin unter allen äußeren Formen immer nur elegische und didaktische Gesinnung finden. Im Nachtrag zu meinem Divan habe ich mich hierüber, zwar sehr kurz, aber Ihrem Zweck hinlänglich erklärt. Hier wie in den Noten und Abhandlungen zum Divan fällt auf, daß Goethe den Begriff ,Gattung' vermeidet. Er ersetzt ihn leicht polemisch durch den der äußeren Formen, an deren Stelle er den Blick auf die Uranfänge, die Gesinnung des Schriftstellers zu lenken trachtet. Immerhin läßt Goethes Betonung der Eigentümlichkeit eines jeden Dichters im Anschluß an die Chronologie und das aus diesen beiden Faktoren verschränkt resultierende Wie und Was der Dichtung eine Betrachtungsweise zu, die sich der gattungsgeschichtlichen Methode nicht versdaließt. Im gleichen Sinn versöhnlich ausklingend hieß es ja auch schon am Schluß der betreffenden Abhandlung zum Divan16: WA, I.Abt., VIII 118 ff. Gustav Ad. Müller (Hg.), Ungedrucktes 1896, 11 f.; vgl. WA, IV. Abt., X X X I 159. 16 WA, I.Abt., VIII 119 f.

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aus dem

Goethe-Kreis,

München

Jörg-Ulrid)

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Auf diesem Wege gelangt man zu schönen Aussichten, sowohl der Dichtarten, als des Charakters der Nationen und ihres Geschmacks in einer Zeitfolge. Und obgleich diese Verfahrensart mehr zu eigner Belehrung, Unterhaltung und Massregel, als zum Unterricht anderer geeignet seyn mag, so wäre doch vielleicht ein Schema aufzustellen, welches zugleich die äußeren vielfältigen Formen und diese inneren nothwendigen Uranfänge in fasslicher Ordnung darbrächte. Der Versuch jedoch wird immer so schwierig seyn als in der Naturkunde das Bestreben den Bezug abzufinden der äusseren Kennzeichen von Mineralien und Pflanzen zu ihren inneren Bestandtheilen, um eine naturgemässe Ordnung dem Geiste darzustellen. Um nur ein Beispiel zu nennen, wie die Kritik Goethes und Jean Pauls an der herkömmlichen Gattungslehre zu wirken beginnt, verweise ich auf die von Moritz Pinder besorgte fünfte, völlig umgearbeitete Auflage von Esdienburgs Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Redekünste". Unter direkter Bezugnahme auf Goethe und Jean Paul wird hier der Versuch unternommen, im Gegensatz zu Eschenburg nicht mehr die allgemeingültigen, sondern die in der damals gegenwärtigen Zeit geltenden Kunstregeln darzustellen. Diese zeitgemäße Umarbeitung geht von dem Grundsatz aus, daß die Regeln im herkömmlich verbindlichen Sinn zum Gespött geworden sind. Unter Beibehaltung der gegebenen Gattungsvielfalt ergibt sich so der Plan, eine offene Gattungspoetik zu unternehmen statt dieses Einregistrieren in gewisse Kategorieen, dieses Trennen und Auseinanderhalten der Kunstgattungen, die doch in einem lebendigen Zusammenhange stehen, und auch nach ihrer Gemeinsamkeit, nach ihrem nothwendigen Uebergehen in einander betrachtet sein wollen. Auch jede einzelne Kunstgattung für sich verändert ihr Wesen auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der Weltgeschichte; sie ist eine andere in der antiken, romantischen, modernen Welt. " Berlin 1836, S. VI f.

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Leider versteht sich Pinders Entwurf in der Ausführung dann doch wieder als Hand- und Lehrbuch und begibt sich daher der Möglichkeit, die hier entwickelte Gattungsvorstellung praktisch durchzuführen. So müssen wir zu Goethes, immer noch am Leitbild der naturwissenschaftlichen Systeme orientierten Ausführungen zurückkehren, da sie auch den jüngsten Versuch umschließen, im Sinne der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise eine Typologie und Poetik der Gattungen zu erzielen. Besonders Karl Vietor hat in mehreren Arbeiten darauf hingewiesen, daß ein logischer Widerspruch besteht zwischen der bereits im voraus als Begriff und Definition gewußten und bewußten Gattung einerseits und dem in sie einzuordnenden Einzelgebilde des sprachlichen Kunstwerks. Vietors Lösung zielte darauf ab, aus den gesammelten gemeinsamen Merkmalen solcher Einzelwerke induktiv eine innere Bestimmung zu kondensieren, die das Wesen der Gattung, ihre innere Form umschreiben soll18. Das äußert sich schon in einer sprachlich auffallenden Eigenart. Statt einer sachlich überprüfbaren Gattungsbestimmung wie etwa in den Naturwissenschaften wird hier ein Atmosphärisches hervorgehoben, das dann allerdings auch wieder subjektiv gebrochen ist und ebenso von der Individualität des Betrachters wie von der Eigenart der einbezogenen Werke abhängt. Statt z.B. des Epigramms tritt das Epigrammatische, statt der Elegie das Elegische in den Vordergrund, statt des Liedes das Liedhafte; und wo die Gattung nicht wie etwa beim Sonett unveränderlich in einer engen Tradition der äußeren Form verankert ist, ermöglicht sich die Anwendung jener adjektivisch substantivierten Qualität auf Betrachtungsgegenstände, die unter anderem Blickpunkt mit gleichem Recht von einer anderen Gattung beansprucht werden könnten. Lassen Sie mich noch auf eine andere Disziplin hinweisen, die sich erst jüngst der gattungsmäßigen Betrachtung eröffnet hat: die theologische Bibelkritik. Im Hinblick auf die diversen dogmatischen Lehrsätze über den Schriftcharakter und die Schriftinspiration bietet 18

Karl Vietor: Probleme

der Gattungsgesch.,

in: DV]S

9, 1931.

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eine Einordnung der Texte in die überpersönliche Gattungstradition eine besondere Schwierigkeit für den Gläubigen. Daher ist es wohl zu verstehen, daß erst in der historischen Bibelkritik der Schule Hermann Gunkels gegen Ausgang des XIX. Jahrhunderts die Frage nach gattungsmäßigen Zusammenhängen aufgeworfen und untersucht wurde. Gunkels vom Positivismus beeinflußter Kausalzusammenhang von Ähnlichkeit und Abhängigkeit ließ damals die katholische Lehre diesen Betrachtungsansatz verwerfen. Erst 1905 wird in den Direktiven für die Bibelkommission eine Frage nach Gattungen in der Heiligen Schrift erwogen, dann 1920 in der Enzyklika Spiritus Paraclitus scharf abgelehnt und erst 1943 in der neuen Enzyklika Divino afflante unter Papst Pius XII. auch positiv anerkannt, da Gattungen nun als unbewußt angewandte Darstellungsformen verstanden werden. Die derzeitige katholische Lehrmeinung läßt sich etwa so zusammenfassen, daß die Gattung als soziales Phänomen, als psychologischer Ausdruck einer ganzen Zivilisationsstufe für die Betrachtung geltend gemacht wird. Gerade dieser Aspekt des theoretischen Verständnisses dürfte auch für die Literaturwissenschaft im Durchgangsstadium der soziologischen Auseinandersetzung von Nutzen und von Anregung sein1". Fassen wir — hier innehaltend — unsere bisherigen Betrachtungen zusammen, so ergibt sich: 1. Die Bedeutung des Gattungsbegriffs ist zu verschiedenen Zeiten und in Anwendung auf verschiedene Disziplinen in unvereinbarer Weise unterschiedlich. 2. Eine eingehende Darstellung der Geschichte des Gattungsbegriffs und der daraus resultierenden Aspekte für eine Neuorientierung der Definition steht bisher aus. " Zur Gattungslehre von protestantischer Seite vgl. den zusammenfassenden Artikel von C. Kühl und G. Bornkamm in RGG, »1958, II 996—1005; von katholischer Seite Vincenz Hamp: Genus litterarium, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg/Br. 1960, IV, Sp. 686—689, und besonders den Artikel von A.Robert: Littéraires (genres), in: Dict.de la Bible — Supplément, Paris 1957, V 405—421. — Die bei Robert verzeichnete Arbeit von Cl. Vincent: Théorie des genres litt., Paris 15 1934, blieb mir unzugänglich.

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Idi kann nicht wagen, diese Vielfalt voneinander abweichender Meinungen und Lehren hier auf einen Nenner bringen zu wollen. Fern liegt es mir, die bestehende Vielfalt der Gattungslehren um eine weitere zu bereichern. Was ich im folgenden versuchen möchte, ist, einige sachliche Bereiche der Literaturgeschichte aufzuweisen, die in den herkömmlichen Gattungsgeschichten keinen Platz finden. Daraus ergibt sich implizit ein möglicher neuer Weg für diese Arbeitsrichtung. Für meinen Zweck ist es nötig, einige Voraussetzungen voranzuschicken. Literarische Werke werden produziert und existieren als Einzelwerke. Als solche gehören sie einer Gattung an, die gegebenenfalls von ihnen selbst begründet wird. Mit der Geschichtlichkeit ist in jedem literarischen Werk zugleich die Tradition der Literatur und das heißt auch die Tradition der bestehenden Gattungen gegeben. Gattungen sind notwendig für die Literaturwissenschaft, da sich audi die historischen Disziplinen nicht in der Behandlung von Einzelwerken erschöpfen. Gattungen sind durch die wediselnid proportionierten Faktoren von Inhalt und Form der Einzelwerke bestimmt und werden durch die Übereinkunft des literarischen Geschmacks der am literarischen Leben produktiv oder rezeptiv Teilnehmenden als eben solche Gattungen vermittelt. Die literarische Entwicklung folgt dem Schema einer permanenten Mutation der Tradition. Beginnen wir von hier aus eine Betrachtung historischer Erscheinungen der Literatur, und zwar mit dem üblichen Gesichtspunkt, die Literatur nach Nationalsprachen zu unterteilen. Diese Gewohnheit ist ja in besonderem Maße für eine Begründung der Vergleichenden Literaturwissenschaft wichtig. Gerade die Gattung bietet dabei eine Ordnungseinheit, die in mehrere sprachlich geschiedene, aber derselben Kultur angehörige Literaturen übergreift. Was trennt dieselbe Gattung in verschiedenen Sprachen? Was verbindet sie? Während auf der einen Seite in den einzelnen Sprachen verschiedene Traditionen auf einer bestimmten Zivilisationsstufe hinter der Gattung mitgedacht sind, Traditionen, die sich also nicht ohne weiteres auf eine andere sprachliche Kultur übertragen lassen, bietet

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auf der anderen Seite der reiche Bestand der Ubersetzungsliteratur eine Gemeinsamkeit, die rezeptionsgeschichtlich von dem jeweiligen — möglicherweise modischen oder auch nur auf bestimmte Gruppen beschränkten — literarischen Geschmack getragen ist. Was geschieht, wenn ein Diditer sich einer anderen als seiner Muttersprache f ü r eine literarische Produktion bedient? Neben dem Spielelement der individuellen Variation stellt der Dichter sich in solchen Fällen in ein besonderes Konventionsverhältnis. Für das von ihm angestrebte dichterische Ziel bietet die Fremdsprache gewöhnlich eine festere Gattungstradition, als sie in der eigenen Sprache vorliegt. Der Dichter ordnet sich in der fremden Sprache leichter in ein bestehendes und ihm bewußtes Gattungsgefüge ein, als es ihm in der eigenen Sprache möglich wäre. Das führt zu einem doppelten Verhältnis. In Zeiten festgelegt normativer Dichtungsproduktion bietet, wie das Mittelalter zeigt, die Norm eine kausale Beziehung von Sprache und Gattung. Hier geht es nicht um die Rücksichtnahme auf ein an eine Sprache gebundenes Publikum, auch nicht um eine dichterische Verwendung der verschiedenartigen Zivilisationsstufen in getrennten Sprachen, sondern um eine normative Setzung, der eine wie auch immer geartete und gewiß anfechtbare Psychologisierung und Hierarchie der bekannten Kultursprachen zugrundeliegt. H . J . Chaytor ist diesen Fragen in einem glänzenden Buch nachgegangen*0, so daß ich midi hier auf eine knappe Zusammenfassung beschränken kann. N u r durch die normative Auffassung eines Zusammenhanges von Sprache und Gattung ist es verständlich, daß Brunetto Latini den Trésor auf Französisch, katalanische Troubadours auf Provenzalisch oder Französisch, italienische Dichter auf Provenzalisdi oder König Alfons X . von Kastilien auf Galizisch schrieben. Ramon Vidal de Besalù erklärt ausdrücklich in der Vorrede zu seinen Rasos de Trobar11: 10

From Script to Print — An Introd. to Médiéval Vernacular Lit., Cambridge

1945, «1950. 11 Zit. ebd. 23.

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La parladura francesca val mais et es plus avinens a far romanz, retronsas et pasturellas, mas cella de Lemosin val mais per far vers et cansos et sirventes. Und noch Marguerite de Navarre behauptet im Heptaméron22: Le langage castillan est sans comparaison mieux déclarant cette passion d'amour que n'est le françois. Deutsch hat in dieser Hierarchie den niedrigsten Platz und wird von den Troubadours mit dem Quaken der Frösche oder dem Bellen der Hunde verglichen23. So ist es verständlich, daß wir nur von einer bemerkenswerten Ausnahme wissen, in der ein Nicht-Deutscher eben das Deutsche als literarische Sprache wählt: Thomasin von Zirclaere, dessen Welscher Gast allerdings keiner der heute so verstandenen Gattungen angehört, sondern dem breiten, gattungsmäßig nur schwer faßbaren Bereich der Didaktik. Andererseits sind Anspielungen auf die Sprachkenntnisse der literarischen Helden im Mittelhochdeutschen nicht selten. Am deutlichsten ist das bei Gottfried von Straßburg, der Tristan als Sänger schildert, wenn er dessen Sprachfähigkeiten rühmt, und so hinter den Sprachen die ihnen angemessenen Gattungen mitversteht24. Und in derselben Tradition dürfte noch Oswalds von Wolkenstein mächtige Prahltirade zu verstehen sein, in der er sich seiner Kenntnisse in sechzehn Sprachen rühmt und damit zugleich seine dichterischen Fähigkeiten behauptet2®. — Heute gelten derartige Gattungsgrenzen höchstens noch zwischen verschiedenen Sprachstufen, also zwischen der Hochsprache und den Dialekten. Ein weiterer Aspekt der gattungsmäßigen Dichtauffassung außerhalb nationalsprachlicher Grenzen begegnet im XVI. Jahrhundert. Latein war damals die höchste Kultursprache und damit auch die höchste Sprache der Dichtung. Nur Italien hatte eine lebendige Zit. ebd. 25. M. Crescini: Bruoder, Guaz! in: Miscellany presented to L. E. Kastner, C a m bridge 1 9 3 2 , 1 4 7 ff. 24 Tristan und Isold, hg. v . Friedrich Ranke, Berlin »1961, 46 f., Zeilen 3 6 1 0 bis 3633. 3 6 6 6 — 3 6 9 4 . 25 Die Lieder Oswalds von 'Wolkenstein, hg. v. K a r l K u r t Klein, Tübingen 1 9 6 2 ( = A l t d . Textbibl. 55), 305. 22

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volkssprachliche Literaturtradition, die sich mit dem lateinischen Hauptstrom vergleichen konnte. Für die Lyrik liegt bekanntlich Petrarcas volkssprachlicher Canzoniere diesem Sachverhalt zugrunde. Während nun die Dichter und Dichterinnen Italiens fleißig volkssprachliche Dichtungen produzierten, wurde von anderen (wenn ich natürlich vorhandene Überschneidungen hier ausklammere) in der Art einer soziologisch faßbaren, gesteigerten Ausschließlichkeit auch die neulateinische Dichtung gepflegt, und zwar über dieselben petrarkistischen Themen. Und dieser Sachverhalt erleichtert den Nicht-Italienern die Angleichung ihres dichterischen Schaffens an das italienische Vorbild auf dem Umweg über das Latein. Man sollte meinen, daß die sprachliche Verwandlung eine Gattungsschranke hätte überwinden müssen. Theoretisdi spricht dafür die andersartige Metrik der klassischen Sprache, theoretisch spricht dagegen die Übernahme des thematisch-inhaltlichen Systems, ohne welches die Gattungslehre der Zeit nicht auskommt. Doch verlassen wir die theoretischen Überlegungen und wenden uns der Wirklichkeit der literarischen Geschichte zu. Uberblickt man die poetische Produktion in den Ausgaben der bedeutenden Neulateiner oder in den repräsentativen Querschnitten, wie sie besonders Janus Gruterus mit seinen übrigens wiederum nach der nationalen Zugehörigkeit der Dichter unterteilten Delitiae poetarumSammlungen vorlegte, so zeigt sich ein befremdliches Gattungsphänomen. Besonders dort, wo volkssprachliche, also vornehmlich italienische Sonette in eine neulateinische Fassung gebracht werden, häuft sich die Verwendung einer Form, die auch im Lateinischen die vierzehnzeilige Begrenzung beibehält. Zwar ist das volkssprachliche Metrum durch die klassisch geforderten Distichen ersetzt, doch zeigt die Beachtung der Umfangsgrenze eine anhaltend nachwirkende Bewußtheit der Sonettform und damit die Absicht, für sie in der klassischen Sprache eine möglichst nahe Entsprechung zu finden. In welcher Weise soll diese Sondergruppe nun gattungsmäßig erfaßt werden: als Unterart der Distichendichtung, als Unterart der Sonettgeschichte, als beides oder als eine eigene Gattungsgruppe? Der Satz von der ausschließlichen Zugehörigkeit eines literarischen

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Textes zu nur einer Gattung wird durch die Geschichte so ad absurdum geführt 26 . Ein ähnlicher Sachverhalt betrifft die volkssprachliche lyrische Dichtung nach der berühmten Editio princeps, die Stephanus 1556 von den sogenannten Anacreontica vorlegte. In ihrer modischen Nachfolge verwendet das XVI. und XVII. Jahrhundert in Westeuropa allgemein das Gattungskennzeichen des ,Anakreontischenc. Ein ,sonetto anacreontico' oder die verkürzende Angabe ,anacreontice' meint nun nicht etwa den Dichtungsinhalt, Motivik und Typik, die wir seit dem XVIII. Jahrhundert mit dem Terminus verbinden, sondern ausschließlich formal ein achtsilbiges Metrum. Hinter diesem Tatbestand zeigt sich eine Gattungsauffassung, die — so etwa bei den deutschen Grammatikern Oelinger, Albertus und Clajus — nur das Versmaß mit der Gattung bezeichnet versteht. Nochmals werden die sprachlichen Grenzen der Nationalliteraturen überspielt, als in der Ubergangszeit zur volkssprachlichen Renaissance-Literatur Dichter in den nachvollziehenden Ländern mangels einer zeitgemäßen Metrik in ihrer Muttersprache zu fremden Sprachen greifen. Nur in ihnen fanden sie eine eingängige, weil bereits durch eine Gattungstradition getragene Behandlungsmöglichkeit für die in Mode stehenden Gattungen und Formen. Gewiß ist diese Dichtung häufig genug epigonal befangen, doch bildet sie ebenso häufig Pionierleistungen für die Anverwandlung und Ubertragung neuer Gattungen 27 . Hier spielt sich eine mehrsprachliche Gattungsgeschichte vor unseren Augen ab, die nicht nur das vom herrschenden Geschmack getragene Modestadium einer Gattung in dem einen, sondern zugleich die Ursprungssituation für diese Gattung in einem anderen Lande spiegelt. So gibt es einen stattlichen 2S

Ein Beispiel von Georgius Tilenus in meiner Anthologie Das dt. Sonett, München 1969, 47. Mehrere Beispiele finden sich in dem als Umschlagplatz wichtigen Werk von Paulus Melissus Schede. Eine Darstellung der PetrarcaRezeption außerhalb Italiens müßte dem hier umrissenen Sachverhalt besondere Aufmerksamkeit schenken. 27 Für den Aspekt der Polyglottie vgl. jetzt Leonard Forster: The Poet's Tongues: Multilingualism in Lit., Dunedin/Cambridge 1970.

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Bestand etwa der nicht-deutschsprachigen Sonette deutschsprachiger Dichter aus dem Zeitraum besonders von 1570 bis 1620, der von der bisherigen Literaturgeschichte völlig mit Schweigen übergangen wurde und erst jetzt durch rezeptions- und geschmacksgeschichtliche Fragestellungen in den Blick tritt 28 . Schon das Beispiel des Distichensonetts zeigte den wichtigen Bereich der Gattungsvermischung und Gattungsangleichung, der das gesamte westeuropäische XVII. Jahrhundert umfaßt. Dieser Zeitraum angestrengten poetologischen Nachdenkens im normativen Rahmen bezeugt ein unnachlassendes Interesse daran, Entsprechungen zwischen der klassischen und der neuen volkssprachlichen Literatur aufzufinden. In erster Linie verläuft diese Entwicklung längs dem Gattungsdenken und betrifft aus offenkundigen Gründen vornehmlich die Unterarten dessen, was erst das XVIII. Jahrhundert als ,Lyrik' zusammenfassen wird. Moderne lyrische Gattungen sind wesentlich von den klassischen geschieden, sollen aber als deren Fortsetzungen bzw. Entsprechungen verstanden werden. Das führt zu einem Ausverkauf der Gattungsbezeichnungen, die nahezu ohne Unterschied wechselseitig auf divergierende Gebilde übertragen werden. Im Hinblick auf die naturwissenschaftlich orientierte Methode, von einer induktiv gewonnenen Definition der Gattung als Arbeitshypothese auszugehen, haben Darstellungen der Poetik diese Widersprüchlichkeit der historischen Poetik bisher wohl nie in gebührendem Umfang gewürdigt29. Epigramm und Ode sind im XVII. Jahrhundert die lyrischen Gattungen, an denen das Erbe und die Fortsetzung der klassischen Lyrik bewußt empfunden wird. Zwischen beiden liegen eindeutige Grenzen; und nur das Epigramm — offenbar als lyrische Kurzform — bildet den Orientierunspunkt einer Vermischung der modernen lyrischen Gattungen mit einem klassischen Gegenstück, 28

Die Gepflogenheit des fremdsprachlichen Dichtens überdauerte den hier behandelten, literaturgeschichtlidi besonders wichtigen Abschnitt. Beispiele finden sich u. a. bei Brockes, Goethe, Platen, Rilke, George, Göll. 89 Einige Ansätze zum folgenden Abschnitt finden sich in meiner Dissertation Der Antipetrarkismus — St. zur Liebessatire in barocker Lyrik, Heidelberg 1966 ( = Beitr. zur neueren Lit.gesch., Dritte Folge, Bd. II), 108 ff.

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so daß man von einer ,Epigrammatisierung' der modernen Formen der Lyrik sprechen kann®0. Bereits die Poetik des Sébillet von 1548 stellt Epigramm und Sonett zusammen31: le sonnet suit l'épigramme de bien près, et de matière et de mesure; et quand tout est dit, le sonnet n'est autre chose que le parfait êpigramme de l'italien, comme le dizain du François. Was das Epigramm bei den Alten war, ist das Sonett für die Italiener. In der Gemeinsamkeit der Übernahme dieser Formen aus einer fremden Literatur liegt die erste Begründung ihrer Gleichsetzung, die des weiteren aus inhaltlich-stilistischen Argumenten ohne Berücksichtigung der formalen Unterschiede gespeist wird. In Spanien vollzieht sich die entsprechende Entwicklung von Herreras Kommentar zu den Dichtungen des Garcilaso de la Vega (Sevilla 1580) über die Poetik des Cisne de Apolo und die des diesem folgenden Juan Diaz Rengifo, bei dem es am Ende des ersten auf das Sonett bezogenen Kapitels heißt'2, es diene finalmente para todo aquello, que sirven los Epigramas latinos. Baltasar Gracions Agudeza y Arte de Ingenio (1648) verwendet beide Formbezeichnungen dann als gleichbedeutend und spricht wiederholt von Epigrammen des Göngora oder von Sonetten des Martial. In Deutschland stellt Opitz in seinem Buch von der deutschen Poeterey (1624) Sonett, Quatrain oder vierversichte Epigrammata zusammen und erklärt die Gemeinsamkeit durch den in beiden Formen gebrauchten Alexandriner85. Diese Lehre hält sich, bis sie gegen Ende des X V I I . Jahrhunderts unter der kulturellen Vorherrschaft Frankreichs durch die von dort übernommene Modeform des Madrigals nach einem neuen Orientierungspunkt ausgerichtet wird. In dem Art poétique français (1597) des P. de Laudun d'Aigaliers bedeutet das Madrigal D e r Terminus ,Epigrammatisierung' findet sich bereits bei Heinrich W e l t i : Gesch. des dt. Sonetts, Leipzig 1 8 8 4 . " Art poétique françois (1548), éd. Gaiffe, Paris 1910, 115. » Barcelona 1703, 9 5 . 3 3 Tübingen «1954 ( = N e u d r . dt. Lit.werke. I), 39.

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2 Komparatistisdie Studien 4

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a vray dire un sonnet de 16 Cannes ou de quatre quatrains®\ Demgegenüber hatte Kaspar Ziegler, der erste deutsche Madrigalpoetiker, noch 1653 das Madrigal völlig mit dem Epigramm gleichgesetzt35: Was nun ein Epigramma vor Eigenschaften hat und haben soll, dieselben alle zusammen gehören auch zu einem Madrigal, nur dass ein Epigramma in allerley Reimarten bestehen kan, ein Madrigal aber, wie bald gemeldet werden soll, der eusserlichen Form halber, gewisse Kennzeichen an sich hat und haben muß. Wichtig ist die Feststellung, daß dieser Ausgleichsvorgang das gesamte Westeuropa umfaßt und stets ein populärhumanistisches Streben bezeichnet, klassische Analogien für das eigene volkssprachliche Dichten zu setzen. Daß auch Italien hier keine Ausnahme bildet, zeigt die frühe ausführliche Bemerkung des Dichters und Poetikers Muzio36: Alcuni son che forse troppo amanti / D'ogni cosa d'altrui, lor rime nove / Chiaman con gli stranieri antichi nomi: / Ode, Epigrammi, & Hinni, & Elegie. / Io pur che la virtù latina, & graeca / Vivo nel mio leguaggio, non mi curo / che vestendo si vada de i lor panni [...]. Noi se verrem sotto le voci strane / Far de i suggetti lor patria conserva, / Che rimarra a i Sonetti? a le Canzoni? / A i mandriali? a i ghiomeri? & al ballo? I Et a le terze rime? & a le ottave? / Et per dio che dice oda, che dice egli / se non dice canzone? In questa rima / Chiuse 7 Petrarca il suon d' suoi sospiri. Die hier vom theoretischen Standpunkt knapp umrissene Gattungsmischung hat ihre praktische Entsprechung in den Ubersetzungsgepflogenheiten. Bei der Übertragung in eine fremde Sprache ergibt sich bis zu den Forderungen der Romantik häufig genug auch eine Umwandlung der Gattung. Für den Bereich des X V I . und X V I I . Jahrhunderts läßt sich beispielsweise diese Verwandlung an Ed. Dedieu (Thèse), Toulouse 1909, 96. Von den Madrigalen ..., 1653, 6. 36 Rime diverse, Venezia 1551, Bl. 7 1 T ; zit. bei I.Behrens (Anm. 11), 80. Virgeln bezeidinen jeweils das Zeilenende des poetisch abgefaßten Textes. 34 35

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den Übersetzungen aus der Griechischen Anthologie ablesen, die Max Rubensohn in einer wichtigen Arbeit zusammengestellt hat37. Ähnliches gilt, wie die jüngere Forschung gelehrt hat, für den Gebrauch der Emblematik oder, wieder unter einem anderen Gesichtspunkt, für die frühen Übersetzungen alter und neuer Klassiker, etwa Dantes in Meinhards Prosaübertragung, Shakespeares bis zu Wieland und Eschenburg einschließlich, für die Ossian-Ubertragung des Wiener Jesuiten Michael Denis in Hexametern, die von den Stürmern und Drängern wild befehdet wurde, oder auch Zignos Teilübersetzung von Klopstocks Messias im Versmaß der italienischen Epen. Die Forderung nach einer möglichst totalen Wiedergabe des übersetzten Autors tritt mit den Theoremen der Geniedichtung auf, bei Hamann, Gerstenberg, Sturz und Herder. Daß die Diskussion über diese Teilfrage der Gattungslehre auch heute noch andauert, zeigt etwa Wolfgang Schadewalds Homer-Ubersetzung. Fragen des Gattungswandels gehören jedoch auch in einem weiteren Sinne nodi in eine Gattungsgeschichte, wie ich sie hier verstanden wissen möchte. Gehen wir von dem Beispiel der heroischen Epistel aus, jener Gattung also, die ausnahmsweise sich auf die schöpferische Tat eines einzelnen Dichters — Ovids — nachweislich zurückführen läßt, so belehrt uns die eindrucksvolle Arbeit von Heinrich Dörrie38, daß diese Gattung entsprechend einer eng gefaßten Definition mit letzten Versuchen bei August Wilhelm Schlegel ausstirbt. Dieses Ergebnis ist in mehrfacher Hinsicht anfechtbar. Einerseits bietet die Geschichte der späteren Lyrik Beispiele genug, in denen ein Fortleben dieser Gattung sich bekundet, oder — anders ausgedrückt — Beispiele, deren Bedeutungsfülle durch ein Bewußtsein dieser Gattungstradition angereichert wird. Um nur wenige Beispiele herauszugreifen, erinnere ich an Mörikes Erinna an Sappho, manches Gedicht bei Trakl wie bei Rilke. Andererseits ist auffällig, daß kurz nach Schlegels Versuchen typische Themen 97

Grieth. Epigramme und andere kleinere Dichtungen in dt. Übers, des und XVII. Jh., W e i m a r 1897 ( = Bibl. älterer dt. Übers. I I — V ) . 38 Der heroische Brie}, Berlin 1968. 2*

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aus dem klassischen Katalog der Heldenbriefe in einer andern Gattung aufgenommen werden. Ich denke etwa an Grillparzers Jugenddramen Sappho und Des Meeres und der Liebe Wellen, deren Schema die dramatische Umgestaltung des entsprechenden Heldenbriefes ist. Die Frage erhebt sich auch hier, ob die thematische wie zeitliche Nähe nicht dazu auffordert, diese Dramen auch in einer Gattungsgeschichte des Heldenbriefes zu erwähnen. Und um bei dem gewählten Beispiel zu bleiben: schließt sich hier nicht die Frage an, ob nicht auch die typische Struktur der Belcanto-Oper des XIX. Jahrhunderts mit ihrem Höhepunkt in der Abschiedsarie der Heldin gleichfalls eine Entsprechung und Fortsetzung der Gattung der Heldenbriefe bildet? Mit der zuletzt aufgeworfenen Frage verschiebt sich der Aspekt der Gattungsveränderung zu dem der gleichzeitigen Medienveränderung. Unter Berücksichtigung einer hierzu noch zu erarbeitenden kritisdien Methode müßte eine lebendige Gattungsgeschichte meines Erachtens ihren Blick auf derartige Zusammenhänge richten. Es ist hier nicht der Ort, eine große Anzahl von Beispielen aufzuzählen. Der bekannteste Untersuchungsgegenstand, der zugleich schon am längsten das kritische Bewußtsein bewegt, betrifft die Folgen für die Gattung, wenn ein Austausch zwischen der bildenden Kunst und der Wortkunst erfolgt. Bekannt ist der dichterische Wettbewerb, über eine bildliche Darstellung ein Drama zu schreiben, jener Wettbewerb, dem wir Kleists Zerbrochenen Krug verdanken. In ähnlicher Weise hat Jan Hendrik Schölte die Verbindung zwischen einer Szene bei Grimmelshausen und gleichzeitigen bildlichen Gestaltungen des Themas von der verkehrten Welt nachgewiesen. Wieder gebührt hier auch der dichterischen Umsetzung des Emblembildes ein Platz. Audi für die Gemäldedichtung bezeichnet August Wilhelm Schlegel einen Wendepunkt. Die 1806 erschienene, in vielfacher Hinsicht bedeutende Gedichtsammlung Schlegels enthält einen Unterabschnitt, in dem Gemälde in Sonettform behandelt werden39. Die Romantik hat ausgiebigen Gebrauch 39

Gedichte, Tübingen 1806, 159 ff., 182 ff. Beispiele in meiner Anthologie (Anmerkung 26), 132 f.

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von derartigen Gemäldedichtungen gemacht. Forschungen zu Brentano wie zu Baudelaire können auf diese Fragestellung nicht verzichten, die zugleich eine gattungsgeschichtliche Frage ist40. Aber auch in näherer Gegenwart finden sich Beispiele für Gattungsänderungen in den neuen Medien Film, Rundfunk und Fernsehen. Unter Ausschluß des Aspektes der Adaptionen möchte ich wieder nur ein Beispiel anführen, die Fortsetzung der Typik, Redeweise, Gestik und Lazzi aus der Commedia deH'arte in den Tonfilmen der Marx Brothers. Jedoch auch innerhalb der Literatur selbst dürfte die Wandlung der Dichtungsart stärkere Untersuchung als bisher für eine offene Gattungspoetik verdienen. Nehmen wir als Beispiel nochmals das thematisch-inhaltliche System des Petrarkismus, so erscheint sein formaler Ausdruck zunächst gebunden an die Gattung des Sonetts. Daß dies keineswegs ausschließlich der Fall ist, weiß man seit langem. Shakespeare borgt dem Petrarkismus zahlreiche Züge ab und dramatisiert sie als Handlungselemente. Besonders deutlidi ist das für Romeo und Julia, zu dem sich eine fast nicht abbrechende Kette petrarkistischer Aufnahmen und Anspielungen zusammenstellen läßt. Ähnliches geschieht im politischen Dichten der elisabethanischen Zeit oder — wiederum an andrer Zeit, in andrer Form — in Goethes Faust II". Ähnliches ließe sich an vielen Stellen sonst noch finden. So dichtet im Zeitalter der Empfindsamkeit eine sonst wenig bedeutende Engländerin namens Charlotte Smith Gedichte, die sie unter dem gattungsmäßig verwirrenden Titel Elegiac Sonnets zusammenfaßt und veröffentlicht. Das Budi entsprach offenbar einer Mode der Zeit, denn allein zwisdien 1784 und 1789 erlebte es fünf Auflagen. Die Autorin schien sich selbst über die befremdliche Gattungswahl zu wundern, denn sie beginnt ihre Vorrede mit der Bemerkung": 40

Vgl. etwa die Arbeiten von Jean Seznec, Wolfgang Drost, Christopher Thompson (ungedruckte Cambridger Diss.) für die französische Literatur oder von Elisabeth Stopp zu Brentano. 41 Leonard Forster: The ley Fire, Cambridge 1969, Kap. 4 und 5. 41 Elegiac Sonnets — The fifth edition, with additional sonnets and other

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The little Poems which are here called Sonnets, have I believe no very just claim to that title: but they consist of fourteen lines, and appear to me no improper vehicle for a single Sentiment. Der angeführte Umstand mag die Gattungszugehörigkeit so gut wie jeder andere begründen. Ein Beispiel der Sonette lautet": Why should I wish to hold in this low sphere 'A frail and feverish being?' wherefore try Poorly from day to day to linger here, Against the powerful hand of destiny? By those who know the force of hopeless care, On the worn heart — / sure shall be forgiven, If to elude dark g(u)ilt, and dire despair, I go uncall'd — to mercy and to Heaven! Oh thou! to save whose peace I now depart, Will thy soft mind, thy poor lost friend deplore, When worms shall feed on his devoted heart, Where even thy image shall be found no more? Yet may thy pity mingle not with pain, For then thy hapless lover — dies in vain! Sie mögen fragen, was der angeführte Text mit meinem Thema der Gattungsvermischung zu tun hat. Nicht mehr und nicht weniger, als was der Titel angibt, nämlich Supposed to be written by Werter. Just before his death. Die literarische Mode, der Geschmack der Zeit führt eben neben der Rezeption zu einer Nach- und Neugestaltung in anderen Gattungen. Dabei fällt auf, daß die Umwandlung in eine lyrische Form den Nachteil der einschränkenden poems, London 1789, S. [III]. — Zu Charlotte Smith vgl. den Artikel von Elizabeth Lee, in: Diet, of Nat. Biogr., ed. S. Lee, London 1909, X V I I I 435 bis 437. Ebd. 25. Als Quelle wird S. 75 aus dem II. Band der englischen WertherObersetzung zitiert: May my death remove every obstacle to your happiness. — Be at peace, I entreat you he at peace. 43

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Auswahl mit sich bringt, während die Umformung in Drama oder Prosa eine gemächliche Behandlung der gesamten lyrischen Vorlage erlauben würde. Das läßt sich durch nichts deutlicher veranschaulichen als durch einen Hinweis auf Rousseaus Julie ou la Nouvelle Hêloïse. Hier sind nicht nur der Titel und etliche Briefe von Zitaten aus vornehmlich Petrarca, dann Tasso, Marino und Metastasio begleitet; Haltung und Aussage der Briefe bilden häufig ein Cento aus Anlehnungen an das petrarkistische System. Hier stehe als Beispiel nur ein kurzer Abschnitt aus dem ersten Brief zur Veranschaulichung des Gemeinten44: Je vois avec effroi quel tourment mon cœur se prépare. Je ne cherche point â flatter mon mal; je voudrais le haïr, s'il était possible: jugez si mes sentiments sont purs par la sorte de grâce que je viens vous demander. Tarissez, s'il se peut, la source du poison qui me nourrit et me tue: je ne veux que guérir ou mourir; et j'implore vos rigueurs comme un amant implorerait vos beautés. Oui, je promets, je jure de faire de mon côté tous mes efforts pour recouvrer ma raison, ou concentrer au fond de mon âme le trouble que j'y sens naître: mais, par pitié, détournez de moi ces yeux si doux qui me donnent la mort; dérobez aux miens vos traits, votre air, vos bras, vos mains, vos blonds cheveux, vos gestes; trompez l'avide imprudence de mes regards; retenez cette voix touchante qu'on n'entend point sans émotion; soyez, hélas! une autre que vous-même, pour que mon cœur puisse revenir à lui. Wohlgemerkt: die hier aufgezeigten Zusammenhänge von Werken verschiedener Gattungen sollen nicht die sie trennenden Unterschiede verwischen; doch scheint mir eine offenere Behandlung des Kriteriums ,Gattung' unabdinglich. Das ist um so vordringlicher, als Richard Alewyn sicher redit hat, wenn er von dem Modellcharakter der Gattungen bis zum Ausgang des X V I I . Jahrhunderts 44

Première partie, Première lettre, P a r i s 1923, 3.

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spricht45 als „einem deutlich umrissenen Modell, in dem nicht nur ein obligater Komplex von Stoffen, Motiven und Personen, nicht nur eine obligate Sprache und Tedinik, sondern auch ein vorgeschriebenes Weltbild und ein vorgeschriebener Gedankengehalt so zusammengehören, daß keiner seiner Bestandteile verrückbar oder auswechselbar ist". Alewyns Folgerung über die unmögliche Auswechselbarkeit der Bestandteile scheint mir allerdings zu weit zu gehen, wie meine angeführten Beispiele gezeigt haben mögen. Die von mir vertretene Auffassung wird auch durch eine jüngere Arbeit bestätigt, die sich einerseits auf Alewyn beruft und andererseits die Ubergänge verschiedener Gattungsformen in dem von mir gebrauchten Sinn untersucht, um dann eine Gattung der erotischen Dichtung aufzustellen, von deren formaler Einheit der vielfältigen Formen der Verfasser unterstellt": „Sie faßt, über die Verschiedenheiten hinweg, nicht mehr bloß die verschiedenen Formen zusammen, sondern ist bereits als ein bestimmendes Element der Gattung erotischer Poesie zu werten, da diese Einheit auf der Notwendigkeit eines charakteristischen Formprinzips beruht, das über den je einzelnen, austauschbaren Formen steht." Die Tendenz, eine nidit vorhandene Formeinheit als bestimmendes Element der unterstellten Gattung zu werten, spricht meines Erachtens bereits in sidi selbst das gattungsgeschichtliche Urteil über dieses Unternehmen. Bevor ich eine Zusammenfassung meiner Überlegungen versuche, möchte ich noch kurz zwei andere Aspekte für eine ausgeweitete Gattungsbehandlung erwähnen. Literatur scheint nicht ohne eine reflektierende Gestaltung von Literatur in der Literatur auskommen zu wollen oder zu können. Ich meine hier nicht Hamlets Theater auf dem Theater, sondern schlicht die Erwähnung von Gattungen, wie sie gewöhnlich in anderen Gattungen als Mittel indirekter Charakteristik auftauchen. Hier spiegelt sidi in besonders bedeutsamer Weise die rezeptive Auffassung bei einem schöpfe45

Der Roman des Barock, i n : Formkräfte der dt. Dichtung, hg. v. H a n s Steffen, G ö t t i n g e n 1963, 22. 48 H e i n z S d i l a f f e r : Musa iocosa — Gattungspoetik und Gattungsgesch. der erotischen Dichtung in Deutschland, S t u t t g a r t 1971 ( = G e r m a n i s t . A b h . 37), 11.

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risdi an der Literatur Beteiligten. Als ich in meine Sonett-Anthologie eine schmalbrüstige Unterabteilung „Das Sonett in anderen Gattungen" einfügte, stieß ich in der Kritik auf mancherlei Widerspruch. Vielleicht darf ich mich hier kurz rechtfertigen. Wenn ein sentimentaler, mehrfach über Kreuz verlaufender Briefroman des XVIII. Jahrhunderts wiederholt Briefe der Liebenden als .heroic epistles' bezeichnet, so ergibt sich nicht nur ein Reflex auf die bereits herangezogene Dichtung der Heldenbriefe, sondern zugleich eine geschickte Vorausdeutung auf das düstere Todesschicksal der davon betroffenen Handlungsträger 47 . Eine andere derartige Verwendung der Gattung in fremder Umgebung zeigt die Komödie. Molières Femmes savantes enthalten die köstliche Szene (III 3), in der Trissotin sein Sonnet à la Princesse Uranie sur la fièvre verliest und von den zuhörenden Damen ebenso fleißig wie banal kommentiert wird. Molières komödiantischer Frechheit entsprach es, das Sonett aus einer gedruckten Sammlung des Abbé Cotin Œuvres galantes (Paris 1663) zu borgen, es in dramatischen Zusammenhang zu übertragen und mit einem abgewandelten Titel zu versehen, der zugleich noch auf den Sonettenstreit der Uraniens mit den Jobelins von 1638 anzuspielen scheint48. Molières Verwendung des Sonetts in gattungsfremder 47

Das zitierte Beispiel entstammt dem Roman Lady Julia Mandeville von Frances Brooke, hg. v. E. Phillips Poole, London 1930, 175: 7 am really sorry for Bell; but hope to bring her out of these heroics by Christmas. The town air, and being followed five or six weeks as a beauty, will do wonders. I know no specific for a love-fit like a constant round of pretty fellows. Ebd. 179: Very well; things are in a fine train. He writes me here as pretty an heroic epistle as one would desire; setting forth his passion for Bell Hastings, whom he has just discovered is my niece, and whom he declares he cannot live without; owning appearances are against him, and begging me to convey to her a long tidi-didum letter, explaining the reasons and causes. — Der Roman wirkte in Frankreich und Deutschland nach. Helfrich Peter Sturz benutzte ihn als Vorwurf für sein gattunsggeschichtlidi bedeutsames Trauerspiel Julie (1767). 48

Das Zitat als gattungsverbindendes Element verdiente eine eigene Behandlung; nur Ansätze zu diesem Sonderaspekt finden sich bei Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst — Zur Gesch. und Poetik des europ. Romans, Stuttgart 1961. — Menkes deutsche Übersetzungen der Sonette Voitures und Benserades sind jetzt leicht zugänglich in meiner Anthologie (Anm. 26), 105.

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Umgebung steht weder in seinem Werk noch in seiner Zeit allein. Doch wirkten gerade die Femmes savantes traditionsbildend für die deutsche Komödie und zugleich für eine komödiantische Reflexion über das Sonett. Als der Wiener Dramatiker Ayrenhoff, den Friedrich der Große in seinem literaturgeschichtlichen Seitensprung als Vorbild aufführt 4 ", in den siebziger Jahren des XVIII. Jahrhunderts mit seiner Komödie Die gelehrte Frau das Geniewesen treffen wollte, verwendete er eine lange Szene, die eben auf der verhimmelnden Bewunderung der Banausen für ein dilettantisches Sonett beruht. In dem Lustspiel Das Kamaleon des Mannheimer Schauspielers Heinrich Beck wird dieser Sonetteinschub bereits zur Romantik-Kritik 50 , und dasselbe geschieht in Ayrenhoffs Neubearbeitung seiner Gelehrten Frau nach der Wende des Jahrhunderts". Und der bitterste Angriff der Komödie auf das Sonett erfolgt dann bei Grabbe, der den Dichter Rattengift in Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung nicht einmal sein Sonett fertigbringen läßt". Sicherlich spiegelt ein derartiger Gebrauch die Gepflogenheiten der Parodie, doch ist gerade die Parodie ein nidit zu verachtender Wertmesser des modischen Geschmacks in der Literatur und damit auch der modischen Gattungseinschätzung. Der Blick auf die theologische Verwendung gattungsgesdiichtlicher Methoden führte uns auf die Tendenz, mittels der Gattung die uns überlieferten Texte bis in kleinste Einzelheiten zu zerlegen, die es dann erlauben, die Texte bis in die vorliterarischen Bausteine zurückzuverfolgen und zu gruppieren. Dahinter steht die Absicht, 4,1

Zu den Gründen für die Aufnahme Ayrenhoffs in Friedrichs des Großen Schrift vgl. den Brief Lambergs an Ayrenhoff in meiner ungedruckten Arbeit Erfahrene und erfundene Landschaft — Aurelio de' Giorgi Bertolas Deutschlandbild und die Begründung des Rheinmythos, Dokumentenanhang. — Ayrenhoffs Gelehrte Frau war mir in dem Nachdruck von 1777 zugänglich; Exemplar im Brit. Museum, London. 50 Mir war nur der Nachdruck in der Neuen dt. Schaubühne, Augsburg 1803, 8, zugänglich. 51 Die Neubearbeitung findet sich in: SW, Wien 31814, die betreffende Szene III 101—111; Exemplar im Brit. Museum, London. 58 Werke und Briefe, hist.-krit. Ges.ausg. v. Alfred Bergemann, Emsdetten 1960, I 239 f.; auch in meiner Anthologie (Anm. 26), 382 f.

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in den besonderten Elementen von Inhalt und Form eine bestimmte aktuelle Umgebung der Vergangenheit zu erkennen, die den Ursprung des Textes verdeutlicht. Die Literaturwissenschaft hat andere als diese Ursprungssorgen. Dennoch wurzelt auch jeder profane literarische Text in einer solchen Ursprungssituation, genauer: in einer Situation von Literaturtradition, Mode und Geschmackskultur, sei es, daß sie von dem Autor gebilligt wird, sei es, daß sein Text gegen den herrschenden Geschmack protestiert. Wie wirkt sich dieser Sachverhalt für die Gattungsgeschichte aus (besonders da die Gattung einen offenkundigen Kanal für solche Traditions- und Geschmacksbildung bietet)? Schalten wir den Sonderfall der Verlagstradition für vereinzelte Gattungen aus, wie er für pornographische Literatur oder Kriminalromane besonders augenfällig ist. Zwei Beispiele, die ich wiederum der deutschen Literaturgeschichte entnehme, mögen meinen Gesichtspunkt veranschaulichen. Als um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts mit der Ablehnung von dem eben erst so bezeichneten Barock und seinem vermeintlich durchgängigen Schwulst auch die Sonettgattung verpönt war, wagte Gleim nicht nur ein Gedicht dieser Gattung, sondern setzte ostentativ die Gattungsbezeichnung als Untertitel. Das Belinde-Sonett erfüllt inhaltlich alle Anforderungen einer gesteigerten Sinnlichkeit, wenngleich der Schluß in einen moralischen Rüffel ausweicht. Entsprach so der Inhalt den Geschmackskategorien der Zeit, so verwundert es, in einem Brief von Gleims Gesinnungsfreund Ewald von Kleist zu lesen5®: [.../ warum haben Sie auf das letzte schöne Stück der lateinischen Sammlung ,Sonett' gesetzt? Es hätte sonst kein Mensch daran gedacht, daß es ein Sonett wäre [...]. Umgekehrt zu Gleims Wagnis, der übrigens nach Kleists Brief die äußere Form des Gedichtes wandelte, steht das Beispiel des biederen Bremers Johannes Westermann, der entgegen allen Vorschriften der Mode weiterhin enzyklopädische Binsenweisheiten der Trivial63

Der Text des Sonetts ist zuletzt zugänglich ebd. 114; Kleists Brief ebd. 27.

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aufklärung in unbeharrlichen, sogenannten Allerneusten Sonneten zwischen 1765 und 1767 in zehn Buchfolgen vorzulegen wagte und dafür die unerbittliche Verurteilung aus allen deutschen kritisdien Journalen einheimste54. Ein anderes Traditionsverhältnis zeigt sich, wenn mit einem Sonettenbuch das Andenken einer bedeutsamen Verstorbenen gepflegt wird. Diese Unterart in der Sonettgeschichte spiegelt Petrarcas Untertitel des Canzoniere: In vita bzw. In morte di Madonna Laura und verengt das Vorbild auf die Ausschließlichkeit der Sonettform. Deutschlands erstes und für lange Zeit einziges Beispiel dieser Art bildet Diederichs von dem Werder Krieg und Sieg Christi gesungen in 100 Sonneteneine manieristisdie Sammlung auf den Tod eines Verwandten, in der jede Zeile die Wörter Krieg und Sieg enthält. Neu belebt wurde diese Gattungseigenart, als wiederum August Wilhelm Schlegel im Musenalmanach für 1802 sein Todten-Opfer für Auguste Böhmer veröffentlichte58, wenn man nicht die als Sonett kaum kenntlidie Chinoiserie Vou-ti bei Tsinnas Grabe. Eine chinesische Nänie (1772) von Ludwig August Unzer als Zwischenglied ansehen will". Nach einigen, jedoch vereinzelten Neuaufnahmen im XIX. Jahrhundert — bei Rückert und Heyse etwa — erlebt diese Tradition mit der Neuromantik eine neue Hochblüte. Interessant ist nun, wie sich das Gattungs- und Traditionsbewußtsein bei den einzelnen Dichtern auswirkt. Da veröffentlicht etwa Rudolf Alexander Schröder 408 Quartseiten von Sonetten zum Andenken an eine Verstorbene (Leipzig 1904) und findet nur zu einer äußerlichen Exklusivität seiner quantitativ eindrucksvollen Leistung: Der Band auf Bütten und in Halbpergament erscheint in einer limitierten Auflage von 200 Stück. Die bekannteste Sammlung dieser Art sind natürlich Rilkes Sonette an Orpheus (Leipzig 1923), deren Untertitel Geschrieben als ein Grab-Mal für 54

Ein Beispiel von Westermanns Sonettkunst ebd. 115 f.; ein Beispiel der Kritik ebd. 317. 65 Wittenberg 1631, Hall 1633; ein Beispiel ebd. 57. 56 Ein Beispiel ebd. 131. 67 Ein Beispiel ebd. 117.

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Wera Ouckama Knoop erst den bewußten Traditionszusammenhang bekundet. Es ist hier nicht der Ort, Rilkes kühne Abwandlungen der Formtradition, des Inhalts mit der verwandelten mythologischen Perspektive oder mit dem Manierismus der verlagerten Anrede an den Leser nachzugehen. Rilkes Leistung ist — und das bleibt in diesem Zusammenhang wichtig — eben auch durch diese bewußte Tradition in ihrer Bedeutung gattungsgeschichtlich angereichert. Zwischen Schröder und Rilke steht Stefan Georges mächtiger vierter Ring, der Maximin-Zyklus (1907). Keins seiner Gedichte ist ein Sonett; und doch wird ebenderselbe Traditionszusammenhang unverkennbar, wenn der Mittelteil dieses mittleren der sieben Ringe sechs Gedichte unter der Zwischenüberschrift Auf das Leben und den Tod Maximins vereint. — Lassen Sie mich an dieser Stelle meine Uberschau beenden und eine Zusammenfassung versuchen. Die Literaturwissenschaft benötigt einen eigenen Gattungsbegriff, dessen Definition die Logik der literarischen Gattungsbildung erfassen müßte. Hypothetisch wurde hier der Begriff der ,permanenten Mutation' als Ausgangspunkt dafür vorgeschlagen. Da es eine literarische Gattung als solche nicht gibt, liegt der Fortschritt der Literatur in dieser permanenten Mutation begründet. Denn die Erscheinungsform der Gattung in der Ausbildung des einzelnen Werkes führt dazu, daß eine annähernd identische Nachahmung solcher Gattungserscheinungen den extremsten Fall der Epigonalität, die Kopie mit schöpferischem Anspruch, hervorriefe. Gattungen sind numerisch häufige, gleichartige Verschränkungen derselben bestimmenden Faktoren, sei es der Form, des Inhalts, der Typik, Motivik, Gestik, Sprachstufe und ähnlicher Kategorien mehr. Keiner dieser Faktoren — mit Ausnahme enger Formaspekte — ist auf eine einzige Gattung beschränkt, so daß der permanenten Mutation Möglichkeiten nach allen Richtungen hin offenstehen. Arten der Mutation, d. h. Gattungswahl, werden mitbestimmt vom literarischen Bewußtsein, von der literarischen Tradition, von der Bildung des Autors, ferner von soziologisch faßbaren Rezeptions- und Geschmackskriterien. .Gattung' ist zwar mit E. M. Forster als das zu definieren, was von irgendjemandem

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irgendwo und irgendwann als solche bezeichnet wurde, doch braucht deshalb auf einen theoretisch verbindlichen, positivistisdi synthetischen Begriff der Gattung nicht verzichtet zu werden. Entscheidend ist, daß der heuristische Charakter eines ausschließlichen Gattungsbegriffs bewußt bleibt und daß dieser Begriff durch die gleichermaßen heuristischen Ordnungskriterien ,Epoche' und ,Stil' ergänzt wird. Erst aus ihrer Verschränkung lassen sich theoretisch verbindliche Aussagen gewinnen, die die ,Gattung' neben anderen Ordnungsbegriffen als ein Gefäß des geschichtlichen Kontinuums in der Literatur erweisen. Schließlich ist die Anzahl der Gattungen nicht endlich; die permanente Mutation verlangt eine offene Gattungspoetik. Gattungen sind keine Modelle, sondern Richteinheiten mit Verbindlichkeit für die Schaffenden wie für die Betrachtenden. Turgot drückt das als erster so aus58: Vouloir conserver l'admiration des grands modèles en établissant un goût qui exclut les genres nouveaux, c'est faire comme les Turcs, qui ne savent conserver la vertu de leurs femmes qu'en les tenant en prison. In der fortwährenden Verwandelbarkeit der literarischen Gattungsvielfalt liegt die Hoffnung der Literatur auf die Zukunft. Das ist nicht ohne Rüdewirkung auf die Literaturwissenschaft. Ich kann nicht besser schließen als mit Schopenhauers Beiträgen zur Metaphysik des Schönen und Ästhetik und so zugleich in Darwins Zeit zurückfinden, die ich an den Beginn stellte5": Andererseits könnte man die Geschichte auch ansehn als eine Fortsetzung der Zoologie; insofern bei den sämmtlichen Thieren die Betrachtung der Species ausreicht, beim Menschen jedoch, weil er Individualcharakter hat, auch die Individuen, nebst den individuellen Begebenheiten, als Bedingung dazu, kennen zu lernen sind. Hieraus folgt sogleich die wesentliche Unvollkommenheit ä8

Ébauche du 2e dise. Progrès de l'esprit humain, 322, zit. bei Émile Littré : Die t. de la langue franç., Paris 1957, IV 42, s. v. ,genre'. 59 Parerga und Paralipomena — Zweiter Theil, hg. v. Hans Henning, Leipzig 1920 ( = Grossherzog-Wilhelm-Ernst-Ausg.), V 488.

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der Geschichte; da die Individuen und Begebenheiten zahl- und endlos sind. Beim Studium derselben ist durch Alles, was man davon erlernt hat, die Summe des noch zu Erlernenden durchaus nicht vermindert. Bei allen eigentlichen Wissenschaften ist eine Vollständigkeit des Wissens doch wenigstens abzusehen.

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Zur Dynamik literarischer Gattungen Schon bei dem etwas anspruchsvollen Titel dieser Ausführungen könnte man kritisch ansetzen; ich möchte dem zuvorkommen und drei mögliche Einwände aus der umfangreichen Literatur zur Frage der Gattungen referieren. Ihre Widerlegung wird Gliederungsprinzip des Folgenden sein. Der erste und allgemeinste Einwand: Es gibt gar keine literarisdhen Gattungen; Gattungen sind lediglich Sdieinbegriffe. So der frühe Croce, wenn er den Gattungen mit dem Status eines apriorischen Begriffs zugleidi den realen Charakter bestritt. So noch vor wenigen Jahren Mario Fubini, einer seiner Schüler, dessen Ausführungen den spezifisch italienischen Hintergrund für Croces vehemente Attacken gegen die Gattungspoetik illustrieren. Fubini schrieb1, vielleicht hätte „die lange [ . . . ] Arbeit der Traktatschreiber in Italien" vorausgehen müssen, „damit sich dort eine vernünftige Skepsis gegenüber der Poetik und ihren Kategorien spürbar machen konnte". Diese Arbeit habe in Deutschland nicht stattgefunden, und das sei einer der Gründe, „warum noch heute deutsche Gelehrte über diesen Gegenstand Bücher und Abhandlungen schreiben. Selbstverständlich", fährt Fubini fort, „mußte man, und sei es [ . . . ] per absurdum, auch auf diesem Wege zur Auflösung der Gattungen und infolgedessen zu einem tieferen Verständnis der Poesie gelangen." Der zweite Einwand betrifft nicht die Existenz der Gattungen, sondern die Relevanz ihrer Untersuchung. So heißt es etwa — ich 1 Mario Fubini: Entstehung und Gesch. der lit. Gattungen, übers, und mit Nachwort von U. Vogt, Tübingen 1971, 50.

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vereinfache bewußt —, entscheidend sei nicht die Organisation, sondern allein das in der Organisation Organisierte. Oder man findet in einem Beitrag zur Lesebuch-Diskussion das Argument®, wenn man Lesebücher nach Gattungen einteile, so lege das „von vornherein das Mißverständnis nahe, es gehe im Literaturunterricht um eben diese Gattungen und nicht um das Durchsichtigmachen von Sinnzusammenhängen, die mit sprachlichen und literarästhetischen Mitteln strukturiert sind". Der dritte Einwand betrifft die Vorstellung einer Dynamik literarischer Gattungen. Warum die prononcierte Hervorhebung der Dynamik — stellen Gattungen doch primär Einheiten im Wechsel der literarischen Entwicklung dar? Und weiter: Kann sinnvollerweise überhaupt von einer Dynamik literarischer Gattungen gesprochen werden? Erwin Leibfried etwa bestreitet es. Er schreibt3: „Gattungen befinden sich nicht im Fluß; in Bewegung sind [ . . . ] nur die einzelnen [ . . . ] Werke, sofern man sie vergleicht. Die Gattung ist das Ähnliche, Gleiche." So weit die drei Einwände. Der Zweifel an der Existenz der Gattungen ist in Croces idealistischer Konzeption der Kunst als einer apriorischen Synthesis von Intuition und Expression fundiert. Die skeptische Frage nach der Relevanz von Formproblemen wird vor allem aus vulgärmarxistischem Denken gespeist und verquickt sich leicht mit dem Vorwurf, wie die ,werkimmanente' Methode insgesamt sei Gattungspoetik formalistisch, ja ideologiebildend, verschleiernd also. Und Leibfried verurteilt von phänomenologischer Position aus die Vorstellung dynamischer Gattungen expressis verbis als „Mystik" 4 . Das Folgende ist der Versuch, den realen Charakter literarischer Gattungen 2 Valentin Merkelbach: Sollen Lesebücher nach Gattungen oder nach Themen gegliedert werden?, in: Diskussion Deutsch 6 (Nov. 71), 374. Weniger entschieden hieß es unmittelbar zuvor, „die Einsicht in literarische Strukturen" sei „bei schwierigen Organisationsmustern eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis von Inhalten". Gegenstandsspezifische Überlegungen werden bei Merkelbach von (sehr berechtigten) didaktischen überlagert — darunter leidet die Klarheit der Aussage. ® Erwin Leibfried: Identität und Variation — Prolegomena zur kritischen Poetologie, Stuttgart 1970, 112, Anm. 9. 4 Ebd.

3 Komparatistische Studien 4

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und die Wichtigkeit ihrer Analyse gerade in einer materialistisch orientierten Literaturwissenschaft herauszustellen; vor allem aber möchte ich — mit den beiden ersten Punkten hängt dies eng zusammen — auf die Dynamik von Gattungen als auf ein sehr reales Problem der literarischen Evolution hinweisen. Dabei wird Croce — zumindest dem frühen Croce — und — trotz gegenteiliger Beteuerungen — der phänomenologischen Position der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie weitgehend vom historischen Substrat und vom sozialen Kontext kultureller Prozesse absehen; andererseits wird auch der reduktionistische Determinismus, der freilich nur einen Teil der linken Literaturkritik ausmacht, einer Prüfung unterzogen. Zum ersten Einwand. Wir müssen zunächst klarstellen, was im folgenden unter ,Gattung' verstanden wird. Es sind dies nicht die drei Goetheschen Naturformen, sondern geschichtlich situierbare Gebilde wie die ,comedie larmoyante', der historische Roman oder das petrarkistische Sonett. Allgemein könnte man definieren: Gattungen sind Ensembles inhaltlicher, technisch-stilistischer, kompositioneller, intentionaler und funktionaler Momente, die sich aus dem Gesamtcorpus der Literatur als relativ klar umrissene Gebilde herausheben. Solche Gebilde haben nicht nur instrumentalen Charakter; sie sind nicht lediglich Hypothesen zu klassifikatorischen Zwekken5. Vielmehr kommt ihnen realer Status zu, denn noch dort wirken (bzw. wirkten) sie als Normen", wo Regeln nicht ausdrücklich kodifiziert oder auch nur ins Bewußtsein gehoben sind (bzw. waren). Derartigen Überlegungen widersprach der frühe Croce auf das heftigste. So richtig sein Insistieren gegen den normativen Anspruch historischer Poetiken war, so problematisch freilich die undifferenzierte These, „das Denken des Universalen" zerstöre „das Denken des Individuellen"7, die Konzeption der Gattung mache das Ver5 Darauf wollte sie Benedetto Croce reduzieren: Ästhetik als Wiss.vom Ausdruck und allgemeine Sprachwiss. — Theorie und Gesch., nach der 6. erweiterten ital. Ausg. übertragen von H . Feist und R. Peters, Tübingen 1930, 41 f. 6 Vgl. J a n Mukarovsky: Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, in: Kap. aus der Ästhetik, übers, von W. Schamsdiula, Frankfurt/M. 1970, 7 — 1 1 2 . 7 Ästhetik (Anm. 5) 38.

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stehen des Einzelwerks, dem sie doch unter anderem dienen soll, unmöglich. Croces Theorie einer untrennbaren Synthese von Intuition und Expression läßt zwar das Moment der Form keineswegs außer acht8, doch wird diese Form losgelöst von der literarischen Tradition verstanden. Deren stil- und gattungsbildende Macht, die wir nicht nur in Kontrafakturen, sondern noch in scheinbar so revolutionären Texten wie Rimbauds Bateau ivre am Werk sehen, wird vereinzelt zugestanden, doch durchweg anschließend eskamotiert. „Die alten Expressionen", sagt Croce etwa9, „müssen noch einmal wieder zu Impressionen werden, um mit den anderen zu einer neuen, einheitlichen Expression synthetisch vereinigt zu werden." In dieser Aussage ist ein Moment konkreter Historie impliziert, doch stehen ihr so unhaltbare Überlegungen wie die folgende gegenüber, die postuliert, literarische Formen entständen sozusagen parthenogenetisch10: „Die Intuition eines einfachen, volkstümlichen Liebesliedes [ . . . ] kann in ihrer armseligen Einfachheit intensiv vollkommen sein, obgleich sie extensiv viel begrenzter ist, als die komplexe Intuition eines Liebesliedes von Giacomo Leopardi. [ . . . ] Um gewisse, komplexe Seelenzustände ganz zum Ausdruck zu bringen, gibt es Berufenere und Geeignetere als andere; und in der landläufigen Sprache heißen sie Künstler." Die idealistische Überbetonung des Individuellen führt Croce dazu, daß der kreative Akt auf einen abstrakten Ich-Jetzt-HierPunkt bezogen wird. Mit den Vermittlungen, die sich zwischen konkrete Erfahrung des einzelnen und geformtes literarisches Werk legen, fallen auch die Gattungen unter den Tisch. Deren Relevanz betonen, heißt nicht einer billigen Einflußtheorie huldigen, die blind für schöpferische Leistung wäre. Vielmehr wird sie durch die Vorstellung von Literatur als einer gesellschaftlichen Tätigkeit und einer gesellschaftlichen Institution fundiert, in der unter anderem auch den Gattungen institutioneller Charakter zukommt und ihre sukzessiven Abwandlungen als Modus gesellschaftlichen Handelns 8

Ebd. 17 f. • Ebd. 22. 10 Ebd. 15. 3*

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bestimmt werden können. Wie Stilebenen sind Gattungen Normen, die nicht nur der Produktion, sondern audi der Rezeption von Literatur — dem einzelnen mehr oder weniger bewußt — als durch Erfahrung erworbene Schemata zugrundeliegen. Der sukzessive Aufbau eines Werkes im Lese- oder Hörerlebnis wird von Erwartungen gesteuert, in die ein gut Teil — möglicherweise verdecktes — Vorverständnis, auch gattungsmäßigen Charakters, einfließt und ohne die jede Rezeption ein unendlich qualvoller Akt wäre11. Literatur entsteht unter anderem aus Literatur, Literatur wird unter anderem auf Grund von Literatur verstanden. Produktion und Rezeption geht ein Prozeß spezifischer Sozialisation voraus. Die Untersuchung dieses Sachverhalts transzendiert zwangsläufig die von Croce verfochtene liebevolle Versenkung ins Einzelwerk. Mag diese heute, wo sie nicht von den Aufgaben der Gegenwart ablenkt, einen Höhepunkt möglicher Kommunikation bedeuten und als Bedingung der Möglichkeit philologischer Erkenntnis weiterhin gültig sein", so will die Untersuchung des institutionellen Charakters von Literatur in direkterem Zugriff der Gegenwart dienen. Dazu ist die Einsicht in den dynamischen, in den scheinbar paradoxen Prozeßcharakter der Institution .Literatur' und aller ihrer Aspekte unerläßlich. Croce führte aus", jedes „wahre Kunstwerk" habe eine festgelegte Gattung verletzt, und die ständigen Erweiterungen ihrer Definitionen, zu denen die Gattungstheoretiker genötigt sind, 11 „Die Analyse der literarischen Erfahrung des Lesers entgeht dann dem drohenden Psydiologismus, wenn sie Aufnahme und Wirkung eines Werkes in dem objektivierbaren Bezugssystem der Erwartungen beschreibt, das sich für jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt": Hans Robert Jauß: Lit.gesch. als Provokation der Lit.wiss., in: Lit.gesch. als Provokation, Frankfurt/M. 1970, 173 f. Seine Konzeption einer künftigen Gattungstheorie hat Jauß in einer Schrift präzisiert, die mir erst nach Fertigstellung des Vortragsmanuskripts zugänglich wurde: Litt, médiévale et théorie des genres, in: Poétique — Revue de théorie et d'analyse littéraires 1 [1970], 79—101. 12 Peter Szondi: Über philolog. Erkenntnis, in: Hölderlin-St., Frankfurt/M. 1970, 9—34. 13 Ästhetik (Anm. 5) 40.

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seien sicheres Indiz der Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen. Diese Argumentation, die im Rahmen normativer Poetologie berechtigt ist, liefert selbst das Argument zu ihrer Widerlegung: Die Verletzung einer konstituierten Gattung, der produktive Regelverstoß setzen die Existenz der Regel, setzen die Gattung als Horizont voraus. Und der Prozeßdiarakter der Literatur resultiert unter anderem aus einem fortwährenden Zusammenwirken von Regel und Verstoß, von Norm und Korrektur der Norm. Croce selbst gestand schließlich der Gattungstheorie wieder ihre Berechtigung zu. So stellt sidi seine Polemik als Umweg in der Entwicklung von normativer zu deskriptiver Poetik dar. Wenn man „den theoretischen Wert der abstrakten Klassifikationen" leugne, heißt es im Breviario di esteticau, so bedeute das nicht, „den theoretischen Wert jener genetischen und konkreten Klassifikation leugnen, die übrigens nicht Klassifikation'" sei, „die vielmehr G e s c h i c h t e genannt" werde. Und an anderer Stelle, in La poesia™: „Was man sinnvollerweise an einer ,Gattung' erforscht, hat historischen Charakter; es sind die sozialen und kulturellen Bedürfnisse, die zu bestimmten Sitten und Gewohnheiten geführt haben, aus denen sidi, auf dem Wege der Abstraktion, die betreffende .Gattung' entwickelt hat." Idi komme zum zweiten Einwand: Gattungspoetik sei müßiger, gar schädlicher Formalismus, weil sie von den alles entscheidenden Inhalten ablenke. Er wird von einer Position aus vorgetragen, die rigoros den Prozeßdiarakter literarischer Formen postuliert; sie glaubt ihn durch die sozioökonomische Basis determiniert, ohne doch die Art dieser Determination näher zu bestimmen. So Philippe Sollers, wenn er davon spricht18, die Tiefenstrukturen, die er mit „travail signifiant" gleichsetzt, seien determinierend in der Entwicklung der Oberflächenstrukturen („significations"); Aufgabe des 14

Brevier der Ästhetik, in : Kleine Sehr, zur Ästhetik, ausgew. und übertr. von J. v. Sdilosser, Tübingen 1929, I 45. 15 La poesia — Introd. alla critica e storia della poesia e della lett., Bari 1936, 333 (meine Ubersetzung). 18 Écriture et Révolution — Entretien de Jacques Hernie avec Philippe Sollers, in: Théorie d'ensemble, Paris 1968, 78 f.

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Lesers aber sei es, seine Lektüre umzukehren, gegen den Strich zu lesen, weil er zunächst mit einer Oberfläche in Berührung komme, deren Determinanten im dunklen blieben. In unserem Zusammenhang besagt diese Überlegung: Gattungen sind Organisationssysteme, die, ihrer scheinbaren Autonomie zum Trotz, streng durch den Prozeß gesellschaftlicher Aneignung der Natur determiniert sind. Die ganze Problematik eines solchen reduktionistischen Determinismus, der in polemischem Kontext gerechtfertigt erscheinen mag, steckt in Sollers' Hinweis, die jeweilige Oberflädie literarischer Gebilde verdunkle ihre Determinanten. Strikte Determination einerseits, Differenz, wenn nicht Antinomie zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur andererseits — eine unproblematisierte Widerspiegelungstheorie wird dem Phänomen der Gattung so wenig wie der Literatur insgesamt gerecht. Anders als Lukàcs17 differenziert Sollers nicht — zumindest nicht explizit —, worauf Widerspiegelung eigentlich zielt: ob aufs richtige Detail oder auf den objektiven Zusammenhang der Erscheinungen. Er stellt den gesellschaftlichen Inhalt einer hohlen Form gegenüber, in die er gegossen werde, und vernachlässigt den sozialen Charakter, den Formen aus dem in ihnen sedimentierten Gehalt beziehen. Schließlich übersieht er die in den Gattungen im Prozeß ihrer Fixierung gespeicherten semantischen und kommunikativen Potenzen. Der Zusammenhang zwischen den sozioökonomischen Verhältnissen einer Zeit und ihrem Gattungssystem ist weder streng kausal im Sinn eines unvermittelten Ursprungs18, noch scheint er 17

Kunst und objektive Wahrheit, in: Dt. 2s. für Philos. 2 (1954), Heft 1, 113 bis 148. 18 Sollers hält an der Determination fest, obwohl er der Literatur die Fähigkeit einer „transformation d'éléments réels" zuschreibt (Écriture et Révolution [Anmerkung 16], 68), obwohl er den Freudsdien Begriff des „refoulement" gebraucht (71) und obwohl er davon spridit, jeder Text sei „surdéterminé par l'économie scripturale" (76). Die Anerkennung zweier relativ eigengesetzlicher Reihen, der sozialen und der ästhetischen, hebt die Vorstellung einer einfachen Determination der einen durch die andere auf. In die gleiche Richtung weist die Bandbreite der Deformation des Wirklichen im literarischen Werk, die von der Realistischen' Wiedergabe bis zur Groteske und zum dialektischen Abstoß in der Utopie reicht. Materialistischer Literaturwissenschaft ist die Aufgabe gestellt, die

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mir einer e i n d e u t i g e n strukturellen Analogie, wie sie Goldmann für den Roman des XIX. und XX. Jahrhunderts nachzuweisen versuchte, zu unterliegen. Fassen läßt er sich — wenn nicht ausschließlich, so doch am ehesten — unter dem Aspekt der kommunikativen Funktion. Hier führt der junge Lukics weiter. Die Kritik an der formalistischen Betrachtungsweise des New Criticism und ,werkimmanenter' Exegeten muß sich, sofern sie nicht in Taktik oder Dogmatik erstarren will, mit seiner These auseinandersetzen, das „wirklich Soziale" in der Literatur sei die Form. Sie erst mache das Erlebnis des Dichters zur Mitteilung, und erst durch diese geformte Mitteilung, durch ihre Wirkung werde die Kunst eigentlich sozial. Und der allein bewegende Inhalt?, könnte man wieder einwenden. Lukacs hält dem entgegen19: „Der Aufnehmende [ . . . ] nimmt nicht wahr, daß er mit Hilfe der Form überhaupt erst in die Lage versetzt wurde, das zu konstatieren, was er als Inhalt ansieht: das Tempo, den Rhythmus, die Hervorhebungen und die Weglassungen, die Einstellungen von Licht und Schatten etc." Lukacs spricht nicht einer linearen Determination literarischer Formen durch historische Inhalte das Wort, sondern postuliert — bei Aufrechterhaltung des sozioökonomisdien Primats — eine dialektische Beziehung: Formen sind häufig unabhängig von denen, die sie benutzen; doch wie Inhalte sind sie sozial vermittelt, Sedimentationen früherer Inhalte und andererseits durch Erfahrung vorgegebene Normen, Orientierungswerte, die mehr oder weniger durchbrochen werden können. Bestimmte Interpretationspotenzen sind in ihnen gespeichert; selektiv und strukturierend wirken sie auf neues historisches Material ein. Dieses seinerseits verhindert oder ermöglicht, begünstigt oder verlangt traditionelle bzw. neue Formen. Gattungen sind für Lukacs, ohne daß er das Wort gebraucht, Kommunikationssysteme, deren sozialer Charakter in einer sehr komplexen (vielfältig vermittelten) und daher weitrelative Eigengesetzlichkeit einzelner Reihen mit der letztinstanzlichen Dominanz

des ökonomischen Faktors theoretisch und praktisdi

(interpretierend,

didaktisch) zu vermitteln. " Georg Lukacs: Aus dem Vorwort zu: Entwicklungsgesch. des modernen mas, in: Sehr, zur Lit.Soziologie, hg. v. Ludz, Neuwied 1961, 71 f.

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gehend nodi unerforschten Bindung an die gesellschaftliche Basis einerseits, in ihrer gesellschaftlichen Funktion andererseits gründet. Womöglich, darf man vermuten, sind Gattungsstrukturen für die Erkenntnis der literarischen Kommunikation weit wichtiger als die subtilsten Interpretationen einzelner Meisterwerke. Nicht zufällig hat die Informationstheorie, ohne sich auf Lukacs zu berufen, dessen Ansatz aufgegriffen. Trzynadlowski gelangt zu dem Schluß'0: „Whereas individual and synthetized instructions within a literary work are a literal code for the information contained in the work, the programme, outlined by the directives and criteria of the given literary genre, is the central directional information with considerable interpretative values. [ . . . ] What is of particular importance here, this bears out the role of the literary genre not as a mechanical resultant of ,formal elements', but as a complex of directives which determine the proper interpretation of the assumption adopted in the individual literary work. [ . . . ] the genre, conceived as a programme, enables us an external interpretation which explains the basic attitudes adopted in the work and in the author's vision of the world." Von einer soziologischen Interpretation der Gattungen als Kommunikationssysteme ergibt sidi zwanglos der Ubergang zur neuen Disziplin der Textlinguistik. Denn in dem Maße, wie sidi die synchrone Sprachwissenschaft über die phonologische, morphologische und syntaktische Ebene hinaus verschiedenen Textsorten zuwenden wird, erscheint es konsequent, daß sie nicht nur die Poetizität literarischer Texte von nicht-literarischen differenziert, sondern daß sie auch die traditionellen Gattungen, Stilebenen und Techniken linguistisch aufarbeitet11. Für eine Theorie der Gattungen bedeutet J a n Trzynadlowski: Information theory and literary genres, in: Zagadnienia rodzajow literackich 4 (1961), Heft 1, 45. 1 1 „Es sind sprachliche Kategorien für die Beschreibung von Textklassen zu erarbeiten. Hierbei kann man von der Hypothese ausgehen, daß Textklassen diarakterisierbar sind durch Typen der Textbildung und daß diese wiederum in Relation stehen zu spezifischen Kommunikationsfunktionen. Zu unterscheiden sein wird dabei zwischen obligatorischen und fakultativen Textkonstituenten, zwischen allspradilichen und einzelsprachlichen, zwischen solchen der primären 10

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dies konkret: Erstens: Die Linguistik, insbesondere ihre Argumentation auf verschiedenen Niveaus, vom phonologischen bis zum semantischen und textologischen, bietet Möglichkeiten zu genauerer Beschreibung aller sprachlichen Sachverhalte. Zweitens: Die Einbettung der Linguistik in eine Kommunikationstheorie, die das soziale Substrat und die soziale Funktion von Kommunikation mit berückschtigt, weist in Richtung auf die erstrebte synthetische Interpretation, die allein dem komplexen Gegenstand »Literatur' adäquat wäre. Drittens: Eine Verknüpfung der Gattungspoetik mit Uberlegungen zur Struktur kommunikativer Prozesse würde dazu beitragen, daß Literaturwissenschaft endlich aus dem Abseits idealistischer Verfälschung oder ,werkimmanenter' Einseitigkeit den Anschluß an das aufklärerische Fortschrittsdenken fände (auch an Mme de Staël, auf die wir Komparatisten uns so gerne berufen). Kommunikation findet über einen Code zwischen Sendern und Empfängern statt. Gattungen — gleichgültig, ob es sich um das Sonett oder um visuelle Gedichte handelt — lassen sich als solche Codes interpretieren, und eine Wissenschaft, die sich nicht in liebender Versenkung in die Artefakte der Vergangenheit erschöpfen will, wird auch derartige Gattungscodes nach den in ihnen gespeicherten Potenzen sozialer Interaktion befragen. Sie wird unter anderem — sachlich, doch deswegen nicht minder engagiert — die nationalen bzw. regionalen, epochalen, schichten- und klassenspezifischen Beschränkungen solcher Codes beschreiben. Sie wird fragen, ob und wie traditionelle Codes breiteren Schichten vermittelt werden können, wo es Sperren, Barrieren gibt, wo neue Codes wünschenswert wären, schließlich, wie es zu erklären ist, daß Gattungscodes ihre gesellschaftliche Genesis in begrenztem Maße häufig überleben, ja sogar umfunktioniert werden können. Dies alles impliziert die Vorstellung einer Dynamik von Gattungen, das Faktum ihrer Veränderung und die Möglichkeit ihrer Veränderbarkeit. und der sekundären Textstruktur. Es ist zu prüfen, wie weit sich auf der Ebene der sekundären Strukturierung weitere Unterklassen von Texten durdi Typen von Rekurrenzmustern charakterisieren lassen" : Rolf Kloepfer / Ursula Oomen : Sprachliche Konstituenten moderner Dichtung — Entwurf einer deskriptiven Poetik — Rimbaud, Bad Homburg v. d. H. 1970, 213.

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Damit komme ich zum dritten Einwand. Leibfried — ich greife ein eingangs gebrachtes Zitat auf — formulierte ihn folgendermaßen": „Gattungen befinden sich nicht im Fluß; in Bewegung sind (wobei genau anzugeben bleibt, was dieser metaphorische Terminus »Bewegung' jenseits seiner räumlichen Bedeutung trifft) nur die einzelnen (unterschiedlichen) Werke, sofern man sie vergleicht. Die Gattung ist das Ähnliche, Gleiche. Das Gleiche kann sich aber nicht bewegen. Wo es sich doch bewegt, liegt Mystik vor, die erst noch von Wissenschaft einzuholen wäre." Daß durch den Vergleich verschiedene Werke in Bewegung geraten, ist zumindest unpräzise, denn die vergleichende Gegenüberstellung einzelner Werke dient allenfalls dazu, die spezifische Eigenart jedes dieser Werke genauer herauszuarbeiten. In welchem Sinn auch sollten isolierte Texte sich bewegen, wenn nicht in dem, daß sich die in ihnen organisierten Elemente und Schichten in der Rezeption zu einer „dynamischen Einheit" konstituieren®5? Dazu aber bedarf es nicht des Vergleichs mit anderen Texten. Im Zusammenhang mit verschiedenen literarischen Produkten kann von Bewegung lediglich die Rede sein, wenn zuvor e i n Element herausgegriffen wurde. In diesem Sinn spricht man von der Entwicklung der Metaphorik eines Dichters, von sukzessiven Formen der Allegorie im Barode oder von verschiedenen Gestaltungen des Ophelia-Motivs. Von Bewegung einzelner Werke als ganzer wird nicht die Rede sein, wohl aber von einer Entwicklung der Gattung, die sich in ihnen ausprägt. Leibfried handelt von den Gattungen zu ausschließlich unter dem Aspekt wissenschaftlicher Begriffsbildung, er sieht sie nicht als reale Komplexe. Die Abstraktion von Identischem aus bestimmten Reihen ähnlicher Elemente führe zu Definitionen mit einer gewissen Bandbreite „subdominanter" Momente"; diese Definitionen dienten der Erkenntnis des einzelnen, die Antinomie zwischen Geschichte und System werde so überwunden. Im Gegensatz zu Croce ist hier das Universale Mittel zur Erkenntnis des Individuellen; doch die u 29 84

Identität und Variation (Anm. 3), 112, Anm. 9. Mukafovsky (Anm. 6), 104 ff. Identität und Variation (Anm. 3), 19.

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literaturwissenschaftliche Praxis, die dieser Theorie nach Leibfried zu folgen hat, zeigt seit zwanzig Jahren keineswegs die erwünschten Ergebnisse: Geschichte wird ihr zu einer nidit weiter präzisierten Variation von Identischem, das aus allen historischen Kontexten Abstrahierte — d a s Mystische, d a s Romantische, d e r Roman — verkehrt sich nur allzu leicht zu einem schlechten Allgemeinen und versperrt die Einsicht in historische Zusammenhänge, die es doch verbürgen soll26. Gattungen sind, mit Leibfrieds eigenen Worten, „Ähnliches", als solches aber implizieren sie historisch vermittelte „Identität und Variation". Das Problem ist, über der erkenntnistheoretischen Fragestellung nicht „die reale Dialektik von Konstanz und Veränderung"" in den Hintergrund zu drängen. Die Untersuchung der Identität sollte wesentlich auf das g e s c h i c h t l i c h f u n d i e r t e Allgemeine der Gattung — nicht auf deren „Idee" im Benjaminschen Sinn" — zielen; die Fülle der Variationen, für Benjamin „der farbige Rand einer kristallinischen Simultaneität" 18 , müßte der Literarhistoriker als Indiz konkreter Dynamik werten. Und wenn Benjamin in extremen Ausprägungen der Gattung nicht Curiosa, sondern ihr innerstes Formgesetz sucht, hätte der Historiker — in komplementärem Bemühen — Punkte des Umschlagens zu fixieren, die auf Genesis oder Auflösung eines Genre deuten. Gattungen bewegen sich, Werke nicht. Noch nicht entkräftet ist bislang freilich der Einwand, hier werde auf Dynamik insistiert, wo sich primär Identität im Wechsel manifestiere. Ihm ist entgegenzuhalten: Es geht darum, das System literarischer Kommunikation und die spezifischen Subsysteme der 25

Leibfried trennt nicht, wie er selbst andernorts fordert (Kritische Wiss. vom Text — Manipulation, Reflexion, transparente Poetologie, Stuttgart 2 1972, 255), zwischen Real- und Idealtyp. Nimmt man die Gleichsetzung von ,Typ' und ,Begriff' mit ,Gattung' hinzu, so erklärt sidi ein Satz wie der folgende: »Gattungen entstehen [!] dort, w o unterschiedliche Ähnlichkeitsreihen vorliegen [!]" {Identität und Variation, 18). 26 Wb. der marxistisch-leninistischen Soziologie, Köln/Opladen 1969, 107 (Stichwort ,Entwicklung'). 27 Walter Benjamin: Ursprung des dt. Trauerspiels, hg. v. Tiedemann, Frankfurt/M. 1963, 15 ff. 29 Ebd. 20.

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Gattungen als geschichtlich gewordene, das heißt als veränderliche und veränderbare zu begreifen. Ferner geht es nach wie vor darum, die Antinomie von Struktur und Geschichte zu überwinden, deren negative Auswirkungen auf die Literaturbetrachtung erst in den letzten Jahren abgebaut worden sind; mit den folgenden Stich Worten seien sie nur angedeutet: Neigung zu Perioden mit festgefügten Gattungssystemen, wobei die sozialen Implikate bestimmter Gattungshierarchien nicht reflektiert werden; Tendenz zu literarischem Konservieren; Feindschaft gegen experimentierende Epochen; Ausschluß der zeitgenössischen Literatur aus der Universität; Überschätzung von Werken, die als prototypische Erfüllungen traditioneller Gattungen interpretiert werden können und damit verbunden Abneigung gegen alles, was nach Auflösung aussieht (bei dem so verdienstvollen Hugo Friedrich etwa gegen Rilkes Sonettdichtung"). Schließlich geht es darum, die Einsicht in die Veränderbarkeit des literarisdien Systems in eine Handlungstheorie einzubringen, die helfen soll, klassen- und schichtenspezifische Kommunikationsschwierigkeiten abzubauen. Ich komme zum Hauptpunkt meiner Überlegungen, der Frage, wie die Dynamik literarischer Gattungen präzise gefaßt werden könnte. Als Ansatz bietet sidi der strukturalistische Systembegriff an. Der Begriff der Gattung, verstanden als Menge spezifischer Elemente und Verknüpfungsregeln, läßt theoretisch Möglichkeit für Entwicklung, die nach dieser Definition bedeutet: Ausfall oder Hinzufügung, Akzentuierung oder Abschwächung einzelner Elemente bzw. Regeln. Zumal an Bruchstellen der literarischen Evolution läßt dieser Gattungsbegriff Raum für die Frage nach der historischen Basis von Strukturveränderungen; komplementär verhält er sich zum Hegeischen Theorem vom Umschlag der Quantität in Qualität. Im Sinne dieses Ansatzes hieße Stabilität einer — jeweils individuell realisierten — Gattung: diachronisch: Nähe zur historisch gewordenen Norm; syndironisch: Nähe zum statistischen Durchschnitt. Labilität hieße: maximale Abweichung. Ein weiterer M

H u g o Friedrich: Zur Frage der Übersetzungskunst, in: Sb. Heidelberger der Wiss., Phil.-hist. Klasse, Jg. 1965, Abh. 3, Heidelberg 1965.

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Literaturbegriff als der klassisch-kanonische würde durchaus dem Rechnung tragen, daß große Werke häufig Gattungen auflösen oder konstituieren, oft beides. Exemplarische Erfüllung der Gattung (der Norm, des Durchschnitts) wäre somit nicht zwangsläufig Signum der Qualität, und die „Idee" einer Gattung im Benjaminschen Sinn hätte nichts mit dem hier intendierten Allgemeinen zu tun. Doch all dies ist nur ein Rahmen, und die Frage, wie Gattungen konkret zu definieren seien, bleibt. Zentral ist hier — ein Zitat aus Welleks und Warrens Theorie der Literatur mag es belegen — das Problem, welche Elemente in die Definition einer Gattung eingehen sollen. Boileaus Kanon, heißt es bei Wellek und Warren®0, umfasse „das Hirtengedicht, die Elegie, die Ode, das Epigramm, die Satire, die Tragödie, die Komödie und das Epos"; doch definiere Boileau nicht die Grundlage für diese Typologie. „Unterscheiden sich seine Gattungen nach ihrem Gegenstand, ihrer Struktur, ihrer Versform, ihrer Größe, ihrem Gefühlston, ihrer Weltanschauung oder ihrem Publikum?" Wellek und Warren plädieren für eine Kombination von äußerer und innerer Form als Weg zur Gattungsbestimmung. Sie verstehen unter ,Gattung' eine Gruppierung literarischer Werke, „die theoretisch auf der äußeren Form (Metrum, Struktur) wie auch auf der inneren Form (Haltung, Ton, Zweck — grober gesagt: Gegenstand und Publikum) fußt. Die offensichtliche Grundlage kann die eine oder die andere sein [ . . . ] ; dann aber ist es Aufgabe des Kritikers, die andere Dimension herauszufinden, um das Schema zu vervollständigen" 31 . Gegenüber Staigers anthropologisierender Auflösung des Gattungsbegriffs markiert dies Plädoyer einen entschiedenen Erkenntnisfortschritt. Hinzuweisen ist freilich auf den grundlegenden Widerspruch der Theorie der Literatur, der sich auch im Kapitel über die Gattungen auswirkt: Die Trennung in „außerliterarische Wege" und „interliterarische Methode" der Literaturwissenschaft läßt sich nicht mit dem Postulat vereinbaren, in der Gattungsanalyse das soziale Moment, sei es als 80 51

Theorie der Lit., übers, v. E. und M. Lohner, Berlin 1966, 206. Ebd. 208.

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Gegenstand des Werkes, sei es als dessen Publikum, angemessen zu berücksichtigen. Und andererseits läßt die Definition von „Haltung, Ton, Zweck — grober gesagt: Gegenstand und Publikum" als „innerer Form" zwar erkennen, daß im literarischen Werk die geschichtlich manifesten Materialien schon in einer bestimmten Weise organisiert bzw. transformiert sind, zugleich ist aber die Trennung dieses umgesetzten Stoffes vom historischen Substrat impliziert. Dieses Substrat aber als letztlich entscheidende Movens auch der Gattungsentwicklung könnte gerade eine Faktorenanalyse wie die von Wellek und Warren skizzierte32 zur Geltung bringen. Gattungen, verstanden als institutionelle Ensembles inhaltlicher, technischstilistisdier, kompositioneller, intentionaler und funktionaler Momente, könnten hinsiditlich ihrer Stabilität bzw. ihrer Dynamik fruchtbar analysiert werden, wenn das historische Substrat als Intention des Dichters33, als Stoff des Werkes, als dessen gesellschaftliche Funktion und als Publikum besondere Berücksichtigung fände. Die zunehmende Dominanz einzelner Momente — warum nicht auch scheinbar rein formaler? —, das Ausfallen anderer, bestimmte Akzentverlagerungen sollten helfen, die Dynamik von Gattungen als spezifischer Kommunikationssysteme herauszuarbeiten. si

Zu den Gefahren und Vorzügen einer Faktorenanalyse vgl. Karel Kosik: Die Dialektik des Konkreten — Eine St. zur Problematik des Menschen und der Welt, übers, von M. Hoffmann, Frankfurt/M. 1971, 109, 114: „Die Faktorentheorie kehrt die gesellschaftliche Bewegung völlig um, denn sie sieht als ,Träger' der gesellschaftlichen Entwicklung isolierte Produkte der gegenständlichen oder geistigen Praxis des Mensdien an, obwohl der einzige wirkliche Träger der gesellschaftlichen Bewegung der Mensch im Prozeß der Produktion und Reproduktion seines gesellschaftlichen Lebens ist." „Die Betonung der E i n h e i t der gesellschaftlichen, durch die ökonomische Struktur gebildeten Wirklichkeit kann freilich zu einem Hemmschuh des wissenschaftlichen Forschens werden, wenn die Einheit in metaphysische Identität verwandelt wird und die konkrete Totalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu einer abstrakten Ganzheit degeneriert." 33 Einwände gegen die Argumentation mit der Intention des Dichters sind berechtigt, wenn Literatur biographisch-psychologisch .erklärt' werden soll. Sie sind es u. a. dort nicht, w o die Wirkungsabsicht, wie im epischen Theater Brechts (s. unten), zum konstitutiven Moment eines Werkes bzw. einer Gattung wird und w o — gegebenenfalls — entsprechende theoretische Äußerungen vorliegen.

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Das Anordnungsprinzip der folgenden Beispiele, durch die ich das bislang Ausgeführte präzisieren und konkretisieren möchte, folgt der heuristisch fruchtbaren, wenn auch nur partiell richtigen Einsicht, daß der Leser (bzw. Zuhörer, Zuschauer) zunächst mit einer Oberfläche in Berührung kommt, deren Determinanten weitgehend im dunklen liegen34. Es ist freilich nicht als mechanistischdeterministisch, sondern, unbeschadet der fundamentalen Dominanz des ökonomischen, im Sinne der „dialektischen Antinomie" zu verstehen, als die Mukarovsky das Verhältnis von „ästhetischem" und „außerästhetischem Sektor" bestimmte56. In einem ersten Schritt versuche ich, am inneren Monolog zu zeigen, wie bestimmte formale Komponenten vermöge ihrer immanenten Dynamik den Gattungscharakter eines Werkes entscheidend umgestalten können. Eine zweite Überlegung soll am Beispiel Rimbauds verdeutlichen, daß der scheinbar autonomen Selbstbewegung von Formen oder technisch-stilistischen Verfahren eine jeweils neue „Vision der Welt" 86 zugrundeliegt. Am Paradigma von Goethes Natürlicher Tochter soll daran anschließend diese Vision als historisch vermittelte bestimmt und die Dynamik von Gattungen aus dem produktiven Widerspruch von etablierten Formen und neuen Inhalten erklärt werden. Wie die Wirkungsabsicht des Schreibenden und die Rücksicht auf das Publikum den Gattungscharakter eines Werkes entscheidend bestimmen und verändern können, soll der Hinweis auf antiillusionistisdie Techniken im XX. Jahrhundert und — als Beispiel aus einem ganz anderen Bereich — Lope de Vegas Arte nuevo de hacer comedias illustrieren. Da das ökono34

Vgl. die oben referierte Konzeption von Sollers. Kap. aus der Ästhetik (Anm. 6) 15. 36 "Le caractère s o c i a l de l'œuvre réside surtout en ce qu'un individu ne saurait jamais établir par lui-même une structure mentale cohérente correspondant à ce qu'on appelle une ,vision du monde*. Une telle structure ne saurait être élaborée que par un groupe, l'individu pouvant seulement la pousser à un degré de cohérence très élevée et la transposer sur le plan de la création imaginaire, de la pensée conceptuelle, etc.": Lucien Goldmann: Pour une sociologie du roman, Paris 1964, 42. Dazu kritisch: Helga Gallas: Marxistische Lit.theorie — Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, Neuwied/Berlin 1971, 72 ff. 35

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mische Substrat wenn nicht als einzige und direkte Determinante, so doch als gewichtigster Faktor in der Evolution der Formen anzusehen ist, möchte ich daran anschließend — einige Hinweise von Habermas referierend — die Notwendigkeit herausstellen, durch Kooperation die soziale Basis in der Literaturwissenschaft präziser als bislang zu fassen. Abschließend sollen einige Überlegungen zur gesellschaftlichen Funktion von Gattungssystemen vorgetragen werden. Abgesehen wird in den folgenden Beispielen von der wichtigsten Differenzierung, die die Soziologen zwischen dem Wandel innerhalb eines Systems und dem Wandel des Systems selbst machen37. Diese Differenzierung berührt einmal die Frage, Komplexe welcher Größenordnung man als Gattungen definiert; zum anderen wäre sie dazu geeignet, Binnenbewegungen, die mit dem Überdruß an stereotypen Formen, mit einem Abnutzungseffekt, mit Verlangen nach neuem Vergnügen zusammenhängen, von Einschnitten zu unterscheiden, in denen mit dem sozialen System auch die spezifisdien Kommunikationsformen der Literatur umgestaltet werden. Ein Beispiel für den ersten Fall wäre das Phänomen des Petrarkismus und der ihm zuzuordnende Anti-Petrarkismus; für den zweiten Fall könnten die literarische Publizistik eines Forster oder Heine stehen. Zum ersten Beispiel. Benjamin sprach einmal von dem „reaktionären Versuch, technisch bedingte Formen" nicht als „abhängige Variablen", sondern als „Konstanten" zu interpretieren88. In der Musik etwa ergeben sich — Eisler wies nachdrücklich darauf hin39 — durch die Erfindung von Instrumenten ganz neue Möglichkeiten der Komposition. Und im Film ist faßbar, wie die technische Entwicklung über die Zwischenstufen Photographie, Kinematograph, Perspektivenwechsel, Nahaufnahme, Montage zu einer neuen künstlerischen Form führt. Analoges findet sich, was die Literatur betrifft, allenfalls in bestimmten technischen Ausstattungen der Fisdier-Lexikon Soziologie, umgearbeitete und erweiterte Neuausg., hg. v. König, Frankfurt/M. 1967, 291 (Stichwort .Sozialer Wandel'). 3 8 Walter Benjamin: Schriften, hg. v. Th. W. und G. Adorno / Podszus, Frankfurt/M. 1955, I 488. 39 Vgl. Helga Gallas: Marxistische Lit.tbeorie (Anm. 36) 176.

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Bühne oder in der Erfindung des Druckes bzw. dessen Verbilligung, die neue Formen wie Flugblatt, Kalender oder die Presse in allen ihren Ausprägungen und mit allen ihren,Gattungen' hervorbrachten. Heute kommen die Massenmedien hinzu. Obwohl die Bedeutung dieser Medien für die Literatur kaum überschätzt werden kann, hat sich die Literaturwissenschaft ihrer Erforschung freilich erst ausnahmsweise zugewandt. Was man in der Literatur als technische Neuerungen bezeichnet, sind — im Unterschied zu den Grundlagen von photographischen Aufnahmen und Filmen — gemeinhin selbst eher Phänomene des Uberbaus im Marxschen Sinn — freilich nicht solche ohne jeden Anspruch auf Selbstständigkeit. Insofern solche technischen Neuerungen unter Umständen gattungskonstituierend werden, muß ihrer hier gedacht werden. Man ist gewohnt, den Ulysses einen Roman zu nennen, und sagt, er sei ein großer .monologue intérieur'. Zumindest die letzte Behauptung trifft nicht zu, denn so wenig Joyces Werk e i n innerer Monolog ist — es gibt Monologe von Bloom, Molly und Stephen, rudimentär auch von anderen Gestalten —, so wenig ist der innere Monolog die einzige Darbietungsform. Zunächst gleichberechtigt stehen neben ihm Erzählerbericht und direkte Rede. Nicht zufällig freilich mündet der Ulysses in einen einzigen — Dutzende von Seiten umfassenden — .monologue intérieur'. Welche Motive auch immer hierfür zu nennen wären (das wichtigste hängt wohl mit der Sdilußpointierung zusammen) — sicher ist, daß die durch Édouard Dujardin vermittelte Technik Joyce kraft innerer Dynamik zu einer ersten ausschließlichen Realisation trieb, mit der die Tradition des realistischen Romans des XIX. Jahrhunderts endgültig aufgekündigt wurde. Im Ulysses soll der innere Monolog einerseits die Relativität aller Bedeutungen und — damit verbunden — die Aufwertung des .banalen' Alltags prononcieren, andererseits die Vereinzelung der Menschen sowie das Auseinanderfallen von Reflexion (Stephen), Tat (Bloom) und Sinnlichkeit (Molly) sinnfällig machen. Beide Funktionen — andere werden hier vernachlässigt — verweisen auf die Geschichte. Doch scheint mir das technische Mittel relativ autonome Potenzen zu entfalten, die als zufällige Umstände 4 Eomparatistiscfae Studien 4

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seiner Genesis und Übermittlung, als Reiz seiner intensiven Erprobung, als Attraktion auf nachfolgende Schriftsteller zu differenzieren wären. Ein anderes Beispiel für die aus technischen Neuerungen entspringende Dynamik literarischer Gattungen ist der Einsatz von Zitaten und dokumentarischem Material, auf das ich noch in anderem Zusammenhang zu sprechen kommen werde. In gewissem Sinn bilden beide das realistische Korrelat zum subjektivistischen Rückzug der Personen im inneren Monolog. Dokumentarisches findet sich, wie unlängst Haskell M. Block an Zola, Thomas Mann und Dreiser belegte40, schon in umfangreichem Maße bei den Naturalisten; und die Geschichte des Zitats ist wohl so alt wie die der Literatur. Doch (wiederum) mit Joyce schlägt eine bislang unbekannte Quantität von Zitaten und Dokumentarischem in eine neue Qualität um: Durdi beide erlangt der Ulysses in Verbindung mit der sprachspielerischen Auflösung des Diskurses im inneren Monolog zumindest partienweise41 einen in sich selbst reflektierten Charakter, und unter diesem Stichwort könnte man einen großen Teil moderner Lyrik und Prosa, ja selbst Dramatik zusammenfassen; beispielhaft läßt sich an Zitat und Dokument ablesen, wie neue technische Mittel traditionelle Gattungsschranken suspendieren. Zum zweiten Beispiel und der Korrelation zwischen .Vision' und technisdien Neuerungen. In Rimbauds Le Bateau ivre spricht bekanntlich das trunkene Schiff selbst, und zwar, wie Kloepfer nachwies42, auf zwei fiktiven Ebenen mit unterschiedlichem Realitätscharakter. In 22 der 25 Strophen breitet Rimbaud ein Panorama des Scheiterns aus, in den letzten Strophen wird deutlich: Was zuvor endgültiger Untergang schien, ist vorerst nur Wunsch, dem

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Haskell M. Block: Naturalistic Triptych — The Fictive and the Real in Zola, Mann, and Dreiser, New York 1970. Dazu meine Rezension in arcadia 7 (1972), 331—334. 41 Zu denken ist etwa an die Kapitel Scylla and Cbarybdis und Oxen of the Sun. 42 Rolf Kloepfer: Das trunkene Schiff, Rimbaud — Magier der ,kühnen' Metapher}, in: RF 80 (1968), 147—167.

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freilich die Erfüllung bald folgen soll": O que ma quille éclate! O que faille à la mer! Dem ersten Teil entstammen die beiden folgenden Strophen: (XI)

J'ai suivi, des mois pleins, pareille aux vacheries Hystériques, la houle à l'assaut des récifs, Sans songer que les pieds lumineux des Maries Pussent forcer le mufle aux Océans poussifs!

(XII)

J'ai heurté, savez-vous, d'incroyables Florides Mêlant aux fleurs des yeux de panthères à peaux D'hommes! Des arcs-en-ciel tendus comme des brides Sous l'horizon des mers, à de glauques troupeaux!

Diese Passage fügt sich ein in die Eskalation des imaginären Untergangs, was schon rein äußerlich durch den Beginn der Strophen I X bis X I I I sinnfällig wird: J'ai vu, J'ai rêvé, J'ai suivi, J'ai heurté, J'ai vu fermenter. Doch läßt sich andererseits eine gewisse Tendenz zur Autonomie der beiden ,Quatrains' beobachten, die in unserem Zusammenhang interessiert und die ich vom zweiten — diesmal selbständigen — Text aus analysieren möchte. Es handelt sich um Marine aus den Illuminations**: Les chars d'argent et de cuivre — Les proues d'acier et d'argent — Battent l'écume, — Soulèvent les souches des ronces. Les courants de la lande, Et les ornières immenses du reflux, Filent circulairement vers l'est, Vers les piliers de la forêt, Vers les fûts de la jetée, Dont l'angle est heurté par des tourbillons de lumière. 43

Rimbaud-Texte nach den Œuvres compl., ed. Renéville / Mouquet, Paris 1963; Le Bateau ivre: 100—103. " Ebd. 196.

4*

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Maritime und Heidelandschaft spielen ineinander über, ähnlich wie — nach Friedrichs Hinweis45 — in gewissen Bildern jenes fiktiven Impressionisten Elstir, dessen marine alpestre Proust analysierte. Auf Reim und einheitliches Metrum verzichtete Rimbaud, doch hat gerade der Übergang zu freien Rhtyhmen ein ungewöhnliches Gelingen ermöglicht. Frei von lästigen Banden, doch nidits weniger als formlos46, kann sich die von allen Zwecken und Zwängen, von allen psychologischen Residuen befreite Vision einer Einheit entfalten, der freilich — das Gedicht selbst deutet es möglicherweise am Schluß an47, und Rimbauds Verstummen hängt damit zusammen — in der historischen Welt kein Äquivalent antwortet. Rimbauds spezifische Vision ist die Vision einer in der Realität unerfüllten Versöhnung des Getrennten. Im Vergleich zu dem weniger stringenten, wenngleich berühmteren Gedicht Le Bateau ivre finden wir also neue Inhalte und andererseits neue Formen, Inhalt-Form-Dialektik also, doch um so befragenswerter die beiden zuerst zitierten Strophen, die Marine in bestimmter Weise präfigurieren, jener Dialektik also zu widersprechen scheinen. So stark diese beiden Strophen mit den übrigen verbunden sein mögen, so sehr konstituieren die ihnen spezifischen Bilder eine relative Einheit. Während in der vorausgehenden X. Strophe von neiges éblouies, sèves inouïes, von phosphores chanteurs die Rede ist (der Bezug zum Meer ist durch das Potenzieren der Bilder stark verdeckt), während in der folgenden XIII. Strophe dieser Bezug in unterschiedlicher Weise angedeutet wird (marais, nasses, Léviathan, écroulements d'eaux, bonaces, gouffres), zeichnet die Strophen X I und X I I ein streng homogenes Bildfeld aus: vacheries, l'assaut, mufle, Océans poussifs, panthères, brides, trou45

Hugo Friedridi: Die Struktur der modernen Lyrik — Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg i960, 66. 46 Das Gedicht ist streng nach dem Prinzip des Chiasmus gebaut; s. Kloepfer/ Oomen (Anm. 21) 36 ff. 47 Vgl. den Schluß von Les Ponts: Un rayon blanc, tombant du haut du ciel, anéantit cette comédie, in: Œuvres compl. (Anm. 43), 187, sowie Jacques Rivière: Rimbaud, Paris o. J., 133: „Ces abîmes d'en-haut, ce sont les manifestations du vide dont souffre le spectacle, dont il est secrètement atteint — et qui finira par le dévorer."

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peaux. Die Isolierung einzelner Bilder genügt, um zu zeigen, daß nicht weniger subtil als später in Marine mit dem Bereich des Meeres ein zweiter, hier animalischer, überblendet wurde. Entstammt eine Vorstellung wie la houle à l'assaut des récifs durchaus dem Metaphernvorrat gehobener Prosa, so sind les pieds lumineux des Maries / [qui] pussent forcer le mufle aux Océans poussifs!'9 und Des arcs-en-ciel tendus comme des brides / Sous l'horizon des mers, à de glauques troupeaux! (Homer-Reminiszenz49) durchaus schon visionär in dem hier konkret gebrauchten Sinn des Wortes. Zweifellos eine starke Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Strophen und Marine, dort jedodi freie Rhythmen, hier Alexandriner — wenn auch keine klassischen. Offenbar handelt es sich in Le Bateau ivre um eine der Bruchstellen, deren stärkere Beachtung wir, wenn wir von Dynamik der Gattungen sprechen, implizit fordern. Daß Marine die angemessenere Form für jene Art potenzierter Bildverschränkung ist, zeigt die hypothetische Isolierung der beiden Strophen aus Le Bateau ivre. So einheitstiftend der animalische Bildkomplex wirkt, so wenig erscheint das Ganze als Einheit — und dies liegt keineswegs nur an den Einsätzen J'ai suivi, J'ai heurté, deren ,moi' ohne den Kontext im dunklen bliebe. Der Vergleich zwischen den beiden Strophen aus Le Bateau ivre und Marine zeigt als gewichtiges Movens der Entwicklung neuer Gattungen — und um eine solche handelt es sich in den Illuminations50 — den produktiven Widerspruch zwischen neuen Inhalten und traditionellen Formen. Neue historische Inhalte bzw. deren .visionäre' Korrelate treten in Opposition zu überlieferten Strukturen, indem sie sich einer adäquaten Darstellung verweigern und zur Erfindung neuer Strukturen auffordern. Logische Konsequenz dieses Ansatzes ist die Möglichkeit, das Unbefriedigende mancher Werke als Resultat einer nicht gelösten Form-Inhalt-Problematik zu begreifen. Auf Szondis exemplarische Theorie des modernen 48

Anspielung auf eine Lokallegende von Les-Saintes-Maries-de-la-Mer? Vgl. Ilias X V I 34. 50 Marine nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, die in diesem Zusammenhang jedoch unberücksichtigt bleiben darf.

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Dramas wäre hier hinzuweisen. Wie der dort unter anderem analysierte Widerspruch zwischen traditioneller Dramenform und sozialer Thematik im Naturalismus ist Goethes dramatische Auseinandersetzung mit dem Sujet der Französischen Revolution ein ausgezeichnetes Paradigma für das hier in Rede Stehende. In der Form der Posse — ich denke an den Bürgergeneral — ließ sich über die Jakobiner nur Banales, um nicht zu sagen Hanebüchenes vorbringen, das der besseren Einsicht des Autors am Tage von Valmy Hohn spricht. Und in anderer Weise problematisch ist Die natürliche Tochter mit ihrem exponiert politischen Vorwurf und ihrer nicht minder exponierten Form: Die revolutionäre Thematik war im Unterschied zum Humanitätsgelöbnis der Iphigenie und zur problematischen Stellung des Künstlers am Hof seines feudalen Mäzens (Tasso) kaum in die Form des klassizistischen Dramas zu bannen; dessen Mißlingen spricht, selbst wenn wir die geplante Fortsetzung in Rechnung stellen, aus dem weitgehenden Fehlen des Volkes51 bzw. der Öffentlichkeit", jener beiden wesentlichen Triebkräfte der französischen Umwälzung, ebenso wie aus der .naturalistischen', organologisch-konservativen Metaphorik, die mit dem Grundgedanken aller Aufklärer, dem ,progrès', der »perfectibilité', den wirklichen Fortschritt, der damals in Frankreich erzielt wurde, verneint5'. Mit diesen Andeutungen soll freilich nicht gesagt werden, daß allein die Sansculotten-Poesie und die literarische Publizistik eines Forster oder Rebmann zu adäquaten Formen der revo5 1 Vgl. Hannelore Schlaffer: Dramenform und Klassenstruktur — Eine Analyse der dramatis persona ,Volk', Stuttgart 1972. Dort auch über Die natürliche Tochter. 5 2 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit — Unters, zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 5 1971. s 3 „Insofern aus dem staatspolitisdien Ereignis zu Goethe nur das Grauen eines periodisch nach Art von Naturgewalten sich regenden Zerstörungswillens sprach, stand er dem Stoff wie ein Poet des siebzehnten Jahrhunderts gegenüber. Der antikisdie Ton drängt das Ereignis in eine gewissermaßen naturhistorisch verfaßte Vorgeschichte; um dessentwillen übertrieb der Dichter ihn, bis er in einem lyrisch ebenso unvergleichlichen wie dramatisch hemmenden Spannungsverhältnis zur Aktion stand. Das Ethos des historischen Dramas ist diesem Goetheschen Werk genau so fremd, wie nur einer barocken Staatsaktion": Benjamin: Ursprung des dt. Trauerspiels (Anm. 27) 85 f.

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lutionären Thematik wurden. Hölderlins Hyperion liefert den Beweis, daß eine traditionelle Form — hier der Briefroman — und eine lyrische Höhenlage, die hinter der Goetheschen nicht zurücksteht, durchaus als Medien aktueller Problematik zu gebrauchen waren. Diese Möglichkeit anerkennen, heißt allerdings nicht, auf die vermittelnde Reflexion von Gattung und Gesdiichte verzichten. Zum vierten Punkt der oben vorgeschlagenen Faktorenanalyse: Die wirkungsästhetische Komponente als treibendes Moment der literarischen Formenentwidklung dominiert bei vielen bewußt engagierten Kulturschaffenden — der Terminus ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig. Sowohl technisch-stilistische Mittel als auch spezifische Inhalte werden im Hinblick auf bestimmte Adressatengruppen gewählt, deren Bewußtsein und gesellschaftliches Handeln beeinflußt werden sollen. Piscator wäre hier zu nennen, dessen Inszenierungen der zwanziger Jahre, in der Form von Filmausschnitten, Projektionsbildern und Plakaten etwa, dokumentarisches Material einbezogen, dem die antiillusionistisdie Funktion zufiel, ein fiktives Vordergrundgeschehen transparent zu machen auf seine sozioökonomischen Bedingungen. Mit Hilfe des Hintergrundmaterials sollte das Publikum die Bedingungen, denen es selbst unterlag, erkennen. „Das Überraschungsmoment", berichtet Piscator über die Aufführung der Revue Trotz alledem./M, „das sich aus dem Wechsel von Film und Spielszene ergab, war sehr wirkungsvoll. Aber noch stärker war die dramatische Spannung, die Film und Spielszene voneinander bezogen. Wechselwirkend steigerten sie sich, und so wurde in gewissen Abständen ein Furioso der Aktion erreicht, wie ich es im Theater nur selten erlebt hatte." Ferner anzuführen wären verschiedene Schriftsteller der Weimarer Zeit, so Ottwalt, der in dem antiillusionistischen Justizroman Denn sie wissen, was sie tun (Berlin 1931) seine Leser aufforderte, die dokumentarische Echtheit des Berichteten durch Rückfragen zu verifizieren. Widitigster Exponent dieser wirkungsästhetisch argumentierenden Gruppe ist Brecht, bekanntestes Zeugnis seiner Überlegungen die 54

Erwin Piscator: Das Politische bek bei Hamburg 1963, 75.

Theater,

neubearbeitet von F. Gasbarra, Rein-

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Gegenüberstellung von dramatischer und epischer Form des Theaters in den Anmerkungen zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Statt der Komponente Erlebnis soll die Komponente Weltbild hervorgehoben werden, statt Gefühle zu ermöglichen, wollte Brecht Entscheidungen erzwingen85. Dies ist die Grundtendenz des erwähnten Schemas, aus der sich bestimmte kompositorische Konsequenzen — Montage und Sprünge statt linearem Geschehen beispielsweise — ebenso ergeben wie Überlegungen zur Bühnenform und zur gesamten Theaterpraxis. Das Prinzip von Piscator, Ottwalt und Brecht ist antiillusionistisch, jenen beiden ist das Dokument wichtigstes Mittel, bei Brecht die episierende Distanzierung von der Illusionsbühne (dies kann, muß aber nicht mit Hilfe von dokumentarischem Material geschehen). Alle diese Bemühungen zielen auf die Ersetzung etablierter Formen durch „offene Formen"", „Formen mit operativem Charakter"". Mit der Wirkungsabsicht verbunden ist die vorgängige Rücksicht auf Publikumserwartungen. Wie diese — in Verbindung mit einer spezifisch nationalen Tradition — den Gattungscharakter eines Dramas gegen anerkannte Normen zu bestimmen vermag, zeigt Lope de Vegas Arte nuevo de hacer comedias (1609). Der ironischspielerische, doch mit Vorsicht ernst zu nehmende Traktat legt Rechenschaft ab über das Werk des produktivsten Dramatikers der Weltliteratur und zeigt, wie im Kontext normativer Poetik und einer relativ stabilen feudalen Ordnung das Theaterpublikum starken Einfluß auf die Entwicklung von Bühnenproduktionen nehmen kann. Lope schreibt58: [...] cuando he de escribir una comedia, encierro los preceptos con seis llaves; Bertolt Brecht: Sehr, zum Theater — Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Berlin/Frankfurt/M. 1957, 19 f. 66 Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 4 1969. 57 Gallas: Marxistische Lit.theorie (Anm. 36) 87. 5 8 Lope Félix de Vega Carpio: Obras escogidas, ed. Sainz de Robles, Madrid 4 1964, II 877. 55

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denn, so lautet die Begründung: [...] quien con arte ahora las escribe muere sin fama y galardón [...]. Immer wieder spricht Lope vom vulgo, dem er Zugeständnisse machen müsse, dodi ist dies nicht viel mehr als eine Captatio benevolentiae. Die Auflösung des Dramas dürfe nicht zu früh gegeben werden, sonst verließen die Leute mitten in der Aufführung das Theater; der Stückeschreiber dürfe die dramatis personae auf der Bühne nicht zu lange schweigen lassen, das Publikum werde sonst unruhig; Ehrenhändel erregten noch das meiste Interesse. Derartige Ratschläge, die zu Lopes Zeit in verschiedene Poetiken Eingang fanden, bewegen sich im Rahmen normaler Theaterpraxis, oder sie betreifen, wie im letzten Fall, Eigentümlichkeiten einer feudalen, speziell der spanischen Gesellschaft. Doch die Rücksicht auf das Publikum der Corrales tangiert mit dem Sujet die Substanz des Humanistendramas und dessen Regelkanon59. Als Pointe vermerkt Lope, daß er gerade, indem er hochgestellte Personen auch in der Komödie auftreten läßt (was der aristotelisierenden Poetik zufolge der Tragödie vorbehalten war), antiken Vorbildern folgt. Freilich macht die Zitierung der Autorität (ohnehin ist fraglich, wie ernst sie gemeint ist) den Regelverstoß nicht weniger gravierend®0: Elíjase el sujeto, y no se mire (perdonen los preceptos) si es de reyes, aunque por esto entiendo que el prudente Felipe, rey de España y señor nuestro, 59

„Das spanische Drama madite weder die humanistische Trennung der Stilgattungen in erhabene und niedrige bzw. tragische und komische mit noch auch die rationalistisdie Verpönung des Wunderwesens": Karl Vossler: Lope de Vega und sein Zeitalter, München 2 1947, 211. Entsprechend haben .tragedia' und .tragicomedia' „im spanischen Sprachgebrauch nur den Wert von gelegentlidien Spezialbenennungen innerhalb des Gattungsnamens .Comedia', der alles Dramatische umfaßt": ebd. 356, Anm. 14. 80 Obras escogidas (Anm. 58) II 878.

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en viendo un rey en ellas se enfadaba, o fuese el ver que el arte contradice, o que la autoridad real no debe andar fingida entre la humilde plebe. Esto es volver a la comedia antigua, donde vemos que Plauto puso dioses como en su Anfitrión lo muestra Júpiter. Ich komme zu einem weiteren Punkt, zu einer Forderung. Der produktive Widerspruch zwischen historisch vermitteltem Stoff und gesellschaftlich tradierter Form als treibendes Moment der Gattungsentwicklung sollte zwar als immanenter des einzelnen Werkes aufgewiesen, zugleich jedoch müssen die transliterarischen Entsprechungen des betreffenden Stoffes in Kooperation mit Geschichtsund Sozialwissenschaften präzise gefaßt werden. Neben die Phänomenologie der Formen und Inhalte tritt deren Dialektik; darüber hinaus ist die immanente Dialektik des Kunstwerks auf die manifeste Dialektik gesellschaftlichen Wandels zu beziehen. Diese Forderung entspricht jener Erkenntnis der Referenzsemantik, wonach sich die Struktur sprachlicher Zeichen nicht im Verhältnis von ,signifiant' und ,signifié' erschöpft, wonach das Bedeutete keineswegs naiv mit dem ,objet référentiel' identifiziert werden darf. Die Sprache selbst sdion vermittelt die Welt' 1 , und die Erkenntnis dieses Sachverhalts muß integrierender Bestandteil auch einer Theorie der

M

Für Kunstwerke gilt dies in besonderem Maße. Vgl. Mukarovsky (Anm. 6) 96 f.: „Eine tatsächliche Mitteilung weist auf eine konkrete Wirklichkeit hin, die nur dem bekannt ist, der das Zeichen gibt, und von der derjenige informiert werden soll, der das Zeichen aufnimmt. In der Kunst ist jedodi die Wirklichkeit, von der das Werk unmittelbar Nachridit gibt (sofern es sich um eine thematisdie Kunst handelt), nicht die eigentliche Trägerin der sachlichen Bezogenheit, sondern nur deren Mittlerin. Die sachliche Bezogenheit ist hier vielfältiger Art und weist auf Wirklichkeiten hin, die dem Betrachter bekannt sind, die jedoch keinesfalls im Werk selbst ausgedrückt und angedeutet sind und sein können, denn sie bilden einen Bestandteil der Erfahrung des Betrachters."

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literarischen Gattungen werden, die deren spezifische Sprachgebung einbezieht'2. Ein Beispiel, wie Gattungen — hinsichtlich des in ihnen sedimentierten Gehalts und hinsichtlich ihrer Funktion — auf den sozioökonomischen Kontext zu beziehen sind, möchte ich aus einem Werk referieren, dem die Literaturwissenschaft noch nicht genügend Beachtung geschenkt hat. Habermas behandelt in § 6 von Strukturwandel der Öffentlichkeit die Genesis der bürgerlichen Familie und die Institutionalisierung einer publikumsbezogenen Privatheit. „Die Erfahrungen", heißt es dort' 3 , „über die ein sich leidenschaftlich selbst thematisierendes Publikum im öffentlichen Räsonnement der Privatleute miteinander Verständigung und Aufklärung sucht, fließen [ . . . ] aus Quellen einer spezifischen Subjektivität: deren Heimstätte, im buchstäblichen Sinne, ist die Sphäre der patriarchalischen Kleinfamilie. Bekanntlich konsolidiert diese sidi, hervorgehend aus Wandlungen der Familienstruktur, die sicii mit der kapitalistischen Umwälzung seit Jahrhunderten anbahnen, als der in bürgerlichen Schichten dominante Typus." Die „Innerlichkeit bürgerlichen Familienlebens" 64 wird als „Ort einer psychologischen Emanzipation" verstanden, der auf der Ebene des Wettbewerbs die politisch-ökonomisdie Emanzipation der Warenbesitzer entspricht'5. In der bürDiese Forderung könnte sich konkret bewähren in der Betrachtung der spezifischen Sprache von Werken der deutschen Literatur, in denen sich die Erfahrung der Französischen Revolution niedergeschlagen hat: von Klopstocks appellierendem, von Hölderlins verschlüsseltem Sprechen, von Forsters aufklärerischem, argumentierendem Duktus oder Goethes schon erwähnter organologischer Metaphorik — all dies im Zusammenhang mit den verschiedenen Formen, Gattungen, in die diese Autoren ihre Auseinandersetzung mit den Vorgängen im Nachbarland gekleidet haben: Ode, Hymne, Briefroman, Reisebericht, Essay, klassizistisches Drama. ,s Strukturwandel der Öffentlichkeit (Anm. 52) 60 f. M Ebd. 61. ®B Ebd. 63. Wolf Lepenies stellte kürzlich für das deutsche Bürgertum des X V I I I . Jahrhunderts im Anschluß an N . Elias und K . Mannheim „die Frage nach der Verbindung von erzwungener politischer Abstinenz und der Umgestaltung des .Affekthaushaltes' in eben diesen gehemmten Schichten: eine Beziehung, die in der Literatur der Zeit am deutlichsten zur Geltung kommt" (Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 2 1972, 78). 62

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gerlichen Familiensphäre glauben die Privatleute sich unabhängig und treten, ihrem Selbstverständnis zufolge, in rein menschliche Beziehungen zueinander. Der Brief wird Ausdruck der sich kommunizierenden Subjektivität — Geliert nannte ihn einen Abdruck der Seele, einen Seelenbesuch. „So erklärt sich", führt Habermas weiter aus", „der Ursprung der typischen Gattung und eigentlichen literarischen Leistung jenes Jahrhunderts aus der direkt oder indirekt publizitätsbezogenen Subjektivität der Briefwechsel und der Tagebücher: der bürgerliche Roman, die psychologische Schilderung in autobiographischer Form." Mögen Biographie und Autobiographie wie der Brief antike Vorläufer haben — die sich nahezu hemmungslos aussprechende Subjektivität, die sidi in den Briefromanen eines Richardson, Rousseau oder Goethe manifestiert, gründet wesentlich in jenem Strukturwandel zum Kapitalismus, in dessen Verlauf sich die Großfamilie feudaler bzw. frühbürgerlidier Prägung in der bürgerlichen Kleinfamilie auflöst. Nur angedeutet sei hier, daß durch eine derartige Rückbeziehung literarischer Gattungen des XVIII. Jahrhunderts auf das ihnen zugrundeliegende Substrat die rationale und die sensibilistische Komponente des Zeitraums in der Emanzipation des Bürgertums zwanglos ihren gemeinsamen Nenner fänden. Einige abschließende Bemerkungen: Das hier skizzierte Konzept einer synthetischen Interpretation von Gattungen mußte auf die Analyse der vielfältigen Interdependenzen weitgehend verzichten. Es betont nicht eine kausale, wohl aber eine vermittelte gesellschaftliche Genesis der Gattungen, vor allem aber insistiert es auf ihrer sozialen Funktion. Gattungen sind Kommunikationssysteme, Strukturen, die den Austausch spezifischer Informationen regeln. Als Kommunikationssysteme sind sie wie die Gesellschaft insgesamt einer bestimmten Dynamik unterworfen. Sie überleben freilich häufiger als andere Institutionen die Umstände und Bedingungen ihrer Genesis — der Verlust an funktionalem Gewicht, gelegentlich auch die Übernahme neuer Funktionen sind Indizien dieses Sach»• Ebd. 67.

Zur Dynamik

literarischer

Gattungen

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Verhaltes. Homer und Racine werden noch gelesen bzw. aufgeführt, aber man schreibt keine Epen und keine klassischen Tragödien mehr; andererseits bediente sich die französische Aufklärung nicht nur der Sprache, sondern auch einiger Formen der Klassik, um mit ihnen ganz andere Ziele als die Apologeten Ludwigs XIV. zu verfolgen". Bislang war immer nur von isolierten Gattungen die Rede. Tatsächlich aber haben wir es stets mit einer Mehrzahl derartiger Systeme zu tun. Teilweise liegt hier Funktionsdifferenzierung vor (Kinder-, Jugendlichen-, Erwachsenenliteratur), teilweise Konkurrenz, Dynamik (Volksdichtung und -theater, Gelehrtendiditung, Literatur der Bildungsschicht). Auf die sozialen Implikate bestimmter Gattungshierarchien ist hinzuweisen: Die Frage, wie weit die Struktur des literarischen Kommunikationssystems in bestimmten Zeitpunkten mit der gesellschaftlichen Schichtung korrespondiert68, ist noch weitgehend unbeantwortet. Schon Mme de Staël hat im Zeitalter der bürgerlichen Revolution bei ihren Reflexionen über den Geschmack die gesellschaftsdifferenzierende Funktion literarischer Gattungen erahnt"9. Mit der Aufgabe, diese Funktion „Es schien [. . . ] geraten, um den umstürzenden Gedanken ein Hödistmaß v o n gesellschaftlicher W i r k u n g zu sichern, das schon vorhandene G e f ä l l e der gegebenen Formen und Traditionen zu nutzen. D e r Klassizismus erscheint im Jahrhundert der A u f k l ä r u n g nicht im Zeichen der Reaktion, sondern umgekehrt im engen Bündnis mit den die Umwälzung vorbereitenden Bestrebungen": W e r ner Krauss: St. zur dt. und französ. Aufklärung, Berlin 1963, 6 f. — Die Möglichkeit, daß literarische Formen umfunktioniert werden, scheint der These einer dialektischen Beziehung zwischen Inhalt und Form zu widersprechen, doch ist zu dieser These selbstverständlich die komplementäre v o n der Beharrungskraft etablierter Formen hinzuzudenken. 6 8 „Man könne die Teilung [von Gattungen] auch nach der A r t der Gegenstände vornehmen, dann entsprächen den Göttern — die Oper, den Königen — die Tragödie, den gewöhnlichen Bürgern — die Komödie, den Schäfern — die Eklogen und den Tieren — die Fabel" : Irene Behrens über Batteux' Les Beaux Arts réduits à un même principe (im I. der V Bände v o n Principes de la litt., Paris 1 7 6 4 ) : Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom Halle/Saale 1 9 4 0 , 16. bis 19. Jh. — St. zur Gesch. der poetischen Gattungen, 1 6 7 f. •• Dans tout pays où il y aura de la vanité le goût sera mis au premier rang, parce qu'il sépare les classes, et qu'il est un signe de ralliement entre tous les

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zu analysieren, ist die verbunden, Bedingungen ihrer Uberwindung zu formulieren — auch dafür gibt es Ansätze bei jener frühen Komparatistin. Wenn die vielbesprochenen emanzipatorischen Fermente der Literatur fruchtbar gemacht werden sollen, darf Literatur im Zuge fortschreitender Spezialisierung nicht immer ausschließlicher zur Sache von Fachleuten werden. Hans Robert Jauß behauptet70, „die Erfahrung der Lektüre" könne den Leser „aus Adaptationen, Vorurteilen und Zwangslagen seiner Lebenspraxis freisetzen, indem sie ihn zu neuer Wahrnehmung der Dinge nötigt". Das ist zum Großteil Wunschtraum und nur teilweise Realität. Jauß analysiert zutreffend die Aporien materialistischer Ästhetik, doch gelangt er, indem er den mechanistischen Determinismus widerlegt und in überzeugender Weise die Wirkungsgeschichte propagiert, zu einem unrealistischen Begriff vom Eigengewicht der Literatur, gegen den jene Ästhetik zu Recht ankämpfte. Solange Literatur eine schichtendifferenzierende Funktion ausübt (wobei die Gattungen eine weiter zu erforschende Rolle spielen), so lange werden die emanzipatorischen Fermente der Literatur zumindest neutralisiert. Dies ist nidit eine Erfindung linker Polemik, sondern ein Sachverhalt — freilich ein unbequemer. Die These von der emanzipatorischen Funktion der Literatur möchte ich also überprüft wissen: erstens durch die Erforschung ihrer schichtendifferenzierenden Funktion, zweitens durch konkrete Analysen ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Die schichtendifferenzierende Funktion kann nicht von wohlwollenden Wissenschaftlern außer Kraft gesetzt werden, wohl aber kann die Einsicht in diesen Zusammenhang zu politischen, speziell zu bildungspolitischen Konsequenzen führen. Ich meine, nicht zuletzt in wohlverstandenem Eigeninteresse sollten wir Literaturwissenschaftler diesen Zusammenhängen nachgehen.

individus de la première: De l'Allemagne, ed. de Pange/Balayé, Paris 1958. II 217. 70 Lit.gesch. als Provokation (Anm. 11) 202.

W I L L Y R. B E R G E R

Probleme und Möglichkeiten vergleichender Gattungsforschung Die literarischen Gattungen sind in Verruf geraten. Spätestens seit Benedetto Croces Anathema, das die Gattungslehre als „Triumph des intellektualistisdien Irrtums" verdammte 1 , sind die Genera, die von der Renaissance bis zur Romantik die poetologische Diskussion beherrsditen, an den Rand der dichtungstheoretischen Szenerie gerückt. Gegenstand eines internationalen literaturwissenschaftlichen Kongresses ist die Gattungstheorie zum letzten Mal 1939 in Lyon gewesen; seither haben Stilfragen, Fragen der Struktur des literarischen Werks, literatursoziologische Probleme, ja selbst, wie der Belgrader Komparatisten-Kongreß des Jahres 1967 gezeigt hat, Fragen der literarhistorischen Periodisierung der Gattungspoetik offensichtlich den Rang abgelaufen. Das ist nicht weiter verwunderlich in einer Zeit, in deren literarischer Produktion das Prinzip der Gattungsmischung dominiert und in der selbst die Grenzen zwischen den einzelnen Künsten fließend geworden sind, als gelte es ein Exempel auf Croces These von der Einheit und Unteilbarkeit aller ästhetischen Expression. Daß die normative Gattungspoetik jeglichen Kredit verloren hat, seit Irrationalismus und Vor-Romantik die Lehre vom Originalgenie und von der Spontaneität des dichterischen Schaffens verkündeten, versteht sich inzwischen von selbst; man ist bescheiden geworden und begnügt sich mit einer deskriptiv-pragmatischen Gattungsauffassung; man 1 Benedetto Croce: Ästhetik als Wiss. vom Ausdruck und allgemeine Sprachwiss. — Theorie und Gesch., übers, v. Hans Feist und Richard Peters, Tübingen 1930, 38.

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weiß, daß nicht nur die Genies, sondern auch die Lahmen die Krücken der Regeln längst weggeworfen haben. Angesichts dieser Tatsache ist es erstaunlich, daß Croces rigoroser Nominalismus, der allein dem Einzelkunstwerk und seiner unverwechselbaren Individualität das Wort redete, sich außer in Italien, wo er lange Zeit uneingeschränkte Geltung genoß, nicht recht hat durchsetzen können. So erfrischend Croces unbefangene und philosophisch fundierte Polemik gegen die mit der Autorität ganzer Jahrhunderte gewappnete Gattungslehre auch war, ja so notwendig sie war gegenüber gewissen waghalsigen klassizistischen und romantischen Konstruktionen, die sich gerade hier breit gemacht hatten, so sehr verfestigte sich diese Polemik selber zu einer Doktrin, die im Grunde nicht weniger einseitig war als die so vehement bekämpften Theorien. So sind wir heute, bei aller Skepsis, die wir von Croce lernen konnten, kaum noch bereit, die Gattungen einfach als die Ausgeburten dogmatischer Traktate, als akademische Pedanterien oder als „philosophische Trivialitäten"2 abzutun, die mit dem wahren Leben der Dichtung nichts gemein hätten. Selbst wenn wir einräumen, daß kaum jemals ein dichterisches Werk — es sei denn ein völlig epigonales — den Idealtyp einer Gattung voll erfüllt hat; selbst wenn wir zugeben müssen, daß Werke wie die Divina Commedia, wie Faust oder Finnegans Wake vom gattungspoetischen Standpunkt aus inkommensurabel sind, so gibt es doch ohne Zweifel gewisse Gattungskonventionen, die — vom Autor bewußt oder unbewußt übernommen — ein literarisches Werk formen helfen; gewisse charakteristische Gemeinsamkeiten, die wir an einer Gruppe von literarischen Werken feststellen können und die uns — ähnlich wie die rhetorischen Kategorien — eine Verständigung über eben diese Phänomene sehr wohl ermöglichen. Es gibt also eigentlich keinen Grund, warum wir nicht zu bestimmten Zwecken die Literatur nach Gattungen zusammenstellen und behandeln sollten, so wie wir sie sonst nach nationalsprachlichen Kriterien, nach Autoren oder Epochen getrennt behandeln. !

Ebd. 468.

Probleme

und Möglichkeiten

vergleichender Gattungsforschung

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Zu dieser rein praktischen Erwägung kommt ein anderer Gesichtspunkt hinzu. Eine vorwiegend historisch orientierte Wissenschaft, wie es die unsere ist, kann es sich auch in ihren theoretischen Überlegungen nicht leisten, auf Begriffe zu verzichten, mit denen vergangene Jahrhunderte ihre poetische Praxis reflektiert haben, mögen wir ihnen heute auch nicht mehr denselben Stellenwert zumessen oder mag die Terminologie selbst im einzelnen unbrauchbar geworden sein. Es wäre unsere Aufgabe, die historische Bedingtheit dieser Gattungsauffassungen und Gattungsbezeichnungen jeweils aufzudecken und ihre wechselseitige Verzahnung etwa in einer literarischen Epoche transparent zu machen. In der Praxis des literaturwissenschaftlichen Betriebs sind denn auch die Gattungen trotz ihres schlechten Leumunds im Grunde unerschüttert geblieben. Davon kann man sich bei einem Blick auf den Büchermarkt leicht überzeugen. Unverdrossen werden neue Monographien über einzelne Gattungen publiziert; in den einzelnen Nationalphilologien hat es mehrfach Ansätze zu einer Literaturgeschichtssdireibung nach Gattungen gegeben', ja in jüngster Zeit wurden gar zwei Zeitschriften ins Leben gerufen, die sich ganz der Genre-Forschung verschrieben haben4. Vor allem aber hat es, seitdem die klassizistische und neuaristotelische Poetik mit ihren unerbittlichen Regelvorschriften hat abdanken müssen, nicht an Versuchen gefehlt, der Gattungsforschung durch neue Fragestellungen neue Impulse zu verleihen. Erinnert sei nur an die Bemühungen der morphologisch oder typologisch orientierten Literaturwissenschaft, wie sie etwa in André Jolles' Buch über Einfache Formen6 und in verschiedenen — vor allem germanistischen und anglistis Als Beispiele seien genannt die auf viele Bände angelegte, aber bald ins Stocken geratene Storia dei generei letterari; der ebenfalls nur in zwei Bänden, in Günther Müllers Gesch. des dt. Liedes und in Karl Vietors Gesch. der dt. Ode, realisierte Ansatz zu einer deutsdien Literaturgeschichte nach Gattungen oder der nodi aus dem X I X . Jahrhundert stammende Versuch des russisdien Literarhistorikers Aleksandr Veselovskij, eine von den poetischen Gattungen ausgehende Geschichte der Weltliteratur zu schreiben. 4 Zagadnienia rodzajów literackich, Lódz 1958 ff.; Genre, Long Beadi 1968 ff. 5 Halle 1930.

3 Kowparatistische Studien 4

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sehen — Veröffentlichungen zur Erzählkunst ihren Ausdruck gefunden haben 6 ; an die Genre-Forschung der russischen Formalisten, etwa Jurij Tynjanovs und Boris Tomasevkijs 7 ; an die marxistische Gattungsforschung, wie sie vor allem Viktor Zirmunskij auf dem Feld des heroischen Epos exerziert hat 8 ; an die von den französischen Strukturalisten in Angriff genommene semiotische Gattungsforschung9 oder neuerdings an die von Hans Robert Jauß am Beispiel der mittelalterlichen Dichtungsgattungen erprobte Rezeptionsanalyse10. Es kann nun nicht Aufgabe eines knapp bemessenen Referats sein, die Grundlagen der Gattungspoetik", die nur ein unerlaubt naiver Empirismus allein im Bereich der Literaturwissenschaft wird suchen wollen, auszudiskutieren. Als Teil der Allgemeinen Literaturwissenschaft gehört die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst der Poetik an, die ihrerseits wieder — und selbst dort, wo sie sich nur als beschreibende versteht — von erkenntnistheoretischen Implikationen aller Art abhängig ist und daher nicht selten der Kunstphilosophie zugeschlagen wurde. Insbesondere die deutsche Philosophie hat sich hierin hervorgetan; so sind in Sdiellings Philosophie der Kunst, in Solgers Vorlesungen über Ästhetik oder in Eduard von Hartmanns Philosophie des Schönen ganze Kapitel philosophi6 Vgl. u. a.: Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 2 1968; Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 2 1967; Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 4 1969. 7 Vgl. Jurij Tynjanov: Das lit. Faktum, in: Texte der russ. Formalisten I, hg. und eingel. v. J. Striedter, München 1969, 392—431; ders.: Über die lit. Evolution, ebd. 432—461; ders.: Die Ode als oratorisches Genre, ebd. II (1972), 272—337; Boris TomaSevskij : Teorija literatury, Leningrad 1925; französ. Teilübers. in: Théorie de la litt. — Textes des formalistes russes réunis, présentés et traduits par T. Todorov, Paris 1965, 263—307. 8 Vgl. Epenforschung I, Berlin 1961. 8 Vgl. Roland Barthes: Introd.à l'analyse structurale des récits, in: Communications 8 (1966), 1—27; Tzvetan Todorov: Introd.à la litt, fantastique, Paris 1970; dt.: Einführung in die fantastische Lit., München 1972. 10 Litt. méd. et théories des genres, in: Poétique 1 (1970), 79—101. 11 Einen bibliographischen Überblick über die allgemeine Gattungstheorie gibt jetzt Klaus W. Hempfer: Bibliogr. zur Gattungspoetik (1), in: Zs. für französ. Sprache und Lit. 82 (1972), 53—66.

Probleme und Möglichkeiten

vergleichender

Gattungsforschung

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sehen Erörterungen über die literarischen Gattungen gewidmet; so ist Hegels Ästhetik — um das bedeutendste Beispiel zu nennen — in ihren auf die Dichtung sich beziehenden Abschnitten ganz auf gattungsphilosophischen Überlegungen aufgebaut. Es ist keine Frage, daß die Uberfrachtung durch allzuviel philosophische Spekulation, welche die Gattungspoetik immer wieder erdulden mußte, zu dem allgemeinen Unbehagen beigetragen hat, mit dem man ihr heute begegnet; Croces nominalistisches Verdikt richtete sich ja vor allem dagegen, daß man den literarischen Gattungen irgendeine logische und systematische Stringenz, irgendeine etwa philosophisch zu erhärtende apriorische Begrifflichkeit zusprach; als empirisch-didaktische Ordnungsschemata wollte er sie allenfalls gelten lassen. Sicherlich sind es philosophische Probleme, welche die Gattungstheorie aufwirft. Wie ist die Spannung beschaffen zwischen dem individuellen Kunstwerk als einer einmaligen und unwiederholbaren ästhetischen Manifestation und dem allgemeinen Begriff der Gattung, der im Grunde gerade diese Einmaligkeit in Frage stellt? Gibt es so etwas wie ein ,Ethos' der Gattung, von dem dann auch das einzelne Kunstwerk geprägt sein müßte, oder sind die Gattungen nur Etikette, die dem dichterischen Werk willkürlich aufgeklebt werden"? Wie dem hermeneutischen Zirkel entrinnen, der jede gattungstheoretische Überlegung unweigerlich einschließt und eine Bestimmung der Gattung auf dem Weg der vom einzelnen Text ausgehenden Induktion so wenig ermöglicht wie die dogmatisdie Deduktion, die von einem allgemeinen Gattungsbegriff aufs einzelne Werk schließen möchte? Von all diesen Problemen soll und kann hier nicht die Rede sein. Außer acht bleiben sollen auch alle Fragen, die seit je in der Gattungsdiskussion virulent waren: die nadi der Hierarchie und der Reinheit der Gattungen; die nach der Reihenfolge ihrer Entstehung; die nach dem allmählichen Wachstum, Wandel und Verfall des einzelnen Genres oder die so oft mit ebensoviel scharfsinniger Gelehr12

Vgl. die Diskussion dieser Frage bei Karl Vossler: Die Dichtungsformen Romanen, Stuttgart 1951, 199 ff.

5*

der

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samkeit wie hodifliegendem kunstphilosophischen Ehrgeiz unternommenen Versuche, die drei Grundformen Lyrik, Epik und Dramatik anderen, außerliteraturwissenschaftlichen Begriffen zuzuordnen, sei es nun, daß man die Dimensionen der Zeit, daß man Kategorien der sprachlichen Morphologie, historische Perioden oder was immer man dafür hielt, verschiedene Weltanschauungen, ein dialektisches Schema oder gar verschiedene Konstitutionstypen dafür in Anspruch nahm. Das sind philosophisch eindrucksvolle, aber literaturwissenschaftlich unergiebige Spekulationen. Im Gegensatz dazu wollen wir uns mit der bescheidenen Frage begnügen, ob die Vergleichende Literaturwissenschaft möglicherweise der Gattungspoetik neue Akzente verleihen könnte, und wenn ja, welche Konsequenzen aus einer vergleichend akzentuierten Gattungspoetik für die Vergleichende Literaturwissenschaft zu ziehen wären. Die Fragestellung mag jedoch bereits den Einwand hervorrufen, ob sie überhaupt vernünftig sei. Gehört denn eine Poetik, die sich ja per definitionem mit den Generalia der Literatur befaßt, noch zum Forschungsbereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft? Muß sie nicht vielmehr der Allgemeinen Literaturwissenschaft zugerechnet werden, und ist es mithin nicht ein Widerspruch in sich selbst, wenn man von einer vergleichenden Gattungspoetik redet? Das ist bekanntlich die Auffassung der französischen Komparatistenschule im Gefolge Baldenspergers und Van Tieghems, die denn auch konsequent, wie noch die jüngste Einführung von Pichois und Rousseau zeigt", das Studium der Gattungen der allgemeinen Literaturbetrachtung, der l i t t é r a ture générale', zuschlägt; die andererseits aber im Zusammenhang mit den Gattungen auch Fragen des literarischen Einflusses und der Thematologie, d. h. aber das ausgesprochene Standardrepertoire der .Littérature comparée', behandelt14. 13

Claude Pichois und André M.Rousseau: Vgl. Lit.wiss. — Eine Einführung in die Gesch., die Methoden und Probleme der Komparatistik, übers, v. Peter André Bloch, Düsseldorf 1971. 14 So neben Pidiois/Rousseau (ebd. 101 ff.) auch Marius-François Guyard: La litt, comp., Paris 6 1969.

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Doch möchten wir den Begriff der Vergleichenden Literaturwissenschaft weiter fassen als der vorrangig auf zwischennationale literarische Wechselbeziehungen, auf die ,rapports binaires', beschränkte Begriff der Littérature comparée es erlaubt. Wir möchten die Grenze zwischen Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft zudem nicht so scharf und vor allem nicht in der Weise ziehen wie die französische Komparatistik, sondern uns vielmehr der Auffassung Welleks anschließen, daß vergleichende Literaturforschung immer auch zur Literaturwissenschaft schlechthin oder zur ,Generalistik' tendiert oder tendieren sollte und daß sie gut daran täte, nicht so sehr auf zwischennationale Kontakte als vielmehr auf übernationale Phänomene ihren Blick zu richten. Die Gattungen aber sind solche übernationalen Phänomene. Es ließe sich nun aber auch umgekehrt der Einwand denken, daß die nationale Literaturwissenschaft sich zur Gattungspoetik mindestens so unmittelbar verhalte wie die vergleichende; daß vor allem aber jede Gattungspoetik schon vergleichenden Charakter habe, so daß von einer vergleichenden Gattungspoetik zu reden einer Tautologie gleichkomme. Das ist insofern sicher richtig, als frühere Jahrhunderte mit völliger Selbstverständlichkeit die Literatur als Ganzes und nicht nur einen nationalliterarischen Sektor behandelt haben. Schon Horazens Ars poetica ist in diesem Sinne komparatistisch zu nennen, da sie die griechische und die lateinische Literatur, d. h. die zeitgenössische Weltliteratur, nebeneinander stellte, und noch ein Werk mit so beschränkter ästhetischer Perspektive wie Gottscheds Critiscbe Dichtkunst ist doch zumindest wegen einer gewissen literarischen Weitläufigkeit mehr als nur eine poetologische Bagatelle der sächsischen Literaturprovinz. Man sollte jedoch nicht übersehen, daß beinah alle Poetiken der Renaissance, des Barock, des Klassizismus und der Aufklärung den Bezugspunkt ihres Vergleichs immer in der Antike hatten, deren vorbildliche Muster sie zur Nachahmung empfahlen; man denke nur an den ganzen A u f w a n d gattungstheoretischer Überlegungen, den es die Traktatschreiber der Renaissance gekostet hat, das italienische Ritter-Epos mit den kanonischen Vorbildern Homers und Vergils in

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Übereinstimmung zu bringen, oder an die Anstrengungen der französischen Klassik, ja selbst noch Lessings, dem Aristoteles und seinen vermeintlichen ,Regeln' die Treue zu halten. Mit der Entstehung der Nationalphilologien im XIX. Jahrhundert und der romantischen Uberschätzung der ,Muttersprache' als des angeblich eigentlichen und wesentlichen Mediums der Literatur begann auch die Poetik und mit ihr die Gattungsforschung sich mehr und mehr auf ein Terrain zurückzuziehen, das durch Schlagbäume und Sprachgrenzen eingeengt war; man hielt die nationalsprachliche Gemeinsamkeit für ein stärkeres Band als das übernationale des Genres. Das führte in der literaturwissenschaftlichen Praxis zu einer oft völlig medianisch gehandhabten Technik von nationalphilologisch begrenzten Längsschnitten: eher konnte es geschehen, daß Gryphius und Geibel oder Bürger und Bredit, nur weil sie beide deutsche Oden oder deutsche Balladen geschrieben hatten, sich zwischen zwei Buchdeckeln zusammenfanden als de la Chaussee und Geliert, die zum einen durch das gemeinsam bevorzugte Genre der Comedie larmoyante und zum andern durch ihre Zeitgenossenschaft miteinander verbunden sind. Wie wenig sich vor allem die Germanistik bisher außerhalb der nationalphilologischen Grenzen mit den literarisdien Gattungen auseinandergesetzt hat, kann ein Blick auf eine der einflußreichsten Poetiken unserer Tage, auf Staigers Grundbegriffe15, zeigen, deren Thesen in fast sämtliche Lehrbücher und Nachschlagwerke des Faches eingedrungen sind. Staigers Buch gibt sich als „Fundamentalpoetik"; es möchte nicht nur dem „Wesen der Gattungsbegriffe", sondern auch dem „Wesen des Menschen" auf die Spur kommen und damit zugleich einen „Beitrag der Literaturwissenschaft an die philosophische Anthropologie" leisten18. Durchmustert man aber die Texte, die Staiger als Basis für ein derart ambitioniertes Unterfangen dienen, so sind es etwa im Bereich der Lyrik fast ausnahmslos Gedichte der deutschen Klassik und Romantik, die er zitiert; von außerdeutschen Lyrikern sind nur Verlaine mit einer Strophe 15 16

Grundbegriffe Ebd. 12.

der Poetik, Zürich 7 1966.

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und Sappho mit einigen Versen vertreten. Der Befund mutet befremdlich an, mißt man ihn an Staigers erklärter Absicht, die „Idee" und das „Wesen" des Lyrisdien herauszuarbeiten". Nicht nur, daß der historische Spielraum, aus dem er diese Idee gewinnt, viel zu eng ist und sich eingeschränkt zeigt auf jene durch Gefühl und Erlebnis inspirierte Lyrik, die etwa seit Klopstock bis zum Expressionismus die deutsche Literatur beherrscht hat; diese Idee vom Lyrischen ist zudem fast völlig von einem einzigen lyrisdien Genre, dem Lied oder doch von liedhaften Gedichten, abgezogen, und sie ist drittens, was mir der schwerwiegendste Mangel zu sein scheint, zustandegekommen durch eine völlige Ausklammerung der weltliterarischen Tradition: Lyriker wie Pindar oder Kallimachos, Góngora oder John Donne, Mallarmé oder Valéry können vor dieser Poetik keine Gnade finden — nicht, weil sie schlechte Gedichte geschrieben hätten, was Staiger ja keineswegs behauptet —, sondern weil sie keine .lyrischen' Gedichte im Sinne des Eichendorffschen Idealtypus geschrieben haben. Staiger ist nun freilich solchen Einwänden selbst begegnet in dem später den Grundbegriffen beigegebenen Nachwort; er räumt ein, daß er „kaum je die französische Lyrik, gar nidit die italienische, englische, spanische, russische Literatur" berücksichtigt habe; daß möglicherweise „alles nur in deutscher Perspektive von Interesse sei" und daß an diesem „Verzicht auf weltliterarische Weite" vielleicht die Grenzen seiner Poetik sichtbar würden 18 . Gleichwohl beharrt er darauf, daß eben im romantischen deutschen Lied „das Lyrische... am besten vernehmlich" sei19. Das ist jedoch eine vom subjektiven Geschmacksempfinden und von den Numinosa der Einfühlung diktierte Argumentation. Ganz abgesehen davon, daß eine literaturwissenschaftliche Begriffsbildung speziell aus „deutscher Perspektive" so unbefriedigend bleiben muß wie eine etwa aus der Musik der deutschen Romantik 17 18 19

Ebd. 9, 237 f. Ebd. 245. Ebd. 241.

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entwickelte Lehre des Kontrapunkts 20 , kann man sich über die Frage, was denn das Lyrische sei, keineswegs so leidit verständigen, wie Staiger stillschweigend voraussetzt. Dieses ,Lyrische' — wenn man sich schon auf die kapriziöse Unterscheidung von ,Lyrik' und ,lyrisch' einlassen will — hat sich eben mit Dolce stil nuovo oder im französischen Symbolismus auf eine völlig andere Weise realisiert als in den Exempla, an die Staiger sich hält. Der Unterschied ist nicht allein durch den historischen Abstand, sondern eben auch durch nationalliterarische Charakteristika bedingt, die man nur schwer mit der Stimmungs- und Gefühlslyrik der deutschen Romantik wird harmonisieren können. So spricht Vossler81 etwa von der „lyrisch-polemischen Doppelnatur der romanischen Dichtungsformen" als einem „wesenhaften Grundzug", durch den sie sich von den germanischen unterschieden. „Daß eine lyrische Dichtung zugleich polemisch sein soll, will uns Germanen nicht recht in den S i n n . . . Bei den Romanen aber gehört es zum Wesen der lyrischen Formen, daß s i e . . . auch dem persönlichen Spott und Hohn und jeder Art belehrender und polemischer Tendenz d i e n e n . . . " Das widerspricht so ziemlich allem, was Staiger über das Lyrische zu sagen hat. Und daß nicht nur die Romanen andere Vorstellungen vom Lyrischen haben, erweist ein Blick auf die russische Literatur, die, wie Tynjanov gezeigt hat 22 , im X V I I I . Jahrhundert etwa mit dem Lyrischen keineswegs das Lied und das Liedhafte identifizierte, sondern vielmehr die Ode mit ihrem rhetorisch-pathetischen Sprachgestus; lyrische Poesie und Ode sind hier geradezu zu Synonymen geworden. Es ist nun freilich das gute Recht, ja eine der vordringlichen Aufgaben der Nationalphilologien, solche nationalliterarischen Eigentümlichkeiten von Dichtung zu erkennen, sie zu beschreiben und zu analysieren. Wo es aber, wie im Falle der dichterischen Gattungen, Bereits Ernst Robert Curtius (Europ. Lit. und lat. MA, Bern 7 1969, 21) hat darauf hingewiesen, daß die deutsche Literatur „von allen sogenannten Nationalliteraturen als Ausgangs- und Beobachtungsfeld für europäische Literatur das ungeeignetste" sei. 2 1 AaO. (Anm. 12), 193 f. 2 2 Tynjanov: Die Ode als oratorisches Genre, aaO. (Anm. 7), bes. 317 ff. 20

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und Möglichkeiten

vergleichender

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um übergreifende Formelemente, um motivische, thematische und inhaltliche Konstanten oder auch um stilistische Traditionen geht, ist ein komparatistisches Verfahren unumgänglich. Hier wie nirgendwo zeigt sich die Verschränkung der Allgemeinen mit der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Souverän geübt hat diese aufs Generelle zielende vergleichende Methode Hugo Friedrich in seinem Buch über die Struktur der modernen Lyrik2S. Ohne nationalphilologische Einengung ist hier der große Komplex der concettistischsymbolistischen europäischen Lyrik festgehalten, zugleich aber — und das ist zweifellos das bemerkenswerteste methodische Verdienst dieses Buches — der geschichtliche Moment, der diese Lyrik prägt und der, bei allen Rückbeziehungen etwa zu G6ngora oder zum Marinismus, der spezifische der Modernität ist. Ähnlich verhält es sich, um beim Beispiel der Lyrik zu bleiben, mit Walther Killys jüngst erschienener Untersuchung über die Elemente der Lyriku. Auch hier wie selbstverständlich ein weltliterarischer Ansatz: Paul Gerhardt steht neben Sappho, Blake neben Brentano, Alkaios neben Hölderlin und Pound; auch hier aber ist bei allem Bestreben, „gemeinsame Redeweisen, verwandte poetische Verfahren" in der europäischen Lyrik erkennbar zu machen, zugleich die „Unterschiedenheit"" eben dieser Elemente gewahrt durdi den geschichtlich jeweils anderen Augenblick ihres Auftretens, ihre Historizität". Man muß sich nun allerdings fragen, ob Kategorien wie das Lyrische oder die Lyrik, wie das Epische oder die Epik, wie das Dramatische oder die Dramatik für sich genommen überhaupt für eine vergleichende Gattungsforschung das ideale Instrumentarium sind. Daß die Dreiteilung selbst keineswegs immer schon in der Gattungspoetik eine Rolle gespielt hat, daß sie vielmehr relativ 23

Hamburg 1956. München 1972. 25 Ebd. 1. 2e Am eindruckvollsten in dem Kapitel „Stimmung", wo Killy jene von Staiger zum Inbegriff des Lyrischen kanonisierte „Stimmungspoesie" in ihrer geschichtlichen Bedingtheit als ein aus dem „Enthusiasmus einer tränenreichen Empfindsamkeit" (118) hervorgegangenes Spezifikum der deutschen Literatur beschreibt.

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später Natur ist, weiß man seit langem. Der Antike war das triadische Schema unbekannt; bei Aristoteles findet sich, nach der Art der Darstellung, der Mimesis, unterschieden, nur eine Distinktion von Drama und Epos; eine ,lyrische' Gattung fehlt bei ihm, bei Piaton ist sie, vertreten durch den älteren Dithyrambos, nur andeutungsweise vorhanden 27 . Ganz allgemein kann man sagen, daß die Lyrik in der Antike überhaupt niemals klar als Begriff gefaßt wurde; man besprach statt dessen einzelne Formen: die Ode, die Elegie, die Satire usw.28 Erst in den italienischen Poetiken des Cinquecento gibt es Ansätze zu einer Dreiteilung der Dichtkunst, „die dadurch zustande kam, daß sich die volkssprachliche lyrische Dichtung mit den überlieferten klassischen Odenformen zu einer dritten Hauptgattung zusammenschloß"29. In England sind die Gattungsbezeichnungen ,lyric', ,epic', ,dramatic' etwa seit dem XVII. Jahrhundert geläufig; in Deutschland und in Frankreich dagegen hat sich die Dreiteilung erst im XVIII. Jahrhundert durchgesetzt, in der deutschen Literatur zuerst in Baumgartens Dissertation30. Die Trias erobert sich dann ihre dominierende Stellung in den gattungstheoretischen Überlegungen der deutschen Klassik und Romantik; das bekannteste Beispiel dürfte die Lehre von den drei Naturformen der Dichtung sein, die Goethe in den Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divan entwickelt hat. Abgesehen von ihrer historischen Bedingtheit, ist die Dreiteilung zudem nidit umfassend genug. Wie unzulänglich das Schema etwa für die früh- und spätmittelalterliche Dichtung ist, die sich durch die Hervorbringung einer Unzahl literarischer Zwitterformen aus27

Vgl. Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jh. — St. zur Gesch. der poetischen Gattungen, Halle/Saale 1940, 3 ff. 28

René Wellek: Gesch. der Lit.kritik 1750—1830, übers, v. Edgar u n d Marlene Lohner, Darmstadt/Berlin-Spandau/Neuwied 1959, 33.

29

Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jh. — Hist. Entwicklung sched bis Herder, Stuttgart 1968, 61. 30

Ebd. 58 ff.

von

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zeichnete, hat Hugo Kuhn überzeugend nachgewiesen31. Ähnliches gilt wohl von der Literatur der Gegenwart. Es hat denn auch immer schon Kritiker gegeben, die wie Batteux32 oder der Italiener Berchet33 eine vierte Hauptgattung, die didaktische, postulierten, und neuerdings hat sich Friedrich Sengle temperamentvoll gegen alle „sublimen Trinitätsspekulationen" gewandt und sich für eine Einbeziehung der literarischen Zweckformen in den Kanon der traditionellen Hauptgattungen eingesetzt34. In der Tat, man frage sich, wie der Bestand unserer Literatur aussehen würde, müßte er sich allein auf die fiktionalen Gattungen beschränken: ganze literarische Traditionen wie die des Tagebuchs, der Autobiographie, des Essays, des Aphorismus, des Lehrgedichts müßten aus dem Reich der Dichtung verbannt werden; Montaigne und die französischen Moralisten, die Fragmente der Frühromantiker, Lichtenberg und Nietzsche fielen ebenso dahin wie Lukrez' De rerum natura, wie Popes Essay on Man oder wie gar das Kamasutra oder die Ars amatoria des Ovid. Wir wollen nun nicht in Abrede stellen, daß eine Poetik, die sidi in erster Linie auf die sogenannten Naturformen konzentriert, zu fruchtbaren Erkenntnissen führen könnte. Der Briefwechsel, der die Entstehung von Hermann und Dorothea und Wallenstein begleitete und der sich hauptsächlich mit der Frage beschäftigte, was denn das Epische und das Dramatische eigentlich sei, liefert das beste Gegenbeispiel. Ein unerläßliches methodisches Erfordernis aber scheint mir zu sein, daß man die Grundbegriffe oder Grundhaltungen n i c h t als gleichsam platonische Ideen vom Wesen des Dichterischen auffasse und sich n i c h t , überzeugt von ihrer perennierenden Uberzeitlichkeit, von der konkreten Geschichtlichkeit und historischen Individuation des einzelnen Kunstwerks und damit auch der einzelnen Gattung distanziere. Mit anderen Worten: auf dem 31

Gattungsprobleme der mhd.Lit., in: Sb. Bayer. Ak. Wiss., Philol.-bist. Klasse 1956; wieder abgedruckt in: Dichtung und Welt imMA, Stuttgart 1959, 41—61. 32 In den umgearbeiteten Neuauflagen des Cours de helles lettres (1753 und 1755); vgl. Scherpe aaO. (Anm. 29), 69 ff. 33 Vgl. Croce aaO. (Anm. 1), 466. 34 Vorschläge zur Reform der lit. Formenlehre, Stuttgart 21969, 7.

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Weg vom Einzelkunstwerk zu den Grundbegriffen und Naturformen dürfte die historisch gewordene Gattung, das Genus im eigentlichen Sinne, nicht überschlagen werden, und gerade für die spezifische Aufgabe der Komparatistik, die Freilegung des Fremden im Vergleichbaren, sollte nicht die Frage nach d e m Lyrischen, d e m Epischen oder d e m Dramatischen im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr das Problem der Mediatisierung des Lyrischen etwa im petrarkistischen Sonett, des Epischen in der Fabeldichtung der europäischen Aufklärung oder des Dramatischen in einem mittelalterlichen Mysterienspiel, in einem Stück der Commedia dell'arte oder in einem des absurden Theaters. In den Noten zum Divan hat denn auch Goethe die historischen Formen neben den Naturformen durchaus gelten lassen wollen; er meint, wenn man die einzelnen Dichtarten, die Allegorie, die Ballade, die Kantate, das Drama, die Elegie, das Epigramm, die Epistel usw. in einer gewissen Ordnung, die zu bestimmen er sich selber nicht zutraut, den ,Naturformen' gegenüberstelle, müsse man zu schönen Ansichten sowohl der Dichtarten als des Charakters der Nationen und ihres Geschmacks in einer Zeitfolge gelangen35. Genau das ist es aber, was jede Poetik, die sich nur den abstrakten Begriff der ,Naturformen' zu eigen macht, notwendigerweise vermissen lassen wird; weder der historische Aspekt — Goethes Zeitfolge — noch der komparatistische, auf den Goethe mit dem Hinweis auf den Charakter der Nationen und ihres Geschmacks aufmerksam macht, können hier zu ihrem vollen Recht kommen. Diese Überlegungen vorangestellt, möchte ich in meinem Plädoyer für eine vergleichende Poetik, die wir nicht haben, aber vielleicht haben sollten, die Bedingungen, die nach meiner Uberzeugung eine solche Poetik zu erfüllen hätte, in vier Punkten zusammenfassen. 1. Diese Poetik müßte selbstverständlich deskriptiv statt normativ vorgehen, d. h. sie dürfte nicht untersuchen, was in einer Gattung möglich sein kann oder möglich sein darf, sondern was in ihr verwirklicht worden ist. 85

Gedenkausg. der Werke, Briefe und Gespräche III, Zürich 2 1959, 480 f.

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und Möglichkeiten

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Gattungsforschung

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2. Diese Poetik sollte die historisch gewordenen Formen, d. h. die Genera oder die Genres, nicht aber die ,Naturformen' und .Grundhaltungen' der Dichtung behandeln. Sie sollte also nicht das Epische, sondern etwa die Novelle; nicht das Lyrische, sondern etwa das Sonett, nicht das Dramatische, sondern etwa die Tragödie behandeln. Die Unterscheidung ist eingehend zum erstenmal von Karl Vietor diskutiert worden88, der sich dafür aussprach, als Gattungen nur die von Goethe sogenannten ,Dichtarten' (Ballade, Epigramm, Ode usw.) zu bezeichnen. Wellek und Warren haben sich in ihrer Theory of Literature entschlossen für diese Gattungsauffassung eingesetzt, die den doppelten Vorzug hat, daß sie einmal historisch fundiert ist und zum andern — bei allen Schwierigkeiten, die einer Koordinierung der literaturwissenschaftlichen Terminologie auch auf dem Felde der Gattungen entgegenstehen — auf einen internationalen Consensus rechnen darP7. 3. Eine solche Poetik müßte einen historisch-konkreten und differenzierten Gattungsbegriff statt eines platonisch-abstrakten anbieten; sie dürfte nicht nach dem Wesen einer Grundhaltung an sich, sondern sollte nach dem Charakteristischen einer Gattung im geschichtlichen Kontext fragen; sie sollte die Gattungen nicht als überzeitliche Ideen, sondern als epochenspezifische Phänomene behandeln und also eher den Typus der Renaissance-Novelle als d i e Novelle, eher das petrarkistische Sonett Die Gesch. lit. Gattungen, in: Geist und Form — Aufs, zur dt. Lit.gesch., Bern 1952, 292—309. 87 Sowohl die angelsächsische Literaturwissenschaft mit ihrem starken Pragmatismus als auch die französische Literaturwissenschaft, die den für die deutsche Literatur so bezeichnenden radikalen Bruch mit den rationalen und rhetorischen Traditionen des X V I I I . Jahrhunderts nicht mitgemacht hat, bevorzugen „historisch fixierbare und in ihrem Anwendungsbereich fest umrissene Gattungsbegriffe", wobei die Gruppierungen .fiction', ,drama' und ,poetry' b z w . Genres de la prose' (,romans et nouvelles'), ,theatre' und ,genres lyriques' (,po^sie') kaum mehr sein wollen als „klassifikatorische Ordnungsbegriffe" (Scherpe aaO. [ A n m . 29], 269 f f . ; v g l . Sengle aaO. [ A n m . 34], 16). — Ähnliches gilt für Italien, w o die normativen Poetiken der Renaissance nicht weniger als die historisch verfahrenden Vicos und D e Sanctis' bis hin zu Croce eine dominierende W i r kung ausübten.

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als d a s Sonett, eher das barocke Trauerspiel als d i e Tragödie zu ihrem Gegenstand madien. Sie müßte als Gattungspoetik zugleich Gattungsgeschichte sein, eine im eigentlichen Verstände historische Poetik also, die zu den bislang nicht von der Literaturwissenschaft eingelösten Desiderata gehört. Schließlich aber und 4. sollte diese Poetik komparatistisch und nicht nationalphilologisdi verfahren, d. h. es sollte ihr nicht um die Gothic novel in England, sondern um den Typ Gothic novel — Roman noir — Schauerroman als um e i n e n literarischen Komplex gehen; nicht die satirische Typenkomödie als solche, sondern die verschiedenen Ausfaltungen dieses Genres in der englischen, französischen, dänischen, deutschen, italienischen und russischen Nationalliteratur sollten sie beschäftigen. Das sind nun freilich kaum mehr als Grundsätze: prinzipiell, wohltuend eindeutig und — wie das bei Grundsätzen zu sein pflegt — letztlich wohltuend unverbindlich. Machen wir die Probe aufs Exempel und konfrontieren sie mit den verschiedenen konkreten Ergebnissen der vergleichenden Gattungsforschung, die durchaus vorhanden sind. Ganz allgemein kann man vielleicht zwei Möglichkeiten des methodischen Vorgehens unterscheiden: 1. Es gibt den phänomenologischen oder typologischen Vergleich, der aus der einfachen Gegenüberstellung von literarisch nicht miteinander verbundenen Phänomenen besteht bzw. „die Ubereinstimmung zwischen genetisch nicht miteinander in Beziehung stehenden Erscheinungen aus gleichartigen Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung erklärt" 38 . 2. Es gibt den historisch-genetischen Vergleich, der kongruente übernationale Erscheinungen — in unserem Fall also die Gattungskongruenz in verschiedenen Nationalliteraturen — aufgrund eines Prozesses von Einflüssen und Rezeption, von nachweisbaren kulturellen Wechselbeziehungen und unmittelbaren ,rapports de fait* verfolgt und zu beschreiben sucht. 38

So Zirmunskij aaO. (Anm. 8), 8.

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Die Alternative zwischen Analogiestudien und historisch-genetischem Vergleich spiegelt ganz allgemein die unterschiedlichen methodologischen Auffassungen zwischen einem großen Teil der amerikanischen Vergleichenden Literaturwissenschaft einerseits und der etwa im Umkreis der arcadia und — freilich mit anderer Akzentuierung — in Frankreich andererseits betriebenen Komparatistik wider. Während aber in den amerikanischen komparatistischen Zeitschriften sonst an rein phänomenologisch vergleichenden Arbeiten kein Mangel herrscht, finden sich auf dem Feld der vergleichenden Gattungsforschung kaum einschlägige Aufsätze dieser Art. Ob das allein an dem Umstand liegt, daß sowohl Comparative Literature als auch die Comparative Literature Studies das Studium der Gattungen vernachlässigen, oder ob andere Gründe dafür in Betracht zu ziehen sind, wage idi nicht zu beurteilen. Daß aber eine Gattungsforschung, der es auf die historisch-konkrete Beschreibung der einzelnen Genres ankommt, von einem bloßen Strukturvergleich etwa zwischen der attischen Komödie und der englischen Restauration comedy, zwischen serbokroatischen und anglo-schottischen Balladen, wenn er n i c h t auf einen erweisbaren Zusammenhang rekurrieren könnte, wenig profitieren würde, liegt auf der Hand. Das trifft auch auf jeden bloß phänomenologischen Vergleich zwischen den europäischen und außereuropäischen Literaturformen zu, wie ihn René Etiemble gelegentlich mit engagiertem Enthusiasmus gefordert hat. So sehr wir grundsätzlich der Forderung Etiembles beipflichten möchten, die Vergleichende Literaturwissenschaft müsse über die Registrierung historischer Zusammenhänge hinaus zur ästhetischen Analyse der verglichenen Werke vorstoßen, so sehr möchten wir bezweifeln, daß ein Vergleich zwischen einem chinesischen Roman der Ming-Dynastie und einem europäischen Roman des Barock-Zeitalters anderes zutage fördern könnte als jene abstrakten „conditions sine qua non du poème"39, die der platonischen Unverbindlichkeit und Ubiquität der Staigerschen Grundbegriffe 39

René Etiemble: Comparaison n'est pas raison — La crise de la litt, comp., Paris 1963, 102.

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um nichts nachstehen würden. Daß andererseits Studien über Goethes, Claudels oder Brechts Aneignung fernöstlicher Lyrik oder über die Fortune einer außereuropäischen Gattung, etwa des Ghasels, in der europäischen Literatur sehr wohl zu fruchtbaren E r kenntnissen führen müßten, steht außer Frage. Dennoch möchten wir den rein phänomenologischen Vergleich unter bestimmten Voraussetzungen für legitim und brauchbar halten. Ein klassisches Beispiel ist die Vergleichung des antiken, des französischen und des elisabethanischen Theaters in Herders Shakespeare-h.uis3.VL. Hier geht es aber gerade nidit um gemeinsame poetische Strukturen, nicht um die Invarianten der Gattung .Tragödie', sondern um das genaue Gegenteil: um den Nadiweis nämlich, daß ein solcher Vergleich aufgrund der unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen der drei Theaterformen gar nicht möglich sei, mit anderen Worten: Herders Vergleich zielt nicht auf ein zeitloses Gemeinsames, sondern auf das historisch bedingte Unvergleichbare dieser drei Phänotypen des europäischen Theaters: antike Tragödie und französische Tragédie classique dienen als Kontrast für eine literaturkritische Propaganda, die das Theater Shakespeares auf Kosten der Vergleichsobjekte um so leuchtender hervortreten läßt. Wie aber steht es mit einem phänomenologischen Vergleich, der als auf eine gemeinsame Basis der zu untersuchenden Gattungen auf die Vergleichbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und der historischen Situation sich beruft? Das ist der Fall in der typologischen Komparatistik marxistischer Provenienz, deren Methodologie auf dem 1966 in Berlin veranstalteten internationalen Kolloquium über aktuelle Probleme der vergleichenden Literaturforschung in mehreren Referaten zur Sprache kam 40 . Für die typologische Genre-Forschung hat der Leningrader Literaturwissenschaftler Viktor Zirmunskij mit seinem Buch über das heroische Epos das vielleicht überzeugendste Beispiel geliefert". Zirmunskij hat in dieser und in anderen Arbeiten verschiedene Ausprägungen 40 41

Aktuelle Probleme Vgl. Anm. 8.

der vgl. Lit.forschung,

hg. v. G. Ziegengeist, Berlin 1968.

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und Möglichkeiten

vergleichender

Gattungsforschung

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der heroischen mittelalterlidien Epik in den germanischen und romanischen Literaturen, in den russischen Bylinen, den südslawischen Heldenliedern und in den epischen Gesängen der türkischen und mongolischen Völker untersucht; er hat die proven9alische Troubadour-Lyrik, den deutschen Minnesang und die klassische arabische Liebespoesie des IX. bis X I I . Jahrhunderts miteinander verglichen oder den höfischen Versroman des hohen Mittelalters mit der iranospradiigen Epik des X I . bis X I I I . Jahrhunderts. Er hat dies getan, ohne daß in jedem einzelnen Falle Einflüsse oder Entlehnungen — also zum Beispiel zwischen Nezämi und Chrestien de Troyes — nachzuweisen wären, wenngleich unmittelbare literarische Kontakte natürlich keineswegs ausgeschlossen sind und sich oft vielfältig mit den typologischen Analogien verschränken. Das Entscheidende aber ist, daß Zirmunskij die literarischen Einflüsse als bloße Akzidentien der vergleichenden Literaturforschung verwirft; wo sie zum alleinigen Erkenntnisinteresse gemacht werden, sind sie Relikte eines veralteten positivistischen Literaturverständnisses und verraten ein falsches Problembewußtsein. Der marxistischen vergleichenden Gattungsforschung geht es jedoch darum, die festgestellten Ähnlichkeiten im Gehalt, in den Motiven und Sujets, in den poetischen Bildern und Situationen, in der Struktur des einzelnen Genres und in den Eigentümlichkeiten des Stils als historisch und gesellschaftlich bedingt zu erkennen. Nicht also, ob etwa Boccaccio Chaucer beeinflußt habe, ist das Problem; vielmehr ist ein Vergleich zwischen dem Decamerone und den Canterbury Tales bereits durch die Tatsache legitimiert, daß beide Werke als „für die städtische Literatur an der Grenze zwischen Mittelalter und Renaissance in ideologischer und künstlerischer Hinsicht" ähnliche Produkte aufgefaßt werden42. Wir fühlen uns nicht kompetent, die Forschungsergebnisse Zirmunskijs im einzelnen zu beurteilen. Es scheint in der Tat literarische Formen zu geben — und zwar offenbar solche, die wie das heroische Epos der mündlich überlieferten Volksdichtung nahe42

V i k t o r Z i r m u n s k i j : Methodologische Probleme der marxistischen hist.-vgl. Lit.forschung, i n : Aktuelle Probleme der vgl. Lit.forschung, a a O . ( A n m . 40), 6.

6 Komparatistische Studien 4

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stehen oder selbst noch zu ihr gehören —, in denen typologisch zu erklärende Gemeinsamkeiten sich in größerer Anzahl beieinanderfinden als in den komplizierteren und durch die subjektive schöpferische Leistung des Individuums sehr viel mehr geprägten Dichtungsformen späterer Zeitalter 4 '. Gegen zwei der von der marxistischen Gattungsforschung erhobenen Thesen möchten wir jedoch Bedenken geltend machen. Erstens gegen die These von der Einheit und Gesetzmäßigkeit der Entwicklung aller literarischen Formen, die auf die marxistische Geschichtsauffassung von der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Prozesse zurückgeht, als deren Reflexe die Erscheinungen des Uberbaus begriffen werden müßten44. Ein unbefangener Blidc auf die an Sprüngen, Regressionen, Renaissancen, Phasenverschiebungen und überraschenden Inkonsequenzen reiche Gesdiichte einzelner Gattungen lehrt das Gegenteil, ohne daß wir uns hier im einzelnen darauf einlassen könnten. Mir scheint, daß hier eine der Literatur fremde Doktrin an die Gattungen herangetragen wird, die zwar den Vorzug hat, theoretisch gut fundiert und in sich schlüssig zu sein, die aber die konkreten historischen Ausprägungen einzelner Gattungen durch einen dogmatischen Schematismus vergewaltigt, ähnlich wie seinerzeit das biologistische Evolutionsmodell Brunetieres45, der den gesamten Verlauf der Literaturgeschichte im Sinne Darwins als einen dauernden Kampf der Gattungen ums literarische Dasein zu interpretieren sudite. Wer die These von der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der Gattungen ablehnt, wird folgerichtig auch der zweiten von der marxistischen Komparatistik in Anspruch genommenen Prämisse, daß sich in den einzelnen literarischen Formen der jeweilige Stand der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse, d. h. also die ökonomisch-gesellschaftliche Wirklichkeit, widerspiegele, nicht ohne 4 3 Nicht der Einflußforsdiung, sondern der vergleidiend typologisdien und phänomenologischen Methode bedient sich auch C. M. Bowra: Heldendichtung — Eine vgl. Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten, übers, v. H a n s G. Schürmann, Stuttgart 1964. 4 4 Programmatisch vorgetragen von Zirmunskij aaO. (Anm. 42). 45 L'Évolution des genres dans l'histoire de la litt., Paris 1890.

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Skepsis begegnen. Grundsätzlich müssen wir, wenn wir für eine historisch-konkrete Beschreibung der Gattungen plädieren, literatursoziologische Komponenten einbeziehen. Es gibt Gattungsprobleme, die ohne den Rückgriff auf gesellschaftliche Verhältnisse überhaupt nicht zu lösen sind. Nehmen wir etwa das bürgerliche Trauerspiel. Indem es die Ständeklausel außer Kraft setzte und auch dem bisher nur in der Komödie verspotteten Bürger das Redit auf tragische Würde zuerkannte, war es Indiz und Signal zugleich für die beginnende Emanzipation des europäischen Bürgertums. Eine Gattungsforschung, die sich hier auf ein immanentes oder nur formalistisches Vorgehen beschränkte, müßte das Signifikante dieser Gattung gründlich verfehlen. Eine vergleichende Untersuchung von Domestic tragedy, Tragédie bourgeoise und bürgerlichem Trauerspiel hätte zudem die spezifischen nationalliterarischen Ausprägungen dieser Gattung als bedingt durch die in den einzelnen Ländern jeweils unterschiedlich entwickelten gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen. In England, wo erstens der gesellschaftliche Aufstieg des Bürgertums sehr früh einsetzte und wo zweitens Teile des Bürgertums durch ihre erfolgreiche Beteiligung an den Handelsgeschäften der Krone zu Wohlhabenheit und zu einer starken und selbstbewußten gesellschaftlichen Stellung gelangt waren, entsteht daher eine andere Spielart der neuen bürgerlichen Tragödie als in Deutschland, wo das Bürgertum von der Teilhabe an der politischen und wirtschaftlichen Macht abgedrängt ist und im bürgerlichen Trauerspiel einen Heldentypus auf die Bühne stellt, der seine gesellschaftliche Frustration durch eine Ideologie der Innerlichkeit kompensiert. Oder wie steht es mit der Umgestaltung der französischen Chanson de geste zum Ritterepos der italienischen Renaissance? Für die Wandlung, welche die Helden der Roland-Sage und damit auch das ganze Genre auf italienischem Boden durchmachen, ist nicht nur die Wachablösung des Mittelalters durch die Renaissance verantwortlich. Ein des Glaubens an die marxistische Widerspiegelungstheorie so unverdächtiger Forscher wie Karl Vossler hat darauf hingewiesen, daß in Italien für das heroische Epos die gesellschaft6*

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liehe Voraussetzung fehlte, die in Frankreich vorhanden war: der Feudalismus. „Italien war ein bürgerliches Land — und als das hochtrabende Ritterepos über die Alpen herabstieg, da ging es mit seiner Würde, je tiefer es ins Land kam, abwärts und abwärts"; aus dem heroischen Epos wurde das geistreich-phantastisch-romantische Epos Boiardos und Ariosts; das komisch-parodistische des Florentiners Luigi Pulci46. Eine komparatistische Untersuchung, die in diesem Falle nicht auch dem gesellschaftlichen Hintergrund Rechnung trüge, würde sich selbst den Zugang zu wesentlichen Erkenntnissen versperren. Indes: vor vielen Phänomenen der Gattungsforschung versagen soziologische Fragestellungen. Hans Robert Jauß hat meines Erachtens mit Recht darauf hingewiesen47, daß „Veränderungen der ökonomischen Struktur und Umschichtungen in der gesellschaftlichen Hierarchie" sich „zumeist in langgedehnten Prozessen mit kaum sichtbaren Zäsuren und wenig spektakulären Revolutionen" vollzögen, so daß der konkreten Vielfalt der literarischen Gattungen, die sich etwa vom Mittelalter bis heute entwickelt haben, immer nur ein schmaler Bestand von soziologischen „Begriffshypostasen wie: Feudalismus, Heraufkommen der bürgerlichen Kommunen, Funktionsabbau des Adels, früh-, hoch- oder spätkapitalistische Produktionsweise" gegenübersteht, der dann oft nur in einer sehr abstrakten Form für die Widerspiegelungstheorie in Anspruch genommen werden kann. Hinzu kommt, daß es Formen gibt, die auch noch die gewaltsamste gesellschaftliche Veränderung unangetastet läßt. Oder wie will man sich erklären, daß die Französische Revolution zwar die Gesellschaft, die Literatur dieser Gesellschaft aber, vor allem was die Gattungen angeht, kaum in so einschneidender Weise verändert hat? Sicherlich erhalten mit dem Sturz des Ancien régime auch einzelne literarische Gattungen den Todesstoß: die klassizistische Tragödie etwa oder der galante Roman, die als der typische Ausdruck des Feudalismus gelten dürfen; sicherlich entstehen aufgrund der 4

* Karl Vossler: Tassos Aminta

Welt I, Leipzig 1940, 70. 47 Lit.gesch. als Provokation,

und die Hirtendichtung,

in: Aus der

roman.

Frankfurt 1970 ( = Ed. Suhrkarap 418), 158.

Probleme und Möglichkeiten

vergleichender Gattungsforschung

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gesellschaftlichen Umwälzungen neue literarische Formen wie etwa das politische Chanson; andere aber überdauern, ohne in ihrer Substanz berührt zu werden, den geschichtlichen Umbruch und finden wie das Sonett noch ein halbes Jahrhundert nach der Revolution eine ebenso glanzvolle künstlerische Verwirklichung wie zuvor in der höfisch-aristokratisch bestimmten Lyrik der Pleiade. Wir können die literatursoziologischen Probleme, zu denen wir kaum mehr als marginale Illustrationen geben konnten, hier nicht weiter verfolgen. Eines jedoch scheint mir sicher: die literarischen Gattungen wie Dichtung überhaupt spiegeln die gesellschaftlichen Verhältnisse und Veränderungen keineswegs in jedem Fall wider; sie verhalten sich oft neutral zu ihnen oder stehen zu ihnen in eklatantem Widerspruch. Jeder soziologisch orientierten Gattungsforschung, die solche Widersprüche, statt sie aufzuzeigen, mit einer Theorie, derzufolge es sie gar nicht geben kann, zu harmonisieren versucht, sind hier ihre Grenzen gesetzt. Wenden wir uns von der typologischen Gattungsforschung dem historisch-genetischen Vergleich zu. Der einfachste hier in Betracht zu ziehende Fall einer Gattungsentwicklung ist die von Van Tieghem so genannte Monogenese, die voraussetzt, wir seien in der Lage, den Ursprung oder doch die erste charakteristische und dann zur Nachahmung anregende Ausbildung eines Genres bei einem einzelnen Autor zu konstatieren. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das des historischen Romans im XIX. Jahrhundert. Seine erste dichterische Realisation ist Walter Scotts Waverley. Zwar läßt sich darüber diskutieren, ob Scott die Gattung nun wirklich ,erfunden' hat; historischen Charakter hat ohne Zweifel schon vorher der Typ des historisch-galanten Romans, und historische Partien finden sich in der pikarischen Erzähltradition so gut wie in der Gothic novel oder in den trivialen Ritter- und Räuberromanen des ausgehenden XVIII. Jahrhunderts. Van Tieghem besteht jedoch mit vollem Recht auf der signifikanten Neuartigkeit des von Scott geschaffenen Romantypus48, der 48

Deux exemples de la formation de genres nouveaux dans le roman du siecle, in: Helicon 2 (1940), 183—191.

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dann zahllose, teils triviale, teils das Vorbild überragende Nachahmungen gefunden hat: de Vigny s Cinq-Mars, Victor Hugos Notre-Dame de Paris, Manzonis I promessi sposi, die Romane Mérimées, Dumas', Willibald Alexis', Gustav Freytags oder Conrad Ferdinand Meyers. Eine vergleichende Untersuchung könnte hier immer wieder mit Gewinn auf den durch Scott geprägten Archetyp zurückgreifen. Es dürften sich aber nur sehr wenige Gattungen in der Weltliteratur finden, deren Ursprung sich so leicht auf eine einzige Quelle zurückverfolgen läßt. Die Unterscheidung zwischen Polygenese und Monogenese, die Van Tieghem trifft, scheint mir denn aucli wenig relevant zu sein. Das von uns gewählte Beispiel steht außerdem der Einflußforschung sehr nahe; wir haben es mit einem ,Sender' (Scott) und einem oder mehreren ,Empfängern', d. h. den jeweils von Scott beeinflußten Autoren zu tun; das Verhältnis zwischen beiden ist in den meisten Fällen durch ein ganzes Bündel von .rapports de fait' einigermaßen genau zu bestimmten. Untersuchungen dieser Art entsprechen denn auch gerade wegen dieses „engen Kausalzusammenhangs" zwischen den Vergleichsobjekten dem Ideal der französischen Littérature comparée49; Gattungsforschung wird hier beinah identisch mit der Erforschung der literarischen Fortune eines Autors oder der Wirkungsgeschichte eines Werks oder einer Gruppe von Werken. So gehören Arbeiten, wie sie Guyards Handbuch 60 in dem Kapitel „Genres, Thèmes, Mythes" anführt, etwa über den Einfluß des spanischen Theaters auf die französische Tragödie von Hardy bis Racine, auf die deutschen Romantiker oder auf das holländische Drama des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, eindeutig zum Bereich der Einflußforschung und unterscheiden sich vom methodischen Ansatz her kaum von einer Studie etwa über den Einfluß Martials auf Goethes Epigramm-Dichtung. Ähnlich verhält es sich mit der Empfehlung von Pichois und Rousseau51, das vergleichende 49 60 61

Pichois/Rousseau aaO. (Anm. 13), 102. AaO. (Anm. 14). AaO. (Anm. 13), 101.

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Studium der Gattungen möglichst auf einen einzigen Stoff, etwa den Antigone- oder den Amphitryon-Stoff, zu konzentrieren. Solche Untersuchungen können gewiß sehr lohnend sein; immerhin gibt es berühmte Beispiele dieser Art, etwa in Lessings Hamburgischer Dramaturgie, in Schillers Vergleich der Euripideischen mit der Goethesdien Iphigenie oder in August Wilhelm Schlegels Comparaison entre la Phédre de Racine et celle d'Euripide. Doch gehören diese Vergleiche wohl eher zur Thematologie und dürften für das motivgeschichtliche Interesse mehr hergeben als für das gattungspoetische, denn es ist weder einzusehen, warum sich diese thematologischen Fragestellungen auf ein einziges Genre noch warum sidi die Gattungsforschung auf ein einziges Thema beschränken sollte. Die auf Einflußforschung oder überhaupt auf die Gegenüberstellung von nur zwei miteinander zu vergleichenden Objekten reduzierte Komparatistik hat, wie gesagt, in besonderem Maße die Kritik der marxistischen Vergleichenden Literaturwissenschaft hervorgerufen, da sie kaum geeignet sei, für die Darstellung weltliterarischer Zusammenhänge Wesentliches zu leisten. Das ist eine Auffassung, der wir uns, um Mißverständnisse zu vermeiden, ausdrücklich anschließen wollen. Vergleichende Gattungsforschung sollte in der Tat keine Einflußforschung sein oder sich zumindest nicht in ihr erschöpfen. Es sollte ihr um die Beschreibung der Gattung selbst gehen, um ihre formalen Strukturen, um die typischen inhaltlichen, gehaltlichen, stilistischen, thematischen und motivischen Momente, die sie konstituieren. Mit anderen Worten: sie sollte vermeiden, was der Vergleichenden Literaturwissenschaft oft vorgeworfen wird, daß sie nämlich das Kunstwerk in eine Reihe nachweisbarer Einflüsse auflöse und seine ästhetische Einmaligkeit — wir müssen in diesem Fall hinzufügen: das Charakteristische der Gattung — durch positivistische Quisquilien eher zerstöre als freilege. Vergleichende Gattungsforschung, selbst wo sie die historischgenetische Methode verfolgt, sollte sich mehr vom dichtungsästhetischen Interesse als vom literaturgeschichtlichen leiten lassen, vom Prinzip des ,intrinsic approach' mindestens so sehr wie von dem der ,rapports de fait'.

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Natürlich ist es für die Geschichte des weinerlichen Lustspiels wichtig und nützlich zu wissen, daß Destouches die ,Sentimental comedy' während eines England-Aufenthaltes kennenlernte; natürlich ist es in diesem Zusammenhang nützlich zu wissen, daß auch Diderot auf englische Einflüsse zurückgriff oder daß Geliert und Lessing, welche die deutschen Prototypen der Gattung schufen, sich sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung um die Comédie larmoyante als auch in den zeitgenössischen englischen und französischen Stücken des neuen Genres gut auskannten. Doch dürfte man sich nicht mit dem Aufweis dieser und ähnlicher literarhistorischer Fakten begnügen, sondern müßte vielmehr weiterfragen: Wie sieht diese Gattung bei den einzelnen Nationen aus? Wo ist ihr Gemeinsames? Wo sind die Unterschiede? Wie sind diese durch den jeweils verschiedenen Stand der einzelnen nationalliterarischen Entwicklung bedingt? Wie sind sie bedingt durch den jeweils verschiedenen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung in den einzelnen Ländern? Wie sind sie bedingt durch den jeweils anderen geistesgeschichtlichen Moment, den sie bei den einzelnen Nationen antreffen? Was an möglichen nationalliterarischen Spezifica ist eventuell auf die Ausstrahlung anderer — vergangener und aktueller — nationalliterarischer Formen zurückzuführen? Muß man also zum Beispiel die Quelle der Comédie larmoyante gar nicht in England suchen? Kann man sie nicht durch einen Rekurs auf die nationale französische Literaturtradition sehr viel besser erklären? Erst wenn man sich solchen Fragen stellt, kann man hoffen, zu einer Synthese von historisch-genetischer Forschung und einer auf die Gattung selbst bezogenen typologischen Analyse zu gelangen, zu einer historisch-ästhetischen Synthese also, wie sie schon Croce von einer zukünftigen Komparatistik erwartet hat". Jedoch ist die strikte Unterscheidung zwischen historisch-genetischer Forschung und einer aufs Typologische bedachten Gattungsanalyse überhaupt in den meisten Fällen rein theoretischer Natur. Beschränken wir uns auf die europäische Literaturszenerie, zu der 52

Die ,vgl. Lit.wiss.', in: Kleine Sehr, zur Ästhetik J. v. Schlosser, Tübingen 1929, 56—60.

II, ausgew. und übers, von

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wir aus Gründen der sprachlichen Gemeinsamkeit die anglo- und lateinamerikanischen Literaturen hinzurechnen, so kann man seit etwa zweihundert Jahren im allgemeinen davon ausgehen, daß direkte Beeinflussungen stattgefunden haben. Das durdi das ständige Anwachsen der internationalen Kommunikationsmöglidikeiten immer dichter werdende Netz auch der internationalen literarischen Beziehungen hat es heute einigermaßen unwahrscheinlich werden lassen, daß sich irgendwo noch eine literarische Gattung im Zustand einer .splendid isolation' konsolidieren könne. Von hier aus gesehen, stellen die typologischen Untersudrangen Zirmunskijs zum Volksepos bereits einen Sonderfall der vergleichenden Gattungsforschung dar. Noch ein letzter Aspekt scheint mir bedenkenswert, der sich zugespitzt durch die Alternativformel ,diachronische oder synchronische Gattungsforschung' ausdrücken ließe. Es gibt literarische Gattungen, die nur eine relativ kurze Lebensdauer hatten: das höfische Versepos gehört dazu, das lateinische Jesuitendrama oder der galante Roman. Sie haben ihren Siegeszug durch die literarische Welt oft in einer einzigen Epoche angetreten und vollendet; so fällt die Comedie larmoyante völlig mit der Empfindsamkeit zusammen, und der historische Roman gehört, selbst wenn er auf der Ebene der belletristischen Unterhaltung, mit der für die Trivialliteratur typischen historischen Verspätung, bis heute nachwirkt, ganz dem XIX. Jahrhundert an. Das bedeutet aber: diese literarischen Formen sind so weitgehend durch die Zugehörigkeit zur allgemeinen geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Signatur ihrer Epoche geprägt, daß ihre Darstellung im komparatistischen Rahmen auch ein Stück vergleichender Epochendarstellung sein müßte. Wir möchten in diesem Falle von einer epochenspezifischen Gattungsentwicklung und von einer synchronischen Gattungsforschung sprechen. Solchen Formen stehen andere, und zwar vor allem die aus der Antike tradierten Gattungen gegenüber, die Jahrhunderte überdauerten und erst, wie etwa das Aussterben des Versepos im XVIII. Jahrhundert beweist, an einem ganz bestimmten Punkt der historisch-gesellsdiaftlichen Entwicklung von der Bühne der Literatur

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abtreten mußten. Es ist klar, daß komparatistisdie Untersuchungen für den einen oder den anderen Fall ganz verschiedenartige Probleme aufwerfen. Schon die Masse des zu untersuchenden Materials wird die Frage der angemessenen Präsentation des Stoffes bei einer extensiv diachronischen Darstellung zu einem Problem für sich machen. Während sich eine vergleichende Untersuchung etwa über die Commedia dell'arte in einem durchaus überschaubaren Rahmen bewegen kann, frage man sich, wie eine vergleichende Arbeit aussehen müßte, welche die Genealogie des Versepos von Homer über seine ungezählte Nachkommenschaft bis hin etwa zu Spitteier nachzuzeichnen versuchte. Doch ist es nicht allein die Fülle der zu bewältigenden Texte, vor der man verzagen müßte; es ist eher die Vielfalt der jeweiligen dichterischen Realisation des epischen Vorwurfs. Was haben denn Iltas und Gerusalemme liberata, Aeneis und Faerie Queene, Messias und Oberon, die Lusiaden und Eugen Onegin, Luise und La Pucelle mehr miteinander gemeinsam als den Gattungsnamen und die Versifikation? Für eine auf die Frage nach dem Gattungsspezifischen zielende Untersuchung reichen die rein formalen Merkmale aber nicht aus, denn die Kriterien der inneren Form, die hinzukommen müßten, um die Gattung zu konstituieren, streben bei diesen Werken so weit auseinander, daß man sich fragen muß, ob eine derart extensiv verfahrende diachronische Gattungsuntersuchung nicht zu der Aporie verdammt sein müßte, entweder eine annalistische Aneinanderreihung literarhistorischer Fakten und allenfalls ausgewählter immanenter Interpretationen zu geben oder aber, wenn sie sich zu einer synthetischen Behandlung entschlösse, völlig Unvergleichbares miteinander zu vergleichen. Das methodische Problem ist das gleiche, dem sich auch die nationalphilologische Gattungsforschung gegenübersieht. Günther Müllers Geschichte des deutschen Liedes bewegt sich mäandrisch zwischen den Typen des Virtuosenlieds, des religiös-mystischen Seelenlieds, des natürlichen Erlebnislieds, des humanen Seelenlieds und des Empfindsamkeitslieds durch die verschiedenen Epochen, und am Ende kommt ein ebenso proteischer wie unverbindlicher

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vergleichender Gattungsforsthung

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Gattungsbegriff heraus, der sich zum praktischen Gebrauch als wenig tauglich erweist. Etwas anderes wäre es, wenn wir auch bei einem diachronischen Längsschnitt einen differenzierten Gattungsbegriff von vornherein zugrunde legen würden. Doch was könnte als spezifizierendes Element hinzukommen? Inhaltliche Kriterien, die nicht zugleich auch eine gattungstypische Struktur des literarischen Werks bedingen, scheiden wohl aus; Kategorien wie Seefahrerroman oder Ehebruchsroman scheinen mir vom gattungspoetischen Standpunkt aus unergiebig zu sein. Man könnte aber an die charakteristischen Abtönungen einer Gattung durch eine bestimmte und oft schon mit der Tradition des behandelten Sujets vorgegebene Stil-Lage oder Stilhaltung denken. So wie etwa das Satirische in verschiedenen Genres, in einem Epigramm, in einer Komödie oder in einem Pamphlet, wie etwa das Bukolische in einer Elegie, einem Schäferspiel oder in einem Schäferroman sich ausdrücken kann, verwirklichen sich umgekehrt in den einzelnen Gattungen verschiedene „genera des Sprachstils verschiedene „Töne", wie Friedrich Sengle in seinem Plädoyer für eine neue literarische Formenlehre solche nicht leicht unter einem Begriff zu fassenden Ausdrücke wie ,satirisch', ,bukolisch', ,heroisch', ,idyllisch', ,elegisch' usw. genannt hat53. Es wäre also, um beim Beispiel des Epos zu bleiben, sinnvoller, von einem heroischen Epos, einem romantischen Ritterepos, einem religiösen, einem komischen, satirischen, parodistischen oder idyllischen Epos zu sprechen als vom Epos schlechthin; und es wäre vielleicht methodisch sinnvoller, sich bei vergleichenden Untersuchungen über Gattungen mit einer langen literarischen Tradition auf eine durch solche Nuancierungen zustande gekommene Spielart einer — sit venia verbo — ,Großgattung' zu beschränken. Vergleichende Gattungspoetik und vergleichende Gattungsforschung — so viel ist vielleicht deutlich geworden — sind in der literaturwissenschaftlichen Praxis kaum isoliert zu betreiben; literaturtheoretische und literatursoziologisdie Probleme, Fragen der 53

AaO. (Anm. 34), 35.

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Willy R. Berger

literarhistorischen Epochenbildung und Stilfragen durchkreuzen sie ständig. Eine vergleichende Gattungsforschung, die diesen Namen verdiente, dürfte ihnen nicht ausweichen, sondern sie hätte sich — und zwar zu ihrem eigenen Vorteil — mit ihnen auseinanderzusetzen und sie in ihre methodischen Überlegungen mit einzubeziehen. Sie könnte dann vielleicht dazu mitwirken, die Gattungsforschung überhaupt aus ihrer immer noch nationalliterarisch befangenen und — so setzen wir bewußt hinzu — auch aus ihrer theoretischen Paralyse zu befreien.