Das Problem der Interpretation: Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft [Reprint 2012 ed.] 9783110938456, 9783484220584

"The Problem of Interpretation" provides an introduction to the fundamental issues of literary studies against

187 54 10MB

German Pages 387 [400] Year 1998

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Table of contents :
Einleitung
Erstes Kapitel. Wort, Sinn und Macht: Theorie- und Sozialgeschichte der Hermeneutik in der Frühen Neuzeit
Zweites Kapitel. Sprache, Subjekt, Geschichte: Die Modernisierung der Hermeneutik
Drittes Kapitel. Die ›Kunst der Interpretation‹: Zur Theoriegeschichte eines Irrtums
Viertes Kapitel. Eindeutigkeit und Beliebigkeit: Der Leser und die Frage nach dem Sinn von Texten
Fünftes Kapitel. Sinnverweigerung: Der dekonstruktionistische Angriff auf die Hermeneutik
Sechstes Kapitel. Hermeneutik und Geschichtsphilosophie: Politische Kontroversen im 20. Jahrhundert
Siebtes Kapitel. Abweichung und Überschreitung: Politische Optionen postmoderner Ästhetik
Achtes Kapitel. Die Disziplinierung der Literatur: Autor, Werk und Wissenschaft
Neuntes Kapitel. Texte im Kontext: Gesellschaft, Geschichte, Kultur
Literaturverzeichnis
Begriffsregister
Namenregister
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Das Problem der Interpretation: Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft [Reprint 2012 ed.]
 9783110938456, 9783484220584

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Peter Eisenberg und Helmuth Kiesel

Peter J. Brenner

Das Problem der Interpretation Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

„Meinen

Eltern"

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Brenner, Peter J.: Das Problem der Interpretation : eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft / Peter J. Brenner. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 58) ISBN 3-484-22058-9

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren

Inhalt

Einleitung

I

Erstes Kapitel Wort, Sinn und Macht: Theorie- und Sozialgeschichte der Hermeneutik in der Frühen Neuzeit

5

Zweites Kapitel Sprache, Subjekt, Geschichte: Die Modernisierung der Hermeneutik

39

Drittes Kapitel Die >Kunst der Interpretation: Zur Theoriegeschichte eines Irrtums

65

Viertes Kapitel Eindeutigkeit und Beliebigkeit: Der Leser und die Frage nach dem Sinn von Texten

101

Fünftes Kapitel Sinnverweigerung: Der dekonstruktionistische Angriff auf die Hermeneutik

133

Sechstes Kapitel Hermeneutik und Geschichtsphilosophie: Politische Kontroversen im 20. Jahrhundert

167

Siebtes Kapitel Abweichung und Überschreitung: Politische Optionen postmoderner Ästhetik

205

Achtes Kapitel Die Disziplinierung der Literatur: Autor, Werk und Wissenschaft

249

Neuntes Kapitel Texte im Kontext: Gesellschaft, Geschichte, Kultur

285

Literaturverzeichnis

323

Begriffsregister

3 75

Namenregister

379

Einleitung

In einem vorderorientalischen Mythos wird eines der zentralen Probleme der abendländischen Kultur aufgeworfen. Die Genesis des Alten Testaments beschreibt, wie die Menschen sich ihr Glück durch frevelhaften Übermut verscherzten. Ihr Versuch, einen Turm zu bauen, der bis an den Himmel reicht, wird mit Sprachverwirrung und der Zerstreuung der Völker über die Erde bestraft. Es hat ein rundes Jahrtausend gedauert, bis - zumindest im christlichen Kontext diese Sprachverwirrung aufgehoben wurde. Die Apostelgeschichte berichtet davon, wie der Geist über die Jünger kam und sie plötzlich alle Sprachen sprechen und verstehen konnten. Der Turmbau von Babel bezeichnet die hermeneutische Ursituation; das Pfingsterlebnis die hermeneutische Utopie. Für lange Zeit schien damit dem christlichen Abendland das Problem des Verstehens gelöst. Erst in der Frühen Neuzeit wird es wieder thematisiert. In der Mitte des 16. Jahrhunderts greift Pieter Bruegel das biblische Motiv auf: Das erste seiner beiden Gemälde zum Turmbau zu Babel stellt das Thema aus neuzeitlicher Perspektive dar. Das Bild zeigt den Turmbau in dem sozialen Kontext, der sich dem neuzeitlichen Maler darbot. Bruegel schenkt den technischen Aspekten des Turmbaus besondere Aufmerksamkeit. Er fuhrt mit seiner Gestaltung bautechnischer Details präzise Kenntnisse frühneuzeitlicher Ingenieurskunst vor und thematisiert die Utopie technischer Planbarkeit. Im Hintergrund sind eine wohlgeordnete Stadt mit Hafen, ein regulierter Fluß und ein kunstvolles Aquädukt zu sehen; im linken Vordergrund erläutert der Architekt seinem Auftraggeber - der Sage nach ist es Nimrod - seine Pläne. Aber dieser Selbstdarstellung technischer Machbarkeit steht das biblische Thema der Hybris entgegen, das im Turm von Babel seine metaphorische Gestaltung fand: Der Turm ist unvollendet; die Präzision des Details wird überwuchert vom chaotischen Gesamteindruck. Bruegels Bild bezeichnet den neuen Problemhorizont, in den sich das Problem der Sprachverwirrung und damit das des Verstehens nach Luther gestellt sieht. Es deutet an, was den hermeneutischen Denkern meist selbst verborgen geblieben ist: daß Verstehen immer etwas mit Orientierung in der Welt und mit Beherrschung der Welt zu tun hat. Die Geschichte des Verstehens in der abendländischen Kultur der Neuzeit ist ein Seismograph für soziokulturelle Entwicklungen. In ihr werden die grundlegenden Fragen der Gesellschaftsbildung, die sich immer auch als Kommunikationsfragen darstellen, ebenso aufgeworfen wie die Traditionsbezüge einer Kultur. Deshalb wird Verstehen stets dann problematisch, wenn Weltdeutung und Welterfahrung auseinanderzufallen drohen; und die Hermeneutik, als die Wissenschaft vom Verstehen, bewährt sich als eine Krisenwis-

2 senschaft. Davon ist auch die literaturwissenschaftliche Hermeneutik berührt. Die Hermeneutik hat ihre Ursprünge nicht in der Literaturwissenschaft, aber seit dem späten 19. Jahrhundert hat die Literaturwissenschaft ihre Aufgabe wesentlich in der >Interpretation< von Texten gesehen und ist so zu einer hermeneutischen Wissenschaft geworden. Sie steht vor den gleichen Problemen, welche die neuzeitliche Hermeneutikdiskussion begleiteten. Daraus ergibt sich die These dieses Buches: Es will zeigen, daß Texte und ihre Leser in Weltzusammenhänge eingebunden sind und daß die Interpretation von Texten immer auf die Reflexion dieser Zusammenhänge angewiesen ist. Auch die literaturwissenschaftliche Hermeneutik hält daran fest, daß Texte verstanden werden müssen und daß das Verstehen sich nicht von selbst ergibt, sondern methodischer Leitlinien bedarf. Die Prämisse, daß Texte verstanden werden müssen, impliziert, daß sie auch verstanden werden können. Aber genau an dieser Frage haben sich die hermeneutischen Kontroversen seit je entzündet. Es ist durchaus kein Privileg der Postmoderne, die Notwendigkeit der Interpretation von Texten zu leugnen. Diese Behauptung hat vielmehr in der neuzeitlichen Hermeneutikgeschichte eine lange Tradition. An ihrem Anfang steht Luther mit seiner eher konfessionspolitisch als hermeneutisch motivierten These, daß zumindest heilige Schriften dem Gläubigen unmittelbar zugänglich seien. Auch das 19. Jahrhundert hat noch an einer säkularisierten Form dieses Glaubens festgehalten, wenn es die Hermeneutik als eine >Kunstlehre< definierte, in der sich Texte intuitiv erschlössen. Der Glaube an die Verzichtbarkeit der Interpretation hat in der literaturwissenschaftlichen Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann eine andere Form angenommen. Auf der einen Seite fordert er dem Verstehen literarischer Texte jene Exaktheit und Begründbarkeit ab, auf die die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts so sehr vertrauten, die im Textverstehen aber offensichtlich nicht zu erreichen ist. Auf der anderen Seite ist die postmoderne Diskussion in ihrem Angriff auf die Hermeneutik den umgekehrten Begründungsweg gegangen: Sie fordert den Verzicht auf alle Reglementierungen, um an Stelle der Interpretation von Texten deren >Lektüren< freizusetzen, die sich dem Diktat der Sinnfíndung und der Methode nicht mehr unterwerfen wollen. Die Diskussionen um dieses zentrale >Problem der Interpretation sollen in den folgenden Kapiteln nachgezeichnet werden. Der Blick auf die Theoriegeschichte erstrebt keinerlei Vollständigkeit. Er dient der Herausarbeitung des Problemgehaltes, dem sich eine hermeneutische Literaturwissenschaft stellen und dem sie standhalten muß. Es ist einer der meistdiskutierten Grundsätze der Hermeneutik, daß das Verständnis von Texten nie abgeschlossen wird; daß vielmehr Texten in der Geschichte ihrer Interpretation neue Bedeutungen zuwachsen können. Das gilt nicht nur fur jene literarischen Texte, die Gegenstand der Hermeneutik sind, sondern ebenso fur jene, die zu ihrer Theoriegeschichte gehören: Eine Überprüfung der Texte von Autoren der Hermeneutiktradition modifiziert die Hermeneutik selbst. Eine >Einfuhrung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft meint deshalb etwas anderes als eine Einfuhrung in wissenschaftliches Arbeiten. Sie setzt einen Perspektivenwechsel voraus. Der Blick richtet sich nicht auf den Gegenstand und

3 die Möglichkeiten, ihn in wissenschaftlicher Weise zu bearbeiten; der Blick richtet sich vielmehr zurück auf den Literaturwissenschaftler und sein geistiges wie institutionelles Instrumentarium. Das erfordert eine gewisse Komplexität der Darstellung, denn das Elementare ist nicht das Einfache. Der Respekt vor dem Fach und vor denen, die es als Lehrende oder Studierende betreiben oder sich auch nur dafür interessieren, verbietet es, Dinge einfacher zu machen als sie sind. Die Betrachtung literaturtheoretischer Positionen sollte nicht hinter den Standard zurückfallen, den die Literaturwissenschaft in ihrem Umgang mit literarischen Werken erreicht hat. Theorie- und Wissenschaftsgeschichte sind keine bloßen Abfolgen willkürlich aufeinanderfolgender Konstrukte, Richtungen oder Strömungen; sie unterliegen vielmehr den gleichen Voraussetzungen wie andere Kulturerscheinungen auch. In der Darstellung spielen deshalb die kulturellen Traditionen, sozialen Bezüge, politischen Interessen und institutionellen Abhängigkeiten eine wichtige Rolle. Theoretische Positionen sind weniger an ihren Früchten als an ihren Wurzeln zu erkennen. Ohne deren Berücksichtigung sind viele Theoriekonzepte kaum verständlich, denn ihre Implikationen werden oft versteckt im Wuchern theoretischer Verästelungen der Epigonen, im Schulenstreit und im Machtkampf innerhalb der Institutionen. Auch fur die literaturwissenschaftliche Hermeneutik gilt, daß Hermeneutikgeschichte Sozialgeschichte ist, in der sich die Kämpfe um Machtpositionen nicht nur abspiegeln, sondern auch abspielen. Hermeneutik ist aber noch mehr: Sie ist Kulturgeschichte, insoweit Kultur verstanden werden kann als Aufbau von symbolischen Sinnzusammenhängen. Auch daran hat Literaturwissenschaft teil, wenn sie Texte interpretiert. Der Blick auf die Problemgeschichte der Interpretation soll nicht zuletzt daran erinnern, daß in der Hermeneutik Literatur, Wissenschaft und Lebenswirklichkeit eine Einheit bilden, die dem Literaturwissenschaftler seine eigene Verantwortung auflädt.

***

Die Entstehung des Buches hat sich über die Jahre hingezogen. Zuerst ist deshalb dem Verlag und seiner Lektorin Birgitta Zeller zu danken, die nicht nur geduldig gewartet und alle Metamorphosen der Konzeption akzeptiert, sondern den Fortgang der Arbeit auch kritisch begleitet haben. Die Studenten meiner Oberseminare in Regensburg, Bayreuth und Köln haben viel zur Fundierung des Buches beigetragen, indem sie sich den Diskussionen über Probleme stellten, die nicht immer dem Hauptstrom der literaturwissenschaftlichen Moden folgten. Manfred Koch in Gießen hat die ersten Kapitel gelesen und Anregungen gegeben, die hoffentlich auf fruchtbaren Boden gefallen sind. An der Redaktion haben meine Kölner Hilfskräfte in verschiedenen Phasen wesentlich mitgewirkt: Barbara Kierdorf hat die ersten Kapitel redigiert, Thomas Suppes und in der Endphase auch

4 Anne Pascual haben Korrektur gelesen und verloren gegangene Fußnoten gesucht. Christiane Bittis schließlich hat den Text in seiner Gesamtheit redigiert, die Druckvorlage in mühevoller Kleinarbeit erstellt und das Namenregister angefertigt. Und nicht zuletzt hat meine Familie den Hintergrundkonsens fiir die Arbeit bereitgestellt. Natürlich ist das Buch trotz aller Hilfe, die ihm zuteil wurde, wieder nicht das geworden, was es hätte werden sollen. Deshalb sei am Schluß Lessing aus einem nachgelassenen Text angeführt: »Befriedigen mich meine Gedanken am Ende: so zerreiße ich das Papier. Befriedigen sie mich nicht: so lasse ich es drucken.« Seybothenreuth/Köln, im Frühjahr 1998

Erstes Kapitel Wort, Sinn und Macht: Theorie- und Sozialgeschichte der Hermeneutik in der Frühen Neuzeit

Texte verstehen sich nicht von selbst; Texte müssen verstanden werden. Auch wenn diese Einsicht heute nicht mehr ganz unumstritten ist, so bildet sie weiterhin das Fundament für den größten Teil literaturwissenschaftlicher Arbeit. Warum das aber so ist, warum Texte interpretiert werden können, dürfen oder gar müssen, ist eine Frage, mit deren Beantwortung sich die damit befaßten Wissenschaften schwer tun. Schließlich ist es nicht selbstverständlich, daß Texte notorisch doppel- oder gar mehrsinnig sind. Der Sprachgebrauch in der Alltagswelt beruht ganz im Gegenteil darauf, daß das Gesagte und das Gemeinte nicht allzuweit auseinanderfallen. Eine alte theoriegeschichtliche Tradition besteht jedoch darauf, daß bestimmte Textarten oder alle Texte, möglicherweise sogar jede sprachliche Äußerung mehrdeutig und deshalb interpretationsbedürftig sind. Wenn die Literaturwissenschaft sich diese Annahme im zunehmenden Maße zu eigen gemacht hat, dann tritt sie damit ein Erbe an, das nicht ihrem eigenen historischen Problembestand entspringt. Entstanden ist das Bedürfnis nach einer Interpretation von Texten in anderen Bereichen, und es verdankt sich Entwicklungen, die nicht ausschließlich solche der Theorie- und der Wissenschaftsgeschichte sind. Die Problemgeschichte der Interpretation wird greifbar in der Theoriegeschichte der Hermeneutik. Deren Anfänge liegen in der Antike. Piatons Ion mag einer der ersten Texte gewesen sein, die das hermeneutische Problem thematisierten, wenn Piaton dem Dichter die Aufgabe stellt, den Menschen die Aussagen Gottes zu übermitteln. Systematische Darlegungen zur Hermeneutik finden sich bei Aristoteles, der in seiner Schrift Peri tës hermaieias aber eher eine Theorie der Aussage als eine der Auslegung gibt. Schließlich lassen sich neben diesen frühen Ansätzen einer hermeneutischen Theoriegeschichte in der Spätantike Spuren einer systematisierten hermeneutischen Praxis feststellen, die ihre Leitgedanken von Aristoteles übernimmt. Sie entsteht aus dem Bedürfnis, in den homerischen Schriften einen mythischen Gehalt aufzuspüren. Die Homer-Deutung gewinnt deshalb spätestens seit dem ersten Jahrhundert vor der Zeitenwende eine quasi-theologische Dimension: Textstellen Homers werden in systematischer Absicht zusammengestellt, um aus ihnen Regeln für die praktische Gestaltung des Lebens abzuleiten.1 Aber von der antiken Auslegungskunst führt kein direkter Weg zur neuzeitlichen Hermeneutik, der sich ihre eigenen Schwierigkeiten erst viel später stellen 1

Vgl. Wehrli, Zur Geschichte der allegorischen Deutung Homers im Altertum, S. 95; Friedrich, (Art.) Allegorische Interpretation, S. 19.

6 und die zu selbständigen Problemlösungen kommen muß. Die frühesten Ansätze hermeneutischen Denkens in der nachantiken Zeit finden sich in der christlichen Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, wie sie die >Kirchenväter< des dritten und vierten Jahrhunderts entwickelt haben.2 Origines gilt als der erste, der eine hermeneutische Systematik als eine auf die Bibel bezogene Auslegungswissenschaft begründet hat. Mit seiner Lehre vom mehrfachen Schriftsinn wird jenseits aller theologischen Subtilitäten die klassische Problemstellung der Hermeneutik erfaßt. Sie geht von der Einsicht aus, daß die wörtliche Aussage eines Textes nicht mit seinem Sinn zusammenfallen muß. Diese Grundannahme hat in den theologischen Diskussionen der Zeit mannigfache Variationen erfahren. In ihrem Kern jedoch hat sich die Auffassung, die zwischen Text und Sinn unterscheidet, als das eigentliche Aufgabengebiet der Hermeneutik fest etablieren können.3 Dazu hat wesentlich Augustinus beigetragen. Er wird zum Wegbereiter der abendländischen nachantiken Hermeneutik; De doctrina Christiana wurde das »geschichtlich wirksamste Werk« der Hermeneutikgeschichte.4 Die mittelalterliche Tradition hat an die Hermeneutik der Kirchenväter angeknüpft. Es ist umstritten geblieben, ob das Mittelalter überhaupt einen eigenen Beitrag zur Hermeneutikgeschichte geliefert hat oder ob es nicht vielmehr Probleme aufwirft, die mit der >Hermeneutik< im engeren Sinne nur wenig gemein haben, da es ihm um das Verstehen von Texten nur in zweiter Linie, in erster Linie hingegen um die Auslegung von >Welt< ging. Unverkennbar ist indes die Tatsache, daß die mittelalterliche Literatur und Theologie Fragen diskutiert, die als >hermeneutische< verstanden werden können. Für alle europäischen Literaturen des Mittelalters ist festzustellen, daß sie nach dem Sinn der Welt und seiner Repräsentation durch das Wort fragen.5 Es läßt sich deshalb eine mittelalterliche Hermeneutik rekonstruieren, in der die Grundmotive der christlichen Hermeneutik wiederkehren. Das mittelalterliche Literaturverständnis lehnt sich an theologische Vorgaben auch dort an, wo es um das Verständnis von Texten ohne explizit theologischen Anspruch geht. Die Literatur des Mittelalters versteht sich aus heilsgeschichtlichen Bezügen heraus, die den Texten einen mehrfachen, auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Sinn vermitteln. Dazu gehört eine spezifische Auffassung von Sprache, der wiederum ein spezifisches Weltverständnis zugrunde liegt. Ihre Fundamente hat diese Auffassung wohl in der Zeichenlehre von Augustinus mit ihrer Differenzierung von Zeichen erster und zweiter Ordnung.6 Der Gedanke, daß mit sprachlichen Zeichen auf die Wirklichkeit verwiesen wird, ist eine Standardtheorie jeder Sprachauffassung bis in die Moderne,

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4 5 6

Vgl. Pépin/Hoheisel, (Art.) Hermeneutik, Sp. 753-757. Vgl. die von Eusebius Hieronymus bis Dante reichende Dokumentation von Quellenauszügen bei Garin, Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik I, S. 257-282. - Zu Origines und zur Frühgeschichte der christlichen Hermeneutik vgl. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 36-42; Ebeling, (Art.) Hermeneutik, Sp. 245-251. Ebeling, (Art.) Hermeneutik, Sp. 249. Vgl. Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 2. Vgl. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 25.

7 nicht jedoch die Vorstellung, daß die Wirklichkeit selbst zeichenhañen Charakter hat. Auf dieser doppelten Zeichenreihe baut die profane mittelalterliche Literatur auf. Sie erfordert - zumindest der Idee nach - immer eine hermeneutische Anstrengung, welche die erste Ordnung der Zeichen in die zweite übersetzt: dem wörtlichen Sinn ist ein theologischer als heilsgeschichtlicher zu unterstellen; erst mit dieser Anstrengung wird die eigentliche, nämlich heilsgeschichtliche >Wahrheit< des Textes erschließbar. Diese Auffassung hat sich im Mittelalter durchgesetzt und wird im 12. Jahrhundert zum Allgemeingut des Schriftverständnisses. 7 Sie hat den theoriegeschichtlichen Horizont der hermeneutischen Entwicklung entscheidend geprägt, da sie das Prinzip der Wirklichkeitsbezogenheit von Texten aufstellt. Mit der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn wird unmittelbar nur die Frage nach dem Zusammenhang von wörtlicher Aussage und Bedeutung angesprochen. Zum lösungsbedürftigen Problem wird diese Diskrepanz indes erst durch den normativen, auf die Lebenspraxis bezogenen Anspruch der Texte. Nicht das Auseinanderfallen von Sinn und Bedeutung ist die hermeneutische Herausforderung, sondern das Auseinanderfallen von Text und Wirklichkeit. Die heilsgeschichtliche Interpretation von Texten betrifft die Lebensführung unmittelbar; die Textauslegung ist deshalb zur Eindeutigkeit aufgefordert, weil sie immer als »Weisung für das Leben« verstanden werden muß.8 Dieser Schwierigkeit muß die mittelalterliche Hermeneutik methodisch gerecht werden. Das Verstehen der Texte wird unterstützt durch technische Regeln sowie durch Realenzyklopädien und Wörterbücher, die den heilsgeschichtlichen Sinngehalt der >res< auflisten.9 Der Wunsch nach Eindeutigkeit der Auslegung scheint aber selbst mit diesem aufwendigen Instrumentarium nicht erfüllbar gewesen zu sein. Bereits die mittelalterliche Hermeneutik sieht sich mit der Problemlage konfrontiert, die die moderne bis heute beschäftigt: Sobald die Ebene des wörtlichen Sinnes verlassen wird, erweist sich die Bedeutungssuche als unscharf; es ist stets mit einem mehrfachen Schriftsinn zu rechnen. Das Wort Gottes entzieht sich dem endgültigen menschlichen Verständnis, so daß am Ende des Mittelalters die Deutungen die Bedeutungen zu überwuchern beginnen.10 Die Voraussetzung, daß in der Literatur Sinn vermittelt werden könne oder müsse, ist im Hochmittelalter nicht mehr zwingend an eine theologische Argumentation gebunden. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts gibt Gottfried von Straßburg diesem Gedanken eine säkulare Wendung. Die Unterscheidung von >wort< und >sin< wird untheologisch gefaßt. Das Wort verweist nicht mehr auf einen jenseits der Welt oder auch nur jenseits des Textes liegenden Sinn, sondern das Wort ist fur den Sinn unmittelbar durchsichtig, der Dichter konstituiert seinen Sinn selbst - ein Vorgang, der im engen Zusammenhang steht mit der Realisierung des Fiktionalitätsprinzips in Gottfrieds Tristan, das den Weg in neuzeitliche 7 8 9

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Vgl. ebd., S. 272; Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 4f. Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 17. Vgl. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 74-86; S. 238-243; auch Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 21-24. Vgl. Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter, S. 248f.

8 Dichtungsauffassungen weist." Die ästhetische Sinngebung wird nach ihrer vorsichtigen Lösung von heilsgeschichtlichen Verweisungszusammenhängen in anderer Weise fiinktionalisierbar; die Technik der Allegorese läßt sich in den »Dienst höfischer Sinngebung« stellen, in der auch materielle Gegenstände Bedeutungsträger werden können.12 Die Lehre von der doppelten Zeichenreihe und die aus ihr abgeleitete Sprach-, Literatur- und Weltauffassung hat weite Bereiche der mittelalterlichen Literatur geprägt; das Bedürfnis nach einer geregelten Auslegung ergibt sich aus ihr. Gegen die Annahme einer mittelalterlichen Hermeneutik wurde der Einwand erhoben, daß sie »kein begriffsscharfes, in sich stimmiges System« sei, »sondern vielmehr ein Konglomerat von einzelnen über die Jahrhunderte weitergereichten Beobachtungen, Tips, Warnungen, Mißverständnissen«." Es ist aber unübersehbar, daß die mittelalterliche Literatur von hermeneutischen Fragestellungen durchtränkt ist. Nicht minder deutlich ist, daß von der mittelalterlichen Hermeneutik-Auffassung kein direkter Weg zu späteren Konzeptionen fuhrt. Zwar wird im Mittelalter der für das hermeneutische Problem grundlegende Dualismus von Wort und Sinn nicht nur gesehen, sondern geradezu zu einer Fundamentalkategorie des Schriftverständnisses erhoben, aber die im mittelalterlichen Weltverständnis verankerten Voraussetzungen dafür sind so spezifisch, daß sie in einer säkularisierten Neuzeit keinen Bestand haben konnten. Erst mit dem Beginn der Neuzeit kann von einer kontinuierlichen und systematisch entwickelten Theoriegeschichte der Hermeneutik die Rede sein; erst seit der Renaissance und speziell der Reformation werden Denkmodelle herausgearbeitet, die als Vorläufer einer modernen Auffassung des Auslegens von Schriften gelten können. Der Übergang von der mittelalterlichen Allegorese zur neuzeitlichen Hermeneutik vollzog sich keinesfalls als abrupter Bruch. Er ist eher geprägt von Kontinuitäten, die sich bis ins 17., teilweise sogar ins 18. Jahrhundert hinein verfolgen lassen. Die neuzeitliche Hermeneutik greift die wesentlichen Elemente der Allegorese auf, aber sie verschiebt und verändert sie bis zur völligen Umkehrung ihrer ursprünglichen Intentionen. Diese Umkehrung ist Resultat jener Entwicklungen, in deren Verlauf sich die europäische Neuzeit konstituiert. Die Neubestimmung des Weltbildes und des Selbstverständnisses der neuzeitlichen Kultur stehen im engsten Zusammenhang mit der Entwicklung von hermeneutischen Theorien im weitesten Sinn: Die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens nicht nur von Texten, sondern von kultureller und natürlicher Wirklichkeit wird zum konstituierenden Merkmal der neuzeitlichen Kultur, durch das sich diese selbst definiert. Im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Frühen Neuzeit haben sich die Voraussetzungen für das Verstehen geändert. Der langwierige Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, der Buchdruck und die Reformation mar" 12

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Vgl. Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, S. 219-227; Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 26f. Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, S. 191. - Vgl. Wandhoff, Der epische Blick, S. 59-61. Michel, (Rez.) Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 520.

9 kieren in ihrer Gesamtheit einen epochalen Umbruch in den Kommunikationsverhältnissen, auf den die Hermeneutik reagiert. Die Bedeutung des frühesten dieser Prozesse läßt sich erst auf der Grundlage neuerer Forschungen zu mittelalterlichen Kommunikationsformen ersehen. Aus ihnen wird deutlich, daß der Weg vom Mittelalter zur Neuzeit nicht einfach vom Manuskript zum gedruckten Buch führte - eine Entwicklung, die als solche gewichtig genug gewesen wäre und die schon hinlänglich gewürdigt wurde. Hinter diesem Übergang von einem Medium zu einem anderen verbirgt sich aber ein Wandel der Kommunikationsformen, der mit einem Wandel sozialer, wenn nicht anthropologischer Voraussetzungen verbunden ist. Er ging dem Buchdruck voran und schuf wesentliche seiner Voraussetzungen. Der Buchdruck steht erst am Ende einer Entwicklung, die zu einer Einmedialität mit der Dominanz des geschriebenen Wortes durch die »Verbalisierung der verschiedensten Wissensbereiche« gefuhrt hat.14 Die neuere mediävistische Forschung hat herausarbeiten können, daß in der mittelalterlichen Kommunikation eine solche Dominanz noch nicht gegeben war.15 Auch wenn die Quellenlage dieser Forschung dilemmatisch ist, da sie sich überwiegend auf schriftliche Überlieferungen stützen muß, hat sie in den überlieferten Texten hinreichend Spuren identifizieren können, die darauf verweisen, daß mittelalterliche Kommunikation von einer Medienpluralität geprägt war - ein »großer Teil des sozial relevanten Wissens« wird »weitgehend unabhängig von der gesprochenen Sprache verarbeitet«.16 Ihr zentrales Moment ist der in anderen Kulturen schon vielfach erforschte Dualismus von Mündlichkeit - oder, noch weitergehend, »Aufführung« - und Schriftlichkeit. Es scheint ein typisches Moment der Kulturentwicklung zu sein, daß sie den Weg von der Oralität zur Literalität nimmt wenn auch die modernen Gesellschaften wieder einen Weg zu einer »sekundären« Oralität gehen, die am Ende der >Gutenberg-Galaxis< steht und durch moderne Medien ermöglicht, vielleicht auch erzwungen wird.17 Unter dieser kulturhistorischen Perspektive lassen sich die mittelalterlichen Kommunikationsformen als eine Übergangserscheinung qualifizieren, die sich am »Paradox einer schriftlich konzipierten Literatur für eine weitgehend schriftlos lebende Adelsgesellschaft« festmachen läßt. 1 ' Die Kommunikationspraxis ist diesem Paradox dadurch begegnet, daß sie sich mehrerer Medien bedient. Der >Schrift< steht die >Auffuhrung< nicht gegenüber, sondern sie wird durch diese ergänzt. »Hören und Sehen, Schrift und Bild« gehören zusammen - neben der »Rede« und der »Schrift« steht das »weite Repertoire von nonverbalen Zeichen«.19 Das durch Differenz wie Integration bestimmte Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit prägt die weitere Entwicklung der Kommunikationsformen, die sich über Jahrhunderte hinweg vollzogen hat und die im 14. Jahrhun14 15

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Wandhoff, Der epische Blick, S. 53. Vgl. Müller, Vorbemerkung, S. XIVf. - Zur Forschungslage Bumke, Höfische Kultur, S. 477-492. Wandhoff, Der epische Blick, S. 65. Ong, Orality and Literacy, S. 135-138. Bumke, Höfische Kultur, S. 486. Wenzel, Hören und Sehen, S. 12; S. 10.

10 dert noch nicht abgeschlossen war.20 Mit der langwierigen Ablösung der M ü n d lichkeit durch die >Schriftlichkeit< geht ein tiefgreifender Wandel der Kommunikationsformen einher. Denn die >Mündlichkeit< erscheint bei genauerer Betrachtung als eine multimediale Form »körpergebundener Kommunikation«. 21 Sie findet ihre Ausdrucksmittel jenseits der verbalen Sprache in einer »Körpersprache« ebenso wie in einer Sprache der Symbolik alltäglicher Lebensformen. In der »Adelsgesellschaft des hohen Mittelalters« erfolgte »Sinngebung nicht durch abstrakte Zeichen (Buchstaben), sondern direkt und sinnlich: durch das Mittel der Stimme, durch die Sprache des Körpers und durch visuelle Signale.«22 Horst Wenzel hat die Entwicklung beschrieben, indem er die Rolle der Schrift in der höfischen Kultur des Mittelalters untersuchte. Er kann zeigen, daß die höfische Kultur in den Formen ihrer Selbstverständigung wie der »Statusrepräsentation« sich neben der mündlichen und körpergebundenen Kommunikation zunehmend der >Schrift< bediente, weil sie Leistungen erbringt, welche der körpergebundenen Kommunikation nicht möglich sind: »Die Nutzung der Schrift ermöglicht, mehr zu sehen als das Auge es erlaubt und weiter zu hören als die eigenen Ohren es leisten können, teilzuhaben an Situationen und Gegebenheiten, die die körperlichen Möglichkeiten übersteigen. Die Literatur schafft eigene Erfahrungsräume, die nur in der Vorstellung leben, aber nicht im Moment der Erfahrung selbst raumzeitlich und körperlich-sinnlich verankert sind.«23 Als ein Übergangsphänomen in der mittelalterlichen Literatur läßt sich die Hineinnahme des >Körpers< in die Schrift verstehen. Die Texte beschreiben sich selbst noch in einer Körpermetaphorik; sie entwickeln zudem Strategien verbaler oder poetischer »Visualisierung« - es vollzieht sich, nicht nur in der >poetischen< Literatur, eine »Rückbindung der Schrift an die Kommunikation der Körper«.24 Die weitere Entwicklung der Schriftlichkeit fuhrt von diesen Restbeständen an Körpergebundenheit weg mit weitreichenden Folgen für das >Problem der Interpretation: »Entörtlichung und Entzeitlichung bewirken eine Entkontextualisierung [...]. Damit entfällt die semantische Bedeutung des sozialen Umfeldes für das Verstehen der Informationen.«25 Eine vage Ahnung von diesen Zusammenhängen bezeugt in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Hermeneutiker Chladenius, wenn er der gesprochenen Rede im Unterschied zum geschriebenen Wort bescheinigt, daß sie in der Regel nicht auslegungsbedürftig sei.26 Auch der >Autor< verliert im Zuge des Kontextverlusts seine Autorität. Während im mündlichen Vortrag das produzierende Subjekt erkennbar bleibt und die »Garantie fur Wahrheit und Verbindlichkeit des Texts« übernehmen kann, gewinnt der Text im Zuge seiner Ablösung vom vortragenden

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Vgl. ebd., S. 269. Wandhoff/Wenzel, Literatur vor und nach Gutenberg, S. 27. Bumke, Höfische Kultur, S. 278. Wenzel, Hören und Sehen, S. 196. Ebd., S. 12. - Vgl. Müller, Vorbemerkung, S. XV. Wenzel, Hören und Sehen, S. 197 - Vgl. auch Gellner, Pflug, Schwert und Buch, S. 82. Vgl. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, S. 158f.

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Subjekt an Autonomie; zugleich steigern sich die Verstehens-Anforderungen an den Leser. Die Entkontextualisierung des Textes fuhrt zu einem Lesertypus, der die Fähigkeit entwickeln muß, unter Verzicht auf die körpergebundenen Kommunikationsformen nur noch im Rückgriff auf das Wort den Sinn zu erkennen schon unter diesen »vortechnischen Bedingungen« bewährt sich die Einsicht, daß »jener Leser, der Bedeutungen überhaupt erst generieren soll, hat selber generiert werden müssen.«28 Die Abstraktifizierung der Kommunikation durch die Schrift bringt spezifische Verlusterfahrungen hervor: »Die Schrift erkauft ihre Reichweite um den Preis geringerer Identifikationskapazität.«29 Analog dazu hat die neuzeitliche Erkenntnistheorie ihren Begriff des >Subjekts< entwickelt hat. Sie formuliert das Ideal >reiner ErkenntnisNeuheit< als Kriterium für die soziale Akzeptanz von Informationen gehört zum Signum des >Wissens< in der Neuzeit. Dieses Kriterium ist nicht durch den Buchdruck allein hervorgebracht worden, aber er baut darauf auf und setzt es durch. Die Neuheit ist die eine Voraussetzung für die Verwissenschaftlichung der Information im neuzeitlichen Sinne; die zweite betrifft den Typus des Wissens. Ältere Formen des Wissens, die sich unter dem Begriff der meist theologischen >Weisheit< fassen lassen, werden verdrängt. Die Wahrheit des neuzeitlichen Wissens hat eine andere Struktur als die Weisheit: Sie ist an Sichtbarkeit gebunden und fordert Mitteilbarkeit durch die Schrift.38 Damit ist der Weg für eine Profanisierung des in Büchern enthaltenen Wissens bereitet. Das gilt im unmittelbaren Sinn des Wortes: Wissen wird >profan< insofern, als es auf praktische, soziale oder politische Nützlichkeit ausgerichtet wird. 3 ' Zugleich wird das Wissen in einer Form dargeboten, welche neue Techniken des Lesens ermöglicht und erfordert. Sie entstehen nicht erst durch den Buchdruck. Der Umgang mit Büchern ist in Jahrhunderten entwickelt worden und hat bereits ausgereifte Lesetechniken hervorgebracht, denn das Lesen von Büchern überhaupt - nicht nur von gedruckten Büchern - stellt hohe intellektuelle und soziale Anforderungen an den Leser, die nicht in jener kurzen Spanne erworben werden konnten, in der der Buchdruck sich durchsetzte. Die historische Entwicklung der Fähigkeit, mit Büchern umgehen zu können, wurde von Ivan Illich beschrieben; er zeigt, daß um 1150, dreihundert Jahre vor der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, sich jene bahnbrechenden Neuerungen in der Technik der Buchherstellung wie auch des Lesens vollzogen haben, die die europäische Neuzeit als >Buchkultur< hervorbrachten. Diese Neuerungen machten es möglich, sich den »Text als etwas von der physischen Realität der Buchseite Losgelöstes vorzustellen«:40 »Aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende.«41 Diese Entwicklung lie36 37 38 39 40 41

McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis, S. 275. Vgl. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 425-433. Vgl. ebd., S. 586-590. Vgl. ebd., S. 514-552. Illich, Im Weinberg des Textes, S. 11. Ebd., S. 9

14 ße sich auch ablesen an der Geschichte des >lauten LesensLesen< als >Hören< gedacht und praktiziert wurde. Auch wenn es nicht notwendig - aber häufig - als Vorlesen durchgeführt wurde, so folgte die Lesegeschwindigkeit doch der des gesprochenen Wortes. Erst der Buchdruck erlaubte, förderte und forderte schließlich das stille Lesen als eine neue Kulturtechnik: »Durch den Buchdruck wurde das Auge beschleunigt, und die Stimme verstummte.«45 Die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen nimmt eine neue Gestalt an, die eine Umorganisation des Zusammenspiels der Sinne zur Folge hat. Sie wird umgestellt von der Dominanz einer auditiv-taktilen zu einer visuellen Wahrnehmungsform: das Auge dominiert in allen Bereichen über das Ohr und den Tastsinn; das bedeutet, daß Informationen zunehmend durch die Schrift - über Bücher - aufgenommen werden.46 Die typographische Vereinheitlichung des Schriftbildes erlaubt eine Beschleunigung des Lesens; die massenhafte Verbreitung des Buches machte das Vorlesen zu Unterrichtszwecken überflüssig, beide Vorgänge fuhren zu einer Individualisierung der Lektüre. Anders als der erste Eindruck es erscheinen lassen mag, ist das stille Lesen in seiner Entstehungsphase nicht kontemplativ strukturiert. Es dient der beschleunigten Aufnahme von Informationen und fordert die Individualisierung und Autonomisierung des Lernens.47 Die intensive Lektüre von immer gleichen, in der Regel sakralen Texten ist ein Phänomen, das erst spä-

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Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 113; vgl. auch den Kontext S. 99-122. McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis, S. 222. - Vgl. Ong, Orality and Literacy, S. 126. McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis, S. 216. Ebd., S. 64; vgl. S. 117-122. Vgl. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 574. Vgl. ebd., S. 522-527; S. 683-687.

15 ter auftritt und dann durch die extensive Lektüre des Aufklärungszeitalters wieder abgelöst wird.48 Durch den Buchdruck ändert sich der Inhalt der in Bücher aufgenommenen Informationen ebenso wie die Art der Informationsaufnahme. Zugleich bewirkt die Veränderung der Distributionsform neue Verhaltensformen bei Autoren und Lesern, die in einem paradoxen Verhältnis zu den Prinzipien der Neuheit des Inhalts und der Individualisierung der Lektüre stehen. Die durch den Buchdruck hervorgebrachte Form der Schriftkultur ist gekennzeichnet durch die anonyme Massenhaftigkeit der Verbreitung von in jeder Hinsicht identischen Exemplaren ein und desselben Textes. Die neuen Inhalte verlieren ihre Singularität; in eins damit wird der individualisierte Leser aus der Perspektive des Autors zum Teil einer diffusen Masse: Der Schreiber kann kein bestimmtes Publikum mehr anvisieren; er »produzierte fur den anonymen Käufer eines freien Marktes.«4® Jeder kann Bücher potentiell zum Druck geben und sie erwerben; tatsächlich bedeutet der Buchdruck eine unkontrollierte Ausweitung des Lesepublikums über den Kreis der christlichen und humanistischen Gelehrten hinaus.50 Durch den Buchdruck nimmt die Produktion von neuen Informationen ebenso unkontrollierbar zu, wie ihre Verbreitung unüberschaubar wird. Die Entscheidung darüber, welche Informationen verbreitet werden, kann nicht, mehr von bestimmten Institutionen gefällt und durchgesetzt werden. Nach der Erfindung des Buchdrucks wird diese Entscheidungsmacht sozialisiert; über die Verbreitung von Informationen entscheidet im zunehmenden Maße der Markt und der öffentliche Meinungsstreit.51 Während das Lesen durch den Buchdruck also einerseits individualisiert wird, sich vom >Hören< in jeder Beziehung löst und so erst zu einer selbständigen Kulturtechnik wird, wird es zugleich generalisiert: jeder Leser kann damit rechnen, daß er nicht mehr alleiniger Leser dieses einen individuellen Buches ist; exakt der gleiche Text liegt einer anonymen Menge anderer Leser vor. Die Uniformierung der Bücher und die Anonymisierung der Leser bedeutet die zweite Herausforderung für die Hermeneutik der Neuzeit nach der Ablösung der Mündlichkeit durch die Schriftlichkeit: Wenn sich verschiedene Leser mit unterschiedlichen Sozialisations- und Bildungsvoraussetzungen mit Texten beschäftigen, die überall in identischer Gestalt vorliegen, dann verursacht das einen Regelungsbedarf. Wie die Bücher, so müssen die Leser uniformiert werden; es muß sichergestellt werden, daß sie das gleiche Buch in der gleichen Weise lesen und möglichst verstehen. Der einsame Leser und Schreiber, der gedruckte Bü-

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Vgl. Engelsing, Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit, S. 121-151. - Dieses Standardmodell der historischen Leseforschung bedarf selbstverständlich sozialer und geographischer Differenzierungen; vgl. dazu Schlieben-Lange, Zu einer Geschichte des Lesens (und Schreibens), S. 255-263. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 68. Vgl. ebd., S. 171-175. Vgl. ebd., S. 185f.

16 cher liest oder Bücher für den Druck vorbereitet, muß vergesellschaftet werden, denn seine individuelle Tätigkeit ist ein sozialer Akt der Kommunikation.52 Darauf reagiert die Hermeneutik im zunehmenden Maße, ohne sich dies offensichtlich je bewußt gemacht zu haben - jedenfalls lassen die klassischen Texte der Hermeneutik im 16. und 17. Jahrhundert nichts davon erkennen, daß sie ausdrücklich auf die Herausforderung des Buchdrucks reagieren. Daß aber überhaupt eine systematische hermeneutische Theorie entsteht, ist als eine Reaktion auf den Buchdruck zu verstehen. Die neuzeitliche Hermeneutik gibt Regeln an, denen zu folgen obligatorisch sein soll und deren Befolgung das gleiche Verständnis des gleichen Buches bei verschiedenen Lesern sichert. Es entsteht die frühe Idee eines idealen Adressaten, der seiner individuellen Merkmale beraubt wird. Nicht ein bestimmter Leser oder Lesertyp wird anvisiert, sondern die »Öffentlichkeit« oder der »gemein man«, der nicht mehr als eine »biographische Persönlichkeit« gedacht werden kann." Die Buchkultur muß neue Steuerungsmechanismen des Verstehens generieren. Sie verläßt sich nicht nur auf den Markt und den öffentlichen Meinungsstreit, dessen Regularien und Institutionen ohnehin erst im 18. Jahrhundert ausgebildet wurden,54 sondern integriert Elemente der Leserlenkung in das gedruckte Buch. Dazu gehören insbesondere das Titelblatt und die Nennung eines Automamens, aber auch die Techniken der Katalogisierung und der Signierung, wodurch Bücher wieder re-individualisiert werden.55 Von der Umwälzung der Kommunikationsstrukturen durch den Buchdruck geht der entscheidende soziale Druck aus, der zur Herausbildung hermeneutischer Theorien führen muß. Die Theoriebildung bleibt aber für längere Zeit hinter den neuen sozialen Anforderungen des Verstehens zurück. Nur zögernd vollzieht sich die Umgestaltung mittelalterlicher Allegorese zur neuzeitlichen Hermeneutik, und es hat einige Zeit gedauert, bis sich eine klare Diskussion um die Prinzipien der Auslegungskunst herausbildete. Die Renaissance ist zwar eine eminent philologische, aber keine eigentlich hermeneutische Epoche. Das mag damit zusammenhängen, daß die >Humanisten< keinen rechten Zugang zur >Gutenberg-Galaxis< gefunden haben, da ihre Intentionen ebenso wie ihre Kommunikationspraktiken den Wirkungen des neuen Mediums diametral entgegengesetzt waren. Wenn sie sich seiner bedienten, so hatte dies den paradoxen Effekt, daß sie sich selbst damit obsolet machten: Der Druck der Klassiker bedeutete ihre endgültige Bestandssicherung, durch welche die weitere Tätigkeit humanistischer Gelehrter überflüssig wurde, zumal sie dem Kriterium innovativer Information nicht gerecht wurden.56 Es ist wohl kein Zufall, daß die bevorzugte Form der

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Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 581. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 404f. Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 41-55; die neuere Forschung hat freilich zeigen können, daß wesentliche publizistische Voraussetzungen von Öffentlichkeit bereits im 17. Jahrhundert etabliert wurden; vgl. gegen Habermas Weber, Deutsche Presse im Zeitalter des Barock, S. 137f. Vgl. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 420-425; Jochum, Kleine Bibliotheksgeschichte, S. 82-85; Ong, Orality and Literacy, S. 126f. Vgl. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 327f.

17 Kommunikation unter den Humanisten der persönliche Kontakt durch Reisen oder der Brief war und daß ihre Arbeitsform bestimmt war von der individuellen Versenkung in das singuläre Manuskript, nicht von der öffentlichen Diskussion auf dem Markt der Meinungen.57 Die Kultur der Renaissance und des Humanismus hat sich dem Druck zur Verständigung über die Prinzipien des Verstehens entzogen, aber sie bereitet den Boden für spätere Diskussionen insofern, als sie grundsätzlich die Frage nach dem Status der Sprache und des Wortes stellt. Während der Buchdruck neue soziale Voraussetzungen für das Verstehen hervorbrachte, schaffen die Diskussionen der Renaissance ihm einen neuen theoretischen Raum. Sie kommen dabei zu Ergebnissen, die eine hermeneutische Fragestellung erst ermöglichen. In der Renaissance öffnet sich der Blick für die historische Dimension der Sprache. Die vorhumanistische Philosophie ging von einem Primat des Seienden aus, der noch im >Universalienstreit< den Problemhorizont darstellt: Sprache wird aufgefaßt als gebunden an das Wesen der Dinge; sie ist »Aussage des Ewigen«,58 die Worte sind unabänderlich fixiert an das, was sie ausdrücken. Der Humanismus löst diese Auffassung auf, indem er mit dem »Problem des Wortes, und zwar des dichterischen Wortes«, einsetzt.59 Der Universalienstreit, der nicht zu Unrecht als eines der markanten Ereignisse in der Begründung neuzeitlichen Denkens und neuzeitlicher Weltauffassung begriffen werden kann, ist an der Neubewertung der Sprache ebenso beteiligt wie Francesco Petrarca, der dem Dichter gegenüber dem Theologen ein eigenes Recht einräumt. Für die spätere Zeit wird es selbstverständlich, daß unterschieden werden muß zwischen dem Wort und dem Wesen einer Sache. Erasmus hat sich diese Auffassung schon völlig zu eigen gemacht, wenn er die »Sprache von den Dingen trennte« und sie als »vom freien Willen des autonomen Menschen gesetzt« empfand. 60 Für die Entwicklung der Hermeneutik sind diese frühneuzeitlichen Diskussionen nicht ohne Bedeutung. Das Wort, das nicht mehr für sich spricht und nicht mehr untrennbar an die Sache gebunden ist, die es ausdrücken soll, verlangt nach Deutung, durch die es wieder Bedeutung erlangt. Auch wenn das >Problem der Interpretation! nicht aufgeworfen wird, so eröffnet sich in dieser Zeit doch sein Horizont. Denn die Durchsetzung des Nominalismus und die Freisetzung des Wortes in der Dichtungstheorie der Frührenaissance bedeuten eine Entwertung der Sprache, aus der die Notwendigkeit der Interpretation folgen wird. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts hat sich eine neue Auffassung der Sprache durchgesetzt. Sie verliert ihre transzendente Bindung und wird historisiert: »der Mensch findet sich allein mit sich und seiner Sprache; allein muß er seine Geschichte machen oder ertragen.«61 Die Bindung des Wortes an die Dichtung kann zugleich als Freisetzung seiner historischen Dimension verstanden werden, denn wie die Dichtung einem Wan57

Vgl. Haie, Die Kultur der Renaissance in Europa, S. 331 -336. Grassi, Einführung in philosophische Probleme des Humanismus, S. 20. - Zum >Universalienstreit< vgl. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 48-55. 5 ' Grassi, Einführung in philosophische Probleme des Humanismus, S. 25. 60 Borst, Der Turmbau von Babel III/l, S. 1087. 61 Ebd., S. 983. 58

IS del unterliegt, so auch das Wort, in dem sie sich ausdrückt. Damit rückt, nach den vagen Vorläufern in der Antike und in der Literatur des Hochmittelalters, die >Dichtung< erstmals in den Horizont des hermeneutischen Denkens, aus dem sie aber bald wieder für lange Zeit verschwinden wird. Die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn - die ohnehin schon als eine Verlegenheitslösung begriffen werden darf - wird zur Einbruchstelle, die das theologische System der Schriftauslegung auflöst. Eine solche Säkularisierung der Theorie vom mehrfachen Schriftsinn zeichnet sich bei Dante ab. Dante schließt ausdrücklich an die theologische Vorgabe an, läßt aber die Möglichkeit zu, auch weltliche Schriften gemäß dem vierfachen Schriftsinn zu verstehen. Sowohl der von ihm gewählte doppeldeutige Begriff der >scrittureapplicatioEntmythologisierung< setzt genau an dieser Frage an, ob sich das Auslegungspotential der biblischen Schriften im Zeitalter des modernen Rationalismus nicht erschöpft habe und ob nicht an Stelle der Auslegung der unmittelbare Glaube treten müsse.64

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Dante Alighieri, Das Gastmahl, S. 280f. - Zum zentralen Problem der Vieldeutigkeit bei Dante vgl. Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, S. 179-186. Edsman, (Art.) Allegorie I, Sp. 238. Vgl. Bultmann, Neues Testament und Mythologie, S. 14f.; S. 56-61.

19 Es ist für die Hermeneutikgeschichte von wesentlicher Bedeutung, eine Unterscheidung zu treffen zwischen literarischen und >dogmatischen< Schriften mit Praxisanspruch, Texten also, die »eine soziale, kulturelle oder auch technische Funktion besitzen«. Zu Texten dieser Art gehören vor allem heilige Schriften, daneben »Gesetze sowie >Klassiker< der Philosophie und der allgemeinen Literatur und Wissenschaften, die man als Mitglied einer Kulturgemeinschaft schlechthin kennen muß«.65 Auf solche Texte richtet sich die frühneuzeitliche Hermeneutik vornehmlich. Sie ist auch in der außertheologischen Diskussion ein Instrument der Dogmatik mit regulativen Ansprüchen gegenüber der Lebenspraxis. Genau das ist das Interesse, mit dem sich die Renaissance der Antike nähert. Es geht ihr nicht nur um eine beliebige Wiederentdeckung antiker Texte; sie sind vielmehr nur insoweit interessant, als sie mit einem Anspruch auf Verbindlichkeit auftreten.66 Diese Eigenschaft belastet die Auslegung solcher Texte mit einem sozialen Druck, der einer der Gründe dafür gewesen sein mag, daß immer subtilere Verfahren der Textauslegung entwickelt wurden. Dieses konstituierende Moment behält sie bei, als sie sich im Humanismus des 16. Jahrhunderts von einem exegetischen zu einem philologischen Verfahren wandelt. Erasmus wird als einer der Begründer moderner Philologie gerühmt. Auch fur ihn sind der dogmatische Gehalt der Texte und ihre Bezogenheit auf die Lebenspraxis die unhintergehbare Voraussetzung eines Textverständnisses. In seiner grundlegenden Methodenlehre Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram Theologiam, die ursprünglich nur als Einleitung zur Übersetzung des Neuen Testamentes gedacht war, dann aber zu einer selbständigen Schrift ausgeweitet und in dieser Form publiziert wurde, sind diese Voraussetzungen deutlich erkennbar. Einerseits formuliert er Grundsätze, die in den folgenden Jahrhunderten zum Kernbestand der Hermeneutik gehören werden; andererseits besteht sein eigentliches Interesse nicht im Verstehen der Schrift um des Verstehens willen, sondern in seinem Verständnis des Neuen Testaments als Anleitung zur christlichen Lebensführung. 67 Erst aus dieser praktischen Zielsetzung ergibt sich der Eindeutigkeitsbedarf, dessen Befriedigung die Auslegungsregeln versprechen. Die Widersprüche und Unklarheiten in der Bibel fordern zur Interpretation heraus. Sie dürfen nicht dazu fuhren, »an der Glaubwürdigkeit der Schrift zu zweifeln [...], sondern man wird alle Umstände erwägen und einen Weg fur die Erklärung der Schwierigkeit zu suchen haben«.68 Der Praxisprimat der theologischen Schriftauslegung mündet schließlich nicht in der Forderung des richtigen Verstehens, sondern in der nach dem richtigen Leben: Der Theologe drückt seine Lehre durch seine Lebenspraxis, nicht durch die Beweiskraft seiner Argumente aus.69

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Geldsetzer, Einleitung [zu Flacius Illyncus] [unpaginiert; S. 8 der Einleitung]. Vgl. Radiger, Die Wiederentdeckung der antiken Literatur im Zeitalter der Renaissance, S. 538f. Vgl. Erasmus, Theologische Methodenlehre, etwa S. 279/281. - Zu diesem Zentralmotiv des Humanismus vgl. Gerì, Einfuhrung in die Philosophie der Renaissance, S. 22f. Erasmus, Theologische Methodenlehre, S. 235. Vgl. ebd., S. 219; ähnlich S. 469.

20 Von Erasmus und den Humanisten gehen keine wesentlichen Anregungen fur die Entwicklung der modernen Hermeneutik aus. Die neuzeitliche Hermeneutik nimmt ihren unmittelbaren Ausgang von der Reformation; von deren treibenden Impulsen erhält sie ihre Gestalt und ihre fortwährende Wirkungskraft. Die Reformation ist ein hermeneutisches Ereignis ersten Ranges. Nicht von ungefähr, denn: Das »Wort wurde und blieb ihr wichtigstes Medium, am wichtigsten dort, wo es sich um die Beschäftigung mit dem konkreten biblischen Wort handelt.« 70 Mit dieser Charakteristik wird eine Wendung im hermeneutischen Denken bezeichnet, die sich zunächst als Selbstbeschränkung verstehen läßt. Gegenüber dem universalen Auslegungsanspruch der Allegorese weist die Beschränkung auf das >Wort< den Weg, dem die Theoriegeschichte der Hermeneutik weiter folgen wird. In der Besinnung auf ihr eigentliches Medium entfaltet die Hermeneutik seit Luther das Instrumentarium, das sich für die Lösung des Interpretationsproblems in der Zukunft als tauglich erweisen wird. Aber dennoch bedeutet diese Selbstbeschränkung keinesfalls, daß die über die Sprache hinausweisenden Bezüge der Hermeneutik abgeschnitten würden. Denn im Zuge ihrer Neubegründung durch Luther wird die Hermeneutik vom Instrument der Dogmatik zu einem Medium der Emanzipation. Bekanntlich ist die Reformation nicht nur ein theologisches Ereignis; sie hat weitreichende realgeschichtliche Folgen gezeitigt. In Luthers Hermeneutik treten diese politisch-sozialen Implikationen deutlich hervor. Es bewährt sich erneut die Einsicht, daß Hermeneutik nicht nur mit Auslegungs-, sondern gleichermaßen mit Anwendungsfragen befaßt ist - Theoriegeschichte und Sozialgeschichte sind ineinander verschränkt. In seiner zentralen Programmschrift An den Christlichen Adel deutscher Nation aus dem Jahre 1520 weist Luther der Frage nach der Berechtigung zur Auslegung der Schrift einen entscheidenden Stellenwert zu. Damit rückt die Hermeneutik - auch wenn sie unter diesem Namen nicht auftritt - in den Mittelpunkt der konfessionellen Auseinandersetzungen, die sich in den epochalen Konstellationen von Reformation und Gegenreformation historisch aktualisieren. Indem Luther dem Papst das Auslegungsmonopol bestreitet, legt er Hand an die Fundamente einer nicht nur religiösen Kultur, die ihr Selbstverständnis und ihre Legitimation aus der Auslegung der Bibel bezog. Luther ist sich der politischen Implikationen seiner Argumentation bewußt. Ihre berühmteste und durch die Vermittlung des Kirchengesangs bis in die Gegenwart wirkende Formulierung hat diese Einsicht in der Verszeile »Das wort sie sollen lassen stan« gefunden; sie steht im Kontext eines Liedes vom Ende der zwanziger Jahre, das die praktisch-politischen Implikationen anklingen läßt: Das Wort fuhrt unmittelbar zu Gott; und dieser ist eine »feste bürg,/ Ein gute wehr und waffen«. 71 Luthers Bibelinterpretation steht in einem politischen Zusammenhang. Die Bibel ist das Gesetzbuch, an dem das Verhalten der Geistlichkeit gemessen wer-

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Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, S. 997. Luther, Der xlvj. Psalm. Deus noster refugium et virtus (BJn feste bürg ist unser Gott), S. 455.

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den soll, und Luther wirft die Frage auf, wer fur die praxiswirksame Auslegung der Schrift zuständig sein soll: »hat man sie mit der heyligen schrifft wolt straffen, setzen sie da kegen, Es gepur die schrifft niemant ausztulegenn, denn dem Bapst«,72 wie es knapp zwei Jahrzehnte zuvor noch einmal ausdrücklich von der päpstlichen Bulle >unam sanctum< bekräftigt worden war. Luther benennt die Instanz, die das Auslegungsmonopol des Papstes ablösen soll: Die Gläubigen sollen sich nach ihrem eigenen »gleubigen vorstand der schrift richten.«73 Die soziale Sprengkraft dieser Forderung wurde von der Wirkungsgeschichte der Reformation erwiesen; die >Freiheit eines Christenmenschen< bewährt sich in seiner Fähigkeit zum individuellen Schriftverständnis.74 Diese Position reicht in das profane Denken der Reformationszeit hinein. In seinen 15 Bundsgenossen, die als einer der ersten deutschen utopischen Entwürfe gelten dürfen, hat Johann Eberlin von Günzburg die lutherische Schriftauffassung aufgegriffen und als Lebensanweisung formuliert: die »heilig geschrifft ist das schwaert des gaists/ do mit wir vnß alles jrsals muessen erweren«. Jeder Mensch ist deshalb zu ihrer Lektüre aufgefordert, und jedem wird zugesichert, daß er sie verstehen könne: »dann der geist christi, vß dem soliche ding beschriben sind/ würt on zwyfel byston allen denen, so solich geschrifft laesen mit guotem glouben/ durch innerliche insprechung oder durch vsserliche lere«.75 Die Durchsetzung dieser Position ist an die Voraussetzungen gebunden, welche der Buchdruck geschaffen hat. Schon die zeitgenössischen Diskussionen um die Erfindung des Buchdrucks sind von Anfang an mit der Frage befaßt, welche Auswirkungen er auf das Schriftverständnis haben wird. Er wird als >Geschenk Gottes* begriffen, durch das jeder zum selbständigen Lesen der Bibel befähigt werde. Die potentiell massenhafte Verbreitung eines Bibeltextes, der inhaltlich wie typographisch überall identisch ist, bildet die Grundlage fur die lutherische Theologie. Erst unter dieser Voraussetzung wird es Luther möglich, »nur die >Schrift< als Autorität und Verkündigungsmedium anzuerkennen.«76 Der Buchdruck macht den Vermittler zwischen Text und Leser potentiell entbehrlich; die gedruckte Bibel wird zur Konkurrenz des Priesters, ohne ihn freilich ganz zu ersetzen.77 In der traditionellen Kirche kam der Bibel als einem geschriebenen Buch eine nur untergeordnete Bedeutung zu. Die Verkündigung des göttlichen Wortes in der Kirche ist nicht zwingend auf die Verbreitung und Lektüre der Bibel verwiesen. Die Predigt, das Gebet oder die Liturgie können die gleiche Funktion wirkungsvoller und vor allem kontrollierbarer wahrnehmen. In der katholischen Kirche wurde die Lektüre der Bibel durch den Laien deshalb eher mit Skepsis betrachtet, bis hin zu dem Kuriosum, daß noch im 16. Jahrhundert in einer

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Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation, S. 406. - Vgl. dazu Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, S. 558f. Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation, S. 412. Vgl. Wach, Das Verstehen II, S. 49f. Eberlin von Günzburg, 15 Bundsgenossen, S. 164f. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 163. Vgl. ebd., S. 248-253.

22 Bibelübersetzung ausdrücklich von der Lektüre der Bibel abgeraten wird.78 Mit der volkssprachlichen Übersetzung der Bibel und ihrer Verbreitung durch den Druck kann sich das Wort Gottes von den theologischen Institutionen lösen und unabhängig von ihnen mitteilbar werden - zweifellos ein emanzipatorischer Impuls, der von Luther bewußt angestrebt und durch hermeneutische Überlegungen untermauert wurde. Der Verzicht auf ein Auslegungsmonopol und die Individualisierung des Schriftverständnisses setzt Prämissen voraus, die Luther kaum systematisch benennt, die er aber in polemischer Wendung gegen die hochartifiziell gewordene theologische Schriftauslegung wendet. Luther muß die Eindeutigkeit der Aussage ebenso wie die eindeutige Verständlichkeit der Schrift voraussetzen: »Es ist auff erden keyn klerer buch geschrieben denn die heyligen schrifft«.79 Diese Aussage fallt weniger in einem exegetischen denn in einem konfessionspolitischem Zusammenhang. Luther wendet sich ausdrücklich gegen die päpstliche Behauptung der Dunkelheit der Schrift, die eine kompetente Auslegung nötig mache, und er besteht drauf, daß jeder Gläubige zu einer solchen Auslegung fähig sei, weil die Schrift eben nicht »tunckel« ist. Bereits in der ersten Phase der Herausbildung seiner hermeneutisehen Position, die zwischen 1516 und 1519 anzusetzen ist, wird das Prinzip formuliert, das Luthers Hermeneutik von der der päpstlichen Kirche trennt: Es ist die »Preisgabe des vierfachen Schriftsinnes« und überhaupt jeder allegorischen Interpretation.80 Die subtile Lehre vom mehrfachen Schriftsinn erscheint ihm als »lauter dreck«. Ihm stellt er seine »letzte vnd beste kunst« gegenüber: den »sensus litteralis«, »der thuts, da ist leben, trost, krafft, lehr vnd kunst inen. Das ander ist narren werck, wie wol es hoch gleist.«81 Selbstverständlich weiß Luther, daß die Unterstellung eines eindeutigen Sinns eine Fiktion ist; die Diskussion darüber wird eins der Hauptprobleme der nachreformatorischen Hermeneutik bleiben.82 Auch die Heilige Schrift kann unklar oder mißverständlich sein, wie ihm aus seiner eigenen Übersetzungstätigkeit geläufig war. Angesichts praktischer Verständnisprobleme verläßt sich Luther konsequent auf den >Sinn< der Schrift, den er gegen den >Buchstaben< ausspielt. Im Sendbrief vom Dolmetschen polemisiert er gegen die »Buchstabilisten«, die nur Verwirrung stiften, weil sie den Sinn nicht erkannt haben, und er bringt zahllose Beispiele dafür, wie sich Sinn- gegen Buchstabenverstehen ausspielen läßt. Luther praktiziert damit ein Prinzip, das erst die spätere Hermeneutik theoretisch aufarbeiten wird, das aber grundsätzlich bereits vorher bekannt war: Nach dem Vorbild von Augustinus hatte schon das 12. Jahrhundert den Primat des geistigen Sinns vor dem möglicherweise unklaren, auf jeden Fall aber nur subsidiären Wortlaut herausgestellt.83 Wenn der Wortlaut den Sinn zu verstellen droht, ist diesem der Vorrang zu geben; genau diese Einsicht hebt Luther wieder hervor. 78 79 80 81 82 83

Vgl. Füssel, Luther und die »Biblia Deutsch«, S. 341. Luther, Der 36. (37.) Psalm Davids, S. 236. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, S. 175. Luther, Tischreden V, S. 45. Vgl. Wach, Das Verstehen II, S. 48-53. Vgl. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 273.

23 Freilich hat diese Auffassung ihre Schwierigkeiten. Luthers selbstverständliche Voraussetzung fur das Verstehen der Schrift war die Unterstellung, daß sie in allen ihren Teilen einen einheitlichen Sinn habe, so daß sich ohne weiteres das durch die Interpretation der paulinischen Schriften gewonnene Schriftverständnis auch in das Alte Testament projizieren ließe, womit er diesem »die schwerste Gewalt antut«, wie später kritisiert wurde.84 Das Vertrauen auf einen >Sinnhermeneutischen Zirkels< zu identifizieren, der das zu Verstehende immer als schon Verstandenes voraussetzen muß.85 Die Implikationen und Komplikationen dieses Verfahrens sind Luther freilich nicht bewußt. Einer theologischen Hermeneutik stellen sie sich nicht in der gleichen Weise wie einer philologischen oder philosophischen. Dem Theologen ist das Vertrauen auf die Möglichkeit, den >Sinn< eines Textes zu erfassen, grundsätzlich kein Problem, da diese Möglichkeit transzendent garantiert wird. Der besondere Charakter seines Gegenstandes - nämlich der Heiligen Schrift - führt die Auslegung weit über die Anwendung technischer Regeln hinaus. Die richtige Auslegung kann immer schon voraussetzen, was der Schrift vielleicht selbst nicht zu entnehmen ist: eine tiefere Anschauung, die dem wahren Christentum entspricht und die als religiöse Selbstgewißheit das Fundament und den Garant der Richtigkeit der Auslegung darstellte.86 Das geistliche Verständnis erscheint als göttliche Gnade: »Denn es mag niemand got noch gottes wort recht vorstehen, er habs denn on mittel von dem heyligen geyst.«87 Die Möglichkeit des >trügerischen Gottes< wird sich der Philosophie der Neuzeit erst später und in einem anderen Zusammenhang - nämlich bei Descartes und in der Erkenntnistheorie stellen. Indem die Auslegung der Schrift dem individuellen Verständnis zugewiesen wird, verliert der Text - gegen den Willen Luthers - de facto seine Eindeutigkeit, die ihm durch das Auslegungsmonopol einer mit sozialen Sanktionsmechanismen ausgestatteten Zentralinstanz gesichert worden war. Die weitere Entwicklung der theologischen Hermeneutik ist gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung zwischen den Tendenzen zur Freisetzung und zur Remonopolisierung der Schriftauslegung. Der Ausgangspunkt ist das Konzil von Trient, in dem die Gegenreformation ihren Anfang nahm. Der dogmatische Kerngehalt theologischhermeneutischer Bemühungen wird an diesem Wendepunkt der neuzeitlichen Kulturgeschichte in einer Schärfe fixiert, wie sie zuvor nicht erreicht wurde, weil sie nicht notwendig gewesen war: Das Konzil versucht 1546, das empirische Faktum der Mehrdeutigkeit heiliger Schriften durch den Rückgriff auf einen dogmatischen Geltungsanspruch der institutionalisierten Auslegungstradition zu bereinigen. Die Unsicherheiten der Schriftauslegung, die durch Luther nicht nur offenbar, sondern auch kirchenpolitisch virulent geworden waren, werden nach

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Holl, Luthers Bedeutung ftlr den Fortschritt der Auslegungskunst, S. 549. Vgl. ebd., S. 567. Vgl. ebd., S. 547; S. 565. Luther, Das Magnificat Vorteutschet und außgelegt, S. 546.

24 dem Postulat des Tridentinum durch die Tradition der Exegese beseitigt. Ihr wird der gleiche Stellenwert zugesprochen wie der Schrift selbst, die Tradition der Schriftauslegung füllt deren Lücken und beseitigt Uneindeutigkeiten.88 Die theoriegeschichtliche Bedeutung dieses kirchenpolitischen Vorgangs liegt darin, daß erstmals ein Aspekt der hermeneutischen Entwicklung zur Sichtbarkeit gebracht wird, der in der Regel verdeckt bleibt: Das Tridentinum zeigt nicht nur die geheime Verbindung, in der Auslegungs- und Machtfragen stehen; vor allem macht es die Rolle deutlich, welche die in Institutionen geronnene Tradition bei Auslegungsfragen spielt - ein Zusammenhang, der bis in die Literaturwissenschaft der Gegenwart hinein eine weithin unerkannte Wirkung entfaltet. Das Tridentinum fixiert den Primat der katholischen Kirche und ihrer Lehrmeinung als Institution. Sie wird in ihrer Funktion als textexterne Auslegungsinstanz bestätigt, durch die allein die Eindeutigkeit von Texten gesichert werden kann. Zugleich wurde überhaupt erst verbindlich festgelegt, was als >Heilige Schrift< in der katholischen Kirche gelten solle. Das Konzil erstellte aus der Fülle der biblischen Überlieferung einen Kanon von Schriften, denen gleicher Rang zugesprochen wurde, und fixierte zugleich die Vulgata als die einzige legitime Bibelübersetzung." Das Tridentinum ist in hermeneutikgeschichtlicher Sicht ein Akt der Gegenreformation, dessen Positionen sich aber außerhalb der katholischen Kirche nicht durchsetzten. Luther hatte der Hermeneutik einen neuen Weg eröffnet, ihr damit aber zugleich prinzipiell neue Probleme gestellt. Seine Umkehrung des traditionellen Exegeseprinzips, die an die Stelle der Auslegungstradition das >Schriftprinzip< stellt, wirft die Frage nach der Instanz auf, die das richtige Verständnis der Schrift sichern kann. Hier ist Luther kaum weitergekommen. Er mußte bei dem Postulat stehen bleiben, daß sich die Schrift selbst auslege und grundsätzliche Verständnisschwierigkeiten gar nicht erst aufwerfe. Daß diese Position weder der Sache nach haltbar noch in den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen tragfahig ist, hat sich bald gezeigt. Aus dieser Einsicht heraus folgen die ersten neuzeitlichen Bemühungen, eine methodisch fundierte und regelgeleitete Hermeneutik zu entwerfen - ein Vorgang, der von der Gegenreformation als Argument benutzt werden konnte: Es stellt sich in der Tat die Frage, warum es der Auslegungsregeln und -methoden bedarf, wenn die >perspicuitasRichtigkeit< der kirchlich-theologischen Schriftauslegung mit ihrem dogmatischen Verbindlichkeitsanspruch neu auf, indem er die reformatorischen Ideen in hermeneutische Regeln umsetzt. Mit dieser Absicht entwickelt er ein Instrumentarium, das zum Arsenal der modernen Hermeneutik gehören wird. In seiner 1567 erschienenen Schrift De Ratione cognoscendi sacras literas for-

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Darauf hat schon Dilthey andeutungsweise hingewiesen; vgl. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, S. 324f. Vgl. Leipoldt, Geschichte des neutestamentlichen Kanons, S. 44-51. Vgl. Wach, Das Verstehen I, S. 13f.

25 muliert er die Grundsätze einer Auslegung der Heiligen Schrift, die fur die profane Hermeneutik Bestand haben werden. Gewiß ist seine Leistung nicht originell. Offensichtlich stützt er sich auf Traditionen der Auslegungspraxis, die zuvor bereits etabliert waren. Neu ist aber, daß die Hermeneutik gezielt als Mittel im kirchenpolitischen Kampf eingesetzt wird. Sie entfaltet eine erneuerte Sprengkraft gegenüber der Institution, die kurz zuvor noch einmal ihr Auslegungsmonopol bekräftigt hatte. Flacius formuliert die hermeneutische Grundregel, daß eine Textstelle immer aus dem Textganzen heraus verstanden werden muß. Als methodisches Verfahren ist das nicht neu; Erasmus hatte tendenziell bereits die Notwendigkeit gesehen, unklare Textstellen durch den Vergleich mit anderen Stellen zu erhellen." Während aber dieses Verfahren bei Erasmus nur ein beliebiges neben anderen ist, rückt es bei Flacius in den Mittelpunkt. Das kommt nicht von ungefähr, denn hinter der hermeneutischen Regel verbirgt sich der Angriff auf die Auslegungspraxis der katholischen Kirche, die bei der Schriftdeutung nicht vom Kohärenz-, sondern vom Selektionsprinzip ausging. Flacius wendet sich gegen das Verfahren, willkürlich beliebige Textstellen herauszugreifen und zu kanonisieren, wobei die Auswahl nicht durch den Rückgriff auf den Text selbst, sondern durch kirchenpolitische Interessen bedingt war. Erasmus hatte dieses Verfahren schon andeutungsweise gerügt; bei Flacius wird diese Kritik umgesetzt in ein hermeneutisches Prinzip mit epochaler Nachwirkung. Er kündigt damit den Konsens auf, daß das entscheidende Wort beim Verstehen der Schrift der kirchlich institutionalisierten Exegesetradition zukommt. Flacius insistiert auf dem Primat des Textes vor der Institution, wobei er sich gerade auf seinen unbestrittenen Offenbarungscharakter berufen kann: »Nichts ist nämlich in der Heiligen Schrift umsonst geschrieben, und man darf auch nichts verachten«.92 Dieses Prinzip entspringt den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen der Zeit, es zielt auf die Emanzipation von der institutionell-dogmatisch fixierten Schriftauslegung. In diesem Sinne wird es ausdrücklich von ihm eingeführt: Die »Päpstlichen und Sophisten« haben »die Heilige Schrift nämlich sehr selten gelesen, und auch wenn sie sie gelesen haben, so haben sie nur Sinngehalte nach ihrem Gutdünken herausgepflückt und diese außerdem nach ihrem Belieben miteinander in Verbindung gebracht.«' 3 Flacius formuliert ein Willkürverbot für die Interpretation. Sie muß am Text orientiert bleiben und darf nicht der Beliebigkeit von textfremden Interessen überantwortet werden. Dieses Prinzip wird sich als >Zirkel des Verstehens< als unverzichtbarer Bestandteil der Hermeneutik etablieren können. Ein zweites Moment der weiteren Hermeneutikentwicklung wird bei Flacius formuliert, das in Spannung steht zum ersten. Textverstehen ist nicht nur durch den immanenten Vergleich von Einzelstellen abzusichern; es muß daneben die pragmatische Dimension berücksichtigt werden: Der »Gesichtspunkt, der Zweck, oder die Absicht der ganzen Schrift« müssen vom Interpreten im Auge behalten werden. Diese Forderung geht aus der Einsicht hervor, daß - modern

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Vgl. Erasmus, Theologische Methodenlehre, S. 179. Flacius, Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, S. 91. Ebd., S. 197/199.

26 gesprochen - ein Text immer in soziokulturellen Kontexten und literarischen Traditionszusammenhängen steht. Zum Textverstehen reicht die Textlektüre nicht aus, zu seinen Voraussetzungen gehört vielmehr ein historisches Wissen, das die Entstehungs-, Traditions- und Rezeptionszusammenhänge rekonstruieren kann. Diese Einsicht ist von Erasmus vorformuliert worden; und sie wird sich in der weiteren Entwicklung behaupten können. Flacius' Hermeneutik reicht weit über ihren unmittelbaren konfessionspolitischen und theologischen Anlaß - dem sie freilich in vielen ihrer Aussagen verhaftet bleibt - hinaus. Mit ihrer Forderung nach dem Primat des Textes und nach einer Berücksichtigung des Kontexts fuhrt sie direkt in die Aporie, welche die Hermeneutikdiskussion bis in die Gegenwart begleiten wird: In ihr ist die Konsequenz angelegt, daß das Verstehen von Texten ein unabschließbarer Vorgang ist. Bei Flacius findet diese Idee ihre erste, wenn auch ungewollte Formulierung. Denn Flacius selbst hat diese Konsequenz nicht ausformuliert, weil sie mit den Anwendungszusammenhängen und der theologischen Fundierung seines eigenen hermeneutischen Entwurfs nicht in Einklang zu bringen war. Die theologischen Grundlegungen und die sachlichen Erfordernisse der Schriftauslegung sind nicht mehr gänzlich zur Deckung zu bringen. Auch unter den Voraussetzungen des Protestantismus kann sich eine rein philologisch, nur an den sachlichen Erfordernissen der Interpretation orientierte Auslegungsform nicht herausbilden. Dem unterstellten göttlichen Charakter der Schrift muß ein eigenes Recht bei der Auslegung eingeräumt werden; und die handlungsorientierende Anlage einer heiligen Schrift fordert eine Eindeutigkeit, der die Idee der Unabschließbarkeit des Verstehens entgegensteht. Dieser Aporie der >Interpretation< hat sich Flacius nicht gestellt. Für ihn bleibt der Offenbarungscharakter der Schrift der letzte Bezugspunkt. Zu ihm nimmt er Zuflucht, um seine Aporie gewaltsam aufzulösen, wenn er für das Verständnis eines Textes nicht nur die Beherrschung der von ihm genannten technischen Regeln fordert, sondern zugleich die Hilfe Gottes voraussetzt. Wie schon zuvor Luther in seinem Sendbrief vom Dolmetschen Gott um den »rechten vorstandt der Goettlichen schlifft« bitten mußte,' 4 so schließt Flacius seine Schrift mit einer Bitte um göttlichen Beistand: Es ist »sehr nützlich, die göttliche Hilfe zu erflehen, damit diese unser ganzes Unternehmen von vornherein beseele.«' 5 Flacius verleiht damit der vagen Einsicht Ausdruck, daß zum Verstehen mehr gehört als ein Text und ein Arsenal von technischen Regeln. Dieser hermeneutische Überschuß wird das Problem, mit dem sich die Theorie des Verstehens in den folgenden Jahrhunderten beschäftigten mußte, sofern sie den Boden eines theologisch abgesicherten Textverständnisses verlassen hat. Freilich ist die weitere Entwicklung der Hermeneutik nur sehr zögernd vor sich gegangen. Daß das 17. und 18. Jahrhundert sich schwer damit tun, die hermeneutischen Überlegungen der Reformationszeit fortzuführen, mag damit zusammenhängen, daß die Hermeneutik als ein Instrument der Weltauslegung in Konkurrenz treten muß zur Naturwissenschaft. Dieses Konkurrenzverhältnis eta94 95

Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, S. 632. Flacius, Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, S. 89.

27 bliert sich erst im Laufe der Frühen Neuzeit. In den ersten Anfangen der neuzeitlichen Naturwissenschaft, wie sie insbesondere durch Kopernikus markiert werden, durchdringen sich hermeneutische Probleme und naturwissenschaftliche Methoden noch bis zur UnUnterscheidbarkeit. Die moderne Naturwissenschaft löst die mittelalterliche Hermeneutik einerseits auf; diese verliert ihre Funktion der Weltdeutung auf einen verborgenen Sinn hin.96 Andererseits tritt aber die Naturwissenschaft das Erbe der Hermeneutik an: Die mathematisierten Verfahren der Welterkenntnis erfolgen lange Zeit noch nach dem Programm einer »interpretatio naturae«, in der die alte Formel vom »Buch der Natur« eine neue Bedeutung gewinnt.97 Trotz der starken Konkurrenz durch eine feindlich eingestellte naturwissenschaftlich orientierte Philosophie gibt es im 17. und 18. Jahrhundert eine hermeneutische Tradition, deren Existenz durch die Geschichtsschreibung der Hermeneutik lange Zeit verdrängt wurde. Erst neuere Forschungen haben gezeigt, daß es in diesen beiden Jahrhunderten bedeutende hermeneutische Entwürfe gegeben hat; daß Schleiermacher sie so wenig gewürdigt hat, wird mit seiner Unkenntnis der hermeneutischen Tradition zusammenhängen." Die Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts steht in theologischen Problemzusammenhängen; sie nähert sich aber immer stärker rationalistischen Prinzipien. Es treten zwei Problemkreise in den Vordergrund: zum einen die Frage nach den Verfahren und Regeln, mittels derer der richtige Schriftsinn, in der Regel das vom Autor Gemeinte, herausgearbeitet werden kann; und zum anderen die alte hermeneutische Frage der >applicatiobezeichnet< wird. Das entkompliziert das Problem des Verstehens. Da jede sprachliche Äußerung einen klaren Sachverhalt bezeichnet, reduziert sich Verstehen auf die Erkenntnis dieses Sachverhaltes.99 Auf dieser Grundlage entwickeln Johann Conrad Dannhauer und Johann Clauberg im mittleren Drittel des 17. Jahrhunderts ihre Auslegungslehren, die als Teil der Logik konzipiert sind. Das Verstehen wird subsidiär behandelt: Verstehen ist notwendig, um zu jenen Erkenntnissen zu gelangen, die in fremder Rede oder fremden Texten niedergelegt sind.100 Was der Autor gemeint hat, interessiert nur insofern, als er etwas Gewichtiges zu sagen hat - bei Gadamer wird dieser Gedanke wiederkehren. Die Aufgabe der Hermeneutik, die sie mit der Logik grundsätzlich teilt, ist die Unterscheidung des Wahren vom Falschen.101 Die spätere Vorstel96 97

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Vgl. Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 29. Apel, Das Verstehen, S. 144 - Zum Bedeutungswandel der Metapher vgl. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 323-329 und natürlich Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, hier bes. S. 71-76. Vgl. Alexander, Hermeneutica generalis, S. 4; Scholz, Zeittafel zur Geschichte der allgemeinen Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert. Vgl. Alexander, Hermeneutica generalis, S. 33f. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. Beetz, Nachgeholte Hermeneutik, S. 598f.; Arndt, Die Hermeneutik des 18. Jahrhunderts, S. 20f.

28 lung, daß das Gemeinte grundsätzlich nicht erfaßbar sei, bleibt den Hermeneutikern fremd. Es stellt sich weniger die Frage nach dem »wahren Sinn« als vielmehr die nach der »Wahrheit dieses Sinns«.102 Dannhauers Hermeneutik läßt sich als eine verspätete Reaktion auf die Durchsetzung des Buchdrucks verstehen. Sein Ziel ist es, einen »modus sciendi« zu finden, der es erlaubt, »schriftlich niedergelegte Aussagen sinngemäß und sachgerecht auszulegen«.103 Damit will er der weiten und unkontrollierten Verbreitung von wissenschaftlichen Texten der drei >höheren< - nämlich praxisbezogenen - Fakultäten Theologie, Medizin und Jurisprudenz gerecht werden. Aber trotz dieser >applicatioobscuritasDeuten< interessierte, sondern die Zusammenarbeit zum Wohl der Weiterbildung und deren Verwertbarkeit im zivilen und kirchlichen Gemeinwesen.«105 Richtiges Verstehen besteht in Erkenntnis der Wahrheit, und diese wiederum beweist sich in ihrem Nutzen, der hier moralisch gemeint ist. Das fuhrt zu einem spezifisch rationalistisch-aufklärerischen Kriterium für die Richtigkeit der Interpretation, wie sie sich schon bei den Hermeneutikern des 17. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Nicht nur die korrekte Anwendung von Interpretationsregeln und nicht nur die Befolgung eines >Tugendkatalogs< durch den Interpreten dient als Ausweis der Richtigkeit; hinzu kommt ein sachliches Kriterium. Als wahr kann nur eine Auslegung anerkannt werden, die zu Ergebnissen fuhrt, die sich nicht als »gottlos, lasterhaft, unanständig oder lieblos« erweisen.106 Die rationalistische deutsche Aufklärung führt diese Konzeptionen fort. Wo sie hermeneutische Probleme erkannt hat, versuchte sie sie mit dem ihr eigenen gedanklichen Instrumentarium zu lösen, das sich aber kaum als tragfahig erwiesen hat. Charakteristisch für diese Entwicklung sind die großen philosophischen Werke, die in den Jahrzehnten um 1700 entstanden sind und von denen die weitere Entfaltung der Aufklärung speziell in Deutschland ausgehen wird. Das Verstehen hat durchaus seinen Platz in diesen Entwürfen. Es wird aber nicht als ein eigenständiger Bereich gesehen, dessen Bearbeitung eigene Verfahren erfordert, sondern es wird integriert in einen übergreifenden Methoden- und Systemzusammenhang. Daß die Aufklärung keine besondere Affinität zum hermeneutischen Denken aufweisen konnte, liegt in ihren Prämissen begründet. Einer Philosophie, die vom Vertrauen auf die Omnipotenz der Vernunft bestimmt ist, müssen die spezifischen Probleme der Hermeneutik fremd bleiben. Das läßt sich an jenen 102 103 104 105 106

Alexander, Hermeneutica generalis, S. 109. Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, S. 50. Vgl. ebd., S. 57f. Ebd., S. 61. Beetz, Nachgeholte Hermeneutik, S. 607.

29 Entwürfen aus dem Umkreis aufklärerischen Denkens ablesen, in denen ausdrücklich das Verstehen thematisiert wird. Eine Klammer zwischen der reformatorischen Hermeneutik-Tradition und der Aufklärung bildet Spinoza mit seinem Tractatus theologico-philosophicus von 1670. Der Text hat bahnbrechend für die Entwicklung der europäischen Aufklärung gewirkt, weil er das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft neu bestimmte. Mit seiner Diskussion der Offenbarungsproblematik ergibt sich zwangsläufig eine Erörterung der Fragen, die sich bei der Auslegung der Heiligen Schrift stellen. Hier kommt Spinoza zu einer eindeutigen Antwort, wenn er den Primat der Vernunft vor der Offenbarung postuliert und apodiktisch fordert, daß die »Norm der Auslegung« der Heiligen Schrift nur »das allen gemeinsame Licht der Vernunft sein« darf.107 Daraus ergibt sich das Programm, das natürliche »Licht der Vernunft« von der Offenbarung und damit die Theologie und die Philosophie zu trennen108 und in diesem Zusammenhang die Heilige Schrift »von neuem mit unbefangenem und freiem Geist zu prüfen«. 109 Diese Prüfung erfolgt mit den Methoden der profanen Philologie. Das Ziel ist die Trennung des göttlichen Gehaltes der Schrift an dem Spinoza grundsätzlich festhält - von den menschlichen Zutaten. Dazu bedient sich Spinoza eines Verfahrens, das in der Hermeneutikgeschichte bereits erprobt wurde. Sein Kern ist die historische Situierung der Texte. Dem Exegeten obliegt es, eine »getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien den Sinn der Verfasser der Schrift in richtiger Folgerung abzuleiten.«110 Zu dieser Geschichte der Schrift gehört die Kenntnis der - hebräischen - Sprache, in der sie geschrieben ist, eine sinnvolle Ordnung ihrer Gedanken und Aussagen und vor allem eine Rekonstruktion der Text- und Überlieferungsgeschichte. Um die Schrift zu verstehen, muß der Interpret Kenntnisse erwerben über »das Leben, die Sitten und die Interessen des Verfassers der einzelnen Bücher, wer er gewesen ist, bei welcher Gelegenheit, zu welcher Zeit, für wen und schließlich in. welcher Sprache er geschrieben hat«.'" Das ist eine Methode - Spinoza beschränkt sie weitgehend auf die Auslegung des Alten Testaments1'2 - , die den Text auf seinen profanen Status reduziert. Daß sie in ihrer konkreten Anwendung bis an die Schwelle der aufklärerischen Bibelkritik fuhrt, ergibt sich von selbst: Der Tractatus ist die »Geburtsurkunde der historisch-kritischen Bibelwissenschaft«." 3 Die Widersprüche und Ungereimtheiten der einzelnen Bûcher des Alten Testaments werden hervorgehoben, ohne weginterpretiert zu werden. Vor allem wird das Alte Testament als eine Sammlung einzelner Texte verstanden, die nicht in ihrer Gesamtheit göttliche Autorität beanspruchen

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Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, S. 137. Ebd., S. 48. Ebd., S. 9. Ebd., S. 114f. Ebd., S. 118. Für das Verständnis des Neuen Testaments gibt Spinoza nur einige Hinweise, da seine »Kenntnis der griechischen Sprache nicht so gut ist« und überdies eine Untersuchung dieses Textkorpus bereits von anderer Seite unternommen worden sei; vgl. ebd., S. 184. Gawlick, Einleitung, S. XXV

30 können, sondern deren >Autorität< in jedem einzelnen Fall neu bewiesen werden muß." 4 Mit seiner vorsichtigen Rückstufung des Alten Testaments in die Reihe der profanen Texte leistet Spinoza keinen grundsätzlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Hermeneutik. Die von ihm herausgestellten Prinzipien des Textverstehens sind bereits bekannt, und sie wurden schon vorher, von Luther und Flacius, auf die Bibel angewandt. Insofern steht Spinoza in der Tradition der protestantischen Bibelexegese. Das gilt gleichermaßen für den institutionellen Aspekt seiner Hermeneutik. Spinoza ist sich der Tatsache bewußt, daß Bibelexegese mehr bedeutet als nur Textverstehen, weil mit ihr die Frage nach dem Interpretationsmonopol der theologischen Autorität aufgeworfen wird. Dazu findet er deutliche Worte: Er versteht seinen Traktat ausdrücklich als einen Angriff auf den Autoritätsanspruch der Theologen, die sich bemühen, »ihre Erfindungen und Einfalle aus der Heiligen Schrift herauszupressen und sie auf die göttliche Autorität zu stützen.«" 5 Aus seiner Kritik des theologisch-kirchlichen Interpretationsmonopols zieht er ähnliche Folgerungen wie Luther. Seine Methode erfordert keine andere Kompetenz als die Vernunft." 6 Sie verleiht jedem einzelnen die »Autorität der Schriftauslegung«, die nur der Vernunft und keiner »äußeren Autorität«, unterliegt." 7 Diese Überlegungen stehen offensichtlich in der protestantischen Tradition der Exegese. Spinoza denkt sie aber mit einer Konsequenz zu Ende, die vorher nicht möglich war. Die von theologischen Beschränkungen kaum gehemmte Anwendung bekannter hermeneutischer Prinzipien auf die Heilige Schrift führt zu ihrer Entmythologisierung. Die Hermeneutik erweist sich wiederum als mehr denn als ein nur philologisches Verfahren. Ihr wohnt ein kritisches Potential inne, das der Entwicklung der Aufklärung den Boden bereitet. Daß Spinozas Überlegungen schließlich in der Forderung nach Gedankenfreiheit münden, ist eine notwendige Konsequenz. Den höchsten Gewalten der Kirche und des Staates wird das Recht entzogen, als letztinstanzliche »Ausleger des Rechts und der Frömmigkeit« zu fungieren. Spinoza reklamiert dagegen, daß jeder einzelne nach dem »Recht der Natur Herr seiner Gedanken« ist." 8 Mit der Profanisierung der biblischen Texte verliert das Verfahren zu ihrer Interpretation seinen Sonderstatus. Wenn die Hermeneutik sich nicht mehr auf einen ausgezeichneten Gegenstand richtet, bedarf sie keiner eigenen Voraussetzungen mehr. Dem Verstehen von Texten kommt keine besondere Rolle mehr zu; es erscheint als eine Leistung, die die methodisch vorgehende Vernunft ohne besondere Anstrengung vollziehen kann. Das Verstehen und die Erkenntnis - etwa der Natur - unterliegen den gleichen Voraussetzungen: »Um es kurz zusammenzufassen, sage ich, daß die Methode der Schrifterklärung sich in nichts von der Methode der Naturerklärung unterscheidet, sondern völlig mit ihr übereinstimmt.«" 9 114 115 1,6 117 118 119

Vgl. Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, S. 183. Ebd., S. 113. Vgl. ebd. Ebd., S. 137. Ebd., S. 300. Ebd., S. 114.

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Mit Spinoza geht die Geschichte der Hermeneutik in die Geschichte der Aufklärung über. Die Textauslegung wird zur kritischen Instanz gegenüber den institutionalisierten Autoritäten, die sich auf diese Texte stützen. Damit hat Spinoza die Grundlagen formuliert, die für das Hermeneutik-Verständnis der Aufklärung maßgeblich bleiben werden. Aber so sehr sich Spinoza mit Fragen der Bibelexegese auseinandergesetzt hat, so gering bleibt ihre Bedeutung für das Weltbild des Aufklärers Spinoza und seiner Nachfolger. Als einer Schrift, der in seiner Zeit noch eine autoritative Bedeutung zukam, hat er sich der Bibel kritisch gewidmet. Grundsätzlich teilt er aber die bücherfeindliche Auffassung Descartes' und Bacons, daß aus tradierten Texten keine Wahrheit zu gewinnen sei. Erkenntnis ist nur aus den Dingen selbst zu beziehen.120 In der aufklärerischen Hermeneutik fallen >Wahrheit< und >Sinn< auseinander. Verstanden werden muß, mit den Verfahren der Hermeneutik, der >Sinn< einer Rede, wie es Spinoza gefordert hat; damit ist aber noch nichts über deren >Wahrheit< ausgesagt.121 Während Spinozas Überlegungen von der Auseinandersetzung mit der theologischen Tradition der Hermeneutik inspiriert sind, geht die weitere Diskussion um das Verstehen profanere Wege. Der Aufklärung wird das >Verstehen< kaum zum Problem; auf der Grundlage einer rationalistischen Sprachtheorie erscheint es immer schon prinzipiell als gelöst, bevor es überhaupt virulent werden kann. Leibniz hat die Gedanken des 17. Jahrhunderts aufgegriffen und zu Ende geführt. In seiner breit angelegten Auseinandersetzung mit John Lockes Erkenntnistheorie in den Nouveaux essais sur l'entendement humain, die zwar bereits 1704 entstanden, aber erst 1765 erschienen sind und somit keinen direkten Einfluß auf das Denken der Aufklärung ausüben konnten, entwirft er eine Sprachtheorie als Teil der Logik. Verstehensprobleme treten überhaupt nur dort auf, wo Wörter der Kommunikation dienen; sie entstehen beim »bürgerlichen« Gebrauch der Sprache, in dem es darum geht, »die allgemeinen Vorschriften auf praktische oder Einzelfälle anzuwenden«.122 Leibniz thematisiert das Verstehen im Zusammenhang mit den »natürlichen« und »willkürlichen« Unvollkommenheiten der Sprache.' 23 Daneben führt er eine ganze Reihe weiterer Gründe fur Mißverständnisse an, die durchweg nicht grundsätzlicher Natur sind, sondern auf ungenauem Sprachgebrauch beruhen.124 Zweideutigkeit und Dunkelheit sind die Hauptschwierigkeiten, die Leibniz sieht. Die traditionellen Fragen der Hermeneutik streift er nur am Rande. Er sieht die gelegentliche Notwendigkeit, alte Texte - insbesondere die Heilige Schrift, das römische Recht und medizinische Schriften - zu verstehen, weil sie fur das praktische Leben der Gegenwart Bedeutung haben. Hier verläßt er sich ohne weiteren Kommentar ganz auf die Verfahren der >KritikHermeneutik< mündet in der Forderung nach der Konstruktion einer Universalsprache, die zwar kaum für den Alltag durchsetzbar sein wird, derer sich aber zumindest die Philosophen und Wissenschaftler bedienen sollen: »Denn es liegt in unserer Macht, die Bezeichnungen, wenigstens in irgendeiner Gelehrtensprache, festzustellen und sich, um jenen Turm von Babel zu zerstören, über sie zu verständigen.«126 Zumindest von den Philosophen wird verlangt, daß sie sich »einer genauen Ausdrucksweise befleißigen«.127 Diese Überlegungen fuhren zur - nicht systematisch ausgearbeiteten - Forderung nach einer >charakteristica universalis^ 128 einer Universalsprache, die gleichermaßen eine fehlerfreie Verständigung wie das Auffinden und Mitteilen der >Wahrheit< erlauben würde. In einem als Konzept erhaltenen Brief an den Herzog Emst August aus den späten achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts hat Leibniz seine Sprachutopie ausgemalt: »cette même écriture, seroit une espece d'Algebre generale, et donneroit moyen de raisonner en calculant. De sorte qv'au lieu de disputer on pourrait dire: comptons.« Die Vorstellung, daß Denkfehler zu bloßen Rechenfehlem reduziert werden könnten, bezeichnet die Utopie einer radikal rationalistischen Aufklärung, deren praktische Seite Leibniz ebenfalls benennt: »Les hommes trouueroient par là un juge des controverses, véritablement infallible.«129 So plausibel diese Idee einer Universalsprache für einen rationalistischen Denker klingt, so wenig durchsetzungsfähig erscheint sie im Zeitalter des Rationalismus. Descartes hatte die Idee schon erörtert und verworfen: Vielleicht sei es wünschenswert, eine Universalsprache zu haben, aber realisierbar sei dieser Wunsch kaum, da die Sprache stets an empirische und willkürliche Konventionen gebunden bleibe. Wichtig sei vielmehr, daß das Denken sich auf die Verknüpfung der Dinge, nicht der Worte richte.130 Die Mathematisierung des hermeneutischen Problems durch Leibniz verweist einerseits auf die aufklärerische Tradition seit Descartes; andererseits reichen ihre Wurzeln zurück bis zur Reformation. Sie läßt sich als eine Reaktion auf die Erfahrung des konfessionellen Bürgerkrieges deuten, dem Leibniz nicht nur in philosophischer, sondern ebenso in politischer Hinsicht ein Harmoniemodell entgegengestellt hatte. Die Auslegungskunst wird für ihn in ganz traditioneller Hinsicht wieder relevant: Sie erlaubt die Interpretation der unterschiedlichen Dogmen im Hinblick auf ihre gemeinsame Wurzel in der Heiligen Schrift und in der Tradition des Mittelalters. Die Sprachtheorie kann in den Dienst einer Überwindung der konfessionellen Spaltung gestellt werden, deren Ursprung Leibniz in mangelnden Techniken der Wahrheitsfindung begründet sieht. Die >Universal126 127 128

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Ebd., S. 385. Ebd., S. 404. Eine Darstellung von Leibniz' Konzept in seinem biographischen Umfeld findet sich bei Aiton, Gottfried Wilhelm Leibniz, S. 140-150; vgl. auch Gardt, Sprachreflexion in Barock und Frilhaufldärung, S. 330-338. Leibniz, Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, S. 315. Vgl. Borst, Der Turmbau von Babel 111/1, S. 1272f.; Dutz, »Lingua Adamica nobis certe ignota est«, S. 217f.

33 Charakteristik wird in die theologische Diskussion eingebracht, sie soll Leibniz' Argumentation in den Demonstrationes catholicae unterstützen. 1 " Leibniz' Sprachtheorie als Grundlage seiner gleichermaßen universal angelegten Wissenschaftsauffassung ist als Ausdruck dieser Intention zu verstehen: als Teil eines politischen und sozialen Programms, mit dem die Harmonie der Welt wieder hergestellt werden soll.132 Leibniz könnte hier Spinoza folgen, der die Hermeneutik in die Problematik des Streites und der Gewalt eingeordnet hat: Ein Erkenntnisverfahren, das - anders als die Philosophie - keine Gewißheiten zu vermitteln vermag, kann nicht zum Konsens führen, der nur durch die Vernunft herstellbar ist.133 Leibniz' Konzept einer >Universalsprache< unterscheidet sich von ähnlichen Entwürfen seiner Zeit durch diese Frage nach der Möglichkeit, mittels der Sprache zur Wahrheit - und dadurch zu einer Versöhnung der Kirchen - zu kommen; die in diesem Diskussionszusammenhang üblichen pragmatischen Gesichtspunkte einer Universalsprache, die den Handel und das Reisen erleichtern solle, interessieren ihn offensichtlich weniger.134 Der frühaufklärerische Rationalismus in der systematischen Gestalt, die er in der Leibniz-Nachfolge Wolffs angenommen hat, hat dem >Verstehen< von Schriften einen kleinen Seitenplatz eingeräumt. In seinen Verniinfftigen Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes - der Deutschen Logik - geht Wolff flüchtig auf die Frage ein, die ihm allerdings nicht zum Problem wird. Wolffs Argumentation ist von Leibniz geprägt, obwohl er dessen Nouveaux essais sur l'entendement humain noch nicht kennen konnte. Wolff geht es darum, »die Wahrheit gründlich und mit Gewißheit zu erkennen, und andern einen ebenen Weg zu bahnen, darauf sie sicher ohne Anstoß und Umwege zu nützlicher Erkäntniß gelangen möchten«.135 Diese Formulierung läßt erkennen, daß Descartes' antihermeneutische Position zumindest in einer Hinsicht wieder revidiert wird. Für Leibniz und Wolff ist die Hermeneutik kein Medium der Erkenntnis mehr, aber sie wird zu einem unverzichtbaren Instrument der Verständigung. Daß die Auslegung jetzt doch wieder zu einem, wenn auch keinesfalls zentralen, Problem der Aufklärer wird, hängt mit einem sich anbahnenden Wandel in der Vernunftauffassung zusammen. Descartes verficht eine Vernunftauffassung, die sich als >solipsistischer Rationalismus< kennzeichnen ließe: Die methodisch geleitete Vernunft ist sich selbst genug; auf ihrem durch klare Regeln eindeutig bestimmten Denkweg kommt sie zu Ergebnissen, die unzweifelhaft sind. Sie bedürfen weder der Unterstützung durch die in Büchern niedergelegte Autorität der Tradition noch durch die Kommunikation mit anderen. Leibniz wie Wolff gehen dagegen von einem kommunikationsorientierten Vernunftbegriff aus: Aufklärung entfaltet sich als Mitteilung von Gedanken. Ein halbes Jahrhundert später hat Kant in sei-

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Vgl. Aiton, Gottfried Wilhelm Leibniz, S. 152. Vgl. Holz, Leibniz, S. 113. Vgl. Piepmeier, Baruch de Spinoza, S. 21 f. Vgl. Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 278. - Gardt sieht freilich einen Primat des sprachphilosophischen vor dem lebenspraktischen Motiv; vgl. Gardt, Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung, S. 337f. Wolff, Vernünftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes, S. 111.

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nen nachkritischen Schriften diese Auffassung ausdrücklich formuliert: »Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten.«136 Wolffs Auffassung von kommunikationsorientierter Aufklärung stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit die Mitteilung von Gedanken eindeutig erfolgen und verstanden werden kann.137 Das Problem des Verstehens erscheint als Problem der Verständigung. Es kommt entscheidend darauf an, den Text so zu verstehen, wie ihn der Verfasser gemeint hat. Grundsätzlich strebt Wolff eine >Verwissenschaftlichung< des Verstehens im Sinne der mathematisch-naturwissenschaftlichen Entwicklung an;138 die Voraussetzung jeden Verstehens sind klare und deutliche Begriffe beim Verfasser; zur Begriffsfindung können die modernen technischen Hilfsmittel wie Vergrößerungs- und Ferngläser eingesetzt werden."® »Wort-Streite« können nur entstehen, wenn Wörter, die als Zeichen für die Gedanken aufgefaßt werden, nicht eindeutig und nicht bei allen Beteiligten mit den gleichen Begriffen verbunden sind.140 Unter dieser Prämisse, daß beim Verfasser klare Begriffe vorhanden sind, gibt Wolff auf wenigen Seiten seiner Deutschen Logik Anleitungen zur »Beurteilung« von Schriften, ihres Nutzens und schließlich zur Erklärung von Schriften, die mit »Verstände« geschrieben sind, wozu er insbesondere die Heilige Schrift rechnet. Lapidar stellt er fest: »Wir lesen Bücher, damit wir erkennen lernen, was darinnen stehet. Also wird dazu erfordert, 1) daß wir den Urheber recht verstehen, 2) daß wir die vorgetragene Sachen wohl fassen«.141 Die Verantwortung für das richtige Verstehen wird weitgehend dem Verfasser aufgebürdet. Ihm obliegt es, sich klar, zusammenhängend, geordnet und nicht weitschweifig auszudrücken: »Daher sind drey Tugenden der historischen Schriften, die Wahrheit, die Vollständigkeit und die Ordnung.«142 Dem Leser kommt vor allem die Aufgabe zu, genügend Mühe zu investieren, damit ihm nicht als >dunkel< erscheint, was nur schwierig ist. Wolffs Kampf gegen die >DunkelheitSchwulst< - oder, positiv ausgedrückt, die >elegantia< - die Aussage zu überwuchern drohte.143 Grundsätzlich ist aber Verstehen für

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Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, S. 280. Vgl. Menzel, Vernakuläre Wissenschaft, S. 137f.; S. 142. Vgl. Alexander, Hermeneutica generalis, S. 194f.; dazu auch Beetz, Nachgeholte Hermeneutik, S. 60S. Vgl. Wolff, Vemünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes, S. 134f.; vgl. dazu Cataldi Madonna, Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs, S. 28f. Wolff, Vernünftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes, S. 155. - Vgl. dazu Menzel, Vernakuläre Wissenschaft, S. 131f. Wolff, Vemünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes, S. 226. Ebd., S. 219. Das ist auch einer der Impulse von Leibniz' Sprachlehre gewesen; vgl. Holz, Leibniz, S. 100.

35 Wolff ein noch geringeres Problem als fur Leibniz; die Voraussetzung, daß vernünftige Menschen in klaren Begriffen denken und diese angemessen in Worte fassen, nimmt der Hermeneutik jede Schärfe. Es bleibt ein Grundzug der Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts, daß sie das Verstehen an die Text- oder mehr noch an die Autorintention bindet.144 Unbezweifelt ist lange die grundsätzliche Möglichkeit, mit Gewißheit den Textsinn zu erkennen, wenn nur die richtigen Regeln angewendet werden. Eine ausführlichere Ausformulierung hermeneutischer Positionen findet sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts bei Johann Martin Chladenius, der die Grundideen des Rationalismus aufgreift, aber schon ein Ungenügen an ihnen zu erkennen gibt. Er hält daran fest, daß die Intention von Texten grundsätzlich verständlich ist. Wenn Schwierigkeiten auftreten, dann sind sie entweder in einer unzulänglichen Anwendung der Verstehensregeln, in einem Informationsdefizit oder aber in der gewollten oder ungewollten Unfähigkeit des Autors, seinen intendierten Sinn angemessen auszudrücken, zu suchen.145 Obwohl er die Prämissen der Aufklärung teilt, ist Chladenius aber nicht mehr im gleichen Maße wie seine Vorläufer davon überzeugt, daß die Absicht des Autors problemlos zu rekonstruieren sei.'46 Sein Interesse richtet sich auf jene Schriften, die prinzipiell deshalb schwer zu verstehen seien, weil die Intention des Verfassers mit Worten nicht hinreichend genau ausgedrückt werden könne.147 Damit nähert er sich dem modernen Hermeneutikverständnis. Er bleibt skeptisch, ob alle verstehensrelevanten Umstände wirklich zu ermitteln seien. Seine Auslegungslehre eröffnet damit eine Anschlußstelle für eine literarische Hermeneutik, die grundsätzlich mit der Uneindeutigkeit des dichterischen Wortes rechnen muß.148 Zugleich wird der Standort des Interpreten mitreflektiert - ebenfalls eine wegweisende Neuerung. Chladenius darf als der erste Theoretiker der Standortgebundenheit der Interpretation gelten, die zum Signum der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts werden wird. Er faßt sie unter dem Begriff des »Sehe-Punckts«, den er unter Berufung auf Leibniz definiert: »Diejenigen Umstände unserer Seele, Leibes und unserer gantzen Person, welche machen, oder Ursach sind, daß wir uns eine Sache so, und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Putickt nennen.«149 Es ist erstaunlich, daß die Perspektivierung des Verstehens so spät erkannt wird, die theoretischen Voraussetzungen dafür wären bereits viel früher, in der Zeit der Renaissance, gegeben gewesen. In verschiedenen Bereichen, insbesondere in der bildenden Kunst, aber auch in der durch Kopernikus und Galilei begründeten Naturwissenschaft, hat sich das perspektivische Sehen und überhaupt die perspektivische Wahrnehmung längst etabliert und ist theoretisch aus144 145 144 147

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Vgl. Cataldi Madonna, Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs, S. 30f. Vgl. Alexander, Hermeneutica generalis, S. 205-211. Vgl. ebd., S. 235. Vgl. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Vorrede [unpaginiert; S. 14f.]. Vgl. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 42f. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, S. 187f. - Vgl. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 82f.

36 gearbeitet worden.150 Die Verspätung dieser Einsicht in der Hermeneutik hängt vielleicht damit zusammen, daß sie sich so lange im Bannkreis des konfessionellen Bürgerkriegs bewegt hat, der auch ein »Bürgerkrieg um den absoluten Text« war. Dieser Bürgerkrieg ist nicht etwa schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts beendet; er setzt sich in der Aufklärung unter anderen Auspizien fort: Hier wird der absolute Text zum Text der Vernunft, nicht mehr zu dem der Offenbarung. Daß die Hermeneutik den »nichtabsoluten Text und den nichtabsoluten Leser« erfindet,151 läßt sich erst fïlr die Mitte des 18. Jahrhunderts behaupten; die Formulierung dieser Einsicht findet sich bei Chladenius, von dem sie ihren Weg in die Hermeneutik des 20. Jahrhunderts nimmt. Die hermeneutischen Überlegungen des 18. Jahrhunderts lösen sich jedenfalls langsam von ihren theologischen Traditionen und richten sich zusehends stärker auf die Voraussetzungen des Verstehens. Das wird deutlich in Georg Friedrich Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst von 1757, in dem er eine »Wissenschaft der Regeln« entwerfen wollte, welche »bey der Auslegung aller oder wenigstens der meisten Gattungen der Zeichen beobachtet werden müssen.«152 Diese Auslegungskunst hat nicht nur sprachliche Zeichen zum Gegenstand; sie umfaßt alle anderen natürlichen oder willkürlichen Zeichen. Die Auslegung natürlicher Zeichen wird dadurch sinnvoll und notwendig, daß hinter ihnen Gott als Urheber steht153 - ein merkwürdiger Rückfall in die mittelalterliche Allegorese, die aber auf aufklärerische Fundamente gestellt wird. Die Wahrheit der natürlichen Zeichen ergibt sich aus der Prämisse des Leibnizschen Optimismus, daß die Welt die beste aller möglichen sei; in ihr kann alles zum Zeichen werden.154 Das Ziel der Auslegung ist wiederum aufklärungstypisch: der Ausleger muß genau das denken, was der Autor - oder der sonstige Schöpfer der Zeichen - gedacht hat, wobei Meier recht ausfuhrliche Überlegungen der historischen Standortgebundenheit des Autors widmet.155 Meier stellt einen umfassenden Kanon von Regeln bereit, der angewendet werden kann auf »historische oder dogmatische Schriften, auf logische und aesthetische Reden und Schriften, auf gebundene oder ungebundene Reden, auf Gedichte und ihre verschiedenen Arten, Räthsel, Satyren, u.s.w.«,156 aber auch auf Numismatik, die Zeichen der Krankheit und Gesundheit und überhaupt auf alles, was Verweischarakter haben kann.157 Hier wird erstmals wieder nach dem Mittelalter ein Universalitätsanspruch der Hermeneutik erhoben, der in seiner inhaltlichen Bestimmung obsolet anmutet, hinter dem sich aber der Universalitätsanspruch aufklärerischer Vernunft verbirgt.

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Vgl. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 602-617. Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, S. 129f. Meier, Versuch einer altgemeinen Auslegungskunst, S. 1 f. Vgl. Scholz, Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier, S. 178f. Vgl. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 105; Geldsetzer, Einleitung [zu Meier], S. 18. Vgl. Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, S. 84-88. Ebd., S. 129f. Ebd., S. 132-136.

37 Die Hermeneutik der Aufklärung geht zum einen von der Invarianz der menschlichen Vernunft aus, die zu allen Zeiten und bei allen Menschen auf die gleiche Weise organisiert ist. Die später für die Hermeneutik so problematisch werdende Vorstellung von der Individualität des Menschen, die es schwierig oder unmöglich werden läßt, die Operationen eines anderen Verstandes zu rekonstruieren, besteht noch nicht. Zum anderen unterstellt sie einen Primat des Gedankens gegenüber der Sprache. Verstehen reduziert sich auf die Aufgabe, den Weg von der sprachlichen Artikulation zum ursprünglichen Gedanken zu finden, der als Ausdruck der invarianten Vernunft grundsätzlich erschließbar und nachvollziehbar sein muß.158 Die verschlungene Theoriegeschichte der Hermeneutik in der Frühen Neuzeit von Luther bis zur Aufklärung hat zu klaren Ergebnissen gefuhrt. Die simple Erfahrung, daß Wort und Sinn auseinanderfallen können, führte zu Weiterungen, die eine weitschweifige Theoriebildung erforderlich machten. Unhintergehbar wurde jedenfalls die Einsicht in die Interpretationsbedürftigkeit von sprachlichen Äußerungen. Die frühe Hermeneutik hat aber zugleich darauf bestanden, daß der Sinn grundsätzlich verständlich sei - diese Annahme wird erst in der Folgezeit fraglich werden. Die theoretischen Schwierigkeiten und die sehr unterschiedlichen Lösungsansätze ergeben sich weniger aus der Einsicht in die Interpretationsbedürftigkeit von Texten als vielmehr aus den weitergehenden Ansprüchen, die an Texte gestellt werden. Das bloße Verstehen ist nicht das letzte Ziel; wichtig ist vielmehr ein >richtiges< Verstehen, das nicht nur den Sinn, sondern auch den Wahrheitsanspruch von Texten erfaßt. Auf diesen Anspruch reagieren die hermeneutischen Entwürfe der Frühen Neuzeit von der Reformation über die Aufklärung bis hin zu Rousseau. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht bloße Theorie sind. Ihr entscheidendes Merkmal, das sie von der hermeneutischen Entwicklung seit dem frühen 19. Jahrhundert unterscheiden wird, ist vielmehr der Praxisbezug: Die Hermeneutik dient der konkreten Lebensführung, und insofern ordnet sie sich in die wissenschaftlichen Bestrebungen der Frühen Neuzeit ein. Mit ihrer historisch tief verwurzelten Einbindung in die Lebenswelt wachsen der Hermeneutik Probleme zu, die nicht immer ihre eigenen sind. Die Theoriegeschichte der Hermeneutik ist eine Praxisgeschichte. In ihr spiegelt sich eine der elementaren Einsichten der Neuzeit: Ein Kampf um den Sinn der Worte ist ein Kampf um die Macht.

158

Vgl. Alexander, Hermeneutica generalis, S. 280.

Zweites Kapitel Sprache, Subjekt, Geschichte: Die Modernisierung der Hermeneutik

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lösen sich die Voraussetzungen für eine Fundierung der Hermeneutik auf einem aufklärerischen Vernunftbegriff schnell auf. Auch in dieser Beziehung einer Aufklärungs-Kritik hat Rousseau wegbereitend gewirkt. Er hat die Prämissen rationalistischer Auslegungstheorie widerrufen und das hermeneutische Problem neuerlich kompliziert. Zwar entwikkelt er keine neue Basis für die Erörterung der Hermeneutik, aber er hat Fragen gestellt und Forderungen an das >Verstehen< erhoben, die mit den Mitteln des aufklärerischen Denkens nicht mehr zu erfüllen waren. Grundsätzlich bleibt er dem gleichen Problemhorizont verhaftet, dem auch die Aufklärung verpflichtet war. Er diskutiert wie diese die Frage nach der Verstehbarkeit von sprachlichen Äußerungen. Aber trotz der gleichen Fragestellung deutet sich bei Rousseau an, daß die Hermeneutik bald einen neuen Weg gehen und vor neuen Aufgaben stehen wird. Denn am Ende definiert er das Verstehensproblem in einem sehr allgemeinem Sinne als Kommunikationsproblem und wirft die grundsätzliche Frage auf, ob überhaupt menschliche Verständigung durch die bloße Mitteilung von Begriffen, die wiederum Gedanken ausdrücken, angemessen gefaßt ist. Während für die Aufklärer die in Worte gefaßten Begriffe die höchste Instanz des Denkens und das letzte Ziel des Verstehens sind, werden für Rousseau Worte und Begriffe nur zu einem Notbehelf, der sich aus der Unzulänglichkeit und Endlichkeit des Menschen ergibt. Das Ideal wäre eine unmittelbare Verständigung ohne äußerliche Zeichen und ohne das Medium des Körpers. Das Ziel ist vielleicht bei den Liebenden der Nouvelle Heloïse erreichbar;1 in der normalen Kommunikation indes läßt sich eine solche Unmittelbarkeit der Verständigung kaum erzielen - das weiß auch Rousseau. In seiner fragmentarischen Sprachtheorie sucht er einen Mittelweg. Der kleine Essai sur l'origine des langues - der wahrscheinlich 1754 entstand und 1781 veröffentlicht wurde - und eine entsprechende Passage im Emile von 1762 stellen das rationalistische Sprachverständnis der Aufklärung auf den Prüfstand. Rousseau redet einer Emotionalisierung und Rhetorisierung der Sprache das Wort. Der Grund für die Entstehung der Sprache sei nicht in den physischen Bedürfnissen des Menschen zu suchen; deren Befriedigung ließe sich mit einer rationalistischen Gebärdensprache leicht organisieren. Die menschliche Sprache habe ihren Ursprung vielmehr in den Leidenschaften der Menschen.2 Der Anhänger der Vernunft, so kritisiert er im Emile, vernachlässigt »la langue des signes qui parlent à l'imagination«, und so geht die eindringlichste aller Spra-

1 2

Vgl. Rousseau, La nouvelle Héloïse, S. 330. Vgl. Rousseau, Essai sur l'origine des langues, S. 380f.

40 chen verloren.3 Es ist kein Zufall, daß Rousseau diese Überlegungen in den Rahmen einer pädagogischen Abhandlung aufnimmt. Denn ihm geht es weniger um das Verstehen als um das Handeln. Der Ort der Sprache ist nicht die Vernunft der Aufklärer; Sprache gehört vielmehr dem Bereich sozialen Handelns an, sie ist ihm nicht vorgängig, sondern unmittelbar in ihn eingelassen: »Le le répette, les argumens froids peuvent déterminer nos opinions, non nos actions; ils nous font croire et non pas agir: on démontre ce qu'il faut penser et non ce qu'il faut faire.«4 Die Sprache wirkt schließlich auch auf das politische System ein; in seinem Essay über den Ursprung der Sprachen reflektiert er spekulativ über die Zusammenhänge zwischen bestimmten Erscheinungsformen der Sprache und der politischen >FreiheitPhonologismus< auftretenden >Logozentrismus< entgegenstellt, indem er die >Schrift< gegen die >Stimme< ausspielt.6 Derridas Rousseau-Rezeption ist freilich eine Spätfolge von Rousseaus Sprachursprungs-Essay. Denn Rousseau wirft zunächst Probleme auf, die im unmittelbaren Kontakt stehen mit der aufklärerischen Sprachdiskussion. Auch wenn er - wie immer - gegenteilige Lösungen anbietet, bleibt er diesem Diskussionszusammenhang verhaftet. Mit seinem Bedürfnis nach Unmittelbarkeit des Verstehens hat Rousseau den Weg für die weitere Hermeneutikdiskussion gewiesen. Verstehen wird zu einer Angelegenheit des Individuums, die sich nicht mit den Mitteln der Vernunft bewältigen läßt. Die weitere Theoriegeschichte der Hermeneutik wird Mittel und Wege suchen, sich dieser individualistischen Auffassung von Verstehen zu stellen, ohne einer intuitionistischen und damit nicht theoriefahigen Reduktion des Problems zu verfallen. Rousseau hat zwar wenig Einfluß auf die hermeneutische Diskussion gehabt, aber dennoch markiert er die Wende, die sich im hermeneutischen Denken vollziehen mußte. Denn die Positionen der FrUhaufklärung erweisen sich als wenig geeignet zur Fundierung einer hermeneutischen Theorie; der aufklärerische Vernunftoptimismus stößt an seine Grenzen, wenn er das Problem des Verstehens, das in seiner säkularisierten Form immer auch ein Problem der Individualität ist, lösen soll.

3

4 5

6

Rousseau, Emile, S. 645. - Rousseaus elementare Skepsis gegenüber den >Zeichen< der aufklärerischen Sprachtheorie wird mit vielen Belegen herausgearbeitet von Starobinski, Rousseau, S. 207-247. Rousseau, Émile, S. 648. Vgl. Rousseau, Essai sur l'origine des langues, S. 428. - Zum Zusammenhang von Rousseaus Sprachtheorie mit seinen kulturellen und politischen Verfallstheorien vgl. Borst, Der Turmbau von Babel IH/2, S. 1441-1443. Vgl. Derrida, De la grammatologie, S. 146f.

41

So ist es kein Zufall, daß die Diskussion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu ansetzt. Die Wendung ist wenig auffällig, weil sie sich auf einem peripheren Gebiet bewegt: Es beginnt speziell in Deutschland eine lebhafte Diskussion über den Ursprung der Sprache. Woher dieses Interesse kommt, läßt sich aus den Kontexten der Diskussion erklären. Bei Rousseau wurde es schon deutlich. Seine einschlägige Schrift ist zeitlich wie sachlich eine unmittelbare Parallelschrift zu seinen beiden Discours, die sich mit Grundproblemen der Aufklärung beschäftigen: der Frage nach dem Fortschritt und der Frage der gesellschaftlichen Ungleichheit. Die Diskussion um die Sprache ist nur eine besondere Facette der Gesellschafts- und Staatstheorien, die hier erörtert werden; am Rande berührt sie theologische Probleme. Nach Rousseau beteiligen sich die bedeutendsten Philosophen der Zeit an diesem Streit. Herder und Hamann sind die bekanntesten Teilnehmer an dieser Diskussion, die durch eine Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1771 aktualisiert wurde.7 Eingeleitet wurde sie in Deutschland durch Johann Peter Süßmilchs Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht von den Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, der 1756 geschrieben und 1766 publiziert wurde. Im Zusammenhang mit dem Sprachursprungsstreit bereitet sich eine Wende in der hermeneutischen Entwicklung vor: Das Problem der Sprache als solcher und nicht nur als fremder oder vergangener - rückt ins Blickfeld und wirft Fragen auf, die ins Zentrum des philosophischen Denkens und auf weiten Umwegen wieder zur Hermeneutik führen. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache ließ sich noch mit den Mitteln eines spekulativen Rationalismus beantworten, sie fuhrt aber konsequent zu der Frage, was denn Sprache überhaupt sei. Diese Frage wird erstaunlich spät gestellt. Gewiß findet sie sich seit der Antike und speziell seit Piatons Kratylos immer wieder; das Spätmittelalter, der Humanismus und auch die Frühaufklärung haben sie ausführlich thematisiert. Die Diskussion hat sich jedoch durchgehend auf das Problem verengt, ob und wie mit Worten Dinge oder Gedanken bezeichnet werden können oder - in einem idealistischen Entwicklungsstrang, der von Heraklit über den Neuplatonismus und die Mystik bis zu Heidegger reicht - , wie sich in der Sprache der >LogosZeichentheorieIndividualität< stellt sich in doppelter Hinsicht: Gefragt wird nach der Individualität des Gegenstandes, auf den sich das Verstehen richtet ebenso wie nach der Individualität des Subjekts, das verstehen will. An Herder kann die romantische Hermeneutik anknüpfen, die eine >moderne< Hermeneutiktheorie entwirft. Als >modern< läßt sich diese Hermeneutik nicht nur deshalb bezeichnen, weil sie historisch jüngeren Ursprungs ist und sich von älteren Entwürfen absetzt; >modern< ist sie vor allem deshalb, weil ihre Entstehung und die ersten Ansätze zu ihrer systematischen Ausarbeitung in einen Zeitraum fallen, in dem sich die Ursprünge der europäischen >Moderne< entfalten. Die deutsche Romantik wird, wie zuvor die Reformationszeit, zu einer hermeneutischen Epoche par excellence. Ihre Hermeneutik ist ein Krisenphänomen. Sie ent16 17 18 19 20

Herder, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, S. 373. Irmscher, Grundzüge der Hermeneutik Herders, S. 53. Vgl. ebd., S. 23-25. Herder, Über die neueste deutsche Literatur (hs. Zusatz), S. 246. Irmscher, Grundzüge der Hermeneutik Herders, S. 28.

44 wickelt sich im Zusammenhang mit einer historischen Konstellation, in der sich nicht nur die Frage nach dem Sinngehalt von Texten stellte, sondern in der grundsätzlich der Sinngehalt der Wirklichkeit in Frage stand. Es ist schon beobachtet worden, daß die wesentlichen Wendepunkte der Hermeneutikgeschichte in jene historischen Zeiten fallen, in denen die »sozial geübte Selbstverständlichkeit der Sinndeutung« durchbrochen wird.21 Die romantische Hermeneutik reagiert auf die Krise des Wahrheitsbegriffs, wie sie durch die kantische Philosophie manifest und mühsam behoben wurde. Der Verlust eines eindeutigen »Wahrheitsprinzips« zwingt dem Auslegen eine schöpferische Leistung ab. Es ist jetzt nicht mehr nur ein Mittel zur Erkenntnis, sondern wird selbst zur »Erkenntnisquelle«. 22 Das erklärt einerseits, warum die Aufklärung so wenig Probleme mit der Hermeneutik hatte: Das grenzenlose Vertrauen, mit dem sie die Erkenntniskräfte der Vernunft ausstattete, erstickte jeden Zweifel an der Verstehbarkeit und Gestaltbarkeit der menschlichen wie der natürlichen Wirklichkeit. Um die Wende zum 19. Jahrhundert ist dieses Vertrauen fragwürdig geworden. Die lebhaft diskutierte, zunächst von Schiller aufgeworfene und dann von Hegel aufgegriffene und systematisierte >EntfremdungsEntfremdung< ist eine Reaktion auf eine epochale Krisenerfahrung, in der die Selbstverständlichkeit der Lebenshorizonte brüchig geworden ist. Das Verhältnis des Subjekts zur Gesellschaft, zur Natur und schließlich zu sich selbst wird von Hegel als problematisch beschrieben; die Freisetzung des Subjekts in jenen Emanzipationsbewegungen, die ihren Ausgang von der Reformation nahmen, führt zu Verlusterfahrungen. Sie manifestieren sich in der Loslösung des Subjekts von »dem lebendigen Zusammenhange mit der Natur und der kräftigen und frischen, teils befreundeten, teils kämpfenden Gemeinschaft«. 23 Die Romantik reagiert auf diese Erfahrungen auf vielfältige, literarische und philosophische Weise; schließlich auch dadurch, daß sie das Problem des Verstehens neu bestimmt. Grundsätzlich stellt sie sich in die Tradition des Protestantismus, aber sie entdeckt neue Probleme und unternimmt den Versuch, das Verstehen selbst auf eine neue Basis zu stellen. Wie schwer ihr - und der Folgezeit diese Neubestimmung gefallen sein muß, läßt sich an einer auffälligen Äußerlichkeit ablesen: Während die drei vorhergehenden Jahrhunderte eine Fülle abgeschlossener und mehr oder weniger systematisierter Hermeneutikentwürfe vorgelegt haben, setzt mit der Romantik eine Tradition der skrupulösen Unabgeschlossenheit ein. Alle wirkungsmächtigen hermeneutischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts bis zu Dilthey und darüber hinaus sind Fragment geblieben. Zum erheblichen Teil wurden sie von ihren Urhebern nicht einmal veröffentlicht; die »Publikationsscheu« wird zu einem signifikanten Merkmal des hermeneutischen Denkens der Moderne.24

21 22 25 24

Hufnagel, Einführung in die Hermeneutik, S. 9. Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, S. 84. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 341. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 83.

45 Ihre ersten, fiir die Zukunft wegweisenden Formulierungen hat die moderne Hermeneutik durch Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts gefunden. Sie sind nicht originell, sondern können aufgreifen, was im romantischen Umfeld seiner Zeit, bei Friedrich Schlegel oder dem Philologen Friedrich Ast, schon vorgedacht worden war.25 Schleiermachers hermeneutische Konzeption ist kaum rekonstruierbar. Es handelt sich bei den überlieferten Texten teilweise um zerstreute Aufzeichnungen, deren erste bereits aus dem Jahre 1805 datieren; hinzu kommen Manuskripte zu Vorlesungen, die er bis 1832/33 gehalten hat, weiterhin zwei Akademiereden aus dem Jahre 1829;" und schließlich müssen Passagen aus anderen Werken - von der Ethik über die Dialektik bis zu den Vorlesungen über das Leben Jesu von 1832 - herangezogen werden. Entsprechend der komplexen Text- und Editionslage stellen sich die Versuche einer Rekonstruktion von Schleiermachers Hermeneutik schwierig dar; die Frage, was denn eigentlich Schleiermacher gemeint habe, ist bis heute umstritten. Schleiermachers hermeneutische Entwürfe sind fragmentarisch, unsystematisch und teilweise in sich widersprüchlich geblieben, aus ihnen hat sich aber im Verlauf ihrer Rezeption ein Kernbestand herauskristallisiert, in dem die entscheidenden Fragestellungen des Textverstehens formuliert werden. Manfred Frank hat in einer Neusichtung von Schleiermachers hermeneutisehen Schriften und unter Berücksichtigung von ergänzenden Texten herausgearbeitet, daß sich bei Schleiermacher alle Probleme vorformuliert finden, die sich der neueren Hermeneutikdiskussion, insbesondere seit ihrer Herausforderung durch die Dekonstruktion, stellen. Auf der Grundlage von Herders Vorarbeit und wohl in Anlehnung an Kants Vemunftkritik unternimmt Schleiermacher eine Revision der Möglichkeiten vernünftigen Denkens. Kants Vemunftkritik wird in eine noch weitergreifende Sinnkritik umformuliert, in der der Universalitätsanspruch der Vernunft aufgehoben wird: Die Frage nach dem Sinn von Sätzen ist grundlegender als die nach ihrer Richtigkeit - auch >richtige< Sätze müssen verstanden werden - und weniger klar zu beantworten.27 Schleiermachers erste und grundlegende Einsicht ist die, daß Verstehen sich nicht in Regeln fassen läßt und auf Verstehen gegründete Einsichten nicht jenen Grad von Verbindlichkeit und eindeutiger Mitteilbarkeit haben können, wie ihn Kant fur die synthetischen Urteile a priori< begründen wollte. Diese Einsicht wird gewonnen durch die Reflexion auf eine Eigenart des Verstehens, die in der Hermeneutikgeschichte zwar schon früh gesehen, aber in ihrer grundlegenden systematischen Bedeutung nicht erkannt wurde: Verstehen entfaltet sich aus der Spannung von >Individualität< und > Allgemeinheit ; zugleich eignet ihm eine unaufhebbare historische Dimension. Die ältere Schleiermacher-Interpretation hat sich auf die Frage nach der Individualität konzentriert. Schleiermacher wirft das Problem auf, wie der individuelle Interpret die Äußerungen eines anderen, die dessen Individualität entspringen, überhaupt verstehen könne. Wo der Gedanke an eine einheitsstiftende Vernunft

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Vgl. Birus, Zwischen den Zeiten, S. 16f. Vgl. die Übersicht bei Wach, Das Verstehen I, S. 83. Vgl. Frank, Einleitung, S. 9f.

46 sich nicht mehr als tragfähig erwiesen hat und das isolierte Individuum hervorgetreten ist, wird der Hermeneutik eine Erklärung dafür abgefordert, wie sich das verstehende Subjekt den Absichten des sich äußernden Subjekts nähern kann. Gewiß hat die Hermeneutikgeschichte die Frage nach der Absicht des Autors immer schon mitbedacht, aber aufgrund ihrer spezifischen Interessenlage vor Schleiermacher ist sie ihr kaum jemals zum Problem geworden. Eine >heilige SchriftInnewerden< als Ziel des Verstehens, das erreicht wird durch >Hineinversetzen< in den Schriftsteller. Die »divinatorische« Interpretation kommt der Absicht des Autors nahe, »indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht.«50 Aber auch die romantische Hermeneutik, die der

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Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 189. Ebd., S. 178. Ebd., S. 169.

47 Aufklärung noch zu nahe steht, als daß sie postmoderne Konsequenzen aus ihrem Dilemma zu ziehen vermöchte, kommt ohne ein loses Band nicht aus, das die isolierten Individuen verbindet und einen Rest an verstehensermöglichender Gemeinsamkeit sichert. Voraussetzung des Verstehens fremder Individualität ist die Unterstellung, »daß jeder von jedem ein Minimum in sich trägt«.31 Damit bleibt das aufklärerische Erbe bei Schleiermacher erkennbar. Der Gedanke einer umfassenden Vernunft, die potentiell alle Menschen gleich macht, wirkt nach, wird aber reduziert auf eben jenes »Minimum«. Diesen Gedanken hat Schleiermacher offenbar selbst hoch eingeschätzt. Er hat ihn schon bei Lichtenberg formuliert gefunden, - »daß in jedem Menschen etwas von allen ist« - und als einen »großen Gedanken« charakterisiert, von dem Lichtenberg eine nur unbedeutende, nämlich pragmatische, fast naturwissenschaftliche Anwendung finde.32 Die intuitionistisch fundierte >psychologische< Interpretation, die eine gewisse Kongenialität zwischen Interpret und Autor voraussetzt, wurde lange Zeit als die wesentliche hermeneutische Leistung Schleiermachers betrachtet. Im Historismus des 19. Jahrhunderts wird sie zum Schlüssel von geschichtswissenschaftlichen Verstehenstheorien, die sich vor dem Problem sehen, die Möglichkeit des Verstehens vergangener historischer Wirklichkeit begründen zu müssen. Tatsächlich bezeichnet die »psychologische Interpretation aber nur die eine Seite von Schleiermachers Hermeneutik, der auf der anderen Seite eine >grammatischeindividuellen< Seite der Interpretation die >allgemeine< von gleichberechtigter Bedeutung ist, wie Schleiermacher in einer »positiven Formel« zusammenfassend festhält: »diese ist >das geschichtliche und divinatorische (profetische) objektive und subjektive Nachkonstruieren der gegebenen Rede.«Problemgeschichte< der Interpretation spielt er indes nur eine untergeordnete Rolle; vgl. Kimmerle, Einleitung, S. 14-24. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 93. Vgl. Birus, Zwischen den Zeiten, S. 27-31.

48 In Schleiermachers Hermeneutik sind Probleme formuliert, die im 20. Jahrhundert als Grundkonflikt der hermeneutischen Kontroversen wiederkehren: als Konflikt zwischen »Positionen existenzialontologischer und semiologisch-strukturalistischer Abkunft.« 36 Das zugrundeliegende Problem stellt sich am Ende als die Frage, in welchem Verhältnis der >Sinn< einer Äußerung, der immer individuell sein muß, im Zusammenhang steht mit dem allgemeinen Ausdrucksmittel. Das Sprechen und das Verstehen entfalten sich in der Spannung zwischen individueller Sprache und der Sprache als einem System, das nicht festgefugt ist, sondern durch jede individuelle Äußerung eine Ergänzung und Verschiebung erfahrt. Die vorgegebene Sprache wird im individuellen Sprechakt immer modifiziert, jeder kann die gegebenen Elemente der Sprache frei kombinieren und »damit die Sprache sich zum Eigentum und kunstreichen Ganzen bilden, daß Ableitung und Übergang, Zusammenhang und Folge der Bauart seines Geistes genau entsprechen und die Harmonie der Rede der Denkart Grundton, dem Akzent des Herzen entspreche.«17 Für den Interpreten fordert dies die Verbindung von grammatischer und psychologischer Interpretation. Hieraus ergibt sich die Unendlichkeit und Unabschließbarkeit der Interpretation: »Die Aufgabe ist, so gestellt, eine unendliche, weil es ein Unendliches der Vergangenheit und Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehen wollen.«38 Diese Aporie bleibt der Hermeneutik bis in die Gegenwart erhalten. Schleiermacher hat sie nicht einfach mit seiner Theorie des >divinatorischen Verstehens< aufgelöst, wie es die Wirkungsgeschichte seiner Hermeneutik glauben machen könnte. Der Interpret kann sich nicht einfach unter Mißachtung der äußeren Gegebenheiten durch bloßes Erraten oder Einfühlen in seinen Gegenstand oder Autor hineinversetzen. Manfred Frank hat gezeigt, daß diese Vorstellung, die im 19. Jahrhundert eine große Rolle in der Hermeneutik gespielt hat, sich nicht auf Schleiermacher berufen kann. Bei Schleiermacher nämlich tritt die Divination nur in einem eng begrenzten Rahmen in ihr Recht. Sie richtet sich nur auf jenen Aspekt der Rede eines Autors, der mit dessen >Stil< gekennzeichnet ist. Der >Stil< bringt den individuellen Überschuß in das Allgemeine der Sprache. »Stil« ist die »eigentümliche Art« des Autors, seinen Gegenstand aufzufassen. 3 ' Hier erst ist die Divination gefordert, denn von »keinem Stil läßt sich ein B[egriff] geben.« 40 Für dieses schmale Segment, das freilich den Kernbereich der Autorindividualität betrifft, ist divinatorisches Verstehen legitim, aber nur in steter Verbindung mit der und Begrenzung durch die grammatische Interpretation. Die >grammatischeSprache< in ihrer historischen Dimension begreift, verrät er eine moderne Auffassung dieses Kom36 37 38 39 40

Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 13. Schleiermacher, Monologen, S. 445. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 94. Ebd., S. 168. - Vgl. Frank, Einleitung, S. 47f. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 172.

49 plexes. Jede Sprache bildet einen »Sprachkreis« oder eine »Denkgemeinschaft«,41 die unter historischer Perspektive ihre individuellen Eigentümlichkeiten hat, die aber gegenüber dem Individuum, das in diesem Sprachkreis sich bewegt, als ein »System« auftritt. Es wirkt an dessen Gestaltung durch seine Äußerungen mit, bleibt für ihn aber dennoch unhintergehbar.42 Das ist die historische Komponente, deren sich die Interpretation vergewissern muß: Jeder Sprachgebrauch eines Autors muß aus seinem Umfeld heraus erschlossen werden, oder, wie Schleiermacher einen der späteren Grundsätze der Hermeneutik bündig formuliert: »jeder Redende« ist »nur verstehbar durch seine Nationalität und sein Zeitalter«.43 Damit ist der Grund gelegt für die weitere Entwicklung der Hermeneutik, die sich wandelt von einer handwerklich betriebenen philologischen Wissenschaft zu einer >KunstVerstehen< ist niemals selbstverständlich; Schleiermacher postuliert vielmehr eine Universalität des Nichtverstehens, die eine Wende in der Hermeneutikgeschichte bedeutete. Die theologische Hermeneutiktradition, so fundamental sie auch die Frage nach dem Sinn der Schrift stellte, hielt grundsätzlich an deren prinzipieller Verständlichkeit fest. Hermeneutische Anstrengung wurde nur insoweit provoziert, als das Verstehen auf erkennbare Widerstände stieß. Schleiermacher hat dieses Prinzip umgekehrt und damit die Hermeneutik vor neue Aufgaben gestellt: Die strengere Praxis des Auslegens geht davon aus, daß sich »das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.«44 Das Nicht- oder das Mißverstehen wird von der Ausnahme zur Regel, mit der Konsequenz, daß jedes Verstehen einer methodischen Anstrengung bedarf.

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45 46

Ebd., S. 423; S. 417. Vgl. Frank, Das individuelle Allgemeine, S. 131. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 78. Ebd., S. 94. - Vgl. Bollnow, Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selber verstanden hat?, S. 10f.; Bollnow vermutet einen noch hinter Kant zurückgehenden Ursprung der Formel. Frank, Einleitung, S. 41. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 92.

50 Erst auf der Grundlage dieser Einsicht kann sich die moderne Hermeneutik in allen ihren Implikationen entfalten - erst Schleiermacher hat Ernst mit dem Grundsatz gemacht, daß sich Verstehen nicht von selbst versteht. Im Gesamtkomplex von Schleiermachers Hermeneutik kommt der Individualität des Gegenstandes und des Interpreten also eine geringere Bedeutung zu, als es die Wirkungsgeschichte glauben machen will. Tatsächlich kreist Schleiermacher wesentlich um die Frage, in welcher Weise individuelle Erscheinungsformen des Sprechens mit dem Allgemeinen der Sprache vermittelt sind, in dem wiederum das Allgemeine einer >Denkgemeinschaft< sich zur Geltung bringt. Die romantisch-intuitionistischen Komponenten der Verstehenstheorie kommen erst später, nach Schleiermacher, zum Durchbruch. Das Interesse am Allgemeinen im Verstehen tritt auf eine noch erstaunlichere und wirkungsvollere Weise hervor in Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie. Erstaunlich ist das deshalb, weil Humboldt sich in der deutschen Geistesgeschichte als Denker der Individualität profiliert hat. Seine bildungstheoretischen Entwürfe, die das deutsche Schul- und Universitätswesen entscheidend bestimmten, zielten auf die harmonische »Entfaltung der Individualität« im Medium vor allem der klassischen und philosophischen Bildung.47 In seinen späteren sprachtheoretischen Untersuchungen, die zumindest der deutschen Sprachwissenschaft über ein Jahrhundert lang die Richtung gewiesen haben, wird diese Auffassung revidiert. Die Idee der Sprache wird grundsätzlich neu bestimmt; dabei tritt der Aspekt ihrer gemeinschaftsbildenden Funktion in den Vordergrund. Zunächst hat Humboldt der Sprachtheorie ihre metaphysische Voraussetzung genommen, die ihr bis in die Aufklärung und gerade dort noch anhaftete, die Vorstellung nämlich, daß Sprache als System von Zeichen eine >Substanz< sei, deren sich der Sprechende einfach nur zu bedienen brauche. Humboldt definiert sie neu und geht über Schleiermacher hinaus, der sich über den Charakter der Sprache wenig Gedanken gemacht hatte. In seinem sprachtheoretischen Hauptwerk, der postum erschienenen Einleitung in die Kawi-Sprache, findet Humboldt die lange nachwirkende Formel für die Charakterisierung der Eigenart von Sprache: »Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia).«48 Indem Humboldt den Gedanken vom bloß instrumentalen Charakter der Sprache verabschiedet, wachsen ihr neue Möglichkeiten und Funktionen zu. Sie gewinnt eine eigene Stellung zur Welt; sie ist nicht bloßes Mittel zur Formulierung und Mitteilung von Gedanken, sondern sie erhält selbst eine erkenntnisstiftende Kraft. Mit ihr schafft der Geist sich ein Medium der Weltansicht. Das ist der neue Gedanke Humboldts: Die Menschheit bedarf der Sprache »zur Entwicklung ihrer geistigen Kräfte und zur Gewinnung einer Weltanschauung, zu welcher der Mensch nur gelangen kann, indem er sein Denken an dem gemeinschaftlichen Denken mit Anderen zur Klarheit und Bestimmtheit bringt«.49

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Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, S. 65. Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, S. 418. Ebd., S. 390.

51 Die Sprache bestimmt das Denken; diese Auffassung ist von Herder schon vorformuliert, der seinen Darlegungen Ueber die neueste deutsche Literatur, besonders in ihrer zweiten Fassung, lange Überlegungen über die Sprache vorangeschickt hat. Auch er kommt zu der wegweisenden Formulierung: »Wir denken in der Sprache«; jede »Nation spricht also, nach dem sie denkt, und denkt, nach dem sie spricht.«50 Humboldt greift diese Gedanken auf und fundiert sie auf umfangreichen empirischen Untersuchungen. Die Sprache bestimmt die gesamte Weltauffassung einer Gemeinschaft: »so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht«.51 Sie wird dadurch dem einzelnen Menschen ebenso wie einer Nation zu einer »äusserlichen Macht«.52 Humboldt vollendet damit eine sprachphilosophische Entwicklung, die ihre Ursprünge in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat und eine Gegenposition einnimmt gegenüber der rationalistischen Idee einer >UniversalspracheKeimentschluß< des Autors finden kann. Der subjektiven Intuition liegt zugleich eine universale Komponente zugrunde. Ast postuliert die Einheit aller geistigen Erscheinungen: »So ist alles aus Einem Geist hervorgegangen und strebt in Einen Geist wieder zurück.«57 Die Formulierung des Problems, wie eine vergangene und fremde Welt verstanden werden kann, fällt schließlich mit seiner Lösung zusammen: »Alles Verstehen und Auffassen nicht nur einer fremden Welt, sondern überhaupt eines anderen ist schlechthin unmöglich, ohne die ursprüngliche Einheit und Gleichheit alles Geistigen und ohne die ursprüngliche Einheit aller Dinge im Geiste.«58 Ast ist bestimmt vom idealistischen und romantischen Geist seiner Zeit. 5 ' Seine Formulierungen erscheinen einerseits als eine irrationalistische Version des aufklärerischen Vernunftuniversalismus; sie verweisen andererseits auf die Identitätsphilosophie Hegels und schließlich auf die >Divinationstheorie< Schleiermachers. Ganz ähnlich wie die Altphilologie bemächtigt sich auch die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts des intuitionistischen und universalistischen Theorems, um ein pragmatisches Problem zu lösen. Ausgerechnet der Historismus, der in der Nachfolge Herders den aufklärerischen »Glauben an die Unveränderlichkeit der höchsten menschlichen Ideale und an die zu allen Zeiten vorhandene

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Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, S. 171. Ebd., S. 167f. Vgl. Patsch, Friedrich August Wolf und Friedrich Ast, S. 89-92.

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Gleichartigkeit der menschlichen Natur« verabschiedet hat, kommt ohne das Vertrauen auf ein unhistorisches Moment in der Geschichte als dem Bedingungsgrund der Möglichkeit des Verstehens nicht aus. Der Historismus des 19. Jahrhunderts löst das hermeneutische Problem des Historikers, der sich einer vergangenen Welt gegenübersieht, indem er - wie Ranke - pantheistische Konstruktionen eines »universalen Zusammenhanges« methodisch wendet und »Mitgefühl, Mitwissenschaft des Alls« unterstellt." In der Altphilologie und der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts wird so die romantische Hermeneutik weitergeführt, aber kaum weiterentwickelt; gegenüber den intrikaten Erörterungen Schleiermachers ist eher ein Rückschritt im Sinne einer Vereinfachung und Verengung zu beobachten. Das mag freilich damit zusammenhängen, daß die Hermeneutik des 19. Jahrhunderts sich wesentlich als Methodenlehre einzelner Fächer entwikkelt und entsprechend pragmatische Rücksichten zu nehmen hatte. Diese Beschränkung verliert sie mit Diltheys Versuch einer neuerlichen, eher philosophischen als fachwissenschaftlichen Grundlegung. Seine Neuorientierung der Hermeneutik ist offensichtlich inspiriert vom Ungenügen an einer hermeneutischen Theorie in der Schleiermacher-Tradition, die sich auch dort, wo sie im Feld der positiven Wissenschaften angewendet wird, auf intuitionistische Grundlagen berufen mußte. Diltheys Unzufriedenheit mit dieser Situation entspringt dem Denken eines Zeitalters, dessen Wissenschaftsideal von den Naturwissenschaften und dessen Philosophiebegriff von Kant geprägt ist. Aber trotz dieser Ausrichtung an einem modernen Wissenschaftsideal ist Diltheys Hermeneutik vom Erbe der romantischen Tradition geprägt, das ein Erbübel der Hermeneutik ist: Diltheys hermeneutische Theorie bleibt in jeder Hinsicht unscharf und fragmentarisch, darin übertrifft sie noch Schleiermacher. Die ersten Anregungen für sein hermeneutisches Denken gehen gewiß auf seine große Schleiermacher-Biographie von 1870 zurück, die selbst schon als Anwendung eines hermeneutischen Verfahrens verstanden werden kann.62 Er diskutiert Grundsatzfragen der Hermeneutik sodann in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften, deren erster Band 1883 erschien; er setzt seine Überlegungen fort in pädagogischen und psychologischen Abhandlungen, vor allem in seinem Aufsatz Über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie von 1894 und seinem berühmten Aufsatz über Die Entstehung der Hermeneutik von 1900. Seine Überlegungen münden schließlich in dem Spät- und wohl auch Hauptwerk über den Außau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, das kurz vor seinem Tod als Fragment 1910 erschien. Der Gegenstand und Anwendungsbereich der Hermeneutik wandeln sich im Laufe der Entwicklung und bleiben auch in sich unkonturiert. In eher psychologisch orientierten Überlegungen widmet Dilthey sich dem Problem des Verstehens individueller fremder Lebensäußerungen; er nimmt daneben die geschichtliche Welt in den Blick, auf die sich die wissenschaftliche, aber auch die vorwissenschaftliche Auslegung richten kann; Hermeneutik kann

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Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 13. Ranke, Das politische Gespräch, S. 52. Vgl. Rodi, Zwischen Begriffs- und Philosophiegeschichte, S. 26-30.

54 schließlich jede Form des Verstehens oder aber auch nur eine kunstmäßig betriebene Auslegung im engeren Sinne sein. Eindeutige Aussagen zu diesen Problemen finden sich nicht. Immerhin aber läßt sich tendenziell eine Verengung des Hermeneutik-Begriffs auf jene Form von Auslegung feststellen, die sich auf kulturelle und damit dem ständigen Wandel entzogene Gegenstände richtet. 63 Diese Auffassung mündet in einer berühmten Formel, die das Bild von Diltheys Hermeneutik in ihrer Wirkungsgeschichte bestimmt hat: Die »Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen nennen wir Hermeneutik.« 64 Dennoch steht fur Dilthey nicht das Problem des Verstehens im Vordergrund. Er versucht vielmehr, auf hermeneutischer Grundlage eine Neufundierung der Geisteswissenschaften durchzufuhren, die den Wissenschaftsansprüchen seiner Zeit gerecht wird. Dabei folgt er der Idee nach dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal seiner Zeit, indem er auch für die Hermeneutik »Objektivität« und »Allgemeingültigkeit« ihrer Ergebnisse reklamierte und damit den intuitionistischen Weg der Romantik wieder verlassen wollte. 65 Die Verpflichtung gegenüber dem naturwissenschaftlichen Ideal zeigen seine gelegentlichen Bemerkungen zur Methode der Geisteswissenschaften: »Es sind selbstverständlich [ . . . ] dieselben elementaren logischen Operationen, die in den Geistes- und Naturwissenschaften auftreten. Induktion, Analysis, Konstruktion, Vergleichung«. 66 Eine Anleihe bei Kant verdeutlicht die Absicht wie auch den Gegenstandsbereich einer Hermeneutik, die sich selbst kaum einmal so nennt: Es geht Dilthey um eine »Kritik der historischen Vernunft, d. h. des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen.« 67 Trotz des Rückgriffs auf Kant bleibt der Unterschied zu dessen Denkansatz aber fundamental. Diltheys Interesse richtet sich auf das empirische Subjekt in seinen historischen Bezügen und nicht auf ein transzendentales Subjekt kantischer Prägung. 68 Der Bezug zu Kant ist dennoch nicht abwegig, denn Dilthey faßt seine Hermeneutik als einen Teil der Erkenntnistheorie, die sich mit der Forderung, Fremdes aufzufassen, vor eine ihrer schwersten Aufgaben gestellt sieht. 69 Von hier aus läßt sich die Eigenart von Diltheys Hermeneutik erschließen, wie sie sich besonders in den Endstufen ihrer Entwicklung darstellt. Ihr Gegenstand ist die geschichtliche Welt; diese wird begriffen als eine Reihung menschlicher Hervorbringungen, die als sinnhafte Manifestationen auftreten und als solche verstanden werden müssen. Die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens fremden geschichtlichen Sinnes wird schließlich in der Weise beantwortet, wie sie Schleiermacher vorgegeben hatte. Das Fremde ist deshalb nicht fremd, weil der Verstehende und das zu Verstehende immer schon ineinander verschlungen

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Vgl. Hufnagel, Wilhelm Dilthey, S. 192; S . 196. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, S. 332f. Ebd., S. 3 1 7 . Ebd., S. 3 3 4 . Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 116. - Vgl. auch die Widmungsvorrede an den Grafen Paul Yorck von Wartenburg, ebd., S . IX. Vgl. Hufnagel, Wilhelm Dilthey, S. 175. Vgl. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, S. 333f.

55 sind: »die erste Bedingung fur die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft liegt darin, daß ich selbst ein geschichtliches Wesen bin, daß der, welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht.« 70 An die Stelle einer universalistischen Geisttheorie tritt die Praxis menschlichen Handelns in der Geschichte. In diesem unidealistischen Sinne sind auch jene Formulierungen zu verstehen, die ein Hegelsches Erbe verraten. Wenn Dilthey die »Totalität des Geistes und der Universalgeschichte« voraussetzt, aus der alle ihre Erscheinungen hervorgehen und auf die sie zurückfuhrbar sind,71 dann darf dies wohl in einem spezifisch historischen Sinne aufgefaßt werden: Die »Totalität des Geistes« ist nicht so total wie bei Hegel; gemeint ist vielmehr eine »Sphäre von Gemeinsamkeit«, die sich als konkrete Kulturgemeinschaft fassen läßt. 72 Von hier aus fuhrt ein direkter Weg zur Einsicht in die Standortgebundenheit des Verstehens. In der Konsequenz seiner eigenen Auffassung, daß der Verstehende der Welt angehört, die er zu verstehen trachtet, formuliert Dilthey das Postulat, daß der geisteswissenschaftliche Betrachter der historischen Wirklichkeit sich nicht als neutraler Beobachter gegenüberstellen kann. Die Geisteswissenschaften verstehen historische Sachverhalte, »während sie im Leben stehen«. Das Urteil der Geisteswissenschaftler ist »von ihrer Individualität, der Nation, der sie angehören, der Zeit, in der sie leben, bedingt. Selbst wo sie voraussetzungslos zu verfahren glauben, sind sie von diesem ihrem Gesichtskreis bestimmt«. 73 Diese zentrale Einsicht wird aber von Dilthey nur widerwillig akzeptiert; sie steht in einem offenkundigen Widerspruch zum Objektivitätsideal der Naturwissenschaft, dem er die Hermeneutik anzugleichen versucht. Jürgen Habermas hat auf den »heimlichen Positivismus« dieses Erkenntnisideals verwiesen und ihm gegenüber auf Diltheys ursprünglichen Einsichten bestanden. Der »praktische Lebensbezug der Geisteswissenschaften, der sowohl ihre historische Entstehung als auch ihren faktischen Verwendungszusammenhang bestimmt«, ist dem hermeneutischen Verfahren nicht äußerlich, sondern transzendentale Bedingung seiner Möglichkeit. Geschichtliche Prozesse gehen unmittelbar in das hermeneutische Verstehen ein. Eine »Kritik der historischen Vernunft« muß mithin selbst historisch verfahren, indem sie den »Interessenzusammenhang« rekonstruiert, dem Verstehen »auf transzendentaler Ebene eingebettet ist«. 74 Dieser Gedanke findet sich bei Dilthey, vielleicht wider Willen, vorformuliert, und mit ihm gibt er der weiteren Entwicklung der philosophischen Hermeneutik ihre Richtung vor. Die Bindung des Interpreten an seine eigene »Lebenspraxis« und an den »Traditionszusammenhang«, aus dem er hervorgegangen ist, formuliert weniger das Dilemma als die Prämisse geisteswissenschaftlicher Arbeit. 75 Mit ihr wird nicht nur die Chimäre des Objektivismus verabschiedet, sondern zugleich die intuitionistische Hermeneutik der verengten Schleiermacher-Tradition, die darauf 70 71 72 73 74 75

Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 2 7 8 . Ebd., S. 191. Ebd., S. 146f.; S. 208f. Ebd., S. 137. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 224. Ebd., S. 2 2 8 . - Vgl. Rodi, Traditionelle und philosophische Hermeneutik, S. 99f.

56 vertraute, daß das verstehende Subjekt sich im kongenialen Akt des Hineinversetzens jeder historischen Kontingenz entledigen könne. Dem weiterreichenden theoretischen Ehrgeiz, dem Dilthey in seinem Versuch einer Grundlegung der Geisteswissenschaften folgt, genügt diese Einsicht indes noch nicht. Es geht ihm nicht um das Verstehen einzelner Äußerungen oder Texte, sondern die universalistische Wendung der Hermeneutik Schleiermachers wird einen Schritt weitergetrieben. Die in der geschichtlichen Welt vorfindbaren sinnhaften Erscheinungen verweisen auf ein ihnen Zugrundeliegendes: »Wie die Buchstaben eines Wortes haben Leben und Geschichte einen Sinn.«76 Was freilich unter diesem >Sinn< zu verstehen ist, bleibt bei Dilthey diffus; es ist wohl eines der größten Probleme seines Ansatzes, daß er eine hermeneutische Theorie begründen will, ohne den Bedeutungsbegriff zu klären und ohne überhaupt an jene hermeneutische Tradition anzuknüpfen, die das Verstehen immer in der Sprache verwurzelt sah.77 Gegenstand des Verstehens ist fur ihn das >LebenLeben< fundiert, das zugleich ihr Gegenstand ist: »Leben, Lebenserfahrung und Geisteswissenschaften stehen so in einem beständigen inneren Zusammenhang und Wechselverkehr«.78 Diese lebensphilosophische Fundierung der Hermeneutik hat paradoxe Konsequenzen. Sie sollte Dilthey das Instrument bieten für die von ihm angestrebte Annäherung der Geisteswissenschaften an das Erkenntnisideal der Naturwissenschaften. 79 Das >Leben< tritt dem verstehenden Betrachter nicht als Erscheinung eines stets sich wandelnden und immer neue individuelle Phänomene hervorbringenden Prozesses entgegen, sondern als fixierte Struktur, die auf die letzte und unveränderliche Einheit zurückverweist und so der wissenschaftlichen Betrachtung im Sinne des Objektivitätsideals zugänglich wird.10 Gerade das >Leben< aber als der letzte Bezugspunkt, der den historischen Erscheinungen ihre wissenschaftliche Objektivierbarkeit sichern soll, begründet die Aporie einer Hermeneutik, die ihren Objektivitätsanspruch nur retten kann, indem sie ihn auf eine irrationale Grundlage stellt. Das >Leben< wird zum letzten Axiom des Verstehens; damit löscht Dilthey die objektivistischen und rationalistischen Implikationen seiner Verstehenslehre aus. Die irrationalistische Wendung der Hermeneutik kommt nicht von ungefähr. Sie ist zu verstehen als die Reaktion auf eine Krisenerfahrung, die im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts manifest geworden war. >Leben< ist in diesem Zusammenhang ein »kultureller Kampfbegriff und eine Parole, die den Aufbruch zu neuen Ufern signalisieren soll«.81 Sie artikuliert sich als Gegenbewegung zum Hyperrationalismus einer technisierten und industrialisierten Wirklichkeit, die in 76 77 78 79 80

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Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 291. Vgl. Anz, Hermeneutik der Individualität, S. 75f. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 136. Vgl. Habermas, Erkennntnis und Interesse, S. 230. Vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 146; dazu Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 231. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 172.

57 Literatur und Philosophie zusehends Unbehagen auszulösen begann und der breiten Strömung der >Lebensphilosophie< den Boden bereitete. Der Zwiespalt in Diltheys Hermeneutik ist unaufgelöst geblieben. Das objektivistische Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts als Zielpunkt seiner Bemühungen und die Lebensphilosophie als ihre Grundlage lassen sich nicht versöhnen. Die von Dilthey wie selbstverständlich erhobene Forderung nach >Allgemeingültigkeit< jeder geisteswissenschaftlichen Aussage läßt sich mit den Mitteln, die seine Hermeneutik bereitstellt, nicht erfüllen. Diltheys Hermeneutik bietet einen dreifachen Ansatzpunkt fur die weitere Entwicklung: Das objektivistische Ideal wurde nicht weiter verfolgt; die Aporien, in die sich Dilthey damit verstrickt hat, werden vielmehr später für Gadamer zum Beleg fur die Unversöhnbarkeit von hermeneutischer >Wahrheit< und wissenschaftlicher >MethodeLebensSubjekt< des deutschen Idealismus bei Heidegger - einen Entwurf, der auf die Möglichkeiten seiner Existenz zielt: »Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.«85 Von dieser Grundposition aus reflektiert Heidegger die Struktur des Verstehens. Dabei wirft er die entscheidende Frage auf, was eigentlich unter >Sinn< zu verstehen sei. Seit den Anfängen der Hermeneutik bestand ein Konsens darüber, daß das Verstehen des >Sinns< einer Aussage das Ziel der Interpretation sei; was aber unter >Sinn< zu verstehen sei, blieb unerörtert. Gegenüber der traditionellen und meist stillschweigend vorausgesetzten Auffassung, daß >Sinn< dem Objekt des Verstehens eigne, hat Heidegger wiederum eine Wendung vollzogen: Dem »Dasein« erscheint die Welt als ein »Ganzes von Bedeutsamkeit«, das ihr aber selbst nicht als Eigenschaft zukommt, welche in einem hermeneutischen Entdekkungsakt erschlossen werden könnte. Das Verstehen ist vielmehr ein Akt der Sinnstiftung; Sinn kann dem »Seienden« nur zukommen in bezug auf ein »Dasein«. Im Verstehen wird Sinn entworfen, nicht entdeckt oder aufgedeckt: »Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird.«86 In diesen drei Begriffen liegt das Zentrum von Heideggers Hermeneutik, sofern sie Verstehenstheorie und nicht Existentialphilosophie - ist. Sie begründen die »Antizipationsverwiesenheit allen geisteswissenschaftlichen Auslegens.«87 Gewiß wurde zuvor schon gesehen, daß voraussetzungsloses Verstehen nicht möglich ist. Daß aber die Voraussetzungen nicht nur als verstehenshemmend begriffen werden dürfen, ist eine Einsicht, die erst von Heidegger in voller Konsequenz formuliert wurde: »Auslegung ist nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen.« 88 In den Akten von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff wird der Gegenstand dem Verstehen als sinnhafter zugänglich gemacht, indem sein Sinn konstituiert wird. Sie bestimmen die Hinsicht, unter der etwas betrachtet wird, sie machen es begreiflich, indem sie es auf eine bestimmte Auslegbarkeit hin zurichten und sie finden schließlich die - angemessenen oder unangemessenen - Begriffe, in denen der Gegenstand gefaßt wird. Heideggers Neubegründung der Hermeneutik fuhrt die Tendenz zur Universalisierung ihres Geltungsanspruchs einen Schritt weiter. Dabei gerät sie in ein merkwürdiges Verhältnis zur Geschichte und zur empirischen Wirklichkeit. Was 84 85 86 87 88

Heidegger, Sein und Zeit, S. 37. Ebd., S. 145. Ebd., S. 151. Hufnagel, Einführung in die Hermeneutik, S. 46. Heidegger, Sein und Zeit, S. 150.

59 sich in Heideggers Analyse zunächst wie eine Reduktion des Verstehens auf die Zufälligkeiten der dreifach dimensionierten >Vorstruktur< ausnahm, stellt sich schließlich als Begründungsversuch strenger Objektivität heraus. Einerseits betreibt Heidegger eine Historisierung des Verstehens. Das Verstehen, das sich auf den Sinn von Sein richtet, gerät in den Sog der Verzeitlichung. Sein ist nur als Zeit denkbar; diese Radikalisierung der Zeitlichkeit des Verstehens fuhrt aber in einer paradoxen Wendung von seiner Historisierung weg. Heidegger denkt nicht an historisch aufgefüllte Zeit, sondern an Zeit an sich. Die empirische Dimension der Zeit wird ausdrücklich abgewiesen: Sie gehört in den Bereich des »Man« als »Modus des alltäglichen Selbstseins«, der Öffentlichkeit und der Beliebigkeit der Volksmeinungen.89 Das auf die Zeitlichkeit gerichtete Denken begründet eine Geschichtsfeindlichkeit, die Heidegger die Annäherung an die politische Macht im gleichen Maße erleichtert, wie sie den »Weg verbaut, von der Geschichtlichkeit zur realen Geschichte vorzudringen«.90 Es mag sein, daß diese Enthistorisierung der Selbstauslegung durch Weltauslegung bei Heidegger nicht von vornherein intendiert und angelegt war. Seine jetzt zugängliche Vorlesung über die Hermeneutik der Faktizität aus dem Jahre 1923 weist Überlegungen auf, die sich vielleicht als >ideologiekritisch< verstehen lassen.91 In dieser Vorlesung entfaltet Heidegger schon einige Grundmotive von Sein und Zeit, insbesondere auch in bezug auf die Auffassung der Hermeneutik. Der Hermeneutik wird die Aufgabe zugewiesen, der »Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist« nachzugehen.92 Wenn Heidegger von der »Selbstentfremdung« redet, klingt in der Tat ein zentrales Moment der deutschen Tradition eines Linkshegelianismus an, der verständlich macht, daß Heidegger, vermittelt über Schüler wie Herbert Marcuse, indirekte Ausstrahlungen auf das deutsche ideologiekritische Denken des 20. Jahrhunderts haben konnte.93 Ob allerdings diese Vorüberlegungen zu Sein und Zeit umstandslos zur Interpretation seines Haupttextes herangezogen werden dürfen und sich gar behaupten läßt, daß von ihnen aus erst das »originell hermeneutische Anliegen von Sein und Zeit erhellt werden« könne, ist eine andere Frage.94 Es sieht doch eher so aus, als lasse sich bei Heidegger von den früheren Vorlesungen über Sein und Zeit bis zur Philosophie nach der >Kehre< eine kontinuierliche Entwicklung feststellen, die auf eine zunehmende und schließlich endgültige Abwendung von der geschichtlichen, politischen, sozialen und kulturellen empirischen Wirklichkeit hinausläuft. Den hermeneutischen Gehalt von Heideggers Sein und Zeit hat Hans-Georg Gadamer gehoben. In Wahrheit und Methode von 1960, dem grundlegenden Werk der neueren Hermeneutik-Diskussion, greift Gadamer auf den Kernbestand von Heideggers Analyse der Hermeneutik der Faktizität zurück, die dem Verste89 90 91 92 93

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Ebd., S. 114. Habermas, Martin Heidegger - Werk und Weltanschauung, S. 58. Vgl. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität, S. 84. Heidegger, Ontologie, S. 15. Vgl. Grondin, Das junghegelianische und ethische Motiv in Heideggers Hermeneutik der Faktizität, S. 94f. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität, S. 72.

60 hen eine neue Dimension gegeben habe: Verstehen ist für Heidegger »die ursprüngliche Vollzugsform des Da-Seins, das In-der-Welt-Sein«. Wahrheit und Methode ist der »Herausarbeitung dieses neuen Aspekts des hermeneutischen Problems« gewidmet.95 Dieser Text ist der Sache nach ein Fragment geblieben, auch wenn er äußerlich abgeschlossen vorgelegt wurde. Er diskutiert gleichermaßen unter einer theoriegeschichtlichen wie einer systematischen Perspektive Grundprobleme des hermeneutischen Denkens, dessen Wurzeln in Einzelaspekten bis in die Antike zurückverfolgt werden. Wahrheit und Methode hat keine einheitliche Konzeption, wohl aber eine einheitliche Intention: Es geht Gadamer nicht nur darum, einen eigenen Bereich geisteswissenschaftlichem Denkens von dem der Naturwissenschaften abzugrenzen; es soll darüber hinaus gezeigt werden, daß die Geisteswissenschaften ihre eigene >Wahrheit< haben: »So rücken die Geisteswissenschaften mit Erfahrungsweisen zusammen, die außerhalb der Wissenschaft liegen: mit der Erfahrung der Philosophie; mit der Erfahrung der Kunst und mit der Erfahrung der Geschichte selbst. Das alles sind Erfahrungsweisen, in denen sich Wahrheit kundtut, die nicht mit den methodischen Mitteln der Wissenschaft verifiziert werden kann.«96 Das ist und bleibt ein Grundmotiv Gadamers in allen seinen späteren Arbeiten. Die Wahrheit der abendländischen >Wissenschaft< ist nicht die >Wahrheit< des Menschen. Denn die wissenschaftliche Methode schneidet ab, was zur Wahrheit gehört: die geschichtliche Bedingtheit und Endlichkeit; kurz: den >Situationshorizont< der Aussage, zu dem der gehört, der etwas sagt ebenso wie der, dem etwas gesagt wird.97 Die so begründete >philosophische Hermeneutik< Gadamers zeichnet sich gegenüber Heidegger trotz ihrer erklärten Nachfolgerschaft dadurch aus, daß bei ihr die >Zeit< wieder zur Geschichte wird. Gadamer kann zeigen, daß >Verstehen< nicht nur einfach an geschichtliche Voraussetzungen gebunden ist, sondern er arbeitet die Geschichtlichkeit des Verstehens in ihrer Bedeutung für das Auslegen heraus. Er insistiert zunächst in einem zentralen Punkt auf der realen Geschichtlichkeit des Verstehens, die in der Geschichtlichkeit des Verstehenden begründet ist: Geschichtlichkeit bedeutet Endlichkeit; das Verstehen, das auch in der traditionellen Hermeneutik als zirkulärer und grundsätzlich unendlicher Vorgang begriffen wurde, steht dieser Endlichkeit entgegen. Dieser Gedanke wird ausdrücklich gegen Dilthey gewendet, dem Gadamer die Frage stellt, »wie der endlichen Menschennatur solches unendliche Verstehen möglich sein soll.«98 Gadamer hat allerdings von Dilthey genau dies gelernt, daß Hermeneutik eine Philosophie der Endlichkeit ist. Während Dilthey diese Einsicht schwer akzeptieren konnte und an ihrer Überwindung arbeitete, macht Gadamer es zum Programm seiner Hermeneutik, »daß die Geschichtlichkeit aller Aussagen auf die grundsätzliche Endlichkeit unseres Seins zurückgeht.« 99 Die Hermeneutik stellt nicht die letzten Fragen, weil sie weiß, daß es keine letzten Antworten gibt. 95 96 97 98 99

Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 245. Ebd., S. XXVI. Vgl. Gadamer, Was ist Wahrheit?, S. 52f. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 218. Gadamer, Was ist Wahrheit?, S. 54.

61 Gegen dieses Dilemma von theoretischem Unendlichkeitsbedarf und faktischer Endlichkeit fuhrt Gadamer die Vorstruktur des Verstehens in einer neuen Variante ein. Jedes Verstehen ist auf Vorurteile angewiesen. Anders als die Aufklärung es wollte, zielt Gadamers Hermeneutik nicht auf die Überwindung dieser Vorurteile; sie werden vielmehr zur Voraussetzung eines Verstehens, das nur durch sie jene Endlichkeit erhalten kann, die der Geschichtlichkeit des Menschen entspricht.100 Die Vorurteilsstruktur des Verstehens wird diesem unabweisbaren Sachverhalt der Endlichkeit gerecht. Vorurteile, so argumentiert Gadamer gegen die Aufklärung, in deren deutscher Tradition erstmals Thomasius den Begriff der »Autorität« in einem »pejorativen Sinn« gebrauchte,101 können legitim sein. Wenn sie sich nicht bloß blind auf Autorität stützen, sondern sich einer als legitimiert anerkannten Autorität unterwerfen, sind sie gerechtfertigt; legitim ist eine Autorität, wenn sie nicht verliehen, sondern erworben wurde. In der Hermeneutik wird ein Spezialfall legitimer Autorität wirksam: die Tradition. Aus kulturellen Traditionen herausgewachsene >Vorurteile< sind nicht beliebig und nicht ohne weiteres fungibel. Die Autorität der Traditionen verleiht ihnen ihre eigene Legitimität; diesen Gedanken hat Gadamer immer wieder neu variiert vorgetragen, ohne damit - und dies blieb ein ungeklärter Punkt in den Diskussionen über Wahrheit und Methode - ausdrücklich eine Unterwerfung unter sie zu fordern: Es soll sich immer um eine »Hingabe an die Tradition, die gewiß eine wissentliche ist«, handeln.102 Gegen die cartesianische Tradition einer aufklärerischen Skepsis, die alles immer in Frage stellen will, steht eine Realität, die Unbefragtheiten voraussetzen muß und Entscheidungen fordert - das ist einer der Kemgedanken von Gadamers Hermeneutik, der politische Diskussionen herausfordern mußte. Denn ideengeschichtlich bleibt dieser Gedanke ambivalent. Die Rehabilitation der Autorität der Tradition steht unzweifelhaft in einer konservativen Denktradition; erstmals entwickelt wurde das Argument, daß ohne Tradition weder Sprache noch Vernunft möglich seien, 1830 von de Bonald in ausdrücklicher Abkehr von aufklärerischem Rationalismus und Französischer Revolution.103 An diesem Konservativismus haben sich die Diskussionen mit Gadamer entzündet. Auf der einen Seite findet er Zustimmung. Die hermeneutische Wendung gegen die aufklärerische Idee der >Kritik< im Namen der menschlichen Endlichkeit wird als ein Instrument der Skepsis gewürdigt.104 Die Gadamer-Kritiker haben andererseits die Frage aufgeworfen, ob und in welcher Weise die Bindung des Verstehenden an die Geschichte überwunden werden kann und muß: »Das Verständnis der Vergangenheit kann erst nach ihrer Überwindung beginnen, wobei das Verstehen selbst zur Überwindung beiträgt, weil es die Vergangenheit als gemacht und geworden und damit als aufhebbar und vergänglich interpretiert«.105 Dies ist die Position einer 100 101 102 103 104 105

Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 261-269. Rabe, (Art.) Autorität, S. 394. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 224. Vgl. Wiedenhofer, (Art.) Tradition, S. 638f. Vgl. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, S. 14-20. Schlaffer, Die Entstehung des hermeneutischen Bewußtseins, S. 71.

62 >kritischen HermeneutikAutorität< der Tradition dagegen dem Verdacht des Konservativismus Nahrung geben: »Es ist das vieldeutige Verdienst Gadamers, die hermeneutische Praxis wieder auf die Macht von Autoritäten zu gründen.«106 Gadamer ist deshalb schon von Habermas kritisiert worden. Die Auseinandersetzung zwischen Gadamer und Habermas entzündete sich an der Frage, in welcher Weise und in welchem Umfang das Subjekt über seinen Hintergrund von Tradition verfugen kann. Habermas besteht darauf, daß die hermeneutischen Wissenschaften zwar in einen Lebens- und Handlungszusammenhang eingebettet und auf ihn rückverwiesen sind, daß sie sich ihm aber nicht unbefragt überantworten und der »Dogmatik der Lebenspraxis« verfallen dürfen.107 Gadamer wiederum wendet gegen eine Ideologiekritik mit universalem Anspruch ein, daß sie den sozialen Rahmenbedingungen verhaftet bleibt, aus denen sie hervorgeht und gegen die sie sich immer nur partiell richten kann.108 Er hält damit daran fest, daß die >Endlichkeit< des Menschen und seine wirkungsgeschichtliche Bedingtheit keine eigenmächtige Verfügung über die Voraussetzungen seines Weltverstehens erlaubt.109 Allerdings hat er sich die Kritik Habermas' zusehends stärker zu eigen gemacht. Auch für ihn gehört es zum »Wesen des Menschen«, »Tradition brechen, kritisieren und auflösen zu können«.110 Es geht ihm um eine bewußte Aneignung legitimer Tradition, nicht um die blinde Unterwerfung unter sie.111 Damit ist allerdings der Dissens mit Habermas noch nicht aufgehoben. Denn Habermas besteht im Anschluß an Freuds Neurosenlehre darauf, daß bewußt gemachte Vorurteile ihren Vorurteilscharakter und damit ihre hermeneutische Kraft verlieren: »Die transparent gemachte Vorurteilsstruktur kann nicht mehr in der Art des Vorurteils fungieren.«" 2 Trotz aller problematischen Konsequenzen, die sich aus Gadamers Bindung an die Tradition ergeben, hat er aber damit der Hermeneutik eine historische Dimension zurückgewonnen. Verstehen ist nur unter den Voraussetzungen der Geschichtlichkeit möglich; diese ist kein Hemmnis, sondern ihr kommt eine produktive Kraft zu. Die Sinn-Erwartungen, die der Interpret an den Text heranträgt, sind nicht von der Zufälligkeit seiner aktuellen Situation bestimmt; sie sind vielmehr Resultate einer Wirkungsgeschichte, die den >Horizont< bildet, in dem sich Verstehen vollzieht: Beim Versuch, eine historische Erscheinung zu verstehen, »unterliegen wir immer bereits den Wirkungen der Wirkungsgeschichte«.113 Der

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Kittler, Vergessen, S. 217. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschañen, S. 283. Vgl. Gadamer, Was ist Praxis?, S. 65-67. Vgl. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik, Ideologiekritik, S. 68. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. XXV. Gadamer, Die Zukunft der europäischen Geisteswissenschaften, S. 43. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 284. - Vgl. dazu Brenner, Interkulturelle Hermeneutik, S. 51f. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 284.

63 Zeilenabstand, der den Text vom Leser trennt, wird in dieser theoriegeschichtlichen Wendung neu bestimmt. Er erscheint nicht mehr als einfach zu überwindender, sondern er wird produktiv gewendet. Im Zeilenabstand entfaltet sich die Wirkungsgeschichte als eine >TraditionVorurteile< bereitstellt, ohne die Verstehen unendlich und damit unmöglich würde. Diese historische Wendung der Hermeneutik hat eine enorme Tragweite. Sie impliziert die Aussage, daß der Sinn von Texten, um den sich die traditionelle Hermeneutik von ihren Anfängen bis Dilthey bemüht hatte, nie ein für allemal zugänglich sein wird. Das Verstehen eines Textes vollzieht sich immer durch das Medium der Wirkungsgeschichte hindurch. Es unterliegt damit selbst einem historischen Wandel - eine Annahme allerdings, vor deren weitreichenden Folgen Gadamer selbst etwas zurückgeschreckt zu sein scheint und die er durch seine Theorie des >Klassischen< wieder aufzufangen bemüht ist: Zumindest einige Texte behaupten durch die Zeiten hindurch ihre Gültigkeit; sie sind durch ihre Resistenz gegenüber den Anfechtungen der Wirkungsgeschichte als >klassische< Texte ausgewiesen: »Klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung, aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhält.«" 4 Mit seiner Einbindung der Autorität der Tradition und der >Wirkungen der Wirkungsgeschichte< hat Gadamer der Hermeneutik aber grundsätzlich eine dritte historische Dimension erschlossen: Für das Verstehen spielt nicht nur die historische Situation, in der ein Text entstanden ist, und nicht nur die historische Situierung des Lesers eine zentrale Rolle, sondern eben auch die geschichtliche Zeit, die dazwischen liegt. Seit Dilthey, so läßt sich rückblickend sagen, gewinnt die Hermeneutik Schritt für Schritt eine Dimension zurück, die ihr durch Schleiermacher fast völlig verlorengegangen war. Von der Reformation über die Aufklärung bis hin zu Rousseau und Herder war den Theoretikern die Tatsache bewußt, daß >Hermeneutik< immer im Zusammenhang steht mit kulturellen, sozialen und politischen Prozessen - mit realer Geschichte also. Die von Schleiermacher eingeführte Wendung der Hermeneutik hat diesen Zusammenhang verwischt. Das Verhältnis von >Individuellem< und >Allgemeinem< wird von Schleiermacher zwar theoretisch schärfer gefaßt und stärker problematisiert als von seinen Vorgängern, aber zugleich auch entkonkretisiert. Schleiermacher betreibt damit eine Entschärfung der Hermeneutik, die während des ganzen 19. Jahrhunderts nachwirken wird. Dilthey nimmt wieder eine konkretere historische Dimension in den Blick, auch wenn sie von der wirkungsgeschichtlichen Dominanz des >LebensKunst der Interpretationc Zur Theoriegeschichte eines Irrtums

In den ersten Jahrhunderten der abendländischen Neuzeit stehen Literatur und Interpretation in keinem besonders engen Verhältnis zueinander. Die Philologie der Neuzeit hat sich in der Tradition der Renaissance wesentlich mit der Sicherung von Texten begnügt. Erst im 19. Jahrhundert macht sie sich - nicht ohne gegen erheblichen Widerstand ankämpfen zu müssen - eine hermeneutische Problemstellung zu eigen. Umgekehrt ist die Frage nach der >Bedeutung< speziell von literarischen Werken kaum einmal Gegenstand der Hermeneutik gewesen. Das ist nicht eigentlich überraschend. Es folgt sowohl aus dem Hermeneutikverständnis wie auch der Literaturauffassung, die sich in der europäischen Neuzeit bis zur Aufklärung etabliert hatten. Die Hermeneutik versteht sich nicht als eine Interpretation^ die sich auf den beliebigen Sinn literarischer Texte richtet; ihr Ziel ist vielmehr die Erschließung des Wahrheitsgehalts von >dogmatischen< theologischen oder juristischen, später auch allgemein von antiken Texten. In der Frühzeit der Hermeneutikgeschichte wird deshalb literarischen Texten Interpretationswürdigkeit nur zugestanden, wenn sie mit einem theologischen oder mythologischen Gehalt ausgestattet waren und dieser Gehalt nicht klar zutage lag. Die Poetik hat zwar bis zur Aufklärung im zunehmenden Maße die Ansicht vertreten, daß auch - und oft gerade - in literarischen Texten ein wissenswerter göttlicher Gehalt oder ein moralischer Satz verborgen sei; sie hat aber nur selten die Notwendigkeit gesehen, diesen durch besondere interpretierende Anstrengungen zu heben. Angesichts dieser theoriegeschichtlichen Situation mutet es merkwürdig an, mit welcher Schnelligkeit und Selbstverständlichkeit sich im 20. Jahrhundert die Auffassung durchgesetzt hat, daß literarische Texte nicht nur interpretationsbedürftig und -würdig, sondern sogar ein bevorzugtes, wenn nicht das einzige Ziel hermeneutischer Bemühungen sind. Die Literaturwissenschaft hat sich unter dieser Prämisse im 20. Jahrhundert wesentlich als Interpretationswissenschaft etabliert, auch wenn ihr daneben noch zahlreiche andere Aufgabenbereiche erhalten geblieben und neue zugewachsen sind. Die Verbindung von Philologie und Hermeneutik reicht ins Deutschland des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurück. Die aufklärerische Poetik zeigte noch keinen Interpretationsbedarf. Das Problem der Interpretation von Literatur stellt sich ihr nicht, da ihre rationalistische Grundlegung die Konstruktion und Nachkonstruktion eines literarischen Werkes auf vernünftige Regeln gründet, die jederzeit leicht nachvollzogen werden können. Aber auch die ersten Anfange der modernen Hermeneutik weisen noch nicht darauf hin, daß die von ihr entwickelten Theorien einmal eine besondere Rolle in der Literaturwissenschaft spielen werden - im Gegenteil. Die gelegentlichen Äußerungen Schleiermachers zur

66 Auslegung von Kunstwerken lassen eher den Schluß zu, daß er sie ausdrücklich aus dem Bereich der Hermeneutik ausgeschlossen wissen will. In ihnen werden, so argumentiert er, Momente wirksam, die sich seiner Hermeneutik-Konzeption entziehen; vor allem dominiert das Individuelle in der poetischen Sprache derart, daß das Allgemeine nicht genug ausgeprägt ist, um eine Auslegung zuzulassen. 1 An anderer Stelle hat Schleiermacher den Gedanken der >Individualität< des Kunstwerks so radikalisiert, daß es dem kunstmäßigen Verstehen weitgehend entzogen wird: »Jedes Kunstwerk will verstanden sein, aber keines so wie die Sprache. Vielmehr sagen wir von j e d e m Kunstwerk, daß es nie ganz könne verstanden werden. Darin liegt theils, daß die darin enthaltene Idee irrational ist gegen das Verstehen, d. h. gegen das Denken und Sprechen, theils eine gewisse Unendlichkeit an sich«. 2 Das Kunstwerk unterliegt anderen Kriterien als das Denken, das in der Rede mitgeteilt werden soll und kann. Während das allgemeine Denken und die aus ihm hervorgehende Rede darauf zielen, Wahrheit mitzuteilen, ist das individualisierte Denken in der Kunst der Aufgabe enthoben, Wahrheit mitzuteilen. 5 Das gilt auch für das sprachliche Kunstwerk: Wenn Sprache in der Kunst verwendet wird, entspringt sie einem individuellen Gefühl, sie leiht nur die äußeren Elemente, ohne zugleich die sonst beim Sprechen hervortretende Allgemeinheit herzustellen. 4 Von Schleiermacher fuhrt mithin kein Weg zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik. Deren Entstehungsgeschichte ist auf anderen Bahnen verlaufen. Eine wichtige Gelenkstelle für die Verbindung der Literaturwissenschaft mit einer Theorie des Verstehens stellt die Altphilologie des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts dar. Sie hat keine Probleme, sich an die Hermeneutik anzuschließen, weil sie sich weniger als Literatur- denn als Nonnwissenschaft etabliert: Sie stellt sich in den Dienst des neuen Bildungsideals. Die von ihr bereitgehaltenen Kenntnisse der griechischen Kunst und überhaupt der Kultur des Altertums erhalten einen Vorbildcharakter, dessen Wiederbelebung die Philologie anstrebt. 5 Wilhelm von Humboldt hat diesem Gedanken die prägenden Formulierungen gegeben: »Die Griechen sind uns nicht bloss ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal«. 6 Indem die altphilologische Hermeneutik sich diese Prämisse eines neuhumanistischen Bildungskonzepts zu eigen macht - an dessen Vorbereitung sie schon maßgeblich mitgewirkt hatte - , begibt sie sich in ein altes und immer wieder neu auftretendes Dilemma: Die Historizität der altphilologischen Betrachtungsweise und das Bedürfnis nach einem überzeitlich gültigen Bildungsideal geraten in den Konflikt von >Norm< und Geschichte. Die Hermeneutikentwürfe der Zeit um und nach 1800 sind beherrscht von die-

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Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 401; dazu Frank, Der Text und sein Stil, S. 31. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik, S. 98f. Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Ästhetik, S. 109f. Vgl. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik, S. 99. Vgl. Beetz, »In den Geist der Alten einzudringen«, S. 38-41. Humboldt, Ueber den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben, S. 65.

67 sem Dilemma und dem Versuch seiner Überwindung. Die hermeneutische Formel zur Auflösung des Konflikts hat der Landshuter Philologieprofessor Ast vorgegeben, der einer der wesentlichen Anreger Schleiermachers war. Asts Hermeneutik ist unverkennbar ein Produkt ihrer Zeit. Sie ist geboren aus einer Antikerezeption des Neuhumanismus, die sich dem Geist der Antike näher glaubt als ihrer eigenen Zeit.7 Das Grundverhältnis der Gegenwart zur Antike ist das der Vertrautheit; das >Fremdegrammatischer Interpretation einen schwachen Nachhall gefunden hatte. Ast wendet diese Auffassung ins Gegenteil: Um antike Texte zu verstehen, müssen alle historischen Momente von ihnen abgestreift werden, damit die Reinheit des Geistes hervortreten kann. Der Interpret tritt in ein unmittelbares Ver-

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Vgl. Patsch, Friedrich August Wolf und Friedrich Ast, S. 94f. Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, S. 168f. Vgl. Landfester, Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 42; Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, S. 204-234; S. 408-457.

68 hältnis zur Vergangenheit. Hinter dieser Kehrtwendung verbirgt sich ein zentrales, aber wenig beachtetes Problem der Hermeneutik, das unter dem Begriff der »Assimilation« diskutiert werden kann und vereinzelt auch schon diskutiert wurde: die Frage, ob der Gegenstand dem Interpreten angeglichen werden oder umgekehrt der Interpret sich dem Gegenstand »assimilieren« soll.10 Diese grundlegende Differenz in der Auffassung des Verstehens ist durch den deutschen >BildungsInterpretationwahr< und >seiendclose reading< analysiert werden soll. Eine erste Andeutung dieser Prinzipien findet sich 1911 in Spingams Essay The New Criticism, der eine ausdrückliche Abkehr von den traditionellen Formen der Literaturkritik fordert und der die Unfruchtbarkeit historischer oder biographischer Ansätze behauptet. Statt dessen wird die Autonomie der Kunst betont: »criticism clearly recognizes in every work of art an organism governed by its own law.« 70 Diese Unabhängigkeit des Kunstwerks von der Außenwelt bleibt der gemeinsame Nenner des >New CriticismNew Criticism< unterschiedlich beantwortet; und diese Divergenz verweist erneut auf die traditionellen Schwierigkeiten bei der Begründung einer Autonomie-Ästhetik. Den Autonomie-Charakter der Kunst hat T. S. Eliot als einer der frühen Vorläufer des >New Criticisrm energisch hervorgehoben. In seinem Essay Tradition and the Individual Talent von 1919, der eine ganze Reihe ähnlich orientierter Schriften in den folgenden Jahrzehnten einleitet, postuliert Eliot einige Kernsätze der neuen Literaturauffassung. Eliot rückt die Dichtung in den Vordergrund, nicht nur gegenüber den äußeren Umständen, in denen sie steht und entsteht, sondern auch gegenüber dem Dichter. 71 Alle große Dichtung, das ist die Konsequenz aus dieser Auffassung, hat keine gesellschaftliche Funktion gehabt; ihre Aufgabe besteht darin, Freude zu spenden, das Bewußtsein zu erweitern und die Sensibilität zu vergrößern. 72 Eliot beschränkt sich darauf, einen derartigen Dichtungsbegriff zu postulieren; das eigentliche Kennzeichen des >New Criticism< ist hingegen der Versuch, diese Auffassung theoretisch zu begründen. Erste und weiterwirkende Ansätze dazu hat Ivor Armstrong Richards gegeben, der - je nach wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive - als einer der Begründer oder einer der Vorläufer des >New Criticism< gilt. 73 Sein Ideal ist eine rein wissenschaftliche Analyse von Kunst. Richards will die Ästhetik als eine strenge Wissenschaft fundieren, die sich auf materialistischen Prinzipien aufbaut und mit quantifizierenden Methoden arbeiten soll, um »intersubjektive Nachprüfbarkeit« zu ermöglichen. 74 Kunst wird als Ausdruck der Psyche eines Autors begriffen, die Entstehung eines Kunstwerks ebenso wie seine Rezeption erscheinen als psychische Vorgänge, die sich mit den Mitteln einer positivistischen und materialistischen Psychologie präzise rekonstruieren und beschreiben lassen sollen. Die zentrale Idee bei Richards ist 70 71

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Spingarn, The New Criticism, S. 84. Vgl. Eliot, Tradition und individuelle Begabung, S. 351-355. - Dazu Weimann, »New Criticism«, S. 64-71. Vgl. Eliot, Die gesellschaftliche Funktion der Dichtung, S. 418-425. Vgl. Frank, Literarische Strukturbegriffe in der amerikanischen Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts, S. 391. Grabes, I. A. Richards' Bedeutungs- und Literaturtheorie, S. 421.

81 der an die >Russischen Formalisten« erinnernde Versuch, einen literarischen und einen wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu unterscheiden; sein Ziel ist es, eine »wissenschaftlich begründete Rechtfertigung der Dichtung gegenüber den experimentellen und exakten Wissenschaften zu geben«.75 Während Richards durchaus provozierend den radikalen Bruch mit der idealistischen Kunsttradition sucht, kommt er ihr unversehens in der Formulierung seiner Prämissen wieder sehr nahe. Auch wenn er die Ästhetik in eine psychologisch fundierte Theorie auflöst, die weniger das Kunstwerk als die psychischen Prozesse bei der Produktion und Rezeption von Kunst in den Blick nimmt, konnte sein Ansatz zum Impuls fur eine Kunstauffassung werden, die sich wieder der Autonomie-Ästhetik zuwendet. Das Kunstwerk erscheint als ein autonomes Gebilde, das losgelöst wird sowohl von der Psyche seines Autors wie auch von Rezeptionsprozessen; es hat seine Bedeutung in sich selbst und verweist in keiner Weise darüber hinaus. Die materialistischen, positivistischen und psychologischen Komponenten von Richards' Literaturtheorie werden damit wieder eliminiert; von Richards' Ansatz bleibt in der weiteren Entwicklung des >New Criticism< nur noch das analytische Verfahren übrig. In späteren Arbeiten der vierziger Jahre hat Richards selbst die Orientierung der Literaturwissenschaft an den exakten Wissenschaften aufgegeben, um statt dessen die Freiheit des Autors stärker zu akzentuieren und die Zugehörigkeit der Literaturwissenschaft zu den >humanities< zu postulieren.76 Schon seine Funktionsbestimmungen der Kunst in seinen Principles of Literary Criticism von 1924 wiesen in diese Richtung. Richards will Ästhetik als eine Werttheorie begründen; Kunst soll im Zeitalter allgemeiner moralischer Desorientierung die humanistischen Werte neu beleben. Zugleich und in Konsequenz dieser Forderung wird der Kunstwerkcharakter im Sinne einer klassischen Ästhetik bestimmt. Das Kunstwerk erzielt seine - psychische - Wirkung dadurch, daß es Spannungen beseitigt; die Erfahrungen des Künstlers, denen er in seinem Werk Ausdruck verleiht, »repräsentieren Ausgleichsoperationen zwischen Impulsen, die in den meisten Köpfen noch verworren, ineinander verschachtelt und widersprüchlich sind. Sein Werk ist das Ordnen von etwas, das in den meisten Köpfen noch ungeordnet ist.« Die Kunst wird damit zur Grundlage einer Moral, da sie »verfeinerte Lebensführung« ermöglicht.77 Die enge Verbindung von Kunst und Moral steht in einem merkwürdigen Verhältnis zum Autonomie-Postulat. Offenkundig schreibt sie der Kunst eine Funktion zu, die über den Bereich des Ästhetischen hinausweist; aber die Erfüllbarkeit dieser Funktion wird gerade wieder an die Autonomie gebunden. Das Kunstwerk selbst macht als solches eine moralische Aussage, wie es Amold postuliert hatte;78 ein Gedanke, der bei Adomo wiederkehren wird und der einen Vorläufer im englischen Romantiker Shelley hatte. Seine Defence of Poetry von 1821 - der 75

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Frank, Literarische Strukturbegriffe in der amerikanischen Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts, S. 392. Vgl. Grabes, I. A. Richards' Bedeutungs- und Literaturtheorie, S. 430f. Richards, Prinzipien der Literaturkritik, S. 102f. Vgl. Zapf, Kurze Geschichte der anglo-amerikanischen Literaturtheorie, S. 125.

82 Text erschien erst 1840 - formuliert einige der zeittypischen poetologischen Axiome: Poesie ist gleichermaßen weitabgewandt wie in einem höheren Sinne wieder weltbezogen. Dichterische Sprache bezieht sich nicht auf die Wirklichkeit, aber sie drückt andere und höhere Wahrheiten aus, als sie in der Wirklichkeit zu finden wären. Der Dichter kann >Wahrheit< - »eternal truth« 7 ' - in einem emphatischen Sinne erkennen. Auf diesem Umweg gewinnt er eine kulturpolitische Aufgabe: Die Dichter stellen ihre Wahrheit und Schönheit einer degenerierten Wirklichkeit gegenüber, die vor allem durch ihre rationalistische Prägung bestimmt ist und werden so zu den heimlichen Gesetzgebern ihrer Kultur, die zur sittlichen Erneuerung der Menschheit - »the moral improvement of man« 80 - beitragen. So hat es seine Tradition, wenn der >New Criticism< trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen doch wieder auf eine gesellschaftliche Aufgabe der Literatur zurückweist." Mit seinen moralischen Ansprüchen verwickelt er sich selbst und die Dichtung in die sozialen Verhältnisse, denen gegenüber er die Autonomie des Kunstwerks postuliert hatte. Diese systemwidrige Wendung zum Politischen kommt nicht von ungefähr: Der >New Criticism< kann - ähnlich wie die deutsche Klassik - als Reaktion auf eine Modemisierungskrise verstanden werden. Seine Ursprünge liegen in den amerikanischen Südstaaten der zwanziger Jahre; er läßt sich begreifen und wurde von seinen Inspiratoren begriffen als eine »>ästhetische< Alternative zum sterilen wissenschaftlichen Rationalismus des Nordens« 82 und als Reaktion auf die Zerstörung der - vermeintlich - organischen Gemeinschaft durch die eindringende Industrialisierung. Vor diesem Hintergrund ist der Aufschwung des >New Humanism< als einer Parallelbewegung zum >New Criticism< in den USA der zwanziger und dreißiger Jahre zu verstehen, der die Positionen von Matthew Arnold wieder aufgriff. 83 Gegen das naturwissenschaftlichtechnische Leitbild der industrialisierten Zivilisation entwirft Amold schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine konservative sozialkritische Ethik, in der die Literatur eine zentrale Rolle spielte: 84 Sie trägt zur Wiedererneuerung traditioneller Kultur- und Wertvorstellungen bei. Die beiden gegenläufigen Bestimmungen der Dichtung durch den >New Criticism«, der das Kunstwerk einmal als autonom begreift und daraus die methodische Forderung der werkimmanenten Analyse ableitet und zum anderen ihm eine gegenwartskritische Funktion zuschreibt, sind wohl verantwortlich für den Erfolg, den er an den amerikanischen Schulen und speziell den >English Departments< der Universitäten hatte. Während sich der >Russische Formalismus« und der Strukturalismus zu hochelaborierten linguistischen Theorien weiterentwik-

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Shelley, A Defence of Poetry, S. 30. Ebd., S. 33. Vgl. Blanke, Amerikanische Literaturtheorie im 20. Jahrhundert: Entwicklungsphasen und besondere Aspekte, S. 362. Eagleton, Einfuhrung in die Literaturtheorie, S. 59. - Vgl. Weimann, »New Criticism«, S. 74; S. 82-84. Vgl. zusammenfassend Schlaeger, Literaturkritik und Literaturtheorie, S. 476-480. Vgl. Lüking, Von Matthew Arnold zu T. S. Eliot, S. 177f.

83 kelten, wurde der >New Criticism< bald zu einem Standardverfahren der literaturwissenschaftlichen Didaktik operationalisiert. Er stellte, wie leicht polemisch, aber im Kern sicher zutreffend formuliert wurde, »eine bequeme pädagogische Methode dar, um mit der wachsenden Zahl von Studenten fertig zu werden. Ein kurzes Gedicht auszuteilen, um den Studenten die Augen zu öffnen, war weniger mühsam, als ein Seminar zu den großen Romanen der Weltliteratur anzubieten.«85 Neben den pragmatischen Aspekt tritt der politische: In einer Zeit der ökonomischen Krise und der politischen wie sozialen Unruhe in den USA der dreißiger Jahre, in der sich die Lehrer nicht mehr auf den »background of their students« verlassen konnten, liefert der Umgang mit >autonomen< literarischen Werken ein festes Fundament von Wertvorstellungen. Diese müssen nicht aus beliebigen historischen Traditionen mühsam abgeleitet werden, sondern sind in den Werken selbst angelegt: der Student sollte »the mystery of those texts« respektieren lernen." Der literaturwissenschaftliche Kern des >New Criticism< liegt in der neuerlichen Behauptung des Autonomie-Charakters literarischer Werke und der Forderung eines entsprechenden literaturwissenschaftlichen Zugangs, der als >close reading< konkretisiert wurde.87 Dieses doppelte Postulat hat weitreichende Nachwirkungen gehabt. Die Vorstellung, daß kein Werk durch irgendwelche Bezüge außerhalb seiner selbst erklärt werden könne oder auch nur in solchen Bezügen gesehen werden solle, hat von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren die internationale literaturwissenschaftliche Diskussion beherrscht. Noch in den fünfziger Jahren kann eine heftige Debatte in der Komparatistik über dieses Thema entfacht werden, die das Fach zu spalten drohte. Gegenüber der französischen Richtung der Einflußforschung machte René Wellek - seiner Herkunft nach Mitglied des >Prager Kreises< und dem >New Criticismi gedanklich nahestehend88 - die aus der Individualität und Autonomie sich ergebende Eigenart des Kunstwerks geltend. Während der französische Komparatist Jean-Marie Carré unter Fortführung einer alten Tradition seines Fachs gerade die Außenbezüge des literarischen Werkes und insbesondere die auf es wirkenden Einflüsse als den eigentlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft bezeichnet hatte, 8 ' besteht Wellek auf dem organischen Charakter des Kunstwerks, das die Abgrenzung von konkret ausmachbaren »Einflüssen« nicht erlaubt: »ist doch ein Kunstwerk ein der freien Einbildungskraft entsprungenes Ganzes, für das sich eine hinreichende Ursache schlechterdings nicht feststellen läßt und dessen Integrität und Sinn wir zerstören, wenn wir es in Quellen und Einflüsse zerstückeln.«90 Wellek hat dieses Konzept gemeinsam mit Austin Warren in seiner enorm einflußreichen Theory of

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Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, S. 63. Hartman, Criticism in the Wildemess, S. 284f. Vgl. Weimann, »New Criticism«, S. 96-100. Vgl. Fietz, René Welleks Literaturtheorie und der Prager Strukturalismus, S. 506. Wellek selbst freilich verneint seine Gruppenzugehörigkeit; vgl. Wellek, Geschichte der Literaturkritik IV, S. 518. Vgl. Carré, Préface, S. 5f. Wellek, Die Krise der Vergleichenden Literaturwissenschaft, S. 96.

84 Literature zehn Jahre zuvor postuliert und weitreichend durchgesetzt. Hier wird das >Wesen der Literatur< einerseits durch ihre nichtreferentielle und uneindeutige Sprachlichkeit und andererseits durch ihren spezifisch >scheinhaften< oder >fiktionalen< Bezug zur Wirklichkeit bestimmt." Diese Eigenart macht das literarische Kunstwerk zum Gegenstand eines eigenen Forschungsgebiets - eben der Literaturwissenschaft - »mit einem besonderen ontologischen Status«.92 Ihm nähert sich die Literaturwissenschaft mit einem Verfahren, das Wellek/Warren als »intrinsic approach« kennzeichnen und auf folgenreiche Weise vom »extrinsic approach« abgrenzen - eine Unterscheidung, die ein halbes Jahrhundert lang in der >Methodendiskussion< nachgewirkt hat. Die Autonomie-Ästhetik ist theoriegeschichtlich zu einem festen Bestandteil aller >werkimmanenten< Literaturtheorien geworden; sie gehört ihnen aber nicht wesentlich an. Tatsächlich kommt das >werkimmanente< Verfahren in seinen Anfangen zunächst ganz ohne jede Kunstwerk-Theorie oder gar -Metaphysik aus. Denn sein wenig beachteter Ursprung ist weder der >Russische Formalismus< noch der >New CriticismInterpretation< bedarf also keiner besonderen Zurichtungen, methodischer Anstrengungen oder historischer Rücksichtnahmen; und die Frage nach ihren Voraussetzungen ist schnell beantwortet: »Die Organe der Erkenntnis, ohne die kein rechtes Lesen möglich ist, heißen Ehrfurcht und Liebe. Auch die Wissenschaft kann ihrer nie entraten«. 1 " Das Pathos Staigers ist später gerne und nicht zu Unrecht Ziel polemischer Attacken geworden. Sie dürfen allerdings nicht verwischen, daß sich hinter den programmatischen Formeln ein Vorgehen verbirgt, das auf kenntnisreiche Weise sehr präzise Einzelstudien zu Texten vorlegt, an denen die Germanistik bis heute nicht vorbeigehen kann. Staiger hat in einer späteren Sammlung solcher Einzelinterpretationen sich selbst vom Pathos seiner früheren Jahre leicht distanziert; ebenso distanziert er sich von jenen Formen >werkimmanenter Interpretation^ die selten »über die peinlichste Nachdichtung in Prosa, ein impressionistisch vages Gerede«, hinauskommen.1 " Staiger ist der erfolgreichste Vertreter der >Werkimmanenz< in der Germanistik - auch wenn er den Ausdruck mied und »lieber von >Stilkritik< sprach« 120 -; aber er steht nicht allein. Speziell der Romanist Leo Spitzer hatte sich zuvor in ähnlicher Weise geäußert. Auch er postuliert, daß wir »mit unserem persönlichen Empfinden an das Sprachliche herangehen dürfen«.121 Die stilanalytische Methode Spitzers ist der Intention nach >Werkimmanenz< im strengsten Sinne; ihrem Programm nach zielt sie durch eine Untersuchung des Wortes auf den innersten Kem< des Werkes: »Denn die Worte des Dichters sind Schächte, die bis ins Zentrum der Mine fuhren, während Annäherungsversuche von außen immer in blinden Gängen enden. Die Literaturkritik muß werkimmanent bleiben und ihre Kategorien vom Kunstwerk selbst beziehen.«122 Eine Präzisierung des Verfahrens hat unter direkter Berufung auf Staiger Wolfgang Kayser mit seiner schulbildenden Monographie über das Sprachliche Kunstwerk unternommen. Auch er beruft sich zunächst auf die Prämissen einer Autonomie-Ästhetik, wenn er die Dichtung 114 115 116 117 118

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Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 12f. Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 8f. Ebd., S. 10. Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 11. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, S. 10; auch Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 10. Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 8. Schütt, Germanistik und Politik, S. 57. Spitzer, Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken, S. 61. Spitzer, Der »Bericht des Théramène« in Racines »Phèdre«, S. 98.

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als »geschlossenes sprachliches Gefüge« bestimmt. Es gehört zu den expliziten oder impliziten Voraussetzungen jeder Erscheinungsform von Werkimmanenz oder Stilkritik, daß sie von klassizistischen Annahmen über das Kunstwerk ausgeht; der Text wird als organisches, harmonisches und geschlossenes Werk vorausgesetzt, bei dem jedes Detail auf den Sinn des Ganzen verweisen kann.124 Das sprachliche Kunstwerk< erschließt sich dem Literaturwissenschaftler in der genauen Untersuchung der stilistischen Mittel, deren der Dichter sich im Rückgriff auf die literarische Tradition bedient hat. In dieser Hinsicht geht Kayser über Staiger hinaus. Kaysers Sprachliches Kunstwerk ist zugleich eine Einfiihrung in die Literaturwissenschaft, die als detaillierte Anweisung fur den literaturwissenschaftlichen Umgang mit literarischen Werken handhabbar ist. Er gibt keine Auslegungsregeln im traditionellen Sinne an, aber er verläßt sich doch nicht auf das bloße Gefühl und eine geheime Seelenverwandtschaft, auch wenn er diese durchaus als Voraussetzung einer jeden literaturwissenschaftlichen Arbeit gleich in der Einleitung seines Buches fordert. Das damit etablierte Konzept von Literaturwissenschaft ist »professionalisierter« insofern als der »wissenschaftliche Nachweis bestimmter sprach-, form-, gattungs- oder baugesetzlicher Komponenten« in den Vordergrund trat.'25 Kayser hat später den Begriff der >Interpretation< in einer minimalistischen Variante definiert: »Interpretation ist die auf Verstehen beruhende Erfassung und Vermittlung des eine Sinn- und Funktionseinheit bildenden Formkomplexes.« 126 Dennoch mag sich Kayser nicht mit dem bloßen stilanalytischen Beschreiben von Kunstwerken begnügen, auch er kommt nicht ohne Verrätselungen aus. Ihm geht es um die »auf den letzten Sinngehalt gerichtete Interpretation«.127 Dieser letzte Sinngehalt ist das »geheime Leben«, das sich in seiner äußeren Form zur Erscheinung bringt, das in seinem innersten »Kern« und seinen »ewigen Gesetze« erschlossen werden soll. Die Interpretation kommt genau dort an, wo sie eingesetzt hatte: beim Kunstwerk, über das nicht mehr gesagt werden kann, als daß es eben genau das ist - ein Kunstwerk: »Das sprachliche Kunstwerk lebt als solches und in sich.«128 Die Erinnerung an die klassische Formulierung der Autonomie-Ästhetik klingt an: »von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist.«129 Diese Auffassung hat in ihrer formalistischen Strenge und tautologischen Stringenz einen verführerischen Glanz auf die Literaturwissenschaft geworfen, da sie sich trotz aller Esoterik leicht mit handwerklicher Pragmatik verbinden ließ.

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Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, S. 5. Zu den ästhetischen Prämissen der werkimmanenten Interpretation vgl. Danneberg, Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation, S. 316; S. 322f.; Neuschäfer, Über das Konzept des Stils bei Leo Spitzer, S. 283. Hermand, Neuere Entwicklungen zwischen 1945 und 1980, S. 568. Kayser, Literarische Wertung und Interpretation, S. 45. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, S. 225. Ebd., S. 387. Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen, S. 991.

90 Programmatische Äußerungen der Germanistik aus den fünfziger und sechziger Jahren kommen immer wieder auf solche Tautologien zurück, wenn sie die Aufgabe der »Interpretation« bestimmen wollen: »Das Wortkunstwerk als Wortkunstwerk, die einzelne Dichtung in ihrem Wesen als Dichtung zu erschließen, ist das entscheidende Anliegen der modernen Interpretation.« 1 3 0 Diese Formulierungen benennen das Kunstwerk nicht nur als den Gegenstand, sondern ebenso als das Ziel der Interpretation. Sie kaschieren damit nur mühsam die Tatsache, daß der >Kunst der Interpretation ihr Gegenstand verlorengegangen ist. Werner Krauss hat - in allerdings seinerseits nicht sehr klaren Fomulierungen - darauf hingewiesen, daß dieser Verlust in der implizit zugrundeliegenden Sprachtheorie angelegt ist. Zwar haben die >werkimmanenten< Theoretiker sich keine Rechenschaft abgelegt über das, was sie unter Sprache verstehen, aber offensichtlich stehen sie in der Tradition Rousseaus: Wie dieser begreifen sie Sprache nicht in ihren gesellschaftlichen Ursprüngen und Funktionen, sondern als reines Ausdrucksmittel. Krauss macht dagegen geltend, daß Sprache - und damit die Dichtung - immer Mitteilungscharakter hat; sie drückt einen Sinn aus, der erkannt sein muß, bevor überhaupt eine Sprach- und Formanalyse des Dichtwerks, die sich immer von diesem Sinn leiten lassen muß, durchgeführt werden kann. 131 Mit ihrer zirkulären Rückbindung der >Interpretation< an das Kunstwerk, das gleichzeitig Gegenstand wie Ziel aller Bemühungen ist, hat die >Kunst der Interp r e t a t i o n nicht nur methodisch, sondern auch sachlich den Kontakt zur Hermeneutik aufgegeben, denn diese zielte stets darauf, die >Bedeutung< eines Textes zu erschließen. Die Frage nach der Bedeutung wird von der >werkimmanenten Interpretation zwar methodisch zurückgedrängt, aber als Wiederkehr des Verdrängten entfaltet sie eine um so weniger kontrollierbare Macht. Es ist eine milde Ironie der Theoriegeschichte, daß diese Form der I n t e r p r e t a t i o n , die sich wie keine andere der Autonomie des >Kunstwerks< verschrieben hat, sich als besonders anfällig erwies für eine Fremdbestimmung der Kunst. Ein früher Kritiker hat die Gegenstandslosigkeit einer >Kunst der Interpretation des sprachlichen Kunstwerks< gerügt und ihr ein Heilmittel verschrieben: Heselhaus kritisierte die reine Beschreibung, die sich schnell auf das »Berechenbare, Schematische und Lehrbare« reduziert, und forderte statt dessen eine Interpretation auf der Grundlage der »existenziellen Seinserfahrung«. 1 3 2 Genau diesen Weg ist die deutsche Germanistik gegangen. Die Interpretation holt sich ihren verlorenen Gegenstand bei Heidegger wieder. Heidegger hat nach Sein und Zeit und nach dem Scheitern seiner politischen Ambitionen im >Dritten Reich< sich in zunehmendem Maße der >Dichtung< zugewandt. Das erste Dokument dieser Neuorientierung sind seine Hölderlin-Vorlesungen - die erste hielt er im Wintersemester 1934/35 - die in seinen bekannten Hölderlin-Studien münden. Mit der Hinwendung zur >Dichtung< werden die alten Probleme neu gruppiert. Die Dichtung gewinnt den gleichen Rang wie die Philosophie oder >das D e n k e n : »Das Wesentliche der Ent-

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Burger, Methodische Probleme der Interpretation, S. 198. Vgl. Krauss, Grundprobleme der Literaturwissenschaft, S. 97-102. Heselhaus, Auslegung und Erkenntnis, S. 264f.

91 deckung des Wirklichen geschah und geschieht nicht durch die Wissenschaften, sondern durch ursprüngliche Philosophie und die große Dichtung und deren Entwürfe (Homer, Vergil, Dante, Shakespeare, Goethe). Dichtung macht das Seiende seiender. Dichtung, nicht Schriftstellerei!«133 Die Dichtung sagt das Unsagbare - das ist der Beginn einer langen Reihe von Äußerungen und Schriften Heideggers, in denen die Dichtung immer mehr ins Zentrum der Philosophie rückt. Freilich greift Heidegger später weit darüber hinaus. Dichtung hat nicht nur eine aussagende, sondern eine konstituierende Funktion, Sie ist Sprechen, das Welt zu stiften vermag: »Dichtung - Aushalten der Winke der Götter - Stiftung des Seyns«;134 sie ist »das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit«.I5S In seiner Sprachphilosophie hat Heidegger eine Variation seiner Dichtungsphilosophie gegeben; Dichtung, Philosophie und Sprache werden schließlich ununterscheidbar. Sie alle verweisen in ihrer Weise auf das Sein, bringen zu Gehör, was nicht ausgesagt werden kann. Die Antworten Heideggers bleiben dunkel, geben aber die Richtung an: Die Sprache soll »Erschêinen lassen, lichtend-verbergend-freigebend Darreichen von Welt« sein.136 Hinter diesen opaquen Formulierungen verbirgt sich eine fundamentale Wende des hermeneutischen Denkens. Die >werkimmanente Interpretation der Germanistik in den fünfziger und sechziger Jahren hat sich von diesen Vorstellungen beeindrucken lassen. Der verlorengegangene Sinn des Kunstwerks meldet sich wieder mit Macht zu Wort - mit einer Macht, die diesmal, anders als bei den strukturanalytischen Untersuchungen von Texten, jedes Interpretationsbedürfnis nicht mehr unter-, sondern überbietet. Denn wenn die Sprache im Kunstwerk selbst spricht, bedarf es keiner Interpretation mehr, sondern nur noch des Hörens. Der Dichter wird zum Künder existentieller Aussagen, die sich nicht durch methodische Anstrengung, sondern durch Unterwerfung unter das Dichtwerk erschließen, das den »Anspruch des Seins« artikuliert.137 Der Text sagt etwas, von dem sich nicht nur nicht genau - das wäre hermeneutiküblich - , sondern überhaupt nicht sagen läßt, was es ist. Die >werkimmanente Interpretation im Deutschland der fünfziger Jahren hat sich von dieser als absolute Verbindlichkeit des Hörenmüssens kaschierten Unverbindlichkeit ihre Ziele vorgeben lassen; und es hat einige Zeit gedauert, bis sie ihre Kritiker gefunden hat. Adorno gehörte zu den ersten, die Heideggers Umgang mit dem >Sinn< als Jargon der Eigentlichkeit kritisiert haben. Das Kennzeichen dieses Jargons ist das, was er gerade nach Heideggers Intentionen in Sein und Zeit überwinden will: das Gerede. Der Jargon verspricht einen >Sinn< der Aussage jenseits des Gedankens und überhaupt jenseits »der eigenen Bedeutung«.138 Das einfache Sprechen wird schon zum »Zeichen von Wahrheit«, als ob »Menschen nicht vom Unwahren ergriffen wer-

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Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 64. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, S. 33. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 28. Heidegger, Das Wesen der Sprache, S. 214. Burger, Methodische Probleme der Interpretation, S. 202. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 418.

92 den.« 139 Damit ist das Verfahren der Heidegger-Germanistik dieser Zeit beschrieben; das »Geheimnisvolle, Unergründliche und Wesenhafte der Dichtung« erschließt sich keiner Interpretation mehr, die die »Bedeutung des Dargestellten zu erklären« vermöchte. 140 Mit ihrem Beharren darauf, Interpretation sein zu wollen, ist die >werkimmanente< Germanistik in ein Dilemma geraten, das fur sie unauflösbar wurde. Sie unterwirft sich den Anforderungen der Hermeneutik, ohne sie einlösen zu können oder auch nur zu wollen, denn die Hermeneutik hat immer darauf bestanden, daß Texte in Kontexten stehen. Die Kritik, die seit den späten sechziger Jahren an der >Werkimmanenz< geübt wurde, ist in einem Satz zusammenzufassen: »Sie löst das Kunstwerk aus seinem Realitäts-, Geschichts- und Gesellschaftszusammenhang.« 141 Der Vorwurf ist nicht ganz berechtigt; tatsächlich wird das Etikett >werkimmanentbeschreibende< Betrachtung von Literatur wurde nie so rigoros durchgeführt, wie es die programmatischen Erklärungen gefordert haben. Zumal Staiger hat von Anfang an und in zunehmendem Maße darauf bestanden, daß außerhalb des Werks liegende Aspekte bei der Interpretation eine korrigierende Rolle spielen müssen, und seine eigene Interpretationspraxis belegt das schlagend. 142 Auch für Staiger sind die Prämissen der Hermeneutik unhintergehbar; aber was die lange Hermeneutiktradition als methodische Voraussetzungen von >Interpretation erarbeitet hat, wird fur ihn zum bloßen Hilfsmittel. 145 Trotz dieser Einschränkungen verlieren die zentralen Grundsätze hermeneutischen Interpretierens, wie sie von Luther über Schleiermacher und Dilthey bis Gadamer entwickelt wurden, in der >Kunst der Interpretation ihre Bedeutung. Sie leidet unter einem doppelten Geschichtsverlust: Sie mißachtet die historischen Kontexte des Werkes - auch wenn sie sie nicht ignoriert - , und vor allem mißachtet sie die Standortgebundenheit des Interpreten. Das Problem des Zeilenabstandes, seit dem 18. Jahrhundert eine der zentralen Fragen der Hermeneutik, wird von Staiger mit einem Halbsatz weggewischt und von anderen gar nicht erst erörtert. Die historische Situierung des Interpreten wird neutralisiert durch die Intuition. Staiger vertraut darauf, daß es irgendwie und durchaus auch durch historische Forschung - möglich sei, sich »in die Lage eines zeitgenössischen Lesers« zu versetzen und auf dieser Grundlage das Werk zu interpretieren. 144 Zugleich mit der Enthistorisierung des Interpreten wird die > Interpretation als hermeneutisches Verfahren einer analogen Entkontextualisierung unterworfen. Die Historizität der Interpretationstechniken und -regeln, die immer Ergebnis wissenschafts-, institutions- und sozialgeschichtli-

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Ebd., S. 4 2 2 . Berghahn, Wortkunst ohne Geschichte, S. 103. Ebd., S. 105. Vgl. Rötzer, Sachliteratur zur Literaturwissenschaft, S . 2 1 8 ; Danneberg, Zur Theorie der werkimmenanten Interpretation, S. 313f.; S. 318f. Vgl. Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 12; Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 15. Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 12.

93 cher Entwicklungen sind, wird ignoriert. Dagegen hat die Hermeneutik die historischen Einbindungen nicht nur des einzelnen Interpreten, sondern auch der interpretierenden Wissenschaften hervorgehoben und ihre politische Verantwortung daraus abgeleitet. Die politische Konnotation der >werkimmanenten Interpretation ist freilich nicht so einfach zu fassen, wie es ihre ersten Kritiker getan haben. Der routinemäßige Vorwurf, die >werkimmanente Interpretation sei die Reaktion auf die nationalsozialistische Selbstpreisgabe der Germanistik ist sicher nicht falsch. Denn sie hat mit ihrer Entgeschichtlichung nicht nur der Literatur, sondern auch ihres eigenen Verfahrens zweifellos der Verdrängung der nationalsozialistischen Literaturwissenschaftsgeschichte Vorschub geleistet. Dennoch ist sie vom politischen Zeitgeist stärker affiziert gewesen, als sie glauben machen wollte. Daß Staiger selbst entgegen dem Mythos von der unbefleckten Vergangenheit der Schweizer Germanistik für die Verführungen des Zeitgeists nicht unanfällig war, ist erst spät diskutiert worden. In jungen Jahren war er Mitglied der N a t i o n a l e n FrontNationale Front< wurde 1933 mit der >Neuen Front< zum »Kampfbund Neue und Nationale Front< zusammengeschlossen. Eine programmatische Selbstdarstellung des >Kampfbundes< - ebenso wie anderer protofaschistischer Schweizer Bewegungen findet sich im gleichen Jahrgang der Neuen Schweizer Rundschau, in der Staiger seinen Aufsatz Dichtung und Nation veröffentlichte; das Programm ist aufs engste dem der NSDAP verwandt. Es ist ebenso geprägt von einem antisemitischen wie einem antimarxistischen und antikapitalistischem Affekt. Vgl. Wyß, Kampfbund Neue und Nationale Front, bes. S. 77f. Schutt, Germanistik und Politik, S. 65; vgl. auch den Kontext 66f. Staiger, Dichtung und Nation, S. 159. Ebd., S. 165.

94 Kunst« - Hanns Johsts Schlageter war bekanntlich »Adolf Hitler in liebender Verehrung und unwandelbarer Treue« gewidmet. Die Versöhnung von Kunst und nationalsozialistischer Macht findet ihren epigrammatischen Ausdruck in der Formel von der »energischen Schönheit«,149 mit der Staiger den frühen Schiller interpretiert. Bald daraufhat Staiger aber das »energische« gestrichen, so daß nur noch die »Schönheit« als Gegenstand der Interpretation übrig blieb. Wohl überwiegend aus karrierestrategischen Gründen hat sich Staiger wieder von seiner Mitgliedschaft in der Nationalen Front< gelöst,150 aber sein Argumentationsmodell, das unter Berufung auf den Klassiker Schiller die politische Funktionalisierung der Dichtung zum Zwecke der geistigen Erneuerung fordert, läßt erkennen, daß ästhetisierende Werkimmanenz und barbarische Kulturpolitik nicht nur biographisch, sondern ebenso sachlich durchaus Affinitäten aufweisen können. Daß Staigers Werkimmanenz auch später nicht gegen Anfechtungen des Zeitgeistes gefeit ist, zeigt eine der großen literaturpolitischen Kontroversen der Nachkriegszeit. Im >Zürcher Literaturstreit< zieht er eine Konsequenz aus den ästhetischen Prämissen seiner >Kunst der Interpretation^ Anläßlich der Verleihung des >Literaturpreises der Stadt Zürich< hält er 1966 die Rede Literatur und Öffentlichkeit, welche die Verfallserscheinungen der modernen Literatur geißelt. Wiederum unter Berufung auf Schiller versucht er das schwierige Verhältnis von Literatur und Politik zu klären. Er wendet sich gegen die kurrente »littérature engagée«, die sich »allzu unmittelbar-beflissen zum Anwalt vorgegebener humanitärer, sozialer, politischer Ideen« macht und damit nur eine »Entartung jenes Willens zur Gemeinschaft« wird, der »Dichter vergangener Tage beseelte«;" 1 und er benennt die »Legion von Dichtern, deren Lebensberuf es ist, im Scheußlichen und Gemeinen zu wühlen«." 2 Diese Rede hat heftige Reaktionen hervorgerufen. Staigers Freund Max Frisch erinnert in einem Offenen Brief an die Affinität eines solchen Argumentationsduktus zur »Rede von entarteter Kunst«." 3 Diese Kontroverse ist der Anfang vom Ende der >Werkimmanenz< als herrschender germanistischer Methode in der Bundesrepublik. Die biographischen und literaturpolitischen Reminiszenzen erinnern zumindest daran, daß die Abtrennung der wissenschaftlichen Methode von der gesellschaftlichen Konstellation der Zeit ein künstliches Konstrukt ist, das sich eben dieser gesellschaftlichen Situation verdankt - wenn sie schon nicht deutlich werden lassen, daß der >Werkimmanenz< eine Auffassung von Literatur zugrunde liegt, die mit der moralischen Überforderung des Kunstwerks immer wieder zur Wiederkehr des Verdrängten fuhrt: zur Politik. Über die >werkimmanente Interpretation ist nach ihrem vorläufigen Aussterben in den siebziger Jahren alles gesagt worden, was es zu sagen gibt. Über sie müßte nicht mehr so einläßlich diskutiert werden, wenn in ihr nicht hermeneuti149 150 151 152 153

Ebd., S. 167. Vgl. Schütt, Germanistik und Politik, S. 68f. Staiger, Literatur und Öffentlichkeit, S. 91. Ebd., S. 94. Frisch, Endlich darf man es wieder sagen S. 105. - Vgl. Rohner, Die literarische Streitschrift, S. 207-210.

95 sehe Probleme verborgen wären, die in neuerer Zeit wieder verstärkt auf der Tagesordnung stehen. Sie treten hervor, wenn die >werkimmanente Interpretation« zu den Ergebnissen der Theoriegeschichte der Hermeneutik in Beziehung gesetzt wird. Es wird dann deutlich, daß die >Kunst der Interpretation« ein Irrtum war, der die Errungenschaften der Hermeneutik hinter sich lassen will und damit einer Theorie und Praxis des Verstehens literarischer Werke den Boden entzieht. Peter Szondi hat die lange Geschichte der Hermeneutik als einen verschlungenen Umweg zum eigentlichen Ziel der »Interpretation« zustimmend interpretiert: Sie sei erst zu sich gekommen, seit sie den »ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte« zur »Prämisse« gemacht habe. 154 Dieses Ziel ist freilich in der Theoriegeschichte der Hermeneutik nicht angelegt gewesen. Sein Erreichen bedeutet vielmehr im Gegenteil die Abwendung von grundlegenden Prämissen der hermeneutischen Verstehenstheorie, wie sie von der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung ausgearbeitet worden waren. Diese Prämissen rücken gerade nicht den »ästhetischen Charakter< in den Vordergrund, der die Autonomie des Kunstwerks konstituiert, sondern die historischen Kontexte, in denen Werk und Interpret stehen. Die Literaturwissenschaft hat sich schwer damit getan, die historische Dimension ihres Gegenstandes und ihres Verfahrens wiederzugewinnen. Daß ein striktes Programm der >Werkimmanenzbürgerlichen Trauerspiels< am Ende doch eher Ideologiekritik waren, zeugt von der Schwierigkeit der Umsetzung dieses Postulats. Daß ästhetischer Formgeschichte geschichtliche Wirklichkeit eingelagert sei, ist eine Idee, die Adorno in vielen eleganten Wendungen vorgetragen hat: »Das den Kunstwerken Spezifische, ihre Form, kann als sedimentierter und modifizierter Inhalt nie verleugnen, woher sie kam«" 3 - nämlich aus der Gesellschaft: Das ästhetische Material ist desselben »Ursprungs wie der gesellschaftliche Prozeß und stets wieder von dessen Spuren durchsetzt«.164 In der von Adomos ästhetischer Theorie bestimmten Germanistik der siebziger Jahre hat diese Auffassung viel Kredit genossen, da sie einerseits gegen die traditionelle Werkimmanenz, andererseits aber auch gegen literatursoziologische Theorien einer orthodoxen marxistischen Tradition ausgespielt werden können, wie sie vor allem von Lukács repräsentiert wurde.165 Szondi ist fachwissenschaftlich wie biographisch das Bindeglied zwischen Staiger und Adorno. In den abschließenden Bemerkungen zu seiner bei Staiger angefertigten Dissertation Theorie des modernen Dramas benennt er Hegel, den frühen Lukács, Staiger und schließlich Adornos Philosophie der neuen Musik als

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Szondi, Über philologische Erkenntnis, S. 23. - Dazu Wölfel, Zur aktuellen Problematik der Interpretation literarischer Werke, S. 405. Szondi, Über philologische Erkenntnis, S. 18; S. 27. Ebd., S. 23; S. 34. Ebd., S. 22. Mattenklott, Vorwort des Herausgebers, S. 10. Adomo, Ästhetische Theorie, S. 210. Adomo, Philosophie der neuen Musik, S. 39. Vgl. Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, S. 18f.

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die inspirierenden Anregungen. Ohne die methodischen Prämissen Staigers preiszugeben, zielt er auf eine Ö f f n u n g der Literaturwissenschaft fur die reale Geschichte. 1967, in der Inkubationsphase der Studentenbewegung, fuhrt er als Ordinarius für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin die vermeintlich so divergierenden Positionen zusammen: Er bezeichnet sich als »Schüler« Adornos in einem »akademischen Sinne« und benennt zugleich das Verfahren, das Adornos Eigenart ausmache: die »Versenkung in den Gegenstand«. 1 6 7 Daß diese Versenkung aber nicht nur aufs Werk, sondern auch auf die Geschichte zielt, ist der Schritt über Staiger hinaus, den Adorno wie Szondi andeuten. Adornos eigene Intention und erst recht seine Wirkungsgeschichte in der Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft weisen ihn als Antipoden werkimmanenter Interpretation aus, zumal er sich auf andere Traditionszusammenhänge beruft. Dennoch liefert er mit seiner Musiksoziologie, den Noten zur Literatur und der postum 1970 erschienenen Ästhetischen Theorie ein merkwürdiges Nachspiel zur >Kunst der Interpretation^ Adorno verdankt seinen Erfolg dem wenig beachteten Doppelcharakter seiner Ästhetik: Sie pflegt die Rhetorik des absoluten Bruchs mit der unmittelbaren ästhetikgeschichtlichen Vergangenheit und bleibt manchen ihrer Prämissen in einem anderen terminologischen Gewand verhaftet. Er verficht eine Autonomie-Ästhetik, die mit dialektischen Wendungen - die oft nur rhetorische sind - ihres traditionalistischen Charakters beraubt wird. Freilich geht Adornos Ästhetik nicht in einer Reprise autonomieästhetischer Konzeptionen und daraus abgeleiteter werkimmanenter Interpretation auf. Auch wenn er ihre Prämissen aufgreift, teilt er sie doch nicht uneingeschränkt. Vielmehr eröffnet gerade die Wiederaufnahme der alten Konzepte die Möglichkeit, den theoriegeschichtlichen Irrweg zu verlassen, den die >werkimmanente Interpretatiom eingeschlagen hatte. Adorno versucht, aus deren Konzepten heraus eine Ö f f n u n g der Literatur - und ihrer Interpretation - auf ihre historischen Kontexte hin zu ermöglichen. In scharfer Abgrenzung von den Interpretationstraditionen Diltheys, Heideggers und Staigers nähert er sich deren Positionen wieder auf Umwegen: Das intuitive »Einfühlen« in das Kunstwerk wird als »banausisch« abgelehnt, um im gleichen Atemzug die Forderung zu stellen, daß der Interpret des Gehaltes eines Kunstwerkes »innewerde«, 1 6 8 das sich aber dem Zugang durch seinen »Rätselcharakter« verschließt. 169 Nun ist es kein Zufall, daß die Rezeption Adornos einen ganz anderen Weg genommen hat als die >Kunst der Interpretation^ im Begriff der Vernunft, der an die Stelle des Gefühls tritt, deutet sich das an: Kein Kunstwerk geht im interpretierenden Urteil über es auf, aber dennoch fordert es die »deutende Vernunft«. 1 7 0 Bei aller Nähe zur Autonomie-Ästhetik sucht Adorno einen W e g aus der selbstgenügsamen Versenkung ins Kunstwerk. In seiner Ästhetischen Theorie ebenso 166 167 168 169 170

Vgl. Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 162. Szondi, Adornos Vortrag »Zum Klassizismus von Goethes >IphigenieKunst der Interpretation verlorengegangen war.

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Ebd., S. 677; vgl. auch S. 679. " ' Adomo, Engagement, S. 425. 1,2 Vgl. Mörchen, Macht und Herrschaft, S. 427f.

Viertes Kapitel Eindeutigkeit und Beliebigkeit: Der Leser und die Frage nach dem Sinn von Texten

Die >Kunst der Interpretation< läßt den Leser verstummen. Er hört auf das, was der Text ihm zu sagen hat und muß hoffen, daß er es richtig versteht. Die Regeln, nach denen sich dieses Verstehen vollzieht, sind in der Geschichte der Hermeneutik immer wieder genannt worden; auch von Heidegger in Sein und Zeit, der sie aber später zugunsten des bloßen Lauschens auf die Sprache wieder außer Kraft setzt. Daß Heidegger und mit ihm die Germanistik der fünfziger und sechziger Jahre den bloßen Regeln mißtrauen, hat sicher einen guten Grund. Spätestens seit Schleiermacher war der Hermeneutik bewußt, daß Regeln allein nicht ausreichen, um ein angemessenes Textverständnis zu sichern. Schleiermachers >divinatorisches< Verstehen war ein früher Versuch, eine Antwort auf dieses Problem zu finden. Seitdem ist die hermeneutische Theorie kaum weitergekommen. Die Frage, wie der Leser zu einem angemessenen Textverständnis kommt, was unter einem angemessenen Verständnis zu verstehen ist und was überhaupt verstanden wird, wenn etwas verstanden wird, ist in der hermeneutischen Theorie kaum diskutiert worden. Heidegger hat in Sein und Zeit eine Aufgabe gestellt, die nicht zu überbieten war: Es komme darauf an, »die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen.«1 Vor solchen Aufgaben kann die Hermeneutik in ihrer traditionellen Gestalt, als menschliche und endliche Tätigkeit des Auslegens von Texten, nur resignieren. Über das, was dieser Sinn von Sein sein könne und wie er zu erfahren sei, schweigt sich Heidegger aus. Hans Blumenberg hat dazu die postume Bosheit hinterlassen, daß Heidegger den versprochenen zweiten Teil von Sein und Zeit nicht geschrieben habe, »weil er nicht geschrieben werden durfte. Wer die Zurüstungen für die Expedition des vom Dasein verstandenen Seins jemals auf sich wirken hat lassen, zittert vor der Banalität dessen, was am Ende aller Daseinsanalysen und inmitten des Zauberkreises >Zeithorizont< zutage gefördert werden könnte.«2 In der Tat kommt Heidegger über die befürchteten Banalitäten später nicht hinaus. Zwei Jahre nach Sein und Zeit erläutert er in seiner Freiburger Antrittsvorlesung in einer Selbstauslegung: »>Sinn von Sein< und >Wahrheit des Seins< sagen das Selbe.«3 Die Überbeanspruchung selbst einer philosophischen Hermeneutik mußte die interpretierende Literaturwissenschaft auf einen der Heideggerschen Holzwege fuhren. Erst in den sechziger Jahren, als die Ära Heideggers zu Ende ging, hat sich die Diskussion aus diesen Verstrickungen in eine unlösbare Aufgabe befrei-

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Heidegger, Sein und Zeit, S. 1 ; vgl. auch S. 323f. Blumenberg, Das Sein - ein MacGuffin, S. 159. Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 18.

102 en können. Sowohl die Hermeneutik wie insbesondere die Literaturwissenschaft haben neue, großenteils aus anderen Wissenschaften importierte, Argumentationsmuster entwickelt. Sie zentrieren sich um die Frage, wie der >Sinn< eines Textes verstanden werden kann. Ein entscheidender Impuls zur Diskussion dieser Probleme geht von der >Rezeptionsästhetik< aus, wie sie sich in den späten sechziger Jahren in der Bundesrepublik entwickelt und sehr schnell etabliert hat. Ihre Eigenart besteht darin, daß sie gegenüber einer textorientierten Hermeneutik den Leser mit ins Spiel des Verstehens bringt. Die Literaturwissenschaft hat diese Konsequenz aus den Aponen der Hermeneutik erst bemerkenswert spät gezogen; die »klassische Ästhetik« pflegte »die Frage nach den Wirkungen der Kunst als kunstfremd anzusehen«.4 Das ist freilich nur die halbe Wahrheit, die lediglich fur einen bestimmten Bereich der Ästhetik gilt. Denn grundsätzlich ist die Berücksichtigung des Leserbezuges literarischer Texte ein traditionelles Moment ästhetischer Theorie. Piatons Befürchtung, daß Literatur die Sitten verderben könne, gehört ebenso dazu wie Aristoteles' Hoffnung, mittels der Tragödie >kathartische< Wirkungen zu erzielen. Solche unvermittelten >Wirkungen< von Texten, die vom Autor direkt intendiert sein können, sind indes nicht das Problem der Rezeptionsästhetik. Die Rezeptionsästhetik, wie sie die >Konstanzer SchuleWirkungsabsichten< der Literatur nicht interessiert. Sie entwickelt vielmehr eine grundlegende theoretische Neufassung des Verhältnisses von Leser und Text. Die traditionellen hermeneutischen Theorien schreiben dem Leser vor, was er tun muß, um im Rahmen des Möglichen zu einem angemessenen Textverständnis zu kommen; dabei kann es sich um methodische Regeln handeln oder aber um die Aufforderung zur Einfühlung. Die Rezeptionsästhetik hingegen zielt nicht auf die mehr oder weniger methodisch regulierte Aufnahme eines vorgegebenen Text-Sinns, sondern fordert eine aktive Leistung des Rezipienten. Sie stellt das »dialogische Verhältnis« von Werk und Leser in den Vordergrund5 und bestreitet die Möglichkeit ebenso wie die Notwendigkeit, ein Werk lediglich aus dem Horizont seiner Entstehungszeit heraus verstehen zu wollen, als eine objektivistische Einengung, die das »Werk nur ärmer machen« würde.6 Die Auffassung, daß ein Werk durch die Aktivität des Lesers einen Zugewinn erfährt, ist nicht Eigentum der Rezeptionsästhetik. Sie findet sich in der hermeneutischen Diskussion häufiger vorformuliert, etwa mit dem Hinweis, daß durch die Interpretation der Text »schöpferisch vermehrt« werde.7 Auch Gadamers Vorstellung, daß das Verstehen literarischer Werke sich in einer >Wirkungsgeschichte< entfalte, gehörte fast schon zum Gemeingut der >Kunst der Interpretation^ Im Blick auf Goethe nähert sich Staiger in freilich allzu pathetischen Formulierun4 5 6 7

Jauß, Die Theorie der Rezeption, S. 18. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 171. Ebd., S. 186. Bollnow, Was heißt, einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selber verstanden hat?, S. 28.

103 gen der späteren Auffassung der Rezeptionsästhetik, daß vom unerschöpflichen Werk, »wie von dem Leben selbst, gilt, daß es kein Einzelner je durchdringt, daß es nur alle Menschen zusammen in der Folge der Zeiten erfassen.«8 Diese Unerschöpflichkeit wird in emphatischen Kunsttheorien geradezu zum Signum des ästhetischen Ranges von Kunstwerken: »Für derartige Dichtungen reicht das Verstehen durch einen einzelnen Interpreten nicht aus. Sie brauchen dazu ganze Generationen, weil erst im Wandel des Verstehens die Schichten ihrer Substanz langsam zutage treten und sich im Bewußtsein der Verstehenden mehr realisierten als sie das im Bewußtsein ihrer Schöpfer taten.«9 Entsprechend hat Arthur Nisin schon früh auf die Notwendigkeit einer »histoire de la vie des œuvres« hingewiesen.10 Das >Werk an sich< wäre nur einer überzeitlichen Perspektive zugänglich, die niemand einnehmen kann, denn jedes Werk wird unter der zeitgenössischen Perspektive des Lesers aufgefaßt. Diese Perspektive kann erweitert werden durch eine Rekonstruktion der Perspektiven, die in der Vergangenheit gegenüber einem Werk eingenommen werden, so daß ein Werk immer aus einer doppelten Perspektive verstanden wird: aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Es handelt sich bei der Rezeptionsästhetik also in der Tat um eine Theorie, die auf der Aufnahme schon länger kursierender Ideen basiert. Allerdings ist sie bemüht, solche eher intuitiv begründeten Einsichten theoretisch zu fundieren. Dabei kann sie unmittelbar an die zeitgenössische Hermeneutik anknüpfen. Bei Gadamer ist der Weg zu einer modernen Rezeptionsästhetik schon gewiesen, wie Jauß vermerkt: Er bestimmt Verstehen nicht nur als Angleichung des Leser-Horizontes an den Text in der Form einer >HorizontverschmelzungHorizontabhebung< ab, in der gerade die Unterschiede zwischen Werk und Leser fur das Verstehen fruchtbar gemacht werden. Damit erhält die Produktivität des Rezipienten einen eigenständigen Status." Diese reflexive Komponente wurde von anderer Seite noch betont. Erika FischerLichte hat auf den Zusammenhang von Produktion und Rezeption beim Verstehen hingewiesen: Die Zuweisung von Bedeutung zu einem Zeichenzusammenhang ist ein Vorgang, in dem die verschiedenen >Bedeutungssysteme< des Produzenten und des Rezipienten miteinander vermittelt werden müssen.12 Jedes Verstehen setzt einerseits voraus, daß eine Gemeinsamkeit in diesen Bedeutungssystemen vorhanden ist, daß aber andererseits vom Rezipienten auch auf die Unterschiedlichkeit seiner eigenen Bedeutungszuschreibung von der des Produzenten reflektiert wird. Zugleich muß er sich bemühen, das >Bedeutungssystem< des Produzenten soweit als möglich zu rekonstruieren.13 Das ist trotz einer kritischen

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Staiger, Goethe II, S. 174. Friedrich, Dichtung und die Methoden ihrer Deutung, S. 296. Nisin, Les Œuvres et les Siècles, S. 26; vgl. auch den Kontext S. 26-28. Vgl. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 26f.; Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 178-180. Vgl. Fischer-Lichte, Bedeutung, S. 131. Vgl. ebd., S. 137f.; S. 151f.

104 Wendung gegen Gadamer14 nicht sehr weit von dessen Konzept der >Horizontverschmelzung< entfernt. Die >Mitproduktivität< des Lesers führt dazu, daß das Werk immer wieder neu verstanden werden muß - jede Zeit bringt einen neuen >Horizont< hervor, dessen Konfrontation mit dem Werk-Horizont ein neues Werkverständnis generiert. In seiner ursprünglichen Version von Rezeptionsästhetik hat Jauß die >Mitproduktivität< als einen sich eher intuitiv vollziehenden Akt des Verstehens aufgefaßt. Später hat er die Mitproduktivität präzisiert und dabei einen engeren Zusammenhang der Rezeptionsästhetik zur hermeneutischen Tradition hergestellt. Die »triadische Einheit von Verstehen, Auslegen und Anwenden, wie sie im hermeneutischen Vorgang vollzogen wird«, kehrt in einer rezeptionsästhetischen Wendung wieder; sie wird realisiert in einer »mehrfachen Lektüre« des ästhetischen Textes durch den Leser.' 5 Die von Gadamer übernommene Forderung einer »Verschmelzung der Horizonte« von Werk und Leser über den Zeilenabstand hinweg erscheint bei Jauß als die »sukzessive Freilegung eines im Werk angelegten Sinnpotentials«.16 Gadamer hat zwar Formulierungen gefunden, die direkt auf die Rezeptionsästhetik zu verweisen scheinen; aber er hat zugleich den letzten Schritt gescheut, der zu ihr hinführen würde - seine Theorie des >KlassischenWirkungen der Wirkungsgeschichte< entrückt, setzt sich wieder von der Rezeptionsästhetik ab.17 Das Problem, das Gadamer mit seinem unvermittelten Dualismus von Horizontverschmelzung und überzeitlicher Klassizität ungelöst läßt, kehrt bei Jauß wieder. Auch ihm stellt sich die Frage nach der Einheit im Wandel. Der >Sinn< als eine die Zeiten überdauernde identitätstiftende Kategorie kann nicht preisgegeben werden." Aus diesem Dilemma geht eine Eigenart der Rezeptionsästhetik hervor: Sie lenkt zwar der Idee nach den Blick vom Werk weg und zum Leser hin; tatsächlich aber kehrt sie immer wieder zum Werk zurück. Diese Akzentuierung kommt nicht von ungefähr. Denn die Rezeptionsästhetik lebt von spezifischen Annahmen über den Charakter literarischer Texte. Jauß selbst hat in einem Rückblick auf die >unerkannte Vorgeschichte< seiner eigenen Theorie diese Zusammenhänge benannt. Die Rezeptionsästhetik setzt voraus, daß die Autorität des auszulegenden Textes einerseits aufgeweicht, andererseits neu begründet wird ein Vorgang, dessen historischen Ursprung Jauß etwas großzügig beim Beginn der Neuzeit ansetzt, in der sich der autoritativ vorgegebene Sinn eines Textes einem »produktiven Verstehen« öffnet." 14 15 16

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Vgl. ebd., S. 153. Jauß, Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik, S. 476. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 186f. - Vgl. zum >Klassischen< Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 269-275. Vgl. Grimm, Einführung in die Rezeptionsforschung, S. 13. - Gadamer hat sich gelegentlich skeptisch zur Umformung seiner Hermeneutik zur Rezeptionsästhetik durch Jauß geäußert; vgl. etwa Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik, S. 13f. Vgl. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 662. - Vgl. dazu aber Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik, S. 7f. Jauß, Die Theorie der Rezeption, S. 9.

105 Dieser Prozeß ist nicht nur Folge ideologie-, sondern auch mediengeschichtlicher Entwicklungen. Er läßt sich beschreiben als eine Konsequenz des Übergangs von der >Mündlichkeit< zur >SchriftlichkeitSubjekt< unmittelbar erkennbar. In einer Schriftlichkeits-Kultur ist die Präsenz des Autors hingegen zurückgedrängt - und das fuhrt zu rezeptionsästhetischen Konsequenzen: Der Leser muß selbst »aktiv werden und produktive Lektüren am nunmehr gänzlich vom Autor gelösten Text überprüfen.«20 Die neuere, medienhistorisch orientierte Literaturwissenschaft hat diesen Vorgang noch präziser beschreiben und ihn - im Blick auf die deutsche Kulturentwicklung - im ausgehenden Mittelalter situieren können. In der Trennung von körpergebundener und schriftlicher Kommunikation entsteht das Grundproblem historischer Hermeneutik. Erst die Verschriftlichung ermöglicht und erfordert eine immer neue Aneigungsleistung des Rezipienten über die Zeiten hinweg.21 Das ist, in historisch gewendeter Perspektive, nichts anderes als die Grundposition der Rezeptionsästhetik. Die Theoriegeschichte hat sich im 20. Jahrhundert diese Perspektive erst wieder neu erarbeiten müssen. Klassizistische Kunstwerk-Auffassungen aus der Tradition der Autonomie-Ästhetik haben den Blick auf die Rolle der Wirkungsgeschichte beim Verstehen verstellt. Ihr gegenüber muß die Möglichkeit der produktiven Lektüren durch einen anderen Werkbegriff begründet werden, der das Zusammenspiel von Werk und Rezeption ermöglicht, indem er den Gedanken von der »Überzeitlichkeit« des Werkes verabschiedet, um den Blick auf die »Medien seiner Distribution und Rezeption« zu öffnen.22 Tatsächlich impliziert die Rezeptionsästhetik eine Vorannahme über den Charakter des Werks. Die grundlegenden Überlegungen dazu wurden nicht in der Hermeneutiktradition entwickelt. Sie haben vielmehr ihren Ursprung in der auf Husserls Phänomenologie basierenden poetologischen Konzeption des Krakauer Philosophen Roman Ingarden. Seine beiden grundlegenden Werke Das literarische Kunstwerk von 1931 und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks von 1937 entwickeln einen Argumentationsgang, in dem die komplexen Prämissen der Konstanzer Rezeptionsästhetik vorab entfaltet werden. Das literarische Werk hat für Ingarden einen Doppelcharakter. Es ist einerseits »intentionaler Gegenstand« im Sinne Husserls, und als solcher nimmt es an den »Geschehnissen der realen Welt« nicht teil. Zugleich ist es aber aus dem »Vollzug subjektiver Operationen« entstanden und liegt damit »prinzipiell innerhalb der Reichweite der Machtbefugnisse psychischer Individuen«.23 Diese zweite Bestimmung führt zu dem für die Rezeptionsästhetik relevanten Teil von Ingardens Argumentation. Er stellt nicht nur zwischen Autor und Werk, sondern ebenso zwischen Werk und Leser einen Zusammenhang her. Ingarden kommt zu der Feststellung, daß ein Werk mit seiner Fertigstellung durch den Autor nicht abgeschlossen ist; es ist vielmehr darauf ange-

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Schlieben-Lange, Zu einer Geschichte des Lesens (und Schreibens), S. 254. Vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 213. Grimm, Einführung in die Rezeptionsforschung, S . l l . Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 369.

106 wiesen, vom Leser weitergeführt zu werden. Das setzt die Auffassung von der Unfertigkeit des Werkes voraus. In verschiedenen Schichten des »Kunstwerks« hat Ingarden »Unbestimmtheitstellen« ausgemacht, die vom Leser aufgefüllt werden können - dadurch unterscheidet sich das literarische Kunstwerk vom realen Gegenstand, der grundsätzlich keine Unbestimmtheitsstellen aufweisen kann. Das literarische Werk ist in dieser Beziehung »prinzipiell unfertig« und fordert »eine immer weitergehende Ergänzung«.24 Diesen Vorgang der Ergänzung faßt Ingarden als >Konkretisationästhetische< Einstellung zu fordern, deren Charakteristikum gerade die Ausblendung »unserer realen Umwelt« ist. Aber dennoch zollt er der Einsicht seinen Tribut, daß Rezeption sich in historischen Kontexten vollzieht, die auf die jeweilige Konkretisation zurückwirken.28 Mit der Feststellung des Wandels im Verlauf der Rezeption ist freilich nur die eine Seite des Problems angesprochen. Ingarden will andererseits klären, wie sich das Werk zwar »unmerklich unter den Händen des Lesers« verwandeln kann, ohne aber seine »Identität einzubüßen« - denn Konkretisation bedeutet nicht beliebige individuelle Sinnproduktion. 2 ' Dieses schwierige Verhältnis von Werk und Konkretisation steht im Zentrum von Ingardens Überlegungen. Sie fuhren ihn zu einer komplexen Theorie des literarischen Kunstwerksoffene Kunstw e r k seine bewußte Realisation vor allem in der Literatur der Moderne gefunden hat, daß aber die »Offenheit im Sinne einer fundamentalen Ambiguität der künstlerischen Botschaft eine Konstante jedes Werkes aus jeder Zeit ist.«42 Die Möglichkeit des >offenen Kunstwerks< wird von Eco informations- und kommunikationstheoretisch begründet. Durch die ästhetischen Zeichen wird ein Kommunikationsprozeß in Gang gesetzt, der sich fundamental unterscheidet von nichtkünstlerischer Zeichenverwendung. Während diese dadurch ausgezeichnet ist, daß sie in eine Wahrscheinlichkeitsordnung eingebunden ist, in der normale

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Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 175. Iser, Der implizite Leser, S. 67. Vgl. ebd., S. 92f. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 676. Die Bibliographie von Jauß' Ästhetischer Erfahrung verzeichnet den Titel nicht; auch Ingarden wird von Jauß nicht systematisch aufgearbeitet; vgl. seine Erwähnung bei Jauß, Die Theorie der Rezeption, S. 14f. Eco, Das offene Kunstwerk, S. 30. Ebd., S. 11 (Vorwort zur zweiten Auflage).

109 Bedeutungen übermittelt werden, zielt das ästhetische Zeichen gerade auf das Durchbrechen dieser Ordnung, um neue Möglichkeiten der Zeichenbedeutung zu eröffnen. 43 Von Ingarden über Eco bis zu Jauß lassen sich Grundelemente einer ÄsthetikKonzeption konstatieren, die eine Verwiesenheit des literarischen Werks auf seine Vollendung durch den Leser postulieren. Während Jauß beim Rezipienten ansetzt, siedelt Eco die >Offenheit< im Kommunikationsvorgang zwischen Werk und Rezipient an, wobei die Offenheit durch die Struktur des Werkes hervorgehoben werden kann. Aber auch Eco hält daran fest, daß der Rezipient nicht beliebig über das Kunstwerk verfügen kann, sondern daß die >Konkretisation< immer an die Vorgaben des Werks gebunden bleiben muß.44 Der Erfolg der Rezeptionästhetik in den siebziger Jahren verdankt sich sicher nicht diesen teilweise komplizierten, teilweise spekulativen und teilweise banalen Überlegungen zur Struktur literarischer Texte. Daß sie einen so enormen Siegeszug antreten konnte, ist wohl wesentlich darauf zurückzuführen, daß sie sich als liberale Alternative anbot zu einer konservativen Hermeneutik, die den Rezipienten aufs bloße Lauschen verpflichten will ebenso wie zu einer dogmatischen marxistischen Interpretationslehre, die immer schon festgeschrieben hat, was der Text in >letzter Instanz< bedeutet. Gegen beide Positionen hat Jauß seine >Provokation< ausdrücklich adressiert. Es ist kein Zufall, daß sie gerade in Gesellschaften mit einem akuten Liberalisierungsbedarf - wie in der Bundesrepublik Deutschland der späten sechziger Jahre - oder in solchen mit einer liberalen Tradition wie in den USA oder in den Niederlanden - so ungemein erfolgreich war. Tatsächlich ist die Rezeptionsästhetik die einzige aus der unüberschaubaren Vielzahl der von deutschen Literaturwissenschaftlern hervorgebrachten >MethodenFreiheit< des Lesers, die durch den Text stimuliert wird, ist das Faszinosum, das von der Rezeptionsästhetik ausgeht. Auf eine unspezifische Weise ist dies schon bei Ingarden angelegt. Auch er unterstellt eine erzieherische Wirkung des Werkes, das an den Leser seine eigenen Anforderungen stellt. Der Leser muß sich über seine »Durchschnittlichkeit« erheben, um dem - bedeutenden - Werk gerecht werden zu können. Die Vorstellung, daß das Werk in diesem Sinne eine Herausforderung zur Freiheit darstellt, meint lediglich eine Freiheit in der Einstellung zum ästhetischen Werk, die sich in der Bereitschaft bekundet, sich durch »echte Meisterwerke« »beherrschen« zu lassen.46 Iser bestimmt die >Freiheit< des Lesers geradezu gegenläufig. Leerstellen im Text sind nicht Teil einer ästhetischen Komposition, sie ergeben sich vielmehr daraus, daß literarische Texte als Negation der Normen jener Wirklichkeit fungieren, aus der der Text hervorgegangen ist. Iser konstatiert eine großflächige Entwicklung der neuzeitlichen Romanliteratur, die der Tendenz nach dazu neigt, 43 44 45

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Vgl. ebd., S. 121. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. Holub, Crossing Borders, S. 1-36; Hermand, Geschichte der Germanistik, S. 153; Steinmetz, Assimilation, S. 342f. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 90f.

110 dem Leser einen immer größeren Spielraum zuzuweisen und ihn damit aufzufordern, »in ein kritisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Zwängen zu gelangen.«47 Die Leerstellen sind eine Aufforderung - ein »Appell« - an den Leser, über das Werk selbst hinauszudenken.48 Auch diese Form der Rezeptionsästhetik weist über den Text hinaus auf die gesellschaftliche Emanzipation - aber merkwürdigerweise plädiert Iser dafür, diese Leistung mit den Mitteln werkimmanenter Textanalyse zu erzielen. Die Analyse - ausdrücklich nicht die >Interpretation< - von Texten allein reicht schon aus, diese >entideologisierende< Wirkung zu erzielen und damit einen Einfluß auf die Praxis des alltäglichen Handelns zu gewinnen. 4 ' Es wurde wenig beachtet, daß Jean-Paul Sartre manche Grundgedanken der Rezeptionsästhetik vorweggenommen hat. Gerade er hat die >FreiheitsLiteratur< und >DichtungDichtungGegenposition< zu vorhergehenden vergleichbaren literarischen Werken, sondern auch zur sozialen Wirklichkeit und den Idealen, die in dieser Literatur repräsentiert werden.56 Die soziologische Komponente des Begriffs hat, was von Jauß nicht recht gewürdigt wird, Karl Mannheim entwickelt. Mannheim führt den Begriff ein als eine Kategorie zur Beschreibung der »alltäglichen Beobachtung< im sozialen Leben. In Zeiten normaler gesellschaftlicher Entwicklung ist der Erwartungshorizont stabil, wenn auch nicht statisch: Er »rechnet mit Ereignissen, die sich aus der Konstanz unserer gesellschaftlichen Erfahrungen ergeben«; dazu gehört auch die Erfahrung, daß mit dem Eintreten des Unerwarteten in einem gewissen Rahmen gerechnet werden muß. In gesellschaftlichen Umbruchszeiten hingegen ist nicht nur mit dem Auftreten neuer »Einzeltatsachen«, sondern mit einem grundlegenden »Wandel der Prinzipien« zu rechnen, die den tradierten Erwartungshorizont konstituieren - Mannheim bereitet damit den später in der Wissenschaftstheorie so enorm erfolgreich werdenden Begriff des >Paradigmawechsels< vor.57 Jauß schließt an Mannheims Bestimmung offensichtlich implizit an und ergänzt sie um das Konzept eines literarischen Erwartungshorizontes. Jedes literarische Werk steht nicht für sich, sondern im Zusammenhang einer literarhistorischen Entwicklung, deren Kenntnis bei der Leserschaft, aber auch bei anderen Autoren und bei Kritikern explizit oder implizit vorhanden ist und die bestimmte

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Gesellschaft, Literatur, Lesen, S. 87. Vgl. Jauß, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung, S. 238f. Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, S. 212. - Zum >Paradigmawechsel< vgl. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, S. 64f.

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Erwartungen hervorruft, die vom Werk bestätigt oder enttäuscht werden können. Es entsteht ein Zusammenspiel von literarischer Tradition, Lebenserfahrung und neuem Werk. Obwohl dieses Konzept zum Kernbestand der Rezeptionsästhetik gehört, ist es so trivial, daß sich ohne weiteres ein theorienübergreifender Konsens darüber herstellen läßt. Auch in der marxistischen Literaturwissenschaft läßt sich in anderer Begrifïlichkeit ein ganz ähnliches Konzept formulieren: In einer »Gesellschaftsformation« bilden sich »bestimmte Denkweisen, Bewertungsnormen gegenüber der überlieferten und der zeitgenössischen Literatur« heraus, die als »gesellschaftliche Rezeptionsweisen« faßbar werden.58 Jauß akzentuiert die Offenheit des Erwartungshorizontes sehr viel stärker als Mannheim, der die lebensweltlichen Sedimentierungen in den Vordergrund gestellt hatte. Jauß schließt eher an Husserl als an Mannheim an.59 Husserl hatte worauf Jauß flüchtig hinweist60 - den Begriff des >Horizonts< und des >Horizontwandels< systematisch in die philosophische Diskussion eingeführt: Jede Erfahrung ist in einen Horizont eingebettet; der Gegenstand, auf den sie sich bezieht, wird zwar in der Erfahrung isoliert, aber er steht stets in einer Umgebung und in Zusammenhängen, die zwar nicht unbedingt thematisiert werden, die aber grundsätzlich thematisiert werden können, wodurch sich neue »Horizonte« eröffnen: »Zu jedem Dingerscheinenden einer jeden Wahrnehmungsphase gehört ein neuer Leerhorizont, ein neues System bestimmbarer Unbestimmtheit, ein neues System von Fortschrittstendenzen mit entsprechenden Möglichkeiten«.61 Der >HorizontKonstanz< von Erwartungen, sondern durch die Möglichkeit, diese Konstanz immer wieder aufzubrechen mittels einer expliziten Thematisierung des gegenstandsumgebenden Horizontes. Der »Leerhorizont« bedeutet keine Festlegung, sondern die Eröffnung von Möglichkeiten; es handelt sich um einen »Leerhorizont, der ein Horizont der Freiheit ist«.62 Das ist eine politisch gemeinte Umsetzung einer phänomenologischen Bestimmung Husserls: »Die Horizonte sind vorgezeichnete Potentialitäten«;" also einerseits zwar Möglichkeiten, die aber andererseits keine völlige Freiheit begründen, sondern eben »vorgezeichnet« sind. Damit ist der Zusammenhang von Erwartungshorizont und Freiheit gesetzt, den Jauß ausarbeitet. Die Offenheit der literarischen Erwartungshorizonte - Jauß bezieht sich auch auf die Wissenschaftstheorie Karl Poppers64 - , setzt Möglichkeiten frei, die als Alternativen zur Lebenspraxis mit ihren sedimentierten sozialen Erwartungshorizonten auftreten und »unverwirklichte Möglichkeit« vorwegnehmen können.65 58 59 60

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Gesellschaft, Literatur, Lesen, S. 91. Vgl. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 200f. Vgl. ebd., S. 178; ausführlicher zum >HorizontWerk< offen, das >Leben< - oder die soziale Wirklichkeit - hingegen geschlossen und erstarrt seien. Daß diese Unterstellung zutrifft, ist schon früh bezweifelt worden. Von einer traditionalistischen Position aus hat Staiger das Gegenteil postuliert: »Denn eben dadurch unterscheidet sich das Leben von der Kunst, daß das Leben unendlich tief und weit und unergründlich, das heißt zugleich, beliebig und zufällig ist, die Kunst dagegen auf Wahl beruht.«66 Aber auch von anderer Seite wurde die These von der Offenheit der Kunst in Zweifel gezogen. Die konservative Grundannahme, daß literarische Werke auf Geschlossenheit angelegt sind und sich dadurch von der Offenheit der Wirklichkeit unterscheiden, hat gute Gründe. Christian Enzensberger hat, teilweise in direkter Auseinandersetzung mit der Rezeptionsästhetik, vor allem aber mit der an der >Kritischen Theorie< geschulten Ästhetik der Studentenbewegung, die dem Kunstwerk per se kritischen Charakter zusprechen wollte, die These vom >offenen Kunstwerk< einer scharfen Kritik unterzogen. Er besteht darauf, daß Literatur auf konsistenten Sinn angelegt und daß sie gerade dadurch von >Nichtliteratur< unterschieden sei. Enzensberger wendet die Argumentation von Isers Rezeptionsästhetik gegen diese selbst: Selbst wenn ein Werk keinen Sinn herstellt, etwa >Leerstellen< enthält, ist es nach Iser Aufgabe des Lesers, den Sinn wieder herzustellen.67 Die politischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, stehen konträr zu den Grundannahmen Jauß': »durch ihre Form wie ihre Funktion ist Kunst immer reaktionär. Es gibt keine revolutionäre Kunst - oder sie ist keine mehr.«6* Mit dieser Auffassung steht Enzensberger in der modernen Diskussion nicht allein. Ausgerechnet Umberto Eco, der Protagonist der Theorie vom >offenen Kunstwerk^ hat ähnliche Argumente, allerdings in weniger politischer Pointierung, geltend gemacht. Auch für ihn ist nicht die Literatur, sondern das Leben vieldeutig; literarische Texte sind als Ordnungsentwürfe eindeutiger als die Wirklichkeit. 6 ' Die Einwände lassen sich lapidar zusammenfassen: »Der literarische Text ist seiner Natur nach ein endlicher Text« - darin unterscheidet er sich von nicht-literarischen Texten ebenso wie von der Wirklichkeit.70 Allerdings sind diese Einwände in der Diskussion nicht durchgedrungen. Die Idee des o f f e nen Kunstwerks* mit ihren Konsequenzen für Rezeption und gesellschaftliche Veränderung genießt in der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion wesentlich mehr Sympathie als die These von der Geschlossenheit. Die Unterstellung, daß der literarische Text >offener< sei, als es der dogmatischen Vorgeschichte der modernen Hermeneutik erschien und daß deshalb dem Leser größere Freiheit zugestanden werden müsse, hat der Hermeneutik neue Diskussionen aufgezwungen. Es ergeben sich wichtige Konsequenzen fur das 66 67 68 69 70

Staiger, Goethe II, S. 167. Vgl. Enzensberger, Literatur und Interesse I, S. 57. Ebd., S. 153. Vgl. Eco, Im Wald der Fiktionen, S. 157f. Gerigk, Unterwegs zur Interpretation, S. 201.

114 >Problem der Interpretations Sie lassen sich in der einfachen Frage zusammenfassen, wie individuelle Willkür vermieden werden kann. Das Problem wurde in der Theoriegeschichte der Hermeneutik erst erstaunlich spät wahrgenommen die Frage, wie sich die »rechte Auslegung« vor der »Willkür von Einfällen« schützen soll,71 ist erst durch die moderne Hermeneutik und ihre rezeptionsästhetischen Ausläufer wirklich relevant geworden. Es geht jetzt wieder wesentlich um die von Eco neu thematisierten »Grenzen der Interpretation« - um die Frage, wie die Freiheit des Lesers in den »Rechten des Textes« ihre Schranken findet. Das ist ein Erbe des aufklärerischen Rationalismus, die den »Text vor der Arroganz des Interpreten« schützen will.72 Eco biegt die von ihm selbst maßgeblich mit eröffnete Diskussion um das >offene Kunstwerk< wieder in traditionellere Bahnen zurück, indem er die Frage stellt, welche >Grenzen< nicht überschritten werden dürfen - wobei er sich gegen die naheliegende Vermutung wehren muß, daß er damit eine konservative Wendung vollzogen habe.73 Bis fast zur Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Hermeneutik in weiten Bereichen als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Bindung des Interpreten durch den Text so stark sei, daß jede individuelle Abweichung leicht als Mißverstehen identifiziert werden könne. Die Rezeptionsästhetik hat diese Voraussetzung endgültig erschüttert. Sie muß sich damit aber neuen Problemen stellen. Die Interpretation darf nicht in die individuelle Beliebigkeit entlassen werden - zumindest dann nicht, wenn die Hermeneutik den Ansprüchen einer modernen Wissenschaftsauffassung gerecht werden will, zu deren wesentlichen Grundlagen das Willkürverbot gehört. Die Sorge wurde schon früh formuliert, daß eine Aufwertung des Lesers im Prozeß des Textverstehens die Konsequenz nach sich ziehen könne, daß die Wirkungen des Textes auf den Leser mit dem Text selbst verwechselt werden. Das Schreckgespenst des >Psychologismus< ist schon in Jauß' Inauguraltext präsent.74 Diese Gefahr ist ein ständiger Einwand gegen die Hermeneutik und gegen die Rezeptionsästhetik geblieben, der von verschiedener Seite erhoben wurde. Hirsch hat ihn in ausdrücklicher Wendung gegen die Idee eines offenen Textes und der fortschreitenden Sinn-Konstitution formuliert: Die »Konzeption eines autonomen, lebendigen, sich verändernden Sinns [...] zerstört ganz einfach die Grundlage jeder Übereinstimmung zwischen Lesern und auch jeder objektiven Untersuchung überhaupt.«75 In der Diskussion des 20. Jahrhunderts ist eine Fülle von Lösungsvorschlägen gemacht worden, um diesen Anspruch zu erfüllen; teils verstehen sie sich als Ergänzung zur Hermeneutik, teils als deren Fundamentalkritik. Sie alle zielen auf die Frage, ob und wie dem Verstehen >Eindeutigkeit< zu sichern sei. Die einfachste Antwort ist die traditionellste. Sie geht davon aus, daß der >Sinn< des Textes die Absicht des Autors sei, die vom Interpreten ergründet werden müsse: »Ziel 71 72 73 74

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Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 251. Cataldi Madonna, Christian Wolffs unzeitgemäße Hermeneutik, S. 31. Vgl. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 22. Vgl. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 173f. Zur Kritik an der affective fa11acy< vgl. Wimsatt/Beardsley, The Verbal Icon, S. 21-39. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, S. 268.

115 der Interpretation ist die Erkenntnis der im Text, d. h. in jedem gedanklichen und sprachlich-formalen Textphänomen, inkarnierten voluntas auctoris«.16 In der engeren Hermeneutik-Diskussion wird diese Auffassung nur noch selten vertreten. Die literaturwissenschaftliche Hermeneutik hat sich von dieser Grundüberzeugung weit entfernt. Der engagierteste Verfechter der >Autorintention< ist Eric D. Hirsch, der zwar nie mehr als eine Außenseiterposition eingenommen hat, dessen Einwände gegen die Hermeneutik aber zur Schärfung von deren Profil beitragen können. Die Frage, ob in Texten formulierte sprachliche Äußerungen eindeutig interpretierbar sind, wurde von der Rezeptionsästhetik und ihren Vorläufern verneint; nicht zuletzt mit dem empirischen Argument, daß Texte tatsächlich immer unterschiedlich verstanden wurden und daß Eindeutigkeit durch methodische Regeln offenbar nicht erzwingbar ist. Für dieses traditionelle Problem verweist Hirsch auf eine moderne Lösung: Er macht sich die von Gottlob Frege am Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Unterscheidung von >Sinn< und >Bedeutung< zu eigen. Nach Frege kann der >Sinn< eines sprachlichen Ausdrucks in unterschiedlichen Situationen verschieden verstanden werden; die >Bedeutung< hingegen bleibt immer gleich. Berühmt wurde Freges Beispiel vom Begriff >VenusSinn< >Morgenstern< oder >Abendstem< zugeschrieben werden kann. Daraus leitet Frege seine Folgerungen ab: Das Ziel der Erkenntnis ist es, vom Sinn zur Bedeutung vorzudringen;77 der Wahrheitsgehalt einer Aussage läßt sich nur bestimmen durch den Bezug, den diese Aussage auf einen Gegenstand hat, der außerhalb ihrer selbst liegt. Bei Hirsch erfahrt dieser Gedanke eine methodische Wendung. Texte, so argumentiert er mit flüchtiger Berufung auf Frege, haben einen konstant bleibenden Sinn, ungeachtet der verschiedenen Interpretionen, die dieser Sinn erfahren kann; und, so fügt Hirsch hinzu, dieser »überzeitliche Sinn« ist der »vom Autor intendierte Sinn.«78 Die Tatsache des unterschiedlichen Verstehens läßt sich so mit der Behauptung eines eindeutigen Textsinns verbinden - wenn die Festlegung akzeptabel wäre, daß der >Sinn< eines Textes ein für allemal durch die Autorintention festgelegt ist, während sich die >Bedeutung< unter der Perspektive verschiedener Betrachter - zu denen der Autor selbst gehören kann - wandelt.79 Auf den »Sinn«, so deklariert Hirsch weiter, richtet sich die »Interpretation«, die allein wissenschaftsfahig ist. Die sich wandelnden »Bedeutungen« hingegen werden von der »Kritik« gleichermaßen behandelt wie hervorgebracht; sie ist nicht jenem strengen Richtigkeitsideal verpflichtet, das Hirsch für die Interpretation fordert.80 Wie alle anderen Theoretiker der Interpretation kommt Hirsch zu dem Schluß, daß die >Rich-

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Babilas, Tradition und Interpretation, S. 37. Vgl. Frege, Über Sinn und Bedeutung, S. 48. - Zur Stellung Freges in der semiotischen Diskussion vgl. Eco, Zeichen, S. 148f. ; Eco, Einführung in die Semiotik, S. 70-72. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, S. 270. Die deutsche Übersetzung von Hirschs Text benutzt die Begriffe >Sinn< und >Bedeutung< anders als Frege. Vgl. ebd., S. 23; dazu Frank, Textauslegung, S. 127f. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, S. 191; S. 264f.

116 tigkeit< einer Interpretation nicht endgültig zu beweisen ist. Der »Autor-Sinn« entzieht sich der vollständigen Entschlüsselung durch den Interpreten und selbst wenn sie gelingen sollte, könnte er nicht wissen, daß sie gelungen ist.81 Für die Prüfung seiner Interpretation lassen sich nur Regeln und Kriterien angeben, die die >Wahrscheinlichkeit< einer Interpretation stützen, nicht aber ihre >Wahrheit< verbürgen. Aufgrund dieser Einschränkung bleiben Hirschs Prinzipien fur die hermeneutische Praxis weitgehend belanglos. Der Einwand ist zutreffend, daß sich Hirsch nicht mit der >Interpretation< als einer gegebenen hermeneutischen Praxis auseinandersetzt, sondern Regularien formuliert fur eine Form der Interpretation, die eine Wissenschaft in seinem objektivistischen Sinn sein soll.82 Die klassische >intentio auctoris< ist in der neueren Hermeneutikgeschichte seit der Romantik nicht nur aufgrund dieses Einwands kaum noch ernsthaft erörtert worden. Aus der Literaturwissenschaft wurde sie verbannt durch das Verdikt des >New Criticismintentional fallacyNew Criticismi - verfehlt eine solche Interpretation die Eigenart des genuin poetischen Textes, der per definitionem durch seine Autonomie gegenüber dem Ausdruckswillen des Autors gekennzeichnet ist.83 Die Kritik des >New Criticismi an der >intentio auctoris< setzte am Werk an. Eine andere, in der Moderne und Postmoderne akut gewordene Argumentationslinie stellt die Frage nach dem Status des Autors. Bereits seit der Romantik, die im Kern ebenfalls eine intentionalistische Hermeneutik vertrat, sind die Aporien unübersehbar geworden. Die Diskussion dieses Problems führt zu einer Neubestimmung der Subjektauffassung. Schleiermacher entwickelt eine Auffassung, die sich von der des deutschen Idealismus abtrennt: Das Subjekt erscheint nicht mehr als letzter philosophischer Grund, der sich - etwa im Zuge einer Selbstreflexion - selbst setzt. Es ist vielmehr selbst begründungsbedürftig. Das Bewußtsein weiß von sich selbst auf eine Weise, die von jeder Art des Wissen von einem Objekt verschieden und nicht in dessen Sprache formulierbar ist.84 Es weiß sich als das, was es ist, weiß aber zugleich, daß es nicht selbst »Urheber dieser seiner Seinsweise ist«.85 So entsteht eine Subjektivität, die sich ihrer eigenen Abhängigkeit und Endlichkeit bewußt ist - ein Motiv, das bei Schleiermacher religiöse Züge trägt: »das höchste mögliche Bewußtsein des Menschen ist das Bewußtsein einer unüberschreitbaren Grenze, an der es fühlt, von Anderem als es selbst ist, ja vom Anderen der Selbstheit überhaupt in Regie genommen zu sein.«86 81 82 83 84 85 86

Ebd., S. 34; S. 290. Vgl. Madison, Eine Kritik an Hirschs Begriff der >Richtigkeitintentio auctoris< setzt voraus, daß der Autor - oder überhaupt >das Subjekt< - stets Herr des Bewußtseins ist und über seine eigene Sinnsetzung in Texten verfugen kann. Diese Voraussetzung ist seit Freud nicht mehr haltbar. Die von ihm konstatierte »dritte Kränkung« des menschlichen Narzißmus nach der Kopernikanischen und der Darwinschen belehrt darüber, daß das »Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«'1 Diese Einsicht fuhrt, wie Ricoeur herausarbeitete, zu einer Entmächtigung des unmittelbaren Bewußtseins und damit zu einer »Dezentrierung des Sinns«, den dieses Bewußtsein hervorzubringen glaubt. Das Bewußtsein erscheint in Freuds Analyse des »Ich« nur als eine von mehreren Instanzen. Unter dieser Perspektive »findet sich der Ort des Sinns vom Bewußtsein zum Unbewußten hin verlagert«.88 Er ist nie unmittelbar, sondern immer nur über eine Deutung zugänglich. In einer flüchtigen Auseinandersetzung mit Freud weist Hirsch diesen Gedanken zurück, indem er auf dem »intendierten« Sinn eines Textes besteht und darauf behant, daß es darauf ankomme zu verstehen, »was der Autor ausdrücken wollte« und jede weitergehende Frage als nicht nur irrelevant für eine »Interpretation«, sondern als regelrecht »falsch« abweist.89 Der Einwand Freuds, daß das Seelische »nicht mit dem dir Bewußten« zusammenfällt, wird damit undiskutiert beiseite geschoben.90 Welche Plausibilität Theorien dieser Art im einzelnen auch immer beanspruchen können - sie alle verweisen auf die Grundeinsicht der modernen Hermeneutik, daß der Text nicht auf seinen Autor zurückzuführen ist und daß erst recht sein Sinn nicht in der Autorintention aufgeht. Die Hermeneutik hat auf diese Herausforderung in verschiedener Weise reagiert. So hat Emilio Betti einen in Deutschland wenig beachteten Versuch unternommen, die »Objektivität« des Verstehens nicht im Autor, sondern im Text zu begründen. Dazu gibt er eine Bestimmung des zu verstehenden »Objekts«. Anders als Hirsch bezieht er den Sinn dieses Objekts nicht, jedenfalls nicht zwingend, auf seinen Schöpfer zurück; er faßt das Objekt vielmehr als eine »geistige Objektivation«, die sich von ihrem Urheber gelöst hat. Betti geht es um das »Nachkonstruieren objektiv gewordener Strukturen, bei welchen die Andersheit unversehrt erhalten bleibt.«" Das Verstehen greift also nicht, wie Hirsch es konstruiert hat, durch das Objekt - den Text -

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Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 137. Ricoeur, Die Interpretation, S. 433; vgl. auch den Kontext S. 430-440. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, S. 158. Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 137. - Auch Gadamer beruft sich in dieser Hinsicht auf Freud und Nietzsche; vgl. Gadamer, Text und Interpretation, S. 338f. Betti, Allgemeine Auslegungslehre, S. 181; S. 183. - Die einzige ausführlichere Würdigung erfährt Betti bei Hufnagel, Einführung in die Hermeneutik, S. 128-148; alle anderen Gesamtdarstellungen Ubergehen ihn bis auf flüchtige Erwähnungen.

118 hindurch auf eine Autorintention; der Sinn ist vielmehr im Text selbst angelegt. Verstehen richtet sich auf »sinnhaltige Formen«, in denen sich der »Geist des anderen objektiviert« darbietet.92 Betti hat dieses Konzept in ausdrücklicher Wendung gegen Gadamer entfaltet. Er besteht auf dem eigenen Recht des >Objekts< gegenüber einer Vereinnahmung durch den Interpreten. Betti hat den Unterschied zwischen den Positionen scharf konturiert, indem er Gadamers Hermeneutik mit ihrer Geschichtlichkeit des verstehenden Subjekts einen »Verlust an Objektivität« und die Preisgabe eines jeden Kriteriums für die »Richtigkeit des Verstehens« vorwirft.' 5 Dagegen insistiert er auf der Eigenständigkeit des Objekts, dessen eigenen »Sinn« es zu verstehen gelte, der nicht auf seine »Bedeutsamkeit fur das Heute« reduziert werden dürfe.' 4 Allerdings fuhrt ihn die Konkretisierung des Auslegungsvorgangs wieder ganz in die Nähe von Gadamers Hermeneutik. Auch Betti gesteht zu, daß das verstehende Subjekt eine eigene Position mitbringt, die sich nicht auslöschen läßt. Die Auslegung hat die »Spontaneität des Auslegungssubjektes anzuerkennen, [...] ohne der Eigenständigkeit des Objekts Abbruch zu tun«.' 5 Der Unterschied zwischen Gadamer und Betti liegt weniger in den Ergebnissen als in der Intention. Betti beansprucht den Entwurf einer >Methodik der GeisteswissenschaftenRichtlinien< für die Auslegung in den verschiedenen Bereichen der Hermeneutik - der Literatur, der einzelnen Künste, der Geschichtswissenschaft, der Jurisprudenz und der Theologie - gibt. Er formuliert eine Reihe von Postulaten oder >KanonesVerstehen< führen soll, leiten müssen. Die Autonomie des Objekts fordert, daß es nach den ihm eigenen Gesetzen erkannt wird. Das Ziel des Verstehens ist die >SinnentsprechungSinn< von Texten stelle und damit ihre Vieldeutigkeit reduziere. Die Hermeneutik, so lautet der von anderer Seite erhobene Vorwurf, gehe »von einer essentialistischen und ontologischen Definition« des literarischen Textes aus, bei der »Bedeutung der ζ. B. sprachlich objektivierten Manifestation selbst zugeschrieben wird«.120 Dieser Vorwurf ist nicht neu; er begleitet die Geschichte der neueren Hermeneutik wie ein lästiger Schatten. Daß er berechtigt sei, läßt sich schwerlich behaupten. In der neueren Diskussion wurde eine solche Position nur von Hirsch und Betti vertreten, und sie sind Außenseiter geblieben. Der Vorwurf beruht auf einem Bild von hermeneutischer Praxis, das seit zweihundert Jahren obsolet ist und sich eher an der theologischen Dogmatik als an der literaturwissenschaftlichen Wirklichkeit orientiert. Erst recht gilt der Vorwurf nicht für die literaturwissenschaftliche Praxis. Es läßt sich wohl kein ernstgenommener >Interpret< in der Literaturwissenschaft finden, der je behauptet hätte, den einzigen >Sinn< eines Textes durch seine Interpretation gefunden zu haben. Die traditionellen wie die modernen Hermeneutiker konzedieren nicht etwa nur die Vorläufigkeit und Partialität ihrer Verstehensansätze, sondern heben sie ausdrücklich als ein Charakteristikum von Interpretation hervor. Schmidts Vorwurf mag allenfalls in der didaktischen Praxis der höheren Schulen ihre Berechtigung haben, auf die er sich auch ausdrücklich beruft;121 dem Selbstverständnis der wissenschaftlichen Hermeneutik wird er nicht gerecht. Aus der Einsicht heraus, daß das szientifische Wissenschaftsideal der klassischen Physik in den hermeneutischen Wissenschaften unerreichbar ist - und unter Mißachtung der Tatsache, daß es in den modernen Naturwissenschaften nicht mehr angestrebt wird - hat die neuere Hermeneutikkritik eine radikale Lösung vorgeschlagen: den Verzicht auf die Interpretation. Die >Empirische Literaturwissenschaft moderner Prägung versucht, den hermeneutischen Problemhorizont dadurch hinter sich zu lassen, daß sie die Aufgaben der Literaturwissenschaft umformuliert: Es soll der Literaturwissenschaft darum gehen, »empirisch herauszufinden, was Leute tatsächlich getan haben und heute tun, wenn sie mit literarischen Werken umgehen; warum Literatur in unserer Gesellschaft entstanden ist; wie sie sich entwickelt hat und welche gesellschaftliche Funktion sie in Geschichte und Gesellschaft gehabt hat und hat.«122 Die >Empirisierung< der Literaturwissenschaft löst mit ihrer Verabschiedung der >Interpretation* einige Grundprobleme der Hermeneutik durch Ignorieren. Sie zielt aber nicht nur am Interessenhorizont der disziplinären Literaturwissenschaft vorbei; grundlegender ist vielmehr, daß sie die Probleme importiert, die sich in der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften seit langem schon gestellt und weitgehend als unlösbar erwiesen haben. Das gilt insbesondere für die Forderung nach >Beobachtungsdaten< als letzter Prüfinstanz für Aussagen über literarische Texte. Diese Vorstellung schließt an einen Problemhorizont an, der im >Wiener Kreis< eingehend diskutiert worden war. Dessen Diskussionen waren

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Groeben, Methodologischer Aufriß der empirischen Literaturwissenschaft, S. 31 f. Vgl. Schmidt, »Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation!«, S. 287. Schmidt, Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, S. 13.

124 bestimmt von der Suche nach einem letztinstanzlichen Kriterium, das die Verifikation von Aussagen über die Wirklichkeit erlauben sollte. Das Kriterium wurde zunächst in den Erfahrungstatsachen gefunden, deren genauere Bestimmung jedoch erhebliche Schwierigkeiten machte. Moritz Schlick, der Gründungsvater des >Wiener KreisesKonstatierungen< als Basis fur die letztinstanzliche Überprüfung wissenschaftlicher Sätze anzusetzen. >Konstatierungern machen eine Aussage über ein dem Individuum unmittelbar Gegenwärtiges; die Verifikation erfolgt dabei über ein individuelles >Erfullungserlebnis< ein Vorschlag, der unlösbare Probleme aufwarf. Denn ein Erfullungserlebnis entspricht zwar möglicherweise der Objektivitätsforderung, es ist jedoch nicht intersubjektiv vermittelbar: Es ist nur in dem Augenblick gültig, in dem es erfahren wird; es läßt sich weder konservieren noch mitteilen. Diesem Problem wollte Rudolf Carnap mit seinen >Protokollsätzen< entgehen, die gerade durch ihre Mitteilbarkeit definiert werden. Protokollsätze beschreiben den einfachsten erkennbaren Sachverhalt und bringen ihn in eine artikulierbare - und damit auch mitteilbare Form: »Es sind Sätze, die selbst nicht einer Bewährung bedürfen, sondern als Grundlage für alle übrigen Sätze der Wissenschaft dienen.«123 Diese Formulierung hat schon im >Wiener Kreis< Widerspruch hervorgerufen. Otto Neurath hat eingewandt, daß auch Protokollsätze nicht von jeder Subjektivität gereinigt sind. Es sind keine elementaren Aussagen, sondern sie sind immer schon einem Verarbeitungsprozeß durch das erkennende Subjekt unterworfen. Protokollsätze sind somit nicht rein empirisch, sondern hypothetisch; ihre Annahme beruht auf einer Entscheidung, die sich an den bereits zur Verfugung stehenden wissenschaftlichen Aussagegebäuden orientiert; sie sollten nur so lange akzeptiert werden, wie sie einem bislang anerkannten System von Sätzen nicht widersprechen124 - damit wird der Ausgangspunkt der Protokollsatzdiskussion umgekehrt: Sollten Protokollsätze ursprünglich als Aussagen über die Wirklichkeit verstanden werden, mittels derer wissenschaftliche Systeme überprüft werden könnten, so werden sie jetzt unversehens durch die wissenschaftlichen Systeme korrigiert. Hilary Putnam hat später die Konsequenz daraus gezogen: Die rationale Akzeptanz einer Aussage hängt ab von der »Kohärenz theoretischen bzw. nicht sehr erfahrungsgebundener Überzeugungen untereinander und in bezug auf stärker erfahrungsgebundene Überzeugungen ebenso wie die Kohärenz erfahrungsgebundener Überzeugungen mit theoretischen« - kurz: Erfahrung und theoretische Überzeugungen durchdringen und bedingen einander.125 Das ist das ernüchternde Ergebnis der Diskussionen des >Wiener Kreisesempirischen Sätze< im >Wiener Kreis< Haller, Neopositivismus, S. 123-125.

125 Konsens herbeigeführt werden, und dieser ist auf Verständigung verwiesen. Das Dilemma des empirischen Positivismus bleibt ungelöst. Es ist die längst bekannte Tatsache, daß >Objektivität< zwar nicht logisch, wohl aber sachlich an Intersubjektivität gebunden ist: »Sollte eines Tages zwischen wissenschaftlichen Beobachtern über Basissätze keine Einigung zu erzielen sein, so würde das bedeuten, daß die Sprache als intersubjektives Verständigungsmittel versagt. Durch eine solche Sprachverwirrung wäre die Tätigkeit des Forschers ad absurdum geführt; wir müßten unsere Arbeit am Turmbau der Wissenschaft einstellen.«126 Intersubjektivität läßt sich nur über Verständigung erreichen, und diese ist immer wieder zurückverwiesen auf die Kontexte, in denen sie erfolgt. Wissenschaftler sind sozial verankert; und das gilt auch für die Diskussionszusammenhänge, in denen sie Verständigung über die empirische Basis ihrer Aussagen suchen: »Die Formen der >Verifikationempirische< Gegebenheiten vollzieht sich im engeren Kontext einer Wissenschaftskultur, die sich im weiteren Kontext einer Gesellschaftskultur entfaltet, in der immer schon vorgängige Entscheidungen darüber gefällt worden sind, welche Rationalitätsstandards akzeptiert und welche Argumente zugelassen werden. Wittgenstein hatte es ähnlich gesehen: »Was die Menschen als Rechtfertigung gelten lassen, - zeigt, wie sie denken und leben.«12* Am Ende steht eine Umkehrung der Ausgangsposition: Es erweist sich auch für die Naturwissenschaften, daß nicht die Theorien von der empirischen Welt abhängig sind, sondern es ergibt sich eine »Abhängigkeit der empirischen Welt von unseren Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit«,129 und diese Kriterien sind abhängig von »unserer biologischen und kulturellen Situation«.130 Alle vermeintlich >empirisch< gesicherten Theorieaussagen sind revisionsanfällig zumindest in dem Maße, wie sich diese kulturellen Rahmenbedingungen ändern. In der Praxis der Naturwissenschaften ist deshalb längst anerkannt, was in der gesellschaftlichen Praxis immer noch auf Akzeptanzschwierigkeiten stößt: die Tatsache nämlich, daß die Wissenschaft keine sicheren Aussagen machen kann. Es ist gerade das Alltagswissen, das - in seinen Grenzen - zu sicheren Aussagen kommt, während das wissenschaftliche Wissen der Neuzeit per definitionem stets als vorläufiges begriffen wird. Es fuhrt, das ist das Ergebnis dieser Diskussionen, kein Weg von der Empirie zur Theorie. Die Empirisierung der Literaturwissenschaft mit dem Ziel der Objektivierung ihrer Aussagen muß eine Chimäre bleiben. Dies nicht nur deshalb, weil sie an den Interessen einer historisch orientierten Literaturwissenschaft wegen der Verengung ihrer Fragestellungen vorbeizielt, sondern auch deshalb,

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Popper, Logik der Forschung, S. 70. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, S. 145. - Vgl. Albert, Tradition und Kritik, S. 156f. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 383. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, S. 182. Ebd., S. 82.

126 weil sie die Probleme importiert, welche die Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft seit langem als unlösbar erkannt hat. Im Effekt läuft das Empirizitätskriterium auf eine Reduktion des Erkenntnisinteresses hinaus. Die >Empirische Literaturwissenschaft ist sich des Problems bewußt, daß Beobachtungsdaten über historische Phänomene nicht zu gewinnen sind.131 Es wurde deshalb die konsequente Forderung erhoben, Literaturwissenschaft solle ihr Interesse von der Literaturgeschichte auf die Gegenwart und Zukunft der Literatur verlagern, weil nur dort verläßliche Daten zu sichern seien. Sie mündet in der Auffassung, es sei Aufgabe der gegenwärtigen Literaturwissenschaft, die »>Installation< eines standardisierten Meß- und Beobachtungssystems« vorzunehmen, mit deren empirischen Ergebnissen spätere Wissenschaftlergenerationen Gesetzmäßigkeiten in der Literaturentwicklung beobachten könnten132 und nicht nur Wissenschaftler: Es wird - in »aller Vorsicht« - erwogen, ob »Literaturwissenschaft nicht Auftragsforschung übernehmen sollte, um Wissen zu gewinnen, für das Bedarf bereits besteht oder plausibel gemacht werden kann.«133 Diese Vorstellung ist wohl nicht nur in den Augen eines Traditionalisten kurios. Eine Methodologie, die sich emsthaft darauf beschränken will, nur Gegenwartsund Zukunftsliteratur mit empirischen Methoden zu betrachten, verdient kaum, ernstgenommen zu werden: Sie erkauft sich »ihre >Wissenschaftlichkeit< durch eine Bomierung des Blickfeldes«.134 Das freilich sind extreme Formulierungen eines Konzepts empirischer Literaturwissenschaft, das in einer moderateren Form in der methodologischen Diskussion etabliert ist. Ihre Ziel ist die Verabschiedung der >Interpretation< und die Hinwendung zu jenen Phänomenen, die empirisch greifbar zu sein scheinen. In diese Richtung weisen die jüngsten Ansätze zur Begründung einer modernen Literatursoziologie als einer empirischen Literaturwissenschaft, die als neuerlicher >Paradigmawechsel< angekündigt werden135 - unbeschadet der Tatsache, daß über die Frage, ob ein >Paradigmawechsel< stattgefunden hat, nicht der Initiator einer Theorie, sondern die Wissenschaftsgeschichte entscheidet. Daß die Literatur selbst, als literarisches Werk, dabei nicht in den Blick tritt, wird ausdrücklich in Kauf genommen: »Aus einer hermeneutischen Textwissenschaft muß eine konsequent interdisziplinär arbeitende Sozialwissenschaft werden«.136 Der Verzicht auf den Text - oder gar das >Werk< - als einer emphatischen Kategorie traditioneller Literaturwissenschaft fuhrt notwendig zum Verzicht auf die Interpretation.137 Die Grundpositionen dieser Auffassung hat schon in den sechziger Jahren der Soziologe Hans Norbert Fügen vorgegeben, der Literatur ausdrücklich »nicht als

131 132 133 134 135 136 137

Vgl. Groeben, Methodologischer Aufriß der empirischen Literaturwissenschaft, S. 68. Rusch, Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte, S. 498; auch S. 502. Schmidt, Der Radikale Konstruktivismus, S. 71. Eibl, Kritisch-rationale Literaturwissenschaft, S. 7. Vgl. Schmidt, Die Empirische Literaturwissenschaft ELW, S. 6. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, S. 11. Vgl. Schmidt, Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, S. 12.

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künstlerisches, sondern als soziales Phänomen« beschreiben will. Statt literarischer Werke untersucht eine derartige Literatursoziologie >Handlungen< der mit literarischen Werken befaßten Personen. Das bedeutet zunächst nicht mehr als die Bestimmung des Erkenntnisinteresses einer soziologischen Teildisziplin, die sich »auf ein zwischenmenschliches Verhalten richtet, das die Herstellung, Tradition, Diffusion und Rezeption fiktionalen Schrifttums und seiner Inhalte betreibt«."9 Im Vordergrund stehen dabei Untersuchungen zur Funktion der Literatur und die Stellung des Schriftstellers in der Gesellschaft; daneben treten Problemkreise wie »Publikum, Vermittler, Dichterkreis und -zirkel«.140 Fragen der Interpretation literarischer Werke werden ausdrücklich ausgeklammert. Ob freilich mit dem Handlungsbegriff das Problem der Interpretation schon endgültig gelöst ist, muß bezweifelt werden. Tatsächlich wird es nur verlagert: von der Literatur auf die Gesellschaft. Auch in eine von der Soziologie her definierte Handlungstheorie gehen - verdeckt oder offen - Grundannahmen der Hermeneutik mit ein. Denn >Handlungen< in sozialen Systemen sind, das zeigt die Diskussion seit Max Weber - sein Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft trägt den Untertitel Grundriss der verstehenden Soziologie - , in doppelter Weise auf >Sinn< bezogen: Sie produzieren Sinn - etwa in Form von Texten - und fordern Sinnverstehen. Insbesondere Habermas hat diese Frage ausfuhrlich diskutiert und dabei die These vom >Universalitätsanspruch< der Hermeneutik durch ihre Ausweitung in die Sozialwissenschaft erhärtet. >Sinn< bleibt eine zentrale Kategorie bei der Bestimmung sozialer Zusammenhänge: »Die Soziologie muß einen verstehenden Zugang zu ihrem Objektbereich suchen, weil sie in ihm Prozesse der Verständigung vorfindet, durch die und in denen sich gewissermaßen der Objektbereich, vorgängig, d. h. vor jedem theoretischen Zugriff schon konstituiert hat. Der Sozialwissenschaftler trifft symbolisch vorstrukturierte Gegenstände an; sie verkörpern Strukturen desjenigen vortheoretischen Wissens, mit dessen Hilfe sprach- und handlungsfähige Subjekte diese Gegenstände erzeugt haben.«141 Es läßt sich auch in den Worten des Hermeneutikers Dilthey sagen: »Wie die Buchstaben eines Wortes haben Leben und Geschichte einen Sinn.«142 Die Handlungstheorie macht deutlich, daß literarische Texte aus Sinnzusammenhängen hervorgehen, an deren Ausarbeitung sie zugleich teilhaben. Sie sind auf soziale Handlungszusammenhänge und Lebenspraxis bezogen, die wiederum in sie eingehen und sie prägend gestalten. Literarisches Handeln »ist eine Funktion von Ubergreifenden gesellschaftlichen Konstellationen und Prozessen, und es hat eine Funktion für die Situierung und Veränderung von gesellschaftlichen Vorgängen«143 - wobei nicht notwendig >Gesellschaftsveränderung< in jenem emphatischen Sinne gemeint sein muß, wie er sich in der neomarxistischen Lite138 139 140 141 142 143

Fügen, Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie, S. 41. Fügen, Einleitung, S. 19. Fügen, Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie, S. 168. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I, S. 159. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschañen, S. 291. Pfau/Schönert, Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur^ S. 11.

128

raturtheorie etabliert hat. Die Leistung dieser Theorie besteht darin, die strenge Dichotomie von Literatur und Wirklichkeit aufzuheben, ohne alle Differenzen zu verwischen. Für die Literaturwissenschaft ist dieses Handlungskonzept aber nur bedingt brauchbar. Es formuliert soziologische Prämissen, die fur eine moderne, hermeneutisch aufgeklärte Literaturwissenschaft unverzichtbar sind, indem es klar macht, daß Literatur als eine soziale Handlung zu begreifen ist; aber es erlaubt keine Formulierung eines methodischen Konzepts, das die Umsetzung dieser Prämissen in einen praktizierbaren Umgang mit Texten erlaubte. Die alten Zentralprobleme einer philosophischen - noch nicht: literaturwissenschaftlichen - Hermeneutik bleiben weiterhin ungelöst: Auch eine auf eine Handlungstheorie fundierte Empirische Literaturwissenschaft ist merkwürdigerweise mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert, wie die Hermeneutik seit Schleiermacher sie thematisiert; und auch die Lösungsansätze sind zwar theoretisch und terminologisch elaborierter, kommen der Sache nach aber nicht über die alten Vorschläge hinaus: Der Empirischen Literaturwissenschaft stellt sich zunächst das Problem, wie überhaupt das Funktionieren von Kommunikationshandlungen erklärt werden kann. Die Antworten klingen verblüffend vertraut. Sie weisen auf die idealistischen Postulate Schleiermachers zurück: Es muß unterstellt werden, daß die Kommunikationsteilnehmer Gemeinsamkeiten aufweisen, aufgrund derer überhaupt erst sichergestellt ist, daß die Regeln der Kommunikation von allen Betroffenen gleichermaßen angewendet werden und damit Verständigung möglich wird. Die Handlungstheorie greift dazu auf ein Sozialisationskonzept zurück, nach dem Regeln intemalisiert und »per Konvention weitgehend analog angewandt werden«; zudem muß jeder »Kommunikationsteilnehmer« unterstellen, der »andere sei mit ihm selbst strukturell identisch«.'44 Auch die klassische hermeneutische Konzeption des >Vorverständnisses< oder des >Vorurteils< taucht unter dem Titel eines >Voraussetzungssystems< wieder auf: Gemeint ist ein allgemeines Wissen, zu dem ein nicht näher spezifizierbares »Alltagswissen« gehört; also kommunikations- und sozialspezifische Fähigkeiten sowie die überindividuellen, ökonomischen, sozialen, politischen, kulturellen »Bedingungen, unter denen Kommunikationsteilnehmer zum Kommunikationszeitpunkt stehen«.145 Gadamer hat mit einer anderen Akzentuierung den gleichen Sachverhalt auf eine etwas altfränkische Weise formuliert: »Die erste aller hermeneutischen Bedingungen bleibt somit das Vorverständnis, das dem Zu-tun-haben mit der gleichen Sache entspringt.«144 Mit der Voraussetzung derartiger Hintergrundannahmen bleibt für die Empirische Literaturwissenschaft ein sehr großer Rest an empirisch nicht faßbaren Voraussetzungen, der traditionell zum Arbeitsgebiet einer philosophischen Hermeneutik gehört. Die Empirische Literaturwissenschaft hat in ihren neuesten Entwicklungen mit enormem Aufwand versucht, der Konsequenz zu entgehen, die sich aus der wissenschaftstheoretischen Diskussion der Moderne ergibt, indem sie eine neue 144 145 144

Schmidt, Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, S. 62. Ebd., S. 47; S. 62; S. 72. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 278.

129 erkenntnistheoretische Grundlegung versuchte. Sie nimmt dann die Gestalt des >Radikalen Konstruktivismus< an. In dieser Neufassung stellt die Empirische Literaturwissenschaft nicht mehr nur die Möglichkeit in Frage, den Sinn von Texten intersubjektiv verläßlich zu interpretieren. Sie weitet diese Skepsis auf den Erkenntnisprozeß überhaupt aus, indem sie gehirnphysiologische Vorausetzungen der neueren biologischen Theorie übernimmt und sie systemtheoretisch formuliert. Danach ist das Gehim ein »lebendes SystemUmwelt< - die >Wirklichkeit< - zu beziehen.147 Erfahrung der Wirklichkeit erscheint unter diesen Prämissen nicht möglich; die Wirklichkeit an sich ist grundsätzlich nicht erkennbar. Der Zugang zur Wirklichkeit ergibt sich nur über das Handeln, in dem eine jeweils eigene Realität konstruiert wird. Dieser Ansatz hat eine lange Tradition. Daß ein >Ding an sich< nicht zugänglich ist und daß unser Verstand der Natur ihre Gesetze vorschreibt und er so agiert, >als ob< alles einen Sinn habe, ist keine grundsätzlich neue Einsicht.148 Neu sind allerdings die Konsequenzen, die daraus fur die Literaturwissenschaft gezogen werden. Sie verschärfen noch einmal die Ausgangsthese, »daß sprachliche Äußerungen nicht etwa Bedeutung besitzen, sie erhalten vielmehr Bedeutungen erst aufgrund der operativen Funktion, die ihrer Beschreibung im kognitiven Bereich eines Organismus zukommt.«145 Damit wird das Ideal objektiver Erkenntnis als eine Illusion verabschiedet. Wenn empirische Aussagen über die »Wirklichkeit« konstruktivistische Entwürfe sind, verliert das »Streben nach absoluter Wahrheitserkenntnis« seinen Sinn.150 An die Stelle eines ontologischen Wissenschaftsideals tritt ein pragmatisches. Wissenschaftliche Ergebnisse werden nicht daran gemessen, ob sie wahre Aussagen über die Wirklichkeit machen, sondern daran, ob sie nützliche Handlungsorientierungen fur die Lebenspraxis bieten. Das zentrale Problem der Hermeneutik, wie Verstehen gegen subjektive Willkür zu sichern sei, wird wegen Unlösbarkeit verabschiedet. Der »Radikale Konstruktivismus< sieht aber nicht an dem Befund vorbei, daß es in der sozialen Handlungspraxis so etwas wie >Bedeutungen< gibt, die als Kommunikationsmittel erfolgreich eingesetzt werden. Er geht davon aus, daß die Zuschreibung von >Bedeutung< Ergebnis eines Konsenses ist: »Kommunikationsteilnehmer« ordnen »konsensuell vereinbarten Kommunikationsmitteln in ihrem kognitiven Bereich Bedeutungen« zu.151 Die konventionalistische Lösung des Objektivitätsproblems dürfte inzwischen zu den anerkannten Standardvoraussetzungen modemer Literaturtheorie gehören. Im Zuge der Postmoderne-Diskussion ist dieser Konsens aber neuerlich in Frage gestellt worden. Der Logik ihrer Voraussetzungen folgend, stellen postmoderne 147 148

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Vgl. Schmidt, Der Radikale Konstruktivismus, S. 15. Vgl. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, S. 189; Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 16. Schmidt, Der Radikale Konstruktivismus, S. 32. Ebd., S. 37. Ebd., S. 65.

130 Literaturtheoretiker die Freiheit des Lesers gegenüber dem Text sehr viel stärker in den Vordergrund als den Konsens über das Textverstehen. Stanley M. Fish fuhrt die Rezeptionstheorie in dieser Richtung einen konsequenten Schritt weiter. Er wirft der Rezeptionstheorie - in diesem Falle Iser - vor, den Text fur eine Reihe von möglichen Lektüren zu öffnen, aber davor zurückzuscheuen, jede beliebige Lektüre als legitim zu erklären.152 Damit wendet er sich zunächst gegen die bei Iser wie Jauß zugrunde gelegte Auffassung, daß der Text selbst zwar offen sei, aber dennoch den Rahmen bestimme, innerhalb dessen sich Rezeption überhaupt vollziehen dürfe. Fish formuliert dagegen einen klaren Grundsatz: Eine Textbedeutung, die als Regulativ der Interpretation dienen könnte, existiert nicht. Es gibt keine wörtliche Bedeutung von Äußerungen, die unabhängig wäre vom Kontext oder von dem, was sich im Bewußtsein des Hörers oder des Sprechers abspielt.153 Für Fish genießt der Leser vollkommene Freiheit gegenüber dem Text; von diesem gehen keine Impulse oder Signale aus, die eine Lenkung der Lektüre in einem bestimmten Sinne bewirken würden, wie es in der deutschen Rezeptionsästhetik angenommen wurde. In Fishs Modell ist der Text dem Leser ausgeliefert, dieser kann hineinlesen oder herauslesen, wonach immer ihm der Sinn steht. Fish zieht damit Konsequenzen aus der Hermeneutik-Diskussion, vor denen die deutsche Rezeptionsästhetik zurückgeschreckt ist. Es liegt auf der Hand, daß Fishs Radikalposition zu unhaltbaren Konsequenzen fuhrt. Sie wirft die Frage auf, wie überhaupt noch Verständigung über Texte erzielt oder, noch elementarer, wie überhaupt noch über Texte geredet werden kann. Diese Frage wurde von Fish auf spezifische Weise beantwortet. Auch für ihn läßt sich die Forderung nach der Kommunizierbarkeit von Aussagen über Texte nicht abweisen. Die eigentliche Pointe von Fishs >reader-response-criticism< ist nicht seine Behauptung von der Freiheit des Lesers gegenüber dem Text, sondern im Gegenteil seine Beschreibung der Vorrichtungen, die diese Freiheit wieder einschränken. Es muß sichergestellt werden, daß über den gleichen Text von verschiedenen Lesern Aussagen gemacht werden, die, wenn schon nicht identisch, so doch kompatibel sind. Seine Überlegungen münden wiederum in einer konventionalistischen Theorie: Jedes Verstehen bezieht seine leitenden Prinzipien aus Konventionen und aus den Kontexten, in denen es sich vollzieht und die selbst durch keine weiteren Gründe mehr ausweisbar sind. Jede Äußerung ist in ein solches System eingebunden, das Prozeduren und Regeln bereithält.154 Das Verstehen vollzieht sich immer schon im Rahmen einer >interpretive communityinterpretive community< namhaft gemacht: Der Leser ist Teil eines konkret benennbaren institutionalisierten Kommunikationszusammenhangs, der ihm die Leitlinien fur das Verstehen des Textes vorgibt. Die verschiedenen Leser eines Textes »are situated in that institution, their interpretive activities are not

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Fish, Why No One's Afraid of Wolfgang Iser?, S. 70f. Fish, Introduction, S. 4f Fish, With the Compliments of the Author, S. 56. Fish, Is There a Text in This Class?, S. 320f.

131

free, but what constrains them are the understood practices and assumptions of the institution and not the rules and fixed meanings of a language system.«156 Die Institution - insbesondere die Universität - legt Regeln, Zwecke und Ziele fest, durch die Aussagen über Texte kommunizierbar und verständlich werden. Der >Text< entfaltet keine eigene Dynamik; alles, was im Verstehen geschieht, vollzieht sich unter den Mitgliedern einer Interpretationsgemeinschaft. Fish verlegt die Bedeutung ganz vom Text auf den Leser oder, genauer, auf die konkrete Gemeinschaft von Lesern - auch wenn ihm vorgeworfen werden konnte, daß seine eigenen Arbeiten am Ende doch konventionell von einer textimmanenten Interpretation ausgehen.157 Fishs >interpretive community< ist kaum mehr als eine pragmatische Variante einer alten Einsicht, die in der Auseinandersetzung mit der objektivistischen Verstehenstheorie schon als hermeneutische Möglichkeit diskutiert wurde: »In pragmatischer Hinsicht wäre es letztlich sinnvoller zu sagen, daß die wahre Interpretation einzig und allein aus dem Grunde wahr ist, weil sie als solche akzeptiert wird.« 15 ' Fishs >reader-response criticism< steht unverkennbar der deutschen Rezeptionsästhetik nahe; die >interpretive community< ist kaum etwas anderes als eine enger gefaßte Version des >ErwartungshorizontesLektüre< eines Textes durch Konventionen gelenkt wird, die meist durch Institutionen und soziale Kontexte geschaffen werden. Er verweist flüchtig darauf, welchen Einfluß juristische Regeln und wissenschaftliche Einrichtungen wie die >Bibliothèque Nationale* oder Universitäten159 auf die Gestalt von Texten, ihre Zuordnung zu Gattungen, ihre Kontraktion zu einem >Werk< oder ihre Bindung an einen Autor haben.160 Der Befund ist der gleiche, die Konsequenz eine ganz andere, als Fish sie zieht: Fish findet sich mit dem Faktum der institutionalisierten Konventionalität des >Verstehens< ab. Derrida hingegen unterzieht genau diese Konventionalität einer Fundamentalkritik, die ihren Ausgang von den einschlägigen Institutionen nimmt. Seine Strategie läuft darauf hinaus, diese ideellen und materiellen Rahmenbedingungen zu >dekonstruieren< und zu zeigen, daß die Texte ihnen gegenüber eine widerständige Bewegung entfalten, die in der dekonstruierenden Lektüre offenbar gemacht werden muß. Dem Text wie dem Leser soll eine anarchische Freiheit zurückgegeben werden. Damit schlägt Derrida ein neues Kapitel in der Hermeneutikgeschichte auf.

156

Ebd., S. 306. Vgl. Holub, Crossing Borders, S. 19f. Madison, Eine Kritik an Hirschs Begriff der >RichtigkeitSchriftLektüre< von Rousseaus Essai sur l'origine des langues hebt Derrida nicht nur die politischen Konstellationen hervor, aus denen heraus dieser Aufsatz zu verstehen sei. Es geht ihm vielmehr vor allem darum, schon bei Rousseau eine Grundposition der Dekonstruktion wiederzuerkennen. Einerseits ist es bekannt und offenkundig, daß Rousseaus Philosophie ihre Impulse und ihre Wirkungen jenem Unmittelbarkeitsbediirfnis verdankt, das Derrida als Erbübel der abendländischen Philosophie ausgemacht hat. In diesem Kontext erscheint die >Schrift< bei Rousseau als ein Verlust des Ursprungs - als von der Kultur initiierte Entfernung vom Eigentlichen, das nur in der Unmittelbarkeit der gesprochenen Sprache zugänglich wäre. Rousseau konstatiert eindeutig, im Einklang mit seiner Kulturkritik in den beiden Discours, eine Defizienz der Schrift gegenüber der Sprache: »Les langues sont faites pour être parlées, l'écriture ne sert que de supplément à la parole«;" sie ist eine Repräsentation der Repräsentation, noch weiter von der Sache entfernt als die konventionalisierten Zeichen des gesprochenen Wortes - das Zitat sagt also das Gegenteil dessen, was Derrida anstrebt. In dieser Eindeutigkeit der Präferenz für >Unmittelbarkeit< gegenüber dem abgeleiteten Zeichen liegt die Besonderheit von Rousseaus Auffassung der Schrift; sie markiert seine Stellung gegenüber der Hermeneutik der Aufklärung. Derrida bedarf einigen dekonstruierenden Aufwandes - der charakteristisch ist für seinen Argumentationsstil - , um dieser Eindeutigkeit der Aussage eine Nähe zu seiner eigenen entgegengesetzten Position abzugewinnen. Er bezieht seine Argumente im wesentlichen aus dem Schweigen Rousseaus - die Tatsache, daß dieser nie eine »théorie de l'écriture« entwickelt habe, obwohl er sich in seinem Essay ziemlich ausführlich über die Schrift äußert, wird von Derrida verstanden als Versuch, eine Position gewaltsam aufrechtzuerhalten, die bei Rousseau selbst in Auflösung begriffen sei: die Auffassung von der Defizienz der Schrift. Rousseau spricht nicht über sie, weil die »signification de l'écriture« zu stark bei ihm besetzt sei.14 Dennoch wird Rousseaus sehr konventionelle Theorie der Repräsentation, in der die Sache durch Zeichen dargestellt werde, von Derrida als erster Schritt begriffen, der sich von der logozentrischen Position entfernt. Die Repräsentation ist eine Entäußerung, sie entzieht sich der Präsenz, die sie eben nur repräsentiert. Hier findet Derrida eine Denkbewegung, die der seinen gleicht. Rousseau sagt zwar das Gegenteil, aber der dekonstruierenden Lektüre gelingt es, dem Gegenteil das Einverständnis abzuringen. Für Rousseau ist die Repräsentation nur die Darstellung einer Präsenz, also nichts anderes als die logozentrische Denkform der Metaphysik; für Derrida ist hingegen durch die 13

14

Rousseau, Prononciation, S. 1249. - Derrida zitiert und kommentiert dieses Diktum in Derrida, De la grammatologie, S. 417. Derrida, De la grammatologie, S. 380.

137 Repräsentation eine Denkbewegung vollzogen, die sich von der >présence< entfernt und durch die damit eine Differenz gesetzt wird.15 Es ist eine recht aufwendige und mühsame Umdeutungsarbeit, Rousseaus Sprachphilosophie, hinter der sich in der Tat eine Art Metaphysik versteckt, ihren eigenen Intentionen abspenstig zu machen. Rousseau sagt Dinge, die er eigentlich nicht sagen sollte: »Mais en dépit de cette intention declarée, le discours de Rousseau se laisse contraindre par une complexité qui a toujours la forme du supplément d'origine. Son intention declarée n'en est pas annulée mais inscrite dans un systeme qu'elle ne domine plus. Le désir de l'origine devient une fonction indispensable et indestructible mais située dans une syntaxe sans origine.«" Mit anderen Worten: Derrida zollt der kaum übersehbaren Tatsache Tribut, daß Rousseaus >Ursprungssyntaxe< - , in der dieser Ursprung beschrieben wird, die ungewollte Einsicht in die Notwendigkeit, sich von diesem Ursprung und damit von den Fiktionen der abendländischen Metaphysik zu lösen: »Est-il encore nécessaire de rappeler que rien dans la description de Rousseau ne nous y autorise?«17 Später wird Rousseau noch einmal zum Gewährsmann einer prädekonstruktionistischen Traditionslinie ernannt. Paul de Man hat sich in seinen Studien über Blindness and Insight mit Derridas Rousseau-Lektüre auseinandergesetzt und sie noch einmal überboten. Derrida knüpfte an der konventionellen Rousseau-Auffassung an, welche sich direkt auf Rousseau berufen konnte. Er liest Rousseau zunächst als einen manifesten Verfechter des abendländischen Logozentrismus, um dann die Ambivalenzen, Unentschiedenheiten und die selbstverräterische >Syntax< herauszustellen. De Man findet anders als Derrida bereits auf der Ebene der wörtlichen Aussage bei Rousseau hinreichende Hinweise für eine dekonstruktionistische Lektüre. Rousseau vertritt - freilich in anderen Texten als denen, die Derrida heranzieht in bezug auf die >Repräsentation< und die >Metapher< Auffassungen, die denen der modernen Dekonstruktion ähneln; im Kern laufen sie darauf hinaus, daß >ZeichenReferenten< haben. Rousseau hat jedenfalls die Ambivalenz der Sprache erkannt, in der der Unterschied zwischen Tatsache und Fiktion unentscheidbar wird." In einem Interview hat de Man lapidar seinen Gegensatz zu Derridas Rousseau-Lektüre zusammengefaßt: »it is a necessary working hypothesis that Rousseau knows at any time what he is doing and as such there is no need to deconstruct Rousseau.«19 Derrida hat sich diese Auffassung später weitgehend zu eigen gemacht.20 Für die Rousseau-Philologie ist diese Diskussion zwischen Derrida und de Man von mäßiger Brisanz; für die dekonstruktionistische Theoriebildung indes wird sie von zentraler Bedeutung. Im 15 16 17

" 19

20

Vgl. ebd., S. 417f. Ebd., S. 345. Ebd., S. 345. Vgl. de Man, The Rhetoric of Blindness, S. 135f. de Man, An Interview with Paul de Man, S. 118. - Vgl. Zima, Die Dekonstruktion, S. 118-122. Vgl. Derrida, Mémoires, S. 83; S. 122f.

138

Ausgang von dieser Frage, ob Rousseau oder zumindest seine Texte sich ihres dekonstruierenden Verfahrens bewußt gewesen seien, entwickelt de Man seine fundierende Dichotomie von >blindness< und >insightLektüren< Rousseaus die richtige ist. Daß Rousseau auf die eine oder andere Weise in eine Vorläuferschaft zur Dekonstruktion gebracht wird, läßt sich wahrscheinlich leicht aufgrund seiner Stellung in der Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts erklären. Seine Bevorzugung vor jenen anderen Sprachtheoretikem des 18. Jahrhunderts, die ähnliche Auffassungen vertreten und denen mit einem entsprechenden >LektürePräsenz< verpflichtet ist. Wie auch immer es mit Rousseau bestellt sein mag - in seiner Rousseauinterpretation findet Derrida einen Weg, seine eigene Position wenn auch nicht zu klären, so doch zu exponieren und jenes dekonstruierende Lektüreverfahren zu entwickeln, dem er seinen Ruhm verdankt. Mit seiner Rousseau-Aneignung entwickelt Derrida seine Logozentrismuskritik nach der einen Seite. Sie richtet sich gegen die >metaphysische< - und auch von Rousseau vertretene - Annahme, daß >Zeichen< etwas repräsentieren und sie auf eine >Präsenz< verweisen, die außerhalb ihrer selbst liegt. Der Gedanke ist nicht wirklich neu. Es handelt sich um eine klassische Position der Sprachtheorie, die bereits im 17. Jahrhundert diskutiert wurde. Durch Kants Erkenntniskritik hat sie ein festes philosophisches Fundament erhalten: »Kants >Beseitigung< des Dingsan-sich befreit die Problematik des Zeichens von der Frage nach den Kausalitätsbeziehungen zwischen Dingen und Begriffen und damit Dingen und Zeichen«.21 In seiner Auseinandersetzung mit de Saussure, die Derrida in der Grammatologie fuhrt, kommt die andere Seite der Logozentrismuskritik zu Geltung. De Saussure hat endgültig die Repräsentation in der Linguistik überwunden; diese Form eines metaphysischen Präsenzglaubens ist ihm nicht mehr anzulasten. Derrida erkennt das an und findet in dieser Hinsicht deutliche Anknüpfungspunkte fur seine eigene Auffassung. In seiner grundlegenden Intention sieht er sich mit de Saussure einig. Zeichen, so lautete die Einsicht de Saussures, beziehen ihre Bedeutung nicht daraus, daß sie auf etwas anderes verweisen. Die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten ist in systematischer Hinsicht willkürlich - arbiträr, auch wenn diese Zuordnung selbstverständlich durch Konventionen geregelt ist. Zeichen regeln ihre Bedeutung durch ihr Verhältnis untereinander. Sie treten in ein Beziehungsgeflecht zueinander; die Bedeutung wird bestimmt durch die Stellung, die sie in dieser Struktur haben, und durch die Differenz, durch die sie sich von anderen Zeichen abgrenzen. In einer Sprachstruktur verfestigen sich diese Differenzen zu Oppositionen, durch welche Zeichen in ihrer Bedeutung festgelegt werden: Die »Sprache enthält weder Vorstel21

Eco, Zeichen, S. 147.

139 lungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben.«22 Das alles gehört inzwischen zum linguistischen Standardwissen, auch wenn de Saussures Modell in der Linguistik nicht durchgehend anerkannt wird. Derrida faßt die für ihn relevante Ausgangsposition de Saussures in diesem Sinne zusammen: »Or Saussure est d'abord celui qui a placé Y arbitraire du signe et le caractère différentiel du signe au principe de la sémiologie générale singulièrement de la linguistique.«23 De Saussure ist aber kein zuverlässiger Eideshelfer fur Derrida, denn bei ihm sieht er noch jene Tendenzen, die er selbst bekämpft. Überwunden wird von de Saussure jene noch bei Rousseau manifeste Position, nach der Zeichen etwas repräsentieren, indem sie auf eine Präsenz verweisen. Andererseits findet Derrida aber bei de Saussure weiterhin >metaphysische< Spurenelemente. Dieser spricht etwa trotz seiner Überwindung der alten Auffassung doch gelegentlich von einem »natürlichen BandOppositionen< erhalten. Damit, so liest Derrida, wird der Gewinn, den de Saussure durch seinen >Metaphysikdifférance< - mit diesem Kunstwort beginnt Derridas philosophische Karriere. Die Bedeutung dieses Wandels vom >e< zum >a< hat Derrida mannigfach erläutert: »La différance, c'est le jeu systématique des différances«; 32 und für Derrida wird sie zur Grundlage seiner Kritik an der gesamten abendländischen Metaphysik: »Au point où intervient le concept de différance, avec la chaîne qui s'y conjoint, toutes les oppositions conceptuelles de la métaphysique, en tant qu'elles ont pour ultime référence la présence d'un présent [...] deviennent non-pertinentes.«33 In den Darlegungen, die Derrida der >différance< widmet, kehren die Argumente wieder, mit denen er die >Schrift< gegen den Phonozentrismus verteidigt hatte; und in der Tat ist die Schrift »l'autre nom de cette différance«, 34 die deshalb gelegentlich auch unter dem Namen gramma auftreten kann. Derrida richtet sich gegen den Absolutheitsanspruch, den er in der gesprochenen Rede zu erkennen glaubt. Die Schrift bringt die >différance< zur Geltung, während der Phonozentrismus sie verwischt. Das ist ein eigenartiger Vorwurf, der der Intuition zuwiderläuft. Gerade die Flüchtigkeit des Wortes scheint der Behauptung eines Absolutheitsanspruchs zu widersprechen, aber Derrida kehrt diese konventionelle Auffassung um. In der Schrift wird die Aussage beliebig wiederholbar; aber diese Wiederholbarkeit, traditionell ein Signum für die Identität, wird von Derrida gerade als Garant der Nicht-Identität gesehen: In jeder Wiederholung macht sich die >différance< geltend; eine Sinnverschiebung, in der sich die wiederholte Äußerung trotz ihrer vermeintlichen Identität unterscheidet von der ihr vorhergehenden. Über dieses Problem hat Derrida eine polemische Debatte mit John R. Searle geführt. 35 In der Auseinandersetzung des Dekonstruktionisten mit dem >ordinary-languageSprechakttheorie< markiert. Sie untersucht nicht ideale grammatische Strukturen, sondern reale sprachliche Handlungen. Das entscheidende Problem dabei ist ein hermeneutisches: Die Sprechakttheorie will und muß Regeln angeben, unter denen sprachliche Handlungen verlaufen, weil nur so gesichert werden kann, daß der Hörer wirklich versteht, was der Sprecher gemeint hat. An diesem Regulierungspostulat setzt Derridas Kritik an. Er besteht darauf, daß die von Searle erhofften Eindeutigkeiten nicht erreichbar sind. Es gibt keine Regeln, die den eindeutigen Transport des Gemeinten zum Verstehen erlauben. Er bringt dabei eine ganze Reihe von Argumenten gegen diese Auffassung vor, die zum Teil aus der Kritik der Sprechakttheorie bereits bekannt sind: Die Sprechakttheorie Searles - und die seines Vorläufers Austin - verdankt ihren Ruhm gerade dem propagierten Verzicht auf jenes Idealisieren, wie sie eine syn31 32 33 34 35

Vgl. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, S. 96-100. Derrida, Positions, S. 38. Ebd., S. 41. Derrida, De la grammatologie, S. 378. Vgl. Zima, Die Dekonstniktion, S. 51-55.

142 taktisch argumentierende Sprachphilosophie vorgenommen hatte. Wer, wie Austin und Searle, Sprechen als eine Form des Handelns bestimmt und damit die pragmatische Komponente betont, wird es schwer haben, auf Eindeutigkeiten in der Äußerung und im Verstehen von >Sinn< zu bestehen. Tatsächlich betont deshalb die Sprechakttheorie weniger die Pragmatik des sprachlichen Handelns als vielmehr seine Regelhaftigkeit. Der >Sprechakt< erscheint als eine »Funktion der Bedeutung des Satzes«;36 mit dieser Formulierung wird die pragmatische Komponente der semantischen wieder untergeordnet - das sind auch die Einwände einer empirisch argumentierenden Psycholinguistik, die in der Sprechakttheorie nicht jenen Verbündeten gefunden hat, den sie aufgrund der pragmatischen Ausgangslage hätte erhoffen dürfen. 37 Derrida bringt ähnliche Einwände vor. Mit ihrer Idealisierung vernachlässige die Sprechakttheorie die Möglichkeit eines uneigentlichen, parasitären Sprachgebrauchs und müsse am Ende mehr Ausnahmen als Regeln formulieren. Jede dieser Ausnahmen, wie sie im tatsächlichen Sprachgebrauch vorkommen, unterminiere aber die Regeln: sie kann immer »>corrompreGlückensbedingungen< erschließen lasse, hält Derrida seine >itérabilité< entgegen, auf die sich die Diskussion am Ende zuspitzt. Es geht um die Frage, ob ein Zeichen überhaupt zweimal in der gleichen Bedeutung verwendet werden kann: »N'oublions pas qu'itérabilité ne signifie pas simplement, comme semble le penser Searle, répétabilité du même, mais altérabilité de ce même idéalisé dans la singularité de l'événement«. 40 Die Bedeutung eines Zeichens läßt sich nicht fixieren, also auch nicht wiederholen; jeder neuerliche Gebrauch bedeutet eine Änderung: »L'itérabilité altère, elle parasite et contamine ce qu'elle identifie et permet de répéter«.41 Regeln können diesen Vorgang nicht suspendieren, indem sie die Identität der Zeichenbedeutung in der Wiederholung sichern. Diese Behauptung hat eine weitreichende Konsequenz für die hermeneutische Verstehenstheorie: Aufgrund der >itérabilité< bleibt unentscheidbar, was mit einer Äußerung gemeint ist; jede Wiederholung einer Bedeutung im Akt des Verstehens vollzieht schon eine Verschiebung und Veränderung. Die Differenz zu Searle ist deutlich: Während die Sprechakttheorie die »Sinneffekte« durch die Reduktion auf möglichst wenige Regeln festlegen will, strebt Derrida eine möglichst große Vielfalt und damit eine »Ent36 37 38 39 40 41

Searle, Sprechakte, S. 32. Vgl. Hörmann, Meinen und Verstehen, S. 258-275. Derrida, Limited Inc., S. 119. Ebd., S. 185. Ebd., S. 215f. - Vgl. Cebulla, Wahrheit und Authentizität, S. 172-177. Denrida, Limited Inc., S. 120.

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grenzung des Sinns« an. In dieser Debatte mit Searle wird offensichtlich, in welchem Umfang Derridas Sprachphilosophie ungeachtet aller gewollten Absonderlichkeiten der modernen Hermeneutik verpflichtet bleibt. Die Mystifikationen der Dekonstruktion werden in ihrem Kern als extravagante Übertreibungen hermeneutischer Problemstellungen erkennbar. In dieser Übertreibung freilich besteht ihre Eigenart. Sie läuft darauf hinaus, daß keinerlei Festlegung des Sinns durch irgendwelche reglementierenden Verfahren und damit keinerlei Verstehen möglich sein dürfte. Indem Derrida die Unmöglichkeit einer Sinnfixierung im Sprechen und Verstehen postuliert, bezieht er die Radikalposition einer >SinnverweigerungSache< beziehen und daß sie dadurch ihre Identität und letztlich ihren Sinn erhalten.43 Darauf beruht noch die berühmteste Definition von Bedeutung, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts von Frege formuliert wurde und von der sich unter dem Einfluß des frühen Wittgenstein die Spuren in die analytische Philosophie ziehen: Der elementare Satz »behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes«, heißt es folgenreich im Tractatus,44 Diese >extensionale< Definition, welche die Bedeutung eines Begriffs durch sein Referenzobjekt bestimmt, wird bis heute vor allem in der analytischen Sprachphilosophie diskutiert; in der neueren Diskussion wird aber versucht, diese Definition mit dem >intensionalen< Bedeutungsbegriff zu vermitteln, der die Regeln zum Gebrauch eines Ausdrucks angibt.45 Die neuere Sprachtheorie, die insbesondere vom späten Wittgenstein und der Sprechakttheorie eingeführt wurde, hat die >extensionale< Auffassung gänzlich zugunsten der >intensionalen< zurückgedrängt. Äußerungen - also nicht mehr einzelne Wörter, sondern Sätze - gewinnen ihre Bedeutung durch die Regeln, denen sie unterworfen sind. Diese Auffassung ist nicht unvereinbar mit de Saussures Überlegungen zum Sprach->SystemPrivatsprachenargument< bekannt wurde. Mit Privatsprache ist keine Geheimsprache gemeint, die sich ein Individuum für den eigenen Gebrauch ausdächte und die nur eine semantische oder grammatische Übersetzung der allgemeinen Sprache darstellte. Das Privatsprachenproblem ist fundamentaler. Es stellt sich im Kern als die Frage dar, ob es für ein Individuum möglich ist, individuelle Regeln für den eigenen Sprachgebrauch zu formulieren und zu befolgen,

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Frank, Die Entropie der Sprache, S. 552. Vgl. ebd., S. 542f. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, S. 38. Zusammenfassend Essler, Analytische Philosophie I, S. 103-107.

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die die Identität von Begriffen, Zeichen und Äußerungen sichern könnten. Dabei steht nicht zur Debatte, ob eine solche Regel mitteilbar sein soll oder ob sie zu einer kommunikationsfähigen Sprache fuhrt. Wittgenstein geht es nur um den Nachweis, daß eine solche individuelle Regel für eine Privatsprache unmöglich ist. Wittgenstein lehnt die Möglichkeit einer Privatregel ab; sie könne sich nur auf die Erinnerung an frühere Empfindungen berufen, für diese aber gebe es kein Kriterium, an denen die Identität mit der aktuellen Empfindung gemessen werden könne: »Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von >richtig< nicht geredet werden kann.«46 Am Ende läuft die Argumentation bei Wittgenstein wohl darauf hinaus, daß eine Regel außerhalb des Bereichs angesiedelt sein muß, in dem sie angewendet wird; nur so kann sie als »unabhängige Stelle« fungieren, an die sich appellieren läßt.47 Genau das ist die Position, die Derrida bekämpft - ohne Wittgenstein zu nennen; seine Wittgenstein-Rezeption ist ohnehin erstaunlich unentwickelt.48 Wittgensteins nur rudimentäre Argumentation ist umstritten geblieben;49 aber die Konsequenzen, die er daraus gezogen hat, haben einen enormen Einfluß auf die Sprachphilosophie gewonnen. Wie die Sprechakttheorie besteht er darauf, daß der Sprachgebrauch durch Regeln reglementiert wird und daß dadurch die >Bedeutungen< entstehen. Aber anders als sie beruft er sich nicht auf Idealisierungen und unternimmt gar nicht erst den Versuch, die Regeln inhaltlich zu bestimmen, sondern ordnet sie in die empirisch-soziale Welt der >Sprachspiele< ein, die den Regeln ebenso gehorchen wie sie diese hervorbringen. Mit seiner Sprachspieltheorie entwickelt Wittgenstein die vermittelnde Position zwischen jenen Extremen, die von Searle und Derrida vertreten werden: Es gibt keine endgültig fixierten Regeln des Sprachgebrauchs. Die Regeln der Richtigkeit und Rechtfertigung werden von einer Sprachgemeinschaft unter konkreten Umständen bestimmt. Wittgenstein wiederholt damit die Einsicht de Saussures von der unhintergehbaren >sozialen Natun der Sprache. Für ihn ist die Frage nach dem Grund der Sinnhaftigkeit von Zeichen - und damit die Diskussion zwischen Derrida und Searle - unsinnig, weil nicht zu beantworten: »Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als >Urphänomene< sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.«so Diese Auffassung kommt der der Hermeneutik sehr nahe; es ist bedauerlich, daß der späte Wittgenstein in der hermeneutischen Diskussion praktisch unrezipiert bleibt, während sich umgekehrt die analytische Philosophie aus theoriegeschichtlichen Gründen intensiv mit ihm befaßt, obwohl er wenig mit ihr gemein hat. In der Kontroverse mit Searle hat Derrida seine Ausgangsposition geklärt. Nun ist seine Philosophie aber keine Sprachphilosophie. Die sprachtheoretischen 46 47 48 49

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Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 362. Ebd., S. 364. Vgl. Ellis, Against Deconstruction, S. 42f. Vgl. die zusammenfassende Diskussion bei StegmUller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie I, S. 645-672. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 202.

145 Überlegungen haben ein sehr viel attraktiveres Ziel, nämlich das einer universalen Metaphysikkritik. Der Begriff der >Metaphysik< wird als theoretischer Kampfbegriff eingeführt, der in Derridas Argumentationskontext eine andere Färbung erhält als in der üblichen Metaphysikkritik des 20. Jahrhunderts. Während traditionell, insbesondere in den Diskussionen des >Wiener KreisesLogozentrismusMetaphysik< mit ihrer Verpflichtung auf den >GeistSinn< und die >Vernunft< bezieht wesentliche Impulse von Heidegger, den Derrida dekonstruierend überwinden will. Ausdrücklich bezieht er sich auf dessen >ontologische Differenz^ wie sie in Sein und Zeit angelegt ist und später ausgeführt wird: »Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein.«52 Heidegger wollte mit dieser Unterscheidung der abendländischen Wissenschaft ihre Grenzen vorfuhren: Sie beschäftige sich ausschließlich mit dem >SeiendenSein< für sie ein >Nichts< sei. Von dieser Fragestellung läßt Derrida sich anregen, erhebt aber den Anspruch, Heidegger radikaler weiterzufuhren. Denn es ist in der Tat schwer zu übersehen, daß auch bei Heidegger jene Elemente der abendländischen Philosophie eine zentrale Rolle spielen, die Derrida bekämpft. Gerade der Phonozentrismus wird im späteren Werk Heideggers dominierend. Das >Hören< auf das Sein ist eine zentrale Metapher - die von Heidegger wohl nicht als solche verstanden wird - , in welcher der metaphysische Unmittelbarkeitsanspruch oder >Phonozentrismus< der Tradition wiederkehrt. Insofern bleibt Heidegger hinter den Absichten Derridas zurück; er ist weiterhin beherrscht »de logocentrisme et phonocentrisme«.53 Derrida wurde insbesondere in der Literaturwissenschaft rezipiert, obwohl er sich selbst nur marginal mit Literatur befaßt hat. Diese spezifische Rezeption ist naheliegend, denn seine Konzentration - wenn auch keinesfalls Beschränkung -

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Camap, Scheinprobleme in der Philosophie, S. 47. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 5. Derrida, La main de Heidegger (Geschlecht II), S. 203. - Vgl. auch Derrida, Positions, S. 18f.

146 auf eine zeichentheoretische Grundlegung des Dekonstruktion weist von vornherein eine Affinität zur Literaturwissenschaft auf. Auch die Ergebnisse seiner Denkvorgänge fuhren zu Konsequenzen, die in der literaturtheoretischen Diskussion seit längerem heimisch sind und insbesondere in der Romantik vorgedacht wurden. Vor allem in der amerikanischen Literaturwissenschaft ist er auf eine enorme Resonanz gestoßen. Dabei handelte es sich zunächst nicht um eine bloße epigonale Applikation seiner Theorien. Er fand vielmehr den Boden schon vorbereitet bei einer Reihe von Literaturwissenschaftlern, die aus autochthonen wissenschaftlichen Traditionszusammenhängen heraus zu ähnlichen Überlegungen gekommen waren. Das Zentrum der Dekonstruktion-Rezeption in den U S A sind die >Yale Critics< gewesen; 54 der Beginn der Rezeption läßt sich wohl mit dem Erscheinen des Sammelbandes Deconstruction and Criticism im Jahre 1979 datieren, obwohl die Beziehungen Derridas zu Paul de Man als einem der fuhrenden der >Yale Critics< älter sind. In dem Sammelband wird eine Standortbestimmung der literaturwissenschaftlichen Dekonstruktion vorgenommen, an der auch Derrida selbst beteiligt ist. Geoffrey H. Hartman hat im Vorwort den Grundgedanken zusammengefaßt. Er stellt die Frage nach der Macht der Literatur und lehnt die Antwort ab, die er als die traditionelle auffaßt: Die Macht besteht nicht in der Bedeutung, die in literarischen Wörtern angelegt ist. Gegen diese Auffassung setzt er die These, daß die Sprache der Literatur sich durch die Verweigerung von Bedeutung auszeichne. Ihre Aussagen schillern zwischen dem geschriebenen Zeichen und der gemeinten Bedeutung; zwischen dem Symbol und der Idee. 55 Der Hauptgedanke Derridas wird damit aufgegriffen; und im Zusammenhang mit einer Lektüre literarischer Werke liest er sich weitaus weniger dramatisch als im Zusammenhang mit einer Herausforderung der abendländischen Metaphysik. Denn die an de Saussure gewonnene Einsicht der ständigen >Verschiebung< von Bedeutungen, wie sie sich im Zeichensystem der Sprache vollzieht, ist seit je, wenn auch unter anderem Namen, ein zentrales Thema der literaturwissenschaftlichen Diskussion gewesen. Ihr verdankt die literaturwissenschaftliche Hermeneutik überhaupt ihre Entstehung. Im Rahmen des Sammelbandes hat Derrida selbst eine Modell-Interpretation vorgelegt, an der sich Formen des dekonstruierenden Umgangs mit Texten ablesen lassen. Seine Darlegungen zu Shelleys langem Gedicht Triumph of Life konzentrieren sich auf die Frage nach den Grenzen eines Textes, seiner Einbindung in Kontexte und seinem Zusammenhang mit anderen Texten. Die Frage nach den Grenzen ist fur die Literaturinterpretation zentral. Jede philologische Annäherung an einen Text ist auf die Existenz solcher Grenzen angewiesen; w o diese sich auflösen, verliert sie den Grund unter den Füßen. In der Frage nach der Grenze entscheidet sich, ob einem Text eine Identität zukommt und er als ein abgeschlossenes Ganzes begriffen werden kann. Das Shelley-Gedicht ist in dieser Hinsicht besonders ergiebig. Es handelt sich um ein Fragment, das seine Identität also nicht von sich selbst und nicht von seinem Autor bekommen hat. Derrida

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Vgl. Zapf, Kurze Geschichte der anglo-amerikanischen Literaturtheorie, S. 205f. Vgl. Hartman, Preface, S. viif.

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stellt die hermeneutische Ausgangsfrage, wie die Bedeutung eines mehrdeutigen Textes - oder auch nur eines Wortes - bestimmt werden kann. Auch die Antwort ist hermeneutisch: Bedeutungen lassen sich nur in Kontexten erfassen, aber kein Kontext kann eine Bedeutung erschöpfend bestimmen.56 Ihren Reiz gewinnt diese Einsicht, wo die Grenzen zwischen Text und Kontext oder zwischen Innen und Außen zum Verschwimmen gebracht werden. Genau diesen Prozeß versucht Derrida in seinen Darlegungen einzuleiten. Er sucht nicht die Bedeutung des Textes, sondern die Auflösung seiner Grenzen. Der Text, der dem Leser in einem fest geschlossenen Rahmen entgegentritt - als >Gedicht< oder als >Buch< - , löst sich auf in ein Netzwerk von Spuren, die endlos überall hinweisen.57 Derrida verfolgt einige dieser Spuren. Sie fuhren ihn zu anderen Texten, in denen ebenfalls von Leben und Tod die Rede ist: Zu Maurice Blanchots Romanen La folie de jour oder zu L'arrêt de mort von 1948. In Derridas Darlegungen treten diese Texte zusammen mit dem Shelleys in ein Spiel wechselseitiger Erläuterungen ein: Ein Text liest den anderen;58 und zwar über die Sprachen und Zeiten hinweg. Dabei hat jeder dieser Texte seine eigenen Grenzprobleme, es stellt sich jeweils schon in philologischer Hinsicht die Frage, was ihre Identität ausmacht. Shelleys Text war ein Fragment, das in verschiedenen Versionen überliefert ist; Blanchots La folie de jour ist die zweite Fassung einer Erzählung, die in dieser Form erst dreißig Jahre nach der ersten erschienen ist. Ähnliches gilt fur L'arrêt de mort, dessen zweite, wiederum dreißig Jahre nach der ersten Fassung erschienene Version schon im Titel und in der Gattungsbezeichnung Varianten aufweist. Aus diesen philologischen Beobachtungen schlägt Derrida dekonstruktionistisches Kapital. Keiner dieser Texte - und wahrscheinlich auch kein anderer - hat feste Grenzen. Schon editorisch ist kein Text mit sich identisch. Jeder hat Entwicklungen hinter sich und existiert in aller Regel in verschiedenen Versionen, die je nach dem Stand der Überlieferung, der philologischen Forschung und des Editionsaufwandes sich bei der Interpretation mehr oder weniger deutlich bemerkbar machen. Während die traditionelle Interpretation - und Edition dazu neigt, diese Vielfalt möglichst rückgängig zu machen, verfolgt Derrida ein gegenläufiges Programm. Er sucht oder konstruiert Beziehungen, die über die Grenzen der Eindeutigkeit hinaus auf andere Texte verweisen. Dieses Verfahren einer dekonstruierenden Shelley-Lektüre zeigt enge Berührungspunkte zur Theorie der >IntertextualitätIntertextualität< und >Dekonstruktion< sind offenkundig, wenn auch im Detail problematisch. Paul de Man hat mit einiger Vorsicht gewisse Anknüpfungspunkte gesehen, die seine dekonstruierende Lektüretechnik mit Bachtins Theorie der Dialogizität verbinden. Die sozialhistorische Komponente bei Bachtin muß er marginalisieren. Aber Bachtins Bemerkung, daß etwa Rabelais' Roman sich nirgends »in seinen direkten Aussagen« erschöpfe, 70 dürfte auf de Mans Sympathie hoffen - wenn er sie gekannt haben sollte. Die Sympathie ist begrenzt, denn in seiner unmittelbaren Auseinandersetzung mit Bachtin identifiziert de Man bei diesem zu starke Restbestände dessen, was er als >hermeneutisches< Denken bezeichnet. Das von Bachtin herausgearbeitete Prinzip der Dialogizität, die das Eindringen des >Anderen< in den Roman

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Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 213. (Der Druckfehler der Vorlage wurde korrig Ì e r t )

Vgl. Zima, Literarische Ästhetik, S. 114. Vgl. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 166. Kristeva, Probleme der Textstrukturation, S. 500. Ebd., S. 500. Derrida, De la grammatologie, S. 227. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 499.

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erlaubt und dessen Einheit aufsprengt, wird konterkariert durch »a gesture of dialectical imperialism that is an inevitable part of any hermeneutic system of question and answer.«71 De Mans Skepsis gegenüber Bachtin ist nicht unangebracht; mit seinen eigenen Auffassungen läßt dessen Konzept sich in der Tat kaum vereinbaren. Denn gerade die teils versteckte, teils offene politische Dimension des Dialogizitätskonzepts widerstrebt einer dekonstruierenden Literaturauffassung ebenso wie die des von Kristeva vertretenen radikalen Intertextualitätskonzepts. Denn anders als die postmoderne Diskussion hält Bachtin an »bestimmten Wahrheiten - wie Demokratie, Volkskultur, Dialog und Hermeneutik« - ebenso wie an kulturellen Werten fest.72 Trotz dieser Einwände, die Bachtin nur mit Einschränkungen für die Dekonstruktion verwertbar machen, hat er doch der Intertextualitätsdiskussion den Weg in die Dekonstruktion gebahnt. Bachtins Konzeption zielt zum einen auf die Auflösung des geschlossenen Textes, zum anderen - was damit zusammenhängt, aber nicht dasselbe ist - auf seine Entgrenzung. Die Auflösung besteht im Verzicht auf ein Zentrum oder ein integrierendes Strukturprinzip. Die klassische Idee des geschlossenen Werkes< wird aufgegeben; das ist seit der Romantik nicht mehr neu. Die Entgrenzung betrifft die Bezüge eines Textes nach außen. Hier eröffnet sich der Intertextualität ein Spielraum, der noch nicht ausgelotet ist. Die Frage, wie weit und gegenüber welcher spezifischen Außenwelt sich Texte öffnen, ist eine Unscharfe des Konzepts geblieben: »Die Theorie der Intertextualität ist eine Theorie der Beziehungen zwischen Texten. Dies ist unumstritten; umstritten jedoch ist, welche Arten von Texten darunter subsumiert werden sollen.«73 Hier bietet sich ein weiter Spielraum. Die engste Version von Intertextualität beschreibt Herman Meyer. Das >Zitat< ist in der Erzählkunst eine unproblematisch erkenn- und erforschbare Strategie des Schreibens von Texten - unabhängig davon, ob das Zitat integrierend oder sprengend eingesetzt wird. Auch die oft hervorgehobene Tatsache, daß Texte immer auf andere Texte antworten, wie sie von der Rezeptionsästhetik Jauß' vertreten wird, läßt sich leicht in konventionelle Literaturkonzepte integrieren. Aber die eigentliche Pointe der Intertextualität greift sehr viel weiter und trifft sich dabei mit der Dekonstruktion. Der Text wird von einer statischen Einheit zu einem dynamischen Prozeß. Ähnlich wie Derrida mit de Saussure das System der Sprache als einen in unendlicher Bewegung begriffenen Vorgang beschrieben hat, will Kristeva den poetischen Text als eine Ansammlung von Zeichen begreifen, die nicht nur ständig über sich hinaus-, sondern gleichzeitig auf überhaupt nichts mehr verweisen. Auch hier ist dem Zeichen der Referent abhanden gekommen. Es bezieht sich nicht mehr auf eine einheitliche und eindeutige Wirklichkeit; seinen Sinn gewinnt es durch die Kombinationen, durch die es an anderen Zeichen partizipiert.74 In dieser Offenheit des Kunstwerks - speziell des Ro-

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de Man, Dialogue and Dialogism, S. 112. Zima, Literarische Ästhetik, S. 129. Pfister, Konzepte der Intertextualität, S . I I . Vgl. Kristeva, Le texte du roman, S. 34f.

151 mans - sieht Kristeva eine Errungenschaft der Neuzeit. Das >ZeichenSymbol< des mittelalterlichen Weltbildes gegenüber, das eindeutige Beziehungen zur Transzendenz herstellt und auf diese Weise eine restriktive Funktion erfüllt." Der moderne Text der Neuzeit löst sich von diesen Bindungen; er stellt nicht mehr Beziehungen zum Universum her, sondern universale Bezüge. Im Kern wiederholt Kristeva damit, zunächst wie bei Bachtin beschränkt auf einen spezifischen Entwicklungsstrang der neuzeitlichen Romanliteratur, die dekonstruktionistische Grundthese: Das Zeichen löst sich vom Referenten. Kristeva hat diese Grundthese bald generalisiert und sie im Rückgriff auf Freud zu untermauern versucht. Das Ergebnis bleibt immer das gleiche; in literarischen Texten läßt sich durch das Zusammenspiel von Zeichen eine Aufhebung des eindeutigen Sinns feststellen, die bis zum semantischen »polimorphisme« gehen kann.76 Intertextualität ist insoweit unter hermeneutischer Perspektive eine Variante dekonstruktionistischer Prinzipien. Mit ihnen teilt sie auch die Intention. Die Texte sollen befreit werden von der Verpflichtung auf Homogenität und Eindeutigkeit; sie gewinnen durch die unendlichen intertextuellen Bezüge, so ist es gemeint, eine Dynamik, die sie jeder Beherrschbarkeit durch einen Interpreten entzieht. Die intertextuellen Bezüge fuhren eine »semantische Explosion« herbei, der per se kritisches Potential innewohnen soll.77 Das Intertextualitätskonzept richtet sich gegen alle Formen der Begrenzung; hierin trifft es sich mit dem der Dekonstruktion. Denn die Auflösung der Grenzen von Begriffen, Texten oder überhaupt Bedeutungseinheiten ist ein zentrales Thema von Derridas dekonstruierender Lektüre. Es wurde schon in der Grammatologie angeschlagen, wo die >Schrift< gegen das >Buch< ausgespielt wird. Das Buch schafft eine >TotaIität< des Sinns, die real nicht existiert; durch seine Fixierungen wehrt es sich gegen-den Einbruch der >SchriftSinn< konstituieren oder >Un-Sinn< produzieren. Die intertextuelle Entgrenzung von Texten in ihren Außenbeziehungen ist ein Komplementärvorgang zur Enthierarchisierung der Binnenstruktur von Texten. Wie in der Außenbeziehung keine klare Dichotomie von Text und Kontext mehr zugelassen wird, so wird in der Binnenstruktur keine Hierarchie von Wichtigem und Unwichtigem, Zentrum und Peripherie eines Textes geduldet - es bleibt allein der >Lektüre< des Lesers überlassen, welche Partikel des Textes er in welche Beziehung zu anderen Partikeln setzt.80 Das ist der Punkt, an dem der Interpretation der Boden entzogen wird: Wenn »alle im Gesamttext vorfindlichen Elemente aus jeglicher hierarchischen Bezogenheit aufeinander« entlassen werden, dann wird der Text »zu einem anarchischen Kollektiv von Bedeutungsträgern«.81 Die Intertextualitätskonzeption ebenso wie die Dekonstruktion haben dieses Verfahren perfektioniert. Derridas Shelley->Lektüre< fuhrt das Intertextualitätskonzept in seiner extremen Variante vor. Er betreibt eine wechselseitige Erläuterung von Texten, deren Zusammenhang nicht durch philologisch ausgewiesene Korrespondenznachweise gesichert ist. Dabei demonstriert er eine Art entropischen Umgangs mit diesen Texten, in dessen Verlauf sie sich ineinander auflösen und in wechselseitige Beziehungen treten, durch die sie sich gegenseitig erläutern, ohne aber eine Ordnung des Sinns zu schaffen. Derrida verläßt sich nicht darauf, daß sein Shelley-Text ihm die Bezüge zu den anderen Texten aufweist was auch schwerlich möglich wäre, da sie sehr viel später entstanden sind als Shelleys Gedicht - , vielmehr stellt er diese Bezüge selbst her. Er wirft die Frage auf, wie ein Text einen anderen lesen kann, ohne sich auf ihn zu beziehen oder ohne ihn überhaupt zu kennen;82 und er behauptet Zusammenhänge zwischen Texten, die jenen gleichen, welche die Psychoanalyse fur Beziehungen zwischen Menschen konstatiert hat: »It's enough to make a philologist laugh (or scream)«.83 Die »intertextuelle Relation« entsteht erst durch die Auslegung, und die wiederum läßt sich leiten durch den »Zufall vorgängiger Lektüren«.84 Ein unfreundlicher Kritiker könnte Derrida vorhalten, daß er mit der Auswahl der Texte, die er zueinander in Beziehungen treten läßt, trotz aller Verschleierungen ein sehr konventionelles vormodernes philologisches Verfahren verwendet. Es erscheint als eine Variante der Motivgeschichte, wenn Derrida dem Triumph of Life bei Shelley die Todesverfallenheit der Romane Blanchots gegenüberstellt, so daß immerhin eine thematische Affinität sichtbar wird. Freundlichere Kritiker sehen dieses Verfahren der Dekonstruktion anders; sie rechtfertigen den freien »Umgang mit den eigenen Assoziationen« durch den Verweis auf die Technik der Psychoanalyse.85 80 81 82 83 84 85

Vgl. Assmann, Einleitung, S. 18f. Wölfel, Zur aktuellen Problematik der Interpretation literarischer Werke, S. 408. Vgl. Derrida, Living On, S. 80. Ebd., S. 147. Stierle, Werk und Intertextualität, S. 141. Kniesche, Tot, Scheintot, Untot?, S. 382.

153 Derrida übertritt mit seiner >LektüreBedeutungWahrheit< oder der >Identität< eines Textes. Diesen traditionellen Ausgangsunterstellungen, mit denen sowohl die Philologie wie die Hermeneutik arbeitet, stellt Derrida sein Zauberwort der >différance< gegenüber: Sie markiert einen Unterschied jenseits von Identität oder Differenz; der Text entzieht sich diesem Dualismus, seine Unentschiedenheiten werden niemals aufgelöst. Das ist die dekonstruktionistische Herausforderung der Hermeneutik. Sie entwickelt eine Position, die eine grundlegende Revision des traditionellen hermeneutischen Umgangs mit Texten jeder Art, und insbesondere literarischen, erforderlich macht. Während die ganze hermeneutische Tradition immer auf die Frage nach dem Sinn und meistens in eins damit auf die Frage nach der Wahrheit fixiert gewesen sei, kehre die Dekonstruktion dieses Interesse um. Texte sollen gelesen werden im Blick auf ihre Zerstörungskraft gegenüber den metaphysischen Konventionen von Wahrheit und Sinn. Pointiert ließe sich das Verfahren charakterisieren als >SinnverweigerungLektüre< statt der Interpretation wird nicht nur eine Revision traditioneller philologischer Techniken angestrebt; sie ist zugleich, so die Hoffnung, ein »kulturpolitischer Akt, der darauf abzielt, das Gefüge der Institutionen samt dem Kanon, auf dem diese aufruhen, zu erschüttern.«86 Dieses Fazit gehört zur Normalaussage der Dekonstruktion. Sie hat darin einen Vorläufer in Adomos Stellung zur >Interpretation< von Kunstwerken. Auch wenn Adorno in mancher Hinsicht der >werkimmanenten Interpretation der fünfziger Jahre nahestand, so insistierte er andererseits gerne auf der Unzugänglichkeit von Kunst. »Wahre Kunstwerke« - dieser pathetischen Formel bedient sich Adorno in der Tradition der klassischen deutschen Autonomie-Ästhetik zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich dem Sinn verweigern. Gegen Sartres Konzept einer »littérature engagée< setzt er Texte, in denen die »Sprache an der Bedeutung rüttelt und durch ihre Sinnferne vorweg gegen die positive Unterstellung von Sinn rebelliert«.' 7 Sie wiederholen nicht die Sinngebung, welche die Gesellschaft als Verblendungszusammenhang auferlegt, sondern sie entziehen sich ihr vermöge ihrer Autonomie. Die Sinnverweigerung ist ihr Sinn; alles »hängt daran, ob der Negation des Sinns im Kunstwerk Sinn innewohnt«.88 Diese Formulierungen kulminieren in einer Aufforderung, die von den Prämissen der Dekonstruktion kaum noch entfernt ist: Das Kunstwerk - in diesem Fall Becketts

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Assmann, Einleitung, S. 15; S. 17. Adorno, Engagement, S. 411. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 231.

154 Endspiel - »verstehen kann nichts anderes heißen, als seine Unverständlichkeit verstehen, konkret den Sinnzusammenhang dessen nachzukonstruieren, daß es keinen hat.«89 Paul de Man, der zu den profiliertesten Vertretern der Dekonstruktion in der Literaturwissenschaft gehört, hat die >Sinnverweigerung< in einer grundlegenden, aber auch sehr traditionellen poetologischen Position zu begründen versucht. Er wendet sich gegen eine Literaturinterpretation, die sich auf außerliterarische Referenzen bezieht: »In literary studies, structures of meaning are frequently described in historical rather than in semiological or rhetorical terms«90 - dies wirft er der Literaturwissenschaft vor und stellt ihr sein eigenes Programm entgegen. Das Erbe des >New CriticismZeichen< als einer bloßen Konvention, die nichts über Wahrheit und Wirklichkeit aussage, auf die Dekonstruktion eine große Anziehungskraft ausüben mußte, liegt auf der Hand. Derrida zitiert in einer seiner frühesten Schriften Nietzsches Kritik an »des concepts d'être et de vérité auxquels sont substitués les concepts de jeu, d'interprétation et de signe (de signe sans vérité présente)«.112 Auch später wird Nietzsche als Initiator einer Entwertung des Begriffs und damit der Wahrheit und der Wissenschaft genannt.113 Nietzsches frühes »Mißtrauen an der klassischen Zeichentheorie«114 auf der Grundlage einer rhetorischen Sprachauffassung teilt ein Grundmotiv mit der Dekonstruktion, aber es bleibt doch weit hinter dem zurück, was Derrida und Paul de Man in ihren >Lektüren< anstreben. Denn >Wahrheit< und >Lüge< sind für Nietzsche klar unterscheidbar; er kehrt nur die Zuordnungen gegenüber der Konvention um. De Man ist sich der Tatsache durchaus bewußt, daß Nietzsche ungeachtet seiner Sprachkritik in einer Tradition steht, die sich >logozentrisch< nennen ließe.115 Er arbeitet das in einer >Lektüre< der Geburt der Tragödie heraus; aber nur, um in einer anschließenden >rhetorischen< Analyse zu demonstrieren, daß den expliziten Aussagen eine Praxis gegenübersteht, die den Leser zwingt, »to enter in an apparently endless process of deconstruction.«116 Auch Derrida hat sich davon entfernt, Nietzsches unmittelbare Sprach-, Zeichen- und Wahrheitsskepsis einfach fur bare Münze zu nehmen und sich ihr anzuschließen. Er unterzieht in seinen verstreuten Äußerungen über Nietzsche diesen ebenfalls einer dekonstruierenden Lektüre, die nicht auf die manifesten Aussagen, sondern auf die Schreibverfahren oder Les styles de Nietzsche zielt. In den >Stilen< sieht Derrida, ähnlich wie de Man, die Aufhebung jenes Wissens ange-

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Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 374. Vgl. Meijers/Stingelin, Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber. Vgl. Bredeck, Fritz Mauthners Nachlese zu Nietzsches Sprachkritik, S. 596-598. Derrida, L'écriture et la différence, S. 412. Vgl. Derrida, la mythologie blanche, S. 313f. Behler, Derrida - Nietzsche/Nietzsche - Derrida, S. 68. Vgl. de Man, Allegories of Reading, S. 112; S. 88f. Ebd., S. 99.

158 legt, das Nietzsche mit seiner umkehrenden Kritik ausspricht: »ohne den Stil also, den großen, läuft die Umkehrung mit der lärmenden Verkündung der Antithese wieder auf das gleiche hinaus«. Derrida konstatiert wie die traditionelle Nietzsche-Philologie die »hétérogénéité du texte« bei Nietzsche" 7 und findet von hier aus den Weg zu einer Hermeneutikkritik: Nietzsches Texte entziehen sich zumindest im Bereich einer »marge« jeder hermeneutischen »contrôle du sens«."* Das alles ist nicht aufregend neu und entspricht den traditionellen Auffassungen sowohl der Nietzsche-Philologie wie der Hermeneutik. Ihre Eigenart gewinnt Derridas Nietzschelektüre aber dort, wo sie demonstrieren will, was es heißt, sich der Kontrolle des >Sinns< zu entziehen. Seine étude über Nietzsches nachgelassenen Satz »ich habe meinen Regenschirm vergessen«" 9 gibt freilich deutlicher Auskunft über Derrida als über Nietzsches Denk- und Schreibstil. Der kontextlose Satz über den Regenschirm ist gleichermaßen einfach wie nicht verständlich. Er kann etwas besagen oder auch nicht, ohne Kontext läßt sich darüber nicht entscheiden, und deshalb mag es auch so sein, daß der Satz »provoque et désarçonne l'herméneute«. 120 Derrida erwägt die Möglichkeit, daß der Satz durch weitere Kenntnisse einen Sinn im Kontext der Nietzsche-Schriften bekommen oder er mit einer Äußerung Heideggers zusammengebracht werden könne - das wäre das Vorgehen der traditionellen Hermeneutik. Derrida greift dieses Beispiel später noch einmal auf; als Beleg dafür, daß Bedeutungen nicht festzulegen sind: »Mille possibilités resteront toujours ouvertes«, auch wenn es viele Möglichkeiten gibt, in dieser Äußerung einen Sinn zu erkennen - Derrida zählt einige auf; freilich nicht gerade tausend. 121 Derridas Nietzsche->Lektüre< gibt in ihrer extremen Form Auskunft über das Normalverfahren dekonstruierender >Lektürej'ai oublié mon parapluieéperonLektüreLektüren< erinnern an das Verfahren künstlicher Beatmung, mit dem den Texten ein Geist eingehaucht wird, der nicht der ihre ist. Aber ungeachtet seiner radikalen Leseverfahren, die manche Merkwürdigkeiten mit sich bringen, spricht Derrida damit ein initiierendes Grundmotiv der Dekonstruktion aus. Es geht ihm um die Befreiung von Texten aus der Herrschaft des Logozentrismus, wie sie die Hermeneutik ausübt. Die unterschiedliche Antwort auf die Frage, was ein Leser in seiner >Lektüre< alles mit einem Text machen darf, markiert in der Tat die Differenz zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion. Eine interessante Zwischenstellung nimmt dabei Heidegger mit seinem frühen Buch über Kant und das Problem der Metaphysik ein. Der Text ist in einem Maße, wie es in der deutschen philosophischen Tradition ungewöhnlich ist, von selbstreferentiellen Äußerungen durchzogen. Immer wieder stellt Heidegger die Frage, ob seine »Interpretation« von Kants Kritik der Urteilskraft legitim sei - mit dem Ergebnis, daß »jede Interpretation notwendig Gewalt brauchen« muß. Was sich wie eine vorweggenommene Formulierung zur Rechtfertigung dekonstruktionistischer >Lektüren< liest, ist in diesem Buch aber noch das genaue Gegenteil. Denn die Gewalt gegenüber dem Text geschieht weder im Namen des Lesers noch im Namen des Textes, sondern im Namen des Autors Kant. Die Gewalt ist nötig, um dem, »was die Worte sagen, dasjenige abzuringen, was sie sagen wollen«, was aber »Kant selbst nicht mehr zu sagen« vermochte. Während an dieser Stelle Heidegger sich noch ausdrücklich gegen »schweifende Willkür« wendet,124 löst er sich in seinen späteren Werken von dieser Verpflichtung gegenüber dem Autor. Aus der Interpretation des Textes wird die >Zwiesprache< mit ihm, die im Namen höherer Einsichten keine philologischen Pflichten mehr anerkennt.125 Harold Bloom, der als einer der Beiträger zum Sammelband Deconstruction and Criticism zu den Gründungsvätern der amerikanischen literaturwissenschaftlichen Dekonstruktion gehörte - von der er sich dann distanzierte126 - , hat deren zentralen Grundsatz in einfache Worte gefaßt: Es geht um die Freiheit literarischer Texte. Unter Freiheit ist Freiheit von Bedeutung zu verstehen. Gedichte fuhren einen Kampf sowohl gegen Bedeutungen, die ihnen von der Sprache, als auch gegen solche, die ihnen von der Tradition aufgezwungen werden. Für den hermeneutischen Aspekt des Problems trifft Bloom die wichtige Feststellung, 123 124 125

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Deirida, Living On, S. 161. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 201f. Vgl. Schrimpf, Hölderlin, Heidegger und die Literaturwissenschaft, S. 238. - Vgl. auch die detaillierte Analyse von Heideggers Technik der »Zwiesprache« mit Hölderlin bei Weimar/Jermann, >Zwiesprache< oder Literaturwissenschaft, bes. S. 122-140; bes. S. 133-135. Vgl. Zima, Die Dekonstruktion, S. 175f.

160 daß es gleichgültig bleibt, ob Gedichte einen Mangel oder einen Überfluß an Bedeutung haben; entscheidend bleibt, daß sie überhaupt nicht auf eine Bedeutung festlegbar sein dürfen. Gedichte sind agonal konzipiert: Sie führen einen Kampf gegen ihre literarischen Vorläufer, gegen die sie ihre Freiheit behaupten müssen. Das literarische Werk wird nach dem Modell des Subjekts gedacht, das sich seine Freiheit erkämpfen muß; ein Vorgang, den Bloom mit den Kategorien der Psychoanalyse beschreibt. Was für die Texte gilt, gilt entsprechend fur die Leser. Sowohl die Dichter, welche die Texte ihrer Vorgänger lesen, wie auch die anderen Leser literarischer Werke, befreien sich von der ödipalen Übermacht des gelesenen Textes, indem sie ihn falsch lesen: jede kreative Lektüre ist eine Fehllektüre; ein >misreading< als Befreiungsakt und Form der Identitätsbildung bei Autor und Leser. 127 In Blooms Konzeption sind einige Komponenten dekonstruktionstischer Literaturtheorie enthalten; zugleich macht sie etwas von den Impulsen deutlich, denen die Dekonstruktion entsprungen sein mag. Es ist ein liberal-humanistischer Impuls der Befreiung, welcher der Vertreibung des Sinns aus poetischen Texten und ihrer Lektüre zugrunde liegt. Dabei handelt es sich offensichtlich um die Wiederholung eines Vorgangs, der sich im 18. Jahrhundert unter anderen Umständen schon einmal vollzogen hatte. Wie sich die Literatur von der Herrschaft der Rhetorik befreit hat, indem sie sich auf ihren eigenen >Sinn< berief, so soll jetzt die Literatur - und bei Derrida der >Text< überhaupt - von der Herrschaft der Hermeneutik befreit werden. Diese Befreiung ist freilich von zweifelhaftem Wert: Wenn die Herrschaft der Hermeneutik über den Text nach dem Modell eines Obrigkeitsstaates mit seinen rigiden Gesetzen gedacht werden kann, so gleicht die der Dekonstruktion eher dem der Tyrannis: der Willkürherrschaft eines einzelnen. Speziell die deutsche Hermeneutikkritik hat sich von diesen Motiven der Dekonstruktion beeindrucken lassen. Ihr Angriff richtet sich gegen die »Wut des Verstehens«, wie sie sich in der hermeneutisch beherrschten Literaturwissenschaft etabliert habe. Ihr wird eine Form des Umgangs mit Texten vorgeworfen, die diesen Gewalt antue. Jochen Hörisch hat die Argumente bündig zusammengestellt und sich zu eigen gemacht. Ohne sich dabei allzusehr auf die Dekonstruktion zu berufen, teilt er deren Intention. Hermeneutische Interpretation erscheint unter diesen Vorzeichen als Ausdruck eines »Willens zur semantischen Macht«. 128 Das hermeneutische Verstehen wolle homogenisieren; der Interpret nehme die Stelle Gottes ein, indem er das Unverständliche durch Assimilation des Fremden an das Eigene zu einer vertrauten Verständlichkeit machen wolle; kurz: Die »Hermeneutik des ganzen Geistes ist buchstäblich totalitär«. 12 ' In dieser Polemik sind die Kernpunkte der dekonstruktionistischen Hermeneutikkritik sehr vereinfacht zusammengefaßt. Paul de Man hat seine Hermeneutikkritik etwas vorsichtiger, aber im Kern ähnlich formuliert. Das Konzept des hermeneuti-

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Vgl. Bloom, The Breaking of Form, S. 3-5. Hörisch, Die Wut des Verstehens, S. 76. Ebd., S. 59.

161 sehen Verstehens ist unvereinbar mit dem Prinzip, in einem Text immer auch das Andere zuzulassen und zu erkennen; entsprechend spielt er das deskriptive Verfahren der Poetik gegen den normativen Diskurs der Hermeneutik aus.150 Jeder hermeneutische Versuch des Interpreten, einen >Sinn< in Texten anzunehmen, geschweige denn, ihn zu entdecken, stellt sich damit unter den Verdacht einer Usurpation - ein Vorwurf gegen die Interpretation, der nicht Eigentum genuin postmoderner Theorien ist: Er wird von seiten der Intertextualitätstheorie ebenso erhoben wie von der >Empirischen Literaturwissenschaft^ 131 Der Vorwurf ist nicht verfehlt. Tatsächlich hat Gadamer, einer langen Tradition folgend, Verstehen in aller Unschuld als Assimilation des Fremden definiert: Es hat die Aufgabe, »Fremdheit aufzuheben und Aneignung zu ermöglichen«.132 Dieser harmlosen und schlechterdings richtigen Aussage von 1965 ist in den folgenden Jahrzehnten ihre Unschuld gründlich verlorengegangen. Die Vorstellung, daß >Fremdheit< aufgehoben oder gar angeeignet werden müsse, ist im Zuge der fundamentalen Kritik am Ethnozentrismus und Kolonialismus, auf eine massive Unduldsamkeit gestoßen.133 Obwohl es sich bei der >Aneignung von Fremdheit in der Hermeneutik nur um eine Metapher handelt, ist auch sie in den Sog einer Kolonialismuskritik geraten, als ob das Verstehen von Texten identisch sei mit der Unterwerfung von Völkern. Diese Kontamination von philologischen und politischen Konzeptionen gehört zu den Charakteristika postmodernen Denkens, dem mit der Verschiebung aller Differenzen auch die Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit aus den Augen gerät. Die eigentliche Diskussion zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion handelt von anderen Problemen. Denn die Hermeneutik steht einigen Annahmen der dekonstruktionistischen Textauffassung sehr viel näher, als die Kritiker wahrhaben wollen. Auch die Hermeneutik hat, spätestens seit Schleiermacher, eingesehen, daß jede sprachliche Äußerung und erst recht jede poetische Äußerung ein Moment hermeneutischer Unauflösbarkeit in sich trägt. Auf ganz andere Weise hat Gadamer, selbst ein Kritiker der romantischen Hermeneutik, diesen Gedanken weitergeführt. Indem er die Wirkungen der Wirkungsgeschichte als ein konstituierendes Moment des Textverstehens in die Hermeneutik einbrachte, öffnete er sie weit ftir jene Annahmen, die später in der Dekonstruktion leitend werden sollten. Die dekonstruktionistische Hermeneutikkritik hat diesen Aspekt mutwillig verkannt und sich damit einen Gegner konstruiert, den es nicht gibt. Die Unterstellung, daß das hermeneutische Verstehen erst einhält, »wenn - so Gadamer - die Einheit des Sinnes eindeutig festgelegt ist«,134 widerspricht diametral und bis zur Verfälschung den Aussagen der modernen Hermeneutik und speziell auch

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Vgl. de Man, Dialogue and Dialogism, S. 112-114. Vgl. Lachmann, Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, S. 138; Schmidt, Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, S. 355f. Gadamer, Hermeneutik und Historismus, S. 419; ähnlich Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 156. Vgl. weitere Belege bei Wierlacher, Kulturwissenschaftliche Xenologie, S. 107-112. Müller, Zur Kritik herkömmlicher Hermeneutikkonzeptionen in der Postmoderne, S. 592.

162 denen Gadamers. Die moderne Hermeneutik kennt seit langem keine Eindeutigkeit mehr. In seiner direkten Kontroverse, die Gadamer im April 1981 mit Derrida führte, hat er genau diesen Grundsatz noch einmal hervorgehoben: »So habe ich gerade die Unvollendbarkeit aller Sinnerfahrung festzuhalten gesucht«.135 Die Probleme der modernen Hermeneutikkritik sind manchmal auch nur philologischer Natur. Behler hat in seinen recht verdienstvollen Überlegungen zum Verhältnis von Dekonstruktion und Hermeneutik und speziell zur Kontroverse zwischen Derrida und Gadamer - wobei er mit dem ersteren sympathisiert, ohne ihm apologetisch das Wort zu reden - Gadamers hermeneutischen Zirkel beschrieben. Dabei zitiert er Gadamer, der den Zirkel als »ständiges Neu-Entwerfen« beschreibt, bis sich die »Einheit des Sinnes eindeutig festlegt«.136 Das Originalzitat lautet anders: Bei Gadamer legt sich der Sinn »eindeutiger« fest.137 An diesem Komparativ hängt alles; er markiert die hermeneutische Einschränkung, daß sich der Sinn eben nie »eindeutig«, sondern bestenfalls »eindeutiger« festlegen läßt. Dennoch hat sich diese Vorstellung von Hermeneutik festgesetzt; de Man identifiziert die hermeneutische Position als die seinem Verfahren gegenläufige, indem er ihr die Aufgabe zuweist, »determining the meaning of texts« und sie deshalb in die Nähe zur Theologie rückt.138 In einer knappen Auseinandersetzung mit Heideggers Zirkel des Verstehens in Sein und Zeit139 hat de Man den Vorwurf noch einmal erhoben. Auch wenn der Entwurfscharakter des Verstehens nur ein methodisches Prinzip ist, so ziele er doch auf das >richtige Verstehen^ und das wiederum intendiere >Totalitätrichtige< Verstehen von Texten erlaubt.141 Er stellt sich damit ausdrücklich gegen die neuere Hermeneutikdiskussion, wie sie von Gadamer eingeleitet worden ist. Hirsch repräsentiert eine vormoderne Auffassung von Hermeneutik. In der theologischen wie profanen Hermeneutikgeschichte ist seine Position als die einfachste und nächstliegende oft vertreten worden; es ist die Hermeneutik des Barock und der Aufklärung, die hier nach-

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Gadamer, Text und Interpretation, S. 333. Behler, Text und Interpretation, S. 330. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 251. - Behlers Zitierfehler ist sicher keine Fälschung, sondern eher ein amüsanter Beleg für die hermeneutische Theorie von der verständnisleitenden Kraft des Vorurteils. I3 * de Man, The Return to Philology, S. 22. 139 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 152f. 140 de Man, Form and Intent in the American New Criticism, S. 31. 141 Vgl. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, S. 9. 136 137

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wirkt und die wiederum auf Aristoteles zurückgeht. In der Diskussion des 20. Jahrhunderts indes blieb sie marginal. Von ganz anderer Relevanz ist indes der Angriff gegen die Hermeneutik, der ihr vorwirft, Texte im Zuge einer Sinnkonstitution zu harmonisieren. Dieser Vorwurf hat einen berechtigten Kern; er richtet sich in der Tat gegen das Zentrum wenn nicht der hermeneutischen Theorie, so doch des hermeneutisehen Verfahrens. Denn Gadamers etwas unglückliche Rede vom »Vorgriff der Vollkommenheit«,143 die der Ausgangspunkt eines jeden Verstehens sei, gibt diesem Einwand eine Grundlage. Die für den Unterdrückungsvorwurf alles entscheidende Frage ist die nach dem Status, den dieser >Vorgriff der Vollkommenheit hat - ob er bloß ein heuristisches Prinzip ist oder nicht doch eine Forderung, die an die reale Qualität des Textes gestellt wird. Die dekonstruktionistische Hermeneutikkritik hat ihren eigentlichen Angriffspunkt in dieser letzteren Annahme. Gadamer hat der Kritik Angriffsflächen geboten mit seiner Bestimmung des Verstehens von >klassischen< literarischen Texten: Sie seien nur dann verständlich, wenn sie als eine »vollkommene Einheit von Sinn« begriffen und sie der »Voraussetzung der Vollkommenheit« unterstellt würden.144 Gadamer, das ist nicht zu bestreiten, trägt in solchen Formulierungen noch am Ballast einer idealistischen Ästhetik. Auch wenn seine Hermeneutik nur am Rande als eine ästhetische Hermeneutik konzipiert ist, findet sich bei ihm eine deutliche Privilegierung des Kunstwerks, weil es Erfahrungsweisen vermittelt, die anders kaum zu haben sind. Es ist nicht ohne theoriegeschichtlich schwerwiegende Folgen geblieben, daß sich die Hermeneutik des 20. Jahrhunderts vorwiegend als eine ästhetische oder gar literaturwissenschaftliche etabliert hat. Bei Gadamer sind diese Folgen am sichtbarsten. Wenn er in Wahrheit und Methode den idealen Text nach dem Modell des klassischen Kunstwerks begreift, dann übernimmt er eine metaphysische Hypothek, die schwer abzutragen ist. Diese Prämisse wird von der Dekonstruktion nicht mehr - und von der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik kaum noch geteilt. Gegen die ästhetische Ideologie richten sich de Mans dekonstruierende Lektüren direkt; und Derrida straft sie durch weitgehende Mißachtung von ästhetisch-literarischen Texten.145 Solche Auffassungen werden in der aktuellen Hermeneutik-Diskussion kaum noch ernsthaft diskutiert. Sie stehen jedoch in Gefahr, mit einem anderem hermeneutischen Theorem verwechselt zu werden; und in dieser Verwechslung liegt manch eines der Mißverständnisse begründet, welche zur Hermeneutikkritik geführt haben. Auch dem liberalen Verstehenskonzept, wie es Gadamer zusehends deutlicher propagiert hat, liegt eine Grundannahme der >Kohärenz< voraus. Ohne die Annahme, daß Texte einen Sinn haben, ist hermeneutisches Verstehen nicht zu erlangen - das ist in der Tat eine der elementaren Annahmen des hermeneuti142

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Vgl. Beetz, Nachgeholte Hermeneutik, S. 596; vgl. Alexander, Hermeneutica Generalis, S. 31 f. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 277f. Ebd., S. 278. - Vgl. Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, S. 58f. Vgl. zusammenfassend Lange, Anläßlich erneut aufgebrochener Sehnsüchte nach einer Metaphysik der Kunst, S. 344.

164 sehen Verstehensbegriffs, die in der klassischen Formel vom >hermeneutischen Zirkel< ihren prägnantesten Ausdruck findet: Der Interpret »wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, wenn man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest.«146 Dieser Gedanke von der Vorstruktur des Verstehens ist elementar in der Geschichte der Hermeneutik seit ihren neuzeitlichen Anfängen verankert. Er scheint dem Metaphysikverdacht gegenüber der Hermeneutik Nahrung zu geben; tatsächlich aber zeigt sich gerade hier die Abkehr von der Metaphysik: Die Annahme einer >Kohärenz< ist eine heuristisch angenommene, keine metaphysisch unterstellte Voraussetzung des Verstehens, obwohl sie bei Gadamer eine starke Position einnimmt. Das Argument, daß zur Erkenntnis eine Unterstellung von Kohärenz notwendig sei, bedeutet etwas anderes als die Behauptung, eine solche Kohärenz sei real im Gegenstand angelegt. Diese enorm wichtige erkenntnistheoretische Unterscheidung hat eine lange Tradition; sie wurde entwickelt von Kant in der Kritik der Urteilskraft: Um die Komplexität der Natur auch dort erfassen zu können, wo sie sich nicht auf Naturgesetze reduzieren läßt, ist die Annahme einer »Zweckmäßigkeit der Natur« notwendig. Mit dieser Annahme wird nichts über die Wirklichkeit ausgesagt; sie ist ein »subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft«.147 Nach diesem Modell ist der hermeneutische >Vorgriff der Vollkommenheit gebildet: als Maxime der Erkenntnis, nicht als Aussage über die Wirklichkeit des Textes. In der direkten Konfrontation mit Gadamer hat Derrida seine Kritik an dieser >KohärenzGanzheit< denkt, denkt metaphysisch, so lautet der Vorwurf. Der Bezug zum »Ganzen des Seienden«, den Derrida mit Blick auf Heidegger herstellt, spielt in der »abendländischen Metaphysik selber eine organisierende Rolle«.149 Dagegen fordert Derrida, wieder in der exzessiven Auslegung eines beliebigen Nietzsche-Zitates, die entropische Entgrenzung des Textes, die auf Ganzheit verzichtet und statt dessen eine »entfesselte Metonymisierung ohne Rand und Band« fordert. IS0 Derridas Einwände betreffen kaum das eigentliche Hermeneutikkonzept, soweit es sich auf das Verstehen von Texten bezieht. Gadamer kann zu Recht feststellen, daß er und Derrida sich im zentralen Punkt einig seien, weil sie beide ein »metaphysisches Sinnreich, dem die Worte und die Wortbedeutungen zugeordnet sind, in den Vollzug aufzuheben bestrebt sind, den er als écriture bezeichnet«.151 Im Laufe der Entwicklung seiner hermeneutischen Position hat Gadamer den Aspekt der Verständigung immer stärker in den Vordergrund gerückt. Verstehen ist nach dem Modell des >Gesprächs< konzipiert; und das Gespräch zielt auf Verständigung. In direkter Antwort auf Derrida hat Gadamer aus gegebenem Anlaß 146 147 148 149 150 151

Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, S. 56. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 257. Vgl. Derrida, Guter Wille zur Macht (I), S. 57. Derrida, Guter Wille zur Macht (II), S. 74. Ebd., S. 76. Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion, S. 371.

165 und offensichtlich leicht verärgert die Prämisse jeder Verständigung hervorgehoben: »Wer den Mund aufhit, möchte verstanden werden«, und er hat an gleicher Stelle zu Recht darauf hingewiesen, daß diese Unterstellung wenig mit der »Epoche der Metaphysik« zu tun hat.152 Es fällt schwer, hinter dieser Aussage einen diktatorischen Gestus zu finden, mit dem Derrida »die Bedingungen des Diskurses von Gadamer sozusagen vorgeschrieben« wurden.153 Es ist nicht einmal ein genuin hermeneutischer Grundsatz, um den es hier geht, sondern einfach das von Grice fur die Alltagssprache formulierte »Cooperative Principle«.154 Über diese Prämisse des >Guten Willens< hat sich Derrida in seiner Antwort mokiert und sie als eine, wenn auch harmlose, Variante des >Willens zur Macht< ausgewiesen. Die Alternative zum Verständigungs- oder Kooperationsprinzip hat er andernorts selbst formuliert und in seinen Schriften stets praktiziert. Verständlichkeit ist keines seiner Anliegen: »C'est en ce sens queje me risque à ne rien-vouloir-dire qui puisse simplement s'entendre, qui soit simple affaire d'entendement.«155 Wiederum zieht Derrida damit eine radikale Konsequenz. Denn wenn auch der Metaphysik- und Unterwerfungsverdacht weit hergeholt ist, so beruht Gadamers hermeneutische Verständigungsmaxime doch auf einem Konzept, das mehr bedeutet als eine beliebige gesprächsethische Forderung. Der Wille zur Verständigung impliziert eine sehr weitreichende Voraussetzung über die Welt, in der sich diese Verständigung vollzieht. Gadamers Hermeneutik nimmt an, daß es so etwas gibt wie eine Kohärenz des Lebenszusammenhangs als Kontext, innerhalb dessen Verständigung möglich ist. Später hat Gadamer auch Husserls Begriff der >Lebenswelt< für diesen Zusammenhang verwendet.156 Hier trennen sich die Wege. In der aktuellen deutschen Hermeneutikdiskussion ist diese Annahme einer Lebenswelt elementar. Habermas hat dafür eine Formulierung gefunden, die besonders deutlich macht, wo der Stein des Anstoßes der dekonstruktionistischen Kritik liegt: Die »Lebenswelt« verleiht allen Verständigungsprozessen die »risikoabsorbierende Rückendeckung eines massiven Hintergrundkonsenses«.157 Genau diese konsensuelle Fundierung des Hermeneutikkonzeptes ist es, gegen die sich die dekonstruktionistische Kritik wendet. Sie hat wenig - genauer gesagt: nichts - mit Metaphysik zu tun, aber viel mit der Einsicht in soziale und historische Voraussetzungen des Verstehens. Diese Einsicht ist Derrida nicht ganz fremd. In verschiedenen verstreuten Bemerkungen, die sich freilich schwer in den Zusammenhang seines Denkens einfügen lassen, verweist er auf die Kontexte und Kontinuitäten, in denen jeder steht, der spricht oder auch nur denkt: »die Tatsache, eine Sprache zu sprechen«, stellt das Individuum in den Zusammenhang der Geschichte dieser Sprache, ihrer Zwänge und 152 155 154 155 156 157

Gadamer, Und dennoch: Macht des Guten Willens, S. 59. Behler, Derrida - Nietzsche/Nietzsche - Derrida, S. 155. Grice, Logic and Conversation, S. 57. Derrida, Positions, S. 24. Vgl. Gadamer, Die Vielfalt Europas, S. 21-23. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 85.

166 ihrer »spontanen Rhetorik«.158 Auch in der Debatte mit Searle findet sich eine ähnliche Bemerkung, die in ihrem unmittelbaren Kontext allerdings wenig Sinn ergibt: Derrida verweist auf Searles wie auf seine eigene Abhängigkeit »de toute la tradition plus ou moins anonyme, du code, de l'héritage, du réservoir d'arguments«. 159 Das sind hermeneutische Einsichten par excellence, ohne daß Derrida durch sie zum Hermeneutiker wird. Denn die entscheidende Differenz besteht wohl darin, daß Derrida die Hoffnung hegt, sich mit seinen dekonstruierenden Lektüren solchen Abhängigkeiten zumindest partiell und temporär entwinden zu können, während insbesondere Gadamer diese Traditionen nicht nur für unentrinnbar hält, sondern sie auch hermeneutisch fruchtbar zu machen versucht. Gadamer und Habermas setzen Kohärenz und Kontinuität des Lebenszusammenhanges voraus, die im Einzelfall immer befragt, diskutiert und kritisiert werden können - das ist das Konzept einer aufklärerischen Vernunft. Derrida hingegen bestreitet diese Kohärenz und setzt auf Diskontinuität. Im Verstehen und der Verständigung werden Kontexte und Zusammenhänge geschaffen, die nicht den Charakter eines Systems haben dürfen, sondern »eher diskontinuierliche Umstrukturierung« anvisieren sollen.140 Es geht um die Frage des >KontextesWeItGanzheit< bei Gadamer und der >Diskontinuität< bei Derrida markieren die elementare Differenz. Es geht am Ende nicht mehr um hermeneutische Konzepte, sondern um Weltentwürfe.

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Engelmann, Jacques Derrida Randgänge der Philosophie [Interview], S. 107. Derrida, Limited Inc., S. 75. Derrida, Guter Wille zur Macht (I), S. 57.

Sechstes Kapitel Hermeneutik und Geschichtsphilosophie: Politische Kontroversen im 20. Jahrhundert

Die Frage nach der Kohärenz von Lebenszusammenhängen ist kein hermeneutisches Spezialproblem. Hinter ihr verbirgt sich die politische Brisanz von Hermeneutik, denn dieser liegt stets ein Verständnis dessen voraus, was die geschichtliche Welt ist und wie sie verstanden werden kann. Daß die Kontroversen um das >Verstehen< in Auseinandersetzungen um Weltbilder münden und damit eine politische wie ethische Dimension gewinnen, liegt in der Logik der Hermeneutikgeschichte. Denn seit der Frühen Neuzeit hat die Hermeneutik ein politisches Profil. Ihre Verengung auf ein textexegetisches Verfahren, wie sie sich unter der Herrschaft der Philologie im 19. Jahrhundert vollzog, hat diese Tatsache lange verdeckt. Das Problem des Verstehens reicht aber hinter die Philosophie oder gar nur die Philologie zurück. Wo Uber Hermeneutik diskutiert wird, läßt sich Politik nicht ausschließen. Auch in den Kontroversen des späten 20. Jahrhunderts bewährt sich die Beobachtung, daß die Hermeneutik eine Krisenwissenschaft ist, die stets in Beziehung steht zu den politischen Konstellationen ihrer Zeit. Die Wiederentdeckung der politischen Dimension von Hermeneutik ist auf dem Umweg über ihre Neubegründung durch Heidegger erfolgt. Gadamer hat herausgearbeitet, daß erst durch Heidegger die Hermeneutik zu einer philosophischem wurde. Das Verstehen wird seitdem mit einem neuen Gewicht versehen; es ist weit mehr als eine technische oder philologische Operation: Das »Verstehen« sei nicht nur »eine Art des Erkennens, sondern primär ein Grundmoment des Existierens überhaupt«, hatte Heidegger behauptet.1 In dieser Form erhält es eine fundierende praktische Dimension, auf die Gadamer verweist: »das vollendete Verstehen stellt den Zustand einer neuen geistigen Freiheit dar.«2 Es ist eine signifikante Wende in der neueren Hermeneutikgeschichte, daß sie mit ihrer philosophischen Neubegründung durch Heidegger ungewollt eine geschichtsphilosophische Färbung erhielt - ungewollt deshalb, weil Heideggers >Fundamentalontologie< nichts ferner lag als Geschichtsphilosophie. Dennoch spiegeln die geschichtsphilosophischen Probleme in die hermeneutischen Positionsbestimmungen hinein, und daran hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert. Wenn die Hermeneutik mit Heidegger das Problem des Weltverstehens aufwirft, stellt sie zugleich die Frage nach der Stellung des Menschen zur Welt. Bei dem nur fragmentarisch überlieferten und deshalb legendenumwobenen >Davoser Streitgespräch< von 1929 trafen Ernst Cassirer und Martin Heidegger aufeinander, um ihre kontroversen Positionen der Kant-Deutung zu diskutieren. Die viel-

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Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 233. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 246.

168 beachtete Davoser Kontroverse berührte den Kern der philosophischen Diskussionen in der Weimarer Republik; von den Zeitgenossen wurde sie als ein Echo der Diskussionen zwischen Settembrini und Naphta in Thomas Manns fünf Jahre zuvor erschienenem Zauberberg verstanden.5 Weder Cassirer noch Heidegger verstehen sich als Hermeneutiker im traditionellen Sinn. Beide verwenden den Begriff kaum zur Kennzeichnung ihrer philosophischen Problematik; beide kommen aber darin überein, daß sie es mit dem Verstehen von Welt zu tun haben. Daß Cassirers Philosophie der symbolischen Formen in einer eminenten Weise mit dem Problem des Verstehens befaßt ist, wurde zwar wenig und schon gar nicht im Rahmen einer hermeneutischen Diskussion erörtert; daß es sich aber so verhält, darf nicht übersehen werden. Cassirer beschreibt die symbolischen Formern als die Formen, in denen dem Menschen allein Welt zugänglich wird, weil sie die Wirklichkeit konstituieren. Die Realität wird, ganz im Sinne von Kants Erkenntnistheorie, als deren Erbe sich Cassirers Kulturphilosophie versteht, in der Wahrnehmung formiert durch »geistige Funktionen«, die historisch gewachsen sind und innerhalb ihres Geltungsbereichs quasi-transzendentalen Status erhalten: »Durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die >Wirklichkeit< nennen [...]. Auf die Frage aber, was das absolut Wirkliche außerhalb dieser Gesamtheit der geistigen Funktionen« sein möge, gibt es keine Antwort mehr.4 Diese erkenntnistheoretische Aussage impliziert eine anthropologische. In den symbolischen Formen< bestimmt der Mensch sein Verhältnis zur Welt. Sie sind selbstgeschaffen, zugleich aber objektiv; »sie sind die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung um so fester mit ihr zu verbinden.«5 In den symbolischen Formern schafft sich der Mensch ein Kontinuum, in dem er seinen Ort sucht, um sich in ihm einzurichten, der aber zugleich seiner Verfügung unterliegt. Heidegger hat in dieser Konzeption ein Gegenmodell zu seiner eigenen Auffassung gesehen. Während die symbolischen Formern Medium der Weltkonstitution und vor allem der Weltaneignung sind, betont Heidegger die Unverfügbarkeit der Welt: »In der >Geworfenheit< liegt ein Ausgeliefertsein des Daseins an die Welt derart, daß ein solches In-der-Welt-sein von dem, woran es ausgeliefert ist, überwältigt wird«, schreibt er in einer Rezension von Cassirers Hauptwerk. 6 Dahinter verbirgt sich das hermeneutische Problem, das in der Kontroverse zwischen Gadamer und Derrida wieder auftritt: die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität, Kohärenz oder Inkohärenz der Lebenszusammenhänge, in denen Menschen stehen. Cassirers und Heideggers Fragestellungen sind grundsätzlich verschieden, ebenso wie ihr methodisches Vorgehen. Das liegt nicht zuletzt im unterschiedlichen Philosophieverständnis, das Heidegger deutlich herausgestellt hat: Er selbst 3

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Vgl. Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 220f.; Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, S. 293. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I, S. 48. Cassirer, Der Gegenstand der Kulturwissenschaft, S. 25. Heidegger, (Rez.) Emst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, S. 267.

169 betreibt >FundamentalontologieKulturanthropologie< umformuliert, die der geschichtlichen Wirklichkeit näher steht.7 Diese grundlegenden Unterschiede im Philosophieverständnis fuhren zu einer aufschlußreichen Differenz in der philosophischen Grundierung der Verstehensproblematik. Heidegger hat die Differenz hervorgehoben, welche für die spätere Hermeneutik- und Dekonstruktionsdiskussion als Leitfaden dienen kann. Tatsächlich sind in dieser Davoser Disputation die Kontroversen vorgezeichnet, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Krise des Rationalismus und »Dialektik der Aufklärung« wahrgenommen und in den Positionen der >Postmoderne< münden werden.' Denn die Davoser Kontroverse spitzte sich schnell auf die kantische Frage nach der Möglichkeit von Freiheit zu. Heidegger sieht die Freiheit als immer neu ansetzenden Akt der Befreiung: »Der einzige adäquate Bezug zur Freiheit im Menschen ist das Sich-Befreien der Freiheit im Menschen.« 9 Daraus ergeben sich Konsequenzen für das Philosophieren: Es komme darauf an, den Menschen in seiner Unbehaustheit zu zeigen. Der Philosoph habe die Aufgabe, »den Menschen gerade radikal der Angst auszuliefern« und ihn »zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals«.10 Gegenüber dieser Auffassung von Philosophie, die bald als >existentialistische< ihren Weg in Europa machen wird, exponiert Heidegger Cassirers Philosophieverständnis als konventionell:" Er verstehe Kultur und die Arbeit des Geistes als Sinnstiftung und als Überwindung der Kontingenz des menschlichen Daseins und nehme ihm damit die tragischen Dimensionen. Diese Vorwürfe konnte sich Cassirer in einer positiven Wendung ohne weiteres zu eigen machen; sie treffen in der Tat die Intention seines Philosophierens. Der Mensch versichert sich seiner Freiheit, »indem er sein Dasein in Form verwandelt«; er schafft sich seine Unendlichkeit und damit seine Freiheit durch die von »ihm selbst geschaffene geistige Welt.«12 Erst die Distanzierung von der »Wirklichkeit«, wie sie durch das Medium der »symbolischen Formern geschehe, sichere dem Menschen die Freiheit. Es geht ihm, lapidar gegen Heidegger formuliert, um die Befreiung von der »Angst als Befindlichkeit«.15 Die historische und biographische Vergegenwärtigung einer Konstellation, in der sich zwei Philosophen an einer Schlüsselstelle der deutschen und europäischen Geschichte gegenüberstehen, zeigt, daß Hermeneutik nicht nur eine Ange-

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Vgl. Paetzold, Emst Cassirer, S. 99f. Vgl. Aubenque, Le débat de 1929 entre Cassirer und Heidegger, S. 93; Paetzold, Emst Cassirer, S. 104f. - Zur Aktualität der Kontroverse vgl. auch Ferry/Renaut, La Pensée 68, S. 321-329. Davoser Disputation zwischen Emst Cassirer und Martin Heidegger, S. 285. Ebd., S. 286; S. 291. Cassirers eigener Beitrag zur Davoser Diskussion ist nur im Protokoll Joachim Ritters, des seinerzeitigen Cassirer-Assistenten, überliefert; zur Quellenlage Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, S. 293. Davoser Disputation zwischen Emst Cassirer und Martin Heidegger, S. 286. Ebd., S. 258.

170 legenheit theoretischer Diskussionen ist.14 Es werden Grundpositionen der modernen Hermeneutik gegeneinandergestellt: Während Heidegger die Endlichkeit des Menschen mit seiner Behauptung von der >Geworfenheit< postuliert, die alle Möglichkeiten der Daseinsgestaltung abschneidet, besteht Cassirer auf der Offenheit des menschlichen Denkens, Interpretierens und Handelns. Es kommt zu einer auffälligen Kontraposition: Der Philosoph mit dem revolutionären Habitus redet der Gebundenheit des Menschen das Wort, während der traditionsbewußte Cassirer die Offenheit statuiert. Daß Heideggers Philosophie - ob gewollt oder nicht - den zerstörerischen politischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts in die Hände arbeitet, wird für Cassirer später, nach den Erfahrungen des >Dritten ReichesGeworfenheit< zwinge die Menschen unter die historischen Bedingungen unserer Existenz, der sie nicht entkommen können. Cassirers Paraphrase von Heideggers Sein und Zeit - der dieser kaum zugestimmt hätte - arbeitet den politischen Kern von Heideggers Philosophie heraus. Eine in diesem Sinne kulturphilosophisch inspirierte Hermeneutik zeichnet sich dadurch aus, daß sie auf klar benennbare Kulturtraditionen bezogen ist. Habermas hat die Gegensätzlichkeit zwischen Heidegger und Cassirer auch in der biographischen Konstellation in diesem Sinne scharf hervorgehoben: »Cassirer repräsentierte die Welt, der auch Husserl zugehörte, gegen dessen großen Schüler; die gebildete Welt des europäischen Humanismus gegen einen auf die Ursprünglichkeit des Denkens sich berufenden Dezisionismus; dessen Radikalität griff der Goethe-Kultur in der Tat an die Wurzel.«21 Heidegger hingegen sucht den Bruch mit der Tradition. Er versteht seine Philosophie als revolutionär und inszeniert sich auch als Person gerade in der Kontroverse mit Cassirer als Revolutionär Cassirer hatte zwei Jahre später Heidegger in seinem Umgang mit der philosophischen Tradition und speziell mit Kant als »Usurpator, der gleichsam mit Waffengewalt in das Kantische System eindringt«, bezeichnet.22 Seine Philosophie sei ein Bruch mit Konventionen jeder Art: nicht nur mit denen des Denkens, sondern ebenso mit denen der philosophischen Terminologie, vor allem aber mit den Konventionen des akademischen Lebens. Seine enorme Wirkung verdankt Heidegger nicht zuletzt seiner antibürgerlichen Selbstinszenierung, die bis in die Kleidungsgewohnheiten reichte. Tatsächlich scheinen die zeitgenössischen Beobachter des Davoser Treffens dem >Habitus< der Kontrahenten einige Aufmerksamkeit gewidmet zu haben: »Auf Heideggers merkwürdige Erscheinung waren wir ausdrücklich vorbereitet worden; seine Ablehnung jeder gesellschaftlichen

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Cassirer, Der Mythus des Staates, S. 383. - Zu diesem politischen Kontext der Kontroverse vgl. die klare Darstellung bei Wuchterl, Streitgespräche und Kontroversen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, S. 163-189. Habermas, Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen, S. 52. Cassirer, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 17. - Vgl. Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, S. 83-88.

172 Konvention war uns bekannt«.23 Heidegger hat auf der Provinzialität seines Denkens bestanden, welche die Kehrseite seines revolutionären Habitus ausmachte; anläßlich der Ablehnung eines Rufes von Freiburg nach Berlin hob er die Verwurzelung seines Denkens im bäuerlichen Milieu hervor.24 Diese Wunderlichkeiten sind weder belangloses Attribut noch bloße Marotte. Wie Heideggers Sprachstil gehören sie zum Habitus eines Philosophen, der mit seinem - von einem Marburger Schneider gefertigten und von den Zeitgenossen sorgfaltig vermerkten - »existenziellen Anzug« seine eigene Stellung im »philosophischen Feld« in jeder, eben nicht nur in denkerischer Hinsicht, klar zu definieren versucht.25 Daß sich der Revolutionär 1933 schließlich auf der Seite jener wiederfand, die, selbst nicht ohne revolutionären Anspruch, die völlige Konformität des Denkens und Handelns erzwangen, ist mehr als nur ein Mißgeschick und bezeugt mehr als nur die Affinität von Heideggers Philosophie zum Totalitarismus. Heideggers Rektoratszeit, das Skandalen der deutschen Philosophie im 20. Jahrhundert, sagt etwas aus über den Charakter geistiger Revolutionen. Der Versuch, die geistige Kontinuität zu sprengen und sich selbst vor das Nichts zu stellen, fuhrt in den Abgrund - ganz wie es Heidegger gewollt hat. Nur war der Abgrund nicht nur ein existentieller, sondern ein historischer, aber genau diese reale historische Dimension hatte Heidegger in Sein und Zeit abgeschnitten, indem er aus der >Geschichte< die >Zeit< macht. Obwohl er wie kein anderer vor ihm die Vorstruktur des Verstehens und - über einige gedankliche Vermittlungen - seine >Zeitlichkeit< ins Bewußtsein gerückt hat, führten diese Bemühungen zur Auslöschung alles Geschichtlichen: Er zielt auf die radikale Selbstbesinnung eines Daseins, das alle Geschichtlichkeit und Zufälligkeit abstreift. Es gehört zu den Eigenarten des philosophischen Denkens, daß sich diese Elimination der historischen Wirklichkeit aus der >Existenz< des Menschen als besonders anfallig für politischen Opportunismus erwiesen hat. Daß Heidegger sich als der einzige deutsche Philosoph von Rang nach 1933 zumindest eine Zeitlang dem Nationalsozialismus verschrieben hatte, ist nicht eine bloße Verquickung unglücklicher äußerer Umstände gewesen. Wie tief nicht nur die persönliche, sondern auch die sachliche Affinität zwischen Heideggers Philosophie und den kruden, im Kern philosophiefeindlichen Ideologemen des Nationalsozialismus gewesen ist,26 bleibt umstritten, wenn auch gute Gründe für eine solche Affinität vorliegen. Daß der »Geistfetischismus« mit seiner Verachtung des sozialen und soziologischen Denkens, den Heidegger mit der deutschen Professorenschaft trotz einer bewußt gepflegten Außenseiterstellung teilte, eine Annäherung an den 25

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Cassirer, Mein Leben mit Emst Cassirer, S. 182. Toni Cassirer datiert das Davoser Treffen irrtümlich auf 1928; vgl. ebd., S. 181; Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, S. 300f. Vgl. Heidegger, Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?, S. 218. Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, S. 98f.; vgl. auch den Kontext S. 97-111. Die nationalsozialistische Hochschulpolitik gegenüber dem Fach Philosophie lief eher auf die »Abschaffung des Spezialfachs zugunsten einer offiziellen >We!tanschauungBürger< zukommt:" Es geht nicht nur um Verstehen, sondern um ein Handeln, das sich vom Verstehen anleiten läßt. Gadamer hebt damit die ethische Dimension der >applicatio< hervor: Jedes Wissen ist nur dann sittlich relevant, wenn es auf die konkrete Situation beziehbar ist.56 Die Hermeneutik, ursprünglich als eine Grundlegung der Geisteswissenschaften konzipiert, nimmt immer weitere Problemkreise in sich auf. Nach Wahrheit und Methode wurde endgültig das »Problem der Hermeneutik als das einer allgemeinen Theorie der Geschichtlichkeit, der Faktizität, der Lebenswelt und des Dialogs aufgefaßt«.57 In der Würdigung dieser praktischen Dimension kommt Gadamer mit seinen Kritikern überein; sie bewegt das gleiche Motiv, die Hermeneutik als eine praktische Philosophie in Anspruch zu nehmen. So bescheinigt Habermas Gadamer schon früh und in anderer Sprache, daß dessen »eigentliche Leistung« in dem Nachweis liege, »daß hermeneutisches Verstehen transzendental notwendig auf die Artikulierung eines handlungsorientierten Selbstverständnisses bezogen ist.«58 Auf unauffällige Weise bringt Gadamer schon vor Habermas und vor der Etablierung einer >kritischen Hermeneutik< eine Dimension hermeneutischen - und geisteswissenschaftlichen - Denkens zur Geltung, die als >Ideologiekritik< in Mißkredit geraten ist, die aber nichts anderes wollte, als die lebenspraktischen Bezüge von Geisteswissenschaft in deren Grundlegung und Selbstverständnis aufzunehmen. Gadamer lieferte einen entscheidenden Beitrag zur geschichtsphilosophischen Fundierung der Hermeneutik, weil er es mit der bloßen Interpretation der Überlieferung nicht sein Bewenden haben lassen wollte. Sein Beharren darauf, daß die Tradition ihre eigene Autorität habe, aus der sich Wertmaßstäbe - eben die Wahrheit der Geisteswissenschaften - gewinnen ließen, eröffnet der Hermeneutikdiskussion eine neue Problemstellung und löst sie aus einer bloßen Methodendiskussion heraus. Was bei Gadamer gegenwartskritisch, wenn auch vielleicht aus konservativer Perspektive, gedacht war, fuhrt bald zu Kontroversen, in

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Gadamer, Sprache und Verstehen, S. 192. Gadamer, Wahrheit in den Geisteswissenschaften, S. 40. Vgl. Gadamer, Hermeneutik als praktische Philosophie, S. 82-84. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 296. Grondin, Zur Komposition von »Wahrheit und Methode«, S. 13. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 275.

178 denen der geschichtsphilosophische - und das heißt immer: politische - Gehalt der Hermeneutik zur Diskussion stand. Die Gegenposition vertrat zunächst Jürgen Habermas. Die Frontstellung ergibt sich aus der unterschiedlichen Herkunft der Fragestellung. Während sich Gadamer von einer philosophischen Hermeneutik der Geisteswissenschaften zur Politik hinbewegt, nähert sich Habermas der Hermeneutik von einem sozialwissenschaftlichen Ausgangspunkt. Das mündet in einer direkten Auseinandersetzung zwischen Gadamer und Habermas, deren Schärfe vor allem in den unterschiedlichen Akzentuierungen besteht, während sich - was erst mühsam herausgearbeitet werden mußte - die Kontrahenten in ihrem Hermeneutikverständnis sehr nahe stehen. Im Zentrum der Diskussion steht die Frage nach dem Verhältnis der Hermeneutik zur Tradition. In der Sache besteht kein grundsätzlicher Dissens. Die eine fundamentale Einsicht der Hermeneutik wird hier wie dort anerkannt: Jedes Auslegen von Wirklichkeit steht in Kontinuitäten, die nicht übergangen werden können. Gadamer hat einen fundamentalen Grundsatz des Verstehens - nicht nur der Hermeneutik - ins Bewußtsein gerufen. Wo Kontinuitäten wie bei Gadamer unter dem Titel der >Autorität< und des >Vorurteils< auftreten, bedürfen sie einer einläßlichen Diskussion. Auch Habermas rüttelt nicht an der hermeneutischen Grundlage, daß jedes Verstehen auf Vorerwartungen bezogen sein muß. Wie Gadamer sieht er Verstehen gebunden an »konkrete Vorverständigungen, die letztlich auf Sozialisation, auf die Einübung in gemeinsame Traditionszusammenhänge« zurückgehen;55 der Interpret kann den »offenen Horizont der eigenen Lebenspraxis nicht einfach überspringen und den Traditionszusammenhang, durch den seine Subjektivität gebildet ist, nicht schlicht suspendieren«.60 Diese Thematisierung der Endlichkeit ist ureigenes Terrain der Hermeneutik. In der Theoriegeschichte der Hermeneutik wurde die Frage nach der Gebundenheit des Denkens in Traditions- und andere soziale Zusammenhänge immer wieder gestellt. Daß diese Gebundenheit besteht und daß sie grundsätzlich unaufhebbar ist, bleibt eine der unbestrittenen Einsichten der Hermeneutik aller Richtungen. Gadamer und Habermas unterscheiden sich am Ende nur in Nuancen, die durch die unterschiedliche Terminologie und die verschiedenen Traditionszusammenhänge ihres Denkens markiert werden. Der indirekte Konsens kommt nicht von ungefähr. Er ergibt sich daraus, daß beiden Konzeptionen der gleiche Fluchtpunkt zugrunde liegt: Gadamer wie Habermas zielen auf den Praxisbezug der Hermeneutik. Das Problem der gesellschaftlichen Wirkung stellt sich in der Hermeneutik Gadamers nicht grundsätzlich anders als bei Habermas. Verstehen ist immer schon als ein kulturell geformtes und auf Wirkung angelegtes konzipiert; und das gilt erst recht fur Habermas, der keine Hermeneutik, sondern eine Kommunikationstheorie entwickelt hat. Aus dieser selbstverständlich vorausgesetzten soziokulturellen Einbindung des Verstehens ergibt sich der Rahmen, in dem es sich vollzieht. Es ist immer der Rahmen einer universal gedachten abend59 60

Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, S. 152. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 227f.

179 ländischen Vernunft, die konservativ oder progressiv ausgedeutet werden kann, die aber stets als Vermögen der Selbstbehauptung des Menschen in der Welt gedacht wird. Vernunft ist praxisbezogen - das ist der Leitsatz der modernen Hermeneutik, die sich der Herausforderung durch die reale Geschichte stellt. Die Stellung der Interpretation zur Tradition ist eine der Kardinalfragen von Gadamers Erörterungen, auf die er eine klare Antwort gegeben hat." Sie bekundet nicht unbedingt ein gegenaufklärerisches, aber doch ein aufklärungsskeptisches Programm, in dem er sich mit den maßgeblichen Tendenzen der westdeutschen Nachkriegsphilosophie trifft, die wiederum den Anschluß suchen an die philosophischen Diskussionen der Weimarer Republik. Der vermeintlichen Maßlosigkeit aufklärerischer Kritik wird die Forderung entgegengestellt, in der geisteswissenschaftlichen Forschung der »eigenen Endlichkeit und geschichtlichen Bedingtheit beständig eingedenk zu bleiben und der Selbstapotheose der Aufklärung zu widerstehen.«62 Die Dimension praktischen Handelns erschließt sich in der Kritik der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Bei Gadamer bringt sie sich zunächst als Aufklärungskritik - und nicht als kritische Aufklärung - zur Geltung. Denn Aufklärung wird fìir Gadamer zu einer Chiffre für die moderne Gesellschaft, deren Wurzeln im 18. Jahrhundert liegen. Gadamer macht »den Interessendruck der Wirtschaft und der Gesellschaft« als jene Mächte namhaft, die im »Massenzeitalter« die Geisteswissenschaften in eine prekäre Lage versetzen.63 Er versteht das »Massenzeitalter« offensichtlich als Erbe der Aufklärung. Die von ihr hervorgebrachte moderne Welt droht jene Positionen der Humanität zu vernichten, welche in der Tradition aufbewahrt werden. Den Geisteswissenschaften kommt die Aufgabe der Bewahrung zu; sie schärfen den Blick für die »Beharrungskräfte des gelebten Lebens«.64 Das Insistieren auf diesen Beharrungskräften einer Kultur im emphatischen Sinne nimmt ein Grundmotiv der >Dialektik der Aufklärung< auf: »All die Probleme der gesellschaftlichen und humanen Verantwortung der Wissenschaft, die wir seit Hiroshima so dringend in unserem Gewissen tragen, haben darin ihre Schärfe, daß es eine Folge der methodischen Konsequenz der modernen Wissenschaft ist, nicht imstande zu sein, die Zwecke, zu denen ihre Erkenntnisse angewendet werden, so zu beherrschen, wie sie die Sachzusammenhänge selber beherrscht.«65 Dieses Motiv der Rationalismuskritik ist nicht neu. Daß »Weltentfremdung« das Kennzeichen ebenso wie das Problem neuzeitlicher Wissenschaft sei, wurde schon von Husserls toms-Schrift - wieder unter dem Eindruck des Nationalsozialismus - formuliert, und Heideggers Technik-Kritik greift das Motiv seit 1935 auf eigene Weise auf.66 Die cartesianische Aufklärung mit ihren Folgen steht generell unter dem Verdacht, mit der Tradition radikal brechen zu wollen und da61 62 63 64

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Vgl. Figal, Vollzugssinn und Faktizität, S. 41f. Gadamer, Wahrheit in den Geisteswissenschaften, S. 42. Ebd., S. 41. Gadamer, Die Zukunft der europäischen Geisteswissenschaften, S. 61. - Vgl. Brenner, Potemkinsche Dörfer, S. 1084f. Gadamer, Sprache und Verstehen, S. 193f. Vgl. Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, S. 78-94.

180 mit den Faden abzuschneiden, auf den »unsere alltägliche Lebenswelt« in ihrer Endlichkeit verwiesen ist.67 Ob dieser Verdacht historisch gerechtfertigt ist, kann dahingestellt bleiben; aber er bleibt eines der Grundmotive des philosophischen Denkens im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Auch Cassirer hat sich, belehrt durch die Erfahrungen seines Jahrhunderts wie seiner eigenen Biographie, der Einsicht in die Dialektik der Aufklärung nicht verschließen wollen: »Wissenschaftliche Erkenntnis und technische Beherrschung der Natur gewinnen täglich neue und beispiellose Siege. Im praktischen und sozialen Leben des Menschen hingegen scheint die Niederlage des rationalen Denkens vollständig und unwiderruflich zu sein.«68 Der Vorwurf des revolutionären Traditionsbruchs durch eine rationalistische und geschichtsfeindliche Aufklärung hat eine weitere Komponente. Er impliziert die Konsequenz, daß die Aufklärung eine Welt nach ihren eigenen Prämissen schaffen wolle - kurz: den Totalitarismusverdacht. Die Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf gegen die Aufklärung hatte in den fünfziger Jahren Konjunktur. Die Dialektik der Aufklärung hat das Thema angeschlagen und eine Rettung der Aufklärung gegen ihre eigenen Folgen versucht. Die spätere Geschichtsphilosophie hingegen sieht die Aufklärung skeptischer. Der Verdacht steht im Raum, daß die permanente aufklärerische Kritik mit ihrem moralischen Absolutheitsanspruch zur >Krise< der Lebenswirklichkeit fuhren müsse: »Die Denkbarkeit und Wiinschbarkeit des immer rechthabenden Allgemeinwillens einmal als existent gesetzt, erzwingt den Terror und die Ideologie: die Waffen der Diktatur, um die eigentliche Wirklichkeit, die sich störend aufdrängt, zu korrigieren.«6® Diese im Blick auf Rousseau formulierte Ausgangssituation, durch die cartesianische Aufklärung ebenso wie durch ihren Gegenspieler Rousseau und schließlich speziell durch die Französische Revolution geprägt, ragt ins 20. Jahrhundert hinein. Die Revolution wird zum Trauma, welches das geschichtsphilosophische und politische Denken des 20. Jahrhunderts beunruhigt. Die Angst vor dem >Weltbürgerkrieg< als einer Spätfolge der Aufklärung erhält durch die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts neue Nahrung - wobei es merkwürdigerweise zunächst die Erfahrungen der Nachkriegszeit und nicht die des Zweiten Weltkrieges und der Diktaturen sind, welche das philosophische Denken beeindrucken. Die philosophische Verarbeitung des >Dritten Reiches< als der neuen Barbarei blieb der Dialektik der Aufklärung und der >Kritischen Theorie< vorbehalten, die in der Nachkriegszeit kaum mehr als eine Außenseiterposition innehatte. Das eigentliche politische Problem der Philosophie war hingegen die Erfahrung des Kalten Krieges; nur durch ihn wird das Revolutions- und Bürgerkriegstrauma der Nachkriegsphilosophie in Westdeutschland erklärbar. Seit die Dekonstruktion sich an diesen Debatten beteiligt, haben sie eine neue Schärfe gewonnen. Die Vernunftzentrierung des hermeneutischen Denkens und 67

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Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 49 - Vgl. dazu Arendt, Vita activa, S. 244-252. Cassirer, Der Mythus des Staates, S. 8. - Vgl. Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, S. 114-122. Koselleck, Kritik und Krise, S. 140.

181 die damit implizierte Geschichtsphilosophie ist zum Hauptangriffspunkt der dekonstruktionistischen Auseinandersetzung mit der Hermeneutik geworden. Die Probleme der philosophischen Hermeneutik werden durch ihr Eingreifen wieder deutlicher als Probleme der Gesellschaft erkennbar. Derrida hat sich zum Wortführer einer Auffassung gemacht, welche die metaphysischen Implikationen dieser hermeneutischen Geschichtsphilosophie dekonstruieren will. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei wieder die Frage nach dem richtigen Verständnis von Heideggers Rolle im »Dritten ReichVerschiebung< werden, in der sich die politischen Linien verwischen. Hinter Derridas überelaborierten und angesichts der historischen und biographischen Sachverhalte abwegigen Dekonstruktionen verbergen sich vertraute Argumentationsmuster, die Derrida in den Anmerkungen versteckt. Hier zeigt er, daß die Dekonstruktion das Erbe einer spezifischen Form der Rationalismuskritik der Moderne angetreten hat. Diese Form der Rationalismus- und Technikkritik, wie sie um die Jahrhundertwende entstanden ist und die sich bis zum Ende des Jahrhunderts hat behaupten können, ist in ihrem politischen Selbstverständnis schwer einzuordnen. Derrida nutzt diese Kritik jedenfalls im Sinne einer Selbstkritik abendländischer Kultur. Er beschreibt sie, das ist nicht neu, als eine eurozentrische, Differenzen setzende Kultur. Ihre Berufung auf den Geist »joue un rôle majeur et organisateur dans la téléologie transcendentale de la raison comme humanisme européocentrique.«75 Im Blick auf die Jahre 1933/34 spielt Derrida Heidegger gegen Husserl aus. Derrida unternimmt einen gefährlichen Balanceakt im Blick auf die Opfer des Nationalsozialismus, zu denen auch Husserl gehörte: »il ne faut pas oublier ce que certaines >victimes< ont écrit et pensé. Et toujours au nom de l'esprit.« 74 Er exemplifiziert diese Seite des >Geistcartesianischer< bezeichnen ließe: Zum europäischen Menschentum, so stellte er fest, gehören nicht die »Eskimos oder Indianer der Jahrmarktsmenagerien oder die Zigeuner, die dauernd in Europa herumvagabundieren.« 75 Es ist aber eine Verzeichnung der geistigen Sachlage, wenn Derrida Husserl diese Aussagen vorhält und gleichzeitig unterstellt, Heidegger sei aufgrund seiner Kritik an der abendländischen Metaphysik gegen solche Auffassungen gefeit gewesen.76 Es ist 75 74 75 76

Derrida, De l'esprit, S. 75. Ebd., S. 76. Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums, S. 318f. Um allen dekonstruktiven Mißverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, daß von Heidegger eine ganze Reihe entsprechender Äußerungen überliefert sind seine Mitarbeit am >Dritten Reich< beschränkte sich nicht nur auf seine von Derrida analysierte Rektoratsrede, sondern er hat weitere und klarere Reden gehalten und vor allem in internen Briefen und Gutachten etliche rassistische Argumente vorgebracht, die weniger rassistisch als opportunistisch motiviert waren; sie dienten im wesentlichen dazu, seine Stellung im Machtgefüge der nationalsozialistischen Hochschulpolitik zu festigen. Vgl. Leaman, Heidegger im Kontext, S. 115-120. Eine Dokumentati-

183 zu fragen, ob Husserl in seiner Wiener Rede Derrida nicht näher steht, als er wahrzunehmen bereit ist. Gewiß bedient Husserl sich einer zeittypischen, keineswegs Nationalsozialismus-spezifischen Terminologie, die heute Anstoß erregen mag. Faktisch aber redet er einem Historismus Herderscher Prägung das Wort; ähnlich wie Herder sieht er letzten Endes im europäischen Menschentum das Telos, auf das sich die Geschichte hinbewegen wird.77 Während sich Derridas Versuch einer Rehabilitation Heideggers auf dem Feld der Geschichtsphilosophie vollzieht, führt sein Involvement in einen anderen Skandal der Zeitgeschichte auf das Feld der Literaturwissenschaft. Der Anlaß dazu war die Entdeckung, daß mit Paul de Man einer der profiliertesten Vertreter dekonstruktionistischen Denkens in den USA Mitarbeiter nationalsozialistisch okkupierter Zeitschriften im besetzten Belgien gewesen war. Seitdem gehören diese biographisch-politischen Konstellationen in der Vita de Mans ebenso zur Methodengeschichte der Literaturwissenschaft wie Heideggers Affinität zum Nationalsozialismus Teil der philosophischen Ideengeschichte geworden ist. Sie lassen sich daraus nicht durch die Wunschvorstellung entfernen, daß es zwischen diesen Texten und de Mans Literaturtheorie keine Beziehung bestünde78 - als ob Wissenschaft immun sei gegen die Verführungen des Zeitgeistes. Auch wenn vielleicht kein direkter Weg von den frühen Schriften de Mans zu seiner späteren Theorie führt, wie in der Polemik gelegentlich unterstellt wurde, so besteht doch eine offensichtliche Affinität zwischen diesen Positionen, die in der biographischen Kontinuität der Person de Mans vielleicht nur zufällig zutage tritt.7' De Man veröffentlichte rund 170 meist literaturkritische Artikel in der französischsprachigen belgischen Tageszeitung Le Soir, die nach der Besetzung von den deutschen Behörden übernommen worden war. In der flämischsprachigen Zeitschrift Het Flaamsche Land, die ebenfalls unter deutscher Aufsicht stand, publizierte er 1942 zehn Aufsätze. 1987, vier Jahre nach de Mans Tod, wurden diese Arbeiten wiederentdeckt.80 Sie haben dem Verdacht Nahrung gegeben, daß die Dekonstruktion nicht nur im Zwielicht des Konservativismus, sondern auch in dem des Faschismus stehe. Maßgeblich dafür war der Artikel in Le Soir vom 4. März 1941 Les Juifs dans la Littérature actuelle. De Man erörtert den Einfluß von Juden auf die Literatur seit 1920. Er stellt fast, daß die europäische Kultur trotz der jüdischen »Einmischung« - »ingérance« - gesund und intakt geblieben sei; und er schlägt vor, zur »solution de problème« eine jüdische Kolonie außerhalb Eu-

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on findet sich in: Martin Heidegger und das >Dritte ReichSprache im Nationalsozialismus< ist nach dem Krieg Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen, die von divergierenden Theorieansätzen ausgingen und zu entsprechenden Kontroversen geführt haben. Die früheren linguistischen Annäherungsversuche an das Thema bekunden einige Unsicherheit über den Status der Sprache. Sie folgen einerseits der Humboldtschen Tradition, daß »das menschliche Denken und Fühlen von der Sprache selbst gebildet und geformt werden können«,92 schrecken aber andererseits doch vor der notwendigen Konsequenz zurück, die eine Entlastung des Sprechers bedeuten würde: »Wörter sind nicht unschuldig, können es nicht sein« heißt es einerseits, aber andererseits wird auch festgestellt: »die Schuld der Sprecher

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de Man, Allegories of Reading, S. 158. de Man, The Resistance to Theory, S. 10. Vgl. Derrida, Mémoires, S. lOOf. de Man, Allegories of Reading, S. 206. Miller, The Ethics of Reading, S. 55. Hirsch, The Deconstruction of Literature, S. 113. Vgl. ebd., S. 97-117. Beming, Vom »Abstammungsnachweis« zum »Zuchtwart«, S. 4.

186 wächst der Sprache selber zu, fleischt sich ihr gleichsam ein.«93 Die Affinität zu Heideggers philosophischer Auffassung, nach der die Sprache spricht, ist ebenso offensichtlich wie die politische Implikation dieser linguistischen Theorie: Aus der Schuld der Sprache läßt sich auf die Unschuld der Sprechenden schließen. Spätere Arbeiten, die von einem handlungs- und kommunikationsorientierten Analyseansatz ausgingen, haben die These wieder umgekehrt, indem sie die Sprechenden nicht nur verantwortlich für ihre Sprache machten, sondern die Frage stellten, wie die Umformung von Sprache zur Voraussetzung von Handeln wurde.94 Diese Fragen wirken in der Debatte um Paul de Man nach. In ihr wurden die politischen Fronten geklärt, und es zeigte sich dabei, daß es hermeneutische Fronten sind. Erst in diesen Kontroversen, und nicht in der alltäglichen Kollaboration de Mans, hat sich die politische Brisanz der Dekonstruktion aufgehellt. Es ist keine Brisanz der politischen Positionen, sondern eine des Verfahrens. Die Auseinandersetzungen kulminieren in der großangelegten Verteidigung de Mans durch Derrida. Derrida wendet sein >Lektüreeinerseits< und >andererseits< lesen: Einerseits enthalten sie gewisse Affinitäten zu nationalsozialistischem Gedankengut, die Derrida sogar stärker hervorhebt, als die Texte selbst es notwendig machen; andererseits findet Derrida in jedem dieser Artikel Anhaltspunkte dafür, daß de Man »rejette tous les conformismes de l'époque.« 9S Selbst sein stereotyper Antisemitismus erscheint in dieser Deutung gerade wegen seiner Stereotypie als »technique classique de la contrebande«.96 Daß es sich bei Derridas Umdeutung einer eindeutigen - wenn auch vielleicht nur opportunistischen - rassistischen Äußerung zu einem Akt des verborgenen Widerstandes um ein »perverse reading« handelt, ist zu Recht beanstandet worden.97 Der Dekonstruktionist zeigt sich hier nicht von seiner inspiriertesten Seite. Wenn Derrida sich kurz zuvor noch selbst bescheinigte, daß seine Interviews »in ihrer Struktur und in ihrer Strategie äußerst raffiniert angelegt« seien,' 8 so gilt das sicher nicht für diese Apologie. Für die Hermeneutikdiskussion von Interesse sind indes weniger die inhaltlichen Ausführungen als die methodischen Prämissen und das argumentative Verfahren Derridas. Wenn Derrida sich mit einer konkreten Situation konfrontiert sieht, wendet er ein anderes Verfahren der Textinterpretation an als in den handlungsentlasteten philosophischen Schriften. Die Standardtheorie der Dekonstruk93 94 95 96

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Stemberger/Storz/Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, S. 10. Vgl. Ehlich, »..., LTI, LQI,...«, S. 13. Derrida, Mémoires, S. 194. Ebd., S. 198. - Zur kritischen Auseinandersetzung mit Derridas Argumentation vgl. Morrison, The Poetics of Fascism, S. 129-132; S. 141-143. Holub, Crossing Borders, S. 160; vgl. auch Faye, Le siècle des idéologies, S. 108f. Derrida, Positionen, S. 23 (das Gespräch mit Peter Engelmann von 1986 ist in der frz. Ausgabe nicht enthalten).

187 tion gerät dort ins Wanken, wo sie sich mit der historischen Realität auseinandersetzt. Die Verteidigungsposition, in die Derrida unversehens geraten ist, hat ihn zu methodischen Konzessionen veranlaßt, die er theoretisch nicht rechtfertigen könnte: Er bezieht eine Position, die in einem sehr traditionellen Sinne >hermeneutisch< ist. Es geht Derrida am Ende um die >Wahrheitguten Willem der Interpreten verlassen muß: Die Rekonstruktion von de Mans Verhalten während des Krieges erfordert »des travaux patients, prudents, minutieux et difficiles.« Das sind die Tugenden des Philologen; wer sie versäumt, verhält sich »injuste, abusive et irresponsable«.99 Gadamer hätte die Prinzipien des Verstehens kaum anders formulieren können. Wenn Derrida philologische und moralische Redlichkeit im Umgang mit de Mans Texten und seiner Person fordert, ist dies nicht anderes als ein Plädoyer für jenen >guten Willem Gadamers, den Derrida sieben Jahre zuvor so ironisch zurückgewiesen hatte. Tatsächlich besteht der Text über Paul de Man zu einem guten Teil daraus, seinen meist ungenannten Gegnern eben diesen guten Willen abzusprechen. Zugleich fordert er die Einordnung von de Mans Besatzungsschriften in ihre Kontexte. Verstehen könne de Man nur, wer die zeitgeschichtlichen und biographischen Zusammenhänge berücksichtige. Zur Verteidigung de Mans zieht Derrida weitere Zeugnisse heran, die am Ende nichts anderes sind als Leumundszeugnisse über seinen Charakter; erst gegen Ende verlieren sich seine Ausführungen wieder im dekonstruktionistischen Raunen. In diesem Text erweist sich eindrucksvoll die Unhintergehbarkeit von Hermeneutik. Derrida demonstriert, daß es eben doch etwas gibt außer Texten: eine historische oder biographische Wirklichkeit, die einen anderen Status hat als der Text selbst, um den es geht: »Nous avons devant nous beaucoup de travail pour savoir ce qui s'est passé effectivement, non seulement dans le tissue politique, idéologique de la Belgique de cette époque mais ensuite dans la vie de Paul de Man.«100 Diese Wirklichkeit steht zum Text im Verhältnis als Kontext, sie ist insoweit deutlich von ihm unterschieden und muß als erläuternder Zusammenhang herangezogen werden, wenn die Texte selbst kein einstimmiges Bild für ihren Interpreten ergeben. In seiner Argumentation unterstellt Derrida eine Kohärenz von Text und Kontext - in diesem Fall von Text und Autor - ; nur so ist es sinnvoll, daß er danach fragt, »dans quelles conditions il a écrit cela« und es als Einwand betrachtet, daß er »aucun propos analogue ou identique à celui-là« gefunden habe.101 Von der Hermeneutik des Bruchs und der Diskontinuität ist nicht mehr viel übrig geblieben. Wenn der Dekonstruktion gerne zugute gehalten wird, daß sie keine »Ausflüchte in historische, biographische oder kulturelle Kontex-

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Derrida, Mémoires, S. 154; ähnliches stellt Morrison fur Millers Verteidigung de Mans fest; vgl. Morrison, The Poetics of Fascism, S. 132. Derrida, Mémoires, S. 205. Ebd., S. 200.

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te« mache,102 so zeigt sich die Unhaltbarkeit dieser antihermeneutischen Position dort, wo es politisch ernst wird. Daß die Dekonstruktion in die >Lektüre< von literarischen oder philosophischen Texten eine gewisse methodische und argumentative Unscharfe eingebracht hat, ist ihr als Verdienst angerechnet worden. Es handelt sich um eine extremistische Überbietung jener Neigung zur spekulativen Willkür, die in der philosophischen und literarischen Hermeneutik immer schon angelegt war. Zum Problem ist diese Überbietung erst geworden, nachdem sich die >LektüreBedeutung< von Äußerungen preisgibt, hat Stanley M. Fish gezogen. Er geht dabei von Prämissen des >reader-response-criticism< aus, die starke Analogien zur deutschen Rezeptionsästhetik aufweisen, die aber in ihrer Konsequenz zur Standardauffassung der Dekonstruktion neigen. Einer Auffassung, die glaubt, von einer im Text angelegten Bedeutung zu einer sicheren Interpretation vordringen zu können, stellt Fish das entgegen, was er seine >antiformalistische< Position nennt. Sie beruht auf der Universalität der Rhetorik: »we live in a rhetorical world.«105 Die Entscheidung über die Bedeutung von Aussagen fällt nicht aufgrund von rationalen Argumenten, die einen direkten Schluß auf die Intention zulassen; sie ist immer Resultat eines interpretierenden Vorgangs, in dessen Verlauf durch Rhetorik Überzeugungen etabliert werden. Sie sind abhängig von Zufällen der aktuellen Situation und können keinen Geltungsanspruch erheben, der darüber hinaus reicht. Im Grundsatz folgt Fish der Dekonstruktion: Es gibt keine identifizierbare Bedeutung von Texten, die durch Lektüre oder durch Interpretation zu ermitteln wäre. Fishs Prämissen führen zu Konsequenzen, die nicht nur die Literatur betreffen. Wenn Aussagen nicht mehr rational zu begründen sind, sondern sie ihre Geltung nur aus den zufälligen Umständen ihrer Entstehung und Rezeption beziehen, dann hat das Folgen überall dort, wo in Sprache gefaßte Regeln oder Gesetze wirksam sind, im Rechtswesen und der Politik also. Fish zitiert die ängstliche Frage seiner Gegenspieler: »Does might make right? In a sense the answer I must give is yes, since in the absence of a perspectice independent of interpretation some interpretive perspective will always rule by virtue of having won out over its competitors.«104 Die Kontingenzabhängigkeit von Aussagen jeder Art spielt in die politische Diskussion hinüber; ganz unversehens und auf einem großen Umweg kommt Fish mit seinen postmodernistischen Überlegungen zu einem Gemeinplatz der modernen Wissenschaftstheorie: Mit theoretischer Reflexion läßt sich keine politische Praxis begründen - »theory goes nowhere«.105 Es ist nicht zu übersehen, daß hier klassische Positionen des modernen Denkens in einer linguistisch begründeten Wendung neu aufgelegt werden. Bereits Max Weber hatte 102

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Lange, Anläßlich emeut aufgebrochener Sehnsüchte nach einer Metaphysik der Kunst, S. 345. Fish, Introduction: Going Down the Anti-Formalist Road, S. 25. Ebd., S. 10. Ebd., S. 27.

189 festgestellt, daß >Werte< nicht mit den Mitteln rationaler Wissenschaft zu begründen seien und damit den >Werturteilsstreit< in der deutschen Soziologie eingeleitet; der >Kritische Rationalismus< ist ihm hierin gefolgt.106 Die Fälle de Man und Heidegger sind das experimentum crucis für die politische Leistungsfähigkeit der Dekonstruktion, nicht zuletzt deshalb, weil Derrida als der Urvater dieses Verfahrens sich der historisch-politischen Herausforderung stellt. Es entstehen Fronten, die aus dem akademischen Bereich weit hinausreichen. Die Auseinandersetzungen haben auf beiden Seiten einen fundamentalistischen Ton angenommen, der von jeder Interpretation eines Textes die Entscheidung fordert zwischen Humanität oder Barbarei. Der angelsächsischen Theorieund Politiktradition mit einem liberalen Selbstverständnis wird eine autoritäre und antihumanistische >franko-preußische< Tradition entgegenstellt, deren Erben die Dekonstruktionisten seien. Den Gipfelpunkt dieser Vorwürfe gegen das Eindringen des westeuropäischen und speziell des deutschen Geistes in das amerikanische Bildungssystem stellt Allan Blooms Philippika über The Closing of the American Mind dar: »Überspanntes deutsches philosophisches Gerede fasziniert uns und tritt an die Stelle der Diskussion wirklich ernsthafter Dinge.«107 Nietzsche vor allem und neben ihm Max Weber - das ist neu - sowie Sigmund Freud werden verantwortlich gemacht für den Verfall des Wertbewußtseins.108 Diese Diskussion zeigt den großen Einfluß dekonstruktionistischen Denkens auch auf seine Gegner. Wo die argumentativen Standards von Stringenz und Plausibilität dem freien Assoziieren Platz gemacht haben, gibt es kein Argument mehr, das nicht erlaubt wäre - bis hin zu der Formulierung, Hitler sei ein >hermeneutist< gewesen, wodurch Umkehrschlüsse nahegelegt werden.10® Eagleton hat den Mißstand benannt: »Wenn es keine Metasprache gibt, um die Angemessenheit von Sprache und Gegenstand zu beurteilen, was hält mich dann noch davor zurück, einen Gegenstand frei nach Lust und Laune zu konstruieren?«110 In der amerikanischen Diskussion ist auch die deutsche Rezeptionsästhetik ganz unversehens in den Sog der Dekonstruktionskritik geraten - bis hin zum Totalitarismus-Vorwurf, der genährt wurde durch de Mans Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Jauß' Aufsätzen. Obwohl de Man die dekonstruktionistische >Poetik< deutlich von der rezeptionsästhetischen >Hermeneutik< abgesetzt hat, 1 " ist die theoretische Differenz zwischen den Ansätzen dem Klima der politischen Verdächtigungen zum Opfer gefallen. Auch Jauß ist schließlich zum Objekt einer politischen Kritik geworden. Nachdem 1988 seine Mitgliedschaft in

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Vgl. Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 151; Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 503; Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 599; Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 62-67. Bloom, Der Niedergang des amerikanischen Geistes, S. 502f. Vgl. ebd., S. 179-200. Der entsprechende Vorwurf gegen Nietzsche ist schon älter; vgl. Steilberg, Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 bis 1950, S. Vllf. Vgl. Hirsch, The Deconstruction of Literature, S. 151. Eagleton, Ideologie, S. 236. Vgl. de Man, Introduction, S. ix.

190 der SS-Division Charlemagne bekannt geworden war," 2 wurde der Vorwurf totalitaristischen Denkens auf die Rezeptionsästhetik projiziert. Die in der Rezeptionsästhetik fundamental wirksame hermeneutische Grundeinsicht von der >Standortgebundenheit< des Verstehens wird gedeutet als eine Aufgabe wissenschaftlicher Objektivität zugunsten einer Überbewertung der »subjectivité priviligée«, wie sie der Nationalsozialismus im Einklang mit Heidegger propagiert und damit jeder Objektivität von Wissenschaft ein Ende bereitet habe." 3 Gegen diese vermeintliche Beliebigkeit - von der die Rezeptionsästhetik tatsächlich sehr weit entfernt ist - wird dann eine Traditionsgebundenheit des geistesgeschichtlichen Denkens gestellt, die der Literaturwissenschaft wieder ihre objektiven und humanistischen Fundamente sichern könne. Kronzeuge dieser Position ist Emst Robert Curtius mit seiner Beschwörung der Kontinuität abendländischen Geisteslebens." 4 Das Argument ist weit hergeholt, aber dennoch nicht ohne Bedeutung. Es greift einen Topos der Diskussion auf, die der wertezerstörenden Dekonstruktion die Besinnung auf die Autorität abendländischer Kulturtraditionen entgegenstellt. Der Literatur ebenso wie der Literaturwissenschaft kommt in diesem Argumentationsmodell eine zentrale Rolle zu. Hirsch spielt gegen den Wertverfall etwa den »gentle, constructive humanism« eines Matthew Arnold aus, der von den franco-teutonischen Tendenzen aus der Literaturwissenschaft vertrieben worden sei." 5 Die Ironie der Theoriegeschichte will es, daß Allan Bloom gegen diese Tendenzen eine Auffassung stellt, die analog ist zu der des Heidegger-Schülers Gadamer, wenn er fordert, daß Texte nicht in beliebige >Interpretationen< aufgelöst werden dürfen. Der Interpret muß vielmehr auf das hören, was »diese Texte uns zu sagen haben.«" 6 Diese politischen Auseinandersetzungen sind philosophisch allerdings weder besonders tiefgreifend noch weiterführend gewesen, da sie über das bloße Behaupten von Positionen kaum hinauskommen. Es ist aber auffällig, daß dabei die Literatur und die Literaturwissenschaft eine zentrale Rolle spielen. In einem ganz traditionellen Sinne werden literarische Werke wieder als unverdächtige Zeugen bewährter Werte herangezogen. Daß freilich bei aller Schätzung der Literatur eine solche Wertzuweisung kaum noch möglich ist, hat Harold Bloom deutlich gemacht. Im gleichen Zug, in dem er den Western Canon verteidigte, hat er alle Versuche zurückgewiesen, aus literarischen Werken Wertbesetzungen herauszufiltern: »The West's greatest writers are subversive of all values, both ours and their own.«" 7 In der transatlantischen Kontroverse nimmt

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Vgl. Hirsch, The Deconstruction of Literature, S. 11 If.; S. 145f. Richards, La conscience européenne chez Curtius et chez ses détracteurs, S. 282. Vgl. ebd., S. 286. - Curtius' eigene Stellung zum >Dritten Reich< ist von Neriich scharf kommentiert worden; außer dem manifesten Anti-Kommunismus Curtius' brachte er aber keine stichhaltigen Argumente; vgl. Neriich, Romanistik und AntiKommunismus, S. 284-290; auf besserer Quellenbasis kommt Hausmann zu dem differenzierteren Befund, daß Curtius - wie die meisten anderen deutschen Romanisten auch - »sich dem Regime verweigert und nur die allernotwendigsten Konzessionen« gemacht habe; vgl. Hausmann, »Aus dem Reich der seelischen Hungersnot«, S. VII. Hirsch, The Deconstruction of Literature, S. 95. Bloom, Der Niedergang des amerikanischen Geistes, S. 502. Bloom, The Westem Canon, S. 29.

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Harold Bloom damit eine eigenartige Position ein: Seine Herkunft von den dekonstruktionistischen >Yale CriticsVerschiebungen< der Dekonstruktion. Damit steht er nicht allein. Die sehr traditionelle Vorstellung, daß sich gerade in der Literatur letzte Fixpunkte des Denkens und des Handelns finden lassen könnten, kehrt, oft ungewollt, immer wieder. In einer Harold Bloom gewidmeten Studie hat Miller eine >Ethik des Lesens< aus dem Geist der Dekonstruktion zu begründen versucht: Sie sucht die Werte des literarischen - oder philosophischen - Werkes nicht mehr in seinen Inhalten, sondern im Akt des Lesens. Im Lesen gibt der Leser dem Text eine Antwort, die einerseits nicht in seinem Belieben steht - im Sinne von »>I must< or Ich kann nicht anders«.'" Diese Antwort ist den unaufhebbaren Zwängen der Sprache unterworfen; der Leser versichert sich aber andererseits seiner Freiheit, indem er selbst die Verantwortung fur die Folgen seines Lesens übernimmt - dessen politischen, gesellschaftlichen, institutionellen, historischen Wirkungen." 9 Das Lesen von Texten und das Schreiben über sie ist nicht eine bloße Wiederholung ihrer Bedeutung, sondern eine Reaktion auf sie - es schafft »its own new region of meaning«.120 Der Leser gewinnt seine Freiheit daraus, daß er sich gegenüber den ideologischen Aussagen von Texten behauptet. Er muß nicht >blind< wiederholen, was der Text sagt, sondern er kann - gut dekonstruktionistisch - im Text selbst Anhaltspunkte finden, die dessen eigene Aussage unterlaufen und ihm somit eine Freiheit der Entscheidung geben, wie er die Texte lesen und was er mit ihnen anfangen will.121 Miller gibt damit eine dekonstruktionistische Re-Formulierung jener Positionen, die von Sartre bis zur Rezeptionsästhetik vorformuliert waren. Aufmerksamkeit verdient diese ebenso aufwendige wie künstliche Argumentation wegen des Kontextes, in dem sie steht: Sie ist der ausdrückliche Versuch, den gegen de Man gerichteten Vorwurf des >Nihilismus< und der Zerstörung humanistischer Werte zu entkräften.122 Der Versuch der Grundlegung einer dekonstruktionistischen >Ethik des Lesens< bekundet die Absicht, der Dekonstruktion jene letzten Werte zu retten, die sie preisgegeben hatte. Miller hat diesen Gedanken in Einzelstudien weiter ausgebaut. Er entwirft ein Gegenprogramm zu einer Sprachauffassung, die er - vielleicht etwas verkürzt - Heidegger vorwirft. Heidegger neige zur Ontologisierung seiner deutschen Mutter-Sprache; er kennt nur wörtliche Bedeutungen und verkennt die grundlegende Rhetorizität von Sprache - auch die seiner eigenen. Heideggers Konzept einer Sprache, die selbst spricht, 118

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Miller, The Ethics of Reading, S. 4. Vgl. ebd., S. 43; vgl. dazu Eagleton, Der Dekonstruktivismus und die Menschenrechte, S. 154. - Millers Buch erschien 1987, in dem Jahr, in dem de Mans Arbeiten aus der Kriegszeit bekannt wurden; seine Studien gehen aber auf Vorlesungen in Irvine von 1985 zurück. Miller, Topographies, S. 289. Vgl. ebd., S. 21 If. Vgl. Miller, The Ethics of Reading, S. 42. Eher skeptisch zum kritischen Potential von de Mans >LektilreHumanismus< neue Brisanz verliehen. Eine in den sechziger Jahren formulierte Grundposition des französischen Denkens sieht sich damit vor einer ernsthaften Herausforderung. Seit Heideggers Brief über den Humanismus von 1946 war das Problem virulent geworden. In der Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit stand die Zukunft des Humanismus im Zentrum der philosophischen und politischen Diskussionen. Eine bahnbrechende Antwort hatte Sartre 1946 mit seiner programmatischen Schrift L'existentialisme est un humanisme gegeben. Darin formulierte er den radikalen Leitsatz seiner Existenzphilosophie: »l'existence précède l'essence«.124 Der Mensch muß sich selbst machen, weil er sich nicht auf die Traditionen verlassen kann. Der damit implizierten politischen Perspektive des Engagements tritt Heidegger direkt entgegen, ohne aber die Tradition zu rehabilitieren.125 Auch er geht davon aus, daß der Humanismus in seiner traditionellen Gestalt die »eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren« habe.126 Sie bewähre sich nicht in den sittlichen Bindungen und auch nicht im Handeln; sie bewähre sich in einem »Denken«, das den »Bezug des Seins zum Wesen des Menschen« vollbringt.127 In einer Überbietung der konventionellen Bestimmungen wird das eigentlich Humane am Menschen von Heidegger neu gefaßt: Der Mensch, postuliert er, ist der »Hirt des Seins«,128 der sich in der Sprache als dem »Haus des Seins« eingerichtet hat. 12 ' In der späteren französischen Rezeption haben freilich nicht diese für Heidegger sehr spezifischen Umformulierungen des Humanismus gewirkt als vielmehr der Metaphysik-Vorwurf, den er gegen alle Formen des überlieferten Humanismus erhob. Metaphysik ist das »notwendige Verhängnis des Abendlandes«,130 weil sie das >Sein< zum verdinglichten >Seienden< uminterpretiert und dem Nihilismus mit seinen rationalistischen Folgeerscheinungen den Weg bahnt. Damit ist der schärfste Einwand erhoben, der Heidegger zur Verfügung steht. Aus ihm wird, mit nachhaltigen Folgen für die postmoderne Philosophiegeschichte, eine umfassende Kulturkritik abgeleitet. Die Humanismuskritik als Metaphysikkritik wurde im französischen Denken seit den sechziger Jahren in verschiedenen Versionen aufgegriffen; in der Regel konzentrieren sie sich auf die These vom Verschwinden des Subjekts. Sie ist kei123 124 125

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Miller, Topographies, S. 231; vgl. auch S. 218-229; S. 293. Sartre, L'existentialisme est un humanisme, S. 17. Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, S. 328f.; Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 420. Heidegger, Brief über den Humanismus, S. 330. Ebd., S. 313. - Vgl. Grassi, Einführung in philosophische Probleme des Humanismus, S. 17f. Heidegger, Brief über den Humanismus, S. 331 Ebd., S. 333. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 69.

193 ne Errungenschaft der Postmoderne. Das Verschwinden des Subjekts wurde vielmehr schon als Konsequenz des strukturalistischen Denkens beobachtet. In der Nachfolge und in Überbietung der strukturalistischen Auflösung des Subjekts hat Foucault die Behauptung vom Verschwinden des Menschen als Ergebnis seiner genealogischen Forschungen aufgestellt. In einem Interview hat er mit Blick auf Les mots et les choses die Traditionslinien seiner Humanismus-Kritik benannt: Er beruft sich gleichermaßen auf Nietzsche wie auf die literarische Moderne: auf Mallarmé, Robbe-Grillet, Borges, Blanchot, und er setzt sich ausdrücklich von dem Humanismus eines Teilhard, Camus und Sartre ab.131 Les mots et les choses endet mit der berühmten Prophezeiung, »que l'homme s'effacerait, comme à la limite de la mer un visage de sable.«132 Foucaults Untersuchungen fuhren ihn zu den verdeckten Prämissen des >MenschenHumanismus< als einer unausgewiesenen Utopie und damit zur Destruktion des >MenschenVerschiebungen< gibt. Er will in der Nachfolge Nietzsches, Freuds und Heideggers »le privilège absolu de cette forme ou de cette époque de la présence« in Frage stellen. Dem Bewußtsein soll das Privileg der Präsenz genommen werden: »On en vient donc à poser la présence - et singulièrement la conscience, l'être auprès de soi de la conscience - non plus comme la forme matricielle absolue de l'être mais comme une >détemiination< et comme un >efTetSubjekt< in jene lange Reihe von metaphysischen Unterstellungen eingegliedert, die das Abendland hervorgebracht habe.143 Diese Dekonstruktion des Subjekts hat Folgen. Sie sind bereits in Derridas Behandlung der politischen Fälle Heidegger und de Man ablesbar. Die ein halbes Jahrhundert nach den fraglichen Vorfallen aufgebrochene Diskussion hat sich weniger mit den Ereignissen selbst als vielmehr mit ihrer verborgenen Wirkungsgeschichte beschäftigt. Sowohl bei Heidegger wie bei de Man lag die eigentliche Brisanz im Umgang mit ihrer eigenen Biographie. Das Verschweigen wurde zum Skandalen, weniger das Reden und das Handeln in der konkreten historischen Situation. Derrida hat Heideggers Schweigen nach dem Krieg ausdrücklich gerechtfertigt. Es erscheint ihm nicht als moralisch verwerflich, sondern wird philosophisch aufgewertet: »Heideggers furchtbares Schweigen« wird einer möglichen Antwort Heideggers gegenübergestellt, die unterhalb »der Höhe

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Vgl. Gadamer, Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz, S. 143f. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 15f. Vgl. Gadamer, Die Unfähigkeit zum Gespräch, S. 214. Betti, Allgemeine Auslegungslehre, S. 755. Derrida, la différence, S. 17; vgl. auch Derrida, La voix et le phénomène, S. 92f. Vgl. Derrida, L'écriture et la différence, S. 411.

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dessen« hätte bleiben müssen, was er schon alles gedacht hat. Die Mythisierung des Schweigens in der dekonstruktiven Betrachtung dieser historisch-biographischen Phänomene läßt leicht übersehen, daß Schweigen im politischen Raum immer auch Verschweigen ist. Der philosophischen Rehabilitation des Vergessens in der Dekonstruktion ist eine politische in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorausgegangen; und es hat einigen Aufwandes bedurft, »die historische, politische und moralische Relevanz des Gedächtnisses wiederzuentdekken.«145 In einer Auffassung von Subjekt und Geschichte, die keine Kontinuität und keine Identität mehr kennt, wird das Verschweigen in seiner Bedeutung als Politikum verdrängt und als Gegenbewegung gegen die abendländische Philosophie dekonstruktionistisch geadelt. Denn während das abendländische Denken seinen Wahrheitsbegriff auf der Basis des Gedächtnisses definiert hatte,146 erhält jetzt das >Vergessen< einen philosophischen Status, wofür Nietzsche mit seiner Warnung vor einem handlungslähmenden Übermaß an Geschichte den Boden bereitet hatte.147 Die Dekonstruktion siedelt sich in der Lücke zwischen den traditionellen humanistischen Idealen und der historischen Wirklichkeit an und versucht, beides zu hintergehen.148 Das Verfahren permanenter >différance< will die Dichotomie unterlaufen, statt sie aufzuheben. Es fordert nicht die Einlösung der Ansprüche des abendländischen Humanismus; es will auch nicht zeigen, daß diese Ansprüche in einem historisch-sozialen Sinne uneinlösbar sind - das wäre die Ambition einer Ideologiekritik aus der Marxschen Tradition, der sich Derrida freilich immer stärker annähert.149 In seinem Aufsatz les fins de l'homme hat Derrida seine Argumentation im Blick auf das Humanismus-Problem konkretisiert. Es geht ihm um eine Überbietung von Heideggers Humanismus-Kritik aus der Logik des >différanceEigenenécriture< ausdrücklich als ein >Spiel< begriff, das er dem Ernst der abendländischen Metaphysik entgegenstellte.166 Problematisch wurde diese Philosophieauffassung im Zuge jener Entwicklung, in deren Verlauf die Dekonstruktion immer stärker in die politische Diskussion einbezogen wurde. Im politischen Kontext ist die Position der Dekonstruktion lange Zeit schwer zu bestimmen gewesen. Die Unverbindlichkeit der Aussage läßt die Möglichkeit beliebiger Folgerungen zu: konservative Optionen167 sind in ihr gleichermaßen angelegt wie die gegenläufigen, die Derridas Selbstverständnis eher entsprochen haben mögen. Miller hat Derridas Denken gegen die Vorwürfe verteidigt, die im Zuge der de-Man-Kontroverse gegen ihn und die Dekonstruktion überhaupt erhoben worden waren. Seine Technik der >Lektüre< führe zu einer Freisetzung von Kräften in der Sprache, die es erlaubten, Geschichte zu machen - und jene Ideen zu schaffen oder freizulegen, »that are essential to the movement toward the democracy to come.« 16 ' In diesem Sinne finden die »ethnischen, nationalen, klassen- und geschlechtsspezifischen Befreiungsbewegungen« der letzten Jahrzehnte in der Dekonstruktion einen Bündnispartner, der die humanistischen Werte der abendländischen Zivilisation als ethnozentrisch entlarvt und zugleich die Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit konstatiert. 16 ' Die Dekonstruktion geht freilich über eine bloße Entlarvung dieser Diskrepanz in einer ideologiekritischen Tradition hinaus; sie verbindet sie mit der Dekonstruktion des zentralen dieser Ideale: dem >Ich< oder dem >SubjektHumanismus< suchen, sondern sich auch im bisher ungekannten Maße um Nachvollziehbarkeit bemühen: »Or, ce discours de la tradition moderne, nous avons nous-mêmes à en répondre.«175 Er betont - oder behauptet - in einer aufschlußreichen Abgrenzung von Stanley Fish, was zuvor nicht recht offensichtlich war: Daß die Dekonstruktion seit je darauf angelegt gewesen sei, »changer des choses et intervenir de façon efficiente et responsable«.176 Das spezielle Interesse des gebürtigen Algeriers Derrida galt schon früh der Unterdrückung der ethnischen Minderheiten. Wenn er sich mit dem Rassismus der Apartheid-Politik in Südafrika auseinandersetzt, dann folgt er zunächst der Logik seiner Heidegger-Apologie, indem er diese Apartheid-Politik als Appendix - oder Konsequenz - des abendländischen Humanismus begreift. Die südafrikanische Apartheid sei der Preis, den die europäischen Staaten fìir die Beseitigung oder eigentlich nur Verschleierung ihrer innereuropäischen Widersprüche zahlen müsse: »le discours habituel sur l'homme, l'humanisme, et les droits de l'homme a rencontré sa limite effective et encore impensée, celle de tout le système dans lequel il prend sens«.177 Derridas Argumentation folgt dem Denkmodell der Dialektik der Aufklärung, welche nicht nur die Diskrepanz zwischen den Idealen des Humanismus und der historischen Realität aufzeigt, sondern auch die immanente Notwendigkeit dieser Diskrepanz zeigen will. In den Überlegungen zur Apartheid zeigte sich aber, daß die geistigen Mittel der Dekonstruktion eine stumpfe Waffe im Kampf um Minderheitenrechte sind: »Die alte, viel geschändete Kategorie der Menschenwürde, der Menschenrechte und der Gleichheit aller Menschen wäre wohl nach wie vor das bessere Kampfmittel gewesen.«178 Obwohl sich Derrida gegen diese Kritik heftig verwahrt hat, zollt er zunehmend stärker der Einsicht seinen Tribut, daß politisches Denken nicht ohne die regulativen Ideen des abendländischen Humanismus auskommt. In dieser Entwicklung läßt sich Spectres de Marx von 1993 als ein Wendepunkt markieren, der freilich schon vorbereitet worden war. Bereits 1987 hatte Derrida in einem Interview seine Stellung zu dem, was er >Metaphysik< nennt, vorsichtig neu bestimmt: »I've never said nor thought that the metaphysics of presence was an >evilthe evilgood< outside the metaphysics of presence, which defines >the 171 174 175 176 177 178

Vgl. Derrida, Mémoires, S. 157; S. 222f. Derrida, Positions, S. 129. Derrida, L'autre cap, S. 32. Derrida, Force de loi, S. 932. Derrida, Le demier mot du racisme, S. 361. Frank, Politische Aspekte des neufranzösischen Denkens, S. 133.

200 bestLektüre< löst. Inspiriert wurde sie offensichtlich von den aktuellen weltpolitischen Ereignissen, dem Niedergang des Sowjet-Marxismus, der Wiederauferstehung eines neoliberalistischen Weltbildes amerikanischer Prägung und schließlich der deutschen >Wiedervereinigungdifférance< bekommt ein Ziel; sie verweist auf eine historische Zukunft mit messianischen Zügen. 18 ' Die Dekonstruktion ist dem Kommen dessen, was kommt, nicht mehr fremd. 190 Der Inhalt dieses »promesse messianique« ist leicht benennbar; es ist »émancipatoire«191 und knüpft damit an die Tradition des Marxschen Denkens an. Die geschichtsphilosophische Wendung Derridas ist aufgegriffen, zugleich aber auch wieder mystisch verdunkelt worden. Sie wurde verstanden als eine Rückwendung zu »ethischer Verantwortung«, welche die Verpflichtung auferlegt, die »>Projektion< einer erlösten Welt [...] innerhalb der bestehenden zu verwirklichen«.192 Allerdings trägt sie mit ihrer Beschwörung des Messianischen metaphysische Züge, die sie wieder von der politischen Praxis zu entfernen drohen. Die Dekonstruktion wird zur Vorgeschichte einer neuen spekulativen Geschichtsphilosophie. Sie eröffnet eine Heterogenität und ermöglicht »l'efraction même de ce qui déferle«.193 Derrida erweckt in dieser Argumentation den Eindruck, als sei er der eigenen Dekonstruktion überdrüssig geworden und zeichnet einen Bereich aus, der sich der Dekonstruktion entzieht: »l'indéconstructible justice«.194

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Derrida, Spectres de Marx, S. 167. Derrida, L'écriture et la différence, S. 428. - Vgl. auch Derrida, De la grammatologie, S. 14. Derrida, Spectres de Marx, S. 140. Genau diese Vorstellung entwickelt, allerdings ohne geschichtsphilosophischen Optimismus, der erklärte Postmoderne-Kritiker Eagleton; vgl. Eagleton, Die Illusionen der Postmoderne, S. 68. Vgl. Derrida, Spectres de Marx, S. 56; S. 266f. Vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 126. Cornell, Vom Leuchtturm her, S. 84; S. 93. Ebd., S. 63. Derrida, Spectres de Marx, S. 56; vgl. auch S. 102.

202 Zum Fluchtpunkt wird der Begriff der >GerechtigkeitLektüre< vom bloßen positiven >Recht< abtrennt.19S >Gerechtigkeit< ist im Unterschied zum positiven >Recht< undekonstruierbar; und sie ist der Impuls, aus dem die Dekonstruktion ihre Kraft beziehen will. Auch wenn diese Neuauflage des Gerechtigkeitsbegriffs einige dekonstruktionistische Merkwürdigkeiten aufweist - »et la déconstruction est folle de cette justice-là. Folle de ce désir de justice«" 6 - , so ist sie doch kaum anders zu verstehen denn als eine Rückkehr zu Grundprinzipien abendländischen Denkens. Sie belebt Gedanken wieder, die zum genuinen Bestand des metaphysischen Humanismus gehören. Das rückt die politische Position Derridas in die Nähe zur liberal-humanistischen Tradition, die der Dekonstruktion ihr Eigentliches zu entziehen und ihren Reiz zu nehmen droht. Die Versuche, die Dekonstruktion gegen diese neue Affinität zur Tradition zu retten, haben etwas Bemühtes;197 sie können nicht verdecken, daß Derrida selbst wieder konventionelle Wege des politischen Denkens beschritten hat. In anderen Schriften aus dieser Zeit sucht Derrida selbst aber die unmittelbare Nähe zur konkreten Politik. Er profiliert sich als Verteidiger der europäischen Idee der Demokratie, die freilich nicht der »autorité de la raison« unterworfen sein dürfe, sondern als »structure de la promesse« begriffen werden müsse.198 Ganz konventionell wird schließlich sein Plädoyer für eine kosmopolitische Asylpolitik, die angesichts der Flüchtlingsproblematik notwendig werde. Jetzt beruft er sich auf die Tradition der Stoa, des Christentums und der Aufklärung - »cet esprit des Lumières dont nous nous réclamons«. 19 ' Die Leitbegriffe der Dekonstruktion und der >différance< verschwinden fast völlig aus diesem Argumentationsmodell. Diese Schriften Derridas aus den neunziger Jahren lassen sich kaum anders verstehen denn als eine Kapitulation der Dekonstruktion vor der politischen Realität. Die neue, politisch konkretisierte Idee einer »nouvelle éthique«200 impliziert eine Rehabilitation des Subjekts. Derrida spart das Thema in Spectres de Marx wohl bewußt aus, denn seine Erörterung würde zu einer allzu offenkundigen Revision seiner jahrzehntelang vertretenen Position fuhren. Dennoch hat er diese Revision unauffällig vorgenommen: Er rehabilitiert die im Zusammenhang mit der Heidegger-Apologie dekonstruierten Begriffe der >Verantwortung< und des >Gedächtnissesdifférance< tritt der alte humanistische Begriff der »responsabilité«, der den Essay

195

196 1,7 198 199 200 201

Vgl. Derrida, Force de loi, S. 928; S. 954/956; Haverkamp, Kritik der Gewalt und die Möglichkeit von Gerechtigkeit, S. 27f. Derrida, Force de loi, S. 964. Vgl. etwa Menke, Für eine Politik der Dekonstruktion, S. 284f. Derrida, L'autre cap, S. 76f. Derrida, Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!, S. 50; vgl. auch S. 30; S. 47. Ebd., S. 16. Derrida, Force de loi, S. 954.

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über L 'autre cap durchzieht und den er in seiner Heidegger-Apologie noch ausdrücklich verworfen hatte. Der Begriff der Verantwortung fuhrt zurück zur traditionellen Subjektphilosophie, die rehabilitiert werden muß, weil nur mit ihr politisches Handeln begründbar ist. Auf einem langen Umweg kehrt die Dekonstruktion wieder zum abendländischen Humanismus zurück. Der Vorwurf des Anti-Humanismus hat sich damit erledigt, freilich um den Preis der Aufgabe jener Prinzipien, die die Dekonstruktion so reizvoll machten. Drei Jahrzehnte lang hat Derrida demonstriert, daß jede beliebige Idee dekonstruierbar ist. Daß er jetzt die Wendung zurück macht zu den traditionellen Werten des abendländischen Humanismus, liegt nicht in der Konsequenz dekonstruktionistischen Denkens. Am Ende scheint auch Derrida zu der Einsicht gekommen zu sein, daß das unendliche negative Spiel der Verschiebungen unfruchtbar ist. Das Spiel ist aus, wenn es ernst wird - wenn das Denken in den Bereich des Politischen tritt. Derrida zollt damit der hermeneutischen Einsicht seinen Tribut, daß zumindest im politischen Feld die dekonstruierende Rhetorik des Bruchs und des Fragments gegenüber der Kontinuität der Lebensformen und der humanistischen Tradition zurücktreten muß.

202

Derrida, L'autre cap, S. 43.

Siebtes Kapitel Abweichung und Überschreitung: Politische Optionen postmoderner Ästhetik

Die Dekonstruktion hat sich zumindest in ihrer Konzeptionsphase als eine fundamentalkritische Bewegung verstanden, die jenseits aller politischen Positionen eine wirklich radikale Kritik der Prämissen der abendländischen Gesellschaft, ihrer Traditionen, Denkformen und Kulturauffassung, anstrebte - wenn es auch auffällig bleibt, daß eine direkte Auseinandersetzung mit politischen Themen kaum einmal im Zentrum stand. Diese Intention auf politische Intervention erscheint in den Formulierungen Derridas in der Form einer Dekonstruktion abendländischer >Metaphysikpostmodernen< Denkens gehört.1 Lyotard hat hierzu die populär gewordenen Leitgedanken formuliert. Seine Condition postmoderne ist definiert durch das Verschwinden der »grand récit«2 - eine poetische Metapher für den Totalitätsanspruch dessen, was bei Derrida abendländische Metaphysik< heißt, womit die >Vernunft< gemeint ist. In seiner Programmschrift über die Condition postmoderne hat sich Lyotard wenig Gedanken gemacht über die Gründe für diese Entwicklung zum >Totalitarismusgroße Erzählung< dekonstruiert werden können. Die zentralen Denker der postmodernen Diskussion - Derrida, Lyotard und Foucault - haben ein sehr unterschiedliches Theoriearsenal zur Bewältigung dieses Problems entwickelt. Einigkeit besteht aber darüber, daß die traditionelle, der Aufklärung entstammende Form der >Kritik< unzureichend sei - sie bleibe dem verhaftet, was sie kritisiert und sie schaffe in Gestalt der Aufklärung nur

2

Es ist üblich geworden, den Sammelbegriff >Postmodeme< zu meiden, da >eigentlich< die damit gemeinten französischen Philosophen kaum auf einen - geschweige denn diesen - Nenner zu bringen seien. (Eine Zusammenfassung der Argumente findet sich etwa bei Butler, Kontingente Grundlagen, S. 32-36.) Sachlich ist das sicher richtig, der Einwand gilt aber für jede andere Sammelbezeichnung philosophischer Strömungen auch. Die folgenden Ausführungen zielen darauf, jenseits der Differenzierungen, auf die die einzelnen Philosophen so großen Wert legen, Gemeinsamkeiten in den politischen Voraussetzungen und Implikationen herauszuarbeiten und verwenden deshalb den Begriff weiterhin. Lyotard, La condition postmoderne, S. 7.

206 wieder eine neue und besonders totalitäre Form abendländischer Metaphysik. Lyotard hat die Abwendung von der aufklärerischen Idee der Kritik programmatisch formuliert: »c'est sur l'idée de fonction critique et sur son abandon [...] que je mettrais l'accent«. 3 Gegen die Kritik auch in ihrer marxistischen Version wendet er ein, daß sie immer selektiv verfahren muß. Sie muß sich auf klar abgegrenzte Objekte beziehen, denen sie ihre Negation entgegenstellt. Damit kann sich der Kritiker dem nicht entziehen, was er kritisiert: »Cette activité est profondément rationnelle, profondément conforme au système«.4 An die Stelle der >Kritik< setzt Lyotard die >dériveAbweichung< - von jenen festen Ufern, die die Theorien Freuds oder Marx' markieren: »11 faut dériver hors de la critique. Bien plus: la dérive est par elle-même la fin de la critique.«* Lyotard eröffnet damit schon sehr früh die methodische Abwendung der modernen französischen Philosophie von Marx. Dessen klassisch gewordenem, von Bayle, Kant und Hegel ererbtem Verfahren einer Kritik, die von klaren Standpunkten ausgeht und auf eindeutige Ziele hinfuhren will, stellt er ein absichts- und zielloses Treibenlassen entgegen. Am radikalsten hat Derrida das Dilemma gelöst. Bei ihm wird das Verfahren zum Ziel. Die >Dekonstruktion< ist eine Denkform, die ausdrücklich auf Abgeschlossenheit, und sei sie auch nur vorläufig, verzichtet. Hierin unterscheidet sie sich von der aufklärerischen >KritikWahrheit< aus. Auch wenn Bayle sich auf die Kritik der Vergangenheit beschränkt, so ist sein kritisches Unternehmen doch von der Überzeugung getragen, daß die »Destruktion als solche im Dienste der Wahrheit und einer unbestimmten Zukunft stehen konnte«.6 An dieses Programm knüpft die moderne Hermeneutik an. Auch sie versteht sich in der Gestalt, die Gadamer ihr gegeben hat, als eine - allerdings sehr vorsichtige - Kritik an der Tradition und an der Lebenswelt, deren Unhintergehbarkeit aber zugleich akzeptiert wird. Die Kritik ist nicht ohne Ziel, auch wenn das Ziel nicht dogmatisch formuliert, sondern steter Revision offengehalten wird: »Was im Sprechen herauskommt, ist nicht eine bloße Fixierung von intendiertem Sinn, sondern ein beständig sich wandelnder Versuch oder besser eine ständig sich wiederholende Versuchung, sich auf etwas einzulassen und sich mit jemandem einzulassen.«7 In dieser Formulierung ist der Doppelcharakter der Hermeneutik enthalten, die sich auf den fixierten Sinn nicht beschränken will, aber ohne ihn als einer beständigen und immer wieder zu überschreitenden Zwischenstation des Verstehens nicht auskommt. 3 4 5 6 7

Lyotard, Dérives, S. 9. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Röttgers, (Art.) Kritik, S. 656. Gadamer, Text und Interpretation, S. 335.

207 Mit seiner Denkform der >différance< setzt Derrida hier an und geht einen radikalen Schritt weiter. Die >différance< will alle Dichotomien nicht nur auf immer verschieben, sondern in jedem einzelnen ihrer Schritte diese Verschiebung präsent halten: »Chiffre sans vérité ou du moins système de chiffres non dominé par la valeur de vérité qui en devient alors seulement une fonction comprise, inscrite, circonscrite.«8 Die >Wahrheit< ist eines der vielen von Derridas Synonymen, die austauschbar sind mit Begriffen wie >PräsenzMetaphysikLogosdifférance< sich grundlegend dadurch, daß sie selbst keine Autorität beansprucht: »Elle ne commande rien, ni règne sur rien et n'exerce nulle part acune autorité. Elle ne s'annonce par aucun majuscule. Non seulement il n'y a pas de royaume de la différance mais celle-ci fomente la subversion de tout royaume.«9 Derridas >différance< ist ein anarchisches Verfahren des Denkens. Um allen Verfestigungen zu entgehen, will sie auf alle Setzungen verzichten. Aber auch dieses Verfahren kommt ohne Regulierungen nicht aus. Derrida ist sich dessen gelegentlich durchaus bewußt, wenn er quasi-methodische Regeln formuliert. So verborgen sie auch bleiben, so brechen sie sich gelegentlich doch Bahn - in der Feststellung etwa, daß die >différance< »de la manière reglée« die Wahrheit überschreite.10 Die Regulierungen allerdings bleiben im Hintergrund und wurden in der Derrida-Rezeption nicht wahrgenommen; zentral bleibt die Vorstellung, daß sich alle Verfestigungen des Denkens und Sprechens in einer unendlichen Verschiebung aufheben lassen könnten. Diese Gedanken sind philosophiehistorisch nicht so voraussetzungslos, wie sie auftreten. Wie das gesamte postmoderne Denken haben sie ihre Wurzeln in der Lebensphilosophie der Jahrhundertwende. Wesentliche Gedanken der Postmoderne wurden von Bergson vorformuliert. Auch für ihn wird die Analyse von Bewußtseinsvorgängen zu einer Kritik der gesamten Metaphysik seit den Vorsokratikem, die das unendliche Werden in Formen fixieren wollten. Wie Derrida, so wirft Bergson ihr ein substantialistisches Denken vor, das darauf ziele, Fixierungen und Dauer dort zu schaffen, wo nur lebendiges Werden und ewige Bewegung festzustellen sei." Es ist nun eine Eigenart des postmodernen Denkens, daß es aus seiner puren Struktur heraus politische Ambitionen entwickelt. Derrida und seine Nachfolger versehen ihr Denk-Verfahren als solches - und nicht erst durch die Inhalte, die mit ihm gedacht werden - mit einem politischen Index. Der Verzicht auf alle eindeutigen Aussagen reklamiert ein subversives Potential. Der dekonstruktionistischen »hermeneutics of indeterminacy« wird ein gesellschaftliches Widerstandspotential zugeschrieben oder zumindest der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß sie es habe.12 So wie die Kritik in der Aufklärung nicht nur wissenschaftliches Verfahren, sondern in eins damit Auseinandersetzung mit überkommener politi8 9 10 11 12

Derrida, la différance, S. 19. Ebd., S. 22. Ebd., S. 6; vgl. Denrida, Positions, S. 39. Vgl. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 302; S. 31 Of. Hartman, Criticism in the Wilderness, S. 283.

208 scher Autorität war, so beansprucht die >différance< politische Kraft. Das Aufschieben der Differenzen in der >différance< fuhrt zur Befreiung von allen Heteronomien. Derridas >Lektüren< beanspruchen mit ihrer Wendung gegen das begrifflich orientierte und damit auf Identitäten zielende Denken der Metaphysik nicht nur zersetzende, sondern eben auch freisetzende Wirkungen. In der postmodemen Diskussion, insbesondere bei Derrida, nimmt diese politische Option eine eigenartige Wendung. Es erweist sich als schwierig, die Idee der permanenten Verschiebung in politisch greifbare Aussagen umzusetzen. Derridas Dekonstruktion hat sich lange Zeit dem Ansinnen entzogen, in irgendeiner Weise zu benennen, worauf sie politisch zielt. Es ist das Rätsel und offensichtlich auch der Reiz der Derridaschen Politikkonzeption, daß sie nicht sagen darf, was sie will. Denn was übrig bleibt, wenn die Dekonstruktion vollzogen ist, ist das völlig Unbestimmte - das, worüber sich nichts sagen läßt, weil es keine Substanz und keine Identität haben darf. Die Dekonstruktion erhebt politische Ansprüche, aber sie bewegt sich nicht im Raum des Politischen. Ihr Medium ist vielmehr die Sprachkritik, die oft mit einem psychoanalytisch inspirierten Unterbau versehen wird und aus der kulturkritische Konsequenzen abgeleitet werden. Für die gesamte dekonstruktionistische Theoriebildung ist die Übersetzung von Wirklichkeit in sprachliche Verhältnisse von zentraler Bedeutung. Die Behauptung der Austauschbarkeit von Text- und Gesellschaftstheorie gehört zu den zentralen Prämissen der Dekonstruktion: »Ce que nous venons de marquer dans l'ordre politique, vaut dans l'ordre graphique.«13 An anderer Stelle wird dieser Gedanke noch radikaler gefaßt. In einer oft zitierten Wendung hat Derrida das gesamte Universum zum Text erklärt: »il n'y a pas de hors texte« heißt zugleich auch »il n'a pas de hors contexte«.14 Derrida hat die Radikalität dieser Formulierung später in einem Interview als »scherzhafte Bemerkung« abgemildert, sie aber im gleichen Atemzug wiederholt: »Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles.«15 Damit ist ein Kerngedanke postmodernen Denkens formuliert: das Primat des Signifikanten über das Signifikat, sofern es ein solches überhaupt noch gibt. Daß die »Linguistik auch fur Zwecke der Metaphysikkritik« und damit zugleich fur solche der politischen Kritik in Anspruch genommen wird," mutet seltsam an, hat aber einen tieferen philosophiehistorischen Grund. Unter theoriegeschichtlicher Perspektive erscheint es nicht abwegig, Fundamentalprobleme der Metaphysik mit Argumenten der Sprachtheorie zu beantworten. Überlegungen zum Verhältnis von Zeichen und Sache begleiten das abendländische Denken der Neuzeit von seinen Anfangen an. Sie weisen zurück auf den >Universalienstreit< des ausgehenden Mittelalters. Hier wurden die Fragen aufgeworfen, die in der Dekonstruktion neu diskutiert werden. Es geht dabei im wesentlichen um das Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem in der Sprache. Durchgesetzt hat sich die >nominalistische< Position, nach der es nur

13 14 15 16

Derrida, De la grammatologie, S. 422. Derrida, Limited Inc., S. 252. Engelmann, Jacques Derridas Randgänge der Philosophie [Interview], S. 107. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 193.

209 Einzeldinge gibt und die Allgemeinbegriffe - eben die >Universalien< - selbst keine Realität haben und ihnen auch keine Realität im Sinne idealer Gegenstände entspricht. Was die Neuzeit in ihr Programm aufgenommen hat und was am Ende des 20. Jahrhunderts erneut zu einem zentralen Problem wurde, ist im Universalienstreit vorgedacht: die theoretische Legitimation des Individuellen. Es gibt Indizien dafür, daß die philosophisch-theologische Kontroverse um die >Universalien< im 12. Jahrhundert tief verwurzelt ist in sozialgeschichtlichen Entwicklungen; die Möglichkeit, das >Einzelne< zu denken und sprachlich zu fassen, geht einher mit analogen realen politischen Entwicklungen.17 Dieser Gedanke hat heute wieder Konjunktur. In der Postmoderne kehrt das Grundmotiv des Universalienstreites wieder; hier wie dort geht es um das Verhältnis des Allgemeinem zum Singulären. Die Antwort ist eindeutig: die Postmoderne schlägt sich auf die Seite des einzelnen. Die postmoderne Entwirklichung der Wirklichkeit durch Versprachlichung steht in dieser Tradition des Universalienstreites, beruht aber auf anderen Argumenten. Ihre elaborierteste Form wurde von Lacan entwickelt. Lacan nimmt Derridas Grundsatz, daß es keine fixierten Bedeutungen von Wörtern geben könne, vorweg, begründet ihn aber anders, durch eine Interpretation Freuds, dem er eine Entdeckung der Prinzipien der Linguistik avant la lettre unterstellt." Die Beschreibung psychischer Vorgänge führt bei Lacan - wie bei Freud - zu einer Kulturtheorie. Lacan stellt die Frage nach dem Ursprung von Ordnung und kommt auf einem verschlungenem Argumentationsweg zu der Feststellung, daß gesellschaftliche Ordnungen ihr Fundament in der sprachlichen Ordnung haben: »la nature des choses« ist in Wahrheit »la nature des mots«." Die Sprache schafft eine Ordnung, die es nicht gibt, in der sich aber das Subjekt in seinen Bezügen zur Wirklichkeit herausbildet. Im Zentrum dieser Theorie steht der Begriff des >Begehrens< - >désir Anderem : »le désir de l'homme est le désir de l'Autre«. 20 In diesen Prozessen konstituiert sich das >Subjektnachindustriellen Gesellschaft, einer >Erlebnisgesellschaft< oder einer >RisikogesellschaftRisikogesellschaft< eine Aufhebung der statischen Machtansprüche von Politik und der Wahrheitsansprüche von Wissenschaft; an ihre Stelle tritt eine » Veränderungshektik«, welche die Gesellschaft in einen »Strudel der Veränderung« zieht.50 Beck hat aus dieser Diagnose die Konsequenz gezogen, daß die tradierten politischen und soziologischen Erklärungsmodelle nicht mehr tragfahig sind und an ihre Stelle eine Art hermeneutischer Kompetenz der Subjekte gefordert, welche der Eigenart der >Risikogesellschaft< gerecht werden: »Die Welt des Sichtbaren muß auf eine gedachte und doch in ihr versteckte zweite Wirklichkeit hin befragt, relativiert und bewertet werden.«51 Unter der Mißachtung dieser aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen leidet die politische Option der Postmoderne. Das subversive Denken der >différance< ist nicht das absolute Gegenmodell zum politischen Handeln, sondern sein Abbild und seine Wiederholung. Es muß sich die Frage stellen lassen, ob es nicht Komplizenschaft mit politischen Machtverhältnissen pflegt, in denen die >Wahrheit< längst abgedankt hat. Eine Gesellschaft, die keine moralischen, politischen und wissenschaftlichen Wahrheitsansprüche mehr erheben kann, läßt sich weder begreifen noch verändern durch eine Theorie, die selbst keine Wahrheitsansprüche mehr erheben will.

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Vgl. Gumbrecht, Pathologien im Literatursystem, S. 172. Eagleton, Ästhetik, S. 391. - Daß schon Marx den Kapitalismus als ständiges »Vexierspiel« beschrieben hat, betont Eagleton, Die Illusionen der Postmoderne, S. 82. Beck, Risikogesellschaft, S. 303. Ebd., S. 97.

216 Die der Postmoderne implizit zugrundeliegende Gesellschaftstheorie ist veraltet - ein Relikt des 19. Jahrhunderts. Nicht die >großen Erzählungen< sind das Problem, sondern daß es überhaupt keine Erzählungen mehr gibt, auf die sich politisches Denken und Handeln beziehen könnte. Die Fixierung auf den >TotalitarismusSubjekts< geschieht in einem Wechselspiel des Begehrens, an dem Mutter, Kind und Vater beteiligt sind. In der präödipalen Phase des Kindes besteht eine elementare Einheit zwischen Mutter und Kind. Mit dem Eintreten des Vaters in diese Beziehung wird diese Einheit gestört. Der Vater konstituiert die symbolische Ordnung, indem er die Identität von Kind und Mutter zerbricht und das Kind in die Ordnung einfuhrt. An die Stelle des unerreichbaren Objekts tritt das >BegehrenBedürfnis< durch die Abwesenheit des Objekts gekennzeichnet ist. Das Begehren richtet sich nicht auf Objekte, sondern auf Symbole, die per definitionem die Abwesenheit der Sache voraussetzen: »Ainsi le symbole se manifeste d'abord comme meurtre de la chose«.84 Die elementare Erfahrung eines in diesem Sinne symbolisch Abwesenden macht das Kind - so will es Lacans Theorie - mit seiner Einsicht in die Abwesenheit des >PhallusAndere< immer anwesend. Cixous begreift Schreiben als libidinösen Akt und zugleich als politischen Vorgang. Durch seinen libidinösen Charakter stellt jedes Schreiben eine Beziehung des schreibenden Subjekts zum Anderen her; aber die Art dieser Beziehung ist beim männlichen und weiblichen Schreiben grundsätzlich verschieden: Es gibt eine »Ökonomie der Erhaltung und eine Ökonomie der Verausgabung«; jene läßt sich als dominierend »männlich«, diese als dominierend »weiblich« bezeichnen." Im »weiblichen Schreiben« mit seiner »offenen Libido« kann die traditionelle, logozentrische und phallokratische Dichotomie unterlaufen werden. Die >Weiblichkeit in der SchriftAutor< und der Schrift, d. h. dem Körper, also etwas, das auf jeden Fall immer stärker ist als die kulturelle Festlegung, und dem, was die Schrift ausmacht, etwas Triebhaftes, das diese Struktur sprengen wird«.' 2 Während die »männlichen Konstruktionen« des Denkens gerade durch die »Verdrängung des Körpers« gekennzeichnet sind, wird das weibliche Denken »bestimmt von der Kraft des Körpers, vom Triebhaften«.93 Diese Betonung des >Körpers< ist ein Motiv, das in der feministischen Theoriebildung gerne aufgenommen wird. Die >écriture féminine< wurde zeitweise gerade dadurch definiert, daß sich in ihr der Körper der Frau in ganz anderer Weise zur Geltung bringt als der Körper des Mannes im männlichen Schreiben. Die »inscription of the female body and female difference in language and text«94 als Kennzeichen der >écriture féminine« gehört theoriegeschichtlich zu den Basisargumenten in der feministischen Literaturtheorie. Daß das >andere Geschlecht« der Frau, das zunächst physisch definiert wurde, eigene Schreibweisen hervorbringen muß, wurde schon in den zwanziger Jahren von Virginia Woolf formuliert. Die Empfindung des eigenen Körpers und seiner Leidenschaften prägt das Denken und Schreiben der Frau stärker und anders als das des Mannes.95 Die neuere Diskussion hat sich mit solchen Bestimmungen schwerer getan. Im Ergebnis lau90 91 92 93 94 95

Cixous, Weiblichkeit in der Schrift, S. 78. Ebd., S. 69. Ebd., S. 76. Ebd., S. 79. Showalter, Feminist Criticism in the Wildemess, S. 249. Vgl. Woolf, Professions for Women, S. 104f.

224 fen die Auseinandersetzungen darauf hinaus, daß der geschlechtliche Körper sozial konstruiert ist. Simone de Beauvoir hat die bahnbrechende Vorarbeit dazu geleistet. Ihre große Studie über Le deuxième sexe von 1949 geht von der Voraussetzung aus: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt.«96 Diese These ist weitgehend akzeptiert: »Die jeweilige geschlechtliche Körperlichkeit ist vielmehr immer schon gesellschaftlich-kulturell konstituiert«.®7 Diese Überlegungen sind der Ausgangspunkt feministischer Theorie der Moderne, aber sie sind in der Postmoderne auf Kritik gestoßen. Denn es ist offensichtlich, daß auch hier binäre Codierungen im Geschlechterdiskurs weiterwirken, die hierarchisch angelegt und patriarchalisch->hegemonial< beherrscht sind.98 Es handelt sich zunächst um eine bloße Umkehrung der alten Dichotomie - auf die Annahme einer eigentlichen »Natur der Frau«, die zu »authentischerer« Lebensform fähig sei als der Mann.99 In der konsequenten Weiterentwicklung dieser Debatte geht Kristeva einen Schritt weiter, über literarische Verhältnisse hinaus in gesellschaftliche Verhältnisse hinein. Sie postuliert keine Umkehrung, sondern eine explosive Aufhebung des Dualismus, durch die das >Weibliche< erst zu seinem Recht kommt. Kristeva bestimmt - damit steht sie nicht allein - die »Frau« als das »Unbestimmbare« schlechthin , das alle Dualismen hinter sich läßt. Die »Frau« ist die »unbewußte, undarstellbare, außerhalb von Wahr und Falsch, außerhalb von Gegenwart - Vergangenheit - Zukunft stehende >WahrheitKategorieMenschen< in seiner aktuellen sozialen Lebensform anhaften. Es ist im wesentlichen die von Schiller und dem frühen Marx entlehnte Idee des >unentfremdeten< Menschen, die seiner Anthropologie zugrunde liegen." 3 Die feministische Politikkonzeption in ihrer dekonstruktionistischen Variante teilt solche Vorgaben nicht mehr. Die Frage nach dem, was der >Mensch< ist, wird ausdrücklich zurückgewiesen. Die Aufhebung der Entitäten und binären Oppositionen, die Dezentrierung der Präsenz, läßt eine solche Frage nicht mehr zu. Die Unzufriedenheit mit der traditionellen Subjektphilosophie ist ein von Heidegger ererbter Grundzug der gesamten postmodernen Diskussion, der in der feministischen Theorie in den Vordergrund tritt. Julia Kristeva hat diesem Unbehagen unter der Überschrift »Das Ich, das nicht sein möchte« Ausdruck verliehen und die Konsequenzen benannt: »Wenn die Verankerungen des Ich, der Sprache, des Über-Ich gelockert werden, hält selbst das Leben nicht mehr und nistet sich langsam der Tod ein.«" 4 Die Faszination durch die Entropie, die Auflösung aller Ordnungen und Grenzen, die letztlich eine Faszination durch den Tod ist, wird zu einem gemeinsamen Nenner, der die französischen Theorien der Postmoderne eint. Denn so weit die einzelnen Philosophen in ihren Denkansätzen auch voneinander entfernt sind, so besteht eben doch eine geheime Übereinstimmung in dieser lètzten Utopie einer absoluten Entgrenzung von Bewußtsein und Subjekt. Eine der frühesten philosophischen Formulierungen dieser Auflösungs-Vision im Kontext der Postmoderne-Diskussion findet sich bei Georges Bataille, dessen Bedeutung als Vorläufer des französischen postmodernen Denkens unüberschätzbar ist. Bataille stellt den Gegensatz von »l'interdit et la transgression« in den Mittelpunkt seiner Philosophie. Durch die Verbote werden die Menschen zur Arbeit und damit zur Lebenserhaltung konditioniert; dem steht ein Begehren nach Überschreitung entgegen, das eine gegenläufige Bewegung entfaltet: »II y a dans la nature et il subsiste dans l'homme un mouvement qui toujours excède les limites, et qui jamais ne peut être réduit que partiellement.«" 5 Der theoretische Urvater dieses anthropologischen Dualismus ist unschwer erkennbar: In seiner Studie Jenseits des Lustprinzips hat Freud 1920 einem originären >LustprinzipRealitätsprinzip< entgegengestellt, das den Aufschub von und den Verzicht auf die Befriedung der Lust verlangt." 6 Freud hat diese anthropologische Einsicht in eine kulturphilosophische umgesetzt. Im Unbehagen in der Kultur beschreibt er zehn Jahre später den zivilisatorischen Prozeß unter dieser Perspektive der Verdrängung und Sublimierung des Lustprinzips, aus der dann die zivilisatorische Ordnung und die kulturellen Leistungen hervorgehen. Freud stellt zwar die Frage nach dem Preis der Zivilisation, aber er hält daran fest, daß sie unverzichtbar sei. Bataille hingegen spielt mit dem Gedanken einer Überschreitung aller Grenzen, welche die Zivili113

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Vgl. Brenner, Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion in der Philosophie, S. 23f. Kristeva, Die Chinesin, S. 269. Bataille, L'Erotisme, S. 43. Vgl. Freud, Jenseits des Lustprinzips, S. 219f.

228 sation setzt. Der Arbeit und der Vernunft setzt er eine »transgression de l'interdit« gegenüber:" 7 Sie kann sich in den verschiedensten Formen bewähren: »le luxe, les deuils, les guerres, les cultes, les constructions de monuments somptuaires, les jeux, les spectacles, les arts, l'activité sexuelle perverse«." 8 Dieses anthropologische und kulturphilosophische Denkmodell ist in verschiedenen Versionen eines der Fundamente postmodemen Denkens geworden. Lyotard, der später die philosophische Programmschrift der Postmoderne geschrieben hat, formuliert diese Vision als eine der frühen Wurzeln seines Denkens: »se faire corps multiple conducteur pluridirectionnel aire polymorphe. [...] Nous n'avons nulle prétention à la folie. [...] Non pas prétention à la folie, mais recherche de la folie. [...] Rechercher la folie serait se faire, faire de son corps, ici faire du langage, un bon conducteur de l'insupportable.«" 9 Das ist ein Programm, das der Condition postmoderne vorausgeht und das sicher einen ihrer Impulse ausmacht. Michel Foucault hat den Gedanken einer Auflösung des Subjekts am systematischsten ausgearbeitet, ohne sich aber dieser Suggestion wirklich hinzugeben: »L'effondrement de la subjectivité philosophique, sa dispersion à l'intérieur d'un language qui la dépossède, mais la multiplie dans l'espace de sa lacune, est probablement une des structures fondamentales de la pensée contemporaine.«120 Das Subjekt löst sich in der Sprache auf; und die Sprache erhält Eigenschaften, die das Subjekt nie haben kann: »quelque chose est né, murmure qui se reprend et se raconte et se redouble sans fin, selon une multiplication et un épaississement fantastiques où se loge et se cache notre langage d'aujourd'hui.« 121 Das Sprechen selbst tritt an die Stelle eines sprechenden Subjekts; das ist ein Leitmotiv vor allem der früheren Texte Foucaults, das in mannigfachen Variationen in der postmodernen Diskussion aufgegriffen wird. Viel später hat Foucault diese Vision seiner frühen Jahre mit einem distanzierenden Vorbehalt versehen und sie als »épreuve historico-pratique de limites que nous pouvons franchir«, also eher als methodisches Prinzip des Denkens denn als mögliche Lebensform, verstanden.122 In den von Blanchot und de Sade literarisch beschriebenen Grenzerfahrungen der Erotik und des Schreibens findet Foucault ein Modell für die »expériences de la dissolution, de la disparation, du reniement du sujet«.123 Der Mensch, der »au sommet de toute parole possible« vordringt, überschreitet damit eine Grenze. Er stößt zu jenem Gebiet vor, »où rôde la mort, où la pensée s'éteint, où la promesse de l'origine indéfiniment recule.«124 Foucault beruft sich auf Nietzsche: »L'homme mourrait des signes qui sont nés en lui, c'est ce que, le premier, Nietzsche

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Bataille, L'Erotisme, S. 68. Bataille, La notion de dépense, S. 305. Lyotard, Economie libidinale, S. 309. Foucault, Préface à la transgression, S. 242. Foucault, Le langage à l'infini, S. 252. Foucault, Qu'est-ce que les Lumières?, S. 575. Foucault, »Qui êtes-vous, professeur Foucault?« [Interview], S. 614f. Foucault, Les mots et les choses, S. 394f.

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avait voulu dire.« Foucault selbst ist vor den Konsequenzen zurückgeschreckt, die solche Formulierungen nahelegen. Die Auflösung des Subjekts ist eine theoretische Phantasmagorie, keine politische Option. Foucault hat sie nicht zum politischen Postulat ausformuliert, sondern als Interpretation literarischer Texte oder historischer Analysen ausgegeben. Er äußert sich über das >Verschwinden des SubjektsDiskurses< kehren diese Grundideen in einer gezähmten Form wieder. Foucault verwendet die Kategorie des >Diskurses< als eine Generalchiffre zur Beschreibung zentraler Phänomene der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung. Entsprechend unscharf ist der Begriff angelegt - und entsprechend erfolgreich konnte er in der Rezeption werden. Auf der einen Seite erscheint der >Diskurs< als ein Element der Ordnung und Disziplinierung. Das Wissen der Gesellschaft formiert sich in Diskursen, in denen das disziplinierte Reden über Gegenstände des Wissens möglich wird. Aber hinter der Ordnung verbirgt sich die Entropie. Die Diskurstheorie ist bestimmt von einer Faszination durch das Chaos, das sichtbar werden könnte, wenn alle Momente des disziplinierenden Diskurses sich entfernen ließen. Der >Diskurs< ist also doppelt bestimmt: Auf der einen Seite ist er ein Instrument von Disziplinierungen, die sich unschwer als die Institutionalisierungen einer rationalistischen Zivilisation identifizieren lassen. Auf der anderen Seite ist er das, was diszipliniert wird. Hinter allen Formierungen verbirgt sich ein unablässiges, kaum hörbares Murmeln. Dieses ordnungslose Rauschen wird von Foucault als spontane Lebensäußerung gefeiert. Dem ordnungslosen Diskurs schreibt er Unmittelbarkeit und Authentizität zu; ihm wird gegenüber den aufgezwungenen Regulierungen eine aufsprengende gewaltsame und kämpferische Kraft zugeschrieben.141 Foucaults Diskurstheorie lebt auf ihrer in der deutschen Rezeption kaum wahrgenommenen Seite von den archaischen Auflösungvisionen, wie sie unter dem Einfluß der deutschen Lebensphilosophie um die Jahrhundertwende en vogue waren: Das Ursprüngliche ebenso wie das Ziel der Sehnsucht ist die Entropie.142 Den postmodernen Auflösungsphantasien liegt eine utopische Komponente zugrunde. Sie wird erkennbar bei Nietzsche, der dem Denken der Moderne wie der Postmoderne die Stichworte geliefert hat. In der Geburt der Tragödie bindet er die »Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen«.l43 Dieser Begriffdualismus hat Epoche gemacht, weit über die Ästhetik hinaus. Mit dem >Apollinischen< bezeichnet Nietzsche die Idee einer 139

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Vgl. Foucault, Préface à la transgression, S. 248f.; Miller, The Passion of Michel Foucault, S. 88f. Die Weichen fllr diese Verharmlosung wurden von Manfred Frank gestellt. Er behandelt - unter Vernachlässigung der frühen essayistischen Schriften Foucaults - das Subjektproblem bei Foucault selbst dort, wo Nietzsche, Freud und Lacan ins Spiel kommen, konsequent als wissenschafts- und erkenntnistheoretisches. Vgl. Frank, Was ist Neostnikturalismus?, S. 210f.; S. 259-268. Vgl. Foucault, L'ordre du discours, S. 52f. Honneth scheint der einzige gewesen zu sein, der diese Zusammenhänge gesehen hat; vgl. Honneth, Kritik der Macht, S. 163f. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 25.

232 schönen Kunst, die sich durch klare Grenzen, harmonische Gestaltung und die Herrschaft des >principium individuationis< auszeichnet. Das >Dionysische< hingegen ist gekennzeichnet durch Rausch und Entgrenzung: »Wenn wir zu diesem Grausen« - das sich in der Erfahrung der Aufhebung des >Satzes vom Grund< einstellt - »die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird.«144 Nietzsche formuliert mit diesen Bemerkungen von 1872 ein Programm, das zunächst unbeachtet blieb, das aber um die Jahrhundertwende eine bedeutende Wirkung entfaltete. Die deutsche >Lebensphilosophie< und bald darauf Henri Bergson mit seinem >élan vital< greifen die Anregung auf, und allmählich entwickeln sich die politischen Implikationen, die diesem Programm zugrunde liegen. Nietzsches Vision eines dionysischen Lebens erscheint zunächst als traditionelle Versöhnungs-Utopie: »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche und unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste.«145 Das sind Visionen, wie sie bis in die Terminologie beim frühen Marx kaum anders gedacht wurden, der ganz ähnlich von der Aufhebung der >Entfremdung< eine universale Versöhnung des Menschen mit dem Menschen und mit der Natur erträumt hatte.146 Die Friedens-Utopie eines dionysischen Weltzustandes verliert im Laufe der Entwicklung von Nietzsches Denken manches von ihrer Unschuld. Sie wird von Formeln überlagert, die in eine andere Richtung weisen und die Nietzsche anschlußfähig machen für politische Gedankengänge, die ihren Fluchtpunkt im Nationalsozialismus haben. Die entscheidende Frage nach dem politischen Verständnis Nietzsches ist die nach dem Verhältnis seiner Philosophie zum Nationalsozialismus. Sie hat nach dem Krieg grundsätzlich entgegengesetzte Antworten gefunden; und der Streit ist bis heute unentschieden. Im Blick auf die NietzscheRezeption Klages' hat Max Bense die Gefahren von Nietzsches dionysischer Philosophie gesehen und kritisiert, die in der Postmoderne-Diskussion wiederkehren werden: »so verwandelt heute ein schwächendes, nivellierendes, philosophisches Prinzip das Bild des Dionysos in einen Eros des Unterganges des Einzelnen, der großen Maßstäbe, und gesucht wird nach dem scheinbar glücklichen Nichts des Unterscheidungslosen.«147 Dieses Motiv der Auflösung wird in den Diskussionen der Moderne und Postmoderne weitergeführt.

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Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Vgl. Brenner, Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion in der Philosophie, S. 16f. Bense, Anti-Klages, S. 19. - Zur Verteidigung Nietzsches gegen Klages vgl. ebd., S. 26f.;S. 31 f.

233 Eng verwandt mit ihm ist ein anderes Motiv, das bei Nietzsche immer stärker in den Vordergrund tritt: die Faszination durch die Gewalt. Nietzsche setzt das dionysische Prinzip, das er zeitweise synonym mit dem >LebensIrrationalismus< mit seinen anarchischen Entgrenzungsphantasien eine totalitäre Konsequenz inhärent sei - wie es die politische Kritik an Derrida nahegelegt hat. 14 ' Dieser Vorwurf wird dadurch genährt, daß Derrida mit seinem zentralen Begriff des >Logozentrismus< eine Kategorie aufgreift, die von Klages geprägt wurde150 und die damit tatsächlich in einer Tradition dezidierter Vernunftfeindschaft steht. Diese begriffsgeschichtliche Tradition darf nicht unterschätzt werden. Der Begriff des >Logozentrismus< reicht bis ins >Dritte Reich< hinein, wo er unter ausdrücklicher Berufung auf Klages vom >Reichsführer für die Psychotherapie^ Mathias Göring - einem Vetter des Ministers - , verwendet wurde. Faye stellt deshalb nicht zu Unrecht die Frage, welche Wertigkeit die Wiederaufnahme dieses Begriffs »par certains courants contemporains« hat.151 Andererseits ist dieses Denkmodell, das Irrationalismus, Vernunftkritik und Totalitarismus in eine Reihe stellt, unscharf. Selbst Lukács, der ziemlich umstandslos eine Linie vom Irrationalismus der Lebensphilosophie zum Nationalsozialismus zog, hatte im Blick auf Klages Vorbehalte angemeldet.152 Die Kritik am >Logozentrismus< muß nicht per se in den Traditionsstrang eines konservativen Irrationalismus oder gar unter Totalitarismusverdacht gestellt werden. In diesem Sinne ist Nietzsche allerdings in einer frühen und prägenden Phase seiner Rezeptionsgeschichte gedeutet worden. Die Formel vom >Willen zur MachtGewalt< wird von Derrida nicht nur ausfuhrlich kommentiert, sondern auch in seinen problematischen Dimensionen erkannt. Anders als in seinem Heidegger-Kommentar bezieht Derrida jetzt auch - für seine Verhältnisse - eine klare Stellung zu diesen Implikationen. Der Text Benjamins »seems to me finally to resemble too closely, to the point of specular fascination und vertigo, the very thing against which one must act and think, do and speak, that which with one must break (perhaps, perhaps)« - Derrida bezieht sich hier ausdrücklich auf Hitlers »final solution«.172 Das ist eine ziemlich klare politische und moralische Stellungnahme Derridas, trotz des doppelten »vielleicht«. Im Vorbeigehen läßt sie noch einmal die Verführungen anklingen, denen das postmoderne Denken lange Zeit zu erliegen drohte - nämlich der >Faszination< durch die Gewalt. In den späten Benjamin-Kommentaren hat sich Derrida von dieser Verführung befreit. Daß das postmoderne Denken sich so schwer mit dieser Befreiung getan hat, liegt in seiner Affinität zur Entropie begründet. Denn die Geschichte des Denkens über die Gewalt, wie es sich seit den zwanziger Jahren etabliert hat, zeigt, daß die Gewalt hier nicht als Ausfluß übersteigerter etatistischer Ordnungsvorstellungen begriffen wird, sondern als Reaktion gegen sie. Es sind am Ende vitalistische Positionen, die dabei wirksam werden. Carl Schmitt hat in einer beiläufigen Bemerkung den Grund offengelegt, der strukturell bis in die Diskussionen der Postmoderne nachwirkt: »In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.«175 Die Formel vom wirklichen Leben< wird links wie rechts eine entscheidende Rolle in den politischen Diskussionen des 20. Jahrhunderts bis zu dessen Ende spielen. Die Denkmotive, die zu einer tendenziellen Rehabilitation der Gewalt fuhren, sind bestimmt von einem »Haß auf die Dekadenz, der die Ehrlichkeit der Gewalt nicht mehr gegeben ist.«174 Ihr Impetus ist die Sprengung rationalistischer Ordnungen, die dem >Leben< feindlich gegenüberstehen, weil sie es hemmen und einengen - die Gewalt bezieht ihre Legitimation am Ende daraus, daß sie dem >Leben< zu seinem Recht verhilft. In diesem Gedanken lassen sich die auf den ersten Blick äußerst heterogenen Motive bündeln, welche die Diskussionen der Postmoderne begleiten; die postmoderne Kritik an der Rationalität hat in der Tat wesentliche Wurzeln im Irrationalismus der zwanziger Jahre.175 Ihr Fundament ist die Utopie des >wirklichen< Lebens, das sie jenseits aller Ordnungen zu finden hoffen - und sei es um den Preis der Zerstörung des realen Lebens. Die Faszination durch den Tod, das Verschwinden des Subjekts, die Auflösung aller Substanzen, Identitäten und Ordnungen folgen der Logik dieser Utopie. Bataille 170 171 172 173 174 175

Derrida, Force de loi, S. 938. Vgl. ebd., S. 978. Ebd., S. 1045 (Post-scriptum). Schmitt, Politische Theologie, S. 22. Maschke, Im IiTgarten Carl Schmitts, S. 236. Vgl. Kiesel, Aufklärung und neuer In-ationalismus, S. 520.

238 hat die Stichworte gegeben, die in der Postmoderne aufgegriffen wurden. Er stellt der Welt der >Ordnung< eine Bewegung der Überschreitung und des Ausbrechens gegenüber. Sie wird realisiert durch das >BöseBösen< in der Literatur von Emily Brontë über Baudelaire, de Sade, Kafka bis zu Genet herausarbeiten wollen.176 Der Gipfel dieser Überschreitungen, welche die Ordnung hinter sich lassen, ist schließlich der Wille zum Bösen, den Bataille bei Nietzsche angelegt sieht. Diese Vorstellung mündet bei Bataille in einer Apotheose der Gewalt, die sich allen Ordnungen entzieht: »la violence sévit sans pitié [...]. L'excès s'oppose à la raison.«177 Unter allen Denkern der Postmoderne hat sich Foucault am intensivsten mit diesen Problemen auseinandergesetzt. Er hat seine Analysen im klassischen Feld der Gesellschaftstheorie angelegt und entwickelt eine Machttheorie, in der die Motive der vitalistischen Nietzsche-Tradition eine fundierende Rolle spielen. Wie kaum ein anderer Theoretiker seit Marx hat Foucault historische Prozesse als antagonistische Ausgrenzungsmechanismen beschrieben. Er geht davon aus, daß die neuzeitlich-okzidentale Gesellschaft von dualistischen Machtstrukturen beherrscht ist. Methode und politischer Inhalt seiner Untersuchungen sind eng miteinander verflochten. Foucault sucht einen Standort außerhalb der eigenen Kultur, der ihm deren kritische Durchdringung erlauben soll, um die Beobachterposition eines Ethnologen der eigenen Gesellschaft einzunehmen. Die Ethnologie wie die Psychoanalyse gehören für Foucault zu den »contre-sciences«.178 Seine Einblicke in die eigene Kultur sind nur möglich, weil sie eine fingierte ethnographische Position des Außen und der Distanz einnehmen. Das verspricht einen doppelten Vorteil: Methodisch kann sie beanspruchen, daß der Beobachter nicht involviert ist in das Beobachtete - eine Illusion, die sich freilich fur die moderne Ethnologie längst erledigt hat - ; inhaltlich erlaubt sie die Konfrontation mit einem >AnderenLogozentrismus< verstanden werden. Von ihr unterscheiden sie sich freilich dadurch, daß sie nicht vornehmlich auf ideengeschichtlich-philosophische Phänomene konzentriert sind. Sie richten sich auf die Institutionen, in denen in der Neuzeit Machtausübung sichtbar wird. Trotz des unterschiedlichen Gegenstandes teilen sie aber die Intention mit der >LogozentrismusPräsenz< oder >Substanz< suggerieren; fur Foucault sedimentieren sie sich in Formen der Einschließung, Ausschließung, Bestrafung und Überwachung. In diesem Sinne hat Foucault seine früheren sozialhistorischen Studien verstanden. Seine Untersuchung über Les mots et les choses ist eine »histoire de l'Autre«, die historisch konkret als »histoire de la folie« identifizierbar ist.181 Foucault rückt damit in enge Nachbarschaft zur >Kritischen Theorien Mit ihr teilt er zunächst die gleichen Motive, die sich in der Analyse der Dialektik der Aufklärung finden - eine Kongruenz, die schon häufig festgestellt wurde: Es ist eine Kritik an der gewaltsamen Herstellung eines >Identischen< durch die Vernunft, die alles >Nicht-Identische< oder Heterogene unterdrückt. Die Unterschiede in den Theorieansätzen liegen in der Bestimmung dieses >HeterogenenLogozentrismus< verloren geht; er verzichtet auf die Bestimmung eines Ideals zugunsten der Vision anarchischer Entropie. Foucaults Position ist zwischen diesen beiden Konzepten anzusiedeln. Die anarchische Utopie der Entropie mit ihren antihumanistischen Tendenzen ist ihm nicht fremd; 182 sowohl in seinen Auflösungsphantasien wie in seiner Diskurskonzeption spielt sie eine zentrale Rolle. Auf der anderen Seite aber - und kaum vermittelt mit der einen - hat Foucault versucht, seine Machttheorie in eine Theorie der Individualität, die passagenweise auch eine Theorie der Subjektivität ist, einzubinden. Seine frühen historischen Untersuchungen wollen demonstrieren, wie das >Subjekt< in den Repressionsmechanismen der Neuzeit deformiert wird. Diese Darstellungen lesen sich zunächst wie eine historische Analyse von Herrschaft. Sie rekonstruieren die Entwicklung der Institutionen, in denen Herrschaftsmechanismen sich entfaltet haben. Insoweit könnte seine Darstellung als eine Ausformulierung einer klassischen These aus der Dialektik der Aufklärung gelten: »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war«.183 Foucaults Argumentation liegt durchaus auf dieser Linie, geht aber einen konsequenten Schritt weiter. Gegenüber klassischen Herrschaftsformen und den 181 182 183

Foucault, Les mots et les choses, S. 15. Vgl. Puder, Der böse Blick des Michel Foucault, S. 323. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 50.

240 Theorien darüber ist das, was Foucault in den Blick zu bekommen versucht, sehr viel diffuser. Foucault betreibt keine Analyse von Herrschaft, sondern eine Analyse von Macht. Er versucht sich von den dualistischen Denkmodellen der Tradition zu lösen, indem er nicht die Frage nach Herrschaft und Unterwerfung, nach Unterdrückung und Befreiung stellt, sondern die >Macht< als ein Phänomen identifiziert, das in jede Form sozialer Beziehungen eingelassen ist: »le pouvoir ce n'est jamais qu'une relation que l'on ne peut, et ne doit, étudier qu' en fonction des termes entre lesquels cette relation joue.« 184 Das ist nicht mehr weit entfernt von Nietzsches Formel, wo »ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht«.185 Ein derart ausgedehnter Macht-Begriff läuft Gefahr, jede erklärende Kraft ftir konkrete soziale und historische Phänomene zu verlieren - was gerade die Stärke von Foucaults ursprünglichem Ansatz gegenüber dem der Dekonstruktionisten war. Foucault beschreibt eine Vielfalt von Machtmechanismen. Daß sich in den institutionalisierten Formen der Überwachung und Bestrafung Machtverhältnisse ausdrücken, ist ohne weiteres plausibel. Wenn Foucault weitergeht und in den verschiedenen Formen des Wissens, wie sie die abendländische Gesellschaft hervorgebracht hat, Machtverhältnisse eingelassen sieht, dann folgt er damit den entsprechenden Auffassungen Nietzsches, der jede Form der >Wahrheit< nur als Ausdruck eines Willens zur Macht verstehen will: »II faut plutôt admettre que le pouvoir produit du savoir (et pas simplement en le favorisant parce qu'il le sert ou en l'appliquant parce qu'il est utile); que pouvoir et savoir s'impliquent directement l'un l'autre«.186 Das bedeutet eine Wendung gegenüber der Ideologiekritik der aufklärerischen Tradition, die nicht Macht aus Wissen hervorgehen, sondern Wissen in Machtverhältnisse eingebunden sieht. Foucault zeigt daneben die produktive Leistung der Macht. Er führt vor, wie in den von ihm beschriebenen Prozessen das Subjekt überhaupt erst hergestellt wird und wie die Begriffe entstehen, mit denen es beschreibbar wird: »L'individu est un effet du pouvoir«.187 Foucault begreift nicht nur das Individuum in seiner äußeren sozialen Erscheinungsform als Produkt von Formierungsprozessen, sondern will ebenso die Entstehung der >Seele< darauf zurückfuhren: »Cette âme réelle, et incorporelle, n'est point substance; elle est l'élément où s'articulent les effets d'un certain type de pouvoir et la référence d'un savoir«.188 Foucault denkt sich das >Subjekt< als radikal historisch konstruiert; Körper und Seele entstehen als Effekte der »techniques disciplinaires de pouvoir«.189 Foucault erscheint das Subjekt in diesem Sinne als Produkt der Prozesse, die es kontrollieren. Das führt ihn zum Verzicht auf tradierte Dualismen: In seiner Theorie gibt es kein Inneres mehr, das durch äußere Zwänge unterdrückt wird, und es gibt nicht Authenti184 185

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Foucault, »II faut défendre la société«, S. 150. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 147. - Zu Foucaults Abhängigkeit von Nietzsche in diesem Punkt und seiner Differenz zu anderen Machttheorien seit Marx vgl. Fink-Eitel, Michel Foucaults Analytik der Macht, S. 77. Foucault, Surveiller et punir, S. 32. Foucault, »II faut défendre la société«, S. 27; vgl. auch S. 38. Foucault, Surveiller et punir, S. 43. Foucault, »II faut défendre la société«, S. 164.

241 sches und Ursprüngliches mehr, das entfremdet worden wäre und befreit werden könnte: »Foucault möchte nichts zu schaffen haben mit diesem der Romantik entlehnten Bild einer Unterdrückung der Natur und unserer >Befreiung< von dieser Unterdrückung.«190 Es mag als eine »befremdliche Vorstellung« erscheinen, daß das »Psychische als das artifizielle Produkt eines sozial auferlegten Bekenntniszwanges interpretiert« und auf diese Weise die »Entstehung der menschlichen Subjektivität« erklärt werden soll;" 1 aber abwegig ist diese Theorie durchaus nicht. Sie liegt auf einer Linie mit ähnlichen Erklärungsmodellen, die sich bis zu Freuds Kulturtheorie zurückverfolgen ließen. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung haben ihn angedeutet; zuvor hatte Norbert Elias diese Vorgänge als >Prozeß der Zivilisation beschrieben, und später hat Gerhard Oestreich unter dem Einfluß Max Webers dafür den Begriff der >Sozialdisziplinierung< entwikkelt.192 Foucaults universalistische Wendung der Machttheorie ist theoretisch wie politisch nicht ohne Probleme. Es wurde ihr nicht zu Unrecht vorgeworfen, daß >Macht< kaum mehr als soziale, sondern nur noch als ontologische Kategorie faßbar sei und daß sie damit jedes kritische Potential verlöre. Der politische Einwand liegt auf der Hand: Foucaults Machttheorie verzichtet auf einen »geschichtsphilosophischen, erkenntnisprivilegierenden Begriff der Gegenmacht«." 3 Alle Formen der Macht haben, zumindest in der Theorie, den gleichen Status und den gleichen moralischen Rang; und jede >GegenmachtMacht< nicht als letzte ontologische Substanz, sondern als Instrument einer Herrschaft erscheint, das Unterdrückung vornimmt und Befreiung provoziert: »mais il y'a bien toujours quelque chose, dans le corps social, dans

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Taylor, Negative Freiheit?, S. 200. So die Kritik von Honneth, Kritik der Macht, S. 210. Zur Abgrenzung von Foucaults Ansatz gegenüber diesen tradierten sozialgeschichtlichen Modellen vgl. Breuer, Sozialdisziplinierung, S. 65f. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 330. - Vgl. Fink-Eitel, Michel Foucaults Analytik der Macht, S. 58f.; Eagleton, Ideologie, S. 59. Foucault, Histoire de la sexualité I, S. 125f.

242 les classes, dans les groupes, dans les individus eux-mêmes qui échappe d'une certaine façon aux relations de pouvoir«." 5 Damit wird eine Rehabilitation des Subjekts vorbereitet. Der dem postmodernen Denken vorgeworfene >Anti-Humanismus< trifft für Foucault nur bedingt und sicher nicht fur die letzte Phase seines Denkens zu. Das 68er Denken hatte den Prozeß der Zersetzung des Subjekts befördert und gleichzeitig einer schrankenlosen Individualisierung den Weg bereitet, der die postmoderne Gesellschaft auszeichnet, und Foucault war ihm darin gefolgt: »le sujet meurt dans l'avènement de l'individu.« Es entsteht ein »Moi, qui pert la maîtrise de lui même.«196 Seine späten theoretischen Arbeiten sind aber ganz im Gegenteil der Frage gewidmet, wie sich wieder ein Bild vom Menschen zurückgewinnen läßt, das der Verteidigung gegenüber einer alles verschlingenden >Macht< lohnt. In seinen letzten Schriften führt Foucault die Themen seiner früheren Arbeiten fort, unternimmt aber zugleich den Versuch, der antihumanistischen Konsequenz zu entgehen. In einem zentralen Punkt nimmt er eine grundlegende Wendung vor: Das Individuum erfährt eine neue Bestimmung. Foucault macht eine Entwicklung durch, die vom Tod des Menschen zur Frage nach den »conditions d'émergence et de préservation d'un sujet éthique« führt." 7 Im weit ausgreifenden Rückblick auf antike Texte und aus ihnen erschlossenen Lebensformen entwickelt Foucault die Vorstellung eines selbstbestimmten Individuums. Im Titel des dritten Bandes seiner Histoire de la sexualité hat er diesem Programm einen griffigen Namen gegeben: Le souci de soi. Vom Hauptstrom des neuzeitlichen Subjektdenkens entfernt er sich dadurch, daß sein Individuum mit ziemlicher Radikalität als staats- und gesellschaftsfem gedacht wird. Foucault drängt den klassischen und die neuzeitliche Philosophie prägenden Dualismus von »Individuum und Gesellschaft zurück. Es ist eine Pointe seiner >Sorge um sichSorge um sich< liegt als Leitbild nicht die Politik, sondern die Ästhetik zugrunde. Foucault entwirft eine »esthétique de l'existence«."* Nach antikem Vorbild soll der Mensch vor allem über seine >Lüste< selbst verfügen. Die Lüste sind das zentrale Thema des letzten großen Werkes von Foucault, seiner Histoire de la sexualité. Foucault unterscheidet hier zwischen einer >SexualitätGebrauch der Lüste< vollendet Foucault den langen Weg vom Loblied des Wahnsinns bis hin zu den Tugenden der Public Schools«.212 In der Tat klingen die inhaltlichen Bestimmungen des neuen anthropologischen Ideals recht hausbacken: »Par le logos, par la raison et le rapport au vrai qui la gouverne, une telle vie s'inscrit dans le maintien ou la reproduction d'un ordre ontologique; elle reçoit d'autre part l'éclat d'une beauté manifeste aux yeux de ceux qui peuvent la contempler ou en garder la mémoire.«213 Gadamer hat ebenfalls im Blick auf die griechische Antike eine ganz ähnliche Konzeption vorgeschlagen, in der seine Hermeneutik letztlich verankert ist: »Man >fuhrt< sein Leben, und so, daß man am Ende das gute, das richtigste, das angemessenste Leben auf Grund der eigenen Wahl zu realisieren versucht.« Gadamer hat aber nicht die Einschränkung hinzuzufügen vergessen, die bei Foucault fehlt: »Gleichwohl bleibt es der Horizont der Natur, in den menschliches Ordnen und Gestalten immer eingebettet ist«.214 An anderer Stelle ordnet Gadamer dieses antike Wissen darüber, »wie man sich selbst herzustellen hat«215 konsequent in seine Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems< ein. Dieses Wissen ist praxisbezogen, es bleibt verbunden mit dem hermeneutischen Problem der Anwendung. Bei Foucault vollzieht sich die Wiederentdeckung des Individuums unter dem Zeichen der Ästhetik. Er verbindet damit zwei Momente des modernen Denkens, die in der Postmoderne gerne zusammengeschmolzen werden, um aus ihnen eine politische Option zu gewinnen. Die Hypertrophierung des Ästhetischen und sein Eindringen in die Ethik und Politik folgt im 20. Jahrhundert zwei gegensätzlichen Leitlinien. Habermas hat fur die Überbetonung des Ästhetischen gegenüber 210 211 212 215 214 215

Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke, S. 10f.; S. 30. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 115. Eagleton, Ästhetik, S. 407. Foucault, Histoire de la sexualité II, S. 103. Gadamer, Die Kultur und das Wort, S. 17. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 298.

246 dem Politischen Nietzsche verantwortlich gemacht und dessen Wurzeln in der deutschen romantischen Philosophie gesehen.216 Diese Entwicklung findet ihren Widerhall vor allem in den dezisionistischen Macht- und Gewalttheorien. Es ist auffällig, daß diese Theorien seit Nietzsche im Bannkreis des Ästhetischen stehen. Carl Schmitt zeigte sich fasziniert von der »Ästhetik der Gewalt«,217 und Benjamin, diesem Denken selbst nicht abhold, hat wenig später die treffende und berühmte Formel gefunden, als er dem Faschismus eine »Àsthetisierung der Politik« bescheinigte.218 Diese Kritik der Moderne mit ihrer Hypostasierung des Ästhetischen verzichte, so lautet Habermas' Vorwurf gegen Nietzsche als ihren Urvater, auf die »Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes.« 2 " Auf der anderen Seite steht aber eine ganz gegenläufige Rezeption des ästhetischen Denkmodells der Moderne. Spätestens seit dem deutschen Idealismus wird der Kunst ein emanzipatorisches Potential zugeschrieben; sie erscheint als Bundesgenossin fur Befreiungsbestrebungen aller Art.220 Seine erste Formulierung erhielt dieser Gedanke in Schillers geschichtsphilosophischen Schriften. Deren Bestimmung ist fur das ästhetische Denken der Moderne bahnbrechend geworden: Kunst und Freiheit gehören seitdem zusammen. Bei nüchterner Überlegung erscheint es merkwürdig, daß immer wieder die Literatur und in zweiter Linie auch die Kunst überhaupt in Anspruch genommen werden für Aufgaben, die eigentlich von gesellschaftlicher Praxis wahrzunehmen wären. Der emanzipatorische, wenn nicht revolutionäre Gehalt von Kunst bleibt eine idée fixe insbesondere der deutschen Ästhetik des 20. Jahrhunderts. Die extremsten Formulierungen für diese Hoffnung finden sich bei Adorno. Für ihn nimmt die Kunst jene Stellung ein, die die klassische marxistische Theorie dem Proletariat als Subjekt der Geschichte zugeschrieben hatte. Marcuse formuliert eine andere Version dieser Hoffnung im direkten Anklang an Schiller: »Und das Ziel jeder Revolution eine Welt der Freiheit - erscheint in einem völlig unpolitischen Medium, unter den Gesetzen der Schönheit, der Harmonie.« 221 Diese Theorien haben in den achtziger Jahren, nach dem Versickern der Studentenbewegung, zunächst ihren Kredit in der theoretischen Diskussion verloren. Die Rehabilitation des Ästhetischen als eines Mittels der Politik findet aber am Ende des 20. Jahrhunderts im Zuge der Postmoderne-Diskussion auf einem Umweg wieder Eingang in die Theorie. Wie bei Adorno übernimmt die Kunst eine Stellvertreter-Funktion im Kampf gegen autoritäre oder totalitäre Gesellschaftsstrukturen. Im Zuge einer verwässerten Rezeption der französischen Postmoderne werden diese Auffassungen in Deutschland neu belebt, dabei aber durchweg des aggressiven Gehalts entkleidet. Die Grenzüberschreitungen, denen etwa Foucault in seinen früheren Schriften das Wort redet, sind weit entfernt von den interkulturellen Verständigungsphantasien, die im deutschen postmodernen Kultur- und 216 217 218 219 220 221

Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 117-120; S. 148; S. 155. Habermas, Die Schrecken der Autonomie, S. 111. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 502. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 117. Vgl. Brenner, Was ist Literatur?, S. 30-34; Brenner, Das Trojanische Pferd, S. 163-165. Marcuse, Konterrevolution und Revolte, S. 123.

247 Politikverständnis Konjunktur haben. Dennoch fuhrt ein konsequenter Weg von den frühen anarchischen Gesellschafts- und Subjektsphantasien der französischen postmodemen Theoretiker zu den späteren domestizierten Konzeptionen, in denen pluralistische Politik und Ästhetik ineinander übergehen. Lyotard hat diesen Weg bereitet, der zu einem gutbürgerlich liberalen Politikmodell fuhrt, das sich in der deutschen Rezeption problemlos mit der repräsentativen Demokratie verschmelzen läßt. Kunst kann dann, unter Berufung auf Lyotard, als »Elementarschule der Pluralität« erscheinen.222 Lyotard hat wieder politisch-moralische und ästhetische Problemstellungen eng zusammengeführt. Die postmoderne Ästhetik stellt sich in die Tradition der Ästhetik der Moderne, ohne deren Konsequenzen teilen zu wollen. Lyotards höhnische Kritik an der »attitude thérapeutique«,223 die er in der Tradition der Aufklärung wirksam werden sieht, war der Versuch, sich der Logik einer politisierten Ästhetik zu entziehen; aber er selbst kehrt später genau zu dieser Vorstellung zurück. Auch bei Lyotard findet sich die charakteristische Unentschiedenheit, die schon in Kants Ästhetik mit ihrer Formel vom Schönen als dem »Symbol des Sittlichguten«224 erkennbar war: Die Bestimmung der Kunst ist gebunden an ihre Autonomie, aber zugleich wird ihr eine soziale, politische oder moralische Aufgabe zugewiesen. Daß sich mit diesem Widerspruch schlecht leben läßt, zeigt die neuere Diskussion. Harold Bloom hat aus dem Dilemma die notwendigen Schlüsse gezogen, die zu einem traditionalistischen Literaturverständnis zurückfuhren. Große Literatur zeichnet sich aus durch »strangeness«, die sich nicht assimilieren läßt.225 Das ist durchaus noch im Sinne der postmodernen Ästhetik, aber Bloom spielt diese Literaturkonzeption gegen die Auffassungen jener von ihm despektierlich als >School of Resentment< bezeichneten Ansätze aus, die der Literatur, oft wider die Logik ihrer eigenen Argumentation, eine sozialtherapeutische Funktion zuschreiben wollen. Die Konsequenz liegt auf der Hand und wird von Bloom, dem ehemaligen Dekonstruktionisten, auch gezogen: Er unternimmt eine fulminante Verteidigung des >Western Canon< und stellt sich damit gegen die postmodernen Bestrebungen zu seiner Aufsprengung: »Whatever the Western Canon is, it is not a program for social salvation«.226 Lyotard hat sich dem klassischen Dilemma der idealistischen Ästhetik, deren Erbe auch er antreten will, auf andere Weise zu entwinden gesucht, indem er das >Schöne< durch das >Erhabene< ersetzte. Seine Rehabilitation des Erhabenen das einmal einen Zentralbegriff der Ästhetikdiskussion im 18. Jahrhundert war dient dem gleichen Zweck wie die Rehabilitation der Minderheiten. Es ist ge-

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Welsch, Für eine postmoderne Ästhetik des Widerstands, S. 165. Lyotard, Petite mise en perspective de la décadence, S. 136. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 461. - Eine recht unklare Auseinandersetzung mit Kants Position findet sich bei Lyotard, Der Widerstreit, S. 221 f. Bloom, The Western Canon, S. 3. Ebd., S. 29.

248 kennzeichnet durch seine Amorphität und Heterogenität; es setzt - hier folgt Lyotard Kant - moralische Energien frei:227 In der Wendung zum Erhabenen kehrt das Grundmotiv des postmodernen Denkens wieder: Das Erhabene nimmt die Stelle des >Heterogenen< und des >Anderen< ein, die in der Postmoderne-Tradition konsequent als Gegenbild zur Totalität gesetzt wird. Die Denkbewegung bleibt immer das gleiche, unabhängig davon, wie die Stelle des >Anderen< inhaltlich aufgefüllt wird: »Das >AndereFremde< nimmt gleichsam Rache und übt subtile Vergeltung« an der Aufklärung.228 Die Stelle des >Anderen< ist offensichtlich eine Leerstelle. Daß sie mit der Kunst besetzt wird, ist nur die Folge einer idealistischen Tradition; es ergibt sich nicht notwendig aus der Eigenart von Kunst. Diese Einsicht scheint sich in neuerer Zeit im postmodernen Denken immer deutlicher durchzusetzen. Sie führt jedoch nicht zu einer Rückkehr zur Politik, sondern zur irrlichtemden Suche nach immer neuen Kandidaten fur die vakante Position des >AnderenHeiligen< als einem Gegenbild zur rationalistisch »entzauberten Welt« Max Webers geführt: »Das >Heilige< ist das Doppeldeutige, das nicht eindeutig gemacht werden kann.« 22 ' Es ist eine eigenartige Entwicklung, daß das postmoderne Denken trotz seiner politischen Ausgangsimpulse sich immer weiter von der Politik entfernt hat. Es nimmt einen Weg von der Politik über die Sprache zur Ästhetik und schließlich zur Theologie. Die Beliebigkeit, mit der die Stelle des >Anderen< besetzt werden kann, hat offensichtlich einiges zur Faszinationskraft des postmodernen Denkens beigetragen. Sie nimmt ihm aber nicht nur den subversiven Stachel, sondern fuhrt auch zur gefahrlichen Nähe zu Positionen, die eigentlich bekämpft werden sollten. Derrida hat mit seiner Rückwendung zu klaren politischen Aussagen in den neunziger Jahren eine deutliche Konsequenz daraus gezogen - um den Preis eines weitgehenden Verzichts auf sein dekonstruierendes Verfahren. Die postmoderne Engfuhrung von Politik, Ästhetik und Literaturwissenschaft darf deshalb als gescheitert betrachtet werden.

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Vgl. Lyotard, Das Interesse am Erhabenen, S. 112f.; Lyotard, Der Widerstreit, S. 138; S. 273f. Vgl. dazu Welsch, Für eine postmoderne Ästhetik des Widerstands, S. 166. Kamper/Wulf, Einleitung, S. 28. Ebd., S. 3. - Dieser Übergang zum >Heiligen< ist bei Lyotard schon angelegt; vgl. Lyotard, Das Interesse am Erhabenen, S. 117. Vorläufer war auch hier Bataille, der das Heilige als das »hétérogène« und das Profane als das »homogène« bestimmt hatte; vgl. Bataille, Dossier »Hétérologique«, S. 167.

Achtes Kapitel Die Disziplinierung der Literatur: Autor, Werk und Wissenschaft

Die postmodernen Theorien haben die zentralen Grundbegriffe und Verfahren der Literaturwissenschaft radikal in Frage gestellt. Sie haben der Literaturwissenschaft damit die Ordnungsprinzipien entzogen, in deren Netz sich das >Problem der Interpretation entfalten konnte. Die Kritik läuft darauf hinaus, daß sich die Wissenschaft ihren Gegenstand selbst konstruiert, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, daß die Prinzipien dieser Konstruktion nicht solche des Objekts, sondern solche der Wissenschaft selbst sind. Dieser Einwand ist nicht verfehlt. Tatsächlich haben sich die Wissenschaften erst in jüngerer Zeit mit der Erforschung ihrer eigenen externen und internen Voraussetzungen befaßt. Die Naturwissenschaften sind dabei den Geisteswissenschaften weit voraus. Die Thematisierung ihrer Einbindung in soziale wie institutionelle Strukturen gehört seit langem zu den Selbstverständlichkeiten der wissenschaftstheoretischen Diskussion. Seit der 1901 erfolgten Gründung der Gesellschaft fur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, die bald auch die >Technik< in ihren Namen aufnahm, haben sich die Naturwissenschaften ihrer eigenen Geschichte systematisch vergewissert. Die Gründung der Gesellschaft spricht dafür, daß das Bewußtwerden der historischen Dimension in den Naturwissenschaften mit dem Ausdifferenzierungsprozeß zusammenhängt, der sich in dieser Zeit vollendet hat. Von dem Moment an, an dem sich die naturwissenschaftlichen Fächer endgültig von ihren philosophischen Bindungen loslösten und sie ihre historische Dimension per defwitionem von sich abspalteten und zum bloßen Beiwerk deklarierten, wurde der Blick frei auf genau diese Dimension, die nun nicht mehr mit der Wissenschaft selbst verschmolzen, sondern als Teil ihrer Außenwelt begriffen wird. Die Einsicht in die eigene Historizität ist somit das paradoxe Ergebnis einer Enthistorisierung der Naturwissenschaft. Die Vergewisserung der eigenen geschichtlichen Entwicklung hatte für die Wissenschaftshistoriker der Gründungsphase zunächst überwiegend pragmatische Bedeutung: Der »Arbeiter auf dem Felde der Wissenschaft und der Industrie« läßt die »Hand am Pfluge einen Augenblick ruhen und schauet zurück«. Der Rückblick bewahrt die Wissenschaft vor »eitler Selbstüberschätzung, verhütet unnötige Doppelarbeit, lässt verlassene Seitenpfade wieder zweckdienlich einbiegen in das Wegenetz wissenschaftlichen und industriellen Fortschrittes, abgerissene Fäden wieder einknüpfen in das vielverschlungene Gewebe des Wunderteppichs menschlicher Naturerkenntnis und neue Wege und Leitfäden finden zu fernen lockenden Zielen.« Die metaphorisch durchtränkte Euphorie, mit der Karl Sudhoff, der Nestor der deutschen Wissenschaftshistoriker, die Möglichkeiten der Wissenschaftsgeschichte beschwört, steht im Banne des Fortschrittsglaubens, wie er zu den Insignien der Wissenschaft in der wilhelminischen

250 Ära gehörte. Die Wissenschaftsgeschichte ist das Gedächtnis der Wissenschaft; eine geschichtliche Betrachtung kann der Bewahrung von Einsichten dienen, die im stets sich selbst überbietenden Fortschrittsprozeß verloren zu gehen drohen. Zugleich aber wird - noch sehr unbestimmt - der Wissenschaftsgeschichte eine strukturbildende Funktion zugeschrieben; Sudhoff erinnert an »die alte Wahrheit [ ...], dass die Geschichte einer Wissenschaft die Wissenschaft selbst ist, dass jede Wissenschaft, die ihre Geschichte vergisst, auf Abwege gerät«.1 Hinter der Metaphorik deutet sich die vage Einsicht an, daß die geschichtliche Betrachtung der Naturwissenschaften das Medium ihrer Selbstreflexion ist. Der Wissenschaftsgeschichte kommt eine Korrekturfunktion zu; sie ist aber noch weit davon entfernt, jene Aufgaben zu übernehmen, die einer zur Wissenschaftssoziologie erweiterten Selbstreflexion der Naturwissenschaft einige Jahrzehnte später zum Thema werden. Der entscheidende Impuls für eine Selbstreflexion, die sich aus dem Bann des Fortschrittsglaubens gelöst hat, ging von Thomas S. Kuhns Thesen über die Structure of Scientific Revolutions von 1962 aus. Die historisch plausible Annahme, daß Wissenschaft sich nicht in kontinuierlicher Entwicklung, sondern in revolutionären Sprüngen vollziehe, hat das Wissenschaftsverständnis des 20. Jahrhunderts nachhaltig verändert. Sie hat lange vor dem Auftreten postmoderner Theorien das Bewußtsein dafür geschärft, daß »die wirkliche Entwicklung der Wissenschaft nicht den von der Wissenschaftstheorie formulierten Normen von Wissenschaftlichkeit entspricht«:2 Wissenschaft vollzieht sich nicht als reine Theoriegeschichte mit einer asymptotischen Annäherung an die >WahrheitWissenssoziologie< hat in diesem Sinne die Voraussetzungen von Wissenschaft als eine »Theorie der Seinsverbundenheit des faktischen Denkens« beschrieben: Sie stellt fest, daß das Denken ganz entscheidend durch »außertheoretische Faktoren« beeinflußt wird; eine Auffassung, die lebhafte soziologische Kontroversen hervorrief.'1 Es ist merkwürdig, daß die Geisteswissenschaften, die doch traditionell so viel stärker der Selbstreflexion verpflichtet sind, aus diesen Einsichten wenig Profit gezogen haben. Bis in die jüngste Zeit haben sie entgegen jeder Alltagserfahrung die Tatsache ignoriert, daß auch geistige Arbeit von Voraussetzungen abhängig ist, die unbekannt bleiben, weil sie niemand wahrhaben will oder kann: »Immer hat das philosophische Staunen vor seinen eigenen Rahmenbedingungen halt gemacht; vor den Fragetechniken, Büchern, Institutionen, die auch die Philosophie sind.«5 Das reine Denken ist voraussetzunglos - das ist der Konsens, den die Philosophie und in ihrer Nachfolge die Geisteswissenschaften buchstäblich über Jahrtausende hinweg haben konservieren können. Hannah Arendt hat auf den Spuren Heideggers die Außerweltlichlichkeit des Denkens nachdrücklich hervorgeho1 2 3

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Sudhoff, Zur Einführung, S. 1. Böhme, Kann es theoretische Wissenschaftsgeschichte geben?, S. 119. Vgl. v. Hentig, Das Lehren der Wissenschaft, S. 307-309; Brenner, Die Grenzen des Geistes, S. 67-80. Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 230. Kittler, Vergessen, S. 197.

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ben: »Das Denken hingegen hinterläßt keine derart greifbaren Spuren«. Heidegger freilich hatte diesen Sonderstatus ausdrücklich auf das philosophische Denken begrenzt und der Wissenschaft einen anderen und wohl minderen Rang zugewiesen: Er stellt zutreffend fest, »daß die Wissenschaft ihrerseits nicht denkt und nicht denken kann und zwar zu ihrem Glück und das heißt hier zur Sicherung ihres eigenen festgelegten Ganges.«7 Die Frage nach der Art und Weise, wie diese >Sicherung< vor sich geht, welchen Bedingungen sie unterliegt und von welchen Einflüssen sie abhängig ist, eröffnet der Wissenschaftsforschung der Geisteswissenschaften ein weites Feld. Daß die Geisteswissenschaften von externen Rahmenbedingungen abhängig sind, ist schwer übersehbar; der politische, juristische, institutionelle und zuletzt auch kommerzielle Einfluß ist in der wissenschaftlichen Praxis kaum zu ignorieren, auch wenn er notorisch unterschätzt zu werden pflegt. Das Problem läßt sich reduzieren auf die Frage nach dem Zeitbedarf der Wissenschaft. Die Einsicht in den Zeitverbrauch durch wissenschaftliche Arbeit und ihre Zeitknappheit ist im Selbstverständnis der Wissenschaften wenig verankert. Wissenschaft als weltliche Tätigkeit steht, im Gegensatz zur Vernunft, unter dem Diktat der Zeitknappheit." Die Wissenschaft reagiert auf dieses Dilemma, indem sie eine disziplinare Infrastruktur herausbildet, die zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit vermittelt. In den Institutionalisierungsformen der neuzeitlichen Wissenschaft wird der faktische Zeitbesitz des einzelnen Wissenschaftlers verlängert durch die Verlagerung seiner Arbeit in eine auf Dauer gestellte Institution; gleichzeitig wird die Unendlichkeit der Fragestellungen pragmatisch reduziert.9 In diesem Sinne haben die Kernfächer der deutschen Philosophischen Fakultäten seit dem 19. Jahrhundert eine Infrastruktur herausgebildet, die sich bis zur Gegenwart kaum verändert hat.10 Die auffälligste und geläufigste Erscheinungsform dieser Infrastruktur ist die Organisation der wissenschaftlichen Arbeit in >Fächem< oder >DisziplinenUmwelt< aufgehen. In diesem Prozeß ihrer Identitätsbildung disziplinieren die Fächer sich zunächst selbst. Sie entwickeln nach ihrer objektiven Seite nicht nur materiell manifest werdende Institutionen, sondern ebenso Ver-

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Arendt, Vom Leben des Geistes I, S. 71. Heidegger, Was heißt Denken?, S. 4. Vgl. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, S. 233. Vgl. ebd., S. 158. - Einen wichtigen historisch-statistischen Versuch, den Zeitbedarf geistiger Arbeit zu rekonstruieren, unternimmt Engelsing, Arbeit, Zeit und Werk im literarischen Beruf, bes. S. 385-403. Vgl. Brenner, Das Verschwinden des Eigensinns, S. 36-45; Brenner, Geist und Wirklichkeit, S. 171-174.

252 fahren des Denkens und Forschens - »bestimmte Forschungsgegenstände, Methoden, Theorien, Forschungszwecke.«" Daneben stehen auf der anderen Seite Strategien der Disziplinierung der an der Wissenschaft beteiligten Subjekte durch ihre >Professionalisierungordnungslosen Rauschen« ergibt. In seinen eigenen Arbeiten jedenfalls zeigt er sich dem wissenschaftlichen Diskurs stärker verpflichtet als dem >Gemurmel der DingeDiskursanalyse< - , auf eine nachvollziehbare und transferfähige Weise. Die Kulturkritik des 20. Jahrhunderts von Cassirer bis Foucault beschreibt die Prozesse der Selbstdiziplinierung von Wissenschaft, und sie macht meist die Verlustrechnung auf, die dem Gewinn an >Herrschaftswissen< gegenüber steht. Im Blick auf die Geschichte der Literaturwissenschaft gewinnen diese Prozesse eine besondere Färbung. Denn hier geht es nicht mehr nur um die Ursprünglichkeitsverluste, die das philosophische Denken durch seine Disziplinierung zur Wissenschaft erfährt, sondern es geht mehr noch um die Gewalt, die es seinem Gegenstand, der Literatur, antut. Eine lange, bis zu Piaton zurückreichende Tradition hat die Vorstellung im abendländischen Denken fest verankert, daß es mit der Literatur etwas Besonderes auf sich habe. Insbesondere in der Nachfolge Kants und des deutschen Idealismus wurde die Ästhetik »zur Rechtfertigung der kühnsten metaphysischen und sittlichen Ansprüche« an die Kunst benutzt.24 In dieser Tradition steht - ungewollt - die postmoderne Kritik an der hermeneutischen Literaturwissenschaft. Ihr Ziel ist die Freilegung des Textes durch die Beseitigung der disziplinierenden Regularien, von denen er umstellt wurde; sie unterstellt, daß im Prozeß der literaturwissenschaftlich institutionalisierten Konstitution von >Sinn< etwas unterdrückt werde, was erhaltenswert sei. Das ist der Vorwurf, der gegen die Literaturwissenschaft geme erhoben wird: Deren »Kunst der Interpretation« bestehe darin, »die gedeuteten Texte zu verdrängen, sie vergessen und gar unlesbar zu machen«; sie erbringe statt der gewünschten subversiven eine »Neutralisierungsleistung«, mit der die Texte ebenso wie ihre Leser gezähmt würden. Dadurch werde verdrängt, was an Möglichkeiten in den Texten selbst und in ihrer reglementierungsfreien Lektüre enthalten sein könnte: »das Glück, das die schöne Fremde verheißt«.25 Die Poesie ist das, was sich den Regeln entzieht, und die Literaturwissenschaft ist das, was die Poesie wieder in Regeln einordnen will, indem sie ein Netz von Institutionen schafft.

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Foucault, L'ordre du discours, S. 78. Wellek, Geschichte der Literaturkritik I, S. 236. Hörisch, Literaturwissenschaft als Medium der Verkennung von Literatur, S. 454-456.

255 Die H o f f n u n g auf ein Glücksversprechen, das im Lesen von Texten eingelöst werden könne und dessen Einlösung durch obrigkeitsstaatsanaloge Instanzen verhindert werde, ist ein versteckter Topos der postmodernen Kritik an der Literaturwissenschaft. Derridas Lektüre-Praxis bezieht aus dieser Grundannahme ihren Impetus; sie konzentriert sich darauf, ohne Rücksicht auf philologische Konventionen Texte zu dekonstruieren, um ihnen ein subversives Potential abzugewinnen. Die postmoderne Kritik der Literaturwissenschaft, wie sie sich speziell in Deutschland etabliert hat, geht einen anderen Weg. Sie sucht weniger den unmittelbaren Zugang zum Text, sondern richtet sich eher gegen die Institutionen, welche die Text-Lektüre reglementieren. Es gehört zu den wichtigeren, in der Forschungsrezeption freilich weniger wahrgenommenen, Verdiensten des Poststrukturalismus, den Blick auf die Institutionen gelenkt zu haben, in denen der Umgang mit Texten stattfindet und durch die sowohl die Texte wie auch dieser Umgang präformiert werden. Er versucht, jene Mechanismen historisch zu identifizieren, welche als institutionalisierte Regelwerke der Interpretation von literarischen Texten einen >Sinn< verleihen, den die Texte von sich aus nicht haben. Eine Sonderstellung nimmt in Deutschland dabei die Zeit um 1800 ein, in der die moderne Hermeneutik entstanden ist und mit ihr jene akademischen und schulischen Institutionen, die philologischen Konventionen und nicht zuletzt die juristischen Kodifikationen, die den Umgang mit literarischen Texten fortan bestimmen werden. Eine zentrale Position in diesem »Diskursnetz Verstehen« 2 6 nimmt der >Autor< ein. In der Geschichte und Vorgeschichte der modernen Literaturwissenschaften ebenso wie in der populären Lektürepraxis wird der >Autor< als die Schaitstelle begriffen, durch die Texte konstituiert und Aufschreibe- wie Leseprozesse inauguriert werden. Daß die Literaturwissenschaft sich in diesem Maße der Autor-Konzeption als einer zentralen Kategorie bei der Erklärung von Texten und der Gliederung literarhistorischer Prozesse bedient, ist nicht selbstverständlich, sondern Resultat einer langwierigen historischen Entwicklung, die eng verbunden ist mit sozial-, geistes- und rechtsgeschichtlichen Entwicklungen. Die Ursprünge des Bedürfnisses, sich bedeutender geistiger Leistungen dadurch zu versichern, daß ihr Urheber biographisch identifiziert wird, sind bemerkenswert deutlich lokalisierbar: Sie reichen zurück in die Zeit der Peripatetiker, jener auf Aristoteles zurückgehenden Philosophenschule des 4. Jahrhunderts v. u. Z., welche die Gattung der >Biographie< systematisch, unter Rückgriff auf die aristotelische Ethik, gepflegt hat. Die peripatetische Biographie bestimmt die Identität der Person als Einheit von Charakter und Werk. 2 7 In dieser frühen Bestimmung der AutorFunktion ist angelegt, was bis in die Gegenwart nachwirken wird: der Zusammenhang von Autorschaft und Autorität. Der antike >Schulautor< als Autorität ist während des ganzen Mittelalters und mindestens bis ins 16. Jahrhundert eine ge-

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Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 30. Vgl. Koch, Biographische Lexika, S. 98f.

256 läufige Erscheinung; Autoren der Antike dienten gleichermaßen als »Wissensquellen« wie als »ein Schatz der Lebens- und Weltweisheit«. 2 8 Seit dieser Zeit hat sich die Biographie oder die Biographien-Sammlung in der abendländischen Geschichte etabliert. Es lassen sich aber deutlich epochale Schwankungen des Interesses an dieser Gattung erkennen. Während das Mittelalter - abgesehen von der Sonderform der Hagiographie, der Lebensbeschreibung der Heiligen 29 - sich ihrer kaum bediente, hat sich eine frühe Blütezeit der Gattung in der Renaissance entfaltet, die eine Fülle von Biographien, meist in enger Verbindung mit bibliographischer Dokumentation, hervorgebracht hat. 30 Ein individuelles Autor-Selbstbewußtsein hat sich erst später entwickelt. Luther und einige seiner Zeitgenossen dürfen als verfrühte Repräsentanten dieser Entwicklung gelten. Denn vereinzelt findet sich schon im 16. Jahrhundert der >Autor< als >IchAutorität< verliert ihre Bedeutung, auch wenn sie weiterhin den geheimen Grund für das Interesse am Autor bilden dürfte. In zunehmender Beschränkung auf den deutschen Sprachraum entstehen biographische Lexika, welche nicht mehr die Einheit von Person und Werk rekonstruieren wollen, sondern sich mit der Nennung äußerer Lebensdaten und der bibliographischen Erfassung der Schriften begnügen. 3 2 Mit diesem Interesse am Autor geht die Entstehung eines Autor-Selbstbewußtseins einher, das sich aus verschiedenen, recht deutlich zu rekonstruierenden Quellen speist: Seine Entwicklung vollzieht sich gleichermaßen unter merkantilen wie unter poetologischen Vorzeichen. Es verdankt seine Impulse einer neuen Kunstund Dichterauffassung sowie buch-, markt- und rechtsgeschichtlichen Entwicklungen. Das 18. Jahrhundert ist in seiner zweiten Hälfte durchzogen von einer Diskussion um die Frage nach dem Recht des Autors an seinem geistigen Eigentum, die schließlich im Urheberrecht mündete. 3 3 Grundsätzlich ist die Einsicht nicht neu, daß Autoren ein schutzbedürftiges geistiges wie materielles Interesse an ihren Werken haben. Die Antike kannte zwar ein spezielles Urheberrecht noch nicht, auch wenn Möglichkeiten zum Schutz von Autoren offensichtlich vorhanden waren. Indizien sprechen dafür, daß sich bereits im 7. und 6. Jahrhundert

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Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 68. Vgl. Rühle, (Art.) Hagiographie, Sp. 27f. Vgl. Koch, Biographische Lexika, S. lOOf. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 430. Vgl. Koch, Biographische Lexika, S. 101-103. Vgl. Ong, Orality and Literacy, S. 130-132.

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v. u. Ζ. ein Bewußtsein des geistigen Eigentums herausgebildet hatte. Mit der Entstehung des Buchdrucks wird das Urheberrechtsproblem sofort virulent und von prominenten Autoren diskutiert. 35 Hinter der damit einhergehenden Forderung, Werke mit Autorennamen zu versehen, verbanden sich freilich nicht immer emanzipatorische Bestrebungen der Schriftsteller. Sie konnte ganz im Gegenteil zum Instrument der Repression werden - in der Mitte des 16. Jahrhunderts wird die Autoren- und Verlegernennung vorgeschrieben, um der staatlichen und kirchlichen Zensur ein Steuerungsinstrument an die Hand zu geben. 36 Die Entwicklung eines juristisch und merkantil wirksamen Autor-Selbstverständnisses hat jedoch erst später begonnen; die »Theorie vom geistigen Eigentum« wurde durch die kursächsische Generalverordnung von 1686 inauguriert. 37 Trotz dieser frühen Vorläufer hat sich die Idee lange Zeit nicht durchgesetzt. Statt dessen wurde seit dem Ende des 15. Jahrhunderts die Form des >Privilegiums< entwickelt, das allerdings weniger das geistige als das materielle Eigentum und damit eher die Verleger als die Autoren schützte, indem es das Recht zum Druck bestimmter Werke in einem bestimmten Territorium verlieh. 38 So wenig wie in juristischer genoß die Autor-Konzeption in literarischer Hinsicht die besondere Aufmerksamkeit in der Zeit zwischen Renaissance und Aufklärung. Ein grundsätzlicher Wandel in dieser Auffassung vollzog sich erst im späteren 18. Jahrhundert, im engen Zusammenhang mit der Entwicklung des literarischen Buchmarktes und der bürgerlichen Öffentlichkeit. Gewiß wurde schon früh die Autorisation eines Werkes durch einen bestimmten, meist renommierten Autor als ein Mittel zum besseren Verkauf von Büchern erkannt, dennoch hat die Buch- und Literaturgeschichte dieser Jahrhunderte keinen großen Wert auf die Bindung des Buches an eine bestimmte Person gelegt - ein erheblicher Teil der deutschen Literatur bis hin zur Erstfassung von Goethes Werther erschien anonym oder pseudonym; ein Höhepunkt pseudynomer Literatur in Deutschland wurde um 1800 erreicht. 3 ' Wie wenig selbstverständlich das Autor-Konzept sich zur europäischen Literaturkonzeption fügt, wird immer wieder, bis in die Diskussionen der neuesten Zeit, deutlich. Es ist kein Zufall, daß die Diskussion um die Definition und die Stellung des Autors zu seinem Werk sich erst dann ernsthaft und mit Ergebnissen entwickelt hat, als die Autorschaft zu einem juristischen Problem wurde. Die europäische Poetik ist zuvor durch diese Frage offensichtlich nie ernsthaft beunruhigt worden. Ihr Interesse galt, wenn es sich über das Werk hinaus verlagerte, seit der Katharsis-Theorie bei Aristoteles eher dem Leser als d e m Schöpfer des Werkes. Bis ins 20. Jahrhundert haben die Ästhetik, Poetik und Literaturwissenschaft Schwierigkeiten gehabt, den individuellen Autor in ihre jeweilige Syste34

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Vgl. Brox, Falsche Verfasserangaben, S. 68; Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Alterum, S. 15f.; Speyer, Fälschung, literarische, Sp. 237. Vgl. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 452-457. Vgl. ebd., S. 442. Geschichte des Deutschen Buchhandels I, S. 756. Vgl. ebd., S. 737. Vgl. Raabe, Pseudonyme und anonyme Schriften im 17. und 18. Jahrhundert, S. 54-56.

258 matik zu integrieren. Die vielfältigen Schöpfungs- und Genietheorien, deren Ursprünge zumindest bis zu Piaton zurückreichen, stellen eine charakteristische Zwischen- und Verlegenheitslösung dar: Sie tragen der Tatsache Rechnung, daß Werke von Autoren geschrieben werden, sie versuchen aber zugleich, deren Anteil zu minimalisieren. Dieses Dilemmas sind sich die emphatischen Genie-Theorien des 18. Jahrhunderts kaum bewußt gewesen. Speziell in Deutschland beziehen die Zentralkategorien der >Originalität< und >lndividualität< ihre Durchschlagkraft nicht aus der poetischen Diskussion, sondern sie verstehen sich offensichtlich als Säkularisationen theologischer Theoreme. Dabei kommt meist nicht in den Blick, daß diese Kategorien jetzt »innerhalb einer distinkten juristischen Formation funktionieren« müssen. 4 0 Andererseits ist es kein historischer Zufall, daß ausgerechnet Klopstock, als einer der ersten deutschen Protagonisten der GenieÄsthetik und einer Neubestimmung des Dichters auf dieser Grundlage, zugleich zu den ersten gehörte, die ein juristisches Recht am geistigen Eigentum reklamierten.'" Daß dem Autor materielle Vergütung fur seine geistige Arbeit zukommen solle, ist lange Zeit durch verschiedene Überlegungen gehemmt worden. Vor allem die Genie-Diskussion wirkte zunächst eher hemmend als fördernd. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts findet sich auch bei prominenten Schriftstellern die Auffassung, daß der Geist nicht zur Handelsware werden dürfe; 4 2 zudem wurde die aufklärungstypische Ansicht vertreten, daß die Gedanken Gemeingut seien und ihre Verbreitung nicht durch Verteuerung der Bücher aufgrund von Autorenhonoraren eingeschränkt werden solle. Beide Auffassungen haben lange Bestand gehabt, und es hat sehr diffiziler juristischer und oft auch philosophischer Erwägungen bedurft, um sie zu entkräften. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat sich jedenfalls endgültig die Auffassung durchgesetzt, daß der Autor ein materielles Recht auf sein geistiges Eigentum geltend machen dürfe, so daß im Deutschland der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts »ein ganz neues Bewußtsein der Macht der Schriftsteller erwachte«. 4 3 Erst jetzt etabliert sich der Autor im modernen Sinne: als Einheit von bürgerlicher, juristischer und geistiger Person. Die juristischen, ökonomischen und weniger beachtet - auch die schulpädagogischen - Diskussionen bilden die Grundlage für die moderne Fassung des Autorkonzepts: »Das Recht und die Schule sind die beiden großen Institutionen, in denen seine Macht verwaltet wird. Geht es im Recht um die Sicherung materieller Vorteile, so geht es in der Schule um die Kunst der Interpretation, um jenen unendlich stimulierenden Auftrag, in eigenen Worten das zu sagen, was der Autor ungesagt hat aber gesagt zu haben erlauben würde.« 4 4 Diese Institutionen schaffen die Voraussetzung fur die sehr viel diffizileren Bestimmungen der Autorfunktion in der hermeneutischen Diskussion seit Schleiermacher. Die Hermeneutik der Schleiermacherschen Tradi40 41

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Plumpe, Der Autor als Rechtssubjekt, S. 181. Vgl. Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens, S. 63; Bosse, Autorherrschaft ist Werkherrschaft, S. 125f.; Pape, Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 82-84. Vgl. Geschichte des Deutschen Buchhandels III, S. 121. Ebd., S.U7. Bosse, Autorisieren, S. 131.

259 tion ist autorfixiert. Auch wenn sie keineswegs in der Frage mündet, was der Autor gemeint habe, will sie den Text nur im Zusammenhang mit seinem Autor denken. Interpretieren heißt, einen Text auf seinen Autor beziehen, statt ihn bloß als Ergebnis einer handwerklich verstandenen Tätigkeit zu begreifen: »Die Funktion Autorschaft steuert das neue Verhältnis zu literarischen Texten. In Verruf kommen Rhetorik und Ars Poetica, denn die Leserfrage ist nicht mehr, was die Wörter tun, sondern was der dem Schöpfer gleiche Schöpfer mit ihnen gemeint hat.«45 Diese Bestimmungen wirken auf die hermeneutische Diskussion zurück, die nicht zufällig in dieser Zeit wieder einen Aufschwung erfuhr. Nicht zuletzt durch die juristischen Diskussionen wird das Bewußtsein dafür geschärft, daß der geschriebene Text einem anderen zugehört und durch Verstehen angeeignet werden muß.46 Der Autor der Hermeneutik ist freilich komplexer zu denken als der der späteren, philologisch reduzierten Literaturwissenschaft. In der Entstehungsphase der modernen Hermeneutik wird die Idee des Autors aus der Subjekttheorie des deutschen Idealismus herausgearbeitet. Das entscheidende Problem der Subjekttheorie, das auf den Problembestand der Interpretation nachhaltig einwirkt, läßt sich in einem einfachen Satz zusammenfassen: »Zur Subjektivität gehört wesentlich Spontaneität.«47 Spätestens seit Descartes, der ohne das spontane >cogito< nicht mehr auskam, gehört diese Feststellung zum Kernbestand der europäischen Philosophie. Bei Kant tritt sie als Ausgangspunkt der theoretischen ebenso wie der ästhetischen Erkenntnis auf: im vieldiskutierten »Schematismus«-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft ebenso wie im »freien Spiels der Erkenntnisvermögen« der Kritik der Urteilskraft.4® Die philosophischen Bestimmungen der Kunst und damit des Autors stehen im 18. Jahrhundert im Bann dieser philosophischen Grundidee, von der sich das 19. Jahrhundert nur schwer lösen kann. Der Autor wird definiert durch sein Schöpfertum - eine Vorstellung, die ihre Wurzeln in Piatons Kunsttheorie hat 4 ' und die zunächst in der Renaissance und dann wieder im frühen 18. Jahrhundert neu belebt wurde. Die Diskussionen entfalten sich im Spannungsfeld der von der Antike ererbten Zentralbegriffe von >Nachahmung< und >SchöpfungSubjekt< symbolisiert.« 51 Die Herauslösung des Individuums aus seinen sozialen und historischen Beziehungen wirft fur die Hermeneutik besondere Probleme auf, die allerdings in der zeitgenössischen Diskussion kaum wahrgenommen wurden. Schleiermachers Hermeneutik läßt sich aber als eine indirekte Reaktion auf die neue Problemlage begreifen. Auf der einen Seite akzeptiert er den Irrationalismus der neuen Subjekt-Konzeption mit ihrer Forderung nach Spontaneität; zugleich aber sucht er nach Maßstäben einer Verbindlichkeit, die Verstehen dennoch möglich machen. Er stellt fest, daß die Spontaneität des Autors konterkariert wird von den objektiven Zusammenhängen, aus denen seine Äußerung überhaupt hervorgeht und in die sie wieder eintritt. Die Innovationsfähigkeit ist zuvor in der Sprache als System selbst schon angelegt, aber sie muß in einem spontanen Akt des Subjekts erst aktualisiert werden. Für Schleiermacher ist es die Sprache der Poesie, in der das vorzüglich geleistet wird: »so wäre demnach die Poesie eine Erweiterung und neue Schöpfung in der Sprache. Allein dies verhält sich nicht so, sondern die Möglichkeit dazu wohnt schon der Sprache ursprünglich ein, aber freilich ist es immer nur das Poetische, woran es zum Vorschein kommt«. 52 An anderer Stelle betont er noch deutlicher die »leitende Gewalt einer schon feststehenden Form«, 53 in welche die Spontaneität des sprechenden Subjekts eingebunden ist. An dieser Frage des Verhältnisses von Individuellem und Allgemeinen entzünden sich die Streitigkeiten, die die literaturwissenschaftliche Diskussion bis heute - und heute wieder besonders - bestimmen. In ihr ist der Keim angelegt fur die Elimination des Autors durch die postmoderne Theorie. Es hat lange gedauert, bis der Autor in Zweifel gezogen wurde. Selbst die positivistische Literaturtheorie, deren Konzeption einen solchen Zweifel nahegelegt hätte, verzichtet nicht auf ihn. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Erich Schmidt noch einmal programmatisch die Bedeutung des Autor-Konzepts für die Philologie herausgestellt und einen Kompromiß zwischen der Genieästhetik und dem positivistischen Reduktionismus gesucht. Er wehrt sich gegen die alleinige Rückführung des Werkes auf äußere Einflüsse und bestimmt den Autor als eine »Persönlichkeit«, die sich dem positivistischen Zugriff entzieht. Ihr Ingenium bleibt »Geheimnis«, aber dennoch läßt sich seine »Entfaltung in geschichtlicher Bedingtheit verfolgen« 54 - mit jenem Programm Scherers, auf das sich Schmidt aus-

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Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 212. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 405. Ebd., S. 322. Schmidt, Die litterarische Persönlichkeit, S. 15.

261 drücklich beruft: Das Ererbte, Erlebte, Erlernte zu rekonstruieren, sei die Aufgabe des Philologen.55 Erst die modernen und postmodernen Thesen vom >Tod des Autors< haben das Autorkonzept frontal angegriffen. Sie haben ihren Ursprung nur indirekt in der idealistischen und romantischen Philosophie; direkt beziehen sie sich auf die Tradition des Strukturalismus. Seit ihren Anfängen versucht die strukturalistische Sprach- und Literaturtheorie ohne Subjekt und damit ohne Autor auszukommen. Sie reduziert Texte auf ein Gefuge von Zeichen, hinter denen kein einheitsstiftender Sinn ausmachbar ist - sie stiften allenfalls selbst den Sinn, den sie vermitteln können. Die Konsequenzen für das Autorkonzept hat Roland Barthes gezogen. Sie münden in der vielzitierten, aber in ihren Voraussetzungen wenig bedachten Formel vom >Tod des Autorsécriture< seinen Ursprung, der zu einer der Leitkategorien der postmodemen Diskussion avancierte. Er meint die Gebundenheit des persönlichen Stils eines Schriftstellers an überpersönliche sprachliche und kulturelle >Milieuslittéraires< ne peuvent plus êtres reçus que dotés de la fonction de l'auteur: à tout texte de poésie ou de fiction on demonandera d ' o ù il vient, qui l ' a écrit, à quelle date, en quelles circonstances ou à partir de quel projet.« 6 4 Barthes hat es im Blick auf das hermeneutische Problem noch lapidarer formuliert: »Γ Auteur trouvé, le texte est >expliquéWerken< befassen will, m u ß sich immer auch mit ihren Autoren befassen, weil sie anders der Werke nicht habhaft werden kann - darauf kann sie nur verzichten, wenn sie überhaupt darauf verzichten will, Wissenschaft zu sein; und diese Konsequenz hat Foucault nur vage als ferne Utopie angedeutet: Er halluziniert das Bild einer Kultur, »où les discours circulerai65 64 65 66 67

Vgl. ebd., S. 390f. Foucault, Qu'est-ce qu'un auteur?, S. 800. Barthes, La mort de l'auteur, S. 494. Foucault, Qu'est-ce qu'un auteur?, S. 798. Japp, Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses, S. 232f.

264 ent et seraient reçus sans q u e la fonction-auteur apparaisse j a m a i s « . 6 8 D e r A u t o r ist noch nicht gestorben, und auch später wird er nur verschwinden - er erscheint nicht mehr, aber in der L o g i k dieser S e n t e n z gibt es ihn d e n n o c h weiterhin als Unsichtbaren. F o u c a u l t s F r a g e nach dem Autor hat b a h n b r e c h e n d gewirkt, aber sie ist nicht wirklich neu. A u s g e r e c h n e t J o s e f Nadler hat schon aus einer streng positivistischen S i c h t w e i s e heraus die Autorfunktion in der Literaturgeschichte ganz ähnlich bestimmt. E r begreift den Autor nicht als biographisch identifizierbare Person, sondern als U r s a c h e von T e x t e n und stellt fest, » d a ß M e n s c h e n nur insofern in m e i n e W i s s e n s c h a f t e i n g e h e n , als in ihnen die zureichenden Gründe von T e i len m e i n e s W i s s e n s c h a f t s g e g e n s t a n d e s zu suchen sind.« 6 9 D a s führt zu einer E n t mystifizierung des Autors, ganz im S i n n e Foucaults: » M a n hielt die P e r s ö n l i c h keit S c h i l l e r s für etwas, dessen Dasein e b e n s o g e w i ß sei w i e das Dasein seiner S c h r i f t w e r k e . D a s ist aber logisch unzutreffend [ . . . ] eine P e r s ö n l i c h k e i t ist nur eine A n n a h m e , zwar eine außerordentlich gut begründete, h ö c h s t w a h r s c h e i n l i che, aber eben nur e i n e A n n a h m e « . 7 0 Auch die empirische Literatursoziologie hat den nüchternen B e f u n d erhoben, d a ß der Schriftsteller nicht nur i m m e r S c h r i f t steller ist, sondern auch in anderen sozialen B e z i e h u n g e n steht. 7 1 D i e m o d e r n e , medientheoretisch orientierte Diskussion hat aus einer anderen Perspektive die F r a g e gestellt, o b nicht eine » A u f l ö s u n g des A u t o r e n b e g r i f f s durch V e r g e s e l l schaftung der Literaturproduktion« festzustellen sei. 7 2 Denn daß » V e r ä n d e r u n g e n des A u t o r e n b e g r i f f s « auch durch den M e d i e n w a n d e l in der modernen und postmodernen G e s e l l s c h a f t hervorgebracht werden, d a r f vermutet werden, da A u f tragsarbeiten und T e a m a r b e i t an B e d e u t u n g g e w i n n e n . 7 3 D a ß der Autor eines W e r k e s nicht identisch ist mit einer biographisch identifizierbaren Person, ist eine Einsicht, die also nicht nur in den postmodernen D i s k u s s i o n e n herausgearbeitet wurde. In der Literaturwissenschaft haben sich schon früh Z w e i f e l daran gemeldet, o b die Zentralposition des Autors wirklich sachlich gerechtfertig ist oder o b es sich hier nicht nur um eine - b e q u e m e - Konstruktion handelt, die ihren Ursprung bestimmten historischen Voraussetzungen verdankt, die auch w i e der hinfällig werden könnten - wie Foucault suggeriert. S e i n e B r i s a n z in der p o s t m o d e m e n Diskussion hat der A u t o r b e g r i f f aber erst durch F o u c a u l t s V e r d a c h t erhalten, daß durch die konstruierte

Autorfunktion

etwas unterdrückt werde. S i e ist eines von vielen Mitteln, mit denen die W i s s e n schaft und ihr >Wille zur Wahrheit< den archaisch-anarchischen Diskurs unterdrücken, der sich in der Literatur gelegentlich B a h n bricht, wenn der Autor zurücktritt und die S p r a c h e spricht. Foucault k o m m t damit - wohl unbeabsichtigt in die Nähe eines literaturwissenschaftlichen K o n z e p t s , das in der A n f a n g s p h a s e der deutschen Germanistik eine w e s e n t l i c h e R o l l e spielte. D e n n d a ß der A u t o r 68 69 70 71 72 73

Foucault, Qu'est-ce qu'un auteur?, S. 811. Nadler, Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte, S. 32. Ebd., S. 36. Vgl. Fügen, Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden, S. 106. Schwenger, Der Medienautor oder der vergesellschaftete Schriftsteller, S. 98. Ebd., S. 97.

265 einmal im Zentrum der Literaturwissenschaft stehen würde, war nicht von Anfang an selbstverständlich; als Konkurrenzbegriff zur Bezeichnung der Urheberschaft von Literatur stand auch das >Volk< zur Diskussion. Das ist nicht so abseitig, wie es nach dem Gang der literaturwissenschaftlichen Entwicklung heute scheinen mag. Noch Foucault läßt etwas von dem Reiz erkennen, der von dem >VolkVolk< eine schöpferische Kraft wirksam ist, die sich den reglementierenden Diskursen der Neuzeit entziehen könne: »L'esprit obscur mais entêté d'un peuple qui parle, la violence et l'effort incessant de la vie, la force sourde des besoins échapperont au mode d'être de la représentation.« 74 Die Vorstellung, daß das >Volk< auf eine eigene Weise schöpferisch tätig sei, wie sie von den Brüdem Grimm entwickelt wurde, hat für einige Zeit in die Literaturwissenschaft Eingang gefunden. Nach dem Vorbild von Wolfs Prolegomena ad homerum von 1794 wird in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts besonders ausgiebig die Frage nach den Ursprüngen des Nibelungenliedes diskutiert. Wolf stellte die These auf, daß sich die Odyssee und die ¡lias »nicht eigentlich dem Dichtergenie des Mannes, dem wir sie gewöhnlich zuschreiben, sondern vielmehr der Kunstfertigkeit eines gebildeten Zeitalters und den vereinten Bemühungen vieler verdanken«. 75 Diese These wird kulturhistorisch umfassend begründet, nicht nur durch Textkritik, sondern vor allem auch im Blick auf die Medien, in denen sich die Texte >Homers< entfaltet haben. Wolf erweist sich als ein prämoderner Medienkritiker, der in den homerischen Texten nach Hinweisen auf die Aufführungssituation sucht. Er macht, ganz im Sinne modernster Mediävistik, geltend, daß sich die Lieder Homers im Medium der Aufführung und nicht der Schrift entwickelt haben. 76 Damit ist eine Auflösung des gerade erst verfestigten Autor-Konzepts vorbereitet, das in der Germanistik der folgenden Jahrzehnte aufgegriffen wurde und zu langanhaltenden programmatischen Kontroversen führen wird, in deren Verlauf die Germanistik als Institution ihre Gestalt gewinnt. 77 Wolfs Liedertheorie spielte auch in der Nibelungenlied-Forschung eine große Rolle und führte zu der Konsequenz, die Jacob Grimm zog; er kommt zu der ebenso lapidaren wie klassischen Feststellung, daß epische Gedichte »sich nur selbst zu dichten vermögen.« 78 Die Präferenz für die unpersönlichen Formen von Literatur, das Märchen, die Sagen und Lieder, die die wissenschaftliche Tätigkeit der Brüder Grimm geprägt hat, entspringt zeittypischen Wurzeln. Sie ist der Romantik ebenso verpflichtet wie der Entstehung eines Nationalismus-Konzeptes in Deutschland, das - entgegen den späteren Entwicklungen - noch von demokratischen Impulsen bestimmt war. 79 Die Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts hat sich von der romanti74 75 76 77 78 7

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Foucault, Les mots et les choses, S. 222. Wolf, Prolegomena zu Homer, S. 92. Vgl. ebd., S. 124f. Vgl. Kolk, Berlin oder Leipzig?, S. 8-21. Grimm, Gedanken: Wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten, S. 40. Vgl. Janota, Einleitung, S. 26.

266 sehen >VolksAutorOssianVolkspoesie< rezipiert werden. 94 Dieser Fälschungstypus ist nicht sehr häufig, auch wenn er im 20. Jahrhundert noch festzustellen ist: Bis in die Gegenwart ist der Verdacht nicht ausgeräumt, daß der nobelpreisgekrönte Roman Der Stille Don nicht von dem nominellen Verfasser Michail 90

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Brox, Falsche Verfasserangaben, S. 50. Ebd., S. 53. - Vgl. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum, S. 131. Grafton, Fälscher und Kritiker, S. 36. Vgl. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum, S. 131-149; vgl. auch Grafton, Fälscher und Kritiker, S. 16. Vgl. Wuthenow, Die erfolgreichste Fälschung, S. 192f.

269 Scholochow stammt, dem er möglicherweise aus politischen Gründen zugeschrieben wurde. 95 Auch die deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts kennt signifikante Fälschungen, mit denen die Verfasser ihren Texten eine publikumswirksame Patina erschlichen haben. Was für den Ossian-Verfasser die Fiktion des Archaischen war, ist jetzt die des Exotischen: Die Reden des fingierten Papalagi-Häuptlings, die von Erwin Scheunemann verfaßt waren, gehören ebenso dazu wie die erfolgreichen Gedichte des vermeintlichen Fremdenlegionärs George Forestier.' 6 Fälschungen dieses Typs sind ein deutlicher Hinweis auf die Bedeutung, die das Autor-Konzept seit dem 18. Jahrhundert erhalten hat; das Werk erhält seine Wahrheit durch den Autor, der im Grenzfall eine fiktive Konstruktion sein kann. Auch im ausgehenden 20. Jahrhundert erlebt diese Form der Fälschung durch Autorzuschreibung meist unter dem Druck merkantiler Interessen noch einmal eine Blütezeit. Der >ghostwriterechten TextEchtheit< eines Werkes durch seine eindeutige innere und äußere Beziehbarkeit auf einen Autor definiert wird, wird der Verdacht der >Fälschung< permanent. Ein Hauch des cartesianischen Zweifels dringt in die Philologie ein. Die deutsche Altphilologie des 18. Jahrhunderts bekundet ein fast manisches Bedürfnis, sich der Echtheit von Texten durch die Zuweisung oder Zurückweisung von Verfasserschaften zu vergewissern. Die Altphilologen des 18. Jahrhunderts »machten ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Zweifeln zum Grundprinzip wissenschaftlicher Methode«, auf deren Basis es dann möglich sein müsse, »die Verfasserschaft eines jeden relevanten Schriftwerks« zu bestimmen. 98 Die »Echtheitskritik« wird unter dieser Prämisse »das vornehmste und wichtigste Geschäft des Philologen, auf das alle Energie zu richten war«. 99 Der Fälschungsverdacht wird in diesem Jahrhundert fast universal; kaum ein antiker Text von Rang blieb von ihm verschont. 100 Das Bedürfnis nach einem >gesicherten< Text gehört zu den Grundforderungen der neuzeitlichen Philologie. In der Auseinandersetzung mit diesem Problem und in der Ausarbeitung von Methoden zur Wiederherstellung authentischer Texte hat es sich erst entfaltet. Es ist nicht schwer zu rekonstruieren, woher die95 96 97 98 99 100

Vgl. Grewe-Volpp, Scholochow, ein Erbschleicher am »Stillen Don«?, S. 305f. Vgl. Brenner, Schwierige Reisen, S. 130f. Vgl. Stolz, Der ghostwriter im deutschen Recht, S. 3f. Grafton, Fälscher und Kritiker, S. 55. Schmidt, Kritische Philologie und pseudoantike Literatur, S. 117. Vgl. ebd., S. 118f.

270 ses Bedürfnis kommt; es ist aber schwer zu sagen, warum es bis in die Gegenwart fraglos als eine der Grundvoraussetzungen literaturwissenschaftlicher Arbeit akzeptiert wird. Seine Ursprünge lassen sich zurückverfolgen bis in die vorchristliche Antike. Frühe Ansätze einer Textkritik finden sich bereits in der alexandrinischen Philologenschule, die sich um die Restaurierung griechischer Texte - insbesondere der homerischen - in ihrer ursprünglichen Gestalt bemühte. Die Motive dieses Bemühen scheinen klar auf der Hand zu liegen: Den Texten der griechischen Klassiker wurde ein parareligiöser Charakter mit entsprechend normativer Aussagekraft fur die praktische Lebensführung zugeschrieben, so daß es nicht gleichgültig sein konnte, ob sie den >authentischen< oder aber einen verfälschten Wortlaut repräsentierten. In dieser Antike-Auffassung haben auch die Kontroversen um Wolfs Prolegomena ihren sachlichen Grund - Johann Heinrich Voß wendet sich gegen Wolfs These, weil er den moralischen Rang und den ästhetischen Wert der homerischen Epen gefährdet sieht, wenn sie ihres Autors beraubt werden.101 Das europäische Mittelalter, das immer auch ein christliches war, scheint dagegen keine besonderen textkritischen Skrupel gehabt zu haben. Offensichtlich Schloß sich die kleine Gelehrtenschicht ebenso wie das breite Volk nicht nur dem Auslegungs-, sondern auch dem Textsicherungsmonopol der kirchlichen Instanzen weitgehend blind an. Das Mittelalter konnte selbst bei biblischen Texten ohne Textkritik auskommen, da die Echtheit nicht als Ursprünglichkeit einer Schrift definiert wurde, sondern in bezug auf ihre »Auswirkungen auf das Seelenheil«.102 Eine Textphilologie findet sich kaum; allerdings hat es bereits im 13. Jahrhundert durchaus beachtliche Leistungen einer frühen Bibelphilologie gegeben.103 Das Bedürfnis nach einer Scheidung von echten und unechten Texten mit Hilfe von philologischen Methoden reicht nicht zufällig in die Renaissance zurück, die es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben begriffen hat.104 Erst jetzt wird das Problem des authentischen Textes wieder neu entdeckt und mit einer Konsequenz behandelt, deren Ausstrahlungen bis in die Gegenwart reichen. Die textkritischen Bemühungen der Humanisten richten sich auf religiöse wie profane Texte gleichermaßen. Erasmus scheint der erste Renaissance-Philologe gewesen zu sein, der das Bedürfnis formuliert hat, auch die Bibeltexte auf eine gesicherte philologische Grundlage zu stellen, wobei er wiederum das Praxismotiv in den Vordergrund stellt - das Ziel seiner Bemühung ist »Christus und die reine Lehre«. los Gleichzeitig entwickelt der Renaissancehumanismus eine Textkritik profaner Texte. Auch dafür liegt der Grund auf der Hand: Die Wiederentdeckung der Antike durch die Wiederbelebung ihrer Texte ist keine »nur um ihrer selbst willen betriebene Gelehrtentätigkeit, sondern steht im Dienste der geistigen und sittlichen Erneuerung«, und sie liefert allen Wissenschaften und Kün-

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Vgl. Brenner, Streit in der Idylle, S. 115. Schmidt, Kritische Philologie und pseudoantike Literatur, S. 121. Vgl. Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, S. 226-228. Vgl. Grafton, Fälscher und Kritiker, S. 58. Erasmus, Briefe, S. 202. - Vgl. auch Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, S. 231-233.

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sten ihr Fundament. Die enge Verbindung von Textkritik und Lebenspraxis zeigt sich schon in den Kontroversen des 16. Jahrhunderts. Ähnlich wie die Frage des hermeneutischen Auslegungsmonopols wird die Frage nach d e m Textherstellungsmonopol diskutiert, das sich aber von vorneherein die humanistischen Gelehrten nicht von den Theologen aus der Hand haben nehmen lassen. Auch wenn Erasmus bei seiner Rekonstruktion biblischer Texte sich letztlich d e m Diktat der Kirche freiwillig beugte und sich ihm bestenfalls lavierend entzog, ist die Textkritik nie in dem Maße von der Theologie vereinnahmt worden, wie die Hermeneutik es lange Zeit war. Daß schon im 16. Jahrhundert Textkritik, Lebenspraxis und Politik eine enge Symbiose eingingen, läßt sich am berühmtesten Erfolg textkritischer Bemühungen ablesen: an der Entlarvung der >Konstantinischen Schenkung*, auf die sich der weltliche Herrschaftsanspruch des Vatikan gründete, als Fälschung, die von Nikolaus von Kues schon vermutet worden war und von Lorenzo Valla wie Erasmus mit den Mitteln einer historischen Textkritik aufgedeckt wurde. 1 0 7 Die lebenspraktische Bedeutung der Textkritik in dieser Zeit läßt sich freilich auch an einem ganz anderen, weniger ruhmreichen Fall ablesen: Es besteht der begründete Verdacht, daß Erasmus selbst einen Text gefälscht hat, um seiner eigenen Auffassung christlichen Lebens eine Authentizität zu verleihen, die ihr weder durch die Interpretation vorhandener Texte noch durch die bloße Argumentation zugekommen wäre. 108 Bis zum deutschen Neuhumanismus um 1800 hat das Bedürfnis nach dem gesicherten Text einen plausiblen Grund: Solange religiösen oder später auch literarischen Texten der Antike eine normative lebensgestaltende Kraft zugesprochen wurde, ist die Forderung nach dem authentischen Wortlaut unabweisbar. Es ist aber eines der Rätsel der Philologiegeschichte, warum dieses Bedürfnis mit der zunehmenden Profanisierung der Gegenstandes der Philologie nicht ab-, sondern zumindest in Gelehrtenkreisen immer weiter zugenommen hat. Offensichtlich gilt auch für die Textkritik, was Hartman für die Hermeneutik des 20. Jahrhunderts konstatierte: »Without claiming that literature is to the modern mind what the Bible was to medieval thought, the hermeneutic intensity of some recent critics does raise a question about the status of the literary text.« 109 Seit d e m Ende des 18. Jahrhunderts jedenfalls weitet sich - nach ersten Anfängen im Humanismus - das Bedürfnis nach dem >authentischen< Text grundsätzlich auf alle literarischen Werke aus, während noch im 18. Jahrhundert die freie Verfügbarkeit eines vorliegenden Textes durch den Herausgeber zu den selbstverständlichen Editions- und Übersetzungsprinzipien gehörte. Diese Vorstellung entspricht dem Geist aufklärerischen Denkens, dem weniger an der authentischen Wiederherstellung der Vergangenheit gelegen war, sondern daran, den nützlichen Aspekt eines Textes für die Gegenwart durch Bearbeitung hervorzuheben. Es herrsch-

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Horstmann, (Art.) Philologie, Sp. 556. Vgl. Deschner, Die Konstantinische Schenkung, S. 35. Vgl. Lezius, Der Verfasser des pseudocyprianischen Tractates de duplici martyrio, S. 236f.;S. 241; S. 243. Hartman, Criticism in the Wildemess, S. 236f.

272 te also die Auffassung nicht von der Priorität des Textes oder Autors, sondern der des Lesers, dem ein nützlicher und lesbarer Text geboten werden soll. Nachdem sich aber die Auffassung durchgesetzt hatte, daß das Hervorbringen literarischer Texte eine originale Leistung eines Autors sei, die durch Herausgebereingriffe nicht verfälscht werden dürfe, stellt sich entschiedener das Problem, daß Texten jene Gestalt wiedergegeben werden müsse, die vom Autor beabsichtigt gewesen ist. Um die Wende zum 18. Jahrhundert kristallisiert sich dieses Problem als die Hauptaufgabe der Philologie heraus. Der erste Inhaber einer germanistischen Professur, Friedrich von der Hagen, hat mit seiner Edition des Nibelungenliedes die entscheidenden germanistischen Selbstverständigungsdiskussionen ausgelöst. Seine Edition suchte noch einen halbherzigen Kompromiß zwischen den Ansprüchen des Publikums und denen einer reinen Philologie; es ging ihm darum, das »alte Deutsch in das neue umzuschreiben«;" 0 ein editorisches Prinzip, das sich aus der Absicht seiner Edition erklärt: Er will das Nibelungenlied dem »Deutschen Gemüthe« in der Zeit seiner napoleonischen Demütigung »zum Trost und zur wahrhaften Erbauung« darbieten." 1 In der Folgezeit jedoch wird immer schärfer die Forderung nach dem authentischen Text gestellt. Zur Grundfrage des Philologen wird die »ursprüngliche Gestalt« eines Textes wie etwa dem des Nibelungenliedes, nach der Lachmann 1816 in seiner wegweisenden Arbeit fragte, wobei er sich ausdrücklich auf Wolfs Untersuchung über die Homerischen Epen berief." 2 Ziel der editorischen Arbeit wird jetzt der >echte TextReinigung< des Textes von >Korruptelen< also Verderbnissen, die ihm im Laufe seiner Überlieferungsgeschichte zugeflossen sind. Philologie ist jetzt nicht mehr nur eine wissenschaftliche, sie wird zugleich zu einer nationalen und damit zu einer moralischen Angelegenheit." 3 Die institutionalisierte Universitätsphilologie des 19. Jahrhunderts definiert sich selbst wesentlich durch ihre Fähigkeit, immer bessere, weil ihrem Ursprung immer näher kommende Texte herzustellen. Das wird zum Anliegen der germanistischen Editionstechnik, wie sie von Lachmann entwickelt wurde: Ihr Ziel ist nicht nur die bloße Dokumentation eines gegebenen Textbestandes, sondern die Urkonzeption, die dem Willen des Dichters am nächsten kam - mit der oft paradoxen Konsequenz, daß schlechthin alles, selbst das vom Autor Geschriebene, unter Fälschungsverdacht steht und das vom Autor Verworfene als das eigentlich Ursprüngliche erscheinen kann." 4 Die Aufgabe des Herausgebers »besteht darin v. d. Hagen, Der Nibelungen Lied, S. 65. ' 1 1 Ebd., S. 63. - Vgl. Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 225f. 112 Lachmann, Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth, S. 1; S. 61 f. 113 Vgl. Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 226f. 114 Vgl. Kittler, Literatur, Edition und Reprographie, S. 230.

273 dass das ursprüngliche Werk des Verfassers möglichst, so wie er es verfasst hat, hergestellt werde. Es sind also des Verfassers eigene Schreibfehler, wenn es deren giebt, auszufinden, ferner die Fehler der Abschreiber oder der Setzer, theils durch Vergleichung, theils durch scharfsinnige Erwägung der Absicht und der Gewohnheiten des Schriftstellers, zu erkennen und zu verbessern.«" 5 Lachmann trennt die >Absicht< von der Handlung des Autors - mit der Konsequenz, daß schon die bloße Niederschrift eine Abweichung vom Ursprünglichen der >Absicht< bedeuten kann, wie später noch Scherer in seiner Poetik argwöhnt, wenn er zwischen der ursprünglichen Phantasie des Dichters und ihrer Reproduktion im Text unterscheidet." 6 Unter dieser Prämisse kann also selbst die eigene Arbeit des Verfassers an seinem Text als Fälschung verdächtigt werden. Lachmanns Ziel war es, »dem Verfasser in die geistige Werkstatt zu schauen und ganz die ursprüngliche Thätigkeit desselben reconstruieren können«." 7 Er beantwortet damit die Frage, »welchen Werth, welches Verhältniss zur Wahrheit jede der von ihm zu brauchenden Quellen im Ganzen und an jeder einzelnen Stelle hat« - aus dieser >kritischen< Komponente seiner Arbeit bezog im übrigen der Lessing-Editor sein Selbstbewußtsein als Herausgeber, das seinem Verständnis nach zwar vielleicht nicht mit dem des Autors zu vergleichen, dem eines bloßen >CoiTectors< jedoch weit überlegen war." 8 Lachmann gewinnt damit wieder - wenn auch wohl nicht bewußt - unmittelbar Anschluß an die hermeneutische Diskussion, die ein halbes Jahrhundert zuvor von Schleiermacher eingeleitet wurde. Wie Lachmann die Aufgabe des Editors, so bestimmte Schleiermacher das Ziel der Interpretation von Kunstwerken: »ein erhöhtes Verständniß von dem inneren Verfahren der Dichter und anderer Künstler der Rede von dem ganzen Hergang der Composition vom ersten Entwurf an bis zur lezten Ausführung.«'" In diesem Zusammenhang fallt übrigens die berühmte Formulierung, daß der Interpret den Autor besser verstehen müsse, als er sich selbst verstanden habe. Die Philologie hat zur Bewältigung dieser Aufgabe ein Instrumentarium entwickelt, das bis in die Gegenwart immer wieder verfeinert wurde. Bereits die alexandrinischen Philologen führten kritische Zeichen zur Kennzeichnung von Veränderungen von Texten ein.120 In der deutschen Philologie des 18. Jahrhunderts begann die Auseinandersetzung mit solchen Problemen im Zusammenhang mit der Neusichtung des homerischen Werkes. Friedrich August Wolf wies der Entwicklung der Philologie für lange Zeit die Richtung, indem er - nach Ansätzen in der Bibelphilologie des 17. Jahrhunderts und unabhängig von seiner umstrittenen Grundthese - mit seinen Prolegomena ad Homerum den ersten »methodischen und sicher gegründeten Versuch der Geschichte eines antiken Textes« unternahm.121 Daß sich zuerst in der Altphilologie die Methoden zur Erarbeitung 115 116 117 118 119 120 121

Lachmann, Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken, S. 565f. Vgl. Scherer, Poetik, S. 109. Lachmann, Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken, S. 566. Ebd. Schleiermacher, Hermeneutik, S. 138. Vgl. Speyer, Biichervemichtung und Zensur des Geistes, S. 102. Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, S. 215.

274 eines gesicherten Textes herausbildeten, hat einen einfachen Grund: Von keinem antiken Autor ist eine Originalschrift eines Textes überliefert, zwischen der Abfassung eines Textes und den ersten Zeugnissen seiner Überlieferung liegen oft Jahrhunderte, so daß die Überlieferung auf jeden Fall zweifelhaft und in der Regel auch fragmentarisch und zufallig ist. Der Philologie stellt sich die doppelte Aufgabe, aus den Überlieferungsbeständen einerseits das Echte vom Unechten zu unterscheiden und andererseits die Lücken der Überlieferung zu füllen. Die Germanistik des 19. Jahrhunderts hat die altphilologischen Vorarbeiten aufgegriffen. In ihrer Frühphase entwickelt sie eine doppelte Begründung des philologischen Verfahrens. Die beiden Begründungsstränge kristallisieren sich um die Namen der Brüder Grimm auf der einen und Karl Lachmanns auf der anderen Seite. Die Brüder Grimm repräsentieren in verschiedener Hinsicht eine Auffassung von Philologie, mit der sie an theologische wie aufklärerische Traditionen anknüpfen, die sich aber in der Editionsphilologie nicht durchgesetzt haben. Sie orientieren sich an der lebenspraktischen Vorbildfunktion literarischer Texte, deren »beziehung auf das leben« sie herausstellen. Das setzt die Sicherung von Authentizität der altdeutschen Texte voraus, welche der Philologe dadurch leisten kann, daß er die »verschütteten quellen, in den felsen aber unverdorben erhaltenen, aufsuche und öffne«. 122 Die Brüder Grimm sind aber noch weit davon entfernt, den einmaligen und endgültigen Text hinter der Vielfalt der Überlieferung wieder herstellen zu wollen; sie schreiben den Texten vielmehr ein historisches Leben zu, das sein eigenes Recht behauptet. Der Text entfaltet eine eigene Dynamik; die Überlieferungsgeschichte erscheint deshalb nicht als Verzerrung und Entstellung ursprünglicher Intentionen, sondern als eine eigene Leistung des Textes selbst. Darin liegt eine Wendung gegen die strenge Lachmannsche Editionsphilologie, die den reinen, mit der Absicht des Autors übereinkommenden Text sucht. Das erfordert die Zurücknahme der Individualität des Philologen. Lachmann propagiert und entwickelt in Übernahme der Techniken der Altphilologie ein streng >methodisches< Verfahren der Textherstellung, das der Willkür des Herausgeber keinen Raum lassen darf. Wilhelm Grimm hingegen wendet sich in einer Kontroverse mit Lachmann gegen die Vorstellung eines ursprünglichen Textes. Das hat philologische Folgen: Anders als Lachmann sieht er die Unstimmigkeiten des überlieferten Texte nicht als bedauerliche Korruptelen eines ÜberlieferungsVorgangs, die durch die Rekonstruktion des Ursprungstextes verschwinden würden; er sieht in den Textvarianten gerade ein Zeugnis für die Lebendigkeit der Naturpoesie, aus der das Nibelungenlied hervorgegangen sei.123 Auch Jacob Grimm begegnete Lachmanns Auffassung von Philologie mit Unbehagen; ihr haftet, wie er in seiner Gedenkrede auf Lachmann feststellte, »etwas grausames« an, weil sie den Texten ihr Lebendiges nimmt, indem sie das vermeintlich Unechte, wie es die Geschichte überliefert hatte, von ihnen abtrennte.124 In einer extremen Inter-

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Grimm/Grimm, Altdeutsche Wälder, S. 90. Die Kontroverse wird dargestellt bei Köstlin, Im Frieden der Wissenschaft, S. 94-100. Grimm, Rede auf Lachmann, S. 156.

275 pretation läßt sich Jacob Grimms Editionsverfahren als Modell einer »wilden Philologie« verstehen - er »imaginiert eine wilde Sprache, die kaum feste Bedeutungen kannte und keine syntaktischen Zusammenhänge kennt.«125 Unter dieser Perspektive kann Grimm als Urvater einer postmodernen Sprach- und Textauffassung gesehen werden. In der germanistischen Editionsphilologie wird sich seine Auffassung zunächst nicht durchsetzen. Das Leitmodell wird für mehr als ein Jahrhundert nicht von den Brüdern Grimm, sondern von ihrem Antipoden Karl Lachmann formuliert. Er will als Altphilologe die germanistische Editionsphilologie als strenge, empirische und formalisierbare Wissenschaft begründen und die zu Mythisierungen neigende Philologie der Brüder Grimm aus dem Reich der Wissenschaft verbannen. Philologie versteht sich seit Lachmann als »Dienst am Autor«;126 ihr geht es darum, die ursprüngliche Gestalt des Textes wiederherzustellen, indem sie ihn von den Verzerrungen und Verfälschungen seiner Überlieferungsgeschichte befreit. Das Ziel ist die >Wahrheit< eines Textes, die dann gefunden ist, wenn seine ursprüngliche Gestalt wiederhergestellt ist: »Der kritische Herausgeber dagegen hat [...] zu beurtheilen, welchen Werth, welches Verhältniss zur Wahrheit jede der von ihm zu brauchenden Quellen im Ganzen und an jeder einzelnen Stelle hat«.127 Diese Suche nach der philologischen Wahrheit erhält später eine andere Form, die sich bis in die editionsphilologischen Diskussionen der Gegenwart erhalten hat. Je stärker sich die Philologie neben der Rekonstruktion mittelalterlicher Texte neuerer Literatur zuwandte, desto deutlicher trat der Autor als der Urheber des Textes in den Blick. Der >Wille des Autors< wird zum Zauberwort, an dem sich die Editionsphilologie ausrichtet, die enge Bindung von Text und Autor erscheint unter dieser Prämisse konsequent: »der Text ist die letztgültige sprachliche Gestalt, die dem Werk durch den Autor verliehen worden ist als Ergebnis des schöpferischen Prozesses; er drückt diejenige Realisierung der schöpferischen Intention aus, die unter den Bedingungen der Entstehung des Werkes und den schriftstellerischen Möglichkeiten des Autors erreicht werden konnte.»'2' In der Mitte des 20. Jahrhunderts ließ sich auf der Grundlage derartiger Prämissen ganz unbefangen die Auffassung vertreten, daß mit mäßigem Aufwand ein »zuverlässiger Text« erreichbar sei: »Ein zuverlässiger Text, so läßt sich definieren, ist ein Text, der den Willen des Autors repräsentiert.«129 Diese naive Vorstellung ist durch die Entwicklung der folgenden Jahrzehnte wieder in weite Ferne gerückt. Die Entfaltung der Editionsphilologie hat dazu gefuhrt, daß sich die Hoffnung auf den >gesicherten< Text als der Grundlage einer jeden Interpretation als trügerisch erwiesen hat. Die Editionstechnik hat sich mit zunehmendem Kenntnisstand und Aufwand bei der Herstellung von Texten damit abfinden müssen, daß jeder Text nicht nur das Werk seines Autors ist. An seiner Entstehung haben 125 126 127 128 129

Wyss, Wilde Philologie, S. 245. Janota, Einleitung, S. 35. Lachmann, Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken, S. 566. Górski, Zwei grundlegende Bedeutungen des Terminus >TextText< in verschiedener Hinsicht fragwürdig oder aber ganz verabschiedet wird. Diese Auflösung des Textbegriffes vollzog und vollzieht sich aus ganz unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Richtungen und mit ganz unterschiedlichen Interessen. Weitgehend unbeachtet von einer breiteren - auch literaturwissenschaftlichen - Öffentlichkeit haben sich die entsprechenden Diskussionen in der Editionsphilologie vollzogen. Je intensiver und mit j e größerem Aufwand sich die Theorie und Praxis der Edition literarischer Werke damit befaßt hat, was eigentlich ihr Ziel ist, desto verschwommener wurde ihr der Gegenstand. Die inzwischen in heillos divergierende Strömungen auseinanderdriftende Editionstechnik kann heute keinen konsensfähigen Vorschlag mehr anbieten fur das, was als verläßlicher Text zu gelten hat. Schon die scheinbar so plausible Rückführung auf den >Autorwillen< wirft eine Fülle von Problemen auf, die zu weitverzweigten Diskussionen und zur Entwicklung konkurrierender Editionsprinzipien gefuhrt haben. Denn die Literaturgeschichte zeigt, daß die Zurückfuhrung der Überlieferung auf eine einmalige und eindeutige authentische Textgestalt, wie sie dem Willen des Autors entspricht, oft schon an der einfachen Tatsache scheitert, daß ein Autor mehrere Fassungen des gleichen Textes hinterlassen hat. Nicht die Überlieferungsgeschichte, sondern der Autor selbst wird dann verantwortlich dafür, daß die Eindeutigkeit des Textes verlorengegangen ist. Der Wunsch nach dem >authentischen< Text in einer eindeutig vorliegenden oder rekonstruierbaren Fassung wird damit kaum erfüllbar. Bei diesem Bedürfnis handelt es sich im übrigen um eine Besonderheit der deutschen Editonsphilologie, die sich aufgrund fachspezifischer Entwicklungszufälle ergeben hat. Die Anglistik, die ihre editorischen Probleme und Methoden wesentlich bei der Shakespeare-Edition herausgearbeitet hat, verfährt weniger puristisch textbezogen. Sie läßt vielmehr, ähnlich wie es in der Romanistik diskutiert und praktiziert wurde, einem »eclecticism« Raum." 0 Der germanistische Versuch, den Begriff des Autorwillens und damit den des autorisierten Textes zu retten, hat immer diffizilere und aufwendigere Verfahren hervorgebracht. Die Lösung der Probleme versprach das Verfahren der historischen oder >genetischen< Textrekonstruktion. Nicht eine einmalige, vom Autor hergestellte Textfassung wird vom Editor den Lesern geboten, sondern die Rekonstruktion und Darbietung der >Genese< eines Textes ist das Ideal zumindest 130

Gabler, Introduction, S. 2. - Vgl. Grimm/Hausmann/Miething, Einführung in die französische Literaturwissenschaft, S. 48f.

277 der neueren germanistischen Editionspraxis. Ein Text »besteht aus den Texten sämtlicher Textfassungen, die im Laufe des Entstehungsprozesses eines Werkes vom Autor oder in seinem Auftrag zu diesem Werk hergestellt wurden; er spiegelt die gesamte Entstehungsgeschichte wider.« 131 Das ist ein erster Schritt, der vom Prinzip des Autorwillens wegführt, ohne daß das Autorprinzip preisgegeben wurde. An diesem Prinzip haben sich die großen germanistischen Editionen des 20. Jahrhunderts in der Regel orientiert. Es führte zur Herstellung historisch-kritischen Ausgaben, deren verbindliches Modell für die deutsche Philologie Friedrich Beißner mit seiner Hölderlin-Ausgabe geschaffen hat. 132 Freilich kennt dieses Modell implizit weiterhin die Trennung des einzigen, also authentischen Textes von seinen Varianten. Auch diese Auffassung von Edition bewahrt zumindest der Idee nach die strenge Bindung des Textes an den Autor. Sie unterscheidet zwischen den >LesartenVariantenSchönen< zu verpflichten und den Text als Manifestation »eines gültigen dichterischen Kunstwerkes« zu begreifen. 135 Diese Auffassung ist einerseits dem Kunstideal der Klassik verpflichtet; sie beruft sich aber andererseits auf das Interesse - oder nur die Gewohnheit - des Lesers und des Forschers, die an einem Text in einer eindeutigen Gestalt interessiert sind. In einer anderen Variante tritt das ästhetische Argument als Konkurrent zur Autorisation auf, wenn die »bessere Fassung« über die »autorisierte« gestellt werden soll. 136 So sehr dies zweifellos der Lese- und Forschungspraxis entspricht, so problematisch und strittig ist andererseits die klassizistische

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Scheibe, Zum editorischen Problem des Textes, S. 28. Vgl. Kraft, Editionsphilologie, S. 150-152; Plachta, Editionswissenschaft, S. 32-35. Kraft, Editionsphilologie, S. 40. Dieckmann, Umgang mit einem Text, S. 883. Polheim, Ist die Textkritik noch kritisch?, S. 326. Sengle, >Morgenphantasie< und >Des Morgensgenetischen< Textes, wie er seit langem in der Editionsphilologie favorisiert wird, »den ästhetischen Text« setzen will.137 Auch das ist nicht neu. Bereits Lachmann hatte bei den Zeitgenossen diese Tendenz festgestellt und gerügt. Er lehnt - zumindest ftir seine eigene Lessing-Ausgabe - den Ehrgeiz des Editors ausdrücklich ab, »das ursprüngliche Werk zu verbessern, ihm eine vollkommnere Gestalt zu geben als die ist, in welcher der Verfasser es in die Welt gesetzt hat.«138 Die neuere Diskussion weist in eine andere Richtung. Auch sie gesteht dem Text gegenüber dem Autor Priorität zu; aber sie beharrt nicht auf der Fiktion der einen, eindeutig bestimmbaren Textgestalt. Sie neigt dazu, den Text nicht mehr nur, wie die klassische Editionsphilologie, in seiner Genese zurückzuverfolgen, sondern sie gibt die Idee des fixierten Textes überhaupt preis und setzt an seine Stelle den Prozeß des Schreibens und der Rezeption. Die traditionelle Rangordnung zwischen dem >eigentlichen< Text und seinen >Vorstufen< wird aufgegeben.139 Diese neuere Entwicklung hat zwei Ursprünge: Sie entspringt einerseits den Problemen der Editionspraxis, wie sie sich in den Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte herausgebildet haben; zum anderen wurde sie gefordert durch die literaturtheoretischen Diskussionen, die den Text-Begriff nicht unberührt gelassen haben. Die Einsicht, daß ein eigentlicher, echter und ursprünglicher Text nicht nur nicht gewonnen werden könne, sondern daß dies überhaupt nicht das Ziel des Editors eines neuzeitlichen Autors sein müsse, hat Bernhard Seuffert, der Herausgeber einer der ersten deutschen Historisch-kritischen Gesamtausgaben, formuliert. Es komme nicht nur auf die Gewinnung des »richtiges Textes« an, sondern ebenso sehr auf die »Fort- und Umbildung des Textes.«140 Diese frühe Einsicht in die Dynamik eines Werkes, die hier noch ganz in bezug auf den Autor formuliert wird, hat sich unter anderen theoretischen Prämissen später in radikalisierter Form durchgesetzt. Den Text nicht als »statisches Gebilde« zu konstruieren, sondern die ihm »immanente Bewegung« abzubilden, wird im zunehmenden Maße das Ziel der Editionstechnik.141 Martens hat diese Auffassung noch weiter entwickelt. Unter Berufung auf zeichenthereotische Ansätze des Formalismus und Strukturalismus erarbeitet er einen Textbegriff, dem die Textgenese wesentlich zugehört, weil sie die Einordnung in die dem Text zugrundeliegenden Zeichensysteme erlaubt.142 Die dynamische Textauffassung rückt die Editionsphilologie ganz unversehens in die Nähe der Dekonstruktion, weil sie zur »Auflösung aller eindeutig fixierbaren Bedeutungsrelationen« führt.143 Es ist deshalb nur konsequent, wenn zwanzig Jahre nach der Erstvöffentlichung der Aufsatz in einer eng-

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Polheim, Ist die Textkritik noch kritisch?, S. 328. Lachmann, Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken, S. 565. Vgl. Hay, Le texte n'existe pas, S. I55f. Seuffert, Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe, S. 60. Martens, Textdynamik und Edition, S. 169. Vgl. Martens, Texterschließung durch Edition, S. 93. Ebd., S. 101.

279 lischen Übersetzung unter dem Titel (Deconstructing Texts by Edition publiziert wird.144 Die Konsequenz aus solchen Textauffassungen wurde in der Editionspraxis allerdings bislang nur selten gezogen. Nur in Ausnahme- und Extremfallen haben sich Editoren dazu verstehen können, auf den Abdruck einer fixierten Textfassung zu verzichten, um an deren Stelle den dynamischen Prozeß des Textwerdens zu dokumentieren. Am nächsten ist dieser Auffassung die vielbeachtete und -diskutierte >Frankfurter< Hölderlin-Ausgabe Dieter E. Sattlers gekommen, deren Kern aus einer photomechanischen Reproduktion der Handschriften besteht, die aber auf eine Transkription und die Präsentation zumindest von Vorschlägen fur endgültige Gedichtfassungen nicht verzichtet.145 Die neuere theoretische Editionsdiskussion neigt also dazu, die Suche nach dem >Autorwillen< aufzugeben oder in den Hintergrund zu drängen und statt dessen die Geschichtlichkeit des Werkes zu dokumentieren. Herbert Kraft hat diese Auffassung am konsequentesten vertreten, wenn er an die Stelle der Autorisation durch den Autor die Autorisation des Textes durch seine Geschichte setzt.146 Nachdem sich die tradierte Auffassung von der durch den Autorwillen festgelegten Textfassung in der Editionspraxis als Chimäre erwiesen hat, wird es zum Ideal, jeden Einfluß des Editors auzuschalten. Ob diese Bestrebungen sich durchsetzen werden, ist indes fraglich. Nicht einmal in der theoretischen Diskussion hat sich die radikale Auffassung, daß der Text als Prozeß und nicht als statisches Produkt dokumentiert werden solle, durchgesetzt. Auch die Verfechter einer historischen Textauffassung halten nolens volens daran fest, daß es immer notwendig sein wird, einen lesbaren »Klartext« herauszustellen.147 Die Begründung ergibt sich aus pragmatischen Überlegungen, die sich an Leser- oder Forschergewohnheiten orientieren. In der Tat kommt selbst die ausgereifteste Editionstechnik offensichtlich nicht umhin, dem Leser zumindest eine fixierte Textgestalt anzubieten. Die theoretische Konsequenz aus dieser verworrenen Situation ist offensichtlich: Der Editor ist nicht nur Vollstrecker eines Autorwillens, sondern er ist selbst Autor. Bei seiner Herstellung eines Textes, in den der Autorwille ebenso wie die möglicherweise lange Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eines Textes eingehen, muß er bei allem Willen zur objektiven Dokumentation Entscheidungen treffen, durch die der Text seiner Ausgabe erst seine Gestalt erhält. In kurioser Weise hat schon der Gralshüter des >echten< Textes, Karl Lachmann, dieser Einsicht einen frühen Tribut zollen müssen. Im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit gegen die Vossische Buchhandlung um die Entlohnung seiner Arbeit hat Lachmann 1841 seine Prinzipien dargelegt und sie dabei anders akzentuiert als in seinen editionstheoretischen Überlegungen: »Es ist wohl gewiss dass die Arbeit eines Herausgebers, die eines Schutzes würdig sein soll, dem Herausgeber

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Vgl. Martens, (Deconstructing Texts by Edition, S. 125. Vgl. Kraft, Editionsphilologie, S. 156-161; Plachta, Editionswissenschaft, S. 42f. Vgl. Kraft, Editionsphilologie, S. 27f. Martens, Textdynamik und Edition, S. 172.

280 bedeutende Mühe, vielleicht auch Kosten, gemacht haben muss, dass eine bedeutende geistige Kraft darin zu Tage gelegt sein und dass die Arbeit einen e i g e n t ü m lichen wissenschaftlichen Fortschritt bezeichnen muss.« 148 Der Editor erhebt ähnliche Ansprüche wie der Autor, er betont seine Individualität und die Einmaligkeit seiner Arbeit und nimmt selbst die Rolle des Autors ein. Das Königliche Stadtgericht zu Berlin hat Lachmanns Klage übrigens abgewiesen, weil der »Kläger nicht Autorrechte hat«. 149 Die Editionstechnik wird am Ende ungewollt wieder zur Interpretationskunst. Der Editor sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, bei der Rekonstruktion des authentischen Textes eine Fülle von Entscheidungen zu treffen, die nur auf der Grundlage einer vorgängigen Textinterpretation zu treffen sind. »Edition«, so m u ß die neuere Diskussion ebenso lapidar wie resigniert konzedieren, ist »Interpretation«; 150 nur »auf der Grundlage von Sinnentwürfen kann der Text und damit auch der vom Editor abzudruckende Textträger ermittelt werden«. 1 5 1 Die Editionspraxis hat sich damit abfinden müssen, daß sich der Autorwille nicht schlüssig rekonstruieren ließ. Wenn sie sich aber zu recht auch als Interpretation versteht, kommt sie ohne einen >SinnSinn< zu verstehen als textspezifische Logik, als textinterne Struktur.«'" Dieses Dilemma zwischen editorischem Anspruch und der Wirklichkeit der Überlieferungssituation hat die Editionsphilologie methodisiert, indem sie das Verfahren der >Konjekturalkritik< kreierte: Bei jeder einzelnen Entscheidung über den Abdruck oder die Verwerfung einer >Lesart< oder >Variante< legt der Editor eine Interpretation zugrunde, die aus seinem eigenen Verständnis des Textes, des Autors oder der Epoche, aber auch seinem Verständnis von Literatur hervorgegangen ist. Damit konstituiert er einen Text ebenso wie der Autor selbst; nicht nur in Ausnahme- und Extremfällen, sondern immer dann, wenn die Überlieferungslage Entscheidungen zuläßt oder fordert. Die Rezeption und das Verständnis der Autoren und Werke durch ein Publikum - vor allem einer späteren Epoche - wird von den Herausgebern ebenso wie von den Texten selbst bestimmt. Daß diese Problematik noch einmal verschärft auftritt, wo dem Editor die Aufgabe gestellt ist, aus d e m >Werk< eines Autors eine Auswahl zu treffen, liegt auf der Hand 1 5 3 - ganz zu schweigen von den >Kommentaren< in Studien- oder kritischen Werkausgaben, die sich sicher nicht - wie gelegentlich gehofft wurde - auf eine rein informierende Funktion reduzieren lassen. 154 Diese immanenten Probleme

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Lachmann, Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken, S. 567. " " Abgedruckt ebd., S. 571-576; hier S. 575. 150 Windfuhr, Die neugermanistische Edition, S. 440; entsprechend Beißner, Lesbare Varianten, S. 17. 151 Martens, Was ist ein Text?, S. 12. 152 Zeller, Befund und Deutung, S. 70. 151 Vgl. Briegleb, Der Editor als Autor, S. 102-104. 154 Vgl. Frühwald, Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben, S. 27.

281 der Editionsphilologie sind der Literaturwissenschaft in der Regel bewußt. Sie wird kaum die Hoffnung pflegen, daß sie mit ihren Interpretationen sich auf einen ein- für allemal verläßlichen Text stützen könne. Der Aufwand, der mit der Erstellung historisch-kritischer Ausgaben verbunden ist, läßt sich nicht zuletzt darin ermessen, daß erst wenige Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte in den Genuß solcher Ausgaben gekommen sind. 1985 konnte festgestellt werden, daß zentrale Autoren der deutschen Literatur von Herder bis Stifter nur in historisch-kritischen Ausgaben vorliegen, »die vor achtzig, hundert und mehr Jahren oder noch früher konzipiert« wurden.155 Fast gleichzeitig mit diesem Befund hat sich die Situation nachhaltig geändert bezeichnenderweise nicht durch fachwissenschaftliche, sondern durch verlegerische Initiativen. Die Bibliothek deutscher Klassiker, für deren Edition ein eigener Verlag gegründet wurde, hat es unternommen, den Bestand der deutschen Literatur im weitesten Sinne von der Frühzeit bis in die Gegenwart editorisch in einer Weise zu dokumentieren, die einerseits »den besten verfügbaren, kritisch gesicherten Text« bieten will, andererseits aber die »Trennung in den Fachgelehrten hier und den Leser dort überwinden« will.156 Parallel dazu rückten andere Verlage ihre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erstellten Klassiker-Editionen, die als Lese- oder Studienausgaben, oft in deutlicher Nähe zu den Ansprüchen von historisch-kritischen Ausgaben konzipiert worden waren, wieder in den Blickpunkt des öffentlichen Leser-Interesses.157 Diese neueren Bemühungen machen deutlich, daß die Editionen ein zentrales Verbindungsgelenk darstellen zwischen Fachwissenschaft und Publikum. Die Gefahr ist aber bis heute nicht gebannt, daß die Editionswissenschaft auch eine gegenläufige Entwicklung fordert. Gelegentlich - und in jüngerer Zeit drängender - wurde die Frage nach dem Nutzen der immer aufwendiger werdenden Editionen gestellt, die einen nicht unerheblichen Teil der personellen und finanziellen Ressourcen verschlingen, die der Literaturwissenschaft als einem Universitätsfach zur Verfugung stehen.' 51 Diese Kritik artikuliert sich als ein Unbehagen daran, daß der enorme Arbeits- und Diskussionsaufwand zu Ergebnissen fuhrt, die fur die allgemeine Literaturwissenschaft immer weniger brauchbar sind. Die Editionstechnik drohte schon in den siebziger Jahren zu einer »Geheimwissenschaft«, zu werden, die die »Kommunizierbarkeit ihrer unter großem Aufwand gewonnenen] Ergebnisse wieder in Frage stellt«.15' Diese Entwicklung hat nicht nur sachliche Gründe, die in der Editionsphilologie selbst liegen. Die von Lachmann maßgeblich entwickelte und durchgesetzte Methode, die am Anfang dieser Entwicklung steht, war wesentlich gebunden an die Herausbildung der Germanistik als einer Universitätsdisziplin. Erst durch Lachmanns Anspruch kann sich die deutsche Philologie im System der Universitätswissenschaften etablieren; sie wird zu einer >DisziplinPhilologisie160 161 162 163

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Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 589. Kolk, Wahrheit - Methode - Charakter, S. 60. Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 213. Weddigen, Über die Notwendigkeit einer Professur für neuere Litteratur an den deutschen Hochschulen, S. 7. Kolk, Wahrheit - Methode - Charakter, S. 51.

283 rungKunst der Interpretation tritt die >Kunst der Edition«. Fränkel verleiht damit einem Unbehagen Ausdruck, das die Philologisierung der Geisteswissenschaften schon im 19. Jahrhundert begleitet hat - allerdings weniger die Germanistik als die Geschichtswissenschaft. Sie hat sich, in der Person Johann Gustav Droysens, früh darauf besonnen, daß dem Editor eine nur dienende Funktion zukommt, und sie hat davor gewarnt, das »Bereitstellen des Textes bereits für die historische Aussage selbst zu nehmen.«167 Aus diesem Unbehagen der Historiker ist der >Historismus< hervorgegangen, der dem Übergewicht der Quellenkritik die Forderung nach Quellenverständnis gegenüberstellte und damit der Hermeneutik ein Recht gegenüber der Philologie sicherte - eine Entwicklung, die sich in der Germanistik erst wieder in ihrer geistesgeschichtlichen Ausrichtung der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts durchsetzte.

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Vgl. Schütt, Germanistik und Politik, S. 177-204. Fränkel, Von der Aufgabe und den Sünden der Philologie, S. 13. Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, S. 235.

Neuntes Kapitel Texte im Kontext: Gesellschaft, Geschichte, Kultur

Texte verstehen sich nicht von selbst; Texte müssen verstanden werden - da? war der eine Leitsatz der neuzeitlichen Hermeneutik. Ihm folgt ein zweiter: Texte verstehen sich aus Kontexten. Dieser Satz ist nicht so elementar in die Hermeneutikgeschichte eingelassen wie der andere; aber auch er ist frühen Ursprungs. Er findet sich schon bei Flacius Illyricus, wurde aber bald wieder vergessen. Spinoza hat ihn in seiner historischen Bibelkritik neuerlich rehabilitiert, und seitdem gehört es zu den Grundsätzen hermeneutischen Denkens, daß die Kontexte von Texten bei ihrer Interpretation berücksichtigt werden müssen. Was das freilich genau heißt und welchen Status diese Kontexte haben, ist nie präzise geklärt worden. In der Regel treten Kontexte bei der Interpretation in eine hilfsweise Funktion ein: Sie liefern Zusatzinformationen, welche die Textlektüre ergänzen, erhärten oder anregen. So weit hat sich auch die werkimmanente >Kunst der Interpretation< auf die Kontexte einlassen mögen, aber sie hat grundsätzlich ein ästhetiktypisches Mißtrauen dagegen gepflegt. Daß sich die Literaturwissenschaft insgesamt so schwer damit getan hat, den Kontext als wesentliches Moment der Interpretation zu akzeptieren, hängt mit der Sonderstellung zusammen, die in einer langen Tradition dem >Kunstwerk< zugeschrieben wurde. Das Kunstwerk, so will es die Autonomie-Ästhetik bis weit ins 20. Jahrhundert, steht für sich und bedarf keiner Vermittlung. Die Wahrheit, die das Werk ausdrückt, ist unmittelbar: »Denn alle Wahrheit ist im Wort des Dichters unvermittelt da«, heißt es noch bei Staiger.1 Gadamer entwickelt später die Gegenposition, wenn er feststellt, daß das Wort »in einem bestimmten und eindeutigen Lebenszusammenhang >fällt< und seine Einheit eben aus dieser Gemeinsamkeit des Lebenszusammenhanges empfangt.« 2 Die Wahrheit einer Aussage erschöpft sich nicht in ihrem semantischen Gehalt. Jede Aussage ist eine Antwort auf eine Frage, und jede Frage wurzelt in einer lebensweltlichen Situation. Die Aussage gehört dem »Ganzen einer geschichtlichen Existenz« zu; und nur in diesem Zusammenhang ist sie verständlich oder gewinnt sie Sinn für den, der sie verstehen will.1 Die skeptische Pilatus-Frage »Was ist warheit«? aus dem Johannes-Evangelium wird von Gadamer also mit Hegel beantwortet: »das Wah-

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Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 13. Gadamer, Sprache und Verstehen, S. 192. Gadamer, Was ist Wahrheit?, S. 54; vgl. auch den Kontext S. 52-54. - Zur pädagogischen Anwendung dieses Prinzips vgl. Ritzel, Pädagogik als praktische Wissenschaft, S. 114.

286 re ist das Ganze« 4 , aber diese Antwort wird ihrer spekulativen Grundlagen entkleidet. Während die literaturwissenschaftliche >Kunst der Interpretation sich schwer damit getan hat, die Integration des >Kunstwerks< in die sozialen Zusammenhänge anzuerkennen, hat die protestantische Theologie schon früh den »Sitz im Leben« der biblischen Texte beschrieben: 5 »So sind auch die Bücher des Alten Testaments nicht zeitlos entstanden, sie sind nicht vom Himmel heruntergefallen. Vielmehr in einer ganz bestimmten Zeit, die niemals wiederkehrt, haben diese Männer, die sie geschrieben haben, gelebt; unter ganz bestimmten Umständen sind sie so geworden, wie sie sich uns jetzt zeigen. Und nur aus diesen Zusammenhängen sind sie zu begreifen. Nimmt man sie aus diesen Verhältnissen heraus, so verschließt man sich das Verständnis; denn in einer anderen Welt haben diese alten Worte einen neuen Klang; da gelten andere Maßstäbe, andere Voraussetzungen, da ist alles verschoben und verzerrt. Geschichtliche Exegese heißt also die Erklärung aus dem geschichtlichen Zusammenhang.« 6 Daß die Wahrheit einer Aussage im sozialen Lebenszusammenhang wurzelt, ist eine fundamentale Einsicht. Die unterschiedlichsten Ansatzpunkte, von der traditionellen Hermeneutik über die Rezeptionsästhetik bis hin zum Extrem der analytischen Philosophie kommen immer wieder darauf zurück: daß das Verstehen von Texten sich immer nur im Rahmen von Kontexten vollzieht. Auch eine reine Aussagenlogik, wie sie die analytische Philosophie hat entwickeln wollen, ist im Laufe der philosophiegeschichtlichen Diskussionen am Ende wieder auf Kontexte als Hintergrundwissen zurückverwiesen worden. Auf unhermeneutischen Wegen ist die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Wittgenstein hat in seinen späten Philosophischen Untersuchungen den Ausweg gefunden aus dem Dilemma, in das sich die analytische Sprachphilosophie unter tatkräftiger Mithilfe des >frühen W i t t g e n s t e i n manövriert hatte. Bahnbrechend wurde sein Begriff des >SprachspielsSinn< von Texten auf dieser Basis zu beantworten. Damit werden endgültig zwei traditionelle Auffassungen verabschiedet, die in der Hermeneutik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein hartnäckiges Dasein gefristet haben: Die Sprachspieltheorie läßt weder 4 5 6 7

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Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 24. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition I, S. 4. Gunkel, Ziele und Methoden der Erklärung des Alten Testamentes, S. 26. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 300. Ebd., S. 293; darauf bezieht sich Hörmann ausdrücklich: vgl. Hörmann, Meinen und Verstehen, S. 252f. - Vgl. auch Ferber, Philosophische Grundbegriffe, S. 40f.

287 eine Auffassung zu, nach der Wörter als Entitäten begriffen werden können, die per se Bedeutung haben, noch ist sie - das ist der wichtigere Aspekt - eine Referenztheorie des sprachlichen Ausdrucks, nach der dieser seinen Sinn dadurch erhält, daß er auf etwas anderes verweist. Die moderne Hermeneutik-Diskussion hat Wittgenstein praktisch ignoriert, aber an seinen Einsichten kommt sie nicht vorbei. >Verstehen< läßt sich auf dem aktuellen Stand der sprachphilosophischen Diskussion nicht weiter über eine Referenztheorie definieren, die in der Interpretation nach einem Sinn sucht, der jenseits der Texte liegt. Der Sinn muß vielmehr als etwas begriffen werden, was sich im Prozeß der Interpretation erst herstellt. Wittgenstein hatte sich geweigert, hinter seine >Sprachspiele< zurückzugehen: »Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als >Urphänomene< sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.«9 Dennoch läßt sich hinter diesen elementaren Befund noch weiter zurücktragen, um die Voraussetzungen des Verstehens genauer zu bestimmen. Die Frage, warum ein Sprachspiel überhaupt gespielt wird, drängt sich auf. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde diese Frage im Rahmen erkenntnistheoretischer Überlegungen gelegentlich gestellt; im Blick auf eine Theorie des Verstehens hat sie der Psycholinguist Hans Hörmann aufgegriffen. Er formuliert Positionen, die in der späteren Entwicklung der Psycholinguistik nicht weitergeführt wurden, die aber einen wichtigen Beitrag zur Klärung hermeneutischer Grundprobleme leisten können. In strikter Abgrenzung von einer Strukturgrammatik, welche semantische, empirische und erst recht psychische Komponenten ausklammert, hat Hörmann, teilweise unter Einbeziehung empirischer Befunde, die Frage nach den Voraussetzungen von Sinnverstehen aufgeworfen und sie auf ein anthropologisches Fundament zurückgeführt. Der Mensch ist darauf eingerichtet, Äußerungen und Wahrnehmungen als sinnvoll aufzufassen. Nicht nur jedes Verstehen, sondern auch jede Wahrnehmung überhaupt unterliegt dem Kriterium der »Sinn-Konstanz«, die als ein »anthropologischer Faktor« immer schon unterstellt werden muß.10 Der Mensch ist nach Cassirers Formulierung ein »animal symbolicum«;" und Hannah Arendt hat ihm in einer anderen Wendung beigepflichtet: »Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern auf der Suche nach Sinn«.12 Hörmann hat diese Grundeinsicht erkenntnistheoretisch zu beschreiben versucht. Der Vielfalt der Perspektiven, unter denen ein Gegenstand empirisch erscheinen kann und die jeweils ein anderes Bild von ihm vermitteln, wird immer ein konstanter Sinn unterlegt, der es erlaubt, »akzidentelle Bedeutungsschwankungen zu ignorieren«: »Sinnvolles, Verstehbares konstituiert sich also nicht mühsam - etwa durch ständiges Übersetzen von Zeichen nach einem Code - , sondern es ist als Intendiertes immer schon da, bevor wir es durch eine semiotische Analyse zu konkretisieren beginnen.«" Dem Verstehen geht also die Unter9 10

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Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 478. Hörmann, Meinen und Verstehen, S. 214. Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 51. Arendt, Vom Leben des Geistes I, S. 25. Hörmann, Meinen und Verstehen, S. 195f.

288 Stellung voraus, daß es etwas zu verstehen gibt: »Sinnhaft-sein« ist ein »vorgegebenes Kriterium«, dem »zu genügen die Analyse des Satzes sich >bemühen< muß.«14 In einer schwächeren hermeneutischen Formulierung hat Gadamer eine ganz ähnliche Voraussetzung gemacht, wenn er vom »Vorgriff der Vollkommenheit« spricht,15 der jedem Verstehen zugrunde liege. Unter dieser Prämisse vollzieht sich Verstehen als ein Vorgang, der darauf abzielt, die vorgängige Sinnunterstellung zu bewahrheiten. Das hat die germanistische Interpretation schon früh gesehen, auch wenn sie in ihren Anweisungen für den Interpreten gelegentlich zu zirkulären Konstruktionen greifen mußte, um offenkundige Kohärenzdefizite in bedeutenden Literaturwerken wie dem Nibelungenlied zu glätten: »Einer großen Dichtung, die die Jahrhunderte überdauert hat, muß auch ein großer Sinn eigen sein. Von dieser Voraussetzung muß er ausgehen, auch wenn sie als solche unbeweisbar ist.«16 Diese Aufgabe ist mit den Mitteln der traditionellen Philologie wie etwa der Textkritik und der Überlieferungsgeschichte allein nicht zu lösen. Nur in Ausnahmefällen ist die isolierte Wahrnehmung einer sprachlichen Äußerung ausreichend; in aller Regel wird die Sinnunterstellung dadurch bewährt, daß der Sinn hergestellt wird durch Bezugnahme auf weitere sprachliche und nicht-sprachliche Zusammenhänge. Dabei handelt es sich um einen konstruktiven Vorgang, der die Kenntnis der eigenen Situation, der Situation des Sprechers oder Autors und schließlich eine allgemeine >Weltkenntnis< mit einbeziehen muß. In der sprachphilosophischen Diskussion hat sich wohl die Auffassung endgültig durchgesetzt, daß die Bedeutung sprachlicher Äußerungen nicht nur durch Kontexte verständlich wird, sondern daß diese Kontexte überhaupt erst Bedeutung konstituieren.17 Damit wird die elementarste und in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis immer noch geläufigste Form des Verstehens unhaltbar. Diese Einsicht nämlich verbietet jedes reduktionistische Verfahren, das die Frage danach stellt, was etwas >eigentlich< bedeutet, indem sie es auf etwas anderes zurückführt. Die Konsequenz für das Problem des Verstehens ist klar: Der Kontext gehört zum Text. Er ist nicht bloßes Hilfsmittel, mit dem in Zweifelsfällen Klärungen herbeigeführt werden können, sondern er ist ein konstituierendes Moment des Prozesses, in dem Sinn nicht ermittelt, sondern überhaupt erst hergestellt wird. Verstehen bedeutet Konstruieren von Sinn durch das Hineinstellen in kohärente Zusammenhänge. Auf dieser Grundlage läßt sich erläutern, wie Verstehen funktioniert. Nicht mehr beantworten aber läßt sich die Frage nach dem richtigen Verstehen - jedes Verstehen bleibt gebunden an die lebenspraktischen Voraussetzungen des jeweiligen Sprachspiels, in dem es sich vollzieht, nur unter dessen Voraussetzungen kann es >richtig< oder >falsch< sein. Das Verstehen eines Textes ist das agens der hermeneutischen Anstrengung. Wo es sich nicht einstellt, ist dem Interpreten die Aufgabe gestellt, »ausbleibendes 14 15 16 17

Ebd., S. 193. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 277f. Schröder, Der Zank der Königinnen im Nibelungenlied, S. 24. Vgl. Gross, Lese-Zeichen, S. 20.

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oder gestörtes Einverständnis wiederherzustellen«. Die Kohärenzforderung muß selbst für solche Texte nicht aufgegeben werden, die ihr offensichtlich nicht genügen; sie muß nur anders bestimmt werden. Denn prinzipiell ist jeder Text sinnvoll und damit verständlich - anders als Gadamer glaubte, der die Vollkommenheit nur einer ausgezeichneten Textsorte zukommen lassen wollte. Wenn ein Text unverständlich scheint, dann ist das kein Problem des Textes, der deshalb zu kritisieren wäre, sondern ein Problem des Interpreten, der sich der Zusammenhänge nicht hinreichend vergewissert hat, in denen der Text sejnen Sinn gewinnt. Kohärenz gewinnen Texte erst, wenn sie als Teil eines textübergreifenden Zusammenhangs gesehen werden. Texte bedürfen einer Interpretation nicht nur aus ihrem Text-, sondern weit darüber hinaus aus ihrem historischen Sinnzusammenhang heraus. Nicht einzelne Texte sind kohärent, sondern die lebensweltlichen Handlungszusammenhänge, aus denen sie hervorgehen. In diese Kohärenz muß die Textinterpretation ihre Gegenstände hineinstellen und aus ihr heraus muß sie sie verstehen: »Retrouver la cohérance de l'action humaine est le maximum de ce à quoi peut atteindre intelligibilité de l'histoire«." Inhaltliche Widersprüche und formale Inkonsistenzen werden verständlich, wenn sie als Ausdruck widerstreitender und reflexiv unverarbeiteter überlieferter Traditionen, aktueller Bedürfnisse und projektiver Erwartungen aufgefaßt werde, die ihre je eigene Konsistenz haben. Wenn Texte in dieser Weise aus größeren Zusammenhängen heraus interpretiert werden, lassen sich auch jene Momente in ihnen schlüssig verstehen, die sich bei einer textimmanenten Betrachtung dem Verständnis entziehen. Die Praxis der literaturwissenschaftlichen Arbeit ist sich der Tatsache schon früh bewußt gewesen, daß ein Text nicht aus sich heraus verstanden werden kann. Auch wenn die elaborierten theoretischen Formulierungen des hermeneutischen Problems erst in den philosophischen und linguistischen, weniger in den hermeneutischen und literaturwissenschaftlichen, Diskussionen der zweiten Jahrhunderthälfte gefunden wurden, so gibt es doch schon sehr früh - und oft an unvermuteter Stelle - Hinweise darauf, daß Texte zum Verstehen in Kontexte gestellt werden müssen. Schon bei Dilthey ist diese Einsicht angelegt. Sie wurde nur verstellt dadurch, daß seine Rezeption eher den Anschluß an die irrationalistischen Komponenten seiner Lebensphilosophie gesucht hat. Dabei wurde übersehen, daß seine Hermeneutik kulturgeschichtliche Grundlagen des Verstehens mitformuliert. Denn so diffus sich Diltheys Berufung auf das >Leben< ausnimmt, so grundsätzlich und ernstzunehmen ist eine andere Folgerung seiner Hermeneutik. Das literarische Werk ist Ausdruck der Individualität eines Autors, aber auch Ausdruck der geschichtlichen Situation, in der es entstanden ist. Das stellt der Interpretation eine unendliche Aufgabe: »Die Bedeutung des Werks wäre erst dann endgültig erfaßt, wenn die Geschichte, die Gesellschaft, die Kultur und die von jenen Faktoren beeinflußte Lerngeschichte des Autors auf den Begriff gebracht worden sind.«20

" " 20

Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, S. 55. Vgl. Dupront, Problèmes et méthodes d'une histoire de la psychologie collective, S. 9. Hufnagel, Wilhelm Dilthey, S. 199.

290 Das freilich wirft forschungspraktische Probleme für die Interpretation auf. Der Einwand ist nicht unberechtigt, daß ein solches Verfahren grundsätzlich zu »einer aufsteigenden endlosen Reihe« fuhrt.21 Das ist aber kein hermeneutikspezifischer Einwand, sondern er trifft Wissenschaft überhaupt: Alle Gegenstände wissenschaftlicher Tätigkeit sind potentiell unendlich, aber dadurch wird wissenschaftliche Arbeit nicht unmöglich. Die neuzeitliche Wissenschaft ist eine Reaktion auf diese Einsicht, indem sie durch ihre Methodisierung und Institutionalisierung dem potentiell unendlichen Gegenstand mit einem potentiell unendlichen Forschungsprozeß entgegentritt: Forschung ist nicht mehr an die Lebenszeit des Individuums gebunden.22 Das hat durchaus konkrete, wenn auch vielleicht triviale Konsequenzen für die individuelle Forschungspraxis: Sie ist zum einen aufgefordert, sich selbst in den Kontext der institutionalisierten Wissenschaft hineinzustellen und die »Abhängigkeit jedes Schrittes von allen zuvor durchschrittenen Phasen und deren Resultat« anzuerkennen.23 Zum anderen muß sie ihre eigene Stellung im Prozeß der Wissenschaft und im sozialen Lebenszusammenhang bestimmen, indem sie Rechenschaft darüber ablegt, welche Interessen sie verfolgt, was sie leisten will und was sie leisten kann. Das fuhrt zu einer Hermeneutik der Endlichkeit, auf der Gadamer stets insistiert hat. Heidegger hatte das Thema der Endlichkeit aus der Theologie in die Philosophie überfuhrt und ihr eine existentialistische Dimension verliehen: »Existenz ist als Seinsart in sich Endlichkeit«.24 Die Existenz erfährt ihre Endlichkeit im »Freisein fiir den Tod«; aus der »endlosen Mannigfaltigkeit« wird das Dasein in die »Einfachheit seines Schicksals« überfuhrt.25 Die Frage nach der Endlichkeit ist in der französischen Philosophie der Nachkriegszeit von Jean-Paul Sartre und besonders von Maurice Merleau-Ponty systematisch ausgearbeitet worden. Sartre interpretiert die Endlichkeit existentialistisch. Indem der Mensch sich durch eigene Wahl seine Existenz schafft, setzt er sich selbst Grenzen: »Wenn ich mich mache, mache ich mich endlich.«26 Merleau-Ponty bestimmt die Endlichkeit aus einem ähnlichen Motiv heraus, aber mit einer anderen Argumentation, die sich auf die >Leiblichkeit< des Menschen konzentriert. Der Mensch konstruiert sich seine Wahrnehmung der natürlichen und sozialen Welt vom Gesichtspunkt des >Leibes< aus: Der Leib ist »mein Gesichtspunkt fur die Welt«;27 an ihm orientieren sich Sprache, Wahrnehmungen und Handlungen in der Welt. Das fuhrt unmittelbar zu hermeneutischen Fragen zurück, welche die Sinnkonstitution auf allen Ebenen der Wahrnehmung betreffen. In deutlicher Anlehnung an Heidegger, aber ohne die morbide Festlegung des Daseins als »Vorlaufen in den Tod« 28 hat schließlich Gadamer die Endlichkeit des Menschen bestimmt. Wie fur Heidegger

21 22 23 24 25 26 27 28

Japp, Hermeneutik, S. 70. Vgl. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, S. 173-179. Ebd., S. 202. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 228. Heidegger, Sein und Zeit, S. 384. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 688. Merlau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 95. Heidegger, Sein und Zeit, S. 384.

291 ergibt sich ihm die Endlichkeit aus der Zeitlichkeit, die aber stärker im Blick auf die reale Geschichtlichkeit und die Lebenspraxis gefaßt wird.29 Diese philosophischen, durchgehend auf Heidegger zurückfuhrenden, Reflexionen entwickeln verschiedene Denkansätze, die einen gemeinsamen hermeneutischen Fluchtpunkt haben: Es geht ihnen um die Reduktion der Unendlichkeit von Welt auf Endlichkeit. An diese Problemstellungen kann die literaturwissenschaftliche Hermeneutik anknüpfen. Die Interpretation muß bei der Suche nach dem Sinn von Texten die Fülle möglicher Bedeutungen begrenzen, die sich durch Kontextualisierungen herstellen lassen. Die Interpretation fragt nicht nach den Kontexten überhaupt, sondern sie geht von den Texten aus und fragt weiter ausgreifend nach den Kontexten, wo immer die Texte Anschlußstellen dafür bieten und damit weitere Fragehorizonte eröffnen. Das Verstehen von literarischen Texten vollzieht sich in einem begrenzten Horizont von Kontexten, der aus dem unendlichen Horizont von Potentialitäten ausgegrenzt wird: »Man muß also einmal versuchen, die Zahl der Anschlußtexte zu verknappen, weil man sich sonst im Uferlosen verlieren würde; dies geschieht, indem man sagt, was fur diesen Text relevant oder irrelevant ist«.30 Der Kontext eines Textes ist nun aber zunächst >die WeltWelt< muß wieder reduziert werden. Auch wenn es immer die >Welt< als ganze ist, die potentiell in Frage kommt, ist die Literaturwissenschaft - wie jede andere auch darauf angewiesen, Komplexitätsreduktionen durch Segmentierungen vorzunehmen; als Anschlußstellen können immer nur besondere Aspekte von >Welt< in Frage kommen. Eine der ältesten und wichtigsten dieser Segmentierungen ist die Reduktion der >Welt< auf die >Gesellschaftmaterialistisch< begreifen und die Autonomie der Kunst bestreiten wird, aus einem genuin idealistischen Ursprung hervorgegangen ist. Für die Ästhetikgeschichtsschreibung bleibt Winckelmann der Repräsentant einer KunstaufTassung, die direkt in den Autonomie-Konzepten der

29 50

Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 247f.; vgl. auch S. 236-250. Fohrmann, Selbstreflexion der Literaturwissenschaft, S. 171. - Ähnlich schon Löwenthal, Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur, S. 91.

292 Weimarer Klassik mündet. Der Ursprung der materialistischen Ästhetik aus dem Geist des Idealismus wurde lange übersehen;31 aber dennoch hat Winckelmann als einer der ersten Ästhetiker den Gedanken »vom gesellschaftlichen Ursprung der Kunst« formuliert.32 In seinen kunstgeschichtlich wegweisenden Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauerkunst von 1755 wird eine Konzeption angedeutet, die sich erst ein Jahrhundert später Bahn brechen soll. Daß die Kunst der Griechen vorbildlich sei und daß sie dies der Tatsache verdanke, daß die Griechen der Natur näher gewesen seien als die Gegenwart, ist ein Gemeinplatz der französischen Klassik und der deutschen Aufklärung. Anders als diese aber unterzieht sich Winckelmann der Mühe einer Begründung für seine Behauptung: Ihre Vorbildlichkeit verdanken die griechischen Künstler dem »Einfluß eines sanften und reinen Himmels«, der bei der »ersten Bildung der Griechen« gewirkt habe.33 Winckelmann ist hier nicht originell; Historiker und Philosophen waren ihm vorausgegangen.34 Vor allem verrät sich der Einfluß einer Theorie, die wenige Jahre zuvor formuliert wurde und bahnbrechend in der Staatstheorie wirkte. In seinem Hauptwerk De l'esprit des lois von 1748 hatte Montesquieu die >Klimatheorie< formuliert, die die Entstehung der Staaten, ihrer Gesetze, Regierungsformen und Einrichtungen, aber auch ihrer Sitten und Gebräuche maßgeblich auf den Einfluß des Klimas zurückgeführt hatte. Er geht von der Voraussetzung aus, »que le caractère de l'esprit et les passions du cœur soient extrêmement différents dans les divers climats«.35 Damit öffnet er die aufklärerische Kulturtheorie einer in Kausalzusammenhängen argumentierenden Denkform. Die aus moderner Sicht krude anmutende Theorie ist in ihrem Grundgedanken von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung, denn das Klima ist nur ein »verwissenschaftlichter Begriff für jene Mächte, in deren Hand sich der Mensch gegeben fühlt«; Montesquieus Theorie ist also ein erster Versuch einer »Naturalisierung des Menschen«.36 Winckelmann war mit Montesquieus Werk, insbesondere seinen Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence von 1734, gut vertraut.37 Er folgt dieser Konzeption, ohne sich direkt auf Montesquieu zu beziehen, und wendet sie auf die Entstehung der Kunst an. Wie für Montesquieu ist das Klima fur Winckelmann nur der Ausgangspunkt einer weiterreichenden Konzeption, die ihn schließlich zur Frage nach den bedingenden äußeren Umständen für die Entstehung des vorbildlich Schönen in der Kunst fuhrt. Zum Klima als einer der Voraussetzungen für die Entstehung einer idealen Kunst tritt bei Winckelmann das, was ein Jahrhundert später >Gesellschaft< genannt werden wird. Die >FreiheitVerstehen< von Kunstwerken sind von denen über ihren Ursprung abgelöst. Das Verstehen von Kunst vollzieht sich für ihn nicht in einem Akt der Analyse, sondern durch die Ausbildung eines »inneren Sinns«, der die Kunst »vor der Überlegung« empfindet: »Dieses ist die allgemeine Rührung, welche uns auf das Schöne ziehet, und kann dunkel und ohne Gründe sein, wie mit allen ersten und schnellen Eindrüken zu geschehen pfleget.«42 Die Verstehenstheorie greift nicht auf, was die Produktionstheorie entwikkelt hatte; für das Verstehen eines Kunstwerks ist die Kenntnis seiner sozialen Entstehung nicht notwendig. Verstehen vollzieht sich für Winckelmann als intuitive Begegnung eines isolierten Kunstwerks mit einem isolierten Rezipienten, und nach diesem Modell wird bis ins 20. Jahrhundert hinein das Verstehen von Kunstwerken gedacht werden. Winckelmann selbst und erst recht die Winckelmann-Rezeption, die in der Weimarer Klassik und im Idealismus mündete, haben die materialistische und gesellschaftsbezogene Idee vom Ursprung der Kunst nicht weiterverfolgt. Hermeneutisch erweist sich Winckelmann eher als Vorläufer der Romantik. Winckelmanns These von der »Abhängigkeit der Kunst von der jeweiligen Regierungsform« hat sich im 19. Jahrhundert weiter verbreitet.43 Die Reflexion auf die außerkünstlerischen Voraussetzungen der Kunst nimmt zu Beginn des 19. Jahrhunderts jene Wendung, der die weitere Entwicklung bis ins 20. Jahrhun3

" Vgl. ebd., S. 258f. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke, S. 14. 40 Vgl. Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen III, S. 160-166. 41 Vgl. Namowicz, Die aufklärerische Utopie, S. 73f. 42 Winckelmann, Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen, S. 249. 43 Namowicz, Die aufklärerische Utopie, S. 84. 39

294 dert folgen wird. Hegel hat die wegweisenden Stichworte gegeben. Die Kunst in ihren verschiedenen epochalen und formalen Erscheinungsformen ist stets in den Zusammenhang des »allgemeinen Weltzustands« eingebunden: »Man kann in diesem Sinne ζ. B. von einem Zustande der Bildung, der Wissenschaften, des religiösen Sinnes oder auch der Finanzen, der Rechtspflege, des Familienlebens und anderer sonstiger Lebens[ein]richtungen sprechen. Alle diese Seiten sind dann aber in der Tat nur Formen von ein und demselben Geiste und Gehalt, der sich in ihnen expliziert und verwirklicht.«44 In der materiellen Durchführung seiner Ästhetik, insbesondere in der Beschreibung der epochalen Entwicklungen der einzelnen Kunstgattungen und hier wieder besonders der Epik, kommt Hegel immer wieder auf den »allgemeinen Weltzustand« als einer Voraussetzung der jeweiligen Entwicklungsstufe der Kunst zurück.45 Die idealistische Ästhetik Hegels hält jedoch, ihren Einsichten in die soziale Einbindung der Kunst zum Trotz, an der Autonomie der Kunst fest: »Der Geist einer Zeit, einer Nation ist zwar die substanzielle, wirksame Ursache, die aber selber erst zur Wirklichkeit als Kunstwerk heraustritt, wenn sie sich zu dem individuellen genius eines Dichters zusammenfaßt, der dann diesen allgemeinen Geist und dessen Gehalt als sein eigenes Werk zum Bewußtsein bringt und ausführt. Denn Dichten ist eine geistige Hervorbringung, und der Geist existiert nur als einzelnes, wirkliches Bewußtsein und Selbstbewußtsein.«46 Die dichtende Subjektivität muß ein »freies Ganzes« schaffen, »das nicht von außen her determiniert erscheint«.47 Der allgemeine Weltzustand< Hegels wird später einen anderen Namen tragen, an dessen theoretischer Entwicklung Hegel selbst maßgeblich mitgearbeitet hat: als Sammelbegriff für die außerkünstlerischen Einflüsse wird die Gesellschaft dienen. Bevor dieser Begriff - im 20. Jahrhundert - zum Reizbegriff wird, mit dessen Hilfe sich ästhetische Konzeptionen grundlegend voneinander unterscheiden können, entwickelt er sich im 19. Jahrhundert zu einer zentralen Kategorie der Literaturwissenschaft, während er in den anderen Kunstwissenschaften keine Rolle spielt. Unter dem erst später als Kampfbegriff seiner Gegner entstandenen Schlagwort des >Positivismus< haben sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in England, Frankreich und Deutschland Tendenzen herausgebildet, welche die Literatur in ihrer sozialen Verflochtenheit genauer zu begreifen versuchten. In seinem Discours sur l'Esprit positif von 1844 hat Auguste Comte ein wissenschaftstheoretisches Programm umrissen, dessen Durchführung zwar obskur blieb, dessen programmatische Substanz indes eine enorme Karriere machen sollte: Sie besteht in der Forderung, daß das Ziel der Wissenschaft »la simple recherche des lois« sei.48 Mit der Übertragung dieser Konzeption auf die Literaturwissenschaft entwickelt sich eine neue Problemstellung, die tendenziell zur Überwindung der Hermeneutik führt. Das Problem der Bedeutung wird verabschiedet;

44 45 44 47 48

Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 235. Ebd. III, S. 341. Ebd., S. 337. Ebd., S. 273. Comte, Discours sur l'Esprit positif, S. 26.

295 an ihre Stelle treten die >TatsachenGesetz< würde auch im 19. Jahrhundert einer naturwissenschaftlichen Prüfung nicht standgehalten haben: Es ist das »loi des dépendances mutuelles«;55 das Gesetz der wechselseitigen Abhängigkeiten. Die deutschen Nachfolger Taines, die von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung unter dem Etikett des >Positivismus< zusammengefaßt werden, sind ihm im Programm wie in seiner nicht immer konsequenten Anwendung gefolgt. Der profilierteste dieser Versuche ist Scherers unvollendet gebliebene Poetik, die 1888 postum erschien. Das begriffliche Instrumentarium ist noch unbeholfen, die Intention aber deutlich. Im zweiten Kapitel entwirft Scherer unter dem Titel »Dichter und Publikum« ein in vielerlei Hinsicht auf literaturwissenschaftliche Forschungsrichtungen des 20. Jahrhunderts vorausweisendes Programm. Seine nüchterne Bestimmung des »poetische[n] Produkts« als »Waare wie jede andere« ist Ausgangspunkt für Fragen, die zu erforschen sich die Literaturwissenschaft der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Verdienst angerechnet hat: Die Untersuchung von Buchpreisen und Autorhonoraren, des Verlagswesens, Buchhandels und der Leihbibliotheken, schließlich auch von Rezensionen wird von Scherer gefordert; eine Untersuchungsrichtung, welche das »litterarische Product als bloße Waare« betrachtet.56 Diese Faktoren lassen sich zum großen Teil mit Kategorien der zeitgenössischen Nationalökonomie beschreiben, die Scherer ausgiebig verwendet. Für eine Erörterung von Fragen der Interpretation bleibt in diesem Kategoriensystem allerdings wenig Raum; Dilthey hat zu Recht festgestellt, daß es Scherer gerade darum geht, alle Momente des Psychologischen aus der Poetik zu tilgen.57 Scherer neigte, wenn auch nicht in letzter Konsequenz, in der Tat zu der Auffassung, daß der Schriftsteller analog zur Natur Kausalgesetzen unterworfen sei, und er setzt den »Determinismus, das Dogma des unfreien Willens«, voraus.58 Er hat sich diesem programmatischen Postulat freilich längst nicht in dem Maße unterworfen, wie zunächst er selbst und dann erst recht die wissenschaftsgeschichtliche Scherer-Rezeption glauben machen wollte. Daß Scherer und die >Positivisten< nichts anderes gewollt hätten, als die Methoden der Naturwissenschaft auf die Geisteswissenschaften zu übertragen, ist Teil einer Scherer-Legen54 55 56 57 58

Taine, Histoire de ta littérature anglaise I, S. XV. Ebd., S. XXXVI. Scherer, Poetik, S. 85. - Vgl. Salm, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft, S. 28f. Vgl. Dilthey, Wilhelm Scherer zum persönlichen Gedächtniß, S. 241. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, S. 19.

297 59

de, die längst schon hätte korrigiert sein können. Eine genauere Lektüre hat gezeigt, daß Scherer dem oft beschworenen unaufhaltsamen Siegeszug der Naturwissenschaft, an deren »Siegeswagen [...] wir Alle gefesselt« sind, doch wohl eher skeptisch gegenüberstand.60 Das macht sich auch dort bemerkbar, wo das zentrale hermeneutische Problem der Determination diskutiert wird. In Scherers poetologischer Konzeption ist die Stellung des Autors nicht ganz geklärt. Denn aller Determination zum Trotz kann er sich nicht entschließen, die Idee des >Genies< ganz zu verabschieden: »Und so darf man sagen: bei der heutigen Organisation des litterarischen Verkehrs haben im Allgemeinen die Culturvölker die Poesie, die sie verdienen. So kann die ganze Nation für den Stand der Litteratur verantwortlich gemacht werden. Doch aber mit Einschränkung? Die hinreißenden Genies, die alles mit sich fortziehen - ob die kommen oder nicht kommen, dafür ist das Publicum doch wohl nur in geringem Maße verantwortlich, darauf hat es nur geringen Einfluß.«61 Daß auch in einer positivistischen Literaturtheorie Genies noch ihren Platz haben, ist ein deutliches Signal fur das ungelöste Zentralproblem der Autonomie der Literatur, das die Literaturtheorie der nächsten hundert Jahre begleiten wird. Nur selten wird das positivistische Programm mit jener Radikalität umgesetzt, die der Literarhistoriker Josef Nadler formuliert hat. Nadler unternimmt eine Verteidigung des naturgesetzlichen Denkens in den Geisteswissenschaften62 und scheut nicht davor zurück, die Frage nach der »ursächlichen Abfolge« zu stellen, wenn eine solche festzustellen ist:63 »In bestimmten Bereichen der Literaturgeschichte gilt der Satz vom zureichenden Grunde«.64 Daraus ergibt sich die Aufgabe des Literarhistorikers, »a) die Fragen nach den zureichenden Gründen vielleicht sogar in der Form des ursächlichen Abhängigkeitsverhältnisses, b) nach der genauen Stellung der Denkmäler in der Zeit und c) im Raum« zu stellen.65 Allerdings ist die Aufarbeitung dieser Fragen für ihn nicht die Hauptaufgabe des Literarhistorikers, denn Literaturgeschichte ist Wissenschaft von den Denkmälern, »nicht die Wissenschaft von den Ursachen literarischer Denkmälern,66 Weitgehend parallel, insgesamt aber etwas später als die positivistische Schule entfaltet sich zunächst sehr zögernd eine marxistische Literaturtheorie. Ihre Anfänge im 19. Jahrhundert sind noch unbedeutend; im 20. Jahrhundert aber wird sie einige Jahrzehnte lang zu den prägenden und meistdiskutierten Theorieansätzen der Literaturwissenschaft gehören.67 Es wurde schon früh gesehen, daß sich die »marxistische Literaturforschung« durch »Reibung an der Scherer-Schu-

59 60 61 62

" 64 65 66 67

Vgl. Stemsdorff, Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, S. 49-55. Scherer, Die neue Generation, S. 23. Scherer, Poetik, S. 89. Vgl. Nadler, Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte, S. 51-53. Ebd., S. 8. Ebd., S. 46. Ebd., S. 21. Ebd., S. 32. Einen Überblick gibt Fügen, Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden, S. 58-104.

298 le entzündet« hat.68 Im Zuge der heftigen Kontroversen wurde aber übersehen, daß >Positivismus< und >Marxismus< als feindliche Brüder betrachtet werden dürfen. Nicht nur sind sie historisch gleichursprünglich, sie teilen auch zentrale gemeinsame Problemstellungen und sind in ihren Lösungsangeboten längst nicht so weit voneinander entfernt, wie es die wechselseitige Polemik glauben machen will. Während der Positivismus in der germanistischen Fachgeschichtsschreibung seit längerem wieder etwas stärkere Beachtung gefunden hat, ist die marxistische Literaturtheorie zu einem eklatanten Fall von Obsoleszenz geworden. Es dürfte in der Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften kaum ein zweites Beispiel dafür geben, daß ein erfolgreicher, vieldiskutierter und umfassender Theorieansatz derart schnell wie ein Spuk aus der wissenschaftlichen Diskussion verbannt wurde, wie es sich in diesem Fall seit dem Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts beobachten läßt. Daß eine Theorie so schnell und so gründlich diskreditiert wurde, hat sicherlich außertheoretische Gründe; und es läßt umgekehrt darauf schließen, daß die lange Lebensdauer der Theorie ebenfalls durch besondere politische Rahmenbedingungen gesichert wurde. Gerade das Verschwinden des Marxismus aus der literaturwissenschaftlichen Diskussion erlaubt eine nüchternere Perspektive, als sie den Kontroversen der vergangenen Jahrzehnte möglich war, die stets durch politische Vorgaben belastet und verzerrt wurden. Unfruchtbar muß eine solche Diskussion auch heute nicht sein, denn in der marxistischen Literaturwissenschaftstradition wurde eine ganze Reihe von fundamentalen hermeneutischen Problemen erörtert - ohne daß freilich je die Hermeneutik dabei eine nennenswerte Rolle gespielt hätte - , die in der klassischen Hermeneutiktradition peripher geblieben sind. Das erste größere Werk, das eine marxistische Konzeption von Literaturwissenschaft zusammenhängend entfaltete, ist Franz Mehrings Lessing-Legende. Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur, wie der Titel der Buchausgabe heißt. Das 1893 erschienene Buch ist als Kritik an Erich Schmidts großer Lessing-Biographie konzipiert. Während Marx und Engels sich nur am Rande mit Literatur beschäftigt haben und ihre wenigen einschlägigen Arbeiten und Äußerungen - trotz späterer Kanonisierungsversuche - faktisch wenig Einfluß auf die Entwicklung einer marxistischem Literaturwissenschaft hatten, erarbeitet Mehring ein Konzept, das nachhaltig weiterwirken und zu einer der Säulen marxistischer Literaturtheorie werden sollte. Unter Berufung auf Marx und Engels als seinen Lehrern strebt Mehring eine »Erörterung des historischen Materialismus« an." In direkter Polemik gegen Scherer und Schmidt fordert er, daß beim Erzählen der »Literaturgeschichte eines Zeitalters« gleichzeitig die »ökonomische und politische Geschichte desselben Zeitalters« berücksichtigt werden müsse.70 Er gesteht Schmidt durchaus zu, selbst eine entsprechende Forderung erhoben zu haben, wirft ihm aber zugleich vor, sie nicht einlösen zu wollen.

61 69 70

Benda, Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft, S. 20. Mehring, Die Lessing-Legende, S. 4. Ebd., S. 186.

299 Mehring entfaltet seine Lessing-Interpretation im Nebeneinander dreier Argumentationsstränge: vor allem als Kritik bürgerlicher Lessing-Philologie, sodann in einer Interpretation von Lessings Leben und Werk und schließlich in der Vergegenwärtigung der politischen und ökonomischen Zustände des friderizianischen Zeitalters. Spezifisch für die marxistische Literaturtheorie wird Mehrings Auffassung, daß Literatur nicht nur in gesellschaftlichen Zusammenhängen stehe, sondern sie zu ihnen auch Stellung nehmen müsse. »Lessings Lebensarbeit«, postuliert er, gehöre »nicht der Bourgeoisie, sondern dem Proletariat«,71 und er bescheinigt Lessing, vom »sichersten Klassenbewußtsein« geleitet zu sein72 eine Behauptung, die allerlei interpretatorische Umwege erfordert, wie sie später üblich werden: denn Lessings Klassenbewußtsein war unverkennbar ein bürgerliches. Das übersieht auch Mehring nicht; er eliminiert das Problem aber durch die Uminterpretation, daß das bürgerliche Klassenbewußtsein zu dieser Zeit mit dem des Proletariats eins gewesen sei.73 Mit Mehrings Lessing-Interpretation geht eine Auseinandersetzung mit der bisherigen bürgerlich-nationalistischen Lessing-Philologie einher. Er formuliert eine fundamentale Kritik an der Germanistik, der er eine Verfälschung des Lessing-Bildes im Sinne einer prussizistisch-nationalistischen Tendenz durch Verzerrung und Verschweigen vorwirft. Lessing »wird in dem Prokrustesbette der heute für die bürgerliche Welt >maßgebenden< Tendenzen bald so, bald so gereckt.«74 Dahinter verbirgt sich mehr als Polemik im aktuellen philologisch-politischen Tagesgeschäft. Was Mehring hier als Kritik bürgerlicher Literaturwissenschaft vorbringt, hat eine ganz unselige Nachgeschichte gezeugt. In der Traditionslinie marxistischer Wissenschaftslehre mündet sie direkt in die Forderung nach >ParteilichkeitParteilichkeit< gehört zu den umstrittensten Merkmalen marxistischer Literaturtheorie und Wissenschaftsauffassung. Sie geht nicht auf Marx zurück, sondern hat ihren theoretischen Ursprung bei Lenin. Lenin bestimmt >Parteilichkeit< als die Notwendigkeit, »bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsschicht einzunehmen.«76 In diesem Sinne unterscheidet Lenin bürgerlichen »Objektivismus« vom marxistischen Materialismus: Der »Materialismus« schließt »sozusagen Parteilichkeit in sich ein, da er dazu verpflichtet ist, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen.«77 In bezug auf die »Parteilichkeit der Literatur hat Lenin allerdings nicht den dogmatischen Standpunkt vertreten, wie er ihm später zugeschrieben wurde; er hatte nicht vor,

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76 77

Ebd., S. 364. Ebd., S. 323. Vgl. ebd., S. 364. Ebd., S. 196. Vgl. die Darstellung bei Fügen, Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden, S. 84-96. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, S. 414. Ebd.

300 »Literatur und Kunst fur immer auf die Parteilinie der Bolschewiki einzuschwören«, sondern hat eine solche Forderung nur in einem konkreten politischen Zusammenhang erhoben.78 Die Parteilichkeits-Doktrin ist in der westlichen Literaturwissenschaft kaum einmal ernst genommen worden. Dennoch verdient sie im hermeneutischen Kontext einen Seitenblick, denn hinter ihr verbirgt sich der Versuch, nicht nur ein politisches, sondern auch ein hermeneutisches Problem auf gewaltsame Weise zu lösen. Zunächst bezeichnet >Parteilichkeit< das Verhältnis, in dem die Literatur zur historischen Wirklichkeit steht. Literatur nimmt - bewußt oder nicht - Stellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit, in denen sie steht und an denen sie teilhat. Der Parteilichkeits-Begriff fungiert in diesem Zusammenhang als Ordnungs- und Wertungskonzept, das eine sichere Beurteilung von Literatur unter dem Aspekt ihrer historischen Situierung erlaubt. Zugleich aber kann die Parteilichkeit als wissenschaftstheoretisches Regulativ eingesetzt werden. Sie bezeichnet das Verhältnis des interpretierenden Wissenschaftlers zu seinem Text also das hermeneutische Problem par excellence. Im Parteilichkeits-Konzept wird dieses Verhältnis freilich nicht hermeneutisch fruchtbar gemacht, sondern per Autorität stillgestellt. Für die Problemgeschichte der Interpretation ist das Konzept von einigem Interesse. Daß es sich zwar um eine genuin marxistisch-leninistische Begrifflichkeit, aber keinesfalls um ein genuin marxistisch-leninistisches Problem handelt, wird daraus deutlich, daß es in der Geschichtswissenschaft schon lange vor Lenin diskutiert wurde. Dem Historismus, als dem fuhrenden Paradigma der deutschen Geschichtswissenschaft, der der Idee nach auf die objektive Erforschung der Vergangenheit zielte, wurde nicht zufällig die Parteilichkeit des Geschichtsschreibers zum Problem. Droysen, der nach Ranke führende Historiker des Historismus, lehnte die Forderung nach Unparteilichkeit des Historikers ausdrücklich als eine »Art eunuchischer Objektivität« ab.79 Dies nicht nur deshalb, weil Unparteilichkeit ohnehin nicht erreichbar sei - diese Einsicht wurde erst später konsequent diskutiert - , sondern deshalb, weil eine spezifische Form der Parteilichkeit zur Substanz historischer Forschung gehöre. Erst der durch sie hergestellte Gegenwartsbezug sichert einerseits den Zusammenhang von theoretischer Forschung und politischer Praxis und gebe andererseits - was wichtiger ist - der Interpretation der Vergangenheit eine Perspektive:80 »Denn allein eine wahrhaft historische Ansicht der Gegenwart, ihrer Aufgabe, ihrer Mittel, ihrer Schranken wird imstande sein, die traurige Zerrüttung unserer staatlichen und sozialen Verhältnisse auszuheilen und die rechten Wege zu einer froheren Zukunft anzubahnen.«81 Diese Auffassung hat bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts unmittelbar in die Literaturwissenschaft hineingewirkt. Einer der ersten Autoren einer umfassenden deutschen Literaturgeschichte, Georg Gottfried Gervinus, hat unter dieser 78 79 80 81

Buch, Einleitung, S. 11. Droysen, Historik, S. 287. Vgl. RUsen, Konfigurationen des Historismus, S. 161. Droysen, Historik, S. 383 [Beilagen: »Theologie der Geschichte. Vorwort zur Geschichte des Hellenismus II: 1843«]. - Vgl. Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 234f.

301 methodischen Prämisse die Entwicklung der deutschen Literatur beschrieben: Sie ist nicht bloße Vergegenwärtigung von Vergangenheit um ihrer selbst willen, sondern dient einem politischen Zweck. Gervinus »entschlüsselt die Literatur vergangener Zeit als Teil des Orientierungsrahmens der gegenwärtigen gesellschaftlichen Praxis.«82 Seine Literargeschichte ist ausdrücklich als Ersatz für eine politische Geschichte konzipiert: »Der Wettkampf der Kunst ist vollendet; jetzt sollten wir uns das andere Ziel stecken« - nämlich die Realisierung der bürgerlichen deutschen Nation.83 Von dieser Auffassung ist die spätere Leninsche Parteilichkeitsdoktrin in der Substanz nicht weit entfernt, in der Sache freilich verfolgt sie andere Ziele und nimmt eine andere Gestalt an. Gervinus' Parteilichkeit ist ausdrücklich subjektiv konzipiert; der Historiker »muß durchaus frei sein und in jeden Standpunkt sich finden können. [...] Tausend Seiten kann er der Geschichte abgewinnen, und eine muß er wählen, von dieser einen aus muß er seine Darstellung innerlichst beleben.«84 An die Stelle der subjektiven Entscheidung für einen Standpunkt tritt bei Lenin und erst recht unter Stalin die >ParteiWissenschaft< zum Regulativ, das eine Vermittlung von Objektivität und Parteilichkeit erlauben soll. Sie verpflichtet den Historiker auf ethische Normen, die es ihm ermöglichen, die Einflüsse des empirischen Subjekts auf die wissenschaftliche Leistung soweit transparent zu machen, daß der Standpunkt jederzeit erkennbar bleibe: »Ich will nicht mehr, aber auch nicht weniger zu haben scheinen, als die relative Wahrheit meines Standpunktes, wie ihn mein Vaterland, meine politische, meine religiöse Überzeugung, mein ernstliches Studium mir zu erreichen gewährt hat. [...] Ich denke gleichsam aus einem höheren Ich, in welchem die Schlacken meiner eigenen kleinen Person hinweggeschmolzen sind.«87 Die marxistische Theorie hat das Erbe dieser bürgerlichen ParteilichkeitsDoktrin auf eine krude Weise angetreten. Die Besonderheit der marxistisch-leninistischen Parteilichkeitsdoktrin gegenüber der bürgerlichen des 19. Jahrhunderts 82 83 84

85 86 87

RQsen, Konfigurationen des Historismus, S. 161. Gervinus, Geschichte der Deutschen Dichtung V, S. 816. Gervinus, Prinzipien einer deutschen Literaturgeschichtsschreibung, S. 149f. - Zur Situierung Gervinus' in den zeitgenössischen Kontroversen vgl. Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 47-55. Lukács, Tendenz oder Parteilichkeit?, S. 143. Ebd., S. 147. Droysen, Historik, S. 287.

302 besteht nicht darin, daß politische Vorgaben die wissenschaftliche Arbeit bestimmen sollen. Entscheidend ist vielmehr gegenüber den Vorgängern im Historismus, daß die Bezugsinstanz sich ändert: Bei Gervinus war es das individuelle Subjekt des Forschers, bei Droysen waren es die methodisch-ethischen Regulative der Wissenschaft, bei Lenin schließlich ist es im Wortsinne die >ParteiBasis< und >Überbau< organisiert sei: »Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden.«88 Die Frage nach dem Verhältnis von Basis und Überbau ist eines der Hauptprobleme marxistischer Theorie gewesen. Sie hat Diskussionen hervorgerufen, die weit über die marxistische Theorie hinausreichen - nicht von ungefähr, denn hinter ihr verbirgt sich das uralte Problem nach dem Verhältnis von Geist und 88

Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, S. 139.

303 Wirklichkeit. Bei Marx und Engels ist es nie richtig entschieden worden; die allgegenwärtige Formel, das Verhältnis sei >dialektisch< zu fassen, ist zu schillernd, als daß sie in der Diskussion nützlich gewesen wäre. Auch im marxistischen Zusammenhang zeigt sich die Tendenz, die Dialektik stillzustellen, indem der Primat der einen oder anderen Seite hervorgehoben wird. In einer berühmt gewordenen Briefstelle hat Engels, wohl nicht zufällig mit einer juristischen Metapher, eine Kompromißformel gefunden, die aber am Ende doch einseitig ist: Der Überbau - zu dem die Literatur gehört - ist »in letzter Instanz« von der Basis bestimmt, auch wenn er eine gewisse Eigendynamik entfalten kann." Ausgerechnet Stalin hat jedoch in bezug auf die Sprache wieder eine eher idealistische Position bevorzugt, wenn er die selbständige Rolle des Überbaus fur die gesellschaftliche Entwicklung betont. Der Überbau ist nicht von der Basis abhängig; im »Gegenteil, einmal auf die Welt gekommen, wird er zu einer gewaltigen aktiven Kraft, trägt er aktiv dazu bei, daß seine Basis ihre bestimmte Form annimmt und sich festigt, trifft er alle Maßnahmen, um der neuen Gesellschaftsordnung zu helfen, der alten Basis und den alten Klassen den Rest zu geben und sie zu beseitigen«.90 Aus der Basis-Überbau-Diskussion ist ein Kernstück der Marxschen Theorie hervorgegangen, das für die Literaturwissenschaft zentral wurde: die Ideologiekritik. Hinter ihr verbirgt sich einer der fruchtbarsten Diskussionsansätze der literaturwissenschaftlichen Kontroversen des 20. Jahrhunderts, der auch dort noch nachwirkt, wo er längst überwunden zu sein scheint. Die Grundidee ist alt. Im Ideologiebegriff wird die Einsicht thematisch, daß Bewußtsein und Wirklichkeit auseinanderfallen. Zunächst wurde dieses Problem allein unter erkenntnistheoretischer Perspektive gefaßt. Francis Bacon formulierte als einer der ersten neuzeitlichen Philosophen die Einsicht, daß selbst die vermeintlich reine wissenschaftliche Erkenntnis empirischen Einschränkungen unterliegt, von denen sie, wenn überhaupt, nur mühsam zu reinigen ist. In seiner Idolen-Lehre unterscheidet er zwischen verschiedenen Formen: den >idola tribus< und >idola specus< auf der einen sowie den >idola fori< und den >idola theatri< auf der anderen Seite; jene sind die gattungsspezifischen und individuellen, diese die sozialen und konventionellen Fehlerquellen der Erkenntnis." In der Folge wird sich die Diskussion auf die sozialen Komponenten konzentrieren. Die Aufklärung stellt die Frage unter eine lebenspraktische Perspektive. Sie will klären, was den Menschen daran hindert, »sein Leben der Vernunft und damit der Natur entsprechend einzurichten«.92 Die Antwort ist einfach: Es sind die Vorurteile, die durch Traditionen, vor allem aber institutionalisierte Interessen - gedacht ist besonders an die der Kirche - gefördert werden. Der Baron d'Holbach, der wichtigste Ideologietheoretiker des 18. Jahrhunderts, hat sich diese Zusammenhänge noch einfach gedacht. Er formuliert die berühmt gewordene Theorie des >PriestertrugsMeinungssystemeAlltagsgeschichte< verstanden und betrieben wird: »Es ist deutlich, daß die Mentalitätsgeschichte zum Allumfassenden, zur histoire totale drängt.«143 In dieser strengen Auffassung schafft die Mentalitätsgeschichte historisch-kulturelle Totalitäten, welche den Ideologie-Begriff von Marx oder den universalen Verblendungszusammenhang Adornos noch einmal überbieten. In der Mentalität lösen sich alle kulturhistorischen Differenzen auf es gibt schlechterdings keine kulturellen Phänomene, welche jenseits der >Mentalität< greifbar wären oder auf die sich Mentalität zurückfuhren ließe. Angesichts der Komplexität dieser Aufgabe hat sich die in den letzten Jahren sehr lebhaft geführte Diskussion über die Mentalitätsgeschichte schwer damit getan, ihren Gegenstand und ihren methodischen Ort in der kulturhistorischen Geschichtswissenschaft zu bestimmen. Denn das Mentalitäts-Konzept steht einerseits in Konkurrenz, andererseits aber in engen Beziehungen zu verwandten methodischen Ansätzen. Es teilt vor allem wesentliche Komponenten mit der Ideologiekritik und der Ideengeschichte; von ihnen unterscheidet es sich aber durch die stärkere Hinwendung zur Alltagsgeschichte. Es richtet sich weniger auf die manifesten und bewußten Ausdrucksformen, die immer solche von kulturellen Eliten sind, als auf die vor- und unbewußten Rahmenbedingungen des Denkens, Fühlens und Handelns. Theodor Geiger hat eine griffige Metapher zur Unterscheidung von >Ideologie< und >Mentalität< gefunden: Die Ideologie ist das »Gewand«, die Mentalität die »Haut« des Menschen.144 Mit ihrem umfassenden Anspruch hat sich die Mentalitätsgeschichte methodische Probleme aufgeladen, die schwer lösbar erscheinen. Das hat wesentlich dazu beigetragen, daß der Begriff als Forschungsprogramm zwar fest etabliert ist, daß aber in seiner inhaltlichen und methodischen Ausfüllung erhebliche Divergenzen bestehen. Die Frage, wie Mentalitäten zu ermitteln und zu beschreiben sind, hat zu einem weitgespannten Komplex methodischer Verfahren gefuhrt. In den ver-

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Nipperdey, Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie, S. 157. Vgl. Burke, Stärken und Schwächen der Mentalitätsgeschichte, S. 135. Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XVIII. 144 Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, S. 78. 142

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313 schiedenen Diskussionsansätzen, die sich zunächst um die Zeitschrift Annales gruppierten, ließ sich ein Konsens darüber herstellen, was untersucht werden sollte; eben jene auf lange Dauer gestellten kollektiven Phänomene, die in einer Minimaldefinition von >Mentalität< erfaßt werden können: »Une mentalité est le système de référence implicite d'un groupe social, homogène du point de vue de cet état d'esprit commun, ce système de référence lui permet de voir les choses d'une certaine manière et donc avoir des réactions et conduites en accord avec cette perception du monde.«145 Die methodischen Differenzen entstehen dort, wo die allumfassende Komplexität zu einem pragmatisch handhabbaren Forschungsprogramm reduziert wird. Fernand Braudel hat mit seiner vielzitierten Metapher von den »prisons de longue durée« ein zentrales Merkmal von Mentalität festgelegt.144 Damit wird eine Blickrichtung der Forschung festgelegt: Mentalitäten sind verankert in Mythen, Archetypen und Symbolen, im religiösen Glauben, in Weltanschauungen und Wertvorstellungen, die das Denken und das Verhalten prägen.147 Die mentalitätsgeschichtliche Forschung neigte dazu, solche Phänomene in synchroner Beschreibung zu thematisieren und damit den Aspekt ihrer Dauerhaftigkeit zu betonen. Aber wenn Mentalitäten auch auf Dauer gestellt sind, so unterliegen sie doch einem historischen Wandel. Mentalitäten speisen sich am stärksten aus überkommenen Beständen, die auch dann noch nachwirken, wenn sie realgeschichtlich längst obsolet geworden zu sein scheinen, aber es sind eben doch historische Traditionen, die einem Wandel unterliegen.148 Die Bandbreite der Methoden einer >histoire des mentalités< war von Anfang an ungewöhnlich breit und vor allem divergierend - mit der Folge, daß bei unterschiedlichen methodischen Ansätzen am Ende ziemlich unterschiedliche Phänomene und Ergebnisse in den Blick kamen, die unter dem Etikett >Mentalität< zusammengefaßt wurden. Denn in der historiographischen Praxis lassen sich Mentalitäten als solche nicht rekonstruieren; rekonstruierbar sind sie immer nur in bezug auf einen bestimmten Phänomenbereich. In ihrer Ursprungsphase hat sich die >histoire des mentalités< als ein empirisch operierendes Kontrastprogramm zu einer historistischen Geschichtswissenschaft etabliert, das mit dieser aber einige Grundannahmen teilt.149 Ihr Verfahren war das von quantifizierenden seriellen Untersuchungen, in denen durch die Sammlung von geeigneten Daten Aussagen gemacht werden sollten über spezifisch eingrenzbare >Mentalitätencase studiesMentalität< als solcher, sondern immer in bezug auf bestimmte ihrer Erscheinungsformen in sozial, regional und historisch abgrenzbaren Bereichen, die sich aufeinander beziehen und miteinander vergleichen lassen. In die Literaturwissenschaft hat die Mentalitätsgeschichte erst spät Eingang gefunden. Die klassischen Mentalitätshistoriker haben sich zwar ohne weiteres literarischen Texten zugewandt, aber sie haben sie als Quellen wie andere auch behandelt. Signifikant ist Febvres Rabelais-Studie, die zu den frühen Meisterwerken der Mentalitätsgeschichtsschreibung gehört. Ihrer Absicht nach richtet sie sich gerade nicht auf Rabelais und sein Werk, sondern auf die Mentalität, aus der es hervorgegangen ist. Es geht ihm um die »Analyse eines geistigen Klimas«, nicht um die Interpretation eines Textes.152 Daß das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Mentalitätsgeschichte gespannt ist, liegt im traditionellen Selbstverständnis der beiden Wissenschaften begründet. Die Untersuchungen der Mentalitätshistoriker richten sich per definitionem auf Kollektivphänomene, während die Literaturwissenschaft traditionsgemäß literarische Texte als singuläre Phänomene begreift, die sich gerade nicht einfach in kollektive Mentalitäten einordnen lassen. Die Literaturwissenschaft hat sich deshalb bisher kaum darauf einlassen wollen, in vollem Ernst Mentalitätsgeschichte zu betreiben. Sie besteht darauf, daß literarische Werke einen kulturellen Sonderstatus haben, denn »literarische Texte sind nicht Ausdruck eines gewöhnlichen Alltagswissens, sondern thematisieren es programmatisch, formen es bewußt, spitzen es zum Außergewöhnlichen zu«, während in der mentalitätsgeschichtlichen Betrachtung »strukturelle und pragmatische Differenzen von Textsorten eingeebnet« werden.153 Es ist sicher kein Zufall, daß die Mentalitätsgeschichte nur in der mediävistischen Germanistik ihren festen Ort gefunden hat, denn hier hat die Vorstellung vom literarischen Text als autonomem Kunstwerk keine Tradition.154 Auch die Mediävistik hält aber gerne daran fest, daß im Rahmen einer mentalitätsgeschichtlichen Fragestellung weiterhin die Frage nach der Singularität des Textes im Vordergrund stehen muß: »Demgegenüber kann die Berücksichtigung literarischer Texte gerade die Dialektik von Einzelnem und Gesellschaft, Individualität und Kollektivität, Öffentlichkeit und Privatheit deutlich machen, wobei sich diese Dialektik ihrerseits in unterschiedlichen Texten und Epochen höchst variabel darstellt.«155

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Diesen und ähnlichen Themen widmen sich die Beiträge in dem Sammelband: Europäische Mentalitätsgeschichte. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft, S. 66. Müller, Aporien und Perspektiven einer Sozialgeschichte der mittelalterlichen Literatur, S. 63. - Ähnlich Röcke, Die Aktualität der Anfänge, S. 44; Bachorski, Ein Durchgraben zu den Wurzeln hin..., S. 161-163. Vgl. Bumke, Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe, S. 21. Röcke, Mentalitätsgeschichte und Literarisierung historischer Erfahrung, S. 94.

315 Tatsächlich aber muß sich eine mentalitätsgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft darauf einlassen, auch literarische Texte nicht als singulare Phänomene zu begreifen, sondern als Ausdruck kollektiver Mentalitäten. Daß dieses Verfahren zu wirklich ergiebigen Einzelergebnissen gekommen sei, läßt sich noch nicht behaupten; als Kompromiß bietet sich das Verfahren an, die Mentalitäten als »Zwischenschicht zwischen der gesellschaftlichen und literarischen Wirklichkeit in den Blick zu rücken«.156 Unter den Theorien, welche Texte in Kontexte hineinstellen, erweist sich die Mentalitätsgeschichte als die radikalste - sofern sie als Literaturwissenschaft betrieben wird, löst sie die literarischen Werke in Mentalitäten auf. Damit ist jede wertende oder auch nur erkenntnistheoretische Hierarchisierung, wie sie in sozialgeschichtlichen Verfahren erhalten blieb, aufgegeben. Eine konsequente mentalitätsgeschichtliche Betrachtung von literarischen Werken wäre die extremste Form des Sinn-Verleihens durch Hineinstellen in Zusammenhänge. Mentalitätsgeschichte ist, ob gewollt oder nicht, historische Sinn-Interpretation. Das liegt in der vorab definierten Natur der Sache, denn sie unterstellt, daß Mentalitäten kohärente Sinnzusammenhänge herstellen: Die »Mentalität ist geprägt von den vorgängigen Interpretationshorizonten, in denen Menschen leben und sich und ihre Welt verstehen.«157 Ein erst in den Diskussionen der jüngsten Zeit emsthaft befragtes Axiom sozialgeschichtlicher Geschichtsschreibung liegt also auch der Mentalitätsgeschichte zugrunde: die Voraussetzung, daß es so etwas wie eine »ontisch fixierbare Geschichte« gebe, auf die sich Literatur beziehen und auf die sie sich reduzieren ließe; eine Auffassung, die zu »hierarchischen« Konzeptionen führte, deren prägnanteste das »Basis-Überbau«-Modell war.158 An diesem Punkt entzünden sich Kontroversen, die auf eine postmoderne Kritik an der Mentalitätsgeschichte und verwandter Konzepte hinauslaufen. Denn in der Tat geht die Mentalitätsgeschichte von allen historischen Verfahren am radikalsten von der Kohärenz von Sinnzusammenhängen aus - die Formel Braudels von den >prisons de longue durée< dürfte sich bei keiner anderen geschichtswissenschaftlichen Methode finden, und sie muß gerade bei Literaturwissenschaftlern, die geme dem Traum einer Autonomie des literarischen Werks nachhängen, auf Unbehagen stoßen. In Foucault hat die >histoire des mentalités< einen radikalen Kritiker gefunden. Seine Archéologie du savoir ist im Grundansatz eine Auseinandersetzung mit der Ληηα/es-Schule, die zwar nicht explizit genannt, aber via negationis deutlich identifizierbar ist. Inspiriert von Nietzsche, der hundert Jahre zuvor die provokative Frage nach dem Nutzen und Nachtheil der Historie fiir das Leben gestellt hatte, wirft Foucault die Frage auf, wie die Kohärenz der Geschichte zu denken ist - und er fuhrt eine alte erkenntniskritische Einsicht an. Die Kohärenz ist konstruiert: »L'histoire continue, c'est le corrélat indispensable à la fonction

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Peters, Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte?, S. 183. - Vgl. auch Bumke, Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe, S. 46. Nipperdey, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, S. 52. Hohendahl, Nach der Ideologiekritik, S. 78.

316 fondatrice du sujet«. 15 ' Seit der Wende zum 18. Jahrhundert fugt sich die Geschichtsschreibung in den Prozeß der Disziplinierung des Wissens ein, der gekennzeichnet ist durch »sélection, normalisation, hiérarchisation, et centralisation.« 160 Zugleich erhält das historische Wissen den Charakter einer kontinuierlichen und teleologischen Geschichtsphilosophie. 161 Gegen dieses tradierte Konzept der sinnvollen, aber vom Historiker konstruierten Einheit setzt Foucault das Fragment, an die Stelle der Kontinuität den Bruch. 162 Das Abschneiden von vermeintlich trügerischen Zusammenhängen, die Punktualisierung der Wahrnehmung historischer Ereignisse, der Verzicht auf die Suche nach dem Sinn von historischen Begebenheiten wird zur Leistung, die dem Archäologen und dem Genealogen des Wissens abverlangt wird. Dahinter verbirgt sich wieder ein politisches Motiv. Das Aufsprengen von Kontinuität erscheint schon als solches als ein emanzipatorischer Akt; dadurch wurde dieses Konzept auch für die feministische Literaturwissenschaft attraktiv. 163 Foucault erscheint die von den Historikern konstruierte Geschichte als eine Abfolge von Gewaltakten, die Angst vor dem >Anderen< haben und es deshalb ausgrenzen: »Comme si nous avions peur de penser l'Autre dans le temps de notre propre pensée.« 164 Foucault verfolgt mit seiner Strategie der Diskontinuität ein Ziel, das sich aus dem Kontext seiner Philosophie ergibt: »de toute façon il s'agit de reconstituer un autre discours, de retrouver la parole muette, murmurante, intarissable qui anime de l'intérieur la voix qu'on entend, de rétablir le texte menu et invisible qui parcourt l'interstice des lignes écrites et parfois les bouscule.« 165 Auch Foucaults Geschichtsschreibung hat ein Telos: Er will versuchen, »de définir cet espace blanc d'où je parle, et qui prend forme lentement dans un discours q u e j e sens si précaire, si incertain encore.« 166 Foucaults Kritik an der konventionellen Geschichtsschreibung folgt einer doppelten Strategie: Sie zeigt, daß historisches Wissen immer eine Konstruktion ist und daß diese Konstruktion auf Machtinteressen aufbaut. Auch das historische Wissen ist eine Waffe im politischen Kampf; es ist ein »discours où la vérité fonctionne comme arme«. 167 In seiner nachgelassenen Vorlesung »II faut défendre la société« hat Foucault das Problem der Gesichtsschreibung in diesen seinen ureigenen Forschungskomplex des Zusammenhangs von >Wissen< und >Macht< eingeordnet. Im Blick auf die Ursprünge der Geschichtsschreibung bei Henri de Boulainvilliers um 1700 arbeitet er die Interessen heraus, von denen sich die moderne Geschichtsschreibung in ihrer Entstehungsphase leiten läßt. Boulainvilliers war nach Foucaults Interpretation der erste, der ein »continuum historico-poli-

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Foucault, L'archéologie du savoir, S. 2If.; vgl. auch S. 54. Foucault, »II faut défendre la société«, S. 161. Vgl. ebd., S. 211 f. Vgl. Foucault, L'archéologie du savoir, S. 3 1 - Vgl. Ferry/Renaut, La Pensée 68, S. 50. Vgl. Schabert, Gender als Kategorie einer neuen Literaturgeschichtsschreibung, S. 185f. Foucault, L'archéologie du savoir, S. 21. Ebd., S. 39f. Ebd., S. 27. Foucault, »II faut défendre la société«, S. 243; vgl. auch S. 49.

317 tique« hergestellt und auf diese Weise das historische Wissen neu definiert hat.168 Im Zuge dieser Entwicklung wird es zu einem Machtinstrument ausgebaut, das bald auch staatlich verwaltet wird. 1 " Foucaults Kritik war notwendig, weil sie mit ihrer radikalen Skepsis die Historiker zur Selbstbesinnung auf ihre methodischen Grundlagen aufgefordert hat. Als Programm freilich taugt sie wenig - das zeigen Foucaults eigene Schriften. So disparat sie sich ausnehmen, so deutlich erweisen sie sich bei genauerer Betrachtung als eine bloße Umkehrung des traditionellen Programms, dem sie verpflichtet bleiben. Gerade bei Foucault selbst läßt sich beobachten, daß auch er Kontinuitäten beschreibt. Seine großen historischen Studien, die die Beachtung gefunden haben, die sie verdienen, wechseln nur das Thema, aber kaum die Methode. Das hartnäckige Insistieren auf dem Fragment und dem Bruch, wie es die Romantik schon kannte, ist möglich nur vor dem Hintergrund einer stillschweigend anerkannten Kontinuität und Kohärenz. Auch die Geschichte der Ausgrenzungen, des Verschweigens und des Verstummens ist eine Geschichte, die ihre eigene Kontinuität hat. Für Foucault bleibt die kanonische Tradition der Bezugspunkt, ohne den sich seine Geschichte des >Anderen< nicht entfalten kann. Seinen Adepten freilich ist das Bewußtsein dieser Abhängigkeit vom Bekämpften verlorengegangen. Sie erklären zur praktikablen Methode, was bei Foucault wohl nur methodischer Zweifel war. Das hat zur Folge, daß sich zumindest in der Literaturwissenschaft eine antihistorische Strömung etabliert, der das Nicht-Wissen zur Pflicht geworden ist. Das Abschneiden von Zusammenhängen, das künstlich hergestellte oder das tatsächliche Nicht-Wissen erscheinen als probate Mittel, die Herausforderung der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung zu unterlaufen. Foucaults Kritik der Geschichtsschreibung trifft auch die Literaturgeschichtsschreibung. Sie wendet sich gegen eine Historiographie, die ihren Gegenstand als unablässigen Fortschritt oder aber als Wahrung ewiger Bestände begriffen hat. Ein anderes Konzept von Literaturgeschichte hat sich nicht etablieren können. Ein bemerkenswerter Neuansatz, der sich von diesen Prämissen lösen wollte, ist den Zeitumständen zum Opfer gefallen, aus denen er hervorgegangen war. Josef Nadler hatte zu Beginn des Jahrhunderts versucht, die zeit- und damit immer auch kontinuitätsfixierte Literaturauffassung durch eine raumorientierte Konzeption zu ersetzen. Nadlers Konzept läßt sich heute nicht mehr umstandslos und ohne sorgfaltige Vorerwägungen diskutieren. Nicht ohne eigenes Verschulden war der Wiener Germanist in den Verdacht gekommen, Vertreter einer allzu deutschen Wissenschaft zu sein. Seine Forderung von 1933 nach einer neuen Literaturwissenschaft hat diesem Verdacht ebenso Nahrung gegeben wie der Titel seines Hauptwerkes; der erste Band von Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften erschien allerdings schon 1912. Sein literarhistorisches Konzept war bei aller Beschwörung der Wertfreiheit als wissenschaftlichem Prinzip einer nationalistischen Deutung leicht zugänglich, und Nadler hat 161 169

Ebd., S. 151. Vgl. ebd., S. 119.

318 in nationalen Kreisen vor 1933 auch entsprechenden Anklang gefunden. Gegen eine rassistische und biologistische Deutung hat er sich jedoch, auch gerichtlich, verwahrt.170 Trotz aller zeitgeschichtlich bedingten Bedenken war Nadlers Literaturgeschichte ein wichtiger Versuch, gegenüber den traditionellen Auffassungen ein Gegenkonzept zu etablieren. Auch sein Konzept war auf Homogenität gestellt. Gegenüber den Traditionen der deutschen Literaturgeschichtsschreibung bietet es jedoch den Vorteil der Vielfalt. Es überwindet die Konzentration auf die Nationalgeschichte, die in eine Geschichte der >Stämme< und >Landschaften< aufgelöst wird und dadurch eine wesentlich breitere Perspektive erhält. Es geht ihm um eine »literarische Gesamtgeschichte >von unten< her gesehen«: Er berücksichtigt alle Facetten der Literatur - von der Gelehrtendichtung über die religiöse und volkstümliche Literatur bis hin zu dem, was später >Trivialliteratur< genannt werden wird; weiterhin die Buch-, Druck- und Bibliotheksgeschichte, die literarischen Gesellschaften und das auslandsdeutsche Schrifttum.171 Auch wenn es sicher nicht Nadlers Absicht war, so kommt er faktisch einem Prinzip postmoderner Literaturgeschichte sehr nahe, das die »lineare wie einheitliche Darstellung des Vergangenen« ablehnt und statt dessen die »Diversität, die Komplexität und die Kontradiktion zu ihren Strukturprinzipien« macht.172 Der Schritt von der Berücksichtigung der Vielfalt des literarhistorischen Materials zur Auflösung von Kontinuitäten und Entitäten überhaupt wurde erst sehr viel später, unter dem Einfluß Foucaults, gemacht. Der Versuch, eine Literaturgeschichte zu schreiben, die einen dritten Weg zwischen der alphabetischen Anordnung des Lexikons und der traditionellen Narration sucht, mündet in einer Literaturgeschichte des Fragments, wie sie die New History of French Literature vorlegt. Sie will die Konsequenz aus der postmodemen Einsicht ziehen, daß es schwierig ist, literarische Texte in Raum und Zeit verbindlich zu situieren und die Grenzen zwischen literarischen Texten und ihren literarischen wie nicht-literarischen Kontexten zu bestimmen.171 Aus der französischen Literaturgeschichte werden deshalb rund 200 datierbare Einzelereignisse herausgegriffen und von verschiedenen Autoren in Essayform behandelt. Literaturgeschichte dieses Typs ist weniger »decentered« als »multiple-centered«;174 aber auch die vielen Zentren beziehen sich auf einen implizit unterstellten Zusammenhang. Die Einzelessays werden nach einem Prinzip ausgewählt, das sich mit Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit vergleichen ließe: Nicht beliebige, sondern meist zentrale, auf jeden aber mit Bedeutung besetzbare Ereignisse werden ausgewählt, die vor dem Hintergrund der historischen Kontinuität und des tradierten Kanons ihren Sinn erhalten. Kaum ein literarhistorisches Experiment läßt deutlicher die Bezogenheit diskontinuierlicher Geschichtsschreibung auf traditionelle Kontinuitäten erkennen.

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Vgl. Meissl, Zur Wiener Neugermanistik der dreißiger Jahre, S. 130; S. 134-136. Tober, Urteile und Vorurteile über Literatur, S. 20f. Pechlivanos, Literaturgeschichte(n), S. 172. Vgl. Hollier, On Writing Literary History, S. xxi; S. xxivf. - Vgl. dazu Pechlivanos, Literaturgeschichte(n), S. 173f. Morris, The >New Historicism< and the Interpretation of Literature, S. 581.

319 Die avancierteste Position der Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung wird am Ende des 20. Jahrhunderts durch den >New Historicism< markiert, der diese Aponen durch erhöhte Selbstreflexion zu vermeiden sucht. Foucaults berechtigter Kampf gegen die Ontologisierung der Geschichte wird aufgegriffen und in anderer Weise weitergeführt. Der >New HistoricismNew Historicism< diese Auffassung. An ihre Stelle setzt er wie Foucault eine Geschichtsauffassung der Diskontinuität, der Differenz und der Vielzahl ineinander verwobener Diskurse: »The result is a militant >decentering< of history.«176 Von diesem postmodernen Impetus bezieht der >New Historicism< seine Attraktivität in der aktuellen Diskussion. In ausdrücklicher Wendung gegen einen Historismus, der eine Homogenisierung, Monumentalisierung und damit Harmonisierung der Geschichte betreibe, wendet sich der >New Historicism< dem Peripheren, Differenten und Widerständigen zu; »kein Wunder also, wenn manche Kritiker seine typischen Schwerpunkte für exzentrisch oder befremdlich halten.«177 Damit ist eines seiner Ziele benannt. Es geht ihm um eine Auflösung wissenschaftlicher und kultureller Selbstverständlichkeiten, um die Erosion der Grundlagen sowohl der Literaturwissenschaft wie der Literatur.178 In dieser Hinsicht lassen sich zweifellos Berührungspunkte mit der Dekonstruktion feststellen. Hier wie dort wird die Auflösung vermeintlicher Homogenität in der Geschichte und sedimentierter Methoden in der Wissenschaft angestrebt. Allerdings ist dem >New Historicism< eine Gegenbewegung eingelegt. Joseph Hillis Miller hat sich darüber beschwert, daß die neuere Literaturwissenschaft sich wieder vom subversiven Potential der Sprache und des literarischen Textes abgewandt und außersprachlichen Kontexten zugewandt habe: »literary study in the past few years has undergone a sudden, almost universal tum away from theory in the sense of an orientation toward language as such and has made a corresponding tum toward history, culture, society, politics, institutions, class and gender conditions, the social context, the material base in the sense of institutionalization, conditions of production, technology, distribution, and consumption of >cultural products< among other products.«179 Miller hat diesen »shift from language to history« besorgt registriert und ihn als Abwendung vom Projekt der Dekonstruktion eines de Man oder eines Derrida begriffen. 180 Damit dürfte in erster Linie der >New Historicism< gemeint sein. Denn in der Tat ist es der Ansatz-

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Vgl. die programmatische Selbstbeschreibung bei Greenblatt, Resonanz und Staunen, S. 10-14; zum Einfluß Foucaults vgl. Bafller, Einleitung, S. 14-17. Morris, The »New Historicism< and the Interpretation of Literature, S. 579. Greenblatt, Resonanz und Staunen, S. 13. - Vgl. Kaes, New Historicism, S. 62; Baßler, Einleitung, S. 18f. Vgl. Greenblatt, Introduction, S. 5. Miller, Presidential Address, S. 283. Ebd.; vgl. auch S. 284.

320 punkt von Greenblatts Geschichtsschreibung, literarische Diskurse wieder in soziale Zusammenhänge zurückzubinden: »The world is full of texts, most of which are virtually incomprehensible when they are removed from their immediate surroundings. To recover the meaning of such texts, to make any sense of them at all, we need to reconstruct the situation in which they were produced.« 1 " Das ist nicht neu; einen neuen Akzent setzt nur die Hervorhebung der Einsicht, daß die Grenzen zwischen den Texten und den Kontexten nicht von vornherein festgelegt sind." 2 In der praktischen Arbeit nimmt der >New Historicism< Anleihen bei der jüngeren amerikanischen Kulturanthropologie auf; der Ethnologe Clifford Geertz ist einer seiner maßgeblichen Gewährsmänner in methodischen Fragen.183 Geertz legt wiederum, unter ausdrücklicher Berufung auf Max Weber, seinen ethnographischen Forschungen einen »semiotischen« Kulturbegriff zugrunde: Die Ethnographie ist eine »interpretierende« Wissenschaft, »die nach Bedeutungen sucht.«"4 Erschlossen werden sie in der >dichten Beschreibung< - >thick description< - , die mikroskopisch angelegt ist und immer das Hintergrundwissen einbezieht, auf denen einzelne kulturelle Phänomene beruhen. Entscheidend für die Aussagekraft des Details ist seine Stellung im Sinnzusammenhang des Ganzen der kulturellen Wirklichkeit, in den es sich fugen muß. Die Kultur ist ein »Kontext, ein Rahmen,« in dem gesellschaftliche Phänomene »verständlich - nämlich dicht - beschreibbar sind.«185 Greenblatt hat sich Geertz angeschlossen, wenn er Kultur als »the ensemble of beliefs and practices« definiert, »to which individuals must conform«.186 Diese >dichte Beschreibung* der Ethnologie führt nebenbei unversehens zu einer Aufwertung des Wissenschaftlers als >AutorDisziplinNew Historicism< versucht, die tradierten Fragestellungen und konventionalisierten Kanonbildungen des einzelnen Fachs zu überwinden, um der Komplexität des Kontextes gerecht zu werden; die »traditionellen Fächergrenzen werden durchlässig«."2 Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß auch der >New Historicism< eigene Konventionen geschaffen und Interpretationsstrategien entwickelt hat, mit denen sich Texten auf methodisch kontrolliertem Weg Bedeutungen zuweisen lassen.193 Das liegt in der Logik der Wissenschaftsentwicklung, in der auch das Aufsprengen von Fächergrenzen unter dem Druck von internen und externen Institutionalisierungszwängen wieder zur Bildung neuer Fachkonventionen fuhren muß." 4 Die Situierung von Texten in historischen Kontexten und die Einsicht in die Situationsgebundenheit historisch-wissenschaftlicher Interpretation sind die methodischen Leitmotive des >New HistoricismNew Historicism< kehrt die Postmoderne zur Hermeneutik zurück. Die aktuelle Kultur- und Literaturwissenschaft hat einen langen Weg gehen müssen, um die hermeneutischen Grundpositionen wieder zu gewinnen, die auf dem Umweg über Frankreich und die USA verloren gegangen zu sein schienen. Die postmoderne Diskussion hat das Bewußtsein geschärft für die Probleme, die mit einer kulturwissenschaftlichen Hermeneutik verbunden sind, und sie hat wesentlich beigetragen zu einer Austreibung ontologischer Restbestände aus der Kulturwissenschaft. Aber auch sie hat sich der Einsicht beugen müssen, daß sich die Kulturwissenschaft den Prämissen der modernen Hermeneutik nicht entziehen kann. Das >Problem der Interpretation< literarischer Texte fuhrt immer wieder auf das Problem der Interpretation von Welt zurück. Wenn es für Literaturwissenschaftler etwas zu lernen gibt aus der Problemgeschichte der Hermeneutik seit Luther, dann doch wohl dies: Textverstehen setzt Weltverstehen voraus, und umgekehrt fuhrt Textverstehen zu Weltverstehen. Der Literaturwissenschaftler übernimmt deshalb mit der Literaturinterpretation immer auch Verantwortung fur das Weltverständnis seiner Kultur; und daraus bestimmt sich der soziale Status seiner Wissenschaft wie der jeder anderen auch: »Eine wesentliche Rechtfertigung für das Privileg der freien und zugleich staatlich alimentierten Wissenschaft muß heute in etwas weiterem gesucht werden, nämlich in der Besserungsfunktion, welche die Wissenschaft gegenüber der gesamten Gemeinschaft hat.«" 5 Gadamer 191 192 193 194 195

Ebd., S. 5. - Vgl. Montrose, Die Renaissance behaupten, S. 73. Baßler, Einleitung, S. 12. Vgl. Fluck, Die >Amerikanisierung< der Geschichte im New Historicism, S. 234; S. 248. Vgl. Brenner, Zauberformel oder Mogelpackung?, S. 12-14. v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 423.

322 hatte die Frage gestellt, wie sich »eine Wiedereingliederung theoretischen Wissens« in »praktisches Lebenswissen« vollziehen kann. 196 In den interpretierenden Kulturwissenschaften ist diese Frage immer schon beantwortet. Denn die Hermeneutik lehrt, daß in ihnen Theorie und Praxis notwendig verschränkt sind, auch wenn sie, dem Zwang neuzeitlicher Wissenschaftskonventionen folgend, als feindliche Schwestern aufzutreten gewohnt sind. Den hermeneutischen Kulturwissenschaften stellt sich nicht das Problem, wie sie in die Gesellschaft hineinkommen: Sie sind immer schon in ihr; und umgekehrt ist die Gesellschaft immer schon in ihnen. Als Nietzsche feststellte, daß es keine »Thatsachen« gibt, sondern »nur Interpretation«," 7 hat er dem Universalitätsanspruch der Hermeneutik den Boden bereitet. Textauslegung ist Weltauslegung; und das Verstehen von Welt vollzieht sich nach dem Modell der Hermeneutik. Auch literarische Texte stehen der Lebenswelt nicht gegenüber, und sie vermitteln keinen privilegierten Zugang zu ihr. Sie sind Teil des symbolischen Kulturzusammenhangs, in dem sie stehen und in den sie wieder hineingestellt werden durch die Interpretation.

196 1,7

Gadamer, Lob der Theorie, S. 49. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, S. 315.

Literaturverzeichnis

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