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German Pages [456] Year 2013
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300497 — ISBN E-Book: 9783647300498
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Textgelehrte Literaturwissenschaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie
Herausgegeben von Nicolas Berg und Dieter Burdorf
Vandenhoeck & Ruprecht
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Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie des Simon-DubnowInstituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30049-7 ISBN 978-3-647-30049-8 (E-Book)
Umschlagabbildung: © Marlene Schnelle-Schneyder: Gershom Scholem und Peter Szondi mit einer Ausgabe der Schriften Walter Benjamins, aufgenommen im Büro Szondis an der FU Berlin anlässlich eines Vortrags Scholems über Benjamin am 9. Juli 1971.
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
EINLEITUNG
Nicolas Berg, Dieter Burdorf Textgelehrsamkeit. Ein Denkstil und eine Lebensweise zwischen Wissenschaft und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I. Voraussetzungen und Anfänge Georg Lukács (1885–1971) RELEKTÜRE
Gerhard Scheit Der Gelehrte im Zeitalter der »vollendeten Sündhaftigkeit«. Georg Lukács’ Theorie des Romans und der romantische Antikapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
Ernst Bloch (1885–1977) RELEKTÜRE
Dirk Oschmann Erzählendes Denken – Denkendes Erzählen. Ernst Blochs Spuren . . .
65
Max Horkheimer (1895–1973) RELEKTÜRE
Susanne Zepp Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis . . . . . . .
81
Siegfried Kracauer (1889–1966) ESSAY
Mirjam Wenzel Von Buchstaben, Träumen und Vorräumen. Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers . . . . . . . . . . . . .
91
RESPONDENZ
Silke Horstkotte »Steinchen eines Mosaiks«. Siegfried Kracauer als Bildgelehrter . . . .
103 Inhalt
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5
RELEKTÜRE
Dorothee Kimmich Überleben im Niemandsland oder die Entdeckung raumzeitlicher interzones. Siegfried Kracauers Abschied von der Lindenpassage . . . .
109
II. Wege Walter Benjamin (1892–1940) ESSAY
Bernd Auerochs Text und Kommentar bei Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . .
125
RESPONDENZ
Markus Wiegandt Zum Beitrag von Bernd Auerochs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
RELEKTÜRE
Andreas B. Kilcher Erlösung durch Spiel. Benjamin liest Kafka . . . . . . . . . . . . . . . .
143
Theodor W. Adorno (1903–1969) ESSAY
Philipp von Wussow Adorno über literarische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
RESPONDENZ
Detlev Claussen Fußnoten zur Literatur. Zum Beitrag von Philipp von Wussow
. . . .
185
Elisabetta Mengaldo »Zuflucht vor der Totale«. Dialektik und Konstellationen in zwei Texten der Minima Moralia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
RELEKTÜRE
Leo Löwenthal (1900–1993) ESSAY
Jan Süselbeck Die Außenseiter sind die Lehrer. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
Inhalt
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215
RESPONDENZ
Hans-Joachim Hahn Kunst als Residuum des Utopischen. Zum Literaturbegriff Leo Löwenthals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
Herbert Marcuse (1898–1979) RELEKTÜRE
Toni Tholen Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur . . . . .
241
III. Auseinandersetzungen Gershom Scholem (1897–1982) ESSAY
Daniel Weidner Lernen, Lesen, Schreiben. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
RESPONDENZ
Ottfried Fraisse Zum Beitrag von Daniel Weidner
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Hannah Arendt (1906–1975) ESSAY
Sigrid Weigel Buchstäblichkeit. Walter Benjamins und Hannah Arendts Denken auf den Spuren der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 ESSAY
Irmela von der Lühe Erzählen als ›Bewältigen‹. Hannah Arendt und die Dichtung
. . . . . 309
RESPONDENZ
Elisabeth Gallas Zum Beitrag von Irmela von der Lühe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
Erich Auerbach (1892–1957) ESSAY
Galili Shahar Auerbachs Narben. Der Monotheismus und die Frage der Literatur . .
329 Inhalt
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7
RESPONDENZ
Natasha Gordinsky Zum Beitrag von Galili Shahar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353
IV. Anschlüsse Hans Mayer (1907–2001) ESSAY
Dirk Werle Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik. Zum Denkstil eines Außenseiters der Kritischen Theorie . . . . . . . .
361
RESPONDENZ
Anna Lux Integration eines Außenseiters. Zum Beitrag von Dirk Werle
. . . . .
383
Andreas Isenschmid Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann .
389
Peter Szondi (1929–1971) ESSAY
RESPONDENZ
Dieter Burdorf Der letzte Textgelehrte. Bemerkungen zu Peter Szondi . . . . . . . . . 409 RELEKTÜRE
Thomas Sparr Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . .
427
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
439
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
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Inhalt
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EINLEIT UNG
Nicolas Berg, Dieter Burdorf
Textgelehrsamkeit Ein Denkstil und eine Lebensweise zwischen Wissenschaft und Literatur
I. Vorüberlegungen Was ist ein Textgelehrter? Der Begriff ist in keinem der geläufigen allgemeinen oder spezielleren, etwa philosophischen, literatur- oder bildungswissenschaftlichen Nachschlagewerke zu finden. Mit diesem Band sollen die bislang noch nicht etablierten Bezeichnungen ›Textgelehrter‹ und ›Textgelehrsamkeit‹ neu in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt werden. Wir wollen damit die epistemologische Tragfähigkeit und Fruchtbarkeit dieser Bezeichnungen erweisen.1 Die Unvertrautheit der Komposita lenkt unsere Aufmerksamkeit auf deren Bestandteile: Ein Textgelehrter ist ein Gelehrter, der primär mit Texten umgeht; Textgelehrsamkeit ist das besondere Vermögen eines Gelehrten, mit Texten zu arbeiten. Das sind nur scheinbar tautologische Bestimmungen. Wir möchten mit diesen allerersten Begriffsexplikationen bereits auf unseren Untersuchungsgegenstand hinlenken, die Autoren im Umkreis der Kritischen Theorie, deren Zentrum das ›Institut für Sozialforschung‹ bildet, das 1923 in Frankfurt am Main gegründet wurde und nach den Exiljahren 1933 bis 1950 dort bis heute existiert; die Bezeichnungen ›Kritische Theorie‹ (im engeren Sinne) und ›Frankfurter Schule‹ verwenden wir dabei synonym.2 Wenn wir an Kritische Theorie denken, denken wir einerseits an ein Korpus oder mehrere Korpora von Texten (etwa die Zeitschrift für Sozialforschung, 1 Die Begriffe ›Textgelehrter‹ und ›Textgelehrsamkeit‹ wurden in Gesprächen der Herausgeber mit Dan Diner am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur geprägt. 2 Vgl. Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung [engl. 1973]. Frankfurt/M. 1981; Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung. München; Wien 1988; Clemens Albrecht u. a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/M.; New York 1999. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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die Dialektik der Aufklärung oder die Ästhetische Theorie), andererseits denken wir an eine mehr oder weniger große Gruppe von Intellektuellen, die als Gelehrte eines spezifischen Typus, eben als ›Textgelehrte‹, bezeichnet werden können. Wir wollen versuchsweise die auf den Bereich der Literatur bezogene Grundhaltung der Intellektuellen im engeren und weiteren Umkreis der Kritischen Theorie als ›Textgelehrsamkeit‹ verstehen. Mit dem Begriff des ›Textgelehrten‹ sollen zum einen die Bezüge zur traditionellen, vormodernen Figur des Schriftgelehrten in Erinnerung gehalten werden; zum anderen soll das kritische Verhältnis der Frankfurter Schule zur bürgerlichen Typologie der Bildung herausgestellt werden. Unsere zentrale These ist, dass die Vertreter der Kritischen Theorie eine jüdisch geprägte, auf vormoderne Traditionen zurückgehende Schriftgelehrsamkeit und eine der Emanzipationskultur geschuldete Vertrautheit mit dem bürgerlichen Bildungskanon zugleich aufgehoben und in ein neues, kritisches Verhältnis zum Text überführt haben. Die Neuprägung ›Textgelehrter‹ akzentuiert dabei im Kontrast zum ›Schriftgelehrten‹ den Text als zentralen Bezugspunkt. Damit wird betont, dass sich die zu behandelnden Denker bewusst waren, dass kulturelle und geschichtliche Überlieferung allein im Medium des Textes verfügbar ist, dem in der Moderne aber nicht mehr unhinterfragt der kanonische Charakter einer Heiligen Schrift zukommt. Insofern beginnen bereits mit der Kritischen Theorie grundlegende Reflexionen, die in der heutigen kulturwissenschaftlichen Diskussion unter Stichwörtern wie ›Memoria‹ und ›Lethe‹ verhandelt werden.3 Zu unterscheiden sind rezeptive und produktive Zugangsweisen dieser Gelehrten zum Text und zu Textformen, die wir als ›Leseweisen‹ und ›Schreibweisen‹ bezeichnen möchten: Untersucht wird unter dem Aspekt der ›Leseweisen‹ zunächst, welche Texte der kulturellen Überlieferung sowie der zeitgenössischen kulturellen Produktion die Textgelehrten für ihre Lektüren und ihre Kommentierungen auswählten. Es geht dabei also um Fragen des Kanons. Das Spektrum reicht von biblischen Schriften über Texte des bürgerlichen Bildungskanons bis hin zu den jeweils aktuellsten Produkten der literarischen Moderne. Ferner wird untersucht, welche Haltung zu ihren Lektüren die Textgelehrten einnahmen; es geht also um Grundfragen der Hermeneutik. Zu denken ist hier an Techniken wie Allusion, Zitat, Kommentar, linguistische und literaturwissenschaftliche Analyse oder literatursoziologische Kontextualisierung. Unter dem Aspekt der ›Schreibweisen‹ werden die diffe3 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997.
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renzierten Techniken der Textproduktion bei den betreffenden Intellektuellen untersucht. Die Vertreter der Kritischen Theorie bevorzugten bestimmte, in der akademischen Welt (zumal unter Karrieregesichtspunkten) eher als marginal angesehene Textformen: gerade nicht die Abhandlung (Monographie oder Fachaufsatz), sondern Formen wie Essay, Rezension, Fragment, Brief oder Aphorismus. Gefragt wird weiter, inwiefern diese Verschiebung einerseits durch die allgemeine Veränderung der dominanten Schreibweisen in der akademisch-intellektuellen deutschsprachigen Welt seit 1900 bedingt ist, da der synthetisierenden Form der wissenschaftlichen Analyse keine angemessene erkenntnisfördernde Funktion mehr zugetraut wurde, und inwiefern sie andererseits auf die spezifische Lebenssituation der zu untersuchenden Intellektuellengruppe sowie auf deren eigene Textkonzeptionen zurückzuführen ist. Zunächst ist dabei die Stellung mancher der jüdischen Textgelehrten außerhalb oder am Rande des akademischen Betriebes während der Weimarer Republik zu nennen. Weit gravierenderen Einfluss auf die Textproduktion hat jedoch die Exilsituation, in die alle hier thematisierten Textgelehrten seit 1933 gezwungen wurden. Damit kam für sehr viele das Problem der Sprache hinzu, in der geschrieben werden konnte oder musste, sodass für die produzierten Texte auch Leser gefunden werden konnten. Unter diesem Aspekt erweist sich die Rückkehr vieler dieser Intellektuellen nach Deutschland primär als Rückkehr in den deutschen Sprachraum.
II. Zur Figur des Textgelehrten Die Beiträge dieses Bandes fragen nach dem Typus des Textgelehrten, der in der Interaktion von (im engeren und weiteren Sinne) Kritischer Theorie und Literatur in den 1920er und frühen 1930er Jahren in Deutschland, seit 1933 im Exil, seit etwa 1950 oft wieder in Deutschland entstand und zugleich diese theoretische Richtung sowie neue Zugänge zur Literatur und zur Literaturwissenschaft formte. Im Hintergrund stehen dabei die jüdische Tradition der Schriftgelehrten ebenso wie die Versuche, sich unter schwierigen, oft sogar dramatischen Bedingungen im jeweiligen wissenschaftlichen Betrieb zu behaupten. Die definitorisch offene Figur des Textgelehrten bewegt sich zwischen dem klassischen ›Schriftgelehrten‹ (so Martin Luthers Übersetzung des/der sofer/sofĕrim)4, der die Bibel lehrt und deutet, die Lehren und Vorschriften 4 Der Ausdruck findet sich an folgenden Stellen: Esr. 7,6 u. 7,8; bei Neh. kommt er von 8,1 bis 12,36 sechs Mal vor; die erste Erwähnung von sofer in Jer. 8,8 gibt Luther mit ›Schreiber‹ wieder, offenbar, um dessen mindere Position an dieser Stelle deutlich zu machen. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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weiterentwickelt und auch als Richter und Ratgeber für die praktische Umsetzung der von ihm gelehrten Inhalte sorgt, sowie dem bürgerlichen Gelehrten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, den Horkheimer in seinem Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie (1937) einer Kritik unterzog, um diesem sein Bild eines modernen, gesellschaftskritisch reflektierenden Wissenschaftlers und Theoretikers entgegenzusetzen: »Der Konformismus des Denkens, das Beharren darauf, es sei ein fester Beruf, ein in sich abgeschlossenes Reich innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, gibt das eigene Wesen des Denkens preis.«5 Wir möchten die Kritik Horkheimers an der traditionellen Theorie und der bürgerlichen Wissenschaft berücksichtigen, aber als neuen Typus des Intellektuellen nicht den von ihm favorisierten aufnehmen, sondern einen dritten Typus des Gelehrten skizzieren, der Eigenschaften des (von Horkheimer nicht explizit thematisierten) Schriftgelehrten und des bürgerlichen Gelehrten in sich vereint: den ›Textgelehrten‹, wie er von Horkheimer selbst und seinem Umkreis verkörpert wird. Damit wird vorausgesetzt, dass es einen Typus des Gelehrten gibt, der nicht oder nur zum Teil bürgerlich und etabliert ist. Da es diesen Typus schon lange vor der Ausprägung des bürgerlichen Gelehrten des 19. Jahrhunderts gegeben hat, insbesondere in der Gestalt des jüdischen Schriftgelehrten, möchten wir überprüfen, ob sich die in Rede stehende Gruppe von jüdischen Denkern und Autoren als neue, emanzipierte und somit säkulare Formation dieses Typus des Schriftgelehrten, eben als ›Textgelehrte‹, begreifen lässt. Der Textgelehrte hat einen besonderen Status: Er knüpft durch die Textform an die Überlieferung an und verbindet damit den Status des Gelehrten, der nun aber sein Wissen als Teil gesellschaftlicher Praxis begreift. In der Arbeit des Textgelehrten überkreuzen sich wissenssoziologische Fragestellungen mit literaturtheoretischen und literaturgeschichtlichen Auseinandersetzungen. Wir schlagen daher ein archäologisch-rekonstruierendes Verfahren vor, das die Herausbildung verschiedener Stränge kritischer Theorie ab den 1920er Jahren ins Zentrum rückt, Fragen der Kanonisierung, der Auswahl und der Tradierung in den Blick nimmt sowie die heutige Relevanz dieser Theoriebildungen untersucht. Der offene Begriff der Textgelehrsamkeit wird dabei in Beziehung gesetzt zur philologischen Tradition und zur Wissenschaftsgeschichte der Zeit. Denn die Textgelehrten nutzten zahlreiche 5 Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. In: Zeitschrift für Sozialforschung. Hg. im Auftrag des Instituts für Sozialforschung v. Max Horkheimer. Jg. VI (1937), S. 245– 294, hier S. 292. Zu Horkheimer vgl. Dan Diner: Angesichts des Zivilisationsbruchs. Max Horkheimers Aporien der Vernunft. In: ders.: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten. München 2003, S. 152–179.
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Methoden, um ihr Verständnis von Literatur, Philosophie und besonders Soziologie, Psychologie und Psychoanalyse zu klären und zu explizieren. Dabei spielte einerseits die Frage nach dem Zusammenhang von Empirie und Theorie eine wichtige Rolle; andererseits boten sich marxistische Ansätze an, welche die Entgegensetzung von Theorie und Praxis überwinden wollten. Nicht selten ergab sich aus dem skizzierten Methodenpluralismus gerade in der Auseinandersetzung mit Literatur eine utopische, zuweilen sogar messianische Perspektive; somit wurde aus verändertem Blickwinkel die alte philosophische Frage nach der Lebenswirklichkeit und ihrer theoretischen Bewältigung neu gestellt. Die Ergebnisse ihrer Reflexionen präsentierten die Textgelehrten in Medien, die nur bedingt als akademische Textsorten begriffen werden, etwa Essay, Aphorismus oder Rezension. So ist nach der Bedeutung der spezifischen Textgattungen und Formen zu fragen und ihr Einfluss auf die Theoriebildung zu klären. All das wird verbunden mit Fragen nach den Denk- und Lebenshaltungen der Gelehrten, ihren Exil- und Verfolgungserfahrungen, aber auch ihrer Rolle in der deutschen Nachkriegsgesellschaft bzw. in den Vereinigten Staaten. Im Zusammenhang damit sind Fragen der institutionellen und fachpolitischen Stellung der Protagonisten und nach ihrer Einstellung gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb zu diskutieren. Denn im Verhältnis der Frankfurter Schule zum akademischen Betrieb ergaben sich komplexe Inklusionen und Exklusionen, wie es auch innerhalb der Schule Gruppenbildungen und Randfiguren gab.
III. Institutionalisierung, Exilierung und Neu-Etablierung der Textgelehrsamkeit Im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich ein gelehrter und wissenschaftlicher Umgang mit Literatur, der sich von den dominanten Richtungen der Literaturwissenschaft in Deutschland, insbesondere von den herkömmlichen Formen des Positivismus und des Biographismus, ebenso abgrenzte wie vom orthodoxen Marxismus, aber auch von den konservativen Ausprägungen der Geistes- und Problemgeschichte. Eine Initialfunktion kam dabei den Schriften des jüdischen ungarischen Philosophen Georg Lukács zu, und zwar nicht nur seinem dem offiziösen Marxismus gegenüber häretischen Buch Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), sondern vor allem den frühen, in Deutschland entstandenen essayistisch-kulturkritischen Werken Die Seele und die Formen (1911) und Die Theorie des Romans (1916). Das Frühwerk von Ernst Bloch, allen anderen Schriften voran Geist der Einleitung: Textgelehrsamkeit
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Utopie (1918, Neufassung 1923), wurde von zahlreichen Intellektuellen als Aufforderung zu einem neuen Aufbruch verstanden. Bestimmend für die Frankfurter Schule waren die an Blochs Revolution des Denkstils anknüpfenden Schriften Walter Benjamins über Goethes Wahlverwandtschaften (1924/25) und den Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). Institutionell gebündelt und verstärkt wurden die Aktivitäten durch die Übernahme der Leitung des Frankfurter ›Instituts für Sozialforschung‹ durch Max Horkheimer 1931. Das wohl wichtigste Dokument der sich seitdem herausbildenden Kritischen Theorie ist die Zeitschrift für Sozialforschung, die Horkheimer von 1932 bis 1941 herausgab. Sie erschien zunächst bei Hirschfeld in Leipzig, schon seit dem zweiten Jahrgang in Paris und schließlich im Zuge der dramatischen Veränderungen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ab dem dritten Heft des achten Jahrgangs 1939/40 unter dem englischen Titel Studies in Philosophy and Social Science in New York. Neben die deutschsprachigen traten zunehmend französische und englische Beiträge, bevor im letzten Band Englisch zur alleinigen Sprache der Zeitschrift wurde. Die insgesamt neun Bände der Zeitschrift belegen, dass die Studien zur Literatur und Musik von vornherein in sozialwissenschaftliche, insbesondere soziologische, sozialpsychologische und ökonomische Forschungen eingebunden waren – was aber umgekehrt heißt, dass hier ein sehr weiter Begriff von ›Sozialforschung‹ vorausgesetzt wird, der auch kulturwissenschaftliche Analysen umfasst. Es sind zunächst die programmatischen Aufsätze Horkheimers selbst, denen wir den schulbildenden Begriff ›Kritische Theorie‹ und unsere damit verbundenen Vorstellungen verdanken. Wegweisend ist das Vorwort von Horkheimer zum ersten Jahrgang der Zeitschrift, in dem es heißt, die »Untersuchungen auf den verschiedensten Sachgebieten und Abstraktionsebenen« würden »durch die Absicht zusammengehalten, daß sie die Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft als ganzer fördern sollen«.6 Literatur und Literaturwissenschaft erscheinen damit als Teil einer umfassenderen Theoriebildung, die auf Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge abzielt. Schon gegen Ende der 1920er Jahre hatte Walter Benjamin die Philologie zunehmend mit marxistischer Gesellschaftsanalyse verbunden.7 Bereits 1923/24 lernte er Adorno und den Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung Siegfried Kracauer in Frankfurt am Main kennen, über die er zur 6 Max Horkheimer: Vorwort. In: Zeitschrift für Sozialforschung. Hg. vom Institut für Sozialforschung Frankfurt/M. Jg. 1 (1932), Doppelheft 1/2, S. I–IV, hier S. I. 7 Benjamin hatte seine Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik 1919 in Bern im Fach Philosophie verteidigt, versuchte sich danach aber – vergeblich – in der Philologie (der Germanistik) zu etablieren.
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späteren ›Frankfurter Schule‹ stieß. Herbert Marcuse kam von der Philologie; er promovierte 1922 in Freiburg im Breisgau mit einer Arbeit über den deutschen Künstlerroman. Die Zeitschrift bot diesen Autoren (außer Kracauer, der dem Feuilleton treu blieb) nun ein Forum, ihre Vorstellungen von einer neuen, gesellschaftskritisch orientierten Literatur-, Musik- und Kultur wissenschaft programmatisch zu formulieren. Folgende maßgebliche Arbeiten sind zu nennen: Leo Löwenthals8 Text Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur von 1932, Theodor W. Adornos ebenfalls im ersten Jahrgang erschienene Arbeit Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, Herbert Marcuses Aufsatz Über den affirmativen Charakter der Kultur von 1937 sowie Walter Benjamins Abhandlungen Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (in französischer Sprache 1936 erschienen) und Über einige Motive bei Baudelaire aus dem Jahr 1939. Fast durchgehend handelte es sich bei den Mitarbeitern des Instituts und der Zeitschrift um jüdische Autoren. Nahezu alle wurden bereits 1933 gezwungen, ins Exil zu gehen.9 Bis auf Benjamin, der 1940 auf der Flucht in Portbou an der französisch-spanischen Grenze in den Tod getrieben worden war, fanden sich die Autoren der Kritischen Theorie in den 1940er Jahren überwiegend in den USA wieder, während Denker aus dem weiteren Umkreis in anderen Staaten überlebten, so Lukács in der Sowjetunion und Auerbach in der Türkei, wo er seine Vorstellungen der abendländischen Kulturen aus dem Gedächtnis reproduzierte und zu seinem Buch Mimesis (1946) formte. In alle hier betrachteten Lebensgeschichten griff die deutsche Geschichte somit nicht nur störend, sondern durchweg gewaltsam oder gar tödlich ein, und die Wirkungsgeschichte ihres Schreibens und Denkens erfolgte deshalb zumeist zeitlich verschoben erst nach 1945 als späte Wiedergewinnung einer in den 1930er und den frühen 1940er Jahren zum Abbruch gebrachten deutschsprachigen Tradition, die in dem völkisch definierten Deutschland der Nazizeit keinen Ort haben konnte.10 Die Gegenwelt der Textgelehrten ist deshalb jenes Deutschland, das seit 1933 politisch über die Zukunft der Universitäten zu bestimmen hatte und verfügte, Ziel sei nun die »Erhebung […] des völkischen Bekenntnisses und Lebensgefühls zum allein bestimmenden Grunde des deutschen Staats- und Volkstumsaufbaues«11, ein Deutsch8 Löwenthal und Adorno sind beide in Frankfurt am Main promovierte Philosophen. 9 Vgl. generell Peter Burschel u. a. (Hg.): Intellektuelle im Exil. Göttingen 2011. 10 Vgl. hierzu exemplarisch Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/M. 1988; Hans Erler u. a. (Hg.): »Meinetwegen ist die Welt erschaffen.« Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. Frankfurt/M.; New York 1996. 11 Arnold Ruge: Völkische Wissenschaft. Berlin o. J. [1940], S. 13. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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land, für dessen Bildungsstätten nun parallel zur Vertreibung der jüdischen Intellektuellen und Gelehrten die Parole ausgegeben werden konnte, sie sollten »zu Festungen wahrhaft deutschen Wesens werden«12. Für die hier als Gruppe betrachteten Persönlichkeiten gilt durchweg das, was Jean Améry einmal in Bezug auf die jüdische Erfahrung des Verlusts der deutschen Sprache in der Nazizeit schrieb: »Der Sinngehalt jedes deutschen Wortes verwandelte sich für uns, und schließlich wurde, wir mochten uns dagegen wehren oder nicht, die Muttersprache ebenso feindselig wie die, welche sie um uns redeten […]. Die Wörter waren schwer von einer gegebenen Wirklichkeit, die hieß Todesdrohung.«13 In der neuen Lebenswelt trat bei den meisten Autoren der Kritischen Theorie nicht zuletzt aufgrund dieser Zeitsituation die Arbeit am literarischen Text zunächst zurück zugunsten der sozialwissenschaftlichen Forschung im engeren Sinne. Allerdings entfaltete Löwenthal konsequent sein Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur, mit dem er eine vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren in Westdeutschland das ganze Fach dominierende Teildisziplin der Literaturwissenschaft mit prägte. Herbert Marcuse entwickelte im kalifornischen Exil und durchgehend in englischer Sprache sein Konzept einer umfassenden Kritik der westlichen Kultur weiter, das in den 1960er und 1970er Jahren eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltete. Im amerikanischen Exil ergaben sich auch Berührungspunkte, aber mehr noch Unterschiede zur politischen Theoretikerin Hannah Arendt, die bis an ihr Lebensende in den USA lebte und deren Beiträge zur Kunst und Literatur in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse der Forschung gefunden haben. In überdurchschnittlich hohem Maße kehrten die Textgelehrten der Kritischen Theorie ab Ende der 1940er Jahre nach Deutschland zurück14, einige zunächst nach Ostdeutschland (Bloch und Hans Mayer), andere nach West-
12 Ebd., S. 11. 13 Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten [1966]. Stuttgart 21980, S. 90 f. Zu Améry vgl. Gerhard Scheit: Am Ende der Metaphern. Über die singuläre Position von Jean Amérys Ressentiments in den 60er Jahren. In: Stephan Braese u. a. (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt/M. 1998, S. 301–316; Nicolas Berg: Aus Brüssel. Jean Amérys Blick auf die Bundesrepublik. In: Monika Boll; Raphael Gross (Hg.): »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können.« Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945. Frankfurt/M. 2013, S. 264–298. 14 Zur Remigration vgl. Irmela von der Lühe u. a. (Hg.): »Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause«. Jüdische Remigration nach 1945. Göttingen 2008; Monika Boll; Raphael Gross (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Ausst.-Kat. Frankfurt/M. 2009/10. Göttingen 2009; Boll/Gross 2013 (wie Anm. 13).
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deutschland, insbesondere wieder nach Frankfurt am Main (Horkheimer und Adorno). Löwenthal blieb in den Vereinigten Staaten, während Marcuse ab 1965 neben seiner Lehrtätigkeit in den USA auch eine außerordentliche Professur an der Freien Universität Berlin wahrnahm und sich insbesondere zwischen 1967 und 1969 zu Vorlesungsreisen in Europa aufhielt.
IV. Textgelehrsamkeit als Lebensweise, Denkstil, Schriftdokument und Medienphänomen Theodor W. Adorno hat das erkenntnisleitende habituelle Moment, das der von ihm angestrebten Synthese aus Begriff und Denken, Theorie und Erzählung, Bild und Erfahrungsbericht zugrunde liegt, in seinen Minima Moralia in die folgende Gedankenfigur gefasst: »Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.«15 So betrachtet wären Textgelehrte diejenigen, die im Schreiben wohnen. Natürlich bietet eine solche Metapher keine tragfähige Definition; sie deutet aber auf die für Adorno wie für viele andere Autoren im Umkreis der Kritischen Theorie wichtige Synthese von Lebensform, Denkstil und »idealtypische[r] Schreibweise«16 hin, die sich in den Inhalten wie in den Formen des Denkens und Schreibens niederschlägt, eines Denkens des ›Nichtidentischen‹, für das sowohl die Freiheit des Gedankens als auch diejenige von Denkweg und Schreibstil zum maßgeblichen Kriterium moderner Autorschaft wird.17 Adorno fordert in dem Text Der Essay als Form, der am Anfang des 1958 erschienenen ersten Bandes seiner Noten zur Literatur steht, Schreiben als Wissensform und zugleich als Produktivkraft zu verstehen.18 Während in der deutschen Tradition Literatur und Wissenschaft als Phänomene aus getrennten Textsphären verstanden wurden, plädiert Adorno im Anschluss an Walter Benjamin für ein Wissensverständnis, das Wirklichkeit und ihre Erkenntnis als ständig in wechselseitigen Annäherungen begriffen sieht; den Essay versucht er als adäquateste Ausdrucksform eines solchen Wissens zu erweisen. Diese Überzeugungen Adornos basieren nur zum Teil auf Er15 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951], Nr. 51: Hinter den Spiegel. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. a. Bd. 4. Frankfurt/M. 1997, S. 95–98, hier S. 98. 16 Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999, S. 274. 17 Vgl. Gerhard Haas: Essay. Stuttgart 1969, S. 40. 18 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form [1958]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. a. Bd. 11. Frankfurt/M. 1997, S. 9–33. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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fahrungen der Nachkriegszeit, sondern weit mehr noch auf einer mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg verschwundenen oder zumindest gefährdeten und zerstreuten Tradition. Dennoch wird noch in manchen Stimmen der zeitgenössischen Kritik an Adornos Essaystil aus den frühen 1960er Jahren deutlich, dass die von ihm gewählte Begrifflichkeit, mit der er über Schreiben und Denken, Text und Theorie nachdachte, einen Bruch mit den Konventionen darstellte, die seinerzeit sowohl im Bereich des essayistischen Schreibens als auch auf dem Feld der Wissenschaft engeren Genreregeln folgten: So hieß es etwa in einer Rezension, Adorno mache die »Unmethodik zur Methode«; kritisiert wurde, dass die literarische Form von Adornos Essays der Spiegel eines »eigentümlichen Denktypus« sei; der Kritiker befürchtete, mit einem solchen Textverständnis könne man »zu keinem im üblichen Sinne gemeinten ›Standpunkt‹ gelangen, sondern nur zu einer permanenten Kritik und Suspendierung vorgegebener Standpunkte«.19 Hier war es sogar die Kritik an einem noch unvertrauten Textverständnis, die Hinweise zum Phänomen selbst gab. Das Beispiel Adornos kann stellvertretend für alle hier untersuchten Persönlichkeiten stehen. Für sie alle gilt – und das ist mit ›Textgelehrsamkeit‹ gemeint –, dass bei ihnen 1. erlebte und reflektierte Geschichte eine Einheit bilden, 2. eine offen betonte und besonders emphatische Orientierung an klassischer, moderner und oft auch an neuester Literatur zu finden ist sowie 3. das Zusammendenken beider Sphären den daraus entstandenen eigenen Texten selbst den Charakter von Literatur gibt. So wirken bei allen genannten Persönlichkeiten sonst getrennte intellektuelle Bereiche, Felder oder Perspektiven enger zusammen, als dies seinerzeit gemeinhin als üblich oder auch nur als zulässig erschien. In den Texten von Kracauer und Adorno, Benjamin und Löwenthal, Scholem und Arendt wirken immer Geschichte und Literatur wie zu einer hermeneutischen Wissenschaft zusammengeführt oder zusammengefasst. Der ›Text‹ wird hier zum methodischen Modell der Erkenntnis insgesamt; der seinerzeit als verbindlich vorgestellte Wissenskanon wird in einem Modus ›literarischen Wissens‹ diskutiert, kritisiert und – im historischen Bewusstsein der eigenen Zeit, im Dialog miteinander oder in kritischer Absetzung voneinander – neu geordnet und bewertet. Die Kritische Theorie ist durch Medien überliefert und in Dokumenten präsent; die persönliche Erinnerung an ihre Vertreter – Leo Löwenthal etwa starb erst 1993 und war in seinen letzten Lebensjahren einige Male in 19 Hans Kudszus: Die Kunst versöhnt mit der Welt. Zu den literatursoziologischen Essays von Theodor W. Adorno. In: Der Tagespiegel (Berlin) vom 23. März 1962; zit. nach: Ludwig Rohner: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Neuwied; Berlin 1966, S. 129.
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Deutschland, Hans Mayer als Vertreter des ›weiteren Umkreises‹ starb gar erst 2001 – tritt dagegen mit dem Verlauf der Jahre zunehmend in den Hintergrund. Die Kritische Theorie hat sich überwiegend im Schriftmedium entfaltet; sie ist uns als eine Menge handschriftlicher, maschinenschriftlicher oder gedruckter Texte überliefert. Eine demgegenüber weitaus geringere Bedeutung hat das auditive Medium: Die Erstsendungen der Originalhörspiele Walter Benjamins aus den frühen 1930er Jahren etwa sind weitgehend verloren; dagegen haben wir immerhin Aufzeichnungen der Hörfunkessays sowie einiger Funkgespräche Theodor W. Adornos aus den 1950er und 1960er Jahren, in denen das Element der ›Textgelehrsamkeit‹, wie es hier verstanden werden soll, ebenfalls aufscheint: in einer nachgerade druckreifen Perfektion, einer spezifischen Textualität auch der mündlichen Rede, welche die Diskussionsbeiträge Adornos wie ein drittes Phänomen im Zwischenbereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wirken lassen – zunächst nicht als SchriftText fixiert (wie die mündliche Rede), aber in Wortwahl und Syntax hoch elaboriert (wie die Schrift). Vor dieser medialen Präsenz aber wählt Adorno, der in der Vorkriegs- und Kriegszeit als Philosoph, Soziologe und Musiktheoretiker hervorgetreten ist, in den ersten Nachkriegsjahren den Weg zum Text und zum – nunmehr westdeutschen – Buchmarkt: zunächst mit dem Band Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft von 1955, dann mit einem großen work in progress, der mehrbändigen Essaysammlung Noten zur Literatur, die ab den 1940er Jahren entstandene Arbeiten versammelt und in der postumen Ausgabe der Gesammelten Schriften auf 700 Seiten angewachsen ist. Parallel erscheinen in den 1960er Jahren die kulturkritischen Essaybände Ohne Leitbild, Eingriffe und Stichworte; als Kulminationspunkt in jeder Hinsicht, als trotz oder gerade wegen seines fragmentarischen Status monolithischer Groß-Text mit eigenen ästhetischen Qualitäten kann die 1970 aus dem Nachlass publizierte Ästhetische Theorie angesehen werden. Adorno prägte mit seinen literatur- und musikwissenschaftlichen Studien in den 1950er und 1960er Jahren mehrere Generationen von Schülern. Einer von ihnen war Peter Szondi, der jüngste der hier behandelten Denker, der am 27. Mai 1929 in Budapest geboren wurde und dessen genaues Lesen und Kommentieren von literarischen Texten in der Germanistik wie in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft bis heute zu Recht als ein zentraler methodischer Ansatz betrachtet und weitergeführt wird. Wenn wir also an die Texte der Kritischen Theorie denken, so denken wir – erstens – an eine Reihe von Büchern, Essays und Zeitschriften; hinzu treten Literaturkritiken, namentlich von Walter Benjamin, sowie Arbeiten zum Film, für die vor allem der Name Siegfried Kracauer steht. Nur verEinleitung: Textgelehrsamkeit
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einzelt finden wir unter diesen Texten eine große wissenschaftliche Monographie: Benjamin gibt das monographische Arbeiten nach der Nichtannahme des Trauerspiel-Buchs als Habilitationsschrift an der Frankfurter Universität auf und packt Inhalte, die ganze Monographien füllen könnten, in die mittlere Form des Essays, schließlich auch in immer kleinere Formen wie die Rezension oder die feuilletonistische Miszelle. Adornos und Horkheimers Gemeinschaftswerk der Kriegsjahre, die Dialektik der Aufklärung, erschienen in Amsterdam 1947, präsentiert sich schon im Untertitel als Philosophische Fragmente; radikalisiert erscheint diese fragmentarische Form in den Minima Moralia und der Ästhetischen Theorie. Szondis akademische Qualifikationsschriften Theorie des modernen Dramas (1956) und Versuch über das Tragische (1961) sind Serien von Kommentaren; hinzu treten vier Sammlungen von Essays sowie die eminenten, erst aus dem Nachlass in fünf Bänden publizierten Vorlesungen. Wenn wir von Texten der Kritischen Theorie reden, meinen wir somit nicht allein die gedruckten Schriften dieser Gelehrtengruppe, sondern auch – zweitens – ihre Nachlässe, die meist erfreulich gut überliefert und aufbereitet sind und aus einer großen Fülle hand- und maschinenschrift licher Briefe, Entwürfe und Notizen bestehen. Die Publikation des Brief wechsels zwischen Adorno und Kracauer hat uns etwa ganz neue Aspekte dieser Denker vor Augen geführt.20 Das lebendige Verhältnis Walter Benjamins zu den Institutionen Bibliothek und Archiv ist allbekannt; der Band Walter Benjamins Archive führt auf besonders eindrucksvolle und sinnfällige Weise Benjamin als Archivar seiner eigenen Texte vor Augen.21 Als Beispiel ist ein Briefumschlag zu nennen, in den Benjamin, wie es scheint, pars pro toto eine ganze Reihe der ihm besonders wichtigen Disziplinen zu packen anstrebte, ist er doch handschriftlich beschrieben mit den Begriffen »Literaturgeschichte, Philologie, Kunstgeschichte, Psychologie, Religionswissenschaft«.22 Auch dieser konkrete Aspekt der Materialität des Schreibens und der schriftlich überlieferten Texte wird in diesem Band an einschlägigen Stellen Thema sein. Der Textbegriff der Kritischen Theorie umfasst – drittens – nicht nur die von den Gelehrten selbst produzierten und publizierten Schriften, sondern auch die von ihnen gelesenen, annotierten und kommentierten Texte, über-
20 Theodor W. Adorno; Siegfried Kracauer: Briefwechsel. 1923–1966. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2008. 21 Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen. Hg. v. Walter Benjamin Archiv. Bearb. v. Ursula Marx u. a. Frankfurt/M. 2006. 22 Ebd., S. 19.
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wiegend aus der abendländischen Kulturgeschichte.23 Wir sind aufgefordert, unsere Aufmerksamkeit auch auf die von den Gelehrten der Kritischen Theorie betriebenen Prozesse und Operationen der Kanonisierung, der Dekanonisierung und der Rekanonisierung von vorangegangenen Texten und Texttraditionen zu lenken. Dabei soll der offene Begriff des ›literarischen Wissens‹ die gegen die akademische Literaturwissenschaft gerichtete Zielrichtung mancher Publikationen der Kritischen Theorie als einen besonders wichtigen Gegenstandsbereich des vorliegenden Bandes markieren.24 Wichtig ist für alle hier versammelten Beiträge, dass nicht ausschließlich von Texten die Rede ist, sondern auch von den Menschen, die sie verfasst haben und die uns immer wieder zu erneuter Beschäftigung mit diesen Texten anregen. Mit den Namen von Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse verbinden wir eben nicht nur die Vorstellung von Autoren bestimmter Texte, sondern auch und vielleicht sogar zuerst die Erinnerung an Fotografien: Benjamin im Lesesaal der Bibliothèque nationale in Bücher vertieft oder mit einer Blume in der Hand in frühlingshafter Landschaft – geradezu ikonisch gewordene Bilder, wie sie von der Fotografin Gisèle Freund geschaffen wurden. Adorno konzentriert in Freizeitkleidung am Klavier oder angespannt im Hörsaal mit protestierenden Studentinnen diskutierend. Hannah Arendt, mitunter hinter dem Rauch ihrer Zigarette nur im Umriss zu erkennen, insbesondere in dem bekannten Fernseh-Gespräch mit Günter Gaus, in dem sie diesen von Beginn an deutlich zurechtweist, als er sie wiederholt als »Philosophin« anspricht, sie aber auf ihrer Selbstbezeichnung als »politische Theoretikerin« beharrt und sich als Intellektuelle ganz eigenen Typs zeigt.25 Horkheimer im stets 23 Wichtige Dokumente für die Arbeits- und Leseweisen sowie für das Traditionsbild der Textgelehrten sind ihre jeweiligen privaten Bibliotheken, die oftmals aufgrund von Exil und Verfolgung auseinandergerissen oder gänzlich zerstreut, in manchen Fällen jedoch erhalten oder zumindest rekonstruierbar sind. Vgl. Ines Sonder u. a. (Hg.): »Wie würde ich ohne Bücher leben und arbeiten können?« Privatbibliotheken jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2008 (darin u. a. Beiträge zu den Bibliotheken von Hannah Arendt, Walter Benjamin und Gershom Scholem). 24 Es entbehrt vor diesem Hintergrund nicht einer gewissen Ironie, dass die akademische, besonders die germanistische Literaturwissenschaft in den letzten Jahren den offenen, oft genug auch vage bleibenden Begriff des ›literarischen Wissens‹ und die Begriffskonstellation ›Wissen und Literatur‹ forciert in ihre Terminologie aufgenommen hat. Vgl. als Überblick Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin; New York 2008. 25 Hannah Arendt: Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache. In: Günter Gaus: Was bleibt sind Fragen. Die klassischen Interviews. Hg. v. Hans-Dieter Schütt. Berlin 2005, S. 310–335, hier S. 312 f. – Vgl. auch Alfons Söllner: Der Essay als Form politischen Denkens. Die Anfänge von Hannah Arendt und Theodor W. Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Text + Kritik 166/167 (2005), S. 79–91. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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korrekten Dreiteiler mit Einstecktuch am Katheder oder mit Honoratioren im Ornat des Rektors der Frankfurter Universität. Marcuse dagegen ohne Anzug, aber im blütenweißen Hemd 1968 am Rednerpult des Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin von einer dicht gedrängten Menge junger Menschen umgeben, ein alter Mann, der im Gegensatz zu Adorno inmitten der Studierendenmassen ganz in seinem Element zu sein scheint. Oder aber – das Umschlagbild unseres Bandes – der alte Gershom Scholem und der noch junge Peter Szondi kurz vor seinem Tod, die sich gemeinsam über eine Suhrkamp-Ausgabe von Walter Benjamins Schriften beugen, während eine Fotografie des zwei Jahre zuvor verstorbenen Theodor W. Adorno im Hintergrund an der Wand zu sehen ist. Die Text-Affinität wie die Lebensnähe oder -ferne der hier betrachteten Gelehrten, ihre Nähe und Distanz zu anderen Menschen, ihr besonderer Habitus im umfassenden Sinne drücken sich also nicht nur in ihren Texten, sondern auch in den meist fotografischen Bildern aus, die von ihnen gemacht wurden und die unsere Autor-Imagines dieser Denker bis heute prägen.
V. Zu den Texten dieses Bandes Den heterogenen Gelehrtentypen und ihren vielfältigen Texten versuchen wir in diesem Band mit drei unterschiedlichen schriftlichen Genres gerecht zu werden: In Essays werden uns die Textgelehrten in ihrer intellektuellen Biographie erneut vor Augen geführt. Auf jeden Essay folgt ein Respondenz-Beitrag, der Gedanken des vorangehenden Textes prüft und auf weitere wichtige Aspekte hinweist, die in diesem nicht zum Tragen kamen. Dabei werden unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen: Neben komplementären, inhaltlich ergänzenden Respondenzen finden sich auch solche, die als kontroverse Stellungnahmen zu ihrem Bezugstext angelegt sind. In Relektüren werden zentrale Texte der untersuchten Autoren aus heutiger Sicht einem erneuten, kulturwissenschaftlich informierten close reading unterzogen. Dabei kommen nur bei einigen der wichtigsten Textgelehrten (Kracauer, Adorno, Benjamin, Szondi) alle drei Textsorten zusammen; bei einigen, für das Thema weniger zentralen Autoren (Lukács, Bloch, Horkheimer, Marcuse) beschränken wir uns auf je eine Relektüre; bei anderen, für die nicht so sehr ein einzelner ihrer Texte als vielmehr ihr intellektueller Habitus insgesamt wichtig wurde, auf Essay und Respondenz (Löwenthal, Auerbach, Scholem, Arendt, Hans Mayer). Der Band ist in vier Teile gegliedert: Im I. Teil rekonstruieren wir Voraussetzungen und Anfänge der Textgelehrsamkeit der Kritischen Theorie seit den 22
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1910er Jahren. Neben dem Soziologen Georg Simmel ist der ungarische Philosoph Georg Lukács mit seinen überwiegend in Deutschland entstandenen und in deutscher Sprache veröffentlichten Frühwerken für die späteren Textgelehrten eine maßgebliche Anregung. Gerhard Scheit widmet der Theorie des Romans (1916) eine einlässliche Relektüre und legt dar, wie bei Lukács – ähnlich wie schon bei dessen Lehrer Georg Simmel – die ihm von außen zugemuteten Schwierigkeiten und Hürden, sich an der Universität zu etablieren, zu einer Distanz zum akademischen Betrieb und zu einem dort misstrauisch beäugten Schreibstil führten, der zwischen Literatur, Philosophie und Soziologie changiert. Die Wirkung dieser Schreibweise und dieses Buches gerade auf die hier betrachteten Textgelehrten kann gar nicht überschätzt werden: Ernst Bloch war mit Lukács befreundet, Kracauer rezensierte das Buch, auch Benjamin befasste sich ausführlich damit, und Adorno, Löwenthal und Szondi, aber auch Hans Mayer sollten sich später in ihren Schriften ebenfalls mit Lukács’ Konzepten auseinandersetzen, etwa der Idee der ›Weltliteratur‹, und diese teils emphatische, teils kritische Rezeption umfasste auch den von ihm eingeführten Stil. Ernst Bloch steht mit seinen ab 1918 erscheinenden Werken ebenfalls am Anfang der Entwicklung der Textgelehrsamkeit. Beide Denker stehen in bestimmten Phasen, insbesondere in den 1930er Jahren, dem orthodoxen Marxismus, ja sogar dem Stalinismus nicht fern und unterscheiden sich damit deutlich von den Vertretern der Kritischen Theorie.26 Bloch hat mit dem Buch Spuren (1930), einer Sammlung eigenwilliger aphoristischer Kurzprosa, zwar kein Gründungsbuch der Textgelehrten vorgelegt (das kann schon wegen des späten Erscheinungsjahrs nicht der Fall sein); trotzdem und aufgrund seines immensen Einflusses kann man die in diesem vereinigten Texte, die zuerst in den 1920er Jahren in der Frankfurter Zeitung (und damit unter der Ägide Kracauers) publiziert wurden, zu den prägenden Texterlebnissen jenes Gelehrtentypus zählen – ein Erlebnis, von dem in viel späteren Jahren etwa noch Hans Mayer berichtet. Die Relektüre von Dirk Oschmann stellt die Spuren in ihrer experimentellen Form im Zwischenraum von Philosophie, Erzählung, Tagebuch und Aphorismus vor. Oschmann deutet die Miniaturen weniger in ihrer Rätselhaftigkeit als vielmehr in ihrer strukturellen Mehrdeutigkeit und betrachtet sie als eigenes Textgenre, das sich von den ›Denkbildern‹ Walter Benjamins und der ›kleinen Prosa‹ Siegfried Kracauers unterscheidet. Dabei arbeitet er eine für Blochs aphoristisches 26 Allerdings sind Bloch und Marcuse durch die zentrale Bedeutung der Utopie in ihrem Denken verbunden. Die Utopie stellt auch eine Brücke zu Scholem und Benjamin her, die je auf ihre Weise eine Neubelebung jüdisch-messianischen Denkens in der Gegenwart versuchen. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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Schreiben typische, geradezu sensualistische Art heraus, das Gehör als stets wachen menschlichen Sinn gegenüber dem begrenzten menschlichen ›Sehen im Dunklen‹ methodisch zu privilegieren. Blochs Texte, so Oschmann, entwickeln eine literarische Anthropologie des Zusammenhangs von Hören, Erzählen und Erkennen. Max Horkheimer ist zwar der Begründer dieser Theorierichtung, aber im Kern kein literarisch orientierter Denker, sodass auch er hier im Kontext der ›Anfänge‹ behandelt wird. Für unser Thema besonders aufschlussreich ist sein langer Essay über Montaigne und die Skepsis (1938), den Susanne Zepp in ihrer Relektüre vor dem Hintergrund der Rezeption durch Odo Marquard neu diskutiert, welcher 1988, also aus fünfzigjähriger Distanz, diesen Text als eine der »schönsten Abhandlungen des frühen Horkheimer«27 gerühmt hatte, um dann doch sein eigenes Konzept skeptischen Denkens gegen die Kritik des frühneuzeitlichen Skeptizismus durch Horkheimer in Schutz zu nehmen. Während Horkheimer in dem im Exil entstandenen Aufsatz die Kritische Theorie als Alternative zum Skeptizismus aufzubauen versucht hatte, weist Zepp auf die mittlerweile erkennbare Historizität beider Positionen (der Horkheimers wie der Marquards) hin, die heute einen wiederum neuen Blick auf die Problemkonstellation ermögliche. Siegfried Kracauer gehört nicht der Kerngruppe von Wissenschaftlern um Horkheimer und Adorno an, sondern er begleitet sie solidarisch durch seine Tätigkeit im Feuilleton der Frankfurter Zeitung. Seine essayistisch-feuilletonistische Prosa im besten Sinne ist jedoch so reichhaltig, dass er als Erster in drei Beiträgen dieses Bandes untersucht wird. Mirjam Wenzel hebt in ihrem Essay das ›filmische Schreibverfahren‹ Kracauers hervor. Die Matrix seines Buchs Die Angestellten (1930) folge einer speziellen Schreibweise, die affine Strukturen zwischen Film, Traum und Realität ausmache und diesen auch darstellerisch gerecht zu werden versuche. Während der Roman von einer nachgerade ethnographischen Expedition in das unbekannte Gefilde des zeitgenössischen Berlin ausgegangen sei – Kracauer sprach gar vom ›einheimischen Dschungel‹ –, stelle sein späteres Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) mit seiner Struktur, die Exzerpte aus Hunderten von Büchern enthält, eine auch formale Korrespondenz zwischen dem Stil und dem Flanieren durch Pariser Straßen und Passagen her. Das dabei angewandte Montageverfahren greife viele Elemente auf, die Kracauer an anderer Stelle als filmische Verfahrensweisen charakterisiert habe, etwa die gleich27 Odo Marquard: Sola divisione individuum. Betrachtungen über Individuum und Gewaltenteilung. In: ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien. Stuttgart 2004, S. 68–90, hier S. 69. Siehe den Beitrag von Susanne Zepp in diesem Band, S. 81.
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sam beiseite gesprochenen Regiebemerkungen, die Close-Up-Perspektive, den Zoom, den Schnitt oder die Totale. In ihrer Respondenz weist Silke Horstkotte mit Blick auf den ›Rausch der Operette‹ und die Kulissenhaftigkeit der städtischen Bühne auf ganz ähnliche Aspekte in den filmtheoretischen Schriften von Walter Benjamin und Béla Balázs hin, fragt aber zugleich, ob der Textgelehrte Kracauer, der auf so programmatische Weise das Medium Schrift mit Bildern, Film und Fotografie verschränkte, nicht viel eher als ›Bildgelehrter‹ zu verstehen sei. Dorothee Kimmich untersucht Kracauers kurzen Text Abschied von der Lindenpassage (1930). Ihre Relektüre spürt der literarisch-textuellen Bauweise von Kracauers Texten nach, der einen ausgebildeten Blick für Konstruktionen und Fassaden, Asymmetrien und Achsen in sein Schreiben überführen konnte, da er vor dem Ersten Weltkrieg in Darmstadt, Berlin und München Architektur studiert hatte. Kracauer entwickelte ein feines Gespür für die Semantik von Orten, die im Zentrum des Geschehens lagen und zugleich Teil des innerstädtischen Niemandslandes waren. Sein Raumdenken sucht die Protagonisten seiner urban-soziologischen Miniaturen und seiner Romane – etwa Ginster (1928) – an den Schwellen, Grenzen und Rändern des Geschehens auf. Kimmich argumentiert mit Jurij Lotman, dass das Schreibverfahren bei Kracauer – ähnlich wie dasjenige in Marcel Prousts Romanwerk und in Georg Simmels Soziologie – insgesamt einen Denkstil repräsentiere, der das Zentrum durch die Peripherie gespeist sehe und nicht umgekehrt, wie gewöhnlich angenommen wird. Der II. Teil des Bandes geht den Wegen der Textgelehrten der Kritischen Theorie im engeren Sinne nach – Wegen, die sie nach den gemeinsamen Erfahrungen der 1920er Jahre (mit dem Erfahrungszentrum Frankfurt am Main) zunächst ins Exil führten, dann zum Bleiben in den USA (Löwenthal, Marcuse) oder aber zur Rückkehr nach Deutschland, ja nach Frankfurt (Horkheimer, Adorno). Benjamins Lebensweg dagegen endet auf tragischabrupte Weise mit seinem Suizid an der französisch-spanischen Grenze auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Wegen ihrer zentralen Bedeutung sind Benjamin und Adorno je drei Beiträge gewidmet. Bei Löwenthal beschränken wir uns auf einen Essay mit Respondenz, bei Marcuse auf eine Relektüre. Bernd Auerochs stellt in seinem Essay Benjamin als Textgelehrten par excellence vor; er rückt das Verhältnis von Text und Kommentar ins Zentrum seiner Betrachtungen zu diesem Denker. Auerochs hebt hervor, wie sehr Lesen und Schreiben bei Benjamin Momente der Lebenshaltung sind, wie stark das ›Entziffern der Moderne‹ bei ihm insgesamt als ein ›Lesen‹ angelegt ist; vor allem betont er die Nähe zu traditionellen Positionen, die bei Benjamin Einleitung: Textgelehrsamkeit
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in moderner Form wiederkehren: Den heiligen Text sieht Benjamin auf den Kommentar angewiesen, ja, er erhalte durch diesen erst seine Autorität, und das Kunstwerk werde ›ewig‹ erst durch seine Kritik. Bei Benjamin finde sich zudem ein Bündnis des Kanonischen mit dem Flüchtigen, wobei er ähnlich häufig wie Adorno mit paradoxen Denkfiguren arbeite. Im Zitat, so Auerochs, treffen sich Rettung und Zerstörung und in der Person Benjamins moderne Philologie und prämoderne Schriftgelehrsamkeit. Dies ist einer der Gründe, warum die neuere Kulturwissenschaft, welche die Kultur als Text betrachtet, ihn als einen ihrer Gründungsväter erwählt hat.28 In seiner Respondenz knüpft Markus Wiegandt an das Verhältnis von Kritik, Kommentar und Text an und gibt zu bedenken, dass der heutige Benjamin-Leser aufgrund der Existenz von Editionen wie jener der Gesammelten Schriften (1972–1989) und der bereits erschienenen Bände der neuen Kritischen Gesamtausgabe (seit 2008), die nun zusammen mit den Gesammelten Briefen (1995–2000) einen umfangreichen Kanon bilden, ebenfalls in die Rolle eines Textgelehrten einkehre; die Ausweitung solcher editorischen Großprojekte beginne somit die habituellen Gesten von Kritik und Kommentar, Text und Deutung zu wiederholen. Andreas B. Kilcher unterzieht Walter Benjamins Kafka-Essay einer Relektüre. Kilcher skizziert zum einen den exterritorialen historischen und den diskursiv-dialogischen Entstehungskontext von Benjamins Essay, der 1934 im Exil, zehn Jahre nach Kafkas Tod und somit in einer Zeit entstand, als weder Benjamin noch der Prager Autor bekannt waren. In dieser besonderen Situation des ›Deutens vor allen Deutungen‹ war der Blick von Benjamins neuer ›Textwissenschaft‹ besonders auf das Gestische, die Theatermetaphorik und auf die Performativität von Kafkas Prosa gerichtet. Benjamin erblickt Kafkas Figuren auf einer Bühne, die der Autor als Regisseur um sie herum errichtet hat, er liest dessen Schriften so gesehen weniger als reiner Philologe denn als Theaterkritiker, und er erblickt in diesen textuellen Anordnungen Kafkas Formen des symbolischen Handelns, die darauf gerichtet sind, im Spiel Erlösung zu suchen. So deutet er die Themen, Personen und Personenanordnungen des Kafka’schen Œuvres als die Grundfiguren einer Selbstverwandlung auch des Autors, als das ernste Spiel einer Transformation, die das eigene und das eigentliche Leben gar nicht in der Person sucht, sondern im geschriebenen Text. Philipp von Wussow untersucht in seinem Essay Adornos Äußerungen über ›literarische Erkenntnis‹. Diesen Begriff bezieht von Wussow von Adorno 28 Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende der Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1996.
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selbst, der 1932 geschrieben hatte, dass Musik »Erkenntnischarakter«29 haben müsse. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hatte Adorno in den 1950er und 1960er Jahren in der Literatur- und der Kulturkritik der jungen Bundesrepublik reüssiert, die nun auch progressivere Töne zuließ und eine intellektuelle Haltung förderte, welche durch niemanden so stark geprägt wurde wie durch Adorno. In Essays wie Kulturkritik und Gesellschaft und in den Noten zur Literatur bringt er seine persönliche Erfahrung mit seinem theoretischen Anspruch zusammen, seine eigene literarische Passion mit dem Habitus einer kritischen gesellschaftspolitischen Intervention. So können, folgt man der Logik dieser Synthese, Erkenntnisse aus beiden Sphären, der literarischen wie der politischen, theoretische Einsichten für den jeweils anderen Bereich bereithalten, gerade weil, so das leitende Argument der Analyse von Wussows, die Spannung zwischen beiden Wissens- und Erkenntniskonzeptionen nicht auflösbar ist. Seine Respondenz fokussiert Detlev Claussen in Abgrenzung zu von Wussow auf den politischen Adorno und auf dessen Grundgedanken in Kulturkritik und Gesellschaft: Mit seiner Formulierung ›Nach Auschwitz‹, so Claussen, habe Adorno nicht allein »den Schleier der westdeutschen Kunstreligion, der die Mitschuld des deutschen Bürgertums an der Nazibarbarei verhüllen sollte«30, zerrissen, sondern auch eine temporale Zäsur im allgemeinen Bewusstsein formuliert, die einen grundlegenden Unterschied zwischen ›vorher‹ und ›danach‹ in das Denken der jungen Bundesrepublik einführte. Seine eigene Position habe Adorno in diesem Sinne auch nicht mehr traditionell als die eines Philosophen verstanden, sondern er habe sich – unabhängig von seinen literarischen Vorlieben – als kritischen Theoretiker betrachtet, insgesamt also so weit wie möglich von den von ihm verachteten ›Kulturvögten‹ (Adorno) der Vergangenheit und Gegenwart distanziert. Elisabetta Mengaldo unternimmt in ihrer Relektüre ein close reading von zwei Texten der Minima Moralia, der von Adorno in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre verfassten Sammlung aus insgesamt 153 kürzeren Prosatexten und Aphorismen. An dem Text Zur Moral des Denkens arbeitet sie exemplarisch eines der für Adorno typischen Verfahren heraus: durch die Verwendung von Märchen- oder Romanfiguren zu versuchen, einen Begriff oder eine historische Konstellation zu personifizieren, zu bebildern und dabei plastisch zu machen, sodass der Autor das historisch Verfestigte in dialektischer Weise mit den Mitteln der Sprache wieder verflüssigen kann. 29 Theodor W. Adorno: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 18. Frankfurt/M. 1984, S. 729−777, hier S. 732. 30 Siehe den Beitrag von Detlev Claussen in diesem Band, S. 186. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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Mengaldo gibt hierfür das Beispiel der Schlusspassage des Aphorismus 46, in der Adorno von den heutigen Theoretikern sagt, man verlange ihnen nicht weniger ab, als dass sie »in jedem Augenblick in den Sachen und außer den Sachen« sein sollen, eine Unmöglichkeit also, ähnlich dem »Gestus Münchhausens«, »der sich an dem Zopf aus dem Sumpf zieht«.31 Dies sei ein Kommentar Adornos zum Buch insgesamt und vor allem zu dessen Untertitel Reflexionen aus dem beschädigten Leben, denn diese Reflexionen handelten nicht über das ›beschädigte Leben‹, sondern sie sprächen aus ihm heraus. Der Essay zu Leo Löwenthal von Jan Süselbeck präsentiert dessen dezidiert soziologische Literaturanalyse als eine Form von Gelehrsamkeit im Umgang mit Texten, die von den in den übrigen Beiträgen des Bandes dargestellten Zugängen abweicht. Löwenthal formuliert völlig andere Grundannahmen, sieht in Literaturgeschichte ein Mittel zur Ideologieforschung und widmet sich auf empirische Weise weniger den Texten selbst als vielmehr 1. ihren Entstehungsbedingungen, 2. den in ihnen enthaltenen Realitätsbezügen sowie 3. ihren Rezeptionswegen und somit dem Denken und Empfinden jener, die Literatur lasen und so ihren Erfolg herstellten und ihre Inhalte weitertrugen. Dabei vertritt Löwenthal die Ansicht, dass Literatur die Zeit, in der sie entstand, modellhaft verdichtet und somit mehr Auskunft über diese als über den Autor verspricht. An Löwenthals großen Untersuchungen zur Aufnahme Dostojewskijs in Deutschland, zur biographischen Mode oder zu Knut Hamsun treten aus heutiger Sicht weniger die von Löwenthal intendierten materialistischen Setzungen als vielmehr ihre idealistischen Implikationen hervor: Die kulturelle Bedeutung, die Löwenthals Literatursoziologie allen Formen von Texten – der ›wahren‹ Kunst ebenso wie der von ihm kritisierten amerikanischen Massenkultur – zuschreibt, ist kaum zu überbieten. Für ihn trägt jede echte Kunst »die Botschaft der Spannung, des gesellschaftlich nicht Erlösten«, er sieht in Texten »das große Reservoir des geformten Protestes gegen das gesellschaftliche Unglück«.32 Süselbeck nimmt seinen Autor beim Wort und vertritt die These, dass dessen Ansatz heute in Bezug auf das Fernsehen und die Werbeindustrie seine Aktualität noch besser unter Beweis stellen könne als seinerzeit durch die Untersuchung von Romanen des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In seiner Respondenz richtet Hans-Joachim Hahn sein Augenmerk dagegen auf die frühen Schriften und auf Löwenthals Bezug zu jüdischen Tra31 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951]. In.: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. ²2003, Bd. 4, S. 82 f. 32 Leo Löwenthal: »Mitmachen wollte ich nie«. Gespräch mit Helmut Dubiel. In: ders.: Schriften. Hg. v. Helmut Dubiel. Bd. 4. Frankfurt/M. 1990, S. 271–298, hier S. 284 f.
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ditionen. Hahn beleuchtet die Bedeutung von Maimonides für die spätere Theoriebildung Löwenthals, und er weist besonders auf den Aufsatz Literatursoziologie im Rückblick aus dem Jahr 1981 hin, in welchem Löwenthal die literarische Analyse als Form von Ideologiekritik besonders wirkungsvoll verteidigt, allerdings mit einem signifikanten Unterschied zu seinen früheren Arbeiten: In der von ihm nun geradezu sakralisierten ›wahren‹ Kunst, die der späte Löwenthal gerade dadurch definiert, dass sie frei von Ideologie sei, spreche sich, so Hahn, ein utopisches Verständnis von Literatur aus, das einen seiner Impulse aus der jüdischen Tradition bezog. Toni Tholen stellt in seiner Relektüre Herbert Marcuses vermutlich wirksamsten Text, Über den affirmativen Charakter der Kultur (1937), in den Mittelpunkt. Marcuse versucht darin, das 18. und frühe 19. Jahrhundert am Beispiel Herders, Goethes und Schillers als ›Kernzeit‹ einer innerlichen, einer ›affirmativen‹ Kultur zu kritisieren. Er misst der Frage, welchen Beitrag Kultur, Literatur und Künste zu einer besseren Welt leisten können, über viele Jahrzehnte hinweg entscheidende Bedeutung bei. Seine Vorstellung, dass gerade in der Kunst jene Rebellion hätte bewahrt werden sollen, welche sich dann zu politischem Widerstand gegen die Ereignisse Anfang der 1930er Jahre in Deutschland hätte ausweiten können, verweist auf ein Paradox: Sein eigenes Verständnis von Literatur ist kaum weniger idealistisch als der von ihm kritisierte Kanon, es basiert selbst auf der deutschen Bildungstradition. Marcuse wollte, so Tholen, auch nicht die literarische Moderne in den Horizont seines Arguments einbeziehen, und so habe er sich unversehens selbst ganz in der Nähe des von ihm analysierten Phänomens befunden. Der III. Teil des Buches führt über das Zentrum der Kritischen Theorie hinaus in deren Umkreis; er ist verschiedenen Formen von Auseinandersetzungen gewidmet. Gershom Scholem ist der engste Freund Walter Benjamins und, seit 1923 in Jerusalem lebend, der Mitbegründer der neueren Wissenschaft vom Judentum. Mit Adorno initiiert er die seit den 1950er Jahren erscheinenden Ausgaben der Schriften Benjamins. Für den jüngeren Gelehrten Peter Szondi wird er zu einem wichtigen Berater. Auch für Hannah Arendt ist Walter Benjamin der wichtigste Bezugspunkt zur Kritischen Theorie; ihr Doppelessay über Benjamin und Brecht ist ein Meilenstein in der Rezeption beider deutscher Exilautoren.33 An dieser einen Stelle wird die strenge Architektur des Bandes etwas gelockert: In einem Doppelessay werden Benjamin 33 Hannah Arendt: Walter Benjamin, Bertolt Brecht. Zwei Essays. München 1971. Zum Verhältnis Arendts zur Kritischen Theorie vgl. Fritz Bauer Institut; Liliane Weisberg (Hg.): Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule. Frankfurt/M.; New York 2011. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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und Arendt vergleichend in den Blick genommen. In einem weiteren Essay und einem Respondenz-Beitrag wird Arendts Verständnis von Dichtung genauer untersucht. Auch die Verbindung des Romanisten Erich Auerbach zur Kritischen Theorie ist vor allem über Benjamin vermittelt. Die beiden Beiträge zu ihm arbeiten jedoch weitere wichtige Parallelen heraus. In seinem Porträt Scholems verknüpft Daniel Weidner dessen Charakterisierung Benjamins mit Benjamins eigener Beschreibung Scholems: Wenn dieser seinen Freund durch die Affinität zur ›Schrift‹ beschrieb und in Benjamins Denken eine tiefe Bindung an jüdische Traditionen und an die Sprache als solche erkannte, so gelte Gleiches auch für Scholem selbst. Wie Benjamin sei auch Scholems intellektuelle Physiognomie nicht ohne das geistige Verfahren des Kommentars und die Sorge um die ›Schrift‹ zu verstehen. Scholem war selbst ja nicht nur Autor, sondern Textgelehrter im wörtlichen Sinne aufgrund seiner Herausgeberschaften und seiner Philosophie des Lernens, Lesens und Lehrens. Er war der Meinung, dass die ›echte Tradition‹ ein verborgener Zusammenhang sei, und hielt deswegen die Philologie für die »einzige wahrhaft historische Wissenschaft«34. Wie Weidner arbeitet auch Ottfried Fraisse in seiner Respondenz an Scholem jenes trianguläre Geflecht aus traditioneller Gelehrsamkeit (etwa der Verbindung aus Mündlichkeit und Schriftlichkeit), exakter Wissenschaft und einer Art von literarisch-metaphorischer Unschärfe heraus, mit der auch Poesie und Klang mittradiert werden. Scholem habe, so Fraisse, den Versuch unternommen, jüdische Tradition zugleich von außen mit dem Blick des Wissenschaftlers und von innen zu betrachten – eine nur vermeintliche Paradoxie, die das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der jüdischen Tradition noch einmal in seinem mehrfachen Textverständnis wiederholt und in die Moderne überführt. In ihrem Essay Buchstäblichkeit. Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache analysiert Sigrid Weigel ›Textualität‹ als Grundlage des Denkens bei Walter Benjamin und Hannah Arendt. Dabei betont sie sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede der beiden Denker und ihres jeweiligen Umgangs mit der Sprache und ihren Bildern. Sie verweist auf die Metapher vom ›Testament‹ aus René Chars Gedichtzeile »Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen« und skizziert die Denkbewegungen beider als solche ohne Tradition. Arendts Denktagebücher zeigten, so Weigel, wie sehr ihre Auffassung, alles Denken sei metaphorisch, konstitutiv für ihr Schreibverfahren sei, mehr noch als für Benjamin, von dem wiederum 34 Gershom Scholem: Brief an Escha Burchhardt vom 23. Juli 1918. In: ders.: Briefe I. 1914–1947. Hg. v. Itta Shedletzky. München 1994, S. 165–168, hier S. 167.
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Arendt geschrieben hatte, er denke in Metaphern. Weigel zeigt anhand einer Passage aus Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt, in der er anhand des Begriffspaars ›Geschöpf‹ (Bibel) vs. ›Gebilde‹ (Werk) Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen profanen und biblischen Begriffen lenkt, dass Benjamins Unterscheidungen keineswegs auf eine Reinheit der Sprache abzielten. Vielmehr gründe seine Spracharbeit im Prozess der Säkularisierung. Irmela von der Lühe weist mit ihrem Essay über Hannah Arendt und die Dichtung auf die immense Bedeutung der Literatur für die politische Denkerin hin. Im Anschluss an Arendts Bemerkung über Uwe Johnsons Jahrestage, dieses Werk sei ein »Dokument […] für diese ganze Nach-Hitler-Zeit«35, zeigt von der Lühe, wie wenig dogmatisch Arendt offensichtlich die Grenzziehung zwischen Geschichtsschreibung und Literatur betrachtet: Beide unterscheidet sie weniger nach dem Genre, sondern behält stattdessen für beide die Scheidung zwischen ›wahr‹ und ›falsch‹ bei. In ihrer Lessing-Preisrede verwendet Arendt den Begriff des ›dichterischen Denkens‹ und beschreibt damit ein Ideal, das sie zwar nicht für sich in Anspruch nahm, aber gleichwohl zum Vorbild hatte. In ihrer komplementär zu von der Lühe und auch zu Weigel konzipierten Respondenz reflektiert Elisabeth Gallas die Zusammengehörigkeit von ›Erfahrung‹ und ›Verstehen‹ im Schreibverfahren von Arendt, für die Schreiben fast identisch mit Verstehen im emphatischen Sinne gewesen sei. Narration und Reflexion seien so fest miteinander verschränkt, dass sie einander geradezu benötigten. Am Hauptwerk Arendts, den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft, kann Gallas diese Verschränkung plausibel machen, obwohl Arendt hier kommentierende Bezüge auf die eigene Person ganz unterlassen hat. Deutlich wird, wie ihre Haltung zu Text und Gespräch gerade im Angesicht der Erkenntnis, dass der Holocaust die vermeintlich zeitlosen hermeneutischen Traditionen nicht unberührt gelassen hat, ein utopisches Moment enthält und somit ein Element des Widerstands gegen die Faktizität der Geschichte bewahrt: Denken und Urteilen sind nur durch die Wiedergewinnung des Zusammenhangs aus Erfahrung, Verstehen und Erzählen über den Bruch in der geschichtlichen Kontinuität hinweg zu retten. Galili Shahar stellt in seinem weit ausgreifenden Essay den Textgelehrten Erich Auerbach mit einem Fokus auf dessen Hauptwerk Mimesis dar und untersucht dabei die Frage nach der deutsch-jüdischen bzw. der christlichjüdischen Tradition in diesem ebenfalls im Exil (in Istanbul) entstandenen, 35 Hannah Arendt; Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967−1975. Hg. v. Eberhard Falke; Thomas Wild. Frankfurt/M. 2004, S. 66 f. Einleitung: Textgelehrsamkeit
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1946 erschienenen Buch. Er betont, dass Auerbach in dieser Tradition seine eigene ›Narbe‹ in das erste, Isaak und Odysseus gewidmete Kapitel des Buchs integriert habe. Mimesis, so seine These, könne nicht allein im Rahmen des Selbstverständnisses seines Autors als romanistischer Philologe, auch nicht im weiteren Kontext der westlichen Literaturen, sondern erst mit dem Blick auf den Zusammenhang des deutsch-jüdischen Diskurses über Literatur verstanden werden. In diesem erzeuge die Dialektik von Moderne und Tradition, Philologie und Theologie, Judentum und Christentum, Ethik und Messianismus besonders radikale Interpretationsansätze, die das Gesamtwerk durchzögen. So plädiert Auerbach für einen radikal erweiterten RealismusBegriff, der für ihn weniger eine Epochenbezeichnung ist als eine Schreibhaltung und der die zukünftige Welt mit umfasst. Auerbachs Perspektive, so Shahar, ist die Ironie, er interessiert sich weniger für die Helden als für die Narren, er plädiert nicht für Stilreinheit, sondern für stilistische Mischformen, sein opus magnum meidet trotz seines Umfangs den Gestus der großen Form und zielt auf das Fragment. In ihrer Respondenz arbeitet Natasha Gordinsky das Innovative an Shahars Ansatz innerhalb der gegenwärtigen, überwiegend englischsprachigen Forschungen zu Auerbach heraus, die einerseits komparatistisch, andererseits kultur- und geschichtswissenschaftlich orientiert sind. Gegenüber den vorliegenden Arbeiten zeichne sich Shahars Studie durch ihre Konzentration auf die Deutung der textuellen Konstruktion von jüdischer Zugehörigkeit bei Auerbach aus. Zugleich verdeutlicht Gordinsky die Anschlusspunkte der von Shahar rekonstruierten Textgelehrsamkeit Auerbachs insbesondere an die Denkweisen Walter Benjamins und Gershom Scholems. Der IV. und abschließende Teil des Bandes zeigt zwei Formen von Anschlüssen an die Textgelehrten der Kritischen Theorie: Hans Mayer, der 1948 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrt, aber wie Ernst Bloch nicht nach Westdeutschland, sondern nach Leipzig, baut in den Jahren bis zu seiner Ausbürgerung 1963 dort sein eigenes Modell einer zugleich bürgerlichen und sozialistischen Literaturgeschichte der Weltliteratur auf, bevor er im weiteren Verlauf der 1960er Jahre in der Bundesrepublik zu einem einflussreichen Literaturkritiker und Essayisten und damit zu einem Konkurrenten Adornos wird. Peter Szondi dagegen verknüpft die philologische Ausbildung durch den konservativen Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger mit seiner Schulung am Russischen Formalismus, am Prager und französischen Strukturalismus, an Lukács’ Literatursoziologie und insbesondere an Benjamins und Adornos kritischen Textlektüren. Wegen der besonderen Bedeutung Szondis als des Mitbegründers einer neuen Allgemeinen 32
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und Vergleichenden Literaturwissenschaft sind ihm wiederum drei Beiträge gewidmet. Dirk Werle untersucht in seinem Essay über Hans Mayer das Wirken dieses Literaturwissenschaftlers mit einem Fokus auf dessen Leipziger Jahre zwischen 1948 und 1963. Werle fragt nach dem von Mayer vertretenen Gelehrtentypus und nach dessen Schreibweisen und -verfahren. Zu Recht weist er darauf hin, dass Mayer trotz oder wegen seiner spezifischen Textgelehrsamkeit in die Position eines zweifachen Außenseiters geriet, da weder die Fachwissenschaft an den Universitäten noch die Vertreter der Kritischen Theorie ihn ohne Vorbehalt anerkennen wollten. Werles Ausführungen machen deutlich, dass die Absetzung vom akademischen Gelehrten des alten Typus und die Selbstinszenierung als Intellektueller und Universalgelehrter wesentliche Aspekte jenes Habitus waren, mit dem Mayer seiner Arbeit an und mit der deutschsprachigen Literatur in Deutschland nach 1945 überhaupt nur nachgehen konnte. Die Respondenz von Anna Lux erinnert daran, dass Mayer mit besonders ›vergifteten Stoffen‹ zu tun hatte, die zu weiten Teilen aus völkischen Traditionsvereinnahmungen der Germanistik zurückzugewinnen waren. Lux verweist darüber hinaus auf eine ganze Reihe lebensweltlicher Belastungen, die für Mayer im postnazistischen Deutschland, auch im östlichen Teil, unabhängig von seinen ebenfalls bemerkenswerten Erfolgen als Redner, Publizist und Wissenschaftler die Realität eintrübten, etwa wenn sein Leipziger germanistischer Kollege Theodor Frings 1960 über ihn in traditionell-abwertender Weise sagte, Mayer sei ›weniger Forscher als Journalist‹. Vor dem Hintergrund antisemitischer Residuen entwickelte Mayer ein Selbstverständnis als kulturpolitischer Vermittler zwischen Gelehrtenwelt und interessierter Allgemeinheit; nur so ließ sich für ihn die Hoffnung bewahren, das Bewusstsein der Jugend neu und aufgeklärt zu formen und zu bilden, die Gesellschaft insgesamt zu verbessern. In diesem Sinne, so Lux, habe Mayer von »Bewahrung und Verwertung gereinigten Denkens auf höherer Erkenntnisstufe«36 gesprochen. Die Reihe der Textgelehrten wird mit Peter Szondi abgeschlossen, den Andreas Isenschmid in seinem Essay Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann mit Rückgriff auf zahlreiche unveröffentlichte Archivmaterialien als früh gereiften Gelehrten in seiner formativen Phase zwischen Schulaufsätzen und der Dissertation Theorie des modernen Dramas von 1956 vorstellt; vor allem die allerersten Jahre seiner eigenständigen intellektuellen Entwicklung zwischen 1947 und 1952 stehen im Zentrum dieses Beitrags. In 36 Hans Mayer: Karl Marx und das Elend des Geistes. Meisenheim am Glan 1948, S. 90 Einleitung: Textgelehrsamkeit
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Arbeiten des erst 22-jährigen jungen Mannes kann man, so Isenschmid, bereits eine Stimme vernehmen, die »so unpersönlich, so sachlich, knapp und theoretisch kristallin«37 formuliert, dass kaum etwas darauf schließen ließe, dass manche Passagen gerade dieser Frühtexte, in denen Vereinsamung, Verinnerlichung und Verlorenheit Thema sind, als verdeckte Autobiographie zu lesen seien. Isenschmid macht eine Reihe von Positionen aus, die der junge Szondi im Verlauf dieser kurzen Zeitspanne bezieht; dazu zählen der Bezug auf den Holocaust, der zum Zentrum seiner Gedanken- und Erfahrungswelt wird, seine Suche nach ›Geschichte‹ in Literatur und Kunst sowie die auch später immer wiederkehrenden Denkfiguren Heimat und Fremde, Heimkehr und Ankunft, die früh eine zentrale Bedeutung in Szondis Denken einnehmen. In seiner komplementär konzipierten Respondenz auf den Beitrag von Isenschmid lenkt Dieter Burdorf die Aufmerksamkeit nicht auf das von Isenschmid erstmals erschlossene Frühwerk Szondis, sondern auf den weiteren, seit seiner Dissertation nur fünfzehn Jahre umfassenden Berufsweg des Gelehrten. Burdorf nimmt Szondis Interesse an Spätwerken, das dieser in seinen Hölderlin-Studien am Beispiel des mit Mitte Dreißig geistig zusammenbrechenden schwäbischen Dichters eindringlich reflektiert, zum Anlass, danach zu fragen, ob es auch bei Szondi, der sich im Alter von 42 Jahren das Leben nahm, ein Spätwerk gebe. Szondis letzte Texte, insbesondere die Celan-Studien, deuten darauf hin: Hier finden wir die Öffnung der deutschsprachigen Komparatistik für aktuelle französische Theoriebildungen der Dekonstruktion und des Neostrukturalismus, die Szondi früher als jeder andere betrieb, sowie die offen bleibenden Fragen zur Rolle biographischer Hintergrundinformationen bei der Interpretation literarischer Texte, die bis heute die Literaturwissenschaft umtreiben. Zum Abschluss des Bandes führt Thomas Sparr eine Relektüre von Peter Szondis Text Über philologische Erkenntnis vor, den dieser als 32-jähriger unter dem Titel Zur Erkenntnisproblematik der Literaturwissenschaft zu Beginn des Jahres 1962 als Vortrag gehalten hat und dessen berühmter Titel erst etwas später von Szondi hinzugefügt wurde, als er ihn als Einleitungstext in seine Hölderlin-Studien aufnahm. Es ist dies eine Auseinandersetzung mit dem Stand der Literaturwissenschaft zu seiner Zeit, der Szondi die Reflexionsbewegungen einer ›theoretischen Hermeneutik‹ entgegensetzt und damit eine Haltung entwickelt, welche traditionelle Formanalyse und hermeneutisches Sinnverständnis mit einer Einsicht in die Historizität der literarischen Erkenntnis verbindet. Sparr zeigt, wie der Text, etwa mit Rekurs auf 37 Siehe Isenschmids Beitrag in diesem Band, S. 389.
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Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, zu einer selbstbewussten Neubestimmung der Literaturwissenschaft führt. Das Buch schließt also, wie es einsetzt: mit einem ungarischen jüdischen Intellektuellen. Während der 1885 geborene Lukács jedoch seine Lebens- und Denkform nach dem Moskauer Exil im real existierenden Sozialismus ungarischer Prägung trotz einiger Brüche zu realisieren vermag, kann sich der 1929 ebenfalls in Budapest geborene Szondi zeit seines Lebens nicht von der Erfahrung lösen, dem Holocaust nur knapp entronnen zu sein; nachdem er in den 1960er Jahren an der Berliner Freien Universität erfolgreich seine Vorstellung einer komparatistischen Literaturwissenschaft umgesetzt hat, begeht der gegenüber Lukács 44 Jahre Jüngere wenige Monate nach dessen Tod am 4. Juni 1971 im Oktober desselben Jahres Suizid. Im Kern geht der Band auf eine internationale Fachkonferenz zurück, die 2009 am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig stattfand und in Kooperation mit dem Institut für Germanistik der Universität Leipzig durchgeführt wurde. Das vorliegende Buch wurde in der Zwischenzeit grundlegend neu konzipiert und durch zahlreiche zusätzliche Beiträge erweitert. Die Herausgeber danken in besonderer Weise Dan Diner für die konzeptionellen Gespräche und die institutionelle Unterstützung bei der Ausrichtung der Tagung und bei der Planung des Bandes. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft in erster Linie sowie der Vereinigung von Förderern und Freunden der Universität Leipzig danken wir für die finanzielle Unterstützung der Konferenz. Die Druck legung des Bandes wäre nicht ohne die großzügige Förderung durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften zu rea lisieren gewesen, der wir hierfür herzlich danken. Auch Dan Diner und dem Simon-Dubnow-Institut sei in diesem Zusammenhang für die Unterstützung der Drucklegung gedankt. Danken möchten wir ferner Raphael Gross, der das Erscheinen des Buches tatkräftig gefördert hat, und Marlene Schnelle-Schneyder für die freundliche Genehmigung zum Abdruck des Umschlagfotos. Bei der Redaktion des Bandes und bei der Erstellung des Registers haben Stephanie Bremerich, Andrea Mühlig, Theresa Specht, Johanna Steiner, Isabelle Stephan und Elisabeth Weiß mitgewirkt. Ihnen allen danken wir sehr herzlich. Leipzig, im Oktober 2013
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Einleitung: Textgelehrsamkeit
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I. Voraussetzungen und Anfänge
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RELEK T ÜRE
Gerhard Scheit
Der Gelehrte im Zeitalter der »vollendeten Sündhaftigkeit« Georg Lukács’ Theorie des Romans und der romantische Antikapitalismus
I. Das Ziel der Theorie des Romans sei »ein negatives«, heißt es in der Anmerkung, die Georg von Lukács der erstmaligen Publikation seines Textes 1916 beigibt. Der Autor präsentiert die Theorie in Max Dessoirs Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft als bloßes Einleitungskapitel »zu einem ästhetisch-geschichtsphilosophischen Werk über Dostojewsky«. Negativ sei das Ziel, weil es zunächst darum gehe, »den Hintergrund zu zeichnen«, von dem sich der russische Autor »als Künder eines neuen Menschen, als Gestalter einer neuen Welt, als Finder und als Wiederfinder einer neu-alten Form« abhebe. Das »Einrücken zum Militärdienst« habe Lukács jedoch gezwungen, »die Arbeit abzubrechen, und bei der hierdurch entstandenen Ungewißheit, wann das ganze Werk vollendet werden kann, wenn es überhaupt dazu kommt, fühle ich mich veranlaßt, die Abhandlung in dieser Form der Öffentlichkeit zu übergeben«.1 Tatsächlich ist das Buch über Dostojewski nie geschrieben worden, und es stellt sich umso mehr die Frage, ob der ausdrückliche Zweifel des Autors, dass es zur Vollendung je kommen werde, innere oder äußere Gründe meinte. Hatte das »negative« Ziel der Romantheorie die geplante Darstellung des russischen Dichters in Frage gestellt? Oder war mit dem Ersten Weltkrieg eine Situation geschaffen, die das positive Ziel, das in der Deutung von Dostojewskis Werken liegen sollte, obsolet werden ließ?
1 Alle vorangehenden Zitate aus: Georg von Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Hg. v. Max Dessoir. Bd. 11. Stuttgart 1916, S. 225–271 u. S. 390–431, hier S. 225 f. Georg Lukács: Theorie des Romans
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Lukács lehnte diesen Krieg ab, und damit stand er in gravierendem Gegensatz zu den Kreisen in Deutschland, denen er doch so wichtige Anstöße verdankte und die noch immer den Resonanzboden seiner Arbeit bildeten: die Kreise um Georg Simmel in Berlin und Max Weber in Heidelberg. Ohne sie ist seine ganze damalige Lebensweise, pendelnd zwischen Budapest, Berlin, Florenz und Heidelberg, kaum vorstellbar. Es ist, als ob Lukács mit der Ungebundenheit seiner Existenz der Form des Essays, wie er sie seit etwa zehn Jahren ausgeprägt hatte, Rechnung trug. Sie selber aber als essayistisch zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus, soweit jedenfalls nicht bedacht wird, wie eingeschränkt prinzipiell die akademischen Möglichkeiten für den aus einer jüdischen Familie in Budapest stammenden Privatgelehrten waren, so gesichert sie auch in finanzieller Hinsicht gewesen sein mögen. Simmel, der erst mit 56 Jahren eine ordentliche Professur erhielt, und zwar in Straßburg, konnte Lukács vor Augen führen, dass es unter solchen Bedingungen für die Aussichten auf eine Universitätskarriere nicht zum Besten stand. Essays zu schreiben bedeutete da den Versuch, sich außerhalb der Universität einen Namen zu machen, um von ihr nicht völlig ausgeschlossen zu werden. Die Anerkennung blieb fragwürdig. »Noch heute«, so Adorno in den 1950er Jahren, »reicht das Lob des écrivain hin, den, dem man es spendet, akademisch draußen zu halten.«2 Tatsächlich strebte Lukács bis 1918 die Position des Privatdozenten an. Wenige Tage nachdem im Dezember dieses Jahres sein Habilitationsantrag vom Dekan der Heidelberger Universität abgewiesen wurde – mit dem Argument, dass »die Fakultät unter den gegenwärtigen Zeitumständen einen Ausländer, zumal einen ungarischen Staatsangehörigen, zur Habilitation nicht zulassen darf«3 –, trat er der Kommunistischen Partei Ungarns bei. Die Distanz zum akademischen Betrieb ermöglichte, was dort oft genug scheel angesehen und als unwissenschaftlich betrachtet wurde: das bewusste Changieren zwischen Literatur, Philosophie und Soziologie. Eben davon geht die besondere Faszination von Lukács’ Schriften aus. Der Essay, schrieb später Adorno mit Blick auf den jungen Lukács, »pariert nicht der Spielregel organisierter Wissenschaft und Theorie, es sei, nach dem Satz des Spinoza, die Ordnung der Dinge die gleiche wie die der Ideen«.4 Die Ordnung der Ideen ist zentriert auf den literarischen Text: Der Essay, so Lukács in Die
2 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form [1958]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt/M. 1974, S. 9–33, hier S. 10. 3 Zit. n. Frank Benseler (Hg.): Revolutionäres Denken: Georg Lukács. Eine Einführung in Leben und Werk. Darmstadt; Neuwied 1984, S. 31. 4 Adorno 1974 (wie Anm. 2), S. 17.
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Gerhard Scheit
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Seele und die Formen, spreche »immer von etwas bereits Geformtem«.5 Wie kein anderer aus den Kreisen von Simmel und Weber erhoffte er sich die tiefste philosophische Einsicht und die umfassendste soziologische Erkenntnis von der »geformten« Literatur, ohne doch Literaturwissenschaft zu treiben, die als noch relativ junge Wissenschaft den Spielregeln organisierter Wissenschaft ganz besonders eifrig parierte. Er konnte dabei aufbauen auf seine frühe Budapester Zeit, als er an der Thalia-Bühne mitwirkte, wo man nach dem Vorbild der Berliner Freien Bühne Hauptmann, Ibsen, Strindberg, Tschechow und Gorki aufführte. Diese Erfahrungen verarbeitete er in seinem ersten Buch, der Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas, 1911 in Budapest erschienen; zugleich begann er Essays zu schreiben, u. a. über Novalis und Kierkegaard, Stefan George und Paul Ernst, die er dann – ebenfalls 1911, aber bereits in Berlin und ins Deutsche übertragen – unter dem Titel Die Seele und die Formen publizierte. In diesem Band nimmt Lukács immer wieder auf Friedrich Schlegel Bezug. Dessen Frühschriften können, wie insbesondere Peter Szondi nahelegt6, neben dem Werk von Novalis als vermutlich wichtigster Ausgangspunkt für den jungen Lukács, insbesondere aber für die Theorie des Romans gelten. Wenn Schlegel in einem seiner Fragmente zur Literatur schreibt, »wahre Philosophie der Kunst ist nur reine Mystik und reine Polemik«7, formuliert er das Programm gerade jener Texte der frühen Romantik, die auf Lukács den größten Eindruck gemacht haben müssen.8 Damit ist aber zugleich markiert, was die Theorie des Romans von Simmel und Weber trennt: ›Romantisch‹ ist hier im historischen Sinn wörtlich zu nehmen. Es bezeichnet eine Intention von mystischer Polemik oder polemischer Mystik, die zurückgeht auf Schlegels Abkehr von Lessings Urteilsvermögen im Namen »absoluter Subjektivität«9 und Novalis’ Missbilligung von Goethes Wilhelm Meister als 5 Georg Lukács: Die Seele und die Formen. Essays [1911]. Neuwied; Berlin 1971, S. 20. 6 Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II. Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, Schellings Gattungspoetik. Hg. v. Wolfgang Fietkau. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 3. Frankfurt/M. 1974, S. 121. 7 Zit. n. Szondi 1974 (wie Anm. 6), S. 132. Den Satz selber, in dem Schlegel seine Intentionen auf den Punkt gebracht hat, dürfte Lukács damals noch nicht gekannt haben; er erschien erst mit Tausenden anderer Fragmente Schlegels in der Ausgabe Friedrich Schlegel: Literary Notebooks 1797–1801. Hg. v. Hans Eichner. London 1957. 8 Es ist so nur konsequent, wenn Leo Löwenthal die Theorie des Romans zur Beschreibung der Romantik als »verdrängter Revolution« verwendet (Studien zum deutschen Roman des 19. Jahrhunderts. In: ders.: Schriften. Hg. v. Helmut Dubiel. Bd. 2. Frankfurt/M. 1984, S. 301–444, hier S. 314). 9 Friedrich Schlegel: Abschluß des Lessing-Aufsatzes [1801]. In: ders.: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden. Hg. v. Ernst Behler; Hans Eichner. Bd. 2. Paderborn 1988, S. 261. Georg Lukács: Theorie des Romans
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»poetisierter bürgerlicher und häuslicher Geschichte« und »künstlerischem Atheismus«10. Die Nähe Lukács’ zur neuromantischen und neuklassizistischen Dichtung seiner eigenen Zeit, zu Dichtern wie Paul Ernst oder Stefan George, scheint dabei nicht weniger signifikant als die zum Messianismus in der Philosophie von Ernst Bloch11. Während jedoch Bloch, mit Lukács seit der Berliner Zeit im Kreis Simmels befreundet, fast der einzige war, der Lukács’ ablehnende Haltung zum Weltkrieg teilte, zerbrach die Freundschaft mit Paul Ernst, die etwa ebenso lang zurückreichte, gerade an dieser Frage. Ernst hatte als naturalistischer Schriftsteller begonnen, war als Sozialdemokrat sogar mit Friedrich Engels in Kontakt und starb 1933 als Sympathisant der Nationalsozialisten. Am Ende der Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas und im letzten Essay von Die Seele und die Formen fasst Lukács Ernsts Tragödien als Ausweg aus der Verfallsgeschichte der Kultur ins Auge. In der Theorie des Romans tritt an ihre Stelle das Werk Dostojewskis. Was ihn mit Ernst verband und an Dostojewski faszinierte, war die Vorstellung einer neuen Gemeinschaft, die dem Geist des Kapitalismus (Max Weber) und der Philosophie des Geldes (Georg Simmel) in toto entgegengesetzt werden könnte. Das war die Mystik in der Polemik gegen die Gesellschaft. Das kurzfristige ›Bündnis‹ von Ernst und Lukács stellt sich jedoch als Scheideweg des romantischen Antikapitalismus dar, wie Ferenc Fehér, ein Schüler von Lukács aus den späten Jahren, bemerkt.12 Für Lukács galt die Gemeinschaft nicht als Selbstzweck wie bei Ernst, sondern als Voraussetzung eines Höheren. Darum weigerte sich Lukács, sie näher zu bestimmen und sich festzulegen, und das ließ ihn abweichen von den Nationalisten (die genau wussten, was sie sei) und zum Kriegsgegner werden. So hing alles von der Haltung zum literarischen Text ab: Indem Lukács nicht bereit war, diesen als bloßes Mittel oder Ausdruck der Gemeinschaft zu behandeln, indem er daran festhielt, in ihm den Selbstzweck zu sehen, musste er dissentieren.
10 Novalis: Fragmente und Studien 1799–1800. In: Novalis Werke. Hg. v. Gerhard Schulz. München 21981, S. 519–567, hier S. 544. 11 Vgl. Michael Löwy: Der junge Lukács und Dostojewski. In: Rüdiger Dannemann: Georg Lukács – Jenseits der Polemiken. Beiträge zur Rekonstruktion seiner Philosophie. Frankfurt/M. 1986, S. 23–38, hier S. 35. 12 Ferenc Fehér: Am Scheideweg des romantischen Antikapitalismus. Typologie und Beitrag zur deutschen Ideologiegeschichte gelegentlich des Briefwechsel zwischen Paul Ernst und Georg Lukács. In: Ágnes Heller u. a.: Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács. Frankfurt/M. 1977, S. 241–327, hier S. 248.
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II. In seinem Vorwort zur Neuausgabe der Theorie des Romans von 1962 hat Lukács seine frühen politischen Ansichten als eine gegen alle Kriegsparteien gerichtete Haltung vergegenwärtigt: […] die Mittelmächte werden voraussichtlich Rußland schlagen; das kann zum Sturz des Zarismus führen: einverstanden. Es ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß der Westen gegen Deutschland siegt; wenn das den Untergang der Hohenzollern und der Habsburger zur Folge hat, bin ich ebenfalls einverstanden. Aber dann entsteht die Frage: wer rettet uns vor der westlichen Zivilisation? (Die Aussicht auf einen Endsieg des damaligen Deutschland empfand ich als einen Alpdruck.)13
Das Epitheton ›westlich‹ wie die Rede vom ›Endsieg‹ lassen eher an spätere politische Konstellationen denken; zur Zeit der Entstehung der Theorie des Romans genügte in Deutschland jedenfalls der Begriff ›Zivilisation‹, um die Frankreich, England und den USA unterschobene Kulturfeindlichkeit zu bezeichnen. Vor dieser Zivilisation scheint der Essay in die Welt Homers zu flüchten. Die Theorie des Romans hebt an mit Worten, die als positive Bestimmung von Kultur verstanden werden wollen und die Synthese aus deutscher Romantik und neudeutschem Klassizismus versuchen: Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz. Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne […]. (21)14
Drohende und unverständliche Mächte könnten in jener Welt zwar »das Leben vernichten, aber niemals das Sein verwirren« (24). An anderer Stelle ist von der »großen Subjektlosigkeit und Totalität« die Rede (45). Es ist eine subjektlose Gemeinschaft, die Lukács als Weltzeitalter des Epos beschwört; dessen Held sei, »streng genommen, niemals ein Individuum« und der Gegenstand dieser Form »kein persönliches Schicksal, sondern das einer Gemeinschaft«. Die Abrundung und die Geschlossenheit des Wertsystems, das den epischen Kosmos bestimme, schaffe »ein zu organisches Ganzes, als daß 13 Georg Lukács: Vorwort [1962]. In: ders.: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Werkauswahl in Einzelbänden. Hg. v. Frank Benseler; Rüdiger Dannemann. Bielefeld 2009, S. 7–17, hier S. 7. 14 Hier wie im Folgenden wird mit Seitenangabe im laufenden Text aus der Ausgabe Lukács 2009 (wie Anm. 13) zitiert. Georg Lukács: Theorie des Romans
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darin ein Teil sich so weit in sich abschließen, so stark auf sich gestellt sein könnte«, um sich als Innerliches zu finden. Die Bedeutung, die eine Begebenheit in einer derart geschlossenen Welt erhalten kann, ist deshalb immer eine quantitative: die Abenteuerreihe, in der sich die Begebenheit versinnbildlicht, erhält ihr Gewicht von der Wichtigkeit, die sie für das Wohl und Wehe eines großen, organischen Lebenskomplexes, eines Volkes oder Geschlechts besitzt. (51 f.)
Das ist aber die einzige Stelle, an der das Wort ›Volk‹ fällt, und wie um nationalistische Implikationen zurückzudrängen, setzt es Lukács gleich mit dem des ›Geschlechts‹, hier vermutlich im Sinne von Adelsgeschlecht, und ordnet beide dem Begriff des großen, organischen Lebenskomplexes unter. Die Bedeutung mag die Begebenheit von ihrer »Wichtigkeit« für das Volk erhalten, sie geht aber nicht in ihm auf. Kultur heißt: die Welt und das Ich »scheiden sich scharf« (21), im Unterschied zum Volk, worin das Ich verschwindet. So ist auch der Held in den »seligen Zeiten« offenkundig nicht dadurch bestimmt, dass er sich für die Gemeinschaft opfern muss. Oder genauer, mit Walter Benjamins wenige Jahre später geschriebener Kritik der Gewalt ausgedrückt: Die Gemeinschaft fordert nicht das Opfer, nimmt es jedoch an.15 Im Weltzeitalter des Epos, wie Lukács es darstellt, ist etwas von der Sicht des Judentums zu erkennen. Für diese Möglichkeit der Deutung spricht auch die zentrale, negative Rolle, die der Innerlichkeit bei Lukács zukommt, sieht man darin, mit Gershom Scholem, einen entscheidenden Gegensatz zwischen Christentum und Judentum. Sagt Lukács, unter den Gestirnen des Epos gebe es »keine Innerlichkeit, denn es gibt noch kein Außen, kein Anderes für die Seele« (21 f.), heißt es bei Scholem, dass die »Umdeutung der prophetischen Verheißungen der Bibel auf einen Bereich der Innerlichkeit« den religiösen Denkern des Judentums »stets als eine illegitime Vorwegnahme von etwas, das im besten Falle als die Innenseite eines sich entscheidend im Äußeren vollziehenden Vorgangs in Erscheinung treten konnte, nie aber ohne diesen Vorgang selbst«16. Wenn schließlich das kommende Weltzeitalter, das sich bei Dostojewski abzeichne, als »Sphäre einer reinen Seelenwirklichkeit« angedeutet wird, die eben nicht »als isolierte und unvergleichliche, reine und darum abstrakte Innerlichkeit« existiere, sondern »eine neue und abgerundete Totalität aller in ihr möglichen Substanzen und Beziehungen aufbauen
15 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt [1921]. In: ders. Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.1. Frankfurt/M. 1977, S. 179–203, hier S. 200. 16 Gershom Scholem: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt/M. 1970, S. 122.
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kann« (118), lassen sich Entsprechungen in messianischen Vorstellungen finden, wonach die »Wiederherstellung aller Dinge an ihren rechten Ort, welche die Erlösung ist«, ein Ganzes wiederherstelle, das nichts von jener »Scheidung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit« wisse.17 Aber nur eine »geschichtsphilosophische Zeichendeuterei«, die sich auf die Formanalyse der Dostojewski’schen Werke stützte, könnte, so Lukács, auch aussprechen, »ob wir wirklich im Begriffe sind, den Stand der vollendeten Sündhaftigkeit zu verlassen, oder ob erst bloße Hoffnungen die Ankunft des Neuen verkündigen; Anzeichen eines Kommenden, das noch so schwach ist, daß es von der unfruchtbaren Macht des bloß Seienden wann immer spielend erdrückt werden kann« (118). So wird kenntlich, was der literarische Text für diesen neuen Typus des Gelehrten bedeutet, der im Unterschied zu seinen Lehrern die bürgerliche Gesellschaft derart verachtet, dass er mit der Wendung vom »Stand der vollendeten Sündhaftigkeit« zu einem Ausdruck aus Fichtes Geschichtsphilosophie greifen muss18, um das endgültige Urteil über die Epoche des Romans zu fällen. Es ist weniger der Ersatz für die eigene Tat, die ihm nicht möglich scheint, als die Bedingung, darüber zu reflektieren, ob sie noch nicht oder ob sie schon möglich sei. Die »Wandlung«, die der Autor der Theorie des Romans erhofft, könne »niemals von der Kunst aus vollzogen werden«: […] die große Epik ist eine an die Empirie des geschichtlichen Augenblicks gebundene Form und jeder Versuch, das Utopische als seiend zu gestalten, endet nur formzerstörend, aber nicht wirklichkeitschaffend. Der Roman ist die Form der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit, nach Fichtes Worten, und muß die herrschende Form bleiben, solange die Welt unter der Herrschaft dieser Gestirne steht. (119)
Kristóf Nyíri, der Herausgeber der Dostojewski-Notizen, und der LukácsSchüler Ferenc Fehér betrachten die Theorie des Romans mit einem gewissen Recht nicht als Einleitung, vielmehr als eine Art Gegenentwurf zu dem geplanten Buch oder als Konsequenz aus dessen Scheitern.19 Das negative Ziel, 17 Gershom Scholem: Einige Betrachtungen zur jüdischen Theologie in dieser Zeit [1973]. In: ders.: »Es gibt ein Geheimnis in der Welt«. Tradition und Säkularisation. Ein Vortrag und ein Gespräch. Hg. v. Itta Shedletzky. Frankfurt/M. 2002, S. 7–48, hier S. 34. 18 Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters [1806]. In: [Johann Gottlieb] Fichtes sämmtliche Werke. Hg. v. Immanuel Hermann Fichte. Bd. 7. Berlin 1845/46. Nachdruck Berlin 1971, S. 1–256, hier S. 12. 19 J. C. [Kristóf] Nyíri: Einleitung. In: Georg Lukács: Dostojewski. Notizen und Entwürfe. Hg. v. J. C. Nyíri. Budapest 1985, S. 7–34, hier S. 25; Fehér 1977 (wie Anm. 12), S. 275 f.; vgl. hierzu auch Éva Karádi: Lukács’ Dostojewski-Projekt. Zur Wirkungsgeschichte eines ungeschriebenen Werkes. In: Lukács 1997. Jahrbuch der Internationalen Georg Lukács Gesellschaft. Hg. v. Frank Benseler; Werner Jung. Bern 1998. S. 117–132. Georg Lukács: Theorie des Romans
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von dem die Vorbemerkung von 1916 spricht, war erreicht worden. Vor dem positiven schreckte Lukács zurück, als wollte er das Bilderverbot nun doch noch auf die Welt, die mit Dostojewski vielleicht angebrochen sei, ausdehnen.
III. In seinem kleinen Buch über Béla Balázs, das 1918 in Ungarn erschienen ist, findet sich eine längere Passage über Dostojewski, worin Lukács noch einmal seine Intentionen zusammenfasst. Was in den Romanen Tolstois erst Gegenstand der Sehnsucht und der kaum ergriffene und sogleich verlorene »Schatz der seltenen Augenblicke von seltenen Ekstasen« sei, werde in Dostojewskis Welt »zum alltäglichen Leben«. Darin sei »jeder Mensch notwendig für den Charakter jedes anderen Menschen«: Jede »Eigenschaft« einer Gestalt existiere jeweils nur in einem bestimmten Verhältnis zu einer anderen, so lösen sich von der Seele »alle jene Fesseln ab, durch welche sie sonst an ihre gesellschaftliche Stellung, Klasse, Abstammung usw. gebunden wurde, und neue, konkrete, von Seele zu Seele reichende Verbindungen treten an ihre Stelle«20. Hier durchbricht Lukács auch die Vorstellung, dass mit der neuen Welt die seligen Zeiten einfach wiederkehrten; er sieht in der Literatur dieses russischen Autors eine bisher nicht dagewesene Möglichkeit: Vor Dostojewski erschien jede Gestalt jedes Dichters, von Homer über Shakespeare und Goethe bis Tolstoi, in »konkreter sozialer Bindung«, »das vollkommene Sich-Erreichen der Seele hob nicht die soziale Erscheinungsform auf«. Dostojewski sei der Erste, »in dessen Welt das Konstitutivsein dieser Determination aufgehoben ist. Myschkin ist sowenig Knjäs wie Jepanschin General oder Rogoschin bürgerlicher Millionär.« »Nackt konkrete Seelen« seien sie, und ihre konkreten Verbindungen zueinander habe der Schriftsteller noch nicht einmal polemisch mit jener sozialen Erscheinungsform verknüpft. Das »nicht gesellschaftliche, nicht empirische Niveau des Selbsterreichthabens der Seele« sei eine ebenso konkrete Verbindung der Menschen wie die »empirische«.21 Die neue Seelenwirklichkeit, der direkte, objektlose Bezug von Seele zu Seele, ist in bestimmter Hinsicht die Utopie der reinsten, von allem Ding-
20 Georg Lukács: Balàzs Béla és akinek nem kell [Béla Balàzs und die ihn nicht wollen]. Gyoma 1918; zitiert wird hier und im Folgenden aus der Übersetzung des Auszugs, die der Herausgeber der Dostojewski-Notizen seiner Einleitung eingefügt hat: Nyíri 1985 (wie Anm. 19), S. 27–32, hier S. 29. 21 Nyíri 1985 (wie Anm. 19), S. 30.
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lichen gereinigten Gemeinschaft. Dostojewskis Romane werden als eine Art christliche Kabbala vorgestellt. Die zentrale Bedeutung, die der Begriff der Seele für den frühen Lukács hatte, wäre jedenfalls als Beschwörung zu fassen; mit ihm versucht er das Individuum festzuhalten, dessen Voraussetzungen er zugleich liquidiert, soweit er alle sozialen Erscheinungsformen mit Dostojewskis Mystik beseitigt sieht. Dostojewski war das tertium datur, das Lukács suchte – der einzige Ausweg zwischen der Zivilisation als der Kultur der vollendeten Sündhaftigkeit und der deutschen Idolatrie der Staatsmacht, deren frühen Formen auch die Formel von der ›vollendeten Sündhaftigkeit‹ entsprungen ist. In einem Brief an Paul Ernst aus der Entstehungszeit der Theorie des Romans begründet er die Ablehnung des Kriegs und leitet damit auch den Bruch mit dem Freund ein. Spricht er am Ende der Theorie des Romans von dem »bloß Seienden« und nimmt damit etwas von der ›ontologischen Differenz‹ Heideggers vorweg22, so heißt es hier: Die Macht der Gebilde scheint in stetigem Zunehmen zu sein und für die meisten Menschen wohl lebendigere Wirklichkeit zu sein als das wirklich Seiende. Aber – dies ist für mich das Kriegserlebnis – wir dürfen das nicht zugeben. Wir müssen immer wieder betonen, daß das einzig Essentielle doch nur wir sind, unsere Seele und selbst deren ewig-apriorischen Objektivationen sind (nach einem schönen Bilde Ernst Blochs) auch nur Papiergeld, dessen Wert von der Einlösbarkeit in Gold abhängt. Die reelle Macht der Gebilde kann freilich nicht geleugnet werden. Es ist aber eine Todsünde an dem Geist, was das deutsche Denken seit Hegel erfüllt: jede Macht mit metaphysischer Weihe zu versehen.23
Es bleibt unklar, ob mit jenem ›wirklich Seienden‹ die Gebilde selbst im Unterschied zu ihrer Macht über die Menschen gemeint sind (in diesem Fall zielte Lukács auf den Fetischbegriff von Marx) oder ob damit die »Seelenwirklichkeit« zwischen den Menschen bezeichnet werden soll, losgelöst von sozialer Determination, wie sie bei Dostojewski dargestellt ist. Jedenfalls aber wäre es im Zeitalter der ›vollendeten Sündhaftigkeit‹, womit Lukács die ebenso reelle wie allgemeine Macht der Gebilde meint, eine Todsünde, 22 Adorno hat darum manche Passagen der Theorie des Romans kritisiert, als gehörten sie schon zum Jargon der Eigentlichkeit: »Die sinnerfüllten Zeiten, deren Wiederkunft der frühe Lukács ersehnte, waren ebenso das Produkt von Verdinglichung, unmenschlicher Institution, wie er es erst den bürgerlichen attestierte.« Theodor W. Adorno: Negative Dialektik [1966]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 6. Frankfurt/M. 1970, S. 7–412, hier S. 192. 23 Brief vom 14.4.1915. In: Paul Ernst und Georg Lukács. Dokumente einer Freundschaft. Hg. v. Karl August Kutzbach. Düsseldorf 1974, S. 66. Georg Lukács: Theorie des Romans
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sich gegen die Sündhaftigkeit auf irgendeine reelle konkrete Macht zu berufen und sie mit metaphysischer Weihe auszustatten, um sich darüber hinwegzutäuschen, dass es doch nur wieder jene Macht der Gebilde ist. Indem Lukács die Parolen der Kriegsbegeisterung von der Verteidigung der Kultur und des Volks darauf zurückführt, dass sie nur den Blick auf die eigene Ohnmacht angesichts der ›Macht der Gebilde‹ verstellen, zieht er eine Trennlinie zur Weltanschauung von Paul Ernst. Statt die Macht des Staats mit metaphysischer Weihe zu versehen, sucht er für sie in den Dostojewski-Notizen den schlimmsten physischen Ausdruck: »Staat als organisierte Tuberkulose«24. Damit wird klar, dass Dostojewski nicht allein als Stellvertreter des Judentums fungiert, sondern zugleich als dessen Gegenspieler: Wenn alle messianische Hoffnung nur noch durch dieses schriftstellerisches Werk zum Ausdruck kommt, vermag dessen emphatischer Interpret dem Judentum an einem bestimmten Punkt, in der Frage des Staats, entgegenzutreten, ohne darum der politischen Theologie der Kriegsbegeisterten etwas nachzugeben. Das in der Diaspora ausgeprägte Verhältnis zum Staat, das die Anerkennung von dessen Gesetzen umfasst (dina demalkhuta dina – Das Gesetz des jeweiligen Landes ist das Gesetz) wird zurückgenommen, aber zugleich das Bewusstsein beibehalten, das darin zum Ausdruck kommt: die Weigerung nämlich, den Staat darüber hinaus mit irgendwelchen höheren Weihen auszustatten.25 Die Todsünde, die darin besteht, nicht nur das Gesetz anzuerkennen, sondern den Souverän zu vergöttlichen, wird in den Dostojewski-Notizen mit dem Begriff des ›Jehovaischen‹ belegt, und das ›russische Denken‹, das diesem ›Jehovaischen‹ nach Lukács’ Auffassung nicht folge, fungiert so als das bessere, das radikalere Judentum, das auch die Gesetze des Landes nicht mehr billigt. Immer wieder, so Ferenc Fehér, »betonen die Aufzeichnungen, daß der ganze Komplex des Jehovaischen, also die Staatsidee als höchstes Prinzip und das Recht als Regulationssystem, im ›russischen Gedanken‹ nicht vorhanden sind oder nur eine untergeordnete Rolle spielen.«26 Mit dem Untergang des Idealismus der individuellen Freiheit seien, so Lukács in seinem Buch über Balázs von 1918, »die letzten Jahrzehnte von einem fieberhaften Suchen der gemeinsamen Überzeugungen, oder vom resigniert zynischen Sichabfinden in dem hoffnungslosen Verlust der Gemein24 Georg Lukács: Dostojewski. Notizen und Entwürfe. Hg. v. J. C. Nyíri. Budapest 1985, S. 185. 25 Auch hier finden sich in der frühen Romantik Anknüpfungspunkte: »Die Herrschaft des Rechts wird mit der Barbarei zessieren«, heißt es etwa in Novalis’ Fragmenten und Studien bis 1797. In: Novalis 1981 (wie Anm. 10), S. 293–321, hier S. 305. 26 Fehér 1977 (wie Anm. 12), S. 300.
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schaft beherrscht« gewesen, wobei sich die »Ideologie des Proletariats, sein Solidaritätsgedanke«, heute noch derart abstrakt darstelle, dass sie »– außer den Waffen des Klassenkampfs – keine wahre, alle Äußerungen des Lebens beeinflussende Ethik« zu bieten habe.27 Genau hier kommt die Lage des Intellektuellen zur Sprache: »Ist es aber wohl notwendig, daß derjenige, der außerhalb der Klassen steht – wozu der Umstand, daß die Ideologie unfruchtbar geworden ist, jeden wahren und ernsten Menschen zwingt –, zur Romantik oder zur Anarchie gedrängt werde?« Darin nun sieht Lukács, kurz vor seinem Eintritt in die Kommunistische Partei, die geschichtsphilosophische Bedeutung des Dostojewski’schen Werks: »[…] daß es für den aus dem Klassensein ausgeschlossenen Menschen, wenn er ein wahrhaftig wahrer Mensch ist, auch noch einen anderen Weg gibt: sich von aller sozialer Determiniertheit loszulösen«. Dostojewsks Welt spreche »unabhängig von jeder gesellschaft lichen Bindung« jene an, »die diese konkrete Seelenwirklichkeit bereits gefunden haben« oder sie doch mit »wahrer Intensität« suchen.28 Das Problem, das durch die häufige Betonung des Wahren und Wahrhaftigen gebannt werden soll, liegt darin, wie der Einzelne diese Intensität glaubhaft erreichen kann. Und damit hängt zusammen, was Fehér die »metaphysische Salbung des Kriminellen« bei Lukács nennt.29 Aber der Verbrecher setzt, bei Dostojewski wie bei Lukács, das Werk der Erlösung nur in Gang, er selber ist nicht der Erlöser. In seinen Erinnerungen beschreibt der ungarische Autor und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Ungarns József Lengyel, welchen Eindruck die Ende 1918 mit Lukács zur Partei gekommene Gruppe der ›Ethiker‹ – zu der auch Lukács’ Frau Jelena Adrejewna Grabenko, eine russische ›Terroristin‹, gehörte – auf ihn machte. Er sei ermahnt worden, erst einmal Die Brüder Karamasow zu lesen, und bekam des Weiteren zu hören: Wir Kommunisten sind wie Judas. Unsere blutige Arbeit ist, Christus zu kreuzigen. Aber diese sündhafte Arbeit ist zugleich unsere Berufung; Christus wird erst durch den Tod am Kreuze Gott, und das sei notwendig, um die Welt erlösen zu können. Wir Kommunisten also nehmen die Sünden der Welt auf uns, um dadurch die Welt zu erlösen. – Und warum müssen wir die Sünden der Welt auf uns nehmen? Auch darauf gab es eine Antwort, und zwar die sehr ›klare‹ Antwort aus Hebbels ›Judith‹: ›Wenn Gott zwischen mich und meine Tat eine Sünde stellt: wer bin ich, daß ich mit dir darüber hadern, daß ich mich dir entziehen sollte!‹30
27 28 29 30
Lukács 1918 (wie Anm. 20), S. 31. Ebd., S. 32 f. Fehér 1977 (wie Anm. 12), S. 314. József Lengyel: Visegráder Straße. Berlin; Budapest 1959, S. 244 f. Georg Lukács: Theorie des Romans
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Dieser Bericht mag von Ressentiments geprägt sein, die auch durch Lukács’ spätere Rolle im Stalinismus genährt wurden – Lengyel verbrachte viele Jahre in sowjetischen Lagern –, aber die der ganzen Gruppe zugeschriebene Deutung der Judas-Figur im Kontext Dostojewskis und zusammen mit der Stelle aus Hebbels Judith, die Lukács immer wieder anführte, kann als authentisch gelten. Judas und Judith werden als jüdische Gestalten aus christlicher Perspektive geradezu Identifikationsfiguren – und werden zugleich über diese Perspektive hinausgetrieben. Dem Beitritt zur Kommunistischen Partei im Jahr 1919 folgte der Einsatz als Politkommissar an der Front, als die Ungarische Räterepublik verteidigt werden sollte. Es scheint, als hätte sich Lukács mit Dostojewski und Hebbel gerade dafür gewappnet. Aus seinem späten autobiographischen Interview Gelebtes Denken ergibt sich jedenfalls dieser Eindruck, wenn er hier ohne Zögern zu Protokoll gibt, dass er acht Budapester Rotarmisten hinrichten ließ, weil sie vor dem Feind geflohen seien.31 In Geschichte und Klassenbewußtsein dient Dostojewski nur noch dazu, das Problem von ›Legalität und Illegalität‹ zu erörtern: Wenn es bei dem russischen Autor neben dem normalen Verbrecher, der die Gesetze, die er gebrochen hat, zugleich anerkenne, den metaphysischen Verbrecher gebe, der zu einer Seelenwirklichkeit gelange, die keinerlei Anerkennung von Staat und Recht mehr einschließe, so akzeptierten die »pseudo-marxistischen Opportunisten« den Staat wie der normale Verbrecher als überhistorische Notwendigkeit, während die »revolutionären Marxisten« ihn wie der metaphysische Verbrecher »schon während seines Bestehens als historische Erscheinung zu betrachten und zu bewerten« wüssten.32 Als das eigentliche Äquivalent des ungeschriebenen Dostojewski-Buchs kann aber das berühmte Kapitel über Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats verstanden werden. Als hätte er das Kapital von Marx nicht gelesen, in dem das Kommunistische Manifest gerade darin korrigiert wird, dass nicht der Arbeiter und auch nicht die Arbeit die Ware ist, sondern seine Arbeitskraft, geht Lukács offenbar davon aus, dass die Arbeiter sich selber als Ware verkaufen und darum »diese Ware die Möglichkeit besitzt, zu einem Bewußtsein über sich selbst als Ware zu gelangen«. Diese Negativität im Dasein als Ware sei nicht nur »die objektiv typischste Erscheinungsform der Verdinglichung, das struktive Vorbild für die kapitalistische Vergesellschaftung«, »sondern – eben deshalb – subjektiv der Punkt, wo diese Struktur ins Bewußtsein gehoben und auf diese Weise praktisch durchbrochen 31 Georg Lukács: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog. Hg. v. István Eörsi. Frankfurt/M. 1981, S. 105. 32 Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik [1923]. Darmstadt; Neuwied 1981, S. 407 f. Hervorhebung v. G. S.
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werden kann«.33 Auf diese Weise wird das Proletariat tatsächlich zu dem, was es bei Marx, trotz mancher ähnlicher Tendenzen, nie ganz werden konnte: zur christlichen Erlöserfigur. Und der Partei fällt die Aufgabe zu, die blutige Arbeit der Erlösung in die Wege zu leiten. Dadurch, dass die abstrakte Negativität – bei Marx nichts als die Form, abstrakte Arbeit zu leisten – auf den Eigentümer der Ware Arbeitskraft übertragen wird, wird auch dessen Existenz als unaufhebbar einzelnes Individuum durchgestrichen. Die Seele verschwindet in der Klasse. Deren Bewusstsein sei die »Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware«34 und bedeute, sich mit Haut und Haar dem Kollektiv zu verschreiben, ganz so wie der Arbeiter unterm Kapitalverhältnis aufgegangen sei in der Ware Arbeitskraft.
IV. An die Dialogform, die Lukács bereits in Die Seele und die Formen angewandt hatte, wollte er – wie er später berichtet – ursprünglich auch im Einleitungskapitel des Dostojewski-Buchs anknüpfen, aus dem schließlich die Theorie des Romans wurde. Gedacht war zunächst an »eine Kette von Dialogen«: […] eine Gruppe junger Leute zieht sich vor der Kriegspsychose ihrer Umgebung ebenso zurück wie die Novellenerzähler im ›Dekameron‹ vor der Pest; sie führen Gespräche der Selbstverständigung, die allmählich zu den im Buch behandelten Problemen, zu dem Ausblick auf eine Dostojewskische Welt überleiten.35
Diese Gruppe junger Leute lässt schon an die Gruppe denken, die der Kommunistischen Partei beitrat; schließlich verzichtete der Essayist auch auf die Dialogform – vielleicht weil sie den Ausblick auf eine neue Welt nicht freigab, noch zu sehr der »ironischen Bescheidenheit« entsprach, die in Die Seele und die Formen favorisiert worden war: Der Essayist winkt den eigenen, stolzen Hoffnungen, die manchmal dem Letzten nahe gekommen zu sein wähnen, ab – es sind ja nur Erklärungen der Gedichte anderer, die er bieten kann und bestenfalls die der eigenen Begriffe. Aber ironisch fügt er sich in diese Kleinheit ein, in die ewige Kleinheit der tiefsten Gedankenarbeit dem Leben gegenüber und mit ironischer Bescheidenheit unterstreicht er sie noch.36
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Ebd., S. 301 f. Ebd., S. 296. Lukács 2009 (wie Anm. 13), S. 7. Lukács 1971 (wie Anm. 5), S. 21. Georg Lukács: Theorie des Romans
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Wenn aber in der Theorie des Romans zuletzt die Formel von der »Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit« ausgesprochen wird wie das Urteil eines Propheten, ist es mit dieser ironischen Bescheidenheit endgültig vorbei. Das entspricht einerseits der durch den Weltkrieg veränderten Lage, andererseits entsteht der Eindruck, als ob Lukács damit alles wegwischen wollte, was er zuvor an den Romanen selbst und damit in der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hat – so wie er wenig später mit dem Eintritt in die Kommunistische Partei und den Studien über marxistische Dialektik die Bedeutung literarischer Texte selber beiseiteschob, weil sie sich zwischen ihn und die Tat gestellt hatte. Der Schlusspunkt, den Lukács mit Fichtes Urteil setzt, soll den Reichtum an essayistischen Erkenntnissen, die am Gegenstand des Romans gewonnen worden sind, devalvieren. Doch im Vergleich zu dem, was Lukács über die ästhetische Form der bürgerliche Gesellschaft zu sagen weiß, erscheinen schon die Erkenntnisse über die der seligen Zeiten geradezu dürftig; so schwärmerisch sie auch tönen, sie geben sich als bloße Negativfolie des Romans zu erkennen, an dem Lukács seine Kraft als Essayist erst bewähren kann. Er musste, so Adorno, »konzedieren, daß die Kunstwerke nach dem Ende der angeblich sinnerfüllten Zeiten unendlich an Reichtum und Tiefe gewonnen hätten«37. Die Gestalten der »transzendentale[n] Obdachlosigkeit« (30) sind es, woran sein kritisches Ingenium sich zeigte, nicht die »›Gesundheit‹ der Epopöe«, die er allerdings hier noch in Anführungszeichen setzt38. Die Historisierung, die er damit anstrebte, reichte tiefer als alle bisherige geistesgeschichtliche Betrachtung 39 und zog die innersten, formalen Bestimmungen der literarischen Gattungen mit hinein, von denen seit den frühen Essays von Lukács keine mehr unabhängig von der Geschichte betrachtet werden kann, soll ästhetische Analyse auch nur einigermaßen triftig sein.40 37 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7 (1970), S. 237. 38 In späterer Zeit sollten sie wegfallen; vgl. z. B. Georg Lukács: Gesunde und kranke Kunst? In: Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag. Berlin 1955, S. 243 f. 39 Nur in den frühen Schriften von Friedrich Schlegel, nicht zuletzt in dessen Studien zur griechischen Literatur (Friedrich Schlegel 1794–1802. Seine prosaischen Jugendschriften. Hg. v. Jacob Minor. Bd. 1: Zur griechischen Literaturgeschichte. Wien 1882), findet Peter Szondi dafür ein Vorbild (Szondi 1974 [wie Anm. 6], S. 103, 106, 128), und er bezeichnet den jungen Schlegel darum auch als »ersten Theoretiker der Moderne« (ebd. S. 112). 40 Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno und Peter Szondi haben hier auf je verschiedene Weise angeknüpft: Kracauer in seiner Theorie des Films von 1960 (Werke. Hg. v. Inka Mülder-Bach; Ingrid Belke. Bd. 3. Frankfurt/M. 2004, S. 364 f.); Benjamin in seiner Habilitationsschrift von 1928 über den Ursprung des deutschen Trauerspiels (Gesammelte Schriften. Bd. I.1. Frankfurt/M. 1974, S. 203–430, hier S. 238 f.) und in seinem Essay über den Erzähler von 1936 (Gesammelte Schriften.
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Soviel Lukács auch der Soziologie verdankt, insbesondere der Philosophie des Geldes von Georg Simmel und Max Webers Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus – seine Methode leitet er stärker von Cervantes als von diesen ab: »Es ist die tiefe Melancholie des historischen Ablaufs, des Vergehens der Zeit, die daraus spricht, daß ewige Inhalte und ewige Haltungen ihren Sinn verlieren, wenn ihre Zeit vorbei ist; daß die Zeit über ein Ewiges hinweggehen kann.« (79) Angeleitet von der Form des Romans bricht Lukács ganz bewusst mit der »einfühlenden oder bloß begreifenden Psychologie« in der Nachfolge Diltheys und spricht von einer »vollkommene[n] Umwandlung der transzendentalen Topographie des Geistes«, womit er zugleich die eigenen Möglichkeiten, das Weltzeitalter des Epos darzustellen, relativiert. Es bleibt eine einzige, »transzendentalpsychologische« Voraussetzung, die über die Epoche des Romans etwas auszusagen vermag: »Wir haben die Produktivität des Geistes erfunden« (25); so sei unsere Welt »unendlich groß geworden und in jedem Winkel reicher an Geschenken und Gefahren als die griechische, aber dieser Reichtum hebt den tragenden und positiven Sinn ihres Lebens auf« (25). Daraus folgt die »transzendentale Heimatlosigkeit« (93): »[…] in der Neuen Welt heißt Mensch-sein: einsam sein« (27). Der Held des Romans entstehe aus der »Fremdheit zur Außenwelt«, das Eigenleben der Innerlichkeit sei »nur dann möglich und notwendig, wenn das Unterscheidende zwischen den Menschen zur unüberbrückbaren Kluft geworden ist« (51). Die innere Form des Romans wird darum von Lukács als ein, in jedem einzelnen Werk wiederkehrender Prozess begriffen: »[…] die Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst«, das gefundene Ideal scheine »als Sinn des Lebens in die Lebensimmanenz hinein, aber der Zwiespalt von Sein und Sollen ist nicht aufgehoben« (62). Das Bd. II.2. Frankfurt/M. 1977, S. 438–465, hier S. 454 f.); Löwenthal in vielen kleineren, über Jahrzehnte hin entstandenen literatursoziologischen Schriften (Aufgaben der Literatursoziologie. In: Löwenthal 1984 [wie Anm. 8], Bd. 1, S. 328–349; Studien zum deutschen Roman des 19. Jahrhunderts. In: Löwenthal 1984 [wie Anm. 8], Bd. 2, S. 301–444; Literatursoziologie im Rückblick. In: Löwenthal 1984 [wie Anm. 8], Bd. 4, S. 88–105); Adorno in der Musikphilosophie (Bürgerliche Oper [1955]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 16 [1978], S. 24–39, hier S. 34), in der Kritik der Kulturindustrie (Schema der Massenkultur. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3 [1981], S. 299–335, hier S. 313) und in der Ästhetischen Theorie (Adorno 1970 [wie Anm. 38], S. 221, 237, 493); Peter Szondi in der Theorie des modernen Dramas von 1956 (Schriften I. Hg. v. Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 9–148, hier S. 15, 28, 70, 134) und in der erwähnten Vorlesung über Poetik und Geschichtsphilosophie (Szondi 1974 [wie Anm. 6], S. 100–289). Adorno hat zudem besonderen Wert darauf gelegt, die Theorie des Romans gegen die spätere Literaturkritik von Lukács zu wenden (vgl. Aufzeichnungen zu Kafka [1953]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10 [1977], S. 254–287, hier S. 279; Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman [1954]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11 [1974], S. 41–47, hier S. 47). Georg Lukács: Theorie des Romans
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bloße Erblicken des Sinnes ist »das Höchste, was das Leben zu geben hat, das einzige, was des Einsetzens von einem ganzen Leben würdig ist, das einzige, wofür sich dieser Kampf gelohnt hat« (62). Dass es mehr nicht sein kann, stiftet die Ironie, womit der Romanautor den Leidensgang der Innerlichkeit, die eine ihr angemessene Welt suchen muss und nicht finden kann, darstellt: Als »Selbstaufhebung der zu Ende gegangenen Subjektivität« ist sie »die höchste Freiheit, die in einer Welt ohne Gott möglich ist« (72). Was Lukács davor über die Gemeinschaft im Zeitalter der Epopöe geschrieben hat, gibt sich nun unumwunden als die Sehnsucht jener Innerlichkeit zu erkennen, soweit diese von der Ironie nicht mehr absorbiert werden kann. Der Autor verschweigt auch nicht, dass die Sehnsucht nach der Kindheit darin steckt; er spricht von der Epopöe als der »reine[n] Kinderwelt« (47). Der Roman aber sei die »Form der gereiften Männlichkeit im Gegensatz zur normativen Kindlichkeit der Epopöe« (55). Um das Verhältnis des Romanschriftstellers zu seinen Helden zu bestimmen, spricht Lukács auch von der »Melancholie des Erwachsenseins« (67). Damit knüpft die Theorie des Romans bewusst oder unbewusst an eine Bemerkung von Marx an. In der Einleitung von 1857, die er ursprünglich seiner Kritik der politischen Ökonomie voranstellen wollte und die 1903 aus dem handschriftlichen Nachlass in der Zeitschrift Die Neue Zeit publiziert wurde, fragt sich Marx ganz zuletzt, ob in der Moderne »nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie« verschwinden. Die Schwierigkeit liege »nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten. Ein Mann kann nicht wieder zum Kinde werden oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivetät des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhren Stufe streben, seine Wahrheit zu reproduzieren?«41 Wenn Lukács insgesamt fünfmal in der Theorie des Romans hervorhebt, der Roman sei die Form der »gereiften Männlichkeit«, klingt dies wie ein dringender Appell – als sollte damit der Gefahr begegnet werden, ›kindisch‹ zu werden. Diese Angst vor Regression lässt ihn Tolstoi kritisieren, bei dem er doch schon ein »Transzendieren des Romans zur Epopöe« (112) konstatiert: Bei diesem russischen Dichter ist es die »Nähe zu den organisch-naturhaften Urzuständen«, durch die allein er eine polemische Position zur Kultur gewinne; seine Werke strebten »einem Leben zu, das auf die Gemeinschaft gleichempfindender, einfacher, der Natur innig verbundener Menschen gegründet 41 Karl Marx: Einleitung [1857]. In: ders.; Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin/DDR 1981, S. 615–642, hier S. 641 f.
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ist, das sich dem großen Rhythmus der Natur anschmiegt« (113). Lukács ist es suspekt, dass die »als Ideal gesetzte und als seiend erlebte Natur in ihrem innersten Wesen als Natur gemeint ist und als solche der Kultur gegenübergestellt wird« (113 f.). Wenn er dann aber bei Dostojewski abbricht, bei dem die Natur selbst in der Seelenwirklichkeit, die naturnahe Gemeinschaft in der reinen Beziehung von Seele zu Seele verschwindet, mag ebenfalls die Angst ausschlaggebend sein, einer Regression nachzugeben, die »gereifte Männlichkeit« einzubüßen und aus der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit unmittelbar zur Unschuld der Kinder zu flüchten, aus deren Gestalten Dostojewski unvergleichliche Wirkung erzielen konnte. Diese Angst vor Regression zeigt sich auch in der Kritik an Fichte, die in einer der Notizen zum Dostojewski-Buch zu finden ist: Bei der Konzeption des Geschloßnen Handelsstaats, wie sie der deutsche Philosoph der in Paris ›vollendeten Sündhaftigkeit‹ entgegensetzte, räche sich, so Lukács, »das Fehlen des Begriffs von der Weltwirtschaft«: »[…] das Abschließen bleibt doch als Ideal«42. Der Roman, soviel hat Lukács deutlich machen können, ist die literarische Form des Weltmarkts, und die ganze Konzeption seiner Theorie lässt folgerichtig nationale Grenzen hinter sich und zielt auf Weltliteratur.
V. Die Theorie des Romans ist gegen die Katastrophenpolitik des Ersten Weltkriegs entworfen worden. Aber in ihr selber schlägt sich etwas von dieser Politik nieder, insofern Lukács den messianischen Impuls nur noch durch Dostojewski hindurch wahrnehmen und mit Fichte aussprechen kann. Der Impuls wird damit auf bezeichnende Weise verstärkt und so überwältigend, dass er über die Literatur hinausdrängt, den Gegenstand des essayistischen Schreibens, das Geformte, hinter sich lässt. Walter Benjamins geschichtsphilosophische These, wonach »uns« nur eine »schwache messianische Kraft mitgegeben« sei43, liest sich wie eine späte Antwort darauf. Marx nahm im Denken von Lukács schließlich die Stelle von Dostojewski ein, insofern er im Unterschied zu Simmel und Weber so gelesen werden konnte, dass dem Proletariat die Umsetzung jenes messianischen Impulses zufiel. Doch der Einfluss von Simmel und Weber verschwand damit 42 Lukács 1985 (wie Anm. 24), S. 119. 43 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [1942]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Frankfurt/M. 1974, S. 693–704, hier S. 694. Hervorhebung v. G. S. Georg Lukács: Theorie des Romans
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nicht einfach, sondern bildete – auch und gerade im Verdinglichungs-Kapitel von Geschichte und Klassenbewußtsein – ein Gegengewicht: So konnte das Marx’sche Kapital als politische Ökonomie jener »gereiften Männlichkeit« der bürgerlichen Gesellschaft gelesen werden, die den Roman hervorbrachte, und damit als notwendige Negation des romantischen Antikapitalismus: Eine revolutionäre Veränderung, die Katastrophenpolitik unmöglich machen sollte, darf darum auch nicht mehr auf die Wiederherstellung vorbürgerlicher Unmittelbarkeit spekulieren. Und so wie sich die Aufmerksamkeit in der Theorie des Romans viel eher auf die »Wanderung des problematischen Individuums«, den »Zwiespalt zwischen Sein und Sollen«, konzentrierte als auf die Dostojewski’sche Erlösungsperspektive, so im Verdinglichungs-Kapitel doch mehr auf den Krisencharakter der modernen Gesellschaft als aufs identische Subjekt-Objekt des Proletariats oder gar die Partei. Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Peter Szondi haben in ihren eigenen Arbeiten diesen Zusammenhang auf jeweils verschiedene Weise ausgelotet. Die Rezension, die Siegfried Kracauer 1920 anlässlich der Buchpublikation der Theorie des Romans schrieb, kann hier als wegweisend betrachtet werden. In Lukács’ Essay sieht Kracauer »unsere geschichtsphilosophische Situation mit einer unerhörten Eindringlichkeit erschaut«44, zu dieser Eindringlichkeit gehören für ihn vor allem die Analysen einzelner Romanwerke wie des Wilhelm Meister. Empfindlich reagiert der Rezensent aber, wo um der Typologie willen die Gehalte »individueller Wirklichkeit« durch Konstruktionen »vergewaltigt« werden: Bei dem folgerichtigen Fortgang von einer Leitidee zu den individuellen Tatbeständen offenbart sich immer wieder die unauflösbare, nicht zu rationalisierende Fülle der erlebten Mannigfaltigkeit, die, wie man es auch anfängt, für Menschen einer sinnleeren Welt wenigstens niemals in einen einheitlichen Gedankenplan gepreßt zu werden vermag.45
So verteidigt Kracauer die Intention der essayistischen Form gegenüber der konstruierenden Theorie und formuliert damit zum ersten Mal etwas wie das Programm der Kritischen Theorie. Auf deren Grundlage konnte dann Adorno den Essay als die Form begreifen, die dem »Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung« trage, »ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften«46. 44 Siegfried Kracauer: Georg von Lukács’ Romantheorie [1921]. In: ders.: Schriften. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Bd. 5.1. Frankfurt/M. 1990, S. 117–122, hier S. 120. 45 Ebd., S. 122. 46 Adorno 1974 (wie Anm. 2), S. 17.
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Kracauer ging nach wie vor davon aus, dass die Studie über Dostojewski, zu der die Theorie des Romans eine Einleitung bilden sollte, noch folgen würde, aber vor dem Hintergrund seiner Kritik jenes »einheitlichen Gedankenplans« erscheint ihm gerade die messianische Bedeutung, die dem russischen Dichter zugeschrieben wird, als zweifelhaft, da dessen Werk »zwar das ganze Reich der Seele zum sinndurchdrungenen Kosmos weitet, nicht jedoch jene breite, extensive Mannigfaltigkeit zur geschlossenen Totalität gestaltet, die nun einmal ein errungener Besitz Europas ist«.47 Indem er in dieser Deutung Dostojewskis eine erborgte Totalität erkennt, legt er die wahren messianischen Ursprünge der Theorie von Lukács offen und setzt das Wort von Novalis, das Lukács zitiert, ans Ende seines Kommentars: »Philosophie ist eigentlich Heimweh, der Trieb, überall zu Hause zu sein.«48 Es war diese »transzendentale Obdachlosigkeit«, die Lukács an den Texten der frühen Romantik beeindruckte, nur dass in dieser Wiedererkennung etwas Anderes mitzuschwingen begann, das er selbst verleugnete, in Kracauers Besprechung indessen leise angedeutet wird, wenn der »Aufenthalt in unserer gottverlassenen Welt« als »Verbannung« benannt wird.49 Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass sich bei Benjamin zunächst dieselben literarischen Affinitäten wie beim jungen Lukács zeigen: Zehn Jahre nach dessen Novalis-Essay schreibt er seine Dissertation über die frühe deutsche Romantik50; ein Jahr nach der Buchpublikation der Theorie des Romans seinen Dostojewski-Essay 51; die eigenen Überlegungen zur Epik bezeich47 Kracauer 1990 (wie Anm. 44), S. 122. 48 »Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu sein.« (Novalis: Aus dem ›Allgemeinen Brouillon‹ 1798–1799. In: Novalis 1981 [wie Anm. 10], S. 491.) 49 Kracauer 1990 (wie Anm. 44), S. 122 f. Im selben Jahr stützt sich Löwenthal in seiner Arbeit über Das Dämonische, die er als »negative Religionsphilosophie« für ein Seminar von Karl Jaspers schreibt, auf die Theorie des Romans, um den Impuls zu fassen, der über die Immanenz des »biologischen und soziologischen Lebens« hinausreicht und die Menschen dazu bringen kann, »in grundloser und nicht begründbarer Weise […] alle psychologischen oder soziologischen Grundlagen ihres Daseins« zu kündigen (Löwenthal 1984 [wie Anm. 8], Bd. 1, S. 207–223, hier S. 217). Ende der 1920er Jahre wird er auf genau diese Stelle zurückkommen, um an Heinrich Heine den »vorweggenommenen messianischen Trieb« zu beleuchten (Judentum und deutscher Geist. In: Löwenthal 1984 [wie Anm. 8], Bd. 4, S. 9–56, hier S. 22 f.). In seiner Literatursoziologie im Rückblick schrieb er, dass er die Theorie des Romans damals »fast auswendig kannte« (Löwenthal 1984 [wie Anm. 8], Bd. 4, S. 88–105, hier S. 89). Auch Herbert Marcuses erste große Arbeit folgte den Spuren der Theorie des Romans: Seine Dissertation über den Deutschen Künstlerroman von 1923 knüpft direkt an sie an (Der deutsche Künstlerroman. In: ders.: Schriften. Bd. 1. Frankfurt/M. 1978, S. 9–344, hier S. 9–19). 50 Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik [1920]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.1. Frankfurt/M. 1974, S. 7–122. 51 Walter Benjamin: »Der Idiot« von Dostojewskij [1921]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1. Frankfurt/M. 1977, S. 237–241. Georg Lukács: Theorie des Romans
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net er 1928 in einem Brief an Scholem als »eine neue ›Theorie des Romans‹, die sich Deines höchsten Beifalls und ihres Platzes neben Lukács versichert hält«52. Das ist mehr als eine ironisch höfliche Floskel: Benjamin wollte eine Öffnung der Theorie hin zum Judentum, dessen er sich in der Freundschaft mit Scholem ein Leben lang vergewissern konnte. Wenn er dann im großen Essay über den Erzähler von 1936 den Roman bestimmt und dabei auf Lukács Bezug nimmt, so geht er doch in allem stärker vom Erlebnis des Lesens aus – der Romanleser erscheint ihm etwa als das auf den Tod der Figuren spekulierende Subjekt53. Die Stelle aber, die in der Theorie des Romans Dostojewski einnimmt, ist hier für das Märchen reserviert, und in ihm scheint ein anderes Verhältnis zur Natur auf, die in Dostojewskis Seelenwirklichkeit so wenig Platz hat wie in Lukács Arbeitsbegriff; es ist ein Verhältnis, dem zugleich jede Zivilisationsfeindlichkeit widerstrebt, denn mit der Kindheit ist es nur in deren individuellster Erfahrung assoziierbar, der von Glück: »Der befreiende Zauber, über den das Märchen verfügt, bringt nicht auf die mythische Art die Natur ins Spiel, sondern ist die Hindeutung auf ihre Komplizität mit dem befreiten Menschen. Diese Komplizität empfindet der reife Mensch nur bisweilen, nämlich im Glück; dem Kind aber tritt sie zuerst im Märchen entgegen und stimmt es glücklich.«54 Am Beginn seiner Rezension meint man, Kracauer spiele auf Lukács’ Wendung zum Parteikommunismus an, wenn er deutlich macht, dass die Arbeiterbewegung nur die »Zerrissenheit unserer Zeit« bestätige: »[…] den durch sie erstrebten ökonomischen Bindungen vermag sie von sich aus die religiösen nicht hinzuzufügen, und so überlässt sie uns letzten Endes weiter der Einsamkeit und Heimatlosigkeit« (117).55 Dass sie es doch könnte, wollte 52 Brief vom 30.10.1928. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. 3. Hg. v. Christoph Gödde; Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1997, S. 420. 53 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows [1936]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Frankfurt/M. 1977, S. 438–465, hier S. 456. 54 Benjamin 1977 (wie Anm. 53), S. 458. 55 Kracauers Studie Die Angestellten von 1929 könnte, was das Verhältnis von Individuum und Kollektiv betrifft, als Kritik an Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein verstanden werden. Sie endet mit der Bemerkung, »daß das Kollektiv als solches eine Fehlkonstruktion sei« (Werke. Hg. v. Inka Mülder-Bach; Ingrid Belke. Bd. 1. Frankfurt/M. 2006, S. 213–310, hier S. 310). Benjamin hingegen preist zur selben Zeit Lukács’ Studie als das »geschlossenste philosophische Werk der marxistischen Literatur«: »Seine Einzigartigkeit beruht in der Sicherheit, mit der es in der kritischen Situation der Philosophie die kritische Situation des Klassenkampfs und in der fälligen konkreten Revolution die absolute Voraussetzung, ja den absoluten Vollzug und das letzte Wort der theoretischen Erkenntnis erfasst hat.« (Bücher, die lebendig geblieben sind [1929]. In: ders. Gesammelte Schriften. Bd. III. Frankfurt/M. 1972, S. 169–171, hier S. 171) In bestimmter Hinsicht versucht Benjamin nichts anderes, als auf der Position auszuharren, die Lukács zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen hat (die sogenannten Blum-Thesen von 1928 zeigen sich als
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Lukács mit seinem Eintritt in die Partei und mit seiner lebenslangen, auch durch das Jahr 1956 nicht wirklich gebrochenen Treue zu ihr unter Beweis stellen. Die Vorworte zu den späten Neuauflagen seiner beiden berühmten Werke aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Revolution geben darüber Auskunft: Es sei nur dann nützlich, die Theorie des Romans zu lesen, wenn man »die Vorgeschichte der wichtigsten Ideologien in den zwanziger und dreißiger Jahren intimer« kennenlernen wolle, im Übrigen trage sie bloß zur Steigerung der »Desorientiertheit« bei56; und Ähnliches formulierte er rückblickend über Geschichte und Klassenbewusstsein, indem er dieses Buch als Produkt »messianischen Sektierertums« ächtete.57 Für ihn hatte der Zweite Weltkrieg nur die Konstellation des Ersten wiederholt: »Wer rettet uns vor der westlichen Zivilisation?« Um seine Treue zur Partei nachträglich zu legitimieren, behauptet er nun: »[…] Stalin war die einzige existierende Anti-Hitler-Macht.«58 In seinen zahlreichen Schriften seit den 1930er Jahren, die im Bann der Volksfront standen59, setzt sich einerseits der problematische Zug der Theorie des Romans fort; nicht mehr in Dostojewski sondern in Gorki und Scholochow sieht Lukács nunmehr das Weltzeitalter des Epos angebrochen, weil an ihren Romanen das Individuum sich wie bei Hegel darstellen lasse: als bloßer Durchgangspunkt des Weltgeistes. Nicht mehr die Ironie, sondern die Wachsamkeit wird nun zum Charakteristikum großer bürgerlicher Kunst erklärt: Wachsamkeit gegenüber allen Erscheinungen der Dekadenz, die entweder zum deutschen Faschismus oder zum amerikanischen Imperialismus führten. In der Beschwörung einer fortschrittlichen bürgerlichen Vergangenheit erhält der literarische Text für Lukács aber auch noch eine andere Bedeutung: Er fungiert als Gegengift, um die stalinistische Herrschaft im sowjetischen Exil und nach der Rückkehr in Ungarn ertragen zu können, eine Art Asyl inmitten jener Einsam-
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Vorwegnahme der Volksfront-Taktik). Das wird insbesondere deutlich, wenn Benjamin als Beleg für seine Einschätzung von Geschichte und Klassenbewußtsein die Polemik hervorhebt, »die von den Instanzen der Kommunistischen Partei unter Führung Deborins gegen dies Werk veröffentlicht wurde« (ebd.). Lukács 2009 (wie Anm. 13), S. 16 f. Lukács 1981 (wie Anm. 32), S. 12. Ebd., S. 174. Adorno hat die Entscheidungsnot darin wahrgenommen: Die bei Lukács »spürbare Rückbildung eines Bewußtseins, das einmal zum fortgeschrittensten rechnete« verrate möglicherweise etwas über das »Schicksal der Theorie«, »deren Substanz auch objektiv einschrumpft in einer Verfassung des Daseins, in der es mittlerweile weniger auf die Theorie ankommt als auf Praxis, die unmittelbar eins wäre mit der Verhinderung der Katastrophe« (Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung. Zu Georg Lukács: ›Wider den mißverstandenen Realismus‹ [1958]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11 [1974], S. 251–280, hier S. 273.) Georg Lukács: Theorie des Romans
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keit und Heimatlosigkeit, von der Kracauer geschrieben hatte, die aber unter der Herrschaft der Sowjetunion repressivste Gestalt annahm, gerade weil sie zugunsten der Gemeinschaft, des messianisch aufgefassten Kollektivs, verdrängt werden musste. Gegen den »Extremismus des Ärgsten« (Hannah Arendt), dem Lukács in den politischen Argumentationen folgte60, suchte er Zuflucht beim Bildungsroman, der ihm noch Wirklichkeit verbürgte und zugleich Legitimation bot, und so schreibt er kaum verhüllt über sich selbst, wenn er Hegels falsche Versöhnung zu fassen sucht: Der Kampf um eine den Jugendträumen und Überzeugungen entsprechende Wirklichkeit wird von der gesellschaftlichen Gewalt abgebrochen, die Rebellen oft auf die Knie, oft zur Flucht in die Einsamkeit etc. gezwungen, aber die Hegelsche Versöhnung wird doch nicht von ihnen erpreßt. Allerdings, indem der Kampf mit Resignation endet, kommt sein Ergebnis dem Hegelschen doch nahe. Denn einerseits siegt die objektive soziale Realität dann doch über das bloß Subjektive der individuellen Bestrebungen, andererseits ist die von Hegel proklamierte Versöhnung schon bei diesem einer Resignation keineswegs völlig fremd.61
In der Theorie des Romans hieß es noch über Wilhelm Meisters Lehrjahre, deren Thema sei »die Versöhnung des problematischen, vom erlebten Ideal geführten Individuums mit der konkreten, gesellschaftlichen Wirklichkeit« (102), aber diese Versöhnung könne und dürfe »nicht ein Sichabfinden, noch eine von vornherein bestehende Harmonie sein« (102). Vielleicht hat Lukács sich daran erinnert, als Stalins Welt zu zerbrechen begann. Er nimmt seine berüchtigte Verurteilung von Kafkas Werk zurück, durch die er zuvor die Erfahrung der Verlassenheit von sich fernzuhalten suchte. Im Vorwort zum sechsten Band seiner Werk-Ausgabe hält er diesen Schriftsteller nicht mehr als abschreckendes Beispiel dem Realismus entgegen, sondern fügt ihn der Epoche der ›vollendeten Sündhaftigkeit‹ als deren stärksten Widerpart hinzu, weil er »eine ganze Periode der Unmenschlichkeit als Gegenspieler zum österreichischen (böhmisch-deutsch-jüdischen) Menschen der letzten Regierungszeit Franz Josephs« zur Darstellung habe bringen können.62 Es ist merkwürdig, dass Lukács gerade hier, bei der Betrachtung der literarischen Texte Kafkas, die nationalen Kategorien zerrinnen, auf die er in der 60 Dieses »Zwangsfolgern« im »Extremismus des Ärgsten« (Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1951]. München 1986, S. 729) zeigt sich am beklemmendsten bei einer Parteiversammlung von 1936: Georg Lukács u. a.: Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung. Hg. v. Reinhard Müller. Reinbek 1991. 61 Georg Lukács: Wider den mißverstandenen Realismus. Hamburg 1958, S. 122. 62 Georg Lukács: Vorwort. In: ders.: Werke. Bd. 6. Neuwied; Berlin 1965, S. 7–13, hier S. 9.
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Zerstörung der Vernunft eben erst die übelste antiamerikanische Polemik aufgebaut hat.63 Sieht sich Lukács nun – nachdem er von der sowjetischen Besatzungsmacht verschleppt und einige Zeit inhaftiert worden war – offenbar gezwungen, Kafka zum Realisten zu machen, taucht im philosophischen Hauptwerk der letzten Jahre neben der Ontologisierung der Arbeit, die als schlechtes Erbe von Geschichte und Klassenbewusstsein betrachtet werden kann, der »Begriff der Weltwirtschaft« wieder auf, wie um die Konsequenzen der kollektivistischen Arbeitsontologie zu bestreiten: Die materielle Grundlage »einer alles umfassenden Gattungsmäßigkeit des Menschen« werde allein im »Weltmarkt« geschaffen; die »Entstehung des Weltmarkts« sei die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass eine »jede Stummheit überwindende Gattungsmäßigkeit des Menschengeschlechts« überhaupt entspringen kann.64 In der Auseinandersetzung mit dem Spätwerk bildete sich schließlich die »Budapester Schule« – wie Lukács selbst den Kreis aus Schülern und Mitarbeitern bezeichnete, zu dem Ferenc Fehér, Ágnes Heller, György Márkus und Mihalji Vajda gehörten.65 Der vollständige Bruch mit aller parteikommunistischen Identifikation sollte in diesem Kreis bald unvermeidlich werden, das verstärkte aber zunächst noch den inneren Zusammenhalt zwischen dem 63 Bei dieser Schrift handelt es sich wohl um den absoluten Tiefpunkt von Lukács’ philosophischen Arbeiten. Die einstige Enttäuschung über die Stellungnahme des Lehrers und Förderers zum Ersten Weltkrieg kann dabei keinen anderen Ausdruck mehr gewinnen, als den, Simmel zum Philosophen der »Grundstimmung der imperialistischen Zeit« zu erklären (Die Zerstörung der Vernunft [1955]. Berlin; Weimar 1984, S. 358). Es gehört zur Misere von Lukács’ Arbeiten zwischen 1924 und 1956, dass es im Einzelnen schwer zu beurteilen ist, was jeweils darin als bloß taktische Wendung in den Konflikten innerhalb der Partei und des Staats gedacht war. Ágnes Heller hat in ihrer Autobiographie betont, dass zur Zeit der Fertigstellung der Zerstörung der Vernunft bereits die »Treibjagd« auf Lukács begonnen hatte, der damals stets mit László Rajk in Verbindung gebracht wurde. (Ágnes Heller: Der Affe auf dem Fahrrad. Eine Lebensgeschichte bearbeitet von János Kőbányai. Berlin; Wien 1999, S. 118–120; vgl. hierzu auch Lukács 1981, wie Anm. 31, S. 187–190.) 64 Georg Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hg. v. Frank Benseler. 1. Halbband. Darmstadt; Neuwied 1984, S. 689 u. S. 267 f. 65 Vgl. Frank Benseler: Nachwort. In: Georg Lukács: Zur Ontologie des gesellschaft lichen Seins. Hg. v. Frank Benseler. 2. Halbband. Darmstadt; Neuwied 1986, S. 731–748, hier S. 735 f. u. 745 f. Vor allem in Ágnes Hellers Theorie der Bedürfnisse bei Marx (Hamburg 1976) zeigen sich deutlich Bestrebungen, die Fixierung auf den Arbeitsbegriff aufzulösen in das »Bedürfnis« nach »geistiger Arbeit«, das seinerseits als gemeinschaftsbildend betrachtet wird, wobei gewisse Züge des romantischen Antikapitalismus des jungen Lukács wiederkehren, aber befreit von dessen antiwestlicher Ausrichtung. In den Schriften nach 1989 richtet Heller dann mit offenen Rückgriffen auf die Existenzphilosophie die »west liche Modernität« als zu bejahende »Kontingenz« – worin Lukács’ später Begriff der »stummen Gattungsmäßigkeit« des Weltmarkts fortwirkt – gegen alle Mythen von Gemeinschaft (vgl. dies.: Ist die Moderne lebensfähig?, Frankfurt/Main 1995). Georg Lukács: Theorie des Romans
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Lehrer und seiner ›Schule‹, wie sich einigermaßen überraschend im Verhältnis zu Judentum und Israel zeigte: »Früher hatte Lukács Feri [Ferenc Fehér] gegenüber geäußert: ›Wissen Sie, Genosse Fehér, ich habe über Auschwitz geschrieben und bin stolz darauf, kein einziges Mal das Wort Jude verwendet zu haben.‹ Worauf Feri mit Recht fragte: ›Und warum sind sie darauf stolz, Genosse Lukács?‹« Nach dem Sechstagekrieg, so schließt Ágnes Heller hier unmittelbar an, habe Lukács’ Gesicht jedoch »voller Zufriedenheit und Glück« gestrahlt: »Wie tapfer unsere Jungen waren, wie gut sie kämpften!«66 Hier war eine Macht, die ihm keine »metaphysische Weihe« abverlangte, so wie er sich zu ihr auch nur im Privaten bekennen konnte.
VI. »Zahlreiche Formulierungen brauchte man nur weiter zu denken, um ins Freie zu kommen«, schrieb Adorno in seiner berühmten Polemik gegen Lukács.67 Was dabei in direkter Anlehnung an Lukács’ eigene Hegelkritik als Erpreßte Versöhnung bezeichnet wird, war weniger der dogmatische Kern aller späten Schriften, von dem Adorno auch schon etwas in der Theorie des Romans wahrnahm, sondern eine gegenüber dem Frühwerk veränderte Stellung zum literarischen Text, die Lukács einnehmen musste, als er sich der Partei anschloss. Sie drückt sich nämlich nicht nur inhaltlich aus, darin, was er im einzelnen über Literatur schreibt – hier war es ihm ab und zu sogar möglich, etwas von den Einsichten der frühen Schriften zu bewahren –, sondern wie er es tut: Als suchte er in der fast schon ironischen Beliebigkeit von Wortwahl und Satzkonstruktion, in der prononcierten Achtlosigkeit der Formulierung, die mit der Literatur »souverän umspringt«68, eine Souveränität zur Schau zu stellen, die er doch nur der Staatsmacht verdankt, der er sich unterworfen hat, und zugleich seine Verachtung dafür zu demonstrieren, wie Benjamin und Adorno schreiben, und wie er selbst einmal geschrieben hatte. Das ist der Sinn jener berühmt gewordenen, verächtlichen Metapher vom »Grand Hotel Abgrund«, das »ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz, darunter auch Adorno«, bezogen habe.69 Lukács war sichtlich stolz darauf, im Ausgedinge der Staatspartei geduldet zu werden. Was er zur Zeit der Theorie des Romans noch als »Todsünde« begriff, jene Macht
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Heller 1999 (wie Anm. 63), S. 254. Adorno 1974 (wie Anm. 59), S. 276. Adorno 1974 (wie Anm. 59), S. 254. Lukács 2009 (wie Anm. 13), S. 16.
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mit metaphysischer Weihe zu versehen, wird nun dadurch kaschiert, dass der Philosoph die Literatur vorschiebt, um die Weihe zu bebildern. Nur einmal noch, in einer seiner letzten literaturkritischen Arbeiten, dem Aufsatz über Lessings Minna von Barnhelm70, durchbricht er diese Zwecksetzung, indem er in der möglichst getreuen Darstellung der Lessingschen Dialogkunst die eigene Sprache des Essays wiederzufinden hofft.
70 Georg Lukács: Minna von Barnhelm. In: Akzente 11 (1964), H. 2, S. 176–191. Georg Lukács: Theorie des Romans
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RELEK T ÜRE
Dirk Oschmann
Erzählendes Denken – Denkendes Erzählen Ernst Blochs Spuren
I. Seit Heinz Schlaffers Aufsatz Denkbilder hat sich die These durchgesetzt, dass die von Ernst Bloch 1930 unter dem Titel Spuren publizierten Texte vielleicht nicht als Bilder, wohl aber als ›Denkbilder‹ in Walter Benjamins Sinne aufzufassen wären. Zu solchen Denkbildern rechnet Schlaffer außerdem Benjamins eigene Kurzprosa der späten 1920er Jahre, Siegfried Kracauers gleichfalls 1930 veröffentlichte Studie Die Angestellten, Max Horkheimers 1934 pseudonym erschienene Dämmerung, Bertolt Brechts Geschichten vom Herrn Keuner sowie die in den 1940er Jahren entstandenen und 1951 erschienenen Minima Moralia Adornos.1 Schlaffer zufolge zeichnen sich alle diese Texte durch eine »zwitterhafte Gestalt« aus, die sich ihrer »inneren Zweiteilung« in »Bericht und Reflexion«2 verdanke oder auch einer »Vermischung von Abstraktion und Konstatierung«.3 Seine Suche nach einer »angemessenen Bezeichnung dieser Textgruppe« führt ihn schließlich zum Begriff des »Denkbildes«4, nachdem er Zuschreibungen wie Parabel, Aphorismus oder Maxime verworfen hat. Bestimmend für das Denkbild sei einerseits die Nähe zum Emblem: »Denn auch das Emblem charakterisiert, daß einem gegenständlichen Weltausschnitt, der ›pictura‹, eine ideelle Auslegung, die ›subscriptio‹, zugeordnet ist.«5 Andererseits sei das Denkbild durch die Vorgängigkeit von Reflexion und Theorie gegenüber der Anschauung geprägt, 1 Heinz Schlaffer: Denkbilder. Eine kleine Prosaform zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie. In: Wolfgang Kuttenkeuler (Hg.): Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland. Stuttgart u. a. 1973, S. 137–154, hier S. 139. – Zu Kracauers Buch Die Angestellten siehe den Beitrag von Mirjam Wenzel in diesem Band. 2 Schlaffer 1973 (wie Anm. 1), S. 138 f. 3 Ebd., S. 141. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 142. Ernst Bloch: Spuren
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weil hier »erst Reflexion das Konkrete konstituiert«.6 Mehr noch: »das Denkbild […] sieht die Theorie als den Schlüssel zu der ebenso alltäglichen wie befremdlichen Wirklichkeit selbst.«7 Solche Vorgängigkeit freilich scheint dem entschiedenen Bildcharakter dieser Texte keinen Abbruch zu tun. Die anhaltende Wirkmächtigkeit von Schlaffers These lassen neuere Publikationen erkennen, vor allem Gerhard Richters Buch über Thought-Images. Frankfurt School Reflections from Damaged Life, in dem Blochs Texte vom Ende der 1920er Jahre mit großer Selbstverständlichkeit ebenfalls als ›Denkbilder‹ qualifiziert werden.8 Sofern Richter Benjamin, Bloch, Kracauer und Adorno in den Fokus rückt, konzentriert er sich auf eine fast identische Autorengruppe als intellektuelle Konstellation, freilich um den Horizont des Dekonstruktivismus erweitert. Auch er stellt zunächst die formale Zwiegestalt heraus, indem er Denkbilder begreift »as conceptual engagements with the aesthetic and as aesthetic engagements with the conceptual, hovering between philosophical critique and aesthetic production«.9 Doch stärker als Schlaffer betont er die ästhetische Dimension der inneren Widerständigkeit dieser Form. Theorie und Exempel würden im Denkbild nicht einfach in Korrelation treten, vielmehr arbeite das poetische Moment in Denkbildern »both with and against conceptual thought«10; darum seien Denkbilder letztlich weder paraphrasierbar noch übersetzbar.11 Trotz Richters differenter Gewichtung von Reflexion und Anschauung bleibt auch für ihn der übergreifende Gattungsbegriff des Denkbildes weithin unproblematisch. Gegen diese prominente Deutungstradition, sämtliche literarisch-philosophischen Miniaturen der kritischen Theoretiker als Bilder zu verstehen, soll in der Perspektive der Textgelehrsamkeit an deren eminent textuellen Status erinnert und den narrativen Aspekten größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Frage »Text oder Bild?« ist im Falle Blochs klar zugunsten des Textes zu entscheiden. Im Rahmen der folgenden Relektüre der Spuren kann es naturgemäß nicht, wie vielfach in der Forschung zu beobachten12, um die 6 Ebd., S. 147. 7 Ebd., S. 150. 8 Vgl. Gerhard Richter: Thought-Images. Frankfurt School Writers’ Reflections from Damaged Life. Stanford/Cal. 2007, S. 1–41 u. 72–106. 9 Ebd., S. 2. 10 Ebd., S. 13. 11 Ebd., S. 19. 12 Vgl. etwa Helmut Reinicke: Gretes Fall ins Jetzt. Zu einem Text der Spuren. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Ernst Bloch. Text & Kritik. Sonderband. München 1985, S. 46–61; Jan Robert Bloch: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« In: ders. (Hg.): »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« Perspektiven der Philosophie Ernst Blochs. Frankfurt/M. 1997, S. 24–35.
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detaillierte Interpretation oder Kommentierung zuvor vereinzelter Texte und Textabschnitte gehen, sondern, gemessen an Benjamins Konzept des Denkbildes, um den grundverschiedenen Modus des Zugriffs im Ganzen. Diesem Plädoyer für die Textualität liegt die Beobachtung zugrunde, dass bei genauerem Hinsehen doch jeder der sowohl von Schlaffer als auch von Richter zusammengestellten Autoren in seinen Büchern etwas anderes macht, das sich nicht umstandslos unter Benjamins Begriff des Denkbildes subsumieren lässt. Adornos philosophische Miniaturen in den Minima Moralia kommen Benjamins Intention und Darstellungsverfahren der bildgesättigten theoretischen Schreibweise sicher noch am nächsten.13 Bei Kracauer wird es schon schwieriger, obwohl er gleichfalls einen ausgeprägten Willen zur Bilddimension von Wörtern und Texten zeigt. Im Vergleich mit diesen Autoren ist Bloch derjenige, der am wenigsten den supponierten Bildstatus der Texte verhandelt. Besonders deutlich werden die Unterschiede zudem an der von Benjamin, Bloch und Kracauer gemeinsam geführten Gattungsdiskussion über diese Texte. Alle drei sind ab Mitte der 1920er Jahre mit verwandten Projekten und Schreibstrategien befasst, die ein für die späte Weimarer Republik charakteristisches Repräsentationsmodell dezidiert »kleiner Prosa«14 entwerfen. Ihre neue Perspektive erwächst nicht nur aus einer weithin lebensphilosophisch grundierten Skepsis gegenüber Totalitäts- und Systematisierungsansprüchen, sondern legitimiert zugleich die damit verbundene Ablehnung der Großformen und ›großen Erzählungen‹. Insofern haben alle drei selbst Anteil an dem von Benjamin konstatierten »gewaltigen Umschmelzungsprozeß literarischer Formen«15, der unter dem Namen ›Moderne‹ firmiert. Im gegenseitigen Austausch werden probeweise die unterschiedlichsten Zuordnungen für die auf der Grenze von literarischer und philosophischer Rede angesiedelten Texte vorgeschlagen. In Briefen von Bloch an Kracauer ist teils von »Erzählungen« die Rede16, teils von »experimentellen Essays«17. Benjamin
13 Vgl. Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit – Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt/M. 1997; siehe ferner den Beitrag von Sigrid Weigel in diesem Band, S. 289–307. 14 Vgl. hierzu Dirk Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Münster 2006, S. 78– 89; Thomas Althaus u. a. (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen 2007, S. 123–279. 15 Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.2. Frankfurt/M. 21991, S. 683–701, hier S. 687. 16 Ernst Bloch an Siegfried Kracauer, Ende März/April 1928. In: Ernst Bloch: Briefe 1903– 1975. Hg. v. Karola Bloch. Bd. 1. Frankfurt/M. 1985, S. 303. 17 Ebd. Ernst Bloch: Spuren
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wiederum nennt sie Kracauer gegenüber »Grotesken«18 oder eben »Denkbilder«19, doch keiner der Begriffe setzt sich durch, weil keiner mehr zu passen scheint. Nichtsdestoweniger verweisen Termini wie ›experimenteller Essay‹, ›Groteske‹ oder ›Denkbild‹ auf die Hybridität der hier erarbeiteten Formen. Bloch fasst den Stand der Diskussion zusammen, wenn er an Kracauer schreibt: »Hätte man nur einen Namen für die neue Form, die keine mehr ist, und die vor allem die Gewalt ihres Gelingens daran hat, keine zu bleiben.«20 Die Schwierigkeit der Gattungsbestimmung bereitet Bloch freilich nur geringes Unbehagen, weil er sich mit Benjamin und Kracauer nicht nur über die Darstellungsverfahren einig ist, sondern auch darin, dass ihre Arbeit, wie er Kracauer mitteilt, »geschichtsphilosophisch fällig« sei.21 In seiner Rezension von Benjamins Einbahnstraße hält er 1928 fest, dass »die große Form abgestanden« sei, und »altbürgerliche Kultur mit Hoftheater und geschlossener Bildung blüht nicht einmal epigonal. Von der Straße, dem Jahrmarkt, dem Zirkus, der Kolportage dringen andere Formen vor, neue oder nur aus verachteten Winkeln bekannte, und sie besetzen das Feld der Reife.«22 Dies wertet er zugleich als eine Verabschiedung aller systemphilosophischen Prätentionen, wie sie durch Friedrich Nietzsche und Georg Simmel eingeläutet wurde. Die Eroberung einer neuen Formensprache auf allen Ebenen der Darstellung, für die noch der Name fehlt, halten die Autoren aufgrund eines umfassenden Krisenbewusstseins für unerlässlich, gemäß Benjamins grundsätzlicher Feststellung aus dem Trauerspielbuch, dass die Philosophie »mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung« stehe.23 Dessen Konzept des Denkbildes ist vor diesem Hintergrund lediglich eine von vielen Formen, den gewandelten lebensweltlichen Bedingungen einerseits und dem geschichtsphilosophischen Standort andererseits durch einen veränderten Modus der Repräsentation gerecht zu werden.
18 Walter Benjamin an Siegfried Kracauer, 20. April 1926. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. 3: 1925–1930. Hg. v. Christoph Gödde; Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1997, S. 146. 19 Vgl. Walter Benjamin: Denkbilder. In: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. IV.1, S. 305–438. 20 Ernst Bloch an Siegfried Kracauer, 6. Juni 1926. In: Bloch: Briefe (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 278. 21 Bloch an Kracauer, 6. Dezember 1929. In: ders.: Briefe (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 320. 22 Ernst Bloch: Revueform in der Philosophie. In: ders.: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M. 21992, S. 368–371, hier S. 368. 23 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. I.1, S. 203–430, hier S. 207.
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II. Um im Rahmen dieser Relektüre die Differenzqualitäten von Blochs Spuren gegenüber der Form des Denkbildes näher bestimmen zu können, müssen vorab dessen Merkmale skizziert werden. Der Begriff des Denkbildes gehört als eine Spielart der Sprachbildlichkeit zum umfangreichen Repertoire von Benjamins bildtheoretischen Reflexionen sowie zu seinen kontinuierlichen Bestrebungen, für die Darstellung sämtliche Bildpotentiale in Wörtern, Sätzen und Texten als Momente wirkungsästhetischer Strategien zu aktivieren und damit genau das zu ermöglichen, was im 18. Jahrhundert als ›anschauende Erkenntnis‹, als cognitio intuitiva, verhandelt und aufgewertet worden ist. Nach und nach erarbeitet er ein ganzes Spektrum an Bildlichkeit und »Bildräumen« – mit Erinnerungsbild, Traumbild, Denkbild, dialektischem Bild und Allegorie, um nur die wichtigsten zu nennen24 –, aus dem schließlich im Fragment gebliebenen Passagen-Werk der methodologisch radikale Grundsatz hervorgeht, er habe künftig »nichts zu sagen. Nur zu zeigen.«25 Diese vollständige Ausrichtung der Sprache auf ihre immanente Bildlichkeit26 resultiert aus einer ebendort formulierten maßgeblichen geschichtstheoretischen Behauptung: »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten«.27 Geschichtstheorie und Bildtheorie sind demnach unmittelbar aufeinander bezogen. Will man Geschichte und damit auch die eigene Gegenwart verstehen, muss man, so lässt sich Benjamins Argumentationsgang zusammenfassen, Bilder konstruieren, in denen Geschichte und Gegenwart anschaulich werden. Denn Vergangenheit und Lebenswelt lassen sich womöglich nicht erzählen, weil die Welt in der Moderne insgesamt unerzählbar geworden sein könnte, wohl aber lassen sie sich auf eine spezifische Weise bebildern, die immerhin zu denken geben kann. Diese Überzeugung liegt nicht allein dem Passagen-Werk als potentieller Archäologie des 19. Jahr24 Vgl. dazu Weigel 1997 (wie Anm. 13), S. 52–146; Burkhardt Lindner: Allegorie. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Bd. 1. Frankfurt/M. 2000, S. 50–94; Ansgar Hillach: Dialektisches Bild. In: ebd., S. 186–229; Detlev Schöttker: Benjamins Bilderwelten. Objekte, Theorien, Wirkungen. In: ders. (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste. Frankfurt/M. 2004, S. 10–29; Roger W. Müller Farguell: Städtebilder – Reisebilder – Denkbilder. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart; Weimar 2006, S. 626–642. 25 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. V.1, S. 574. 26 Zu diesem Problem vgl. grundsätzlich Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. 27 Benjamin: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. V.1, S. 596. Ernst Bloch: Spuren
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hunderts zugrunde, über dessen finale Gestalt freilich nur zu spekulieren ist, sie prägt auch bereits die teilweise parallel dazu entstandene Kurzprosa vom Ende der 1920er Jahre, mit den Denkbilder genannten Prosaminiaturen im eigentlichen Sinne,28 der Einbahnstraße und vor allem den autobiographischen Projekten der Berliner Chronik und der Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Insbesondere die beiden zuletzt genannten Texte suggerieren ein der Geschichtsschreibung verwandtes Unternehmen.29 Doch der Autor verfertigt hier keine Kontinuität evozierende Narration, eher eine, wiewohl diskontinuierliche »Bilder-Erzählung«.30 Denn er erzählt eine Reihe konkreter, in sich geschlossener Situationen, die sich im Vollzug der Lektüre gleichsam zu einer Bildergalerie der Jahrhundertwende zusammenfügen, so wie die Einbahnstraße eine facetten- und bilderreiche Bestandsaufnahme der späten Weimarer Republik darstellt. Im Vorwort der Berliner Kindheit betont Benjamin die entschiedene Intention auf den Bildcharakter der Darstellung. Er habe sich »bemüht, der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt«.31 Aufgrund mangelnder Großstadterfahrung in Deutschland existiere noch kein Fundus an solchen Bildern, über den man verfügen könnte und der folglich erst geschaffen werden müsse. Benjamin nimmt sich daher explizit vor, charakteristische Bilder verdichteter Erfahrung zu schaffen: Ich halte es für möglich, daß solchen Bildern ein eignes Schicksal vorbehalten ist. Ihrer harren noch keine geprägten Formen, wie sie im Naturgefühl seit Jahrhunderten den Erinnerungen an eine auf dem Lande verbrachte Kindheit zu Gebote stehen. Dagegen sind die Bilder meiner Großstadtkindheit vielleicht befähigt, in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren.32
Archetypische Bilder sind es, die er zur Vergegenwärtigung geschichtlicher Zusammenhänge zu finden oder zu entwickeln hofft. Alle genannten Texte folgen einem bildgeleiteten Darstellungsideal. Diese systematische Aufwertung des Bildes ist jedoch nicht nur als Reaktion auf
28 Vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. IV.1, S. 305–438. 29 Vgl. hierzu Gerhard Richter: Walter Benjamin and the Corpus of Autobiography. Detroit 2000. 30 Vgl. dazu auch Dirk Oschmann: Kleine Prosa – Kleine Phänomenologie. Benjamins Erkundungen der Lebenswelt. In: Althaus 2007 (wie Anm. 14), S. 235–251, hier S. 244–246. 31 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Fassung letzter Hand). In: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. VII.1, S. 385–432, hier S. 385. Hervorhebung v. D. O. 32 Benjamin: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. VII.1, S. 385.
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die gerade mit Benjamins Namen verbundene Krise des Erzählens zurückzuführen33, sondern auch darauf, dass er schon zuvor, nämlich ab Anfang der 1920er Jahre, das Bild als zentrales Medium der philosophischen Reflexion selbst zu bestimmen versucht. Dabei erscheinen das Denken in Bildern, das Denken durch Bilder sowie die intelligible Durchdringung von Bildkonstellationen und Bildfolgen aufs engste mit konkreten Fragen der Darstellung verschränkt, weil die Sachen im gleichen Maße wie die Bilder, die man sich von ihnen macht, in Abhängigkeit von den verschiedenen Darstellungsformen je verschieden zur ›Ausweisung‹ kommen. In der Erkenntniskritischen Vorrede des Trauerspielbuchs führt der Autor programmatisch das mittelalterliche Mosaik zur Rechtfertigung der von ihm gewählten Methode und Darstellungsform an. Dabei tritt zugleich die Verwandtschaft von bildgeleitetem Denken und bildgeleiteter Darstellung ans Licht: Wie bei der Stückelung in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch philosophische Betrachtung nicht um Schwung. Aus Einzelnem und Disparatem treten sie zusammen; nichts könnte mächtiger die transzendente Wucht, sei es des Heiligenbildes, sei’s der Wahrheit lehren. Der Wert von Denkbruchstücken ist um so entscheidender, je minder sie unmittelbar an der Grundkonzeption sich zu messen vermögen und von ihm hängt der Glanz der Darstellung im gleichen Maße ab, wie der des Mosaiks von der Qualität des Glasflusses. Die Relation der mikrologischen Verarbeitung zum Maß des bildnerischen und des intellektuellen Ganzen spricht es aus, wie der Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts sich fassen läßt.34
Unter der Voraussetzung, dass sich das Denken und seine Darstellung am Bild orientieren, ist es nur konsequent, dass Benjamin im Formexperiment der Einbahnstraße von 1928 die Möglichkeiten einer je spezifischen typographischen Repräsentation in Betracht zieht. Anders gesagt: Er sucht darin das Bilddenken durch das visuelle Element der Schrift- und Druckbilder noch stärker zur Geltung zu bringen35, ein Aspekt, den neuere Editionen meist vereinheitlichenden Druckstandards geopfert haben.36 Die einzelnen 33 Vgl. dazu die kompakte Sammlung Walter Benjamin: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort v. Alexander Honold. Frankfurt/M. 2007. 34 Benjamin: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. I.1, hier S. 208. 35 Mit einem glücklichen, Denk- und Schriftbild zusammenziehenden Begriff hat Burkhard Spinnen dies als »philosophische Emblematik« bezeichnet. Siehe das gleichnamige Kapitel zu Benjamins Einbahnstraße in Burkhard Spinnen: Schriftbilder. Studien zu einer Geschichte emblematischer Kurzprosa. Münster 1991, S. 251–315. 36 Einen authentischen Eindruck des unmittelbaren Bildcharakters von Benjamins kurzen Texten vermitteln nur die Erstausgabe (Walter Benjamin: Einbahnstrasse. Berlin 1928) sowie die Faksimilie-Edition (Berlin 1983). Ernst Bloch: Spuren
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Texte sollen also nicht nur der Erzeugung von inneren Bildern dienen, sondern von Beginn an schon äußerlich als in sich geschlossene Bildeinheiten wahrgenommen werden, welche den anschließenden Rezeptionsvorgang der Lektüre mit zu steuern vermögen. Diesem ursprünglichen Erscheinen eines Textes als Bild wiederum korreliert die thematische Konzentration auf das Sehen als einen privilegierten Modus der Erkenntnis, mit der sich Benjamin in die platonische Tradition einschreibt. Dass er hierbei bewusst auf die im Deutschen zu beobachtende Doppeldeutigkeit des Wortes ›sehen‹ setzt, dessen Semantik zwischen Wörtlichkeit und Bildlichkeit changiert, indem es sowohl einen direkten Wahrnehmungsvorgang als auch einen Erkenntnisprozess bezeichnen kann, versteht sich dann fast von selbst: Sehen, Erkennen und Denken konvergieren und verdichten sich im Medium des Bildes. Als Textgelehrter ist Benjamin demnach stets Bildgelehrter zugleich.
III. Bloch sieht auch sehr viel, hört aber noch besser. Das hat schon Adorno hervorgehoben: »Blochs Gehör, außerordentlich differenziert noch inmitten seiner tosenden Prosa, verzeichnet genau, wie wenig das, was anders wäre, in jenem biedern Begriff, dem purer Identität mit sich selber, sich erschöpfte.«37 Auf ein gutes Gehör kommt es freilich in der anthropologischen Perspektive Blochs noch aus anderen Gründen an, ja, damit verbindet er gleichsam ein anthropologisch fundiertes Wahrnehmungs- und Reflexionsprogramm, das wiederum auf dem Hintergrund der allgemeinen anthropologischen Wende der Philosophie in den 1920er Jahren38 zu begreifen ist. Bloch zufolge existiert der Mensch nicht nur im »Dunkel des gelebten Augenblicks«, wie eine berühmte Formulierung aus dem Geist der Utopie von 1918 lautet39, die später im Prinzip Hoffnung aufgegriffen und dort noch ausführlicher erläutert wird.40 Sondern auch im wörtlichen wie im übertragenen Sinne ist alles dunkel, was den Menschen umgibt, dunkel ist er jedoch vor allem sich selber, und kein noch so scharfes Auge vermag dieses Dunkel zu durchdringen, weil sich 37 Theodor W. Adorno: Blochs Spuren. Zur erweiterten Neuausgabe 1959. In: ders.: Noten zur Literatur I–IV. Frankfurt/M. 41989, S. 233–250, hier S. 236. 38 Vgl. Dirk Oschmann: Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers. Heidelberg 1999, S. 278–284. 39 Ernst Bloch: Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918. Frankfurt/M. 1985 [1985a], S. 371 f. 40 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen. Kapitel 1–32. Frankfurt/M. 1985 [1985b], S. 334–368.
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genau hier sein blinder Fleck befindet: »Wir haben kein Organ für das Ich oder Wir, sondern liegen uns selbst im gelben Fleck, im Dunkel des gelebten Augenblicks, dessen Dunkel letzthin unser eigenes Dunkel, uns Unbekanntsein, Vermummt- und Verschollensein ist […].«41 Im Kontrast zum Dunkel vergangener oder vergessener Vorgänge, in welche durch Erinnerung, Quellen und Funde immerhin Licht gebracht werden kann, erweisen sich »Augenblicks- und Zukunftsdunkel«42 als von kategorial anderer Qualität, da sie für den Einzelnen gänzlich undurchdringlich bleiben: »Nicht das Fernste also, sondern das Nächste ist noch völlig dunkel und ebendeshalb, weil es das Nächste, das Immanenteste ist; in diesem Nächsten steckt der Knoten des Daseinsrätsels.«43 In solchem Dunkel liegt der Grund für die bereits in den Spuren auf Nietzsches Wegen getroffene Feststellung, dass »der Mensch etwas [ist], was erst noch gefunden werden muß«.44 Vom Geist der Utopie bis zum Prinzip Hoffnung bildet die Auseinandersetzung mit dem Dunklen als der Verborgenheit des Menschen vor sich selbst einen maßgeblichen Zug von Blochs Philosophieren, wo es sich als Verschränkung von Anthropologie, Ästhetik und Erkenntnistheorie versteht. Davon sind die Spuren, welche trotz der »Omnipräsenz des Ästhetischen«45 und des generell »erzählenden Duktus von Blochs Philosophie«46 im gesamten Œuvre das einzig wahrhafte Erzählwerk des Philosophen darstellen, nicht ausgenommen. Schon auf der ersten Seite tauchen mehrere Hinweise auf die allgegenwärtige Dunkelheit auf: »An uns selbst sind wir noch leer. So schlafen wir leicht ein, wenn die äußeren Reize fehlen. Weiche Kissen, Dunkel, Stille lassen uns einschlafen, der Leib verdunkelt sich.« (11) Das konkrete Dunkel verbirgt die Dinge ebenso, wie es den Menschen noch mehr als gewöhnlich vor sich selbst verbirgt. Bündig kommt das auch im Abschnitt »Dunkel an uns« zur Sprache: »Was wir jetzt und hier haben, merken wir wohl am wenigsten.« (97). Überhaupt ist das ganze Buch durchzogen von Berichten und Bemerkungen über das Dunkel, in welchem der Mensch zwangsläufig lebt, prominent in dem Passus über die Motive der Verborgenheit:
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Bloch 1985a (wie Anm. 39), S. 371 f. Bloch 1985b (wie Anm. 40), S. 346. Ebd., S. 341. Ernst Bloch: Spuren. Frankfurt/M. 51987, S. 32. Alle weiteren Angaben aus diesem Buch erfolgen unter Angabe der Seitenzahl in Klammern im laufenden Text. 45 Achim Kessler: Ernst Blochs Ästhetik. Fragment, Montage, Metapher. Würzburg 2006, S. 9. Siehe auch Klaus L. Berghahn: »›L’art pour l’espoir‹. Literatur als ästhetische Utopie bei Ernst Bloch. In: Arnold 1985 (wie Anm. 12), S. 5–20; Horst Hansen: Die kopernikanische Wende in die Ästhetik. Ernst Bloch und der Geist seiner Zeit. Würzburg 1998. 46 Adorno 1989 (wie Anm. 37), S. 242. Ernst Bloch: Spuren
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Erst recht vor anderen können wir fast immer nur scheinen. Zuweilen durchscheinen, aber es bleibt fraglich, ob auch dies Halbe, Werdende stimmt. Denn nicht nur das Jetzt ist noch dunkel, in dem wir uns jeweils befinden. Sondern es ist eben vor allem dunkel, weil wir uns als Lebende in diesem Jetzt befinden, es ganz eigentlich sind. (121)
Was hat nun aber das Nachdenken über das Dunkel mit dem gattungstheoretischen Problem des Denkbildes zu tun? Wo es dunkel ist, bedarf es eines scharfen Gehörs, und gerade verglichen mit dem Auge erweist sich das Ohr als der immer wache Sinn, der den Menschen auch im Schlaf vor Unheil zu bewahren vermag; noch im »Dunst des grade Gelebten« (97) verspricht das Ohr ein Minimum an Orientierung. Sofern er prinzipiell im Dunkeln lebt, kann es vom Menschen keine Bilder geben, auch keine Denkbilder. Daraus zieht Bloch früh schon die methodische und in einem weiteren Schritt die darstellungstechnische Konsequenz, das Ohr gegenüber dem Auge zu privilegieren. Anders gesagt: Bei Bloch ist der Mensch immer mehr Ohr als Auge. Dadurch ordnet sich der Philosoph nicht in die Tradition Platons ein, sondern in diejenige Herders, der das Auge als lediglich »kalten Beobachter«, das Ohr hingegen als den »wärmsten« Sinn bezeichnet, welcher zugleich am tiefsten in das Innere des Menschen führt.47 Seit jeher dient das Auge als Organ der Distanzierung, das Ohr hingegen als Organ, das Nähe schafft. Das Nächste zu verstehen, auch als ein In-sich-hinein-Horchen, ist namentlich dann angezeigt, wenn in diesem dunklen Nächsten gar der bereits zitierte »Knoten des Daseinsrätsels« steckt. Daher ist es schon im Geist der Utopie notwendig das Dunkel, das eine »Philosophie der Musik« nach sich zieht.48 An ihren Beginn stellt Bloch einen »Traum«, der die Vorzüge des Hörens gegen das nachlassende Sehen ausspielt: »Wir hören uns nur selber. Denn wir werden allmählich blind für das um uns herum.«49 In dieser Situation ist es allein der »Ton«, der dem Menschen die Richtung weist. Denn der Ton »zeigt 47 Im Vierten kritischen Wäldchen von 1769 schreibt Herder: »Das Ohr ist der Seele am nächsten – eben weil es ein inneres Gefühl ist.« Und weiter: »Das Auge […] bleibt immer ein kalter Beobachter; es sieht viele Gegenstände, klar, deutlich, aber kalt und wie von Außen. […] Das Gehör allein, ist der Innigste, der Tiefste der Sinne. Nicht so deutlich, wie das Auge ist es auch nicht so kalt: nicht so gründlich wie das Gefühl ist es auch nicht so grob; aber es ist so der Empfindung am nächsten, wie das Auge den Ideen und das Gefühl der Einbildungskraft. Die Natur selbst hat diese Nahheit bestätigt, da sie keinen Weg zur Seele besser wußte, als durch Ohr und – Sprache.« Johann Gottfried Herder: Viertes kritisches Wäldchen. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold u. a. Bd. 2. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt/M. 1993, S. 247–442, hier S. 355 und 357 Hervorhebung v. D. O. 48 Zur Rolle der Musik bei Bloch vgl. vor allem das Kapitel Bloch’s Dream, Music’s Traces in Richter 2007 (wie Anm. 8), S. 72–106 sowie Adorno 1989 (wie Anm. 37), S. 236–238. 49 Bloch 1985a (wie Anm. 39), S. 81.
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uns ohne fremde Mittel unsern Weg, unsern geschichtlichen innern Weg, als ein Feuer, in dem nicht die schwingende Luft, sondern wir selber anfangen zu zittern und den Mantel abzuwerfen.«50 Der Mensch bei Bloch ist wesentlich Ohr und Ton. Das unterstreicht auch eines der ersten Stücke in den Spuren unter dem Titel Singsang: Merkwürdig, wie das manche halten, sieht sie niemand. Die einen schneiden morgens Gesichter, noch andre tanzen sich eins, die meisten summen sinnlos vor sich hin. Auch in Pausen, beim Zahlen etwa, summen manche etwas, das man nicht versteht, das sie selber nicht hören, in dem aber viel darin sein mag. Da fallen Masken ab oder ziehen neue auf, je nachdem, närrisch genug ist die Sache. Allein sind viele etwas irr, sie singen ein Stück von dem, was früher mit ihnen los war und nicht fest geworden ist. Sie sind schief und geträumte Puppen, weil man sie gezwungen hat, noch schiefer und öder erwachsen zu werden. (12)
Im Dunkeln ebenso wie in unübersichtlichem Gelände bleibt einem folglich nichts übrig als zu hören und zu horchen, neben der Musik womöglich auf das, was einem erzählt wird – und genau davon handeln die Spuren. Dass Bloch sich für das Erzählen entscheidet, zeugt erstens davon, dass er sich von einer angeblichen Krise des Erzählens nicht irritieren lässt, und zweitens, in einem weiteren Schritt, davon, dass seiner Entscheidung nicht wie bei Benjamin ein kompensationslogisches Argument zugrunde liegt, sondern eines, welches das existentielle Sosein des Menschen zum Ausgangspunkt hat. Weil das Erzählen als problematisch erscheint, wechselt Benjamin den Schauplatz innerhalb einer der Erkenntnistheorie zugeordneten philosophischen Ästhetik und konzentriert sich fortan auf textuell zu erzeugende Bilder. Dagegen ist Blochs Modell weniger ästhetisch als vielmehr anthropologisch begründet. Sein Geschichtsverständnis organisiert sich nicht über Bilder, sondern über Geschichten als Teile eines verstreuten und disparaten Überlieferungsgeschehens.51 Der im Dunkel lebende Mensch erscheint bei ihm 50 Ebd. 51 Darin erblickt Jochen Hörisch zu Recht die besondere Leistung der Spuren: »Überzeugend wird [Blochs Werk], wenn es – wie paradigmatisch in den Spuren – Geschichten von unvermittelbaren Differenzen erzählt und diese Differenzen für lohnend und gut befindet.« Jochen Hörisch: »Knappes Raunen«. Ernst Bloch über Haben und Sein. In: J. R. Bloch 1997 (wie Anm. 12), S. 104–107, hier S. 106. Mit Blick auf Blochs diskontinuierliches Erzählen von Geschichte in Geschichten urteilt Martin Zerlang ähnlich positiv: »Bloch versteht also – scheinbar paradox – die Geschichte als abgeschlossenen Prozeß, um ihre Brüche und Lücken zu finden. Damit sind die Spuren eine moderne, das heißt: dynamische Spielart der vor-modernen Geschichtsschreibung.« Martin Zerlang: Ernst Bloch als Erzähler. Über Allegorie, Melancholie und Utopie in den Spuren. In: Arnold 1985 (wie Anm. 12), S. 61–75, hier S. 64. Ernst Bloch: Spuren
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als homo narrans – daher rührt auch sein Erzählhabitus und die von ihm gepflegte, aus der Mündlichkeit52 kommende Ursprünglichkeit der Erzählformen. Im Unterschied zu Benjamin setzt er nicht auf das Sehen und Durchdenken von Bildern, die als Texte nur erscheinen, sondern auf das Hören und Durchdenken von Geschichten, die sich in Spuren abgezeichnet haben. Von Anfang an spricht er im gleichnamigen Buch vom Hören, Horchen, Aufhorchen, Aufmerken, Lauschen, von Stille, Ton, Laut, Geräusch und dergleichen mehr. Das ganze semantische Feld des Hörens wird ausgeschritten bis zu dem Punkt, wo ›Hören‹ und ›Gehören‹ wieder in einen unmittelbaren Zusammenhang rücken: »Ist die Geschichte nichts, sagen die Märchenerzähler in Afrika, so gehört sie dem, der sie erzählt hat; ist sie etwas, so gehört sie uns allen.« (127) Dergestalt zeichnet sich bei Bloch eine »Phänomenologie der Aufmerksamkeit« ab, die sich auf das Ohr als maßgebliches organon der Erkenntnis stützt.53 Blochs Spuren gliedern sich in fünf unterschiedlich lange Kapitel, von denen vier Überschriften tragen: Lage, Geschick, Dasein und Dinge. Untereinander verwandt sind sie im durchgängig erzählenden Gestus sowie in einer Mikrologie der Gegenständlichkeit, also im Fokus auf das von Bloch, Benjamin und Kracauer geteilte Anliegen der lebensweltlichen Konkretion. Im Zuge dessen treten Fundamentalansprüche zugunsten einer erkenntnistheoretischen Selbstbescheidung zurück, die sich analog zum phänomenologischen Schlachtruf ›Zu den Sachen!‹ mehr aufs Phänomenale richtet.54 Die kleine Erzählform erwächst als darstellungstechnische Konsequenz aus dem Bestreben, die von den Dingen hinterlassenen unscheinbaren Spuren adäquat zu repräsentieren. Im Sinne von André Jolles sind es kleine, ›einfache Formen‹, die Bloch sich zunutze macht: Sprichwörter, Märchen, Legenden, Sagen, Anekdoten, Witze, Mythen, Spuk- und Exempelgeschichten. Sie alle werden, oftmals zum Zwecke des Staunens und der gezielten Irritation, aber auch der Belehrung, erzählt. Oder genauer: Sie werden vom Autor, der hierbei das Erzählen selber häufig miterzählt, wiedererzählt und als Symptome der menschlichen Verfasstheit gedeutet.
52 Dieser Zug zum Mündlichen ist so auffällig, dass Adorno Blochs Denken selbst als eine im Kern »gesprochene Philosophie« bezeichnet hat. Adorno 1989 (wie Anm. 37), S. 236. Zur Inszenierung von Mündlichkeit in den Spuren vgl. auch Zerlang. In: Arnold 1985 (wie Anm. 12), S. 70. 53 Vgl. hierzu besonders das Kapitel »Medialer Widerhall der Stimme« in Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt/M. 2004, S. 186–204. 54 Vgl. dazu Dirk Oschmann: Kracauers Ideal der Konkretion. In: Dorothee Kimmich; Frank Grunert (Hg.): »Denken durch die Dinge«. Siegfried Kracauer im ästhetisch-philosophischen Diskurs der Zwanziger Jahre. München 2009, S. 29–46.
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Der Rezipient kann die einzelnen Abschnitte als jeweils in sich geschlossene Einheiten betrachten, was deren Lesart als ›Denkbilder‹ begünstigen dürfte. Er kann sich freilich auch auf die Gesamtkomposition des Buches einlassen und mit offenen Ohren ihres Tons sowie ihrer spezifischen Rhythmisierung inne werden, die sich sowohl aus der Kombination kürzerer und längerer Texte als auch aus dem permanenten Gattungswechsel der einzelnen kleinen Formen ergibt. Der wichtigste, gleichermaßen die Intention wie die Verfahrensweise beschreibende Text in den Spuren entwickelt den Zusammenhang von Erzählen, Hören und Aufmerken explizit. Aufgrund seiner Relevanz sei dieser komplexe und im Grunde lehrbuchhafte Merksatz vollständig zitiert. DAS MERKE Immer mehr kommt unter uns daneben auf. Man achte grade auf kleine Dinge, gehe ihnen nach. Was leicht und seltsam ist, führt oft am weitesten. Man hört etwa eine Geschichte, wie die vom Soldaten, der zu spät zum Appell kam. Er stellt sich nicht in Reih und Glied, sondern neben den Offizier, der »dadurch« nichts merkt. Außer dem Vergnügen, das diese Geschichte vermittelt, schafft hier doch noch ein Eindruck: was war hier, da ging doch etwas, ja, ging auf seine Weise um. Ein Eindruck, der über das Gehörte nicht zur Ruhe kommen läßt. Ein Eindruck in der Oberfläche des Lebens, so daß diese reißt, möglicherweise. Kurz, es ist gut, auch fabelnd zu denken. Denn so vieles eben wird nicht mit sich fertig, wenn es vorfällt, auch wo es schön berichtet wird. Sondern ganz seltsam geht mehr darin um, der Fall hat es in sich, dieses zeigt oder schlägt er an. Geschichten dieser Art werden nicht nur erzählt, sondern man zählt auch, was es darin geschlagen hat oder horcht auf: was ging da. Aus Begebenheiten kommt da ein Merke, das sonst nicht so wäre; oder ein Merke, das schon ist, nimmt kleine Vorfälle als Spuren und Beispiele. Sie deuten auf ein Weniger oder Mehr, das erzählend zu bedenken, denkend wieder zu erzählen wäre; das in den Geschichten nicht stimmt, weil es mit uns und allem nicht stimmt. Manches läßt sich nur in solchen Geschichten fassen, nicht im breiteren, höheren Stil, oder dann nicht so. Wie einige dieser Dinge auffielen, wird hier nun weiter zu erzählen und zu merken versucht; liebhaberhaft, im Erzählen merkend, im Merken das Erzählte meinend. Es sind kleine Züge und andre aus dem Leben, die man nicht vergessen hat; am Abfall ist heute viel. Auch der ältere Trieb war da, Geschichten zu hören, gute und geringe, Geschichten in verschiedenem Ton, aus verschiedenen Jahren, merkwürdige, die, wenn sie zu Ende gehen, erst einmal im Anrühren zu Ende gehen. Es ist ein Spurenlesen kreuz und quer, in Abschnitten, die nur den Rahmen aufteilen. Denn schließlich ist alles, was einem begegnet und auffällt, dasselbe. (16 f.)
Das von den oben angeführten Autoren gesehene Gattungsproblem löst Bloch also für sich, indem er seine Sammlung kleiner Prosa Spuren nennt und damit nicht nur einen Verstehensmodus im Horizont von Epistemologie und Semiologie umreißt, sondern diesen auch gattungstypologisch auf Ernst Bloch: Spuren
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den Begriff bringt: »Es ist ein Spurenlesen kreuz und quer, in Abschnitten, die nur den Rahmen aufteilen.« Sofern diese Spuren ausschließlich erzählend in die Sprache geholt werden, entsteht das, was Gert Ueding treffend Blochs »Merkprosa« genannt hat.55 Und »gemerkt« werden soll hier etwas auf doppelte Weise, nämlich im Sinne eines Aufmerkens ebenso wie im Sinne eines erinnernden Aufbewahrens, wie es dem Erzählen als zentrale mnemotechnische Leistung von Beginn an zugeschrieben wurde. Blochs Interesse gilt dabei dem Kleinen, vermeintlich Nebensächlichen, Unscheinbaren und Vergessenen. Hieraus ergibt sich ein konstitutives Entsprechungsverhältnis von kleiner Sache und kleiner Erzählform. Dabei insistiert er auf dem narrativen Charakter der Darstellung. Im Mittelpunkt stehen eben »kleine Vorfälle als Spuren und Beispiele. Sie deuten auf ein Weniger oder Mehr, das erzählend zu bedenken, denkend wieder zu erzählen wäre; das in den Geschichten nicht stimmt, weil es mit uns und allem nicht stimmt.« Traditionell würde man womöglich von Fabeln, Exempelgeschichten oder moralischen Erzählungen sprechen, denn neben der kaum entwickelten Bildlichkeit unterscheidet vor allem ein stark didaktisches Moment – der Imperativ eines »DAS MERKE« lässt daran keinen Zweifel – Blochs kurze Texte von Benjamins Denkbildern, die in ihrem ästhetischen Sosein zunächst oftmals stumm bleiben.56
IV. Gattungstheoretisch differieren Spur und Denkbild aber noch in einer weiteren Hinsicht. Während Spuren, indem sie auf ein Vergangenes oder Abwesendes hindeuten, immer einen zeitlichen Verlauf aufweisen, ist das Denkbild, sofern es eben ein Bild ist, durch ein statisches Moment gekennzeichnet. Die Spur setzt in Bewegung, weil man ihr folgen muss, um sie zu verstehen, das Bild hingegen zwingt zum Innehalten. Zeitliche Verläufe aber, das weiß
55 Gert Ueding: Vorwort. In: Ernst Bloch: Fabelnd denken. Essayistische Texte aus der »Frankfurter Zeitung«. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1997, S. 7–12, hier S. 9. 56 Bekanntlich verwendet Benjamin ebenfalls den Begriff der Spur, allerdings nicht als Gattungsbegriff: »Spur und Aura. Die Spur ist die Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist die Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unserer.« Benjamin: Gesammelte Schriften (wie Anm. 15). Bd. V.1, S. 560. Zur Tradition des Begriffs der Spur vgl. Hans-Jürgen Gawoll: Spur. In: Joachim Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Darmstadt 1995, Sp. 1550–1558. Dass Blochs Spuren in dem Artikel nirgends Erwähnung findet, ist ein bemerkenswertes Zeugnis disziplinärer Blindheit.
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man seit Lessings medientheoretischen Überlegungen im Laokoon57, vermag das Erzählen besser zu repräsentieren als die bildliche, durchaus am Rande der Mortifikation angesiedelte Darstellung. Denn alles »Denken, das Spuren verfolgt, ist erzählend […].«58 Am Ende ist es nicht die Bildlichkeit oder das Konzept des Denkbildes, in dem sich Benjamin und Bloch begegnen, sondern es sind die ihre Darstellungen prägenden Momente innerer und äußerer Reflexivität, die beide Autoren stark machen, weil das Gesehene bei dem einen sonst ebenso blind und unverstanden bliebe wie das Gehörte undeutlich beim anderen. Und indem sie beide mit ihren außergewöhnlich variablen kleinen Prosaformen auch formalsprachlich die non-propositionalen Erkenntnispotentiale der Literatur zu aktivieren und auszuschöpfen suchen, vollziehen sie zugleich die performative Wende der Darstellung. Als Autoren stellen sie damit beide ein intellektuelles Vermögen unter Beweis, welches Schiller für das höchste gehalten hat: nämlich »darstellend denken« zu können.59
57 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: ders.: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 6. Darmstadt 1996, S. 7–187, hier S. 100–104. 58 Adorno 1989 (wie Anm. 37), S. 235. 59 Friedrich Schiller: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke; Herbert G. Göpfert. Bd. 5. Darmstadt 91993, S. 670–693, hier S. 681: »Aber von der Beschränktheit und Bedürftigkeit seiner Leser empfängt der darstellende Schriftsteller niemals das Gesetz. Dem Ideal, das er in sich trägt, geht er entgegen, unbekümmert, wer ihm etwa folgt und wer zurückbleibt. Es werden viele zurückbleiben; denn so selten es schon ist, auch nur denkende Leser zu finden, so ist es doch noch unendlich seltener, solche anzutreffen, welche darstellend denken können.« Ernst Bloch: Spuren
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RELEK T ÜRE
Susanne Zepp
Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis
Die Entstehung des Aufsatzes Montaigne und die Funktion der Skepsis, den Odo Marquard einmal als eine der »schönsten Abhandlungen des frühen Horkheimer«1 bezeichnet hat, lässt sich anhand des Briefwechsels mit Adorno nachvollziehen. In einem Brief vom 11. Januar 1938, der vornehmlich den Planungen der zu diesem Zeitpunkt unmittelbar anstehenden Überfahrt des Ehepaars Adorno von England nach New York gewidmet ist, verzeichnet Horkheimer: »Hier gibt es garnichts Neues, was vor unserer persönlichen Aussprache mitzuteilen wäre. Ich selbst suche, soweit es überhaupt möglich ist, Zeit zu gewinnen, um den Montaigne-Aufsatz zu starten.«2 Aus dem Antwortschreiben Adornos wird deutlich, dass Horkheimer die Idee zu seinem Text über die Skepsis von Montaigne bereits im Herbst 1937 mit Walter Benjamin besprochen hatte.3 Horkheimer und seine Frau waren von New York aus im August 1937 zu einer mehrwöchigen Europareise aufgebrochen, auch, um der Hochzeit von Adorno und Gretel Karplus am 8. September 1937 in London beizuwohnen. Vor und nach der Hochzeit hatte sich Horkheimer in Paris aufgehalten und war dort auch mit Benjamin zusammengetroffen. Benjamin wiederum hatte Adorno offenbar von diesen Gesprächen erzählt, und so bemerkte Adorno in seinem Brief: »Vom Montaigne hat mir Benjamin kurz berichtet; die Idee finde ich ausgezeichnet, meine aber, sie müßte gerade die Rezeption Montaignes in erheblichem Maße berücksichtigen, in der Skepsis gegen die Skepsis sind wir völlig einig.«4
1 Odo Marquard: Sola divisione individuum. Betrachtungen über Individuum und Gewaltenteilung. In ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien. Stuttgart 2004, S. 68–90, hier S. 69. 2 Theodor W. Adorno; Max Horkheimer: Briefwechsel 1927–1969. Bd. 4.II: 1938–1944. Hg. v. Christoph Gödde; Henri Lonitz. Frankfurt/M. 2004, S. 10. 3 Brief vom 19. Januar 1938. In: ebd., S. 15. 4 Ebd. Hervorhebung im Orig. Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis
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Der Text über die Funktion der Skepsis bei Montaigne wurde 1938 im Jahrgang VII der Zeitschrift für Sozialforschung bei Félix Alcan in Paris publiziert. Horkheimers Aufsatz ist insofern bedeutsam, als er die Befassung mit der Ausprägung moderner Skepsis bei Montaigne nutzt, um den aus seiner Sicht ganz anders gelagerten Impuls der Kritischen Theorie zu formulieren, die »aus der Einsicht in die Schlechtigkeit des Bestehenden und in die Vergänglichkeit der Erkenntnis keinen antitheoretischen Absolutismus« mache, sondern sich auch »bei pessimistischen Fragestellungen von dem unbeirrten Interesse an einer besseren Zukunft«5 leiten lasse. Diese Schlussworte von Horkheimers Text lassen erkennen, dass es sich bei dem Aufsatz nicht nur um einen allgemeinen Beitrag zur philosophischen Skepsiskritik handelt, sondern auch um einen Text, der im Dialog mit Montaigne und der Rezeption skeptischen Denkens die politischen Verwerfungen seiner eigenen Gegenwart thematisiert. Bereits die einleitenden Bemerkungen Horkheimers machen dies explizit: Er verknüpft die beiden Hoch-Zeiten skeptischen Denkens in der Spätantike und der Renaissance unmittelbar mit den Umbrüchen der jeweiligen Epochen: Bei den tiefen Unterschieden […] weisen die Erscheinungen des Übergangs doch gewisse Ähnlichkeiten auf. Beide Male finden auf dem Boden einer alten städtischen Kultur soziale Umschichtungen und Kämpfe statt. […] Ökonomischer Aufstieg und schwere Krisen wechseln ab, reich gewordene Bürger dringen in die alten Patrizierschichten ein, ja, depossedieren sie, alle sozialen Gegensätze differenzieren und verschärfen sich.6
Skeptisches Denken, so Horkheimer, emergiere stets in dunklen Zeiten. Dies gelte auch für die Konstellationen, in denen der Begründer der modernen Skepsis lebte und arbeitete; der Zustand Frankreichs nach den Bürgerkriegen habe dem des Deutschen Reiches im Dreißigjährigen Krieg geglichen. In diesen unsicheren Zeiten habe Montaigne ebenso wenig wie die Skeptiker der antiken Verfallsperioden Zuflucht im Glauben gesucht, seine Reaktion sei vielmehr ein Rückzug aus jeder Art von Unbedingtheit gewesen. Doch auch durch seine Weltkenntnis und staatsmännische Begabung habe sich Montaigne als Erneuerer der antiken Skepsis erwiesen; als Bürgermeister von Bordeaux sei er mustergültig objektiv verfahren. Montaignes philosophische Skepsis, so Horkheimer, habe einen weiten geistigen Horizont vorausgesetzt, sein Denken stehe für das Gegenteil von Engstirnigkeit. 5 Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis. In: Zeitschrift für Sozialforschung VII (1938), Reprint München 1980, Bd. 7, S. 1–54, hier S. 52. 6 Ebd., S. 1.
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Doch dann verweist Horkheimer auf den schon in der antiken Philosophie diskutierten Widerspruch zwischen skeptischem Denken und praktischem Handeln, also auf die Frage, wie der Skeptiker mit seiner Haltung das alltägliche wie das öffentliche Leben zu gestalten vermag. Bereits Diogenes Laertios hatte den Vorwurf der Dogmatiker wiederholt, dass die Skeptiker »das Leben unmöglich [machen], weil sie alles eliminieren, was Leben begründet«7. Im Grundriß der pyrrhonischen Skepsis des griechischen Arztes und Philosophen Sextus Empiricus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. wurde diesem Vorwurf entgegnet, dass ein Skeptiker seine Entscheidungen nach der alltäglichen Lebenserfahrung und den traditionellen Sitten und Gesetzen treffen solle: »Wir halten uns an die Erscheinungen [Phänomene] und leben undogmatisch nach der alltäglichen Lebenserfahrung, da wir gänzlich untätig nicht sein können.«8 Horkheimer beurteilte diesen Modus des Denkens als dem Wesen nach konservativ. Diese konservativen Züge träten bei Montaigne noch stärker hervor als in der antiken Tradition skeptischen Denkens. Nun hatte Sextus Empiricus die Methode der pyrrhonischen Skepsis als »die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen«9 charakterisiert. Diese bewusste Suche, jedem Urteil ein gleichwertiges Gegenurteil entgegenzustellen, ist die so genannte Isosthenie. Diese Strategie soll den Skeptiker in jeder Sachfrage zu dem Punkt bringen, an dem er widerstreitende Meinungen als gleichwertig akzeptiert. Durch diese Gleichwertigkeit zweier entgegengesetzter Meinungen wird es unmöglich, ein endgültiges Urteil zugunsten der einen oder anderen Meinung zu fällen. Die Epoché, die Urteilsenthaltung, entsteht aus der Einsicht, »daß wir über den vorgelegten Gegenstand einen unentscheidbaren Zwiespalt sowohl im Leben als auch unter den Philosophen vorfinden, dessentwegen wir unfähig sind, etwas zu wählen oder abzulehnen, und daher in die Zurückhaltung münden.«10 Horkheimer deutet Montaignes Epoché als einen Rückzug in die private Innerlichkeit und damit als einen Abweis von Verantwortung: »Das verantwortliche Denken gehört einzig jenen realistischen Sphären an, in ihnen erschöpft sich der Ernst, im übrigen will man sich gehen lassen.«11 Aus der Suche nach Seelenruhe, nach Ataraxie, die in der Antike 7 Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen, Buch 9, 104. Übers. u. hg. v. Fritz Jürß. Stuttgart 1998, S. 450. 8 Hier zitiert nach der von Malte Hossenfelder eingeleiteten und übersetzten deutschen Ausgabe: Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Buch 1, 23. Eingel. u. übers. v. Malte Hossenfelder. Frankfurt/M. 21993, S. 71. 9 Sextus Empiricus 1993 (wie Anm. 8), Buch 1, 8, S. 94. 10 Sextus Empiricus 1993 (wie Anm. 8), Buch 1, 165, S. 130. 11 Horkheimer 1980 (wie Anm. 5), S. 9. Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis
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das Ziel skeptischen Denkens war, seien in der neueren Skepsis Zerstreuung und eine behaglich ausgestattete Innerlichkeit geworden. Montaigne, so unterstreicht Horkheimer, habe zu einer sozialen Schicht in Frankreich gehört, die über die Mittel verfügte, ihr Privatleben erfreulich zu gestalten, während die Massen brutalere Lebensumstände zu bewältigen hatten. Deren Anpassung an die neuen Zustände habe sich durch eine Erneuerung des Christentums im Protestantismus und im nachtridentinischen Katholizismus vollzogen. Horkheimer verknüpft eine bestimmte Ebene des Protestantismus mit der Skepsis, denn auch hier habe sich eine Abwendung vor der Erkennbarkeit einer sinnvollen Ordnung der Welt ereignet, die mit Montaignes Kritik am Wissen übereinstimme – wenn auch unter anderen Vorzeichen. Beide verwerfen das Denken jedoch nur, soweit es zur gegebenen Ordnung in Gegensatz tritt, nicht die Wissenschaft als solche. Dennoch: Horkheimer sieht in Montaignes Haltung Züge eines bürgerlichen Geistes vorgeprägt, in dem Sinne, in dem die marxistische Gesellschaftsanalyse die bürgerliche Klasse und ihre Weltsicht versteht. An dieser Stelle findet sich ein unmittelbarer Bezug zur Gegenwart des Verfassers dieses Textes über Montaigne: Die Tendenz, die Wahrheit der Macht unterzuordnen, ist nicht erst im Faschismus aufgekommen; in der ökonomischen Situation des Bürgertums ebenso tief verwurzelt wie die freiheitlichen Züge, durchzieht der Irrationalismus die gesamte Geschichte der Neuzeit und beschränkt ihren Begriff der Vernunft.12
Horkheimers Text zeigt sich hier und an anderen Stellen – und möglicherweise auch in seiner Gesamtaussage – zutiefst von den Umständen seiner Entstehungszeit geprägt. Der philosophiegeschichtliche Impetus ist politisch in dem Sinne, dass hier der Rückblick auf das 16. Jahrhundert zugleich die Situation im Jahre 1938 einbezieht. Horkheimer versteht Montaignes Denken als Auslöser einer Tradition, die, so formuliert er es, von Descartes über Leibniz und Hume zu Kant führe: »So steckt Montaignes Denkart im Erkenntnisbegriff der neueren Philosophie«.13 Als positiven Gehalt der Skepsis erachtet Horkheimer die große Bedeutung, die dem Individuum im skeptischen Denken zukomme. Auch Hegel habe dies in seiner Analyse des Skeptizismus klar erkannt – die Menschen seien hier auf ihre eigenen Kräfte angewiesen. Doch Montaignes Ansicht von dem, was dabei zu erwarten sei, beurteilt Horkheimer als recht eingeschränkt und im Kontrast zur christlichen Sicht auf das Individuum als nachgeordnet.
12 Ebd., S. 15. 13 Ebd., S. 17.
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So nimmt Horkheimer in seinem Essay auch das Verhältnis von Skepsis und Religiosität historisch in den Blick. Während im 17. Jahrhundert vor allem die Gegensätze dieser Denkformen herausgestellt wurden, hätten sich die Unterschiede mit dem Übergang von der absolutistischen zur liberalistischen Periode abgeschliffen. Auch Religion sei zu einem Modus der Bejahung der bestehenden gesellschaftlichen Formen geworden: »Der merkbare Unterschied zwischen dem Handeln aus Gewohnheit und Herkommen bei innerer Reserve, das die Skepsis lehrt, und dem absoluten religiösen Anspruch geht in der liberalen Theologie verloren.«14 So entspricht aus Horkheimers Sicht das Verhältnis des liberalistischen Menschen zur Religion der skeptischen Denkart. Mit dem Verschwinden des Liberalismus ändere die Skepsis dann aufs Neue ihre Bedeutung und sehe sich einer Variante von Absolutismus gegenüber, den sie gelten lasse, der sich aber von dem des 16. und 17. Jahrhunderts unterscheide. Horkheimer bezieht sich damit auf die Gegenwart, in der aus seiner Sicht der Staat dazu tendiere, »Organ der stärksten kapitalistischen Gruppen zu werden«.15 Unter solchen Verhältnissen zeige sich eine gewisse Haltlosigkeit der Skepsis. Horkheimer geht es darum zu zeigen, dass der Rückzug auf das Ich im skeptischen Denken bereits in der bürgerlichen Demokratie über einen eher schmalen Raum verfüge – im totalitären Staat hingegen stelle es sich als Wahn der Skepsis heraus, dass sie trotz allem das Ich für einen sicheren Ort der Zuflucht halte. Das Ich bestehe bis in seine Nuancen hinein nur aus Wechselwirkung, die Meinung, etwas Festes, in sich Ruhendes an ihm zu haben, charakterisiert Horkheimer als bloßen Schein. Und so konstatiert er, dass die Freiheit des Urteils, die das Lebenselement der Skepsis bilde, nur durch die Freiheit des sozialen Ganzen Erfüllung finden könne, wozu im Unterschied zur skeptischen Distanz persönlicher Einsatz vonnöten sei. Unter prekären Bedingungen könne das Ich sich nur bewahren, indem es die Menschheit auch insgesamt zu bewahren suche. Horkheimer betont indes, dass die Epoché und die Suche nach innerer Ruhe für Montaigne nicht etwa ›frivol‹ gewesen seien – sich von geschichtlicher Unruhe frei zu halten sei im 16. Jahrhundert vielmehr ein fortschrittliches, der Lösung historisch gestellter Probleme förderliches Verhalten gewesen.16 Montaignes Urteilsenthaltung entbehre nicht der Solidarität mit der Menschheit. An dieser Stelle des Essays von Horkheimer wird deutlich, wie markant seine Skepsiskritik auf die eigene Gegenwart zielt:
14 Ebd., S. 25. 15 Ebd., S. 29. 16 Ebd., S. 30. Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis
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Im Frieden, den der liberale Skeptiker heute mit der autoritären Ordnung schliesst, äussert sich keine Praxis der Menschlichkeit, sondern der Verzicht auf sie. Der Faschismus protegiert nicht wie die absolute Staatsmacht jener Zeiten die wichtigsten sozialen Kräfte. Der Gehorsam, den Montaigne als guter Skeptiker gepredigt hat, galt einem Königtum, das mit reaktionären Gewalten im Streite lag. Der Gehorsam gegen die modernen Diktaturen, denen heute der Skeptiker sich anbequemt, ist die Gefolgschaft in die Barbarei.17
Während Montaignes Neutralität in den Hugenottenkriegen ein Rückzug in die Bibliothek gewesen sei, sei im Gegensatz dazu eine Neutralität im Kampf gegen die Führer und Bürokratien, ein Sich-Abfinden mit den Verhältnissen des autoritären Staats im 20. Jahrhundert »Teilnahme an der totalen Mobilmachung.«18 Aus der skeptischen Toleranz gegen die Freiheit des Gewissens bei Montaigne werde im 20. Jahrhundert der Konformismus mit dem Regime der Geheimpolizei. Horkheimer deutet den Wandel der Skepsis aus einer humanistischen Geistesverfassung zum reinen Konformismus als im »ökonomischen Prinzip«19 der Zeit angelegt. Während die Unabhängigkeit des Ichs, auf die sich der Skeptiker zurückziehe, in der Epoche Montaignes in der Freiheit des Individuums gründete, die jedes ökonomische Subjekt in einer Warenwirtschaft genieße, habe das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft eine andere Seite, deren Entfaltung im Kapitalismus die Geschichte beherrsche. Arbeit und Verfügung über Arbeitsmittel seien nicht mehr in einer Hand vereinigt, sondern sozial getrennt, auf verschiedene Klassen verteilt. Im gesellschaftlichen Resultat sei also jene Gleichheit verschwunden, und die zeitgenössische Skepsis sei nur mehr bereit, die Freiheit jedes Individuums zu respektieren, sofern es diese nicht durch die Wirksamkeit der ökonomischen Gesetze und ihre politischen Konsequenzen verliere. Durch diesen Widerspruch trage die moderne skeptische Gesinnung einen harten menschenfeindlichen Zug. Horkheimer zielt hier auf Denker seiner Gegenwart, die im skeptischen Modus auf die Zeitläufte blickten. Interventionen solcher Art spricht er eine weitreichende Wirksamkeit ab: Die Skeptiker, die ohne Theorie, rein im Namen des Zweifels gegen Rassen- und andere Irrlehren auftreten, sind Sancho Pansas, die sich als Don Quixotes verkleiden. Im Grunde wissen sie, dass sie gegen Windmühlen kämpfen. […] Andererseits hat ihr Feldzug sogar das Gute, dass in den Augen des Publikums die Wahrheit leicht als 17 Ebd., S. 31. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 33.
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auch so eine Irrlehre mit unterläuft. Der Skeptiker kennt keine Ideen mehr, er kennt nur noch Illusionen, die Unterschiede verwischen sich.20
Gerade angesichts der aktuellen Situation in Deutschland versage jedes skeptische Erklärungsmodell: Alle Motive, die man zur Erklärung der Verhältnisse höre, von einer vermeintlichen Begnadung des ›Führers‹ bis zum Phantasma einer ›jüdischen Weltgefahr‹, seien ohne Substanz; vielmehr sei es die zynische und begeisterte Skepsis des Faschismus selbst, die mit dem ›Führer‹ einen Mund besitze. So deutet Horkheimer den Faschismus als die unter bestimmten historischen Bedingungen konsequente Endform der bürgerlichen Gesellschaft. Und in dieser gesellschaftlichen Konstellation verfehle jede intellektuelle Skepsis ihr Ziel: Angesichts des Grauens, das während der gegenwärtigen Zersetzung einer historischen Lebensform der Menschheit ausbricht, sieht es aus, als sei neben der völkischen Mystik, die in ihrem Grunde einen skeptischen Nihilismus trägt, auch die Zeit der edleren Skepsis wiedergekommen, die in der Antike die letzte Auskunft der verzweifelnden einzelnen war. Aber die Geschichte ist inzwischen fortgeschritten, und die Menschen haben die Mittel erobert, auf der Erde das Glück einzurichten. Daher ist die Skepsis der Gebildeten, die schweigend ihren Frieden mit dem Bestehenden machen, heute nicht edler als die gemeine Skepsis der Mitläufer. Mit den heutigen Skeptikern käme Montaigne in Konflikt.21
Nach einer Deutung der Vorgeschichte der Zustände des Jahres 1938 anhand der Montaigne-Rezeption im 19. Jahrhundert wendet sich Horkheimer abschließend der bereits eingangs erwähnten Unterscheidung von Kritischer Theorie und skeptischem Denken zu. Die materialistische Dialektik, wie sie in der Kritischen Theorie enthalten sei, nehme im Unterschied zu Hegel die Einheit von Denken und Geschichte nicht hin, denn in der Gegenwart existierten reale historische Lebensformen, deren Irrationalität sich dem Denken bereits ergeben habe. Die Dialektik sei daher nicht abgeschlossen, vielmehr gehe das skeptische und kritische Moment des Denkens in das der konkreten historischen Aktivität über, anstatt sich auf das Ich zu beziehen. Infolge dieser Beziehung zwischen Denken und Geschichte sei es der Kritischen Theorie versagt, für sich selbst in ihrer Totalität das »rein logische Kriterium der kampflosen Sicherheit zu besitzen, auf dessen Suche als einem je schon Vorhandenen die Skepsis zum Nihilismus kommt.«22 Wenn man das Glück zum Prinzip mache, sei auch umwälzendes Handeln gefordert. Hierin bestehe der auf die Zukunft gerichtete Impuls der Kritischen Theorie. 20 Ebd., S. 36. 21 Ebd., S. 40. 22 Ebd., S. 50. Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis
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Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Horkheimers Montaigne-Aufsatz hat Odo Marquard im dreizehnten Band von Poetik und Hermeneutik einen Text veröffentlicht, der eine Entgegnung auf den 1938 publizierten Essay enthält.23 Marquard begegnet der Argumentation aus der Perspektive eines skeptischen Philosophen und versucht deshalb, Horkheimers Einwände gegen die Skepsis zu entkräften. Dabei verfolgt Marquard eine doppelte Strategie: Zunächst hält er Horkheimer entgegen, dass dieser das Festhalten der Skepsis am Individuum als eine Verteidigung der Verhältnisse deute, die das Individuum möglich machten. Im Gegensatz dazu argumentiert Marquard, dass die moderne Skepsis zugleich Verteidigerin des Individuums und der Wahrheit sei. Das Bündnis zwischen Skepsis und moderner, bürgerlicher Welt, das Horkheimer diagnostiziere, bestehe zwar, aber es spreche nicht gegen, sondern für die Skepsis. Denn die moderne, die bürgerliche Welt sei keine Unheilsgröße, sondern »eine Größe der maßvoll erfolgreichen Minderung der Übel: die bewahrenswerteste der uns historisch erreichbaren Welten. Der heutige Weltzustand ist nicht deswegen ungut, weil es zuviel, sondern deswegen, weil es zuwenig bürgerliche Gesellschaft in ihm gibt. Darum sollte man – konterkonformistisch – den Mut aufbringen, die moderne Welt – und das Individuum als entscheidendes Element in ihr – zu bejahen.«24 Der zweite kritische Impuls von Marquard richtet sich gegen die Geschichtsphilosophie; dabei wählt er Horkheimers Essay zum Ausgangspunkt einer an Marquards eigene Zeitgenossen gerichteten Invektive. Die heutige Variante der Geschichtsphilosophie wolle durch ihren Antimodernismus die moderne, bürgerliche Welt zugunsten eines postmodernen Reichs der Freiheit hinter sich lassen und sei deshalb bereit, das Individuum zu opfern. Marquard bezweifelt, dass diese Geschichtsphilosophie das Interesse an einer besseren Zukunft befördere; sie sei gut gemeint, aber eben zuweilen auf bedrohliche Weise illusionär. Die Entgegnung Marquards auf Horkheimers Text ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich und nicht zuletzt auch für die Rezeptionsgeschichte des Montaigne-Aufsatzes paradigmatisch. So treffend die auf die eigene, bundesrepublikanische Gegenwart im Jahre 1988 gerichteten Analysen Marquards gewesen sein mögen, so wenig stellt diese Entgegnung die historischen Umstände der Entstehungszeit von Horkheimers Text in Rechnung. Horkheimer hatte ja nicht einen allgemeinen Text über die moderne Skepsis verfasst, sondern einen – im Übrigen ebenso, wie Marquard dies fünfzig Jahre später 23 Odo Marquard: Sola divisione individuum. Betrachtungen über Individuum und Gewaltenteilung. In: Manfred Frank; Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität. München 1988, S. 21–34. Auch in: Marquard 2004 (wie Anm. 1). 24 Marquard 2004 (wie Anm. 1), S. 75.
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selbst tun sollte – an seine Zeitgenossen gerichteten Aufsatz geschrieben, an Intellektuelle, die die Ereignisse in der Welt des Jahres 1938 skeptisch, eben mit Urteilsenthaltung, betrachteten. Horkheimer zielt auf solche aus seiner Sicht unwahrhaftigen Formen des Widerstands, auf ein skeptisches Denken, dem das Falsche wie das Wahre als nichtig gilt. Weiterhin gründet Horkheimer seine Argumentation nicht auf einen unspezifischen Unwillen gegen die bürgerliche Gesellschaft, sondern verweist auf die zutiefst antizivilisatorische Kontur faschistischen Denkens und das Ende aller bürgerlichen Freiheiten im totalitären Staat, mit dem der skeptische Rückzug aufs Ich zur Illusion werde. Es ist aus den eingangs zitierten Passagen des Briefwechsels zu ersehen, dass der Essay Horkheimers Ende September 1937 im Entstehen begriffen war – zur gleichen Zeit absolvierte Benito Mussolini einen viertägigen Staatsbesuch in Deutschland mit Stationen in München und Berlin. Ende Oktober 1937 fiel die asturische Hafenstadt Gijón, der letzte Stützpunkt der Frente Popular in Nordspanien, an die Truppen von Francisco Franco. Der Essay entsteht also in einer Zeit, in der sich große Teile Europas eben nicht der bürgerlichen Gesellschaft, sondern dem Faschismus zugeneigt haben – dies ist ein Umstand, der 1988 in Marquards Entgegnung auf Horkheimer kaum Berücksichtigung gefunden hat. Darüber hinaus bleibt in der Rezeption des Textes noch eine weitere semantische Ebene ausgeblendet: Hork heimers Aufsatz wandte sich auch an diejenigen Zeitgenossen, die mit skeptischer Epoché auf die prekäre Lage der Juden in Europa blickten. Auch wenn der Essay von Horkheimer zunächst marxistisch argumentiert – daran hat sich auch die Entgegnung aus dem Jahr 1988 geheftet –, so ist er doch kein dogmatischer Text, sondern zeigt sich sehr hellhörig für das heraufziehende Unheil. Derjenige Satz, auf den Odo Marquard mit seiner Kritik Bezug genommen hat – dass es eine Illusion sei, das Ich für einen sicheren Ort der Zuflucht zu halten –, steht nicht allein. Der Passus aus Horkheimers Text lautet vollständig: Gerät das Individuum in die Klauen der Macht, so kann es nicht bloss vernichtet, sondern verdreht und umgestülpt werden, je nach dem Grad, in dem die chemische und psychologische Technik fortgeschritten ist. Es stellt sich als der Wahn der Skepsis heraus, dass sie trotz allem das Ich für einen sicheren Ort der Zukunft hält.25
Horkheimer legt damit im Jahre 1938 den Finger auf eine Stelle, die angesichts des in den darauf folgenden Jahren sich ereignenden barbarischen Zusammenbruchs der bürgerlichen Zivilisation zur fundamentalen Herausforderung jeder skeptischen Attitüde wurde: Diese büßt in extremen his25 Horkheimer 1980 (wie Anm. 5), S. 29. Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis
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torischen Konstellationen durch ein Bestehen auf Urteilsenthaltung moralische Qualität ein. Und eben darum geht es Horkheimer mit seinem Aufsatz: In Zeiten, in denen das Individuum Verantwortung nicht mehr selbst übernehmen kann, sondern an die Herrschaft eines totalitären Staates abtreten muss, sind innerer Rückzug und Urteilsenthaltung kein fortgeschrittenes Verhalten, sondern prekär für Individuum und Gesellschaft. Zugleich wird in der Argumentation des Horkheimer-Essays auch eine weitere bedrohliche Konsequenz eines dezidiert durchgeführten skeptizistischen Relativismus nahegelegt: Eine entschiedene Isosthenie impliziert als Möglichkeit auch die schlichte Leugnung des Faktischen. Und so konstatiert Horkheimer am Ende seines Textes, was Marquard in seiner philosophisch konzisen, aber die historischen Umstände der Entstehung des Textes nicht einbeziehenden Entgegnung übersehen hat: »Erst in einer freieren Gestalt der Menschheit kann sich das Wort Montaignes erfüllen.«26 Mit anderen Worten: 1988 in der Bundesrepublik skeptisches Denken zu verteidigen war etwas anderes, als 1937/38 in London, Paris und New York skeptische Urteilsenthaltung zurückzuweisen. Aus heutiger Sicht sind beide Perspektiven Geschichte. Horkheimers Montaigne-Essay erscheint in Kenntnis der dramatischen Ereignisse, die auf das Erscheinungsjahr folgten, als weit mehr als ein Text, der die Frage nach der Lebenswirklichkeit und ihrer theoretischen Bewältigung, nach einer Überwindung der Entgegensetzung von Theorie und Praxis stellt. Der Essay ist ein Beleg für den diagnostischen Blick Horkheimers, der im Dialog mit dem Denken Montaignes die Ohnmacht der Zeitgenossen gegenüber dem heraufziehenden Unheil zu deuten vermochte.
26 Ebd., S. 52.
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Mirjam Wenzel
Von Buchstaben, Träumen und Vorräumen Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers
»Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken«,1 konstatierte Siegfried Kracauer, kurz nachdem seine Artikelserie über die Räume und Träume einer neuen beruflichen wie sozialen Schicht, Die Angestellten, im Dezember 1929 und Januar 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienen war. Sein gleichnamiges Buch mit dem Untertitel Aus dem neuesten Deutschland montiert »Zitate, Gespräche und Beobachtungen an Ort und Stelle«2 zu einem Mosaik exemplarischer Betrachtungen über die Lebenswelten von Kontoristinnen, Ladenmädchen, kaufmännischen Angestellten, Prokuristen, Verkäufern und Vertretern. In dem wenig später publizierten Essay Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes reflektierte Kracauer seine Eindrücke von den Betrieben, Arbeitsämtern und -gerichten, Vergnügungslokalen, Sportvereinen, Kaufhäusern und Ladenlokalen, die er für seine Studie aufsuchte, mit den Worten: »Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar«.3 Kracauer verstand die Räume, die das Leben der Angestellten umgaben, als Spiegel einer neuen Massengesellschaft. Er betonte gegenüber Adorno, dass die Bilder, die hier Gestalt annahmen, nicht etwa Träume eines verborgenen Kollektivs im Sinne Benjamins, sondern Träume der Gesellschaft selbst seien, also ein »Sein«, das in einer Inversion
1 Siegfried Kracauer: Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes (Frankfurter Zeitung vom 17. Juni 1930). In: ders.: Werke. Bd. 5.3. Hg. v. Inka Mülder-Bach u. a. Frankfurt/M. 2011, S. 249–257, hier S. 250. 2 Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: ders.: Werke. Bd. 1. Hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarb. v. Mirjam Wenzel. Frankfurt/M. 2006, S. 211–310, hier S. 213. 3 Kracauer: Werke, Bd. 5.3, S. 250. Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers
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der Marx’schen Formel, »durch deren Bewußtsein verhüllt« werde.4 Seine Studie Die Angestellten skizziert dementsprechend nicht nur die sozialen Konturen der Massengesellschaft, sondern beschreibt auch die Phantasmagorien, in denen sich die Wirklichkeit ihrer Protagonisten zeigt. Kracauers Exkursion in die fremden, nur scheinbar vertrauten Zwischenwelten der Berliner Großstadt setzt jenen Rat in die Tat um, den der Autor »dem Produktionsleiter einer bekannten Filmgesellschaft« im nämlichen Zeitraum erteilte: Gehen Sie nicht in den Busch, ziehen Sie nicht quer durch Asien. Bleiben Sie zu Hause. Rüsten Sie Forschungsexpeditionen in die noch unentdeckten einheimischen Dschungel aus. Zeigen sie etwa das Leben eines ganz gewöhnlichen kleinen Angestellten […], zeigen Sie […], wie der Glanz der Gesellschaft in Wirklichkeit beschaffen ist.5
Kracauers ethnographische Reise umfasste die Besichtigung von distinkten Orten wie etwa der Deutschen Bank, dem Arbeitsamt Berlin-Mitte, dem Berliner Landesberufsamt, dem Berliner Arbeitsgericht, den Betrieben von Siemens und AEG, den Versammlungsräumen des Afa- wie des GdA-Bundes und des Zentralverbands der Angestellten, dem Ballhaus Resi in der Blumenstraße oder dem Moka-Efti in der Friedrichstraße. Sie mündete in einem Bericht, der diese Orte zwar gelegentlich namentlich nachweist, jedoch ebenso häufig als prototypische Räume schildert. Das Buch Die Angestellten basiert auf Gesprächen mit etwa fünfundvierzig verschiedenen Interviewpartnern – unbekannten Angestellten und Beamten wie etwa dem Fräulein Dyenpuste oder Walter Frank, namhaften Repräsentanten verschiedener Angestelltenund Unternehmerverbände wie etwa Max Fürstenberg vom Allgemeinen Deutschen Bankbeamten-Verein oder Otto Suhr vom Afa-Bund, den Betriebsräten der Deutschen und der Dresdner Bank Fritz Hönicke und Adolf Wendt, dem Wirtschaftsfunktionär Fritz Demuth, dem kaufmännischen Direktor der AEG Eberhard Wolff, dem Parlamentarier Siegfried Auf häuser und anderen. Die meisten Interviewpartner gingen in die Studie als namenlose Vertreter ihrer Gattung, prototypische Gestalten oder solitäre Figuren ein. Kracauers Expedition in die Arbeitswelt des damaligen Deutschland unternimmt den Versuch, eine soziale Wirklichkeit zu entziffern, ohne diese
4 Siegfried Kracauer: Brief an Theodor W. Adorno vom 1. August 1930. In: Theodor W. Adorno; Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1966. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2008, S. 240 f., hier S. 241. 5 Siegfried Kracauer: Exotische Filme (Frankfurter Zeitung vom 28. Mai 1929). In: ders.: Werke. Bd. 6.2. Hg. v. Inka Mülder-Bach u. a. Frankfurt/M. 2004, S. 251–254, hier S. 253.
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begrifflich zu fixieren und in eine soziologische Terminologie zu überführen. Die in den Angestellten dargestellten Szenen basieren auf Beobachtungen und Gesprächen, die sich anhand der handschriftlichen Notizen auf einzelnen Zetteln zwar namentlich dechiffrieren, datieren und detailgenau rekonstruieren lassen, im Text jedoch häufig nicht als solche hervortreten. Kracauers Reflexionen stützen sich zudem auf die Lektüre diverser Angestelltenzeitschriften sowie eine genaue Kenntnis der einschlägigen Abhandlungen von Fritz Croner, Emil Lederer und Otto Suhr.6 Obwohl die soeben erschienenen Texte dieser Autoren den sozialwissenschaftlichen Bezugsrahmen abstecken, zeigt sich das Angestellten-Buch von deren Argumentationsweisen und methodischen Verfahren wenig beeindruckt. Die genuine Verbindung von ethnographischen Beobachtungen mit soziologischen und visuellen Studien sowie psychologischen Reflexionen, die das Buch kennzeichnet, macht vielmehr deutlich, in welchem Umfang Kracauer seinen eigenen Rat an den vermeintlichen Filmproduzenten beherzigt. Sie spiegelt die »vielen Parallelen […] zwischen Geschichte und den photographischen Medien, historischer Realität und Kamera-Realität«,7 die er in seinen filmischen Studien immer wieder nachweist und reflektiert: Die Angestellten basieren auf einem textuellen Verfahren, das der Affinität zwischen den photographischen Medien und der Wirklichkeit, zwischen Film, Traum und physischem Raum gerecht zu werden versucht. Wie lässt sich dieses textuelle Verfahren charakterisieren? Und worin besteht die Bedeutung dieser Affinität für den Vorgang des Schreibens? Diese Fragen werden im Folgenden anhand jenes Buchs untersucht, das Kracauer selbst als »Gesellschaftsbiographie« verstand, nämlich Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit aus dem Jahr 1937. Dabei kommt auch die Verbindung zwischen dieser Monographie, der Theory of Film und History – The Last Things before the Last zur Sprache ebenso wie der implizite Zusammenhang zwischen Traum, Wirklichkeit und Angst, der Kracauers Werk wie ein roter Faden durchzieht.
6 Fritz Croner: Die Angestellten nach der Währungsstabilisierung. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 60 (1928), Nr. 1, S. 103–146; Emil Lederer: Die Umschichtung des Proletariats. In: Afa-Bund (Hg.): Angestellte und Arbeiter. Wandlungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Berlin 1928, S. 39–60; ders.; Jakob Marschak: Der neue Mittelstand. In: Gerhard Albrecht (Hg.): Grundriß der Sozialökonomik. IX. Abteilung: Das soziale System des Kapitalismus. Bd. 1: Die gesellschaftliche Schichtung des Kapitalismus. Tübingen 1926, S. 120–141; Otto Suhr: Die Lebenshaltung der Angestellten. Berlin 1928. 7 Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen. In: ders.: Werke. Bd. 4. Hg. v. Ingrid Belke unter Mitarb. v. Sabine Biebl. Übers. v. Karsten Witte; Jürgen Schröder. Frankfurt/M. 2009, S. 11. Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers
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Obwohl Kracauer aus juristischen wie politischen Gründen weitgehend darauf verzichtete, Personen und Institutionen in seinen Aufzeichnungen aus der Exkursion in die moderne Arbeitswelt namentlich zu identifizieren, bemühte er sich dennoch darum, die ›kleinen Angestellten‹ im Text eingehend zu porträtieren, die zitierten Aufsätze und Autoren anzuführen und auszuweisen. In seiner sieben Jahre später erschienenen Monographie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit hingegen verschwieg er weitgehend, wem er die unmittelbaren Schilderungen der Pariser Boulevards, Salons, Theater und Opernhäuser verdankte: Das Buch ist eine Montage wörtlicher Abschriften aus rund 169 exzerpierten Büchern, Zeitschriften und Aufsätzen, die Kracauer auf etwa 3500 hauchdünnen, handgroßen Zetteln festhielt, im Text jedoch weder kennzeichnet noch identifiziert. Alle direkten und indirekten Reden, viele der detaillierten Beschreibungen verschiedener Orte, Abende und Situationen, kurz: die kleinen Szenen und Parerga des Textes sind nicht etwa literarische Imaginationen eines frankophilen Exilanten in Paris, sondern Abschriften eines eifrigen Lesers. Kracauer rekurriert nicht allein auf diverse Offenbach-Biographien, insbesondere auf die kurz zuvor erschienene Monographie von Anton Henseler, die er sich eigens aus Deutschland zuschicken ließ. Er greift auch auf umfassende historiographische Abhandlungen über das Second Empire zurück und zitiert mit Vorliebe aus zeitgeschichtlichen Dokumenten, Erinnerungen und Erzählungen mit illustren Titeln wie etwa Les soirées Parisiennes … par un monsieur de l’orchestre, Foyers et coulisses, Ce que mes yeux ont vu oder Mémoires du Trottoir.8 Der Biograph des Second Empire verbindet Zitate aus historiographischen Werken mit wörtlichen Abschriften aus Memoiren und kombiniert Szenen aus literarischen Werken und Opernlibretti mit Schilderungen aus zeitgenössischen Journalen. Einen großen Teil dieser Schriften weist er in der abschließenden Bibliographie als Quellenmaterial aus – einiges bleibt jedoch unerwähnt.9 Während Die Angestellten eine ethnographische Expedition in die »unbekannten Gebiete«10 Berlins vornehmen, wird Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit vom Flanieren durch die Pariser Straßen inspiriert, in denen, wie Kracauer in dem Feuilletonartikel Erinnerung an eine Pariser Straße fest8 Es handelt sich um Arnold Mortier: Les Soirées parisiennes … par un monsieur de l’orchestre (Paris 1875–1885), Henry Buguet: Foyers et Coulisses. Histoire anecdotique des théâtres de Paris (Paris 1873–1885), Arthur Meyer: Ce que mes yeux ont vu (Paris 1911) und Aurélien Scholl: Mémoires du Trottoir (Paris 1882). 9 Im Nachlass befinden sich Exzerpte zu über dreißig weiteren Büchern, die in der Werkedition nun ergänzt wurden. 10 So die Überschrift des ersten Kapitels; vgl. Kracauer: Werke, Bd. 1, S. 217.
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hält, »die Gegenwart den Schimmer des Vergangenen hat«.11 Im Unterschied zur soziologischen Studie Aus dem neuesten Deutschland basiert das Buch nicht auf Gesprächen und Ortsbesichtigungen; es entstand vielmehr ausschließlich in der Bibliothèque Nationale. Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit konkurriert nicht nur aufgrund thematischer Überschneidungen, sondern auch und vor allem durch seine Machart mit Walter Benjamins Passagen-Werk, jener unvollendeten Sammlung an Fragmenten, deren Methode explizit als »literarische Montage« reflektiert wird.12 Während Benjamin die Texte, Bilder und Orte, die er zu einer materialen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts zu konstellieren gedachte, in den Nachlass-Konvoluten als solche ausweist und nebeneinander stellt, scheinen sich die Ränder zwischen den Zitaten, die Namen der Autoren und die Differenzen zwischen den Textgattungen in Kracauers Gesellschaftsbiographie aufzulösen. In Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit wird ein Großteil der Zitate weder markiert noch identifiziert. »Aus der Spottvogelperspektive der Offenbach-Operetten« betrachtet, befinden sich die exzerpierten Texte, die in das Buch einflossen, also das, »was unten zu sein scheint«, nunmehr »oben« und konstituieren die Oberfläche des Textgeflechts, ja den Text selbst.13 Der einleitende heuristische Hinweis, die »Absicht des Buches« gleiche wegen dieser Inversion von »oben« und »unten« dem »Geist der echten Operette«,14 legt zwar nahe, die »Zitatförmigkeit«15 von Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit mit dem performativen Anspielungs- und Unterhaltungscharakter dieser Gattung zu vergleichen. Er lässt aber zugleich offen, wie das ›Unten‹ des Textes in philologischer Hinsicht zu bestimmen und hermeneutisch zu verstehen sei. Kracauers Komposition basiert auf extensiven und genauen Lektüren, setzt auf minutiöse Abschrift und wörtliche Wiedergabe. Sie vollzieht eine »Reise […] in die Vergangenheit«16 und organisiert sich als »Oberflächenäußerung«.17 11 Siegfried Kracauer: Erinnerung an eine Pariser Straße (Frankfurter Zeitung vom 9. November 1930). In: ders.: Werke, Bd. 5.3, S. 358–364, hier S. 363. 12 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1991, S. 574. 13 Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. In: ders.: Werke. Bd. 8. Hg. v. Ingrid Belke unter Mitarb. v. Mirjam Wenzel. Frankfurt/M. 2005, S. 13. 14 Ebd. 15 Siehe zu diesem Begriff Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: ders.: Randgänge der Philosophie [frz. 1972]. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1988, S. 291–314; Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts [engl. 1993]. Berlin 1995, S. 35–40. 16 Kracauer: Werke, Bd. 4, S. 100. 17 Vgl. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse (Frankfurter Zeitung vom 9. und 10. Juni 1927). In: ders.: Werke. Bd. 5.2. Hg. v. Inka Mülder-Bach u. a. Frankfurt/M. 2011, S. 612–624, hier S. 612. Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers
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Sie nimmt eine Mimikry an die Operette vor und adaptiert die Merkmale jener kleinen, komischen Schwester der Opera seria, die das Spektrum der gemischten Genres zwischen Musik- und Sprechtheater um eine zusätzliche Variante, nämlich die der Wiederkehr en miniature, ergänzt.18 Kracauer betont immer wieder, dass Offenbachs Operetten auf spezifische Art und Weise die Träume der Pariser Gesellschaft widerspiegelten: Die Operette: Pariser Leben […] gestaltete nicht mehr die Gegenwart durch alte Stoffe hindurch, sondern bemächtigte sich zum erstenmal in großem Maßstab des Stoffes der Gegenwart selber. Hatten die früheren Stücke Götter, mythologische Figuren und Helden des Mittelalters aufgeboten, um den Zeitgenossen ihr eigenes Dasein zu veranschaulichen, so schuf Pariser Leben aus aktuellen Ereignissen eine Operette. Die bisherigen Werke enthüllten das Heute; dieses neue schien aus dem Heute in ein Phantasiereich zu entgleiten.19
Kracauer interessiert sich nicht etwa für die Form und die musikalische Gattung der Operette, sondern ausschließlich für deren gesellschaftliche Funktion. Er versteht Offenbachs Operetten als einen Spiegel der Phantasmagorien, die in der damaligen Gesellschaft kursierten, und porträtiert sie als Miniaturen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Kracauers Hinwendung zum phantasmagorischen Reich der Räume und Träume knüpft an seine jahrelangen Auseinandersetzungen mit der ›kleinen Form‹ an, die mit vielen kurzen Zeitungsartikeln über die Stummfilmkomödien im Bei- und Vorprogramm abendfüllender Filmvorführungen begann und von Bloch später als »Kracauers Liebe«20 bezeichnet wurde. Die Offenbach-Monographie deutet also auf eine Kontinuität im Werk Kracauers hin, die sich unter anderem auch in den Artikeln über die Ikone der Stummfilmgroteske Charlie Chaplin, der Abhandlung zum Detektivroman und der Studie über die Lebenswelten der kleinen, namenlosen Angestellten zeigt.21 Siegfried Kracauers Versuch, im Kleinen und Fremd-Vertrauten die Wirklichkeit dechiffrieren zu wollen, kennzeichnet nicht nur die Affinität seiner 18 Siehe dazu auch die Ausführungen zu Kracauer in der 2006 abgeschlossenen Münchener Habilitationsschrift von Ethel Matala de Mazza (Poetik des Kleinen. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton), die bislang noch nicht veröffentlicht ist. 19 Kracauer: Werke, Bd. 8, S. 264. 20 Ernst Bloch: Der eigentümliche Glücksfall – Über Jacques Offenbach von Siegfried Kracauer. Aus einem Gespräch von Karsten Witte mit Karola und Ernst Bloch am 18. September 1976 in Tübingen. In: Text und Kritik 68 (1980), S. 73–75, hier S. 74. 21 Eben diese Qualität sprach Adorno Kracauers Offenbach-Buch rundheraus ab; vgl. Theodor W. Adorno: Brief an Siegfried Kracauer vom 13. Mai 1937, in: Adorno/Kracauer: Briefwechsel (2008), S. 352–359.
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Mirjam Wenzel
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Gesellschaftsmonographie zur Gattung der Operette, sondern auch diejenige zum Film.22 Wie in dem 1938 bis 1941 verfassten Marseiller Entwurf zu einer Theorie des Films deutlich wird, verstand Kracauer die Wesensmerkmale des Films in Opposition zu denen des Theaters. »Die Theaterhandlung« sei, so eine seiner zentralen Thesen des Entwurfs, ein »in der Totale konstruiertes intentionales Spiel«,23 das sich an das »Bewußtsein des Menschen« halte. Dieses Bewusstsein werde von »Bedeutungen« geprägt, die »nicht unmittelbar physiologisch« seien24 und das Erkennen der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer Materialität unmöglich machten. Während die Theater- oder Opernhandlung einer immateriellen Logik folge, bestehe die »spezifische Leistung des Films« hingegen in der »Erschließung der materialen Dimension«.25 Dies geschehe vor allem in der »Momentaufnahme«, in der Konzentration auf »das Kleine oder das Detail«,26 in der Montage verschiedener Einstellungen, in der Wiedergabe von Menschenmengen und Straßenszenen27 sowie der Reproduktion von Gewohntem und Flüchtigem.28»Angesichts des Films« ergehe es »dem Zuschauer nicht anders als dem realiter sich bewegenden Menschen, der sich an Dingen, Stoffen [und] Fragmenten« reibe, und dessen »Sensorium« von diesen »materiellen Elementen« unmittelbar »attackiert« werde,29 argumentiert Kracauer in Anlehnung an Benjamins zeitgleich überarbeiteten Kunstwerk-Aufsatz.30 Das Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit sucht die »äußere Wirklichkeit« einer vergangenen Zeit vor dem Vergessen zu »erretten«,31 indem es ein Verfahren antizipiert, welches in der Jahre später fertig gestellten 22 Die Monographie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit wurde von Kracauer kurz nach ihrem Erscheinen zu einem »Motion Picture Treatment« umgearbeitet, das als Grundlage einer Verfilmung durch die Metro-Goldwyn-Mayer-Studios dienen sollte, bei den Produzenten jedoch keine Anerkennung fand. 23 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. In: ders.: Werke. Bd. 3. Hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarb. v. Sabine Biebl. Vom Verfasser revidierte Übers. v. Friedrich Walter; Ruth Zollschan. Frankfurt/M. 2006, S. 553 f. 24 Kracauer: Werke, Bd. 3, S. 555. 25 Ebd., S. 561. 26 Ebd., S. 573. 27 Vgl. ebd., S. 595. 28 Ebd., S. 599. 29 Ebd., S. 575. 30 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I. 2. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1991, S. 431–469 (Erste Fassung), S. 471–508 (Dritte Fassung); Bd. VII.1. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M., S. 350–384 (Zweite Fassung). 31 Zu dieser Formulierung vgl. den Untertitel der Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers
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Theory of Film unter dem Stichwort »das Kleine und das Große«32 als enthüllende Funktion des Films klassifiziert wird. Es erzählt im Spiegel des Entstehens und Verklingens einer Oberflächengattung, der Operette, die Geschichte des Second Empire, um den »Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen« sichtbar zu machen.33 Es verfährt dabei selbst filmisch, indem es die Einzelaufnahme, das Zitat, dem Prinzip der Sukzession unterordnet und so den »Strom materieller Situationen und Geschehnisse mit allem [zeigt], was sie an Gefühlen, Werten, Gedanken suggerieren«.34 Das Buch hält sich an Buchstaben, Textilien und optische Details und ist – ebenso wie der Film – »vom Wunsch beseelt, vorübergehendes materielles Leben« einzufangen.35 Indem es die montierten Materialien nicht etwa beziffert und inventarisiert, sondern ineinander verwebt, gibt es den »Fluß des Lebens«, den Kracauer als eigentlichen Gegenstand des Filmes versteht,36 nicht nur wieder, sondern schreibt ihn im ›Fluss des Textes‹ fort. Das Montageverfahren, das der Offenbach-Monographie zugrundeliegt, greift viele Elemente dessen auf, was der Marseiller Entwurf und die Theory of Film als typisch filmische Verfahrensweisen charakterisieren: Es kombiniert Großaufnahmen mit Übersichtseinstellungen, hält sich an stoff liche Details sowie Massen- und Straßenszenen und belebt auf diese Art und Weise die unbelebte Welt der Buchstaben aus den zitierten Texten. In welchem Maße Kracauer sein Schreibverfahren tatsächlich in Analogie zu einer Filmproduktion verstand, wird erneut in dem Marseiller Entwurf deutlich: Unter der Rubrik »Zu Erledigen« seiner sechsspaltigen Synopse finden sich mehrere Notizen mit der Überschrift »Regiebemerkung«.37 Kracauers Regieführung beim Verfassen einer Pariser Gesellschaftsbiographie basiert auf jenem Zusammenhang zwischen filmischen und historiographischen Darstellungsverfahren, den der Autor Jahre später mit folgenden Worten reflektiert: Blitzartig wurden mir die vielen Parallelen klar, die zwischen Geschichte und den photographischen Medien, historischer Realität und Kamera-Realität bestehen […]. Diese Entdeckung […] rechtfertigte […] mir selbst gegenüber und im nachhinein die Jahre, die ich mit der Theorie des Films zugebracht hatte. Dieses Buch […] erscheint mir nun […] als ein weiterer Versuch von mir, die Bedeutung von Bereichen her-
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Siehe Kracauer: Werke, Bd. 3, S. 92–95. Kracauer: Das Ornament der Masse. In: ders.: Werke, Bd. 5.2, S. 612. Kracauer: Werke, Bd. 3, S. 130. Ebd., S. 18. Siehe ebd., S. 129 f. Vgl. ebd., S. 537, 545, 553, 555, 565, 567, 573, 575, 595, 605, 633, 639, 645, 647, 665 und 745.
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auszuschälen, deren Anspruch, um ihrer selbst willen anerkannt zu werden, noch nicht Genüge geschah. Ich sage ›ein weiterer Versuch‹, weil ich genau das mein Leben lang versucht habe – in den Angestellten, vielleicht in Ginster und bestimmt in Offenbach.38
Angesichts dieser Überlegungen, die Kracauers letztes Buch History – The Last Things Before The Last eröffnen, lässt sich seine monographische Darstellung der Pariser Gesellschaft nicht nur als eine filmische Geschichte, sondern auch als ein historischer Roman verstehen. Der Bereich der historischen Wirklichkeit, den sie erschließt, müsste in geschichtsphilosophischer Hinsicht dann als jener »Vorraum« bezeichnet werden, als den wir, so Kracauer im letzten Kapitel seines letzten Buchs, diese »›Erde, die unsere Wohnstätte ist‹« aufzufassen haben.39 In Kracauers filmischer Geschichte über das Paris des 19. Jahrhunderts folgen wir nicht nur den Spuren, die eine verlorene Zeit in der Gegenwart hinterlässt, sondern lernen »durch die Dinge […], anstatt über sie hinweg« zu denken und »die flüchtigen Phänomene der Außenwelt […] vor dem Vergessen zu erretten«.40 Das Bild, welches Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit von diesem Vorraum einer Geschichte ›vor den letzten Dingen‹ entwirft, ist »teils geformt, teils amorph«,41 sowohl lebendig als auch todverfallen. Das filmische Porträt von Paris zur Zeit des Second Empire macht nicht nur die Träume einer vergangenen Gesellschaft, sondern auch den Alptraum der Gegenwart sichtbar. In dem 1930 verfassten Essay Erinnerung an eine Pariser Straße antizipiert Kracauer, dass ihn die lebensbedrohliche Situation in Deutschland nach seiner Flucht in Paris wieder einholen würde und entwirft ein »lebendes Bild«42 von diesem Alptraum: Ich sah: ein junger Mann sitzt auf einem Stuhl mitten in einem Zimmer. Das Zimmer ist ein Hotelzimmer, dessen Fenster geöffnet sind. […] Zu Füßen des jungen Mannes kauert ein offener halbgepackter Koffer, in den eilig Wäsche hineingestopft worden sein muß. Umringt vom Mobiliar, hat der Sitzende seinen Kopf in die Hände gestützt. […] Ich stehe vor dem Fenster, das sich längst verflüchtigt hat, aber der junge Mann mit dem ungekämmten Haar beachtet mich so wenig wie seinen Koffer. Nichts ist für ihn vorhanden, ganz allein sitzt er auf seinem Stühlchen im Leeren. Er hat Angst, die Angst ist es, die ihn so lähmt …43
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Kracauer: Werke, Bd. 4, S. 12. Siehe ebd., S. 209 f. Ebd., S. 210. Ebd., S. 69. Kracauer: Erinnerung an eine Pariser Straße. In: ders.: Werke, Bd. 5.3, S. 361. Kracauer: Werke, Bd. 5.3, S. 361 f. Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers
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In einem der wenigen Texte, die Kracauer in demselben Zeitraum wie das Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit verfasste, wird dieses Bild wieder aufgegriffen. Der unveröffentlichte Feuilletonartikel Pariser Hotel zeugt davon, dass der Flüchtling dem Berliner Alptraum auch im Pariser Exil nicht entkam.44 Während der junge Mann in dem Essay aus dem Jahr 1930 noch mit einem gewissen Abstand durch das Fenster beobachtet wird, bemächtigt sich Kracauers Angst in dem sechs Jahre später verfassten Text der Person des Ich-Erzählers selbst. Inmitten eines schäbigen Hotelzimmers meint dieses Ich die lähmende Angst eines Betrunkenen zu spüren, der in einer dunklen Ecke des Zimmers seines Mörders gewahr wird. Eilig verlässt es daraufhin den schaurigen Ort, durchschreitet die Hotelhalle, die »Grabeskälte ausströmt«, und sucht eine »Gegend auf, die voller Licht ist«.45 »Der böse Traum«46, jene Angst vor dem nahenden Tod, die das Ich in einem klammen Hotelzimmer heimsucht, stellt ein Motiv dar, das Kracauers frühe Erzählung Die Gnade und seinen späteren Roman Ginster mit seinen beiden Essays über Pariser Hotelzimmer sowie dem Marseiller Entwurf und seiner Theory of Film verbindet. Die Angst vor dem Tod der eigenen Mutter aber, die den mit autobiographischen Zügen versehenen Protagonisten Ginster des Nachts heimsucht,47 hat während der jahrelangen Arbeiten an der Theory of Film jedwede pathologischen Konturen verloren. Sie erweist sich vielmehr als Alptraum der Wirklichkeit selbst. Dementsprechend notiert Kracauer in der Spalte »Komposition« des Marseiller Entwurfs unter dem Stichwort »Vordeutend«: Der Film verwickelt die ganze materielle Welt mit ins Spiel. […] Er zielt nicht nach oben, zur Intention, sondern drängt nach unten, zum Bodensatz, um auch diesen mitzunehmen. […] Das Gesicht gilt dem Film nichts, wenn nicht der Totenkopf dahinter einbezogen ist: »Danse macabre«. Zu welchem Ende? Das wird man sehen.«48
Der mit Saint Saëns Sinfonietitel indizierte mexikanische Totentanz, den Sergej Eisenstein in seinem für den Marseiller Entwurf bedeutsamen Que viva Mexico!-Filmprojekt49 dokumentierte, bannt den Tod in ein Ritual. 44 Siegfried Kracauer: Pariser Hotel (Typoskript aus dem Nachlass, datiert 7. November 1936). In: ders.: Werke. Bd. 5.4. Hg. v. Inka Mülder-Bach u. a. Frankfurt/M. 2011, S. 528–532. 45 Ebd., S. 531 f. 46 Ebd., S. 528. 47 Siehe Siegfried Kracauer: Ginster. In: ders.: Werke. Bd. 7. Hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarb. v. Sabine Biebl. Frankfurt/M. 2005, S. 45 f. 48 Kracauer: Werke, Bd. 3, S. 531. 49 Die Dreharbeiten zu diesem unvollendeten Filmprojekt fanden 1931/32 statt; zum »First Outline of Que viva mexico!« siehe Sergej Eisenstein: The Film Sense. Übers. u. hg. v. Jay Leyda. New York 1949, S. 197–200.
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Das letzte Kapitel von Kracauers Gesellschaftsbiographie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit hingegen beschreibt unter der Überschrift »Der Pakt mit dem Tod« die Geschichte eines Aufschubs. In Verzögerung des eigenen Todes gelingt es dem Protagonisten der Gesellschaftsbiographie, Jacques Offenbach, am Ende seines Lebens, im ›Vorraum‹ vor den letzten Dingen, mit Hoffmanns Erzählungen ein Werk zu komponieren, das sein Weiterleben in den Opernhäusern der Welt garantieren sollte. Es ist eben dieser von bangen Träumen, Wünschen und Ängsten gezeichnete »Pakt mit dem Tod«, den Kracauer auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Deutschland im Schreiben einzugehen sucht. Das Exzerpieren, Abschreiben, Archivieren, Revidieren und Montieren, das sein Schreibverfahren kennzeichnet, spiegelt nicht nur eine Zeit, in der, so Kracauer gegenüber Adorno, »die alte long-shot-Perspektive, die in irgendeiner Weise das Absolute zu treffen meint, durch die Close-Up-Perspektive ersetzt« wurde.50 Schreiben selbst wird für Kracauer zur einzigen Möglichkeit, die lähmende Angst zu überwinden und dem ihn umgebenden Elend zu entrinnen. In einem Brief an Gershom Scholem erinnert sich Soma Morgenstern Jahre später an eine seiner vielen Begegnungen mit Siegfried Kracauer und Walter Benjamin in Marseille. Er schreibt: Auf dem Weg, vor einem Café, saß unser Freund S. Kracauer, eifrig schreibend. […] Ehe wir weitergingen, fragte ich Kracauer: ›Was wird aus uns werden, Krac?‹ Darauf er, ohne lange nachzudenken, erstaunlich schnell und apodiktisch: ›Soma, wir werden uns alle hier umbringen müssen.‹ Um zu zeigen, daß er noch Wichtigeres zu tun hatte, wandte er sich wieder zu seinen Papieren und schrieb schnell weiter. Vor dem Eingang zur Préfecture blieb W. B. stehn und sagte: ›Was mit uns geschehen wird, ist nicht so leicht vorauszusehen. Aber eins weiß ich sicher: wer sich sicherlich nicht umbringen wird, ist unser Freund Kracauer. Er muß ja noch seine Encyclopaedie des Films zu Ende schreiben‹.51
Ob und inwiefern das obsessive Schreiben dem Exilanten dazu verhalf, die Flucht zu überleben, sei dahingestellt. Fest aber steht, dass Kracauer im Schreiben seine Angst vor dem Tod zu bannen suchte – eben jene Angst, die dem Wissen innewohnt, dass die vormaligen Alpträume Wirklichkeit geworden und die physische Realität vom Totenkopf geprägt war.
50 Siegfried Kracauer: Brief an Theodor W. Adorno vom 12. Februar 1949, in: Adorno/Kracauer: Briefwechsel, S. 445. 51 Zit. n. Hans Puttnies; Gary Smith: Benjaminiana. Eine biographische Recherche. Gießen 1991, S. 202 f. Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers
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RE SP ONDENZ
Silke Horstkotte
»Steinchen eines Mosaiks« Siegfried Kracauer als Bildgelehrter
»[Der] Film ist eine neue Kunst und so verschieden von allen anderen wie Musik von der Malerei und diese von der Literatur«, schreibt Béla Balázs 1924 in Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films und spricht in diesem Zusammenhang von einer ganz neuartigen »visuelle[n] Kultur« der Gegenwart.1 Damit nennt Balázs erstmals ein Stichwort, das in der visual cultureDebatte der 1990er Jahre2 zum programmatischen Begriff für eine neuverstandene Bildwissenschaft werden sollte: Nicht die Kunstgeschichte mit ihrer Fokussierung auf das hochkulturelle Tafelbild birgt demnach den Schlüssel zum Verständnis einer spezifisch modernen Bilderwelt, sondern eine neu zu begründende Wissenschaft visual culture studies, die sich explizit allen Bildern, seien sie Kunst oder nicht, zuwendet, auch und gerade den technisch hergestellten und reproduzierten Bildern.3 1 Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt/M. 2001, S. 11 und 16. 2 Hierzu vgl. insbesondere das berühmte Visual Culture Questionnaire: October 77 (summer 1996), S. 25–70 sowie Eloy J. Hernandez: Art History’s Anxiety Attack. In: Afterimage 24/6 (May/June 1997), S. 6 f. 3 Einführend zu visual culture studies vgl. u. a. Marita Sturken; Lisa Cartwright: Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture [2001]. Oxford 22009; Malcolm Barnard: Approaches to Understanding Visual Culture. New York 2001; Michael Ann Holly; Keith Moxey (Hg.): Art History, Aesthetics, Visual Studies. New Haven; London 2002; Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture [1999]. London; New York 22009. Wichtige deutsche Beiträge: Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe einer Bildwissenschaft. München 2001; Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 11–38; Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln 2003; ders. (Hg.): Bildwissenschaft. Zwischen Reflexion und Anwendung. Köln 2005; Martin Schulz: Ordnungen der Bilder: Eine Einführung in die Bildwissenschaft. München 2005. Zur Debatte um visual studies und Kunstgeschichte vgl. Horst Bredekamp: Kunstgeschichte im Iconic Turn. In: Kritische Berichte 26/1 (1998), S. 85–93; ders.: A Neglected Tradition? Art History as Bildwissenschaft. In: Critical Inquiry 29/3 (2003), S. 418–428. Siegfried Kracauer als Bildgelehrter
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Die Entwicklung, Etablierung und Institutionalisierung der visual culture studies verdankt sich in gar nicht zu überschätzendem Ausmaße einer Reihe von deutsch-jüdischen Intellektuellen, zu denen neben Balázs vor allem Walter Benjamin, Aby Warburg, Rudolf Arnheim sowie Siegfried Kracauer zu zählen sind.4 Deren philosophische und medienkritische Auseinandersetzung mit dem noch jungen Medium Film im Zusammenhang mit Kapitalismus- und Konsumkritik generierte in den 1920er Jahren zentrale kulturphilosophische Konzepte, die das gesamte 20. Jahrhundert hindurch und bis in die Gegenwart bedeutsam geblieben sind. Stärker noch als Benjamin, und neben Balázs und Arnheim, kann Siegfried Kracauer in diesem Kontext als einer der führenden Filmtheoretiker der Weimarer Republik bezeichnet werden, die ins Exil gezwungen wurden. Im Gegensatz zu den filmkritischen Arbeiten etwa eines Rudolf Kurtz5 oder Rudolf Harms6, die heute weitgehend vergessen sind, geht die Bedeutung dieser Autoren weit über die Auseinandersetzung mit dem Film ihrer Zeit im engeren Sinne hinaus. Begriffe wie Kracauers ›Kult der Zerstreuung‹ oder Benjamins ›Rezeption in der Zerstreuung‹ haben sich als äußerst wirkungsvoll und für die gesamte Bildwissenschaft, für visual culture studies und für die new film history als folgenreich erwiesen. Die Textgelehrten der Frankfurter Schule, wenigstens einige von ihnen, sind deshalb auch bedeutende und folgenreiche Gelehrte der Sichtbarkeit gewesen. Vor diesem Hintergrund möchte ich an Mirjam Wenzels Überlegungen zum literarischen Montage-Verfahren in Siegfried Kracauers Offenbach-Buch anknüpfen, indem ich den kultursoziologischen Implikationen des Kracauer’schen Montage-Begriffs in seinen Essays aus den 1920er Jahren nachgehe. Diese berühren sich in verschiedenen Aspekten mit Benjamins Überlegungen aus der gleichen Zeit, zum Beispiel zur ›Ruine‹ im Trauerspiel-Buch, deuten jedoch zugleich in manchem bereits auf Benjamins spätere Philosophie der technischen Medien im Kunstwerk-Aufsatz voraus. Die gedankliche Nähe zu dem weit besser erforschten Benjamin macht die Kracauer-Interpretation nicht immer einfacher, verleitet sie doch dazu, seine Arbeiten vor der Folie des bekannteren Zeitgenossen zu lesen und dabei die Besonderheiten des Kracauer’schen Ansatzes und insbesondere 4 Inzwischen ist schon wieder ein gewisser backlash gegen Benjamin und Andere zu verzeichnen: James Elkins bezeichnet Benjamin als den »patron saint of visual studies« und warnt vor dem übermäßigen und unkritischen Zitieren Benjamins und Aby Warburgs. James Elkins: Visual Studies. A Skeptical Introduction. New York; London 2003, S. 94. 5 Rudolf Kurtz: Expressionismus und Film. Zürich 2007. 6 Rudolf Harms: Philosophie des Films. Seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen. Zürich 1970.
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seines Verständnisses der technischen Bildmedien zu vernachlässigen.7 Kracauers Montage-Begriff unterscheidet sich jedoch in verschiedenen Punkten von demjenigen Benjamins, wie er insbesondere im Kunstwerk-Aufsatz exponiert wird. Das Ziel dieser Vignette besteht deshalb nicht zuletzt darin, den spezifischen Beitrag Kracauers zur Montage-Diskussion der 1920er Jahre präziser zu fassen. Zentrales Konstruktionsprinzip des Films, seiner Produktion und Vorführung war für Siegfried Kracauer, ebenso wie für Walter Benjamin, die Montage. Beide begreifen die Montage des fertigen Films aus einzelnen Einstellungen als Zerstückelung einer vorhandenen Realität und anschließende Neukonstitution in einem künstlich neu angeordneten »Mosaik«.8 In seinem Essay Kaliko-Welt von 1926 betont Siegfried Kracauer anhand einer minutiösen Beschreibung der Filmstadt Babelsberg die Künstlichkeit aller Aspekte des Films und stellt diese in einen explizit architektonischen Zusammenhang. Gegenüber der Wirklichkeit kennzeichnet den Film für Kracauer seine Fassadenhaftigkeit: die Veränderung der Dimensionen, die Verwendung unpassender oder falscher Materialien für den Kulissenbau oder die Verwendung von Kulissenfragmenten, die nur zeigen, was im Bildausschnitt zu sehen sein wird. Die Montage unpassender und inkongruenter Ausstattungselemente bereits im Vorfeld der eigentlichen Dreharbeiten beschreibt Kracauer als ein Verfahren der Wirklichkeitszertrümmerung bei gleichzeitiger Sinnentleerung, das letztlich zur Mortifikation der gesamten Filmwelt einschließlich ihrer Darsteller führt, die als »die Vermummten« starr und totengleich durch die Filmstadt geistern.9 Die Film-Montage ist für Kracauer mithin weniger ein spezifischer Effekt optischer Technologien (Kamera, Schnitt) als vielmehr ein weiter gefasstes Phänomen, das bereits die Vorbereitung der Dreharbeiten kennzeichnet. Auf dieser Vorstufe der eigentlichen Filmproduktion wird die Welt in ihre Einzelteile zerlegt, bevor sie – durch die Film7 Zur Kracauer-Rezeption vgl. insbes. Anja Beiküfer: Blick, Figuration und Gestalt. Elemente einer ›aisthesis materialis‹ im Werk von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim. Bielefeld 2003; Inka Mülder: Siegfried Kracauer. Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933. Stuttgart 1985. 8 Der Begriff ›Mosaik‹ stammt aus Kracauers Aufsatz Kaliko-Welt, s. Siegfried Kracauer: Kaliko-Welt. Die Ufa-Stadt zu Neubabelsberg [1926]. In: ders.: Werke. Hg. v. Inka MülderBach; Ingrid Belke. Bd. 6.1. Frankfurt/M. 2004, S. 191–197, hier S. 196. Benjamin spricht im Kunstwerk-Aufsatz analog davon, dass der Film die »Kerkerwelt« der Alltagsrealität »mit dem Dynamit der Zehntelsekunden« aufsprenge, um den Zuschauer eine Reise durch die entstehende, neukonstituierte »Trümmerwelt« unternehmen zu lassen. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 2. Fassung. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2. Frankfurt/M. 1974, S. 471–508, hier S. 499 f. 9 Kracauer 2004 (wie Anm. 8), S. 196. Siegfried Kracauer als Bildgelehrter
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Montage selbst – auf einer zweiten, künstlichen Stufe als Mosaik rekonstituiert wird: Damit die Welt im Film vorüberziehen kann, wird sie zuvor in der Filmstadt zerstückt. Ihre Zusammenhänge gelten für aufgehoben, ihre Dimensionen verändern sich beliebig, ihre mythologischen Gewalten werden zum Spaß. […] Trümmer des Universums lagern in den Requisitenhäusern, Belegexemplare sämtlicher Zeiten, Völker und Stile.10
Die vordringlichste Wirkung dieser Dekontextualisierung ist die, dass sich die zur Verfilmung bereitgehaltenen Objekte in reine Oberfläche verwandeln, der jede historische Tiefendimension abgeht. Auf dieser Oberfläche bedeuten die Objekte nichts als sich selber, das heißt, die Oberfläche ermöglicht keine Verbindung zu einer dahinterliegenden Bedeutung und löscht somit alle Zeichenfunktionen. Requisiten und Kulissen »stellen nur das Äußere ihrer Vorbilder dar, wie die Sprache Wortfassaden bewahrt, deren ursprünglicher Sinn gewichen ist«.11 Das Natürliche wird seiner natürlichen Umwelt entrissen – exotische Pflanzen und Tiere werden importiert und wandern nach der Verwendung im Film in den Zoo – ebenso werden Ereignisse und Objekte ihrer natürlichen Zeit und ihrem angestammten Ort entrissen. Solche a-historischen Kombinationsmöglichkeiten der Requisiten führen jedoch gerade nicht zu einer Erweiterung ihres Bedeutungspotentials: »Alle Objekte sind hier nur das, was sie gerade vorstellen sollen; eine Entwicklung in der Zeit kennen sie nicht.«12 Verschiedene Merkmale der Filmkulisse in Kaliko-Welt weisen Parallelen zu Benjamins Konzept der Ruine auf, insbesondere die Entkleidung architektonischer Elemente von ihren ursprünglichen Gebrauchsweisen und Bedeutungen. Tatsächlich hat sich Kracauer in seinem Artikel Zu den Schriften Walter Benjamins (1928) bewundernd über Benjamins »monadologische« Methode geäußert, welche sich »ins Stoffdickicht ein[wühlt], um die Dialektik der Wesenheiten zu entfalten«, und sich »auf keinerlei Allgemeinheiten ein[läßt]«.13 Doch zielt bei solchen methodischen Ähnlichkeiten Kracauers Verfahren doch in eine ganz andere Richtung als das Benjamins, denn sein Interesse ist nicht auf eine historische Kulturwissenschaft, sondern vollständig auf die Gegenwart gerichtet. Klingen Kracauers Ausführungen zur Filmkulisse im ersten Teil von Kaliko-Welt eher kritisch, so zeigt sich in der Folge des Aufsatzes, dass die 10 11 12 13
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Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Ebd., S. 192. Siegfried Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins [1928]. In: ders.: Werke. Hg. v. Inka Mülder-Bach; Ingrid Belke. Bd. 5.3. Frankfurt/M. 2011, S. 35–41, hier S. 37.
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Wirklichkeitszertrümmerung im Filmstudio zugleich ein erhebliches ästhetisches Potential birgt; stellt die dadurch kreierte Oberfläche für Kracauer doch eine spezifisch ästhetische Form der Rationalität dar, der er (explizit in Das Ornament der Masse) ein von der Kognition unabhängiges Reflexionspotential zuschreibt.14 Als problematisch empfindet Kracauer deshalb gerade die Verschleierung des in der Filmproduktion verstärkt zutage tretenden Oberflächen- und Ruinencharakters der Wirklichkeit durch deren Glättung in der eigentlichen Filmmontage: Der Szenen sind viele, gleich den Steinchen eines Mosaiks werden sie aneinander gestückt. Statt die Welt in ihrem zerbröckelten Zustand zu lassen, holt man sie wieder in die Welt zurück. Die aus dem Zusammenhang gelösten Dinge werden von neuem in ihn eingesetzt, ihre Vereinzelung wird getilgt, ihre Grimasse geglättet.15
Kracauer sieht also ein gewissermaßen clairvoyantes Potential des Films und des filmischen Bildes als Erkenntnisinstrument gesellschaftlicher Prozesse der Modernisierung, das allerdings realiter verfehlt wird.16 Und zwar deshalb, weil der Kinobetrieb es nicht duldet, dass die dem Film medial inhärenten, dispergierenden Darstellungstendenzen konsequent verwirklicht werden. Vielmehr strebt die Filmindustrie dazu, die zerstreuten Effekte wieder zu einer künstlerischen und Erlebniseinheit zusammenzuschweißen. Wie dies geschieht, verdeutlicht Kracauer in dem im selben Jahr wie Kaliko-Welt entstandenen Aufsatz Kult der Zerstreuung. Dort argumentiert Kracauer, Zerstreuung als Unterhaltungsform vermittle der Masse – als Ornament – die Unordnung der Gesellschaft und fungiere somit als Signatur sozialer Zustände. Doch werde die Zerstreuung, »die sinnvoll einzig als Improvisation ist, als Abbild des unbeherrschten Durcheinanders unserer Welt«, von den Lichtspielhäusern »mit Draperien umhängt und zurückgezwungen in eine Einheit, die es gar nicht mehr gibt.«17 Das heißt, dort, wo das Kino sich als bürgerliches Theater tarnt, statt der neuen technisch-medialen Bilderform auch durch die äußerliche Darbietungsform gerecht zu werden, kann das filmische Bild seiner inneren Logik als symbolischer Ausdruck technischer und sozialer Rationalisierungs- und Modernisierungsprozesse nicht mehr 14 Vgl. Inka Mülder-Bach: Der Umschlag der Negativität. Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphorik der ›Oberfläche‹. In: DVjs 61 (1987), S. 359–373. 15 Kracauer 2004 (wie Anm. 8), S. 196. 16 Detlev Schöttker spricht von einer »soziologische[n] Ikonologie« bei Kracauer. Detlev Schöttker: Bild, Kultur und Theorie: Siegfried Kracauer und der Warburg-Kreis. In: Leviathan 34/1 (2006), S. 124–141, hier S. 125. 17 Siegfried Kracauer: Kult der Zerstreuung [1926]. In: ders.: Werke. Bd. 6.1 (wie Anm. 8), S. 208–213, hier S. 212. Siegfried Kracauer als Bildgelehrter
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gerecht werden. Dem stellt Kracauer seinen utopischen Entwurf eines anderen Kinos entgegen, das seine Vorführungen »von allen Zutaten [befreit], die den Film entrechten, und radikal auf eine Zerstreuung [abzielt], die den Zerfall entblößt, nicht ihn verhüllt«.18
18 Ebd., S. 213.
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Silke Horstkotte
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RELEK T ÜRE
Dorothee Kimmich
Überleben im Niemandsland oder die Entdeckung raumzeitlicher interzones Siegfried Kracauers Abschied von der Lindenpassage
I. Die Rache der pornographischen Dinge Abschied von der Lindenpassage1 – so ist ein kurzer Text von Siegfried Kracauer aus dem Jahr 1930 überschrieben. Die Berliner Lindenpassage, die Kracauer hier nur noch aus der Erinnerung beschreibt, da nach der Sanierung nichts von ihrem alten Charakter übrig war, ist wie Walter Benjamins Pariser Passagen ein Ort im Untergrund oder besser am Rande der bürgerlichen Welt. Alles, was in dieser nicht gern gesehen wird, nistet sich dort ein: »Sie beherbergten das Ausgestoßene und Hineingestoßene, die Summe jener Dinge, die nicht zum Fassadenschmuck taugten.«2 Die Auslagen der Läden dienen »körperliche[r] Notdurft« und der »Gier nach Bildern«.3 Es finden sich hier alte Brillen, Briefmarken, Reisebüros, Pornographisches, Anatomiemuseen, Andenkenläden (mit ebenfalls pornographischen Artikeln) und ein Weltpanorama: Was die Gegenstände der Lindenpassage einte und ihnen allen dieselbe Funktion zuerteilte, war ihre Zurücknahme von der bürgerlichen Front. […] Man exekutierte sie, wenn es möglich war, und konnten sie nicht ganz zerstört werden, so wies man sie doch aus und verbannte sie ins innere Sibirien der Passage. Hier aber rächten sie sich am bürgerlichen Idealismus, der sie unterdrückte, indem sie ihre geschändete Existenz gegen seine angemaßte ausspielten. Erniedrigt, wie sie waren, gelang es ihnen, sich zusammenzuscharen und im Dämmerlicht des Durchgangs eine wirksame Protestaktion gegen die Fassadenkultur draußen zu veranstalten. Sie stellten den Idealismus bloß und entlarvten seine Produkte als Kitsch.4 1 Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage. In: ders.: Werke. Hg. v. Inka MülderBach; Ingrid Belke. Bd. 5.3. Berlin 2011, S. 393–400. 2 Ebd., S. 394. 3 Ebd., S. 395. 4 Ebd., S. 398. Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage
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Die moderne Großstadt gleicht hier einem Schlachtfeld, auf dem mit allen Mitteln gekämpft wird; die bürgerliche Gesellschaft ist ein Terrorregime, das nur überlebt, weil es alles Unliebsame in die Verbannung – nach Sibirien – schickt oder in Ghettos wegsperrt, aus dem Zentrum verbannt oder dort einschließt. Von den Menschen ist offenbar kein Widerstand zu erwarten. Der Aufstand der Dinge wird der einzige Protest sein: Die ›an-stößigen‹ Dinge desavouieren den glatten Kitsch der Fassaden als Faschismus, sie provozieren und geben Anstöße zum Nachdenken.5 Sie sind lebendiger, als der ›bürgerliche Idealismus‹ es erlaubt, und dabei sind sie nicht nur – wie bei Walter Benjamin – Zeugen der Vergangenheit, sondern – viel schlimmer – auch solche der Vergänglichkeit: »Wir selber begegneten uns als Gestorbene in dieser Passage wieder.«6 Der Ton dieses Textes ist ungewöhnlich für Kracauer. An manchen Stellen geradezu pathetisch, an anderen fast unverständlich, ist der kurze Texte aber vor allem von einer ungeheuren Wut erfüllt. Der Umbau der Passage wird beschrieben, als handle es sich um die Zerstörung einer Welt, einer ganzen Kultur, als sei es die Schändung eines Schtetls. Tatsächlich erinnert dieser NichtOrt, dieser ›Non-lieu‹7 avant la lettre, mitten in der Stadt an ein Ghetto, in dem sich die Entrechteten und Ausgestoßenen aufzuhalten haben. Die Passage ist ein »Heterotopos«8, an dem sich die Aussätzigen, die Wahnsinnigen und eben diejenigen Dinge aufhalten, die nicht nur keinen Platz mehr haben, sondern die auch in keine Zeit mehr gehören. Sie werden zu Recht als gefährlich eingestuft: Wer will sich schon als Gestorbener selbst begegnen? Die verstörende Präsenz der Dinge lässt sich aber nicht einfach durch Wegsperren erledigen. Der Versuch, die Dinge in den Passagen zu verstecken und sie so hinter den glatten Fassaden der Häuser verschwinden zu lassen, misslingt. Die in sich geschlossenen Fassaden der Berliner Bürgerhäuser stehen im Sinne einer ›puren Fassade‹ bei Kracauer nicht nur für die Scheinwelt der faschistisch unterwanderten Republik, sondern zugleich auch für einen Typus von Philosophie, für eine Weltanschauung, die er als ›Idealismus‹, als ›bürgerlichen Idealismus‹ oder auch als ›konstruktiven Idealismus‹ bezeichnet.9 Ihre bauliche und stilistische Geschlossenheit, ihre undurchdringliche Oberfläche repräsentieren einen Gestus des Totalitären und der Exklusion, 5 Vgl. ebd., S. 398 f. 6 Ebd., S. 399. 7 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit [frz. 1992]. Frankfurt/M. 1994. 8 Michel Foucault: Die Heterotopien [frz. 1966]. Frankfurt/M. 2005, S. 9–20. 9 Vgl. dazu auch Siegfried Kracauer: Edmund Husserl. In: ders.: Werke. Hg. v. Inka MülderBach; Ingrid Belke. Bd. 5.3. Berlin 2011, S. 129 f.
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Dorothee Kimmich
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der neben der Politik auch die Moral und die Philosophie seiner Zeit charakterisieren soll. Diese totalitäre Haltung, die nicht nur die Architektur, sondern auch die politischen Verhältnisse prägt, sorgt für die Verbannung der banalen Dinge des Lebens in die Passage. Die Passage und ihre vergessenen, alltäglichen Gegenstände formulieren einen massiven Einwand gegen den von Kracauer unter Totalitarismusverdacht gestellten ›Idealismus‹. Sie protestieren gegen einen Konstruktivismus, der sich als Naturgesetz ausgibt.10 Die Passage ist ein Ort der Ausschließung, aber zugleich kein Ort, an dem sich das lediglich Überflüssige ansammelt. Vielmehr ist die Passage der Ort oder auch der Anlass, über das Ausgeschlossene zu reflektieren. Dabei geht es nicht nur um Dinge, die vermeintlich nicht zu gebrauchen sind. Es geht um die abstrakte Operation des Aus- und Einschließens selbst, die jeder Form von zeichenhafter oder begrifflicher Bestimmung inhärent ist. Die Passage stellt die Frage, wie wir erkenntnistheoretisch und moralisch mit dem umgehen, was sich nicht auf den Begriff bringen lässt. Kracauer denkt, wie viele seiner Zeitgenossen, strukturalistisch oder sogar eher in einer Form von differenztheoretischen Ansätzen. Jede Definition und jeder Begriff gelten dabei nicht nur als eine Bestimmung von etwas als etwas, sondern es wird diese Operation zugleich auch als ein Ausschluss gesehen. Das bedeutet für Kracauer aber nicht, dass Bestimmung selbst eine verfehlte Operation sei. Er ist kein romantischer Sprachskeptiker, der von der Aufhebung der Differenzen, vom Schweigen der Sprache träumt und Begriffe verabscheut. Allerdings ist ihm daran gelegen, das Unbestimmte als Kommentar des Bestimmten und umgekehrt das Bestimmte als Kehrseite des Unbestimmten zu lesen.11 Kracauers Ruf nach einer Errettung der äußeren Wirklichkeit – so der Untertitel seiner 1960 erschienenen Filmtheorie – ist daher nicht nur eine medientheoretische oder filmhistorische Forderung. Vielmehr handelt es sich dabei um den theoretischen Versuch, die Operation begrifflicher und sprachlicher Bestimmung nur als Annäherung an die Wirklichkeit zu verstehen und nicht als deren Repräsentation. Dazu bedarf es bestimmter Techniken, die er eher in der Kunst oder auch in der Geschichtsschreibung findet als in der Philosophie. Am besten geeignet scheint ihm eine komplizierte und vorsichtig ausbalancierte Mischung unterschiedlicher Techniken, die er in verschiedenen Bereichen der Kunst, in Literatur, Photographie, Film und Geschichtsschreibung, aber auch in Architektur und Soziologie verbreitet sieht. 10 Vgl. Helmuth Lethen: Sichtbarkeit. Kracauers Liebeslehre. In: Michael Kessler; Thomas Y. Levin (Hg.): Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Tübingen 1990, S. 195–228. 11 Vgl. dazu Martin Seel: Wie phänomenal ist die Welt? In: ders.: Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays. Frankfurt/M. 2006, S. 171–189. Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage
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Etwas als ›etwas‹ zu sehen und zu erkennen bzw. zu benennen verlangt zugleich nach einer Operation, die das dabei Übersehene zur Geltung bringen kann. Kracauers Lieblingsbeispiel, das er mehrfach in diesem Reflexionszusammenhang zitiert, stammt aus Marcel Prousts Recherche du Temps perdu: Es gibt dort eine Stelle, an der Marcel unbemerkt auf die Schwelle eines Zimmers tritt und dort verharrt: Was auf ganz mechanische Weise in diesem Moment in meinen Augen zustande kam, als ich meine Großmutter bemerkte, war wirklich eine Photographie. Wir sehen geliebte Wesen stets nur im lebendigen Zusammenhang […]. Und wie ein Kranker […] erblickte ich, für den meine Großmutter immer ein Teil meiner selbst geblieben war und der ich sie niemals anders als durch das Mittel meiner Seele erschaut hatte, […] plötzlich in unserm Salon, […] auf dem Kanapee sitzend, rot, schwerfällig, vulgär, krank, vor sich hindösend […] eine alte, von der Last der Jahre gebeugte Frau, die ich gar nicht kannte.12
Die Großmutter ist als Großmutter höchst vertraut und doch zugleich als alte Frau für denjenigen, der auf der Schwelle verharrt, absolut fremd. Beides schließt sich nicht aus, sondern gehört untrennbar zusammen, kann aber im Wort ›Großmutter‹ nicht zureichend ausgedrückt werden. Zunächst geht es hier um eine Form der Verfremdung, der Entfremdung, also der verfremdeten Wahrnehmung, der ›Entautomatisation‹ wie Viktor Šklowskij sie nannte.13 Es handelt sich aber nicht nur im allgemeinen literaturhistorischen Sinne um einen ›Verfremdungseffekt‹, sondern auch um das, was in der philosophischen Tradition als epochè bezeichnet wird, um die praktisch und ästhetisch vorgeführte phänomenologische ›Einklammerung‹ von Welt. Sie setzt fundamentale Ordnungskategorien oder Signifika-
12 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 2: Die Welt der Guermantes [frz. 1920/21]. Frankfurt/M. 1967, S. 1438 f.; vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [engl. 1960]. In: ders.: Werke. Hg. v. Inka MülderBach; Ingrid Belke. Bd. 3. Frankfurt/M. 2005, S. 44–46. Auch andere literarische Beispiele werden angeführt. Über Prousts Kuss der Albertine heißt es: »Dergleichen Bilder erweitern unsere Umwelt in doppeltem Sinne: sie vergrößern sie buchstäblich; und eben dadurch sprengen sie das Gefängnis konventioneller Realität, Bezirke erschließend, die wir zuvor bestenfalls im Traum durchstreift haben.« (Ebd., S. 95) 13 »Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen.« Viktor Šklovskij: Theorie der Prosa [russ. 1925]. Frankfurt/M. 1984, S. 13. Vgl. dazu auch Carlo Ginzburg: Verfremdung. Vorgeschichte eines literarischen Verfahrens. In: ders.: Holzaugen. Über Nähe und Differenz [ital. 1998]. Berlin 1999, S. 11–41; vgl. zu technischen Innovationen und Verfremdung Jonathan Crary: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture. Cambridge/Mass.; London 1999.
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tionen, wie die von Vergangenheit und Gegenwart oder die von Subjekt und Objekt, zeitweilig außer Kraft. Sie beschreibt dabei nicht nur einen Prozess, der sich auf das Objekt und dessen neue Sichtweise bezieht, sondern zugleich auch einen, der das Subjekt selbst betrifft. Voraussetzung für eine gelungene epochè ist eine spezifische Selbstdistanzierung, ja fast so etwas wie eine momentane Selbstauslöschung; nicht nur das Objekt muss ›in Klammern gesetzt‹ werden, sondern auch das Subjekt. Das wahrnehmende Subjekt verbannt sich selbst aus dem Zentrum von Setzung und Deutung und stellt sich auf die Schwelle oder anders ausgedrückt: an die Peripherie der Szene. Die räumliche Konnotation und Organisation des in Prousts Text vorgeführten Verfahrens ist deutlich zu erkennen. Das »tragende Ich«14 wird relativiert, an den Rand geschoben, auf die Schwelle gesetzt; es scheint sich im Prozess des aufmerksamen Registrierens von Dingen, Personen, Ereignissen zu verändern oder sogar zu verlieren.15 Kracauer verwendet dafür – wie übrigens auch Erwin Panofsky – den Begriff des Self-Effacement.16 Selbstauslöschung ist dabei aber weniger eine Form von präpostmodernem ›Selbstmord des Autors‹, sondern vielmehr eine Neukonstellation der Räume: Die Hauptfigur rutscht an den Rand. Die Erzählung zieht sich aus dem Zentrum des Geschehens zurück in Räume, die ein spezifisches ›Dazwischen‹ markieren. Man könnte diese Zustände oder Räume als raumzeitliche interzones bezeichnen, die eine spezifische Form von Wissen und Handeln ermöglichen. Kracauer hat sich bis zu seinem Tod im Jahr 1966 mit diesem Problem von Beobachtung, Wahrnehmung, Verfremdung, Aufmerksamkeit und Bezeichnung intensiv auseinandergesetzt. Seine Frau bittet in einem Brief vom 30. März 1968 Hans Blumenberg um eine Erklärung einiger Notizen für sein Geschichtsbuch, die sie im Nachlass ihres Mannes fand und die wie folgt lauten: »Prof. Blumenberg has established a principle of the economy of intention. According to this principle, the intensive attention we pay to one problem precludes our close investigation of others.« Blumenberg antwortet Lili 14 Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt/M. 1981, S. 388–408, hier S. 401. 15 Bei Paul Valéry gibt es eine Formulierung, die Ähnliches beschreibt: »Solange Dinge eine Bedeutung und sogar eine Form haben, befinden wir uns im Anthropomorphismus […]«; was man erreichen sollte, wäre dagegen: »So wie wir uns dem Wirklichen eines Wortes nähern, indem wir es durch ständiges Wiederholen, und wäre es das vertrauteste Wort, wie ein fremdartiges Geräusch vernehmen […]. So wie ein Tier es hört.« Paul Valéry: Cahiers 2. Frankfurt/M. 1988, S. 105. Vgl. auch Karl Löwith: Paul Valéry – Grundzüge des philosophischen Denkens. Göttingen 1971, S. 9–25. 16 Vgl. Siegfried Kracauer; Erwin Panofsky: Briefwechsel. Hg. v. Volker Breidecker. Berlin 1996, S. 180. Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage
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Kracauer am 16. April 1968, er habe mit Kracauer in diesem Zusammenhang die Husserl’sche Idee einer »erfüllten Anschauung« diskutiert und kritisiert. Sie sei ihnen als »hypertrophe Unendlichkeitszumutung erschienen«.17 Statt einer ›erfüllten‹ Anschauung scheint Kracauer eher eine Form der ›dynamischen‹, ›migrierenden‹, ›exterritorialen‹ oder ambivalenten Anschauung zu favorisieren. Die Ablehnung der Husserl’schen Konzepte steht im Zusammenhang mit dem immer wieder diskutierten Versuch, Geschichte als heterogene Zeitstruktur zu erfassen. Kracauer hat sich nicht nur theoretisch, sondern auch literarisch mit diesen Problemen auseinandergesetzt und in seinem 1928 erschienen Kriegsroman Ginster eine exemplarische Figur der Peripherie oder dieser Zwischenräume geschaffen.18 ›Ginster‹ heißt die Hauptperson nach der Pflanze, die an Bahndämmen wächst, an den Orten, die keiner sieht, den Brachlandschaften der Großstädte, den Niemandsländern der modernen Welt. Allerdings sind diese ›Non-Lieux‹ nicht wie diejenigen von Marc Augé Orte der postmodernen Entfremdung, der humanitären Obdachlosigkeit und der Alltagsmigration des entwurzelten Menschen. Vielmehr sind sie Orte des Überlebens: Sie liegen im wahrsten Sinne des Wortes nicht in der Schusslinie. Ginster überlebt den Ersten Weltkrieg, weil er in seinem persönlichen Niemandsland schlicht übersehen wird. Auch Kracauers Lindenpassage ist ein solches rettendes Niemandsland im Sinne von Ginster, aber auch in dem von Georg Simmel und Jurij Lotman. Dessen Konzept der ›Peripherie‹ weist ebenso wie die Simmel’sche ›Grenzwüste‹ signifikante Ähnlichkeiten mit Kracauers Überlegungen auf.
II. Überleben im Niemandsland: Georg Simmel und Jurij Lotman Das dynamische Verhältnis von Zentrum und Peripherie, Inklusion und Exklusion, Restriktion und Mobilität, Dynamik und Stabilität ist ein zentrales Theorem der Kultursemiotik von Jurij Lotman. Jurij Tynjanov, so kann man bei Lotman nachlesen, habe ihn auf »den gesetzmäßigen Zusammenhang aufmerksam [gemacht], der im strukturellen Unterschied zwischen
17 Die Originale der beiden unveröffentlichten Briefe befinden sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. 18 Vgl. Siegfried Kracauer: Ginster. Von ihm selbst geschrieben. In: ders.: Werke. Bd. 7. Hg. v. Inka Mülder-Bach; Ingrid Belke. Frankfurt/M. 2004, S. 9–256, bes. S. 245–256.
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dem Kern eines Systems und seiner Peripherie besteht.«19 Es gebe hier einen Mechanismus, »aufgrund dessen automatisierte Strukturen des Kerns periodisch durch solche ersetzt werden, die an der Peripherie liegen.«20 Lotman greift das auf und präzisiert: Die Möglichkeiten, dass sich ein semiotisches System verändert, hängen von der Beziehung ab, die ein Kollektiv […] zu ihm hat. D. h., dass ein bestimmtes semiotisches System nicht als einzig mögliches, sondern als eine unter potentiell vorhandenen Varianten aufgefasst wird. Eine derartige Beziehung ist nur möglich, nachdem man eine bestimmte Sprache mit einer anderen verglichen hat.21
Lotman spricht hier von einem inneren und einem äußeren »Polyglottismus«.22 Dieser sei dafür verantwortlich, dass sich Systeme wandeln können, und ermögliche Entwicklung und Modernisierung; dies allerdings gerade nicht im Sinne einer Homogenisierung und Anpassung der Peripherien. Es geht dabei aber auch nicht um die Erfahrung einer Differenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen, sondern vielmehr um den irritierenden Befund, dass sich Fremdes und Eigenes nicht ohne Weiteres separieren lässt.23 Eine Reterritorialisierung von Narration und Kultur ist unmöglich. Wenn man mit Lotmans Kulturtheorie behaupten will, dass sich das Entscheidende an den Grenzen tut, dann wird man sich mit der Funktion und Gestalt von Peripherien beschäftigen müssen. Dort nämlich geschieht durch die Transformation und Verarbeitung von Unterschieden – nicht durch deren aneignende Assimilation – so etwas wie Wandel, Innovation, Evolution. Lotman operiert mit den Begriffen von Peripherie und Zentrum. Anders als in anderen strukturalistischen oder auch systemtheoretischen Modellen werden dabei am Rand aber nicht Differenzen markiert, sondern Ähnlichkeiten ausgehandelt. Peripherie ist keine Trennlinie, sondern ein Gebiet; sie ist eher eine Zone als eine Grenze. Dieses Modell kann noch abgewandelt und ergänzt werden durch eine verwandte Idee von Georg Simmel. Für Simmel sind nämlich die Räume der
19 Jurij M. Lotman: Dynamische Mechanismen semiotischer Systeme [russ. 1971]. In: ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Hg. von Karl Eimermacher, Kronberg 1974, S. 430–437, hier S. 430; ders.: Über die Semiosphäre [russ. 1984]. In: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 12, Heft 4 (1990), S. 287–305; ders.: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. London 1990. 20 Lotman 1974 (wie Anm. 19), S. 430. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 431. 23 Vgl. dazu Anil Bhatti: Culture, Diversity and Similarity. A Reflection on Heterogeneity and Homogeneity. In: Social Scientist 37, Nr. 7–8 (Juli/August 2009), S. 33–48. Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage
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Aushandlung, des Überlebens nicht außen, am Rand, sondern mittendrin. Simmel spricht in diesem Zusammenhang von ›leeren Räumen‹, ›Grenzwüsten‹ oder auch von ›neutralen Räumen‹, die moderne Menschen um sich schafften.24 Es ist eine »Sphäre von gegen andere geübten Reserven«. Diese Reserven – ›Reservate‹ des Alltags gewissermaßen – sind manchmal mitten in der Stadt: Cafés, Zeitungskioske, Bushaltestellen, Parks, Bahnhöfe, Flughäfen und Passagen. Niemandsland ist dort, wo man wenigstens zeitweise leben kann, ohne dass man beachtet wird.25 Niemandsländer sind nach Simmel Räume, in denen sich gut verhandeln lässt. Unter den vielfachen Fällen, in denen die Maxime: tu’ mir nichts, ich tu’ dir auch nichts – das Benehmen bestimmt, gibt es keinen reineren und anschaulicheren als den des wüsten Gebietes, das eine Gruppe um ihre Grenze legt; hier hat sich das Prinzip völlig in die Raumform hinein verkörpert.26
In solchen stillen, vergessenen Räumen wird es möglich, über Lebensformen zu verhandeln; da muss man sich nicht verstehen und interpretieren, sondern sich nur tolerieren. Statt gegenseitigem Verständnis wird ›hermeneutische Abstinenz‹ gefordert. Die Aushandlung von Ähnlichkeiten, der distanzierte Umgang mit demjenigen, den oder das man nicht verstehen kann und mag, ist für Simmel eine Bedingung modernen Lebens in der Großstadt. Die Forderung nach umfassendem Einverständnis ist dagegen nichts anderes als ein neurotischer Hang zur ›Tyrannei der Intimität‹.27
24 Vgl. Georg Simmel: Über räumliche Projektionen socialer Formen. In: ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 7. Hg. v. Rüdiger Kramme u. a. Frankfurt/M. 1995, S. 201–220. 25 ›Überlebensstrategien‹ für die zerstreuende und zerstreute Moderne, wie sie etwa von Georg Simmel oder Helmuth Plessner beobachtet werden, sind etwa die Immunisierung gegen Eindrücke, der Rückzug ins Innere oder die ›Verhaltenslehren der Kälte‹ (vgl. Helmuth Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M. 1994). Vgl. dazu auch Dorothee Kimmich: Moralistik und Neue Sachlichkeit. Ein Kommentar zu Helmuth Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹. In: Wolfgang Eßbach; Joachim Fischer (Hg.): Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹. Eine Debatte. Frankfurt/M. 2002, S. 160–182. 26 Simmel: Über räumliche Projektionen (wie Anm. 24), S. 215. 27 Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität [engl. 1977]. Frankfurt/M. 1986.
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III. Zurück in der Passage: »Denken durch die Dinge« Die wütenden Angriffe in Kracauers Lindenpassage lassen sich vor diesem Hintergrund besser verstehen. Sie richten sich gegen politische, ethnische und philosophische Assimilationsformen, gegen einen Idealismus, den Kracauer als faschistisch bezeichnet, gegen die ideologische und architektonisch markierte Geste der Exklusion, gegen Homogenisierung von Lebensformen und von Geschichtsschreibung. Die Passage dagegen ist ein Ort des Überlebens, eine Zone, die – wenigstens für eine bestimmte Zeit – der Kontrolle und der Macht entzogen ist. Im Niemandsland lässt man sich in Ruhe: in Ruhe pornographische Bilder anschauen, in Ruhe nichts tun, in Ruhe schlendern oder träumen. Die Passage ist weder ganz öffentlich noch ganz privat und lässt sogar Intimes – Begegnungen, Blicke oder Treffen – zu, ohne dass man Sanktionen zu fürchten hätte. In diesem relativ gewalt- und machtfreien Raum entwickelt sich darüber hinaus auch ein seltsames Verhältnis zwischen Menschen und Dingen. Ebenso wie bei Benjamin ist auch bei Kracauer der Kritik am Idealismus immer die Unzufriedenheit mit dem Materialismus marxistischer Provenienz beigemischt. Die Suche nach anderen Formen eines modernen Materialismus bleibt bei beiden ein unerreichtes Ziel.28 Die Herausforderung eines Denkens, das die begriffliche Abstraktion zunächst aussetzt und sich vielmehr auf das Konkrete, das je Einzelne, eben das ›Ding‹ konzentriert, ist in Kracauers Werk an allen Stellen präsent. Das Dilemma zwischen »erlebter Vielfalt und Bedürfnis nach Zusammenhang«29 zieht sich durch sein gesamtes Werk. Kracauers dabei formulierte Vorstellung einer ›Errettung der äußeren Wirklichkeit‹ oder seine Philosophie der ›vorletzten Dinge‹ ist erst in jüngster Zeit wieder auf zunehmendes Interesse gestoßen. Dabei ist deutlich geworden, dass Kracauer in philosophischer wie in ästhetischer Hinsicht eine ernstzunehmende Position entwickelt, die sich mit Konzepten von Benjamin, Bloch oder Ernst Cassirer berührt. Sein 28 Vgl. dazu Dorothee Kimmich: Kleine Dinge in Großaufnahme. Bemerkungen zu Aufmerksamkeit und Dingwahrnehmung bei Robert Musil und Robert Walser. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), S. 177–194; dies.: ›Wir sehen nur was uns anschaut.‹ Walter Benjamin und die Welt der Dinge. In: Barbara Straka; Detlev Schöttker (Hg.): Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste. Ausst.-Kat. Berlin 2004. Frankfurt/M. 2004, S. 156–167. 29 Michael Schröter: Weltzerfall und Rekonstruktion. Zur Physiognomik Siegfried Kracauers. In: Text + Kritik 68 (1980), S. 18–40, hier S. 24; Klaus Koziol: 28 Tiefgründiger Gedanke NR 8. Die Wirklichkeit als Konstruktion. Zur Methodologie Kracauers. In: Kessler/Levin 1990 (wie Anm. 10), S. 147–158. Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage
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spezifischer Realismus ist keineswegs ›wunderlich‹, wie Adorno mit kritischem Akzent noch in den 1960er Jahren bemerkte. Vielmehr ist er Teil eines komplexen Diskurses, der Ästhetik, Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Erkenntnistheorie mit Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie verbindet.30 Während in den frühen 1920er Jahren bei Kracauer das Bedürfnis nach einer Heilung der allgemein wahrgenommenen Zersplitterung und Auflösung dominiert, nimmt im Laufe der Zeit die Skepsis gegenüber den immer unzulänglich bleibenden Systematisierungsversuchen unterschiedlichster ideologischer Provenienz zu. »Was bleibt, ist der Einspruch […] gegen prätendierte Deutungen – und als letztes die vorläufige Hinwendung zum Einzelnen, Alltäglichen, Individuellen, das aus den herrschenden Interpretationen herausfällt und doch der Prüfstein jeder Interpretation wäre.«31 Kracauers unphilosophische Philosophie einer im Vorraum des Letzten auf die ›vorletzten Dinge‹ konzentrierten Erkenntnis vermeidet alle Fixierungen. Sie ist eher im Gegenteil darum bemüht – wie Kracauer gegen Ende seines Lebens mit Blick auf Erasmus festhält – ihre »Ideen sozusagen in flüssigem Zustand zu halten«32. Jenseits abstrakter Verfügung und unter Verzicht auf jegliche Letztbegründung geht es ihm darum, die Wirklichkeit in ihrer »Eigenbeschaffenheit«33 in den Blick zu bekommen, was nur dann gelingen kann, wenn Erkenntnis als Denken »durch die Dinge […], anstatt über sie hinweg«34 vollzogen wird. Ein solches Denken lässt sich auf die Dinge in ihrer Konkretheit ein, ohne sich ihnen freilich zu überlassen. ›Denken durch die Dinge‹ kann als ein mimetisches Denken beschrieben werden, ein Denken, das sich von der sinnlichen Qualität der Erscheinungen affizieren lässt, doch weder konkretistisch in den Dingen aufgeht noch sich abstrakt über sie erhebt. Es geht Kracauer dabei gerade nicht darum, die beiden Seiten, das Konkrete und das Abstrakte, zu versöhnen oder sich für jeweils eine zu entscheiden, sondern die »Gewohnheit des Denkens«35 so zu korrigieren, dass 30 Vgl. dazu Dagmar Barnouw: Critical Realism. History, Photography and the Work of Siegfried Kracauer. Baltimore; London 1994. 31 Schröter 1980 (wie Anm. 29), S. 25. 32 Siegfried Kracauer: Zwei Deutungen in zwei Sprachen [1965]. In: ders.: Werke. Hg. v. Inka Mülder-Bach; Ingrid Belke. Bd. 5.4. Berlin 2011, S. 631–642, hier S. 637. 33 Siegfried Kracauer: Prophetentum [1922]. In: ders.: Werke. Hg. v. Inka Mülder-Bach; Ingrid Belke. Bd. 5.1. Berlin 2011, S. 460–469, hier S. 466. 34 Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen [engl. 1969]. In: ders.: Werke. Hg. v. Inka Mülder-Bach; Ingrid Belke. Bd. 4. Frankfurt/M. 2009, S. 210. Hervorhebung im Orig. Vgl. dazu Frank Grunert; Dorothee Kimmich (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München 2009. 35 Kracauer 2009 (wie Anm. 34), S. 23.
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diese Zwischenbereiche mit »ihrer besonderen Natur« als solche »eigenen Anspruchs« zu erkennen und zu begründen sind.36 Es geht um ›Zwischenbereiche‹ des Denkens und Repräsentierens37, um solche, die in einem speziellen Raum zwischen Wissenschaft und Kunst bzw. zwischen Imagination und Dokumentation zu finden sind. Die Rede ist von einer Diskursform, die sich sowohl gegenüber der philosophischen Abstraktion als auch gegenüber der empirischen Wahrnehmung und Aufzeichnung abgrenzt. Als Denken in Denkbildern vermittelt es unaufhörlich Abstraktion und Konkretion, und zwar im Bewusstsein unhintergehbarer Vorläufigkeit. ›Vorraum-Denken‹ nennt Kracauer diese Form von antinomischem Diskurs, der nicht ambivalent, sondern eher ›doppelt‹ sein will: Abstraktion und Konkretion müssen koexistieren, ohne dass eine Form der Aufhebung des einen in das andere je gelingen könnte.38 Adorno hat dieses Anliegen immer mit einer Mischung von Verwunderung und Ablehnung betrachtet. Insbesondere die periphere Rolle, die das Subjekt dabei zugewiesen bekommt, und das so entstehende Verhältnis zu den Dingen haben Adorno befremdet. Den Roman Ginster findet er eigenartig, insbesondere, weil dort – wie er richtig konstatiert – die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zu implodieren drohe. Ginster – so Adorno zwischen Bewunderung und Ablehnung hin- und herwechselnd – sei ein roman philosophique, in dem genau dieses Individuelle, dieses ›Unauflösliche‹, das paradoxerweise in Kracauers Text nichts als ein Loch sei, illustriert werde. Dabei werde dieser »Knoten der Individualität« nicht als etwas »Substantielles affirmativ hin[ge]stellt«, sondern »[v]ermöge der ästhetischen Reflexion wird das tragende Ich selbst relativiert«.39 In seinem Essay mit dem seltsamen Titel Der wunderliche Realist konstatiert Adorno mit dem etwas herablassenden Widerwillen des großen Theoretikers, dass es Kracauers Ziel gewesen sei, sich mit dem Konkreten auseinanderzusetzen, also gewissermaßen an der Aufgabe der Philosophie vorbei zu arbeiten; seine Vorstellung von Philosophie sei es gewesen, sich »der be-
36 Ebd. 37 Vgl. ebd. sowie insgesamt die Einführung zu Geschichte – vor den letzten Dingen; ebd., S. 11–23. 38 Vgl. ebd. Die Idee eines Denkens im ›Vorraum‹ wird genauer verhandelt im letzten Kapitel von Geschichte – vor den letzten Dingen; ebd., S. 209–238. 39 Adorno 1981 [wie Anm. 14], S. 401. Adorno betont, dass es sich hier nicht um ein theoretisches Programm handle, sondern um ästhetische Praxis: »Ebenbürtig der Konzeption ist die Sprache. Mit ihrer unzähmbaren Lust, Metaphern wörtlich zu nehmen, eulenspiegelhaft zu verselbständigen, aus ihnen eine Arabeskenrealität zweiten Grades zu stricheln, treibt sie Luftwurzeln weit in die Moderne hinein.« (Ebd., S. 402) Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage
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dürftigen Dinge, der schäbigen, verachteten, ihrem Zweck entfremdeten« anzunehmen, denn – so Adorno weiter – »sie allein verkörpern dem Bewußtsein Kracauers, was anders wäre als der universale Funktionszusammenhang, und ihnen ihr unkenntliches Leben zu entlocken, wäre seine Idee von Philosophie.«40 Möglicherweise hätte Kracauer dieser kritischen Diagnose sogar zugestimmt. Wie eine solche Philosophie auszusehen hätte, hat er schließlich immer wieder und in verschiedenen Formulierungen vorgeführt. Kracauer weist mehrfach darauf hin, dass das phänomenale Bewusstsein eine Dichte des Bestimmtseins vergegenwärtigt, die mit begrifflichen Mitteln nicht reproduzierbar ist. Martin Seel formuliert diesen Gedanken heute mit ähnlichen Worten: »Die phänomenale Präsenz von Objekten und Ereignissen übersteigt das Vermögen ihrer deskriptiven Erfassung [….].«41 Die Erkenntnis und Repräsentation der Nichtidentität der Sache mit dem Begriff ist dabei für Kracauer nicht nur irgendeine Leistung der Dichtung und Literatur, sondern dies ist gewissermaßen seine Definition von Kunst – und eben auch die von Geschichte und Geschichtsschreibung. Der Historiker, so Kracauer in Geschichte – Vor den letzten Dingen, lebt im »fast vollkommenen Vakuum der Exterritorialität«, dem wahren »Niemandsland«.42 »Nur in diesem Zustand der Selbstauslöschung oder Heimatlosigkeit kann der Historiker mit dem Material, das ihm am Herzen liegt, vertraulich verkehren.«43 ›Selbstauslöschung‹, Self-effacement als Exterritorialität gedacht, ist die Bedingung für die Kommunikation mit dem Material. Diese verlangt keine Interpretation, sondern gerade hermeneutische Abstinenz, sie »kommt einer Art aktiver Passivität seitens des Historikers gleich. Er muß […] sich treiben lassen und die verschiedenen Botschaften, die zu ihm dringen, mit allen angespannten Sinnen aufnehmen.«44 Der Historiker ist ein Passagen-Wanderer und die Passage ist das, was es eigentlich nicht gibt, eine Passerelle, eine interzone, die quer zu Raum und Zeit liegt. Das ästhetische Verfahren der Verfremdung und die biographische Erfahrung der Fremdheit im Exil bilden sich gewissermaßen aufeinander ab, 40 41 42 43
Ebd., S. 408. Seel 2006 (wie Anm. 11), S. 186. Kracauer 2009 (wie Anm. 34), S. 95. Ebd., S. 96. Kracauer zitiert dort Schopenhauer, um die besondere Form der Betrachtung zu illustrieren: »Vor ein Bild hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selber vernehmen.« (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, zit. ebd., S. 96 f.) 44 Ebd., S. 97.
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allerdings gerade nicht im Sinne einer fatalen Situation, sondern vielmehr als Beschreibung der genuinen Position des Wissenschaftlers, Historikers und auch Künstlers: »Die Geschichte gleicht der Photographie unter anderem darin, daß sie ein Mittel der Entfremdung ist«.45 Damit sind wir in der Lindenpassage zu den ›vorletzten Dingen‹ gelangt: Die Lindenpassage, so stellen wir fest, ist der Ort, an dem sich die vorletzten Dinge verstecken. Kracauer verweist in seinem Passagen-Text ausdrücklich auf das Projekt seines Freundes und Kollegen Walter Benjamin. Auch bei Benjamin steht die Passage für die Kreuzung und Aufhebung von Raum und Zeit: Nur an einem Nicht-Ort wie der Passage werden ›Zeiträume‹ konserviert und aufbewahrt. Präziser als Benjamin es formuliert, kann Kracauer allerdings zeigen, in welcher Weise die Passage nicht nur eine historische Zwischenzeit markiert, sondern auch einen Raum generiert, in dem eine bestimmte Haltung, eine Form des Wissens, besser: ein ›Habitus des Erkennens‹ entsteht. Die Passage ist bei Kracauer weniger der Ort der Historie als vielmehr der des Historikers und damit auch der des Exilanten, des Simmel’schen Großstadtaristokraten und aller anderen Freunde der vorletzten Dinge. Anders als bei Benjamin sind es gerade nicht die eigentlich funktionslos gewordenen Sammlerstücke, die den Passagenbummler faszinieren, sondern vielmehr die Dinge, die immer schon die »Vorboten ihres Endes«46 sind. In dieser Zeitschlaufe finden sich Dinge, die uns gestern, heute und für immer gehören. Sie sind es, die in der Passage »verkannt und entstellt funkel[n]«.47 Sie gehen nicht auf in der Ordnung chronologischer Zeit. Von Kracauer werden die ›schäbigen‹ Dinge nicht als Träger von Erinnerung beschrieben, sondern als Wiedergänger. Sie sind nicht Zeichen für Vergangenes, sondern vielmehr Zeugen dafür, dass die Vergangenheit gar nicht vergangen ist: »Die Welt übersteigt unsere geistigen Fähigkeiten auf eine mal erstaunliche und mal erschreckende Weise. […] wir können uns weder theoretisch noch ästhetisch die Beruhigung verschaffen, dass alles, was es gibt, in unsrer oder sonst einer Ordnung ist.«48 »Wir selber begegneten uns als Gestorbene in dieser Passage wieder«49: Die Niemandsländer mitten in der Stadt erweisen sich als die Peripherien unserer Ordnungen, als diejenigen Stellen, an denen das gewohnte Raumzeitgefüge knirscht. Sie übersteigen die Verstehbarkeit, verhindern aber nicht die
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Ebd., S. 12 f. Kracauer 2011 (wie Anm. 1), S. 399. Ebd. Seel 2006 (wie Anm. 11), S. 189. Kracauer 2011 (wie Anm. 1), S. 399. Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage
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Begehbarkeit. Ihre ›zentrale Randlage‹ verlangt entspannte Aufmerksamkeit, zurückgenommene Präsenz, gelassene Heimatlosigkeit, kindliche Neugier und vor allem Furchtlosigkeit. Kein Wunder, dass nicht alle gerne durch Passagen gehen: Ein guter Historiker – in Kracauers Sinne – wird also nur, wer keine Angst vor der eigenen Sterblichkeit hat.
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II. Wege
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Text und Kommentar bei Walter Benjamin Für Ulrich Sand Die Orthodoxie ist das Zweitbeste. Sie erhält die Welt. Dov Desperes: Aphorismen, Konvolut b
I. Auf kaum jemanden unter den Intellektuellen im Umkreis der Kritischen Theorie scheint das Etikett ›Textgelehrter‹ so gut zu passen wie auf Walter Benjamin. Zumal wenn man hinter der Prägung ›Textgelehrter‹ nicht nur den modernen Philologen, sondern auch die vormodernen Züge des Schriftgelehrten entdeckt. Das Lesen als Haltung ist in die Bildvorstellung, die wir uns dank berühmt gewordener Fotografien von Walter Benjamin machen, eingegangen. Wir sehen einen alternden, fülliger werdenden Mann in der Bibliothèque nationale gleichermaßen über Bücher wie über das neunzehnte Jahrhundert gebeugt; wir sehen die Hand, die die Stirne stützt, und, halb im Schatten dieser Hand, das meditative Gesicht mit Schnauzer und Rundbrille, das auch dann, wenn sein Ausdruck vom In-sich-hinein-Lauschen spricht, einer Schrift nachzuspüren scheint. In seinen enthusiastischsten Momenten hat der junge Gerhard Scholem seinem Tagebuch anvertraut, dass er Benjamin für einen Propheten hielt; und am Glauben, dass Benjamin aus Quellen tränke, die für andere längst verschüttet waren, hat Scholem lange und hartnäckig festgehalten.1 Auch haben wir in Benjamin einen Gelehrten 1 Zu Benjamin als ›Prophet‹ vgl. etwa Scholems in seinem Tagebuch festgehaltene glückstrunkene Reaktion auf Benjamins kurzen, aber feierlichen Brief vom 3. Dezember 1917: »Denn welche Bedrängnis kann mein Herz nun finden, wo dieses geschehen ist, wo mir Gott selber durch den Mund seines treuesten Propheten Mut hat erwecken lassen.« (Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. Hg. v. Karlfried Gründer u. a. Bd. 2. Frankfurt/M. 2000, S. 91 [5. Dezember 1917]; Benjamins Brief in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. v. Christoph Gödde; Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1995–2000. Bd. 1, S. 398) – Über Benjamins privilegierten Zugang zu geheimer Weisheit vgl. etwa die Tagebuchnotiz Scholems vom 17. Juni 1918: »Heute Nacht begann Walter, mir ungeheure Dinge über die Kosmogonie mitzuteilen.« (Scholem 2000, S. 238) Text und Kommentar bei Walter Benjamin
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vor uns, der das Lesen universalisierte, lange vor Clifford Geertz und Stephen Greenblatt. Beim Lesen der kulturellen Phänomene der Moderne hat er großen Wert darauf gelegt, das Hineinragen der Vormoderne in die moderne Welt nicht zu überlesen. Er war imstande, aus dem Anblick kleiner neapolitanischer Küstenstädte deren historische Schichtung von der archaischen Vorwelt bis zur Gegenwart herauf zu beschwören;2 und er hat in seiner Kafka-Lektüre – unter Rückgriff auf Bachofens Konstruktion des hetärischen Zeitalters – das vergessene Archaische betont, das in Kafkas Texten in seltsamer Entstellung zu Tage tritt.3 Ein Textgelehrter mithin in einem erweiterten Sinn, Inhaber einer Gelehrsamkeit, die sich ihres schriftgelehrten Erbes bewusst bleibt und die zugleich den Bereich dessen, was als Schrift zu gelten hat, aktuell auszudehnen bestrebt ist. Die literarische Form, in der sich der traditionelle Schriftgelehrte hauptsächlich äußert, ist der Kommentar. Wir sind nur allzu geneigt, im Kommentar einen Text zu sehen, der sich auf einen anderen Text in der Weise bezieht, dass er über ihn spricht, ihn thematisiert, nicht: ihn transformiert, fort- bzw. weiterschreibt. In diesem Sinn hat Gérard Genette in seinem bekannten Versuch der systematischen Einteilung der Typen der Relationen, die ein Text zu einem oder mehreren anderen unterhalten kann, die Metatextualität, die dem Kommentar zu eigen ist, strikt von der Hypertextualität unterschieden, die Texten zukommt, welche ihre Vorgängertexte transformieren.4 Diese Unterscheidung ist nicht nur von einer bezaubernden analytischen Klarheit, sie hat auch viel empirische Evidenz für sich. Kaum denkbar etwa, dass der gespreizte Alexandrinismus, mit der sich manch heutiger Literaturwissenschaftler über die demütigen Verse eines Dichters hermacht, jemals eine Chance haben könnte, als deren Fortschreibung zu gelten. Gleichwohl ist die Kluft, die das Wissen über einen Gegenstand vom Gegenstand
2 Vgl. Benjamins Atrani-Beschreibung (Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno; Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1972–1989 [künftig zitiert: GS]. Bd. IV.1, S. 83–148, hier S. 122). – Noch heute versäumen die meisten touristischen Besucher Amalfis den Besuch Atranis, obwohl die kleinere Stadt nur einen kurzen Fußmarsch, einen Weg über einen einzigen Hügel der Steilküste, von der größeren getrennt ist. 3 Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages [1934]. In: ders.: GS, Bd. II.2, S. 428–432. 4 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [frz. 1982]. Frankfurt/M. 1993, S. 13–15. – Genettes erste »provisorische Definition« der Hypertextualität beruft sich explizit auf ihre Abgrenzung vom Kommentar. Unter Hypertextualität, schreibt Genette, »verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.« (Ebd., S. 14 f.)
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selbst trennt, auch in der modernen Philologie nicht überall eine grundsätzliche. Der Wunsch, nicht über einen Text zu sprechen, sondern ihn selbst sprechen zu lassen, ist dem modernen Philologen nicht ganz fremd; auch er kennt, und sei es nur in plötzlichen Anfällen von Solidarität, die Vorstellung, dasselbe im Sinn zu haben wie jene Texte, über denen er brütet. Noch mehr ist diese grundsätzliche Solidarität dem Schriftgelehrten eigen. Die Schrift, der er sich kommentierend zuwendet, ist die Heilige Schrift: Als solche ist sie zu bedeutsam, als dass ein rein metatextuelles Verhalten zu ihr als angemessen gelten könnte. Im Angesicht eines »Ursprungstextes, in dem die Wahrheit zwar gegeben, aber nicht entfaltet ist«5, darf man nicht nur Wissen über ihn anhäufen, man muss ihn fortschreiben, um dieser Wahrheit teilhaftig zu werden, ihn umgraben, um sein Wachstum zu befördern.6 Die jüdische Tradition hat denn auch eine Kommentarliteratur hervorgebracht, die mit Fug und Recht als »Schreiben mit der Schrift« (statt als Schreiben über die Schrift) bezeichnet wurde.7 Oft werden im Talmud die Diskussionen unter den Rabbinen so geführt, dass sie einander kunstvoll mit Schriftzitaten antworten; die eigentliche hermeneutische Kunstfertigkeit besteht dann darin zu verstehen, wie die Schriftzitate als Argumente gemeint sind. Eine solche Form des Kommentars macht darauf aufmerksam, dass die auf den ersten Blick so einleuchtend erscheinende Grenze zwischen Kommentar und Transformation eines Textes durchlässig ist. Ein Kommentar kann auch einen Text fortschreiben – und umgekehrt können Transformationen eines Textes implizite Kommentare enthalten und auch als Kommentare gelesen werden. Der Begriff ›Tradition‹ bezeichnet Phänomene, in denen beides angetroffen werden kann: die Reflexion über das einer Tradition Zugrundeliegende ebenso wie dessen Fortschreibung und Weiterbildung.
5 Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007, S. 37. Die Formulierung bezieht sich auf das Verhältnis von Talmud zu Tora. 6 »Der Schriftgelehrte ist es, der die Offenbarung nicht mehr als etwas Einmaliges, fest Umrissenes, sondern als etwas unendlich Fruchtbares ergreift, das aufgegraben und umgegraben werden will: ›Wende sie um und um, denn alles ist in ihr‹.« (Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt/M. 1970, S. 90–120, hier S. 96) Die Mischnastelle, die Scholem anführt, ist so bekannt, dass er auf ihren Nachweis verzichtet: mAvot V, 26. 7 Vgl. Jacob Neusner; William Scott Green: Writing with Scripture. The authority and uses of the Hebrew Bible in the Torah of formative Judaism [1989]. Atlanta, Ga. 21993. Die Rabbinen »schreiben nicht über die Bibel, sondern sie schreiben mit ihr neue Texte mit eigener Logik.« (Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben. München 2003, S. 156) Text und Kommentar bei Walter Benjamin
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Ein Schriftgelehrter könnte demnach niemals zu der Auffassung gelangen, der Text, den er zu kommentieren habe, sei ein neutraler Gegenstand und es sei seine Aufgabe, Wissen über ihn zu produzieren. Auch die nivellierende Vorstellung von ›Textproduktion‹, nach der jeder, der einen Stift zwischen den Fingern hält (oder heute: eine Tastatur unter den Händen hat), nicht umhin können wird, ›Texte‹ zu verfassen, wäre ihm völlig fremd. Und er wäre auch der letzte, der mit dem Ausdruck ›mein Text‹ seinen eigenen Text bezeichnen wollte. Mit gutem Grund bedeutete in der Tradition ›mein Text‹ lange nicht: der Text, den ich verfasst habe, sondern der Text, den ich auszulegen, über den ich – als Vorlage – zu sprechen bzw. zu predigen habe. In diesem älteren Sprachgebrauch ist das Autoritätsgefälle zwischen Text und Kommentar zu selbstverständlich, als dass es überhaupt eigens erwähnt werden müsste. Der Text ist dem Kommentar überlegen, und der Kommentar erkennt dies an, indem er in dienender Funktion verharrt. Zugleich aber ist der Text auf den Kommentar angewiesen. Wie sollte seine Überlegenheit anerkannt, seine überragende Bedeutsamkeit vermittelt werden, wenn nicht durch den Kommentar, der sich auf ihn richtet und ihn immer wieder neu verständlich machen will? So ist es eigentlich erst der Kommentar, der dem Text seine Überlegenheit verleiht. Allerdings fehlt es ihm in der Regel an Bereitschaft, dies auch auszusprechen. Seinem Selbstverständnis nach bezieht der Kommentar die geliehene Autorität, die er hat, von der absoluten Geltung des Textes, auf den er sich bezieht. Walter Benjamin hat eine ganze Reihe von Kommentaren in dem soeben exponierten Sinn geschrieben. Die frühe Arbeit Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin wäre hier zu nennen, ebenso wie der Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, der noch dort, wo er ganz selbständige philosophische Reflexion zu sein scheint, in einem merkwürdig kommentierend-transformierenden Verhältnis zur Genesiserzählung steht.8 Beide Texte Benjamins legen beredtes Zeugnis von der Faszination ab, die die Vorstellung einer in einem Text gegebenen und legitimerweise nur in einem Kommentar zu entfaltenden Wahrheit9 für Benjamin gehabt haben muss. Zugleich jedoch war er Philosoph genug, um die Möglichkeit der absoluten Geltung eines Textes, die letztlich nur als Offenbarung gedacht werden kann, als Problem zu empfinden10, ja, seine eigensten Intentionen legten ihm nahe,
8 Vgl. Benjamin: GS, Bd. II.1, S. 105–126; S. 140–157. 9 »Mit anderen Worten: nicht das System, sondern der Kommentar ist die legitime Form, unter der die Wahrheit entwickelt werden kann.« (Scholem 1970 [wie Anm. 6], S. 101) 10 Die philosophische Dignität des Offenbarungsbegriffs wird von Benjamin in Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen behauptet. Der Begriff der Offenbarung
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sich von ihr zu lösen. Den Weg nachzuzeichnen, den er dabei beschritt, ist der Zweck des Folgenden.
II. Dass Benjamin und Scholem einander fanden, gehört in jene Schublade seltener Zufälle, in der auch der gemeinsame Besuch einer gewissen Eliteeinrichtung in Tübingen durch Hegel, Hölderlin und Schelling verwahrt wird. Eine wichtige gemeinsame Eigenschaft der beiden jungen Männer war der Sinn und Geschmack für das Unbedingte oder die geistige Radikalität – eine Eigenschaft, die Menschen isoliert, sofern sie nicht das Glück haben, auf den geistig Verwandten zu stoßen. Benjamins jugendliche Radikalität ist seit längerem bekannt, diejenige Scholems ist mit der Veröffentlichung seiner auf Deutsch geführten frühen Tagebücher in den Jahren 1995 und 2000 klar ans Licht getreten. Wer diese Tagebücher gelesen hat, weiß, dass es für den jungen Scholem Texte mit absoluter Autorität einfach gibt. Ihr Muster ist die Tora, aber deswegen ist es noch nicht ausgemacht, dass nur die Tora absolute Autorität besitzt: »Hölderlins Dasein ist der Kanon jeglichen historischen Lebens«, heißt es in einer längeren Aufzeichnung Scholems aus der Zeit des gemeinsamen Schweizer Aufenthalts. »Hierauf beruht die absolute Autorität Hölderlins, seine Stellung neben der Bibel. Die Bibel ist Kanon der Schrift, Hölderlin: Kanon, der Dasein ist. Hölderlin und die Bibel sind die beiden einzigen Dinge auf der Welt, die sich niemals widersprechen können. Das Kanonische ist zu definieren als reine Deutbarkeit.«11 Bei Scholem – wie auf andere Weise bei Benjamin – hat die Neigung, absolute Autorität zu setzen und anzuerkennen, aber auch ein Gegengewicht. Die Vokabel »Deutbarkeit« aus dem eben angeführten Zitat gibt uns hier den entscheidenden Hinweis. Die jüdische Orthodoxie, zu der sich Scholem eine Zeitlang hingezogen fühlte und der gegenüber er den Respekt niemals verlor, bewertete er bald als eine vorschnelle Stillstellung des unerschöpflichen Sinnpotentials der Tora, ein vorzeitiges und gewaltsames Abschneiden des
erscheint hier als »innigste Verbindung« der Sprach- mit der Religionsphilosophie. Und die Begründung für diese These ist, dass in der Offenbarung – und nur in der Offenbarung – das »reine Geistige« mit dem »fixiertesten Ausdruck« identisch ist. Die Gegebenheit der Wahrheit in der Offenbarung zeigt sich mithin auch darin, dass die Religion das einzige »Geistesgebiet« ist, »welches das Unaussprechliche nicht kennt«. Vgl. Benjamin: GS, Bd. II.1, S. 146 f. 11 Scholem 2000 (wie Anm. 1), S. 347. Text und Kommentar bei Walter Benjamin
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Interpretationsprozesses.12 Für Benjamin, der sich stets weigerte, in seinem Denken ausschließlich die religiöse Bahn zu verfolgen, gab es eine verwandte Versuchung: den Status der Vollendung und der schlechthinnigen Autorität einzelnen Kunstwerken zuzuschreiben. Die Verehrung für Hölderlin bei Scholem ist nichts anderes als ein Echo der entsprechenden Verehrung bei Benjamin, der den Freund in das Werk des Dichters eingeführt hatte. Und so wie Scholem die jüdische Tradition lehrte, die Bibel nicht als vollkommenes Textobjekt zu hypostasieren, fand Benjamin einen Traditionsstrang, der ihn davon abhielt, die Vollkommenheit im einzelnen gelungenen Kunstwerk aufzusuchen: die Kunsttheorie der Frühromantik, deren Darstellung er sich in seiner Dissertation widmete. Das Theorem Friedrich Schlegels, dass es Aufgabe der Kunstkritik sei, das Kunstwerk zu vollenden, hatte man im 19. Jahrhundert, sofern man überhaupt von ihm Notiz nahm, vorwiegend als skandalös und abwegig qualifiziert.13 Benjamin war der Erste gewesen, dem – eben in seiner Dissertation – eine einleuchtende und nachvollziehbare Darstellung dieses Theorems gelang. Die Schlusspassagen des Kapitels Die Idee der Kunst in Benjamins Dissertation machen deutlich, dass das Kunstwerk durch die Kritik tatsächlich angetastet werden, eine Veränderung, eine Metamorphose erleiden muss, und zwar in Richtung auf Ernüchterung. »Kritik ist die Darstellung des prosaischen Kerns in jedem Werk«, heißt es dort.14 »Darstellung« wird in diesem Zusammenhang »im Sinne der Chemie« verstanden, also so, wie man gewisse chemische Verbindungen durch Reaktionen, in denen sie herbeigeführt werden, ›darstellen‹ kann.15 Das Kunstwerk ist an
12 »Die jüdische Orthodoxie ist die Konkretisierung der Lehre auf einer zu frühen Stufe. Dies erweist sich in den Paradoxien des ›Drehs‹.« (Gershom Scholem: 95 Thesen über Judentum und Zionismus [Nr. 54]. In: ders. 2000 [wie Anm. 1], S. 304) Mit dem »Dreh« bezeichnet Scholem die orthodoxe Praxis der Umgehung oder Lockerung einzelner, manchmal selbst nur abgeleiteter (und darum eben ›zu früh‹ konkretisierter) halachischer Vorschriften. Vgl. auch ebd., S. 140. 13 Repräsentativ etwa die Darstellung der »ästhetischen Doctrin« Friedrich Schlegels bei Rudolf Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin 1870, S. 248–263; S. 279–282. Am nächsten kommt Haym dem Schlegel’schen Theorem mit dem Satz: »Die Schlegel’sche Anschauung ist die, daß der Widerstreit von Endlichem und Unendlichem auch in der Kunst und Poesie nicht geschlichtet wird.« (S. 260) Völliges Unverständnis für die (sich in der Kritik fortsetzende) innere Reflexivität der Poesie und für die Rangerhöhung der Kritik zeigt sich insbesondere in Hayms Ausführungen zu Schlegels Essay Über Goethes Meister auf S. 280 f. 14 Benjamin: GS, Bd. I.1, S. 109. 15 »Dabei ist der Begriff ›Darstellung‹ im Sinne der Chemie verstanden, als die Erzeugung eines Stoffes durch einen bestimmten Prozeß, welchem andere unterworfen werden.« (Benjamin: GS, Bd. I.1, S. 109) Das Werk bleibt mithin nicht dasselbe, wenn es der Kritik »unterworfen« wird.
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sich vergänglich, es gewinnt aber Dauer und wird »ewig durch Kritik«.16 Die Kritik gewährleistet die »Absolutierung des geschaffenen Werkes«.17
III. Kurz nachdem Benjamin seine Dissertation im Manuskript abgeschlossen hatte, hat er in einem Brief an Ernst Schoen eingestanden, dass der »romantische Messianismus« das geheime Zentrum seiner Arbeit bilde – und dass eben dies am Text der Dissertation, wegen der »verlangten komplizierten und konventionellen wissenschaftlichen Haltung« bei seiner Abfassung, nur höchst indirekt abzulesen sei.18 Der Messianismus hält zur Skepsis an gegenüber jeglicher Annahme von Vollendung in der bisherigen Welt. Diese Skepsis konnte Benjamin in der frühromantischen Theorie der Kunstkritik als Relativierung des Kunstwerks wiederfinden. Aber stellte nicht die Kritik als »Vollendung des Guten«19 die Vollkommenheit des Kunstwerks nachträglich her? War nicht das Vollendete damit nicht als bislang wirklich fehlend ausgewiesen, sondern nur um ein Kleines in die Kritik hinein verschoben worden? Wie immer man sich zu der Frage stellt, ob Benjamin in seiner Dissertation nur eine verkappte Darstellung seiner eigenen damaligen Theorie der Kunstkritik gegeben hat oder ob er schon damals Vorbehalte gegenüber den Romantikern hatte – die Entwicklung, die er im Weiteren nimmt, geht jedenfalls in Richtung solcher Vorbehalte. Die gerade unter messianischem Aspekt drängende Frage, was denn letztlich zu bleiben, gerettet zu werden bestimmt sein könne, führt im Hinblick auf Kunst direkt auf die Frage nach dem Fortleben der Werke. Die Beantwortung dieser Frage treibt Benjamin nach seiner 16 »Das Kunstwerk darf nicht Torso, es muß bewegtes vergängliches Moment in der lebendigen transzendentalen Form sein. Indem es sich in seiner Form beschränkt, macht es sich in zufälliger Gestalt vergänglich, in vergehender Gestalt aber ewig durch Kritik.« (Benjamin: GS, Bd. I.1, S. 115) 17 »Die Absolutierung des geschaffenen Werkes, das kritische Verfahren, war ihm [Friedrich Schlegel, B. A.] das Höchste.« (Benjamin: GS, Bd. I.1, S. 119) 18 »Vor wenigen Tagen habe ich die Rohschrift meiner Dissertation abgeschlossen. Was sie sein sollte ist sie geworden: ein Hinweis auf die durchaus in der Literatur unbekannte wahre Natur der Romantik – auch nur mittelbar das weil ich an das Zentrum der Romantik, den Messianismus ebenso wenig wie an irgend etwas anderes, das mir höchst gegenwärtig ist herangehen durfte, ohne mir die Möglichkeit der verlangten komplizierten und konventionellen wissenschaftlichen Haltung, die ich von der echten unterscheide, abzuschneiden. Nur: daß man diesen Sachverhalt von innen heraus ihr entnehmen könne möchte ich in dieser Arbeit erreicht haben.« (Brief an Ernst Schoen v. 7.4.1919, Benjamin: Gesammelte Briefe [wie Anm. 1], Bd. 2, S. 23) 19 Benjamin: GS, Bd. I.1, S. 109. Text und Kommentar bei Walter Benjamin
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Dissertation nicht in Richtung auf Vollendung, sondern in Richtung auf Ernüchterung weiter. Die erste, hier nur kurz zu streifende Etappe auf diesem Weg stellt Benjamins Wahlverwandtschaften-Aufsatz dar. Weiterhin akzeptiert Benjamin grundsätzlich den Gedanken des »Ewigen des Werkes«20, stärker jedoch noch als in der Dissertation lehnt er die Vorstellung ab, dieses Ewige könne an sich, monumental, etwa in der Werkgestalt, tatsächlich vorliegen. Das ›Wachstum‹ des Werks, von dem der Wahlverwandtschaften-Aufsatz spricht, hängt innig mit dem Wachstum des historischen Abstands zu ihm zusammen. Der schöne Schein, den das Kunstwerk als ästhetisches Gebilde produziert, wird hinfällig. Nüchtern drängen sich die ›Realien‹ eines Kunstwerks nach vorne, deren Befremdlichkeit dem späteren, mit ihnen nicht mehr vertrauten Betrachter auffälliger wird als den Zeitgenossen. Der Kritiker, dem – wie in der Dissertation – die Aufgabe übertragen ist, den Wahrheitsgehalt des Kunstwerks herauszuarbeiten, ist auf die Vorarbeit des Kommentars angewiesen, der den Sachgehalt des Kunstwerks aufschließt. Und – dies deutet Benjamin kryptisch zumindest an – der Wahrheitsgehalt ist engstens an den Sachgehalt gebunden.21 So scharf im Wahlverwandtschaften-Aufsatz die Kritik vom Kommentar getrennt scheint (»Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt«)22, so sehr haben es doch beide mit der Metamorphose des Werks zu tun. Diese erscheint nun in messianischem Licht – wieder unter Zuhilfenahme eines Gleichnisses aus der Chemie, also aus der Disziplin, die die Verwandlung der Stoffe behandelt – als ein zum Ende hin brennendes Feuer: »Will man, um eines Gleichnisses willen, das wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem Alchimisten.«23 Hält man den Wahlverwandtschaften-Aufsatz gegen die Arbeit über die Romantik, so fällt auf, dass die Sprache der Rettung durch Vollendung ergänzt worden ist durch eine Sprache der Rettung durch Zerstörung. Diese Tendenz wird im Trauerspiel-Buch weiter forciert, ja, sie kommt dort erst eigentlich nach Hause, weil an den barocken Trauerspielen, anders als an Goethes Roman, die Geschichte bereits die Zerstörung des schönen Scheins
20 Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: ders.: GS, Bd. I.1, S. 126. 21 »Dergestalt fällt zuletzt die vollendete Einsicht in den Sachgehalt der beständigen Dinge mit derjenigen in ihren Wahrheitsgehalt zusammen. Der Wahrheitsgehalt erweist sich als solcher des Sachgehalts.« (Ebd., S. 128) 22 Ebd., S. 125. 23 Ebd., S. 126.
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vollzogen hat. Ohne Wissen, das nur ein Kommentar bereitstellen kann, sind diese Texte bereits gänzlich unzugänglich. Sie sind von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit an ihnen übte. Die Schönheit hat nichts Eigenstes für den Unwissenden. Dem ist das deutsche Trauerspiel spröde wie weniges. Sein Schein ist abgestorben, weil es der roheste war.24
Übriggeblieben ist »das seltsame Detail der allegorischen Verweisungen«25, die Bruchstücke der bedeutenden Realien. An dieser Stelle im TrauerspielBuch wird auch explizit das romantische Theorem der Vollendung der Werke durch das Theorem der Mortifikation der Werke ersetzt. Mortifikation aber heißt Abtötung, oder besser noch, mit einem Terminus, der außerhalb religiöser Zusammenhänge im Deutschen vollkommen ungebräuchlich ist: Ertötung. Es ist das Fleisch, das traditionell das Objekt solcher Ertötung darstellt, und es nimmt darum nicht Wunder, wenn Benjamin in diesem Zusammenhang seine Überlegungen innerhalb des Gegensatzes von Leben und Tod situiert. »Kritik ist Mortifikation der Werke. […] Mortifikation der Werke: nicht also – romantisch – Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen, sondern Ansiedlung des Wissens in ihnen, den abgestorbenen.«26 Damit hat sich die Stellung von Kritik und Kommentar im Verhältnis zum Wahlverwandtschaften-Aufsatz eigenartig umgekehrt. War dort der Kommentar zwar notwendige Voraussetzung, aber doch nur Voraussetzung der Kritik, so mündet nun die Kritik nach der Beseitigung des schönen Scheins in den deutenden Kommentar ein.27 Sie liest die Bruchstücke, die vom Kunstwerk übriggeblieben sind, mit dem Blick des Allegorikers, sie siedelt, wie Benjamin sagt, das Wissen in ihnen an.
24 25 26 27
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: GS, Bd. I.1, S. 357. Ebd. Ebd. Ähnlich Uwe Steiner, der allerdings eine Indifferenz von Kritik und Kommentar bereits für den Wahlverwandtschaften-Aufsatz anzunehmen scheint: »In den einleitenden Überlegungen des Essays geht es nicht so sehr darum, dem Kommentar gegenüber der Kritik eine eigenständige Stellung zu sichern. Vielmehr ist der Kommentar gerade als unabdingbare Vorbedingung der Kritik letztlich von dieser nicht mehr zu unterscheiden. Benjamin selbst hat die terminologische Differenz später nicht mehr aufrechterhalten.« (Uwe Steiner: Kritik. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Frankfurt/M. 2000, S. 500. Text und Kommentar bei Walter Benjamin
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IV. Mit dem Trauerspiel-Buch ist die Privilegierung des Kunstwerks bzw. des großen literarischen Textes, die in der Rekonstruktion der frühromantischen Theorie der Kunstkritik zweifelsohne noch dominant war, endgültig abgebaut. Sein Kunstcharakter nützt dem Kunstwerk nichts, wenn es um die Frage geht, ob es gerettet werden wird. Ist es in Bruchstücke zerfallen, so ist es kategorial nicht mehr von jenen Bruchstücken zu unterscheiden, die aus der historischen Welt in der jeweiligen Gegenwart übriggeblieben sind. Darum schreibt Benjamin auch, dass der »allegorische Tiefblick Dinge und Werke in erregende Schrift«28 verwandelt. Alles Übriggebliebene hat Schriftcharakter und begehrt seine Bedeutung, die der Kommentar ihm zu geben versucht. Wir haben hier jene Universalisierung des Verhältnisses von Text und Kommentar, von der ich eingangs sprach, als ich Benjamin einen »Textgelehrten in einem erweiterten Sinn« nannte. Und wir haben mit dem Abschied vom Privileg der Kunst und des integralen autoritativen Textes als Bezugspunkt des Textgelehrten eine wichtige Voraussetzung für das Spätwerk Benjamins mit dem Passagen-Werk als seinem Kern. Das Passagen-Werk widmet sich dem Entlegensten aus der Pariser Großstadtwelt des 19. Jahrhunderts und übt an ihm die messianische Tätigkeit schlechthin, das Einsammeln; und nicht umsonst sieht Benjamin sich selbst im Passagen-Werk in allegorischer Intention im Bilde des Lumpensammlers.29 Ich möchte die von mir hier skizzierte Entwicklung trotzdem nicht mit einer Betrachtung des Passagen-Werks schließen, sondern mit einem Blick auf Benjamins Schriften über Brecht. Dies darum, weil Benjamin hier die Form des Kommentars in traditioneller Weise aufzunehmen scheint: Texten von Brecht, in erster Linie Gedichten, die mit Selbstverständlichkeit als autoritativ und groß verstanden werden, werden Erläuterungen von Benjamin zur Seite gestellt. Und doch registrieren eben diese Kommentare die gesamte theoretische Entwicklung, die Benjamins Denken über das Verhältnis von Text und Kommentar durchgemacht hat. Benjamin stellt eigens die Künstlichkeit des Verfahrens aus, das darin besteht, bereits einem Zeitgenossen mit
28 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: GS, Bd. I.1, S. 352. Hervorhebungen v. B. A. 29 »Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.« (Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: ders.: GS, Bd. V.1, S. 574 [N 1a, 8]) Vgl. auch Walter Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. In: ders.: GS, Bd. I.2, S. 519–523.
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dem »Vorurteil« der »Klassizität« seiner Produktion zu begegnen.30 Begründet wird das Verfahren mit der Situation akuter politischer Bedrohung, von der alle Brecht-Kommentare Benjamins unmissverständlich sprechen. Diese Situation kann es mit sich bringen, dass die Menschheit in Zukunft von ihrer wichtigsten Überlieferung abgeschnitten oder zumindest durch eine in der Gegenwart noch kaum vorstellbare Kluft getrennt sein wird. In einer solchen Situation empfiehlt sich ein Bündnis des Kanonischen mit dem Flüchtigen, wie es Benjamin am Beispiel der Brecht’schen Kriegsfibel skizziert: In Worten, denen, ihrer poetischen Form nach, zugemutet wird, den kommenden Weltuntergang zu überdauern, ist die Gebärde der Aufschrift auf einem Bretterzaun festgehalten, die der Verfolgte mit fliegender Hast hinwirft. In diesem Widerspruch stellt sich die außerordentlich artistische Leistung dieser aus primitiven Worten gebauten Sätze dar. Der Dichter belehnt mit dem Horazischen aere perennius das, was, dem Regen und den Agenten der Gestapo preisgegeben, ein Proletarier mit Kreide an eine Mauer warf.31
Auch auf die Bewahrung der Brecht’schen Texte in ihrer Integrität kann nicht gehofft werden. Dem trägt Benjamins Kommentar dadurch Rechnung, dass er sich einzelne Gedichte Brechts zum Gegenstand nimmt und an ihnen Einzelnes hervorhebt. In diesen Zusammenhang gehört aber auch die in den Brecht-Kommentaren auffällig häufig angesprochene Benjamin’sche Theorie des Zitats. Auch im Zitat verbinden sich auf eigentümliche Weise Rettung und Zerstörung.32 Das Zitat erhält den Wortlaut seines Textes, und es zerstört seine Integrität – wird es doch einem Text entnommen, dessen Zusammenhang es zerreißt. Nur das Zitierte wird weitergetragen, der das Zitierte umgebende Text, der nicht zitiert wird, bleibt zurück. Zitierbarkeit einzurichten ist somit eine Überlebenstechnik des Schriftstellers, der seine Texte gegen ihre zu erwartende Verstümmelung und Zerstückelung feit und sie so geschmeidig macht, dass sie auch in ungeheuerlichen Umwälzungen fortleben können. Wieder taucht in diesem Zusammenhang der Gedanke der Metamorphose als entscheidender Gestalt des Fortlebens auf. Von Brecht heißt es bei Benjamin: 30 Walter Benjamin: Kommentare zu Gedichten von Brecht. In: ders.: GS, Bd. II.2, S. 539. 31 Ebd., S. 564. 32 »Erst der Verzweifelnde«, schrieb Benjamin über Karl Kraus, »entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert – weil man es nämlich aus ihm herausschlug.« (Walter Benjamin: Karl Kraus. In: ders.: GS, Bd. II.1, S. 365) Text und Kommentar bei Walter Benjamin
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Das Geschriebene ist ihm nicht Werk, sondern Apparat, Instrument. Es ist, je höher es steht, desto mehr der Umformung, der Demontierung und Verwandlung fähig. Die Betrachtung der großen kanonischen Literaturen, vor allem der chinesischen, hat ihm gezeigt, daß der oberste Anspruch, der dort an Geschriebenes gestellt wird, seine Zitierbarkeit ist.33
V. Kritik, Zitat, Kommentar – alle diese Formen des sekundären Bezugs auf einen Text, der traditionell als autoritativ verstanden werden müsste, werden von Benjamin nach und nach immer konsequenter in den Umkreis des Problems des Fort- und des Überlebens gestellt. Natürlich hat das Kryptoexil der letzten Jahre der Weimarer Republik und dann das Exil während der nationalsozialistischen Herrschaft begünstigend auf diese Gedankenentwicklung eingewirkt. Ihre innere Dynamik scheint mir jedoch in einer Konstante des Benjamin’schen Denkens, dem Messianismus, begründet. Der Messianismus Benjamins richtet sich – darauf haben Giorgio Agamben und Sigrid Weigel in unterschiedlichen Zusammenhängen aufmerksam gemacht34 – nicht auf ein Telos am Ende der Geschichte, er ist kein schmückendes Anhängsel eines Denkens, das auch ohne ihn bestehen könnte und dann vielleicht sogar fruchtbarer wäre. Vielmehr verändert der Messianismus bereits die Wahrnehmung im Hier und Jetzt. Und zwar gleicht er mit der radikalen Unsicherheit und Gefahr, die er für jeden einzelnen Moment stiftet, das innerhalb unserer Kulturwelt selbstverständliche Gefälle innerhalb des Kreatürlichen aus. Kein Text – und sei er noch so ausgezeichnet durch literarische Qualität oder durch eine kanonische Stellung in Traditionszusammenhängen – kann sich im Lichte dieses Messianismus seiner Dauer, seiner integralen Bewahrung sicher sein. Und umgekehrt kann nichts, und sei es noch so unscheinbar und abseitig, als definitiv verworfen gelten, so dass es nicht mehr hervorgezogen, nicht mehr ›herbeizitiert‹ werden könnte. An allem wurde etwas versäumt, und darum muss alles nachgeholt, rekapituliert werden.35 Es ist 33 Walter Benjamin: Bert Brecht. In: ders.: GS, Bd. II.2, S. 666. 34 Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief [ital. 2000]. Frankfurt/M. 2006, S. 153–162; Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt/M. 1997, S. 67–79. So unterschiedlich ihre Deutungen im Einzelnen sind – als gemeinsame Momente können der Gedanke einer grundsätzlichen ›Inversion‹ (Agamben) bzw. ›Umkehr‹ (Weigel) sowie der Gedanke einer radikalen Verschiebung des Blickwinkels in der messianischen Zeit gelten. 35 Zur Rekapitulation als Eigentümlichkeit der messianischen Zeit vgl. Agamben 2006 (wie Anm. 34), S. 89–92. »Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktu-
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diese Haltung, die Benjamin zu einer für einen Philosophen beispiellosen Offenheit für alles Einzelne in der Welt verholfen hat, eine Offenheit, die im Umfeld der Kritischen Theorie, besonders, wenn man Benjamin mit Adorno kontrastiert, sehr stark auffällt. Wenn heute Stephen Greenblatt vom Kulturhistoriker eine »intensified willingness to read all of the textual traces of the past with the attention traditionally conferred only on literary texts«36 verlangt, so tritt er damit Benjamin’sches Erbe an. Indes scheint die Mehrheit der heutigen Kulturhistoriker die Rekonstruktion vergangener Ding- und Lebenswelten für etwas selbstverständlich Sinnvolles zu halten, das im wissenschaftlichen Betrieb eben auch mit vorkommen muss und vorrangig dazu da ist, unsere Kenntnis der Vergangenheit zu erweitern. Benjamin hingegen war der Auffassung, dass für einen Einzelheiten ausdeutenden »Kommentar zu einer Wirklichkeit« die »Theologie« die »Grundwissenschaft« zu sein habe.37 Von ihm wäre demnach zu lernen, dass die Behandlung des Flüchtigen als das Kanonische in besonderem Maße jener eigentümlichen intellektuellen Energie bedarf, mit der sich ehemals der Schriftgelehrte über seinen unendlich wertvollen und unendlich reichen Text beugte.
alität. Erst in ihr gibt es eine Universalgeschichte.« (Walter Benjamin: Anmerkungen zu ›Über den Begriff der Geschichte‹. In: ders.: GS, Bd. I.3, S. 1235) 36 Stephen Greenblatt: Introduction. In: ders.: Learning to curse. Essays in early modern culture. New York 1990, S. 14. 37 »Sich immer wieder klarmachen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (denn hier handelt es sich um den Kommentar, Ausdeutung in den Einzelheiten) eine ganz andere Methode verlangt als der zu einem Text. Im einen Fall ist Theologie, im andern Philologie die Grundwissenschaft.« (Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: ders.: GS, Bd. V.1, S. 574 [N 2,1]) Text und Kommentar bei Walter Benjamin
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RE SP ONDENZ
Markus Wiegandt
Zum Beitrag von Bernd Auerochs
Bernd Auerochs sieht in Walter Benjamin ein Paradebeispiel für den ›Textgelehrten‹. Er greift dabei auch auf Charakteristika des vormodernen Schriftgelehrten zurück. Dieser Feststellung möchte ich zustimmen, denn insbesondere in der medientechnischen Gegenwart mit ihren unzähligen Zugängen zur Schrift bleibt Benjamin eine Schlüsselfigur in der Domäne der nichttechnischen Übertragungsformen, namentlich der Übersetzung, der Auslegung und des Kommentars. Gerade wenn der Terminus ›Textgelehrter‹ bei Auerochs in einem erweiterten Sinn verstanden wird, indem Benjamin auf der einen Seite ein Bewusstsein für das schriftgelehrte Erbe und auf der anderen Seite ein Bestreben zur Ausdehnung des Bereichs dessen, was als Schrift zu gelten hat, attestiert wird, hat man zugleich die bei Hofmannsthal entliehene Maxime für die Benjamin’sche Lektüre vor Augen: »Was nie geschrieben wurde, lesen.«1 Das aber bedeutet gleichermaßen, eingeschliffenen Denkgewohnheiten durch mutige, ›unerhörte‹ Überlegungen – wie etwa die Verschränkung theologischer, marxistischer und ästhetischer Elemente in Benjamins späteren Arbeiten –, neue Perspektiven entgegenzusetzen und das Konvolut lesenswerter Texte radikal zu erweitern. Basis aber bleiben immer die gelesenen Texte, in denen Benjamins Überlegungen im Idealfall aufgehen und die dadurch in einem neuen Licht erscheinen. Die bewundernswerte Nähe zu den Objekten, die dem gelehrten Leser Benjamin immer wieder attestiert wurde2, veranlasst Esther Leslie dazu, Walter Benjamin als einen Vordenker der Kritischen Theorie gegen die zu beobachtenden Probleme der ›cultural studies‹ in Stellung zu bringen: 1 Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Gedichte. Dramen I. 1891–1898. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 279–298, hier S. 298. 2 Vgl. etwa: »Nirgends aber urteilt der Leser Benjamin aus dem Bewußtsein, ›weiter‹ zu sein oder es besser zu wissen als das Gelesene.« Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000, S. 12. Zum Beitrag von Bernd Auerochs
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Cultural studies is too cinched in theory, too embroiled in schemas and argument. It is not the study of culture, but the study of studies of culture. It is too far removed from its objects, too negotiated. It forgot the world. The glare of dialectical imagery illuminates the strech between critical theory and cultural studies.3
Insofern kann, auch unter Berücksichtigung der von Leslie gemachten Beobachtungen, den von Auerochs formulierten Perspektiven bezüglich der Rolle Benjamins als Vorbild für den modernen Kulturhistoriker uneingeschränkt zugestimmt werden. Der Textgelehrte Benjamin, wie er bei Auerochs reflektiert wird, ist also eine Art stellvertretender Leser, der das Gelesene wieder in eigene Erfahrung zurück übersetzen kann. Damit nimmt er einem das Lesen nicht ab, sondern vervielfacht sogar die Menge der Texte, indem er seine Lektüre festhält und mit Hintergrundwissen und Vergleichen angereichert zu einer eigenständigen und zusammenhängenden Version ausbaut.4 Besonders deutlich wird dies gerade dann, wenn man sich noch einmal Benjamins Kommentare zu Gedichten von Brecht 5 vor Augen führt. Der Textgelehrte löst sich von dem Anspruch absoluter Geltung des Textes und arbeitet stattdessen auf die Möglichkeit eines Aufblitzens von ›Gehalten‹, die der Text bereithält, hin. In einem chronologischen Durchgang durch Benjamins Texte versucht Auerochs die wechselseitige Abhängigkeit von Kommentar, Kritik und Text in Benjamins theoretischen Überlegungen aufzuzeigen. Allerdings glaube ich weder daran, dass die Kritik dem Kommentar übergeordnet ist, wie es vielleicht die einleitende Passage des Wahlverwandtschaften-Essays nahe legen könnte6, noch daran, dass, unter Berücksichtigung des Abschnitts Kritik als Mortifikation aus dem Trauerspiel-Buch7, eine Umkehrung der Zuordnung stattfindet. Letzterem widerspricht auch der Brief Benjamins an Herbert Blumenthal aus dem Jahr 1916, in dem es heißt: »Die wahre Kritik geht nicht wider ihren Gegenstand: sie ist wie ein chemischer Stoff, der einen andern nur in dem Sinne angreift, daß er ihn zerlegend dessen innre Natur enthüllt, nicht ihn zerstört.«8 3 Esther Leslie: Space and West End Girls. Walter Benjamin versus Cultural Studies. In: New Formations 38 (1999), S. 110–124, hier S. 113. 4 Vgl. zur Konstruktion des stellvertretenden Lesers Honold 2000 (wie Anm. 2), S. 7. 5 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno; Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.2. Frankfurt/M. 1977, S. 539–572. 6 Vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I.1 (1974), S. 125 f. 7 Vgl. ebd., S. 357 f. 8 Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. v. Christoph Gödde; Henri Lonitz. Bd. I: 1910– 1918. Frankfurt/M. 1995, S. 349.
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Kritische Mortifikation lässt also auf die Abtötung eine Neugeburt in einem neuen philosophischen Bereich erfolgen. Aufgabe der Kritik bleibt es, so Benjamin, aus historischen Sachgehalten, die der Kommentar zutage fördert, philosophische Wahrheitsgehalte zu rekonstruieren.9 Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet, ob dann überhaupt eine hierarchisierende Unterscheidung zwischen Kommentar und Kritik notwendig ist. Eine Differenzierung der Begriffe scheint unabdingbar und auch fruchtbar zu sein, wie die zu Lebzeiten publizierten Arbeiten Benjamins deutlich machen. Interessant ist aber, dass ein Begriff wie der des ›ästhetischen Kommentars‹ – den Benjamin in dem frühen, zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufsatz Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin eingeführt hat – bereits beiordnend sowohl Kommentar als auch Kritik enthält. Ziel des ästhetischen Kommentars sei es, die dichterische Aufgabe als Voraussetzung einer Bewertung des Gedichts zu ermitteln, so heißt es zu Beginn dieses Aufsatzes.10 Nur in enger Arbeit am Text könne die Erkenntnis dieser dichterischen Aufgabe gelingen. Sie dürfe weder abgelöst von ihm formuliert noch von außen als Beurteilungskriterium herangezogen werden.11 Das verdeutlicht noch einmal, wie sehr Text, Kommentar und Kritik im Verständnis Walter Benjamins voneinander abhängig sind. Heute haben wir das Glück, auf die Gesammelten Schriften (1972–1989) und nun auch auf die bereits erschienenen Bände der Kritischen Gesamtausgabe (seit 2008) zugreifen zu können. Im Lichte dieser Editionen und derjenigen der Gesammelten Briefe (1995–2000) wird die Rolle Benjamins als Textgelehrter vollends transparent. Die wiederholte Beschäftigung mit seinen Texten hält die darin verhandelten Themen und Texte im kulturellen Gedächtnis und lässt seine Interpreten wiederum in Benjamins Fußstapfen treten. Sie schreiben die Texte fort, indem sie Benjamins Überlegungen in die eigenen kulturellen Kontexte übersetzen und die in kleinteiliger Textarbeit gewonnenen ›Gehalte‹ im Benjamin’schen Sinne auslegen. Diese Überzeugung soll zu einem abschließenden Zitat Benjamins überleiten, der in den um 1930/1931 entstandenen Fragmenten zur Literaturkritik das Verhältnis von Text, Kommentar und Kritik folgendermaßen bestimmt: »Im Werke sehen lernen, das bedeutet genaue Rechenschaft sich abzulegen, wie sich im Werke Sachgehalt und Wahrheitsgehalt durchdringen.«12
9 Vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I.1 (1974), S. 358. 10 Vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. II.1 (1974), S. 105. 11 Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung. Berlin 2000, S. 214. 12 Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. VI (1985), S. 178. Zum Beitrag von Bernd Auerochs
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RELEK T ÜRE
Andreas B. Kilcher
Erlösung durch Spiel Benjamin liest Kafka1
I. Als sich Walter Benjamin im Frühjahr 1934 anlässlich von Franz Kafkas zehntem Todesjahr daran machte, eine größere Arbeit über den Prager Autor zu schreiben, betrat er weitgehend Brachland. Zwar waren in den Jahren zuvor einige Rezensionen zu den aus dem Nachlass edierten Romanen Der Prozess (1925), Das Schloss (1926) und Amerika (1927) sowie zu den Erzählungen unter dem Titel Beim Bau der chinesischen Mauer (1931) erschienen; den letzteren Band rezensierte Benjamin selbst für den Rundfunk im Juli 1931, seine erste größere Beschäftigung mit Kafka.2 Über Rezensionen hinausgehende substanzielle Arbeiten zu Kafka lagen um 1934 jedoch nur sehr wenige
1 Wenn auch unabhängig davon entstanden, klingt der Titel des vorliegenden Beitrags an einen älteren Aufsatz zu Benjamins Kafka-Essay an. Vgl. Bernd Müller: Zum Zusammenhang von Spiel und Erlösung in Benjamins Kafka-Essay. In: Klaus Garber; Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongress 1992. Bd. 1. Paderborn 1998, S. 541–550. Allerdings sind dort sowohl die Begriffe ›Spiel‹ und ›Erlösung‹ als auch der Zusammenhang gänzlich anders gefasst. Mir geht es nicht wie Müller um das Kinderspiel, sondern vielmehr um das Theater. Die vorliegende Relektüre von Benjamins Kafka-Essay verfolgt dabei den Anspruch, auf Benjamins Text selbst einzugehen und seinen gelehrten Blick auf Kafkas Texte zu analysieren. Statt eines Forschungsberichts muss es genügen, an dieser Stelle die wichtigsten Arbeiten zu Benjamins Kafka-Essay zu nennen: Beda Allemann: Fragen an die judaistische Kafka-Deutung am Beispiel Benjamins. In: Karl Erich Grözinger u. a. (Hg.): Kafka und das Judentum. Frankfurt/M. 1987, S. 35–70; Stéphane Mosès: Zur Frage des Gesetzes: Gershom Scholems Kafka-Bild, in: ebd., S. 13–34; Sven Kramer: Rätselfragen und wolkige Stellen. Zu Benjamins Kafka-Essay. Lüneburg 1991; Werner Hamacher: Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka. In: ders.: Entferntes Verstehen. Frankfurt/M. 1998, S. 280–322; Robert Alter: Unentbehrliche Engel. Tradition und Moderne bei Kafka, Benjamin und Scholem. Berlin 2001. 2 Walter Benjamin: Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991, S. 676–683. Walter Benjamin: Franz Kafka
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vor; neben den Beiträgen von Max Brod waren das Essays von Werner Kraft, Willy Haas und Margarete Susman.3 Das lag nicht allein an der damals noch begrenzten Bekanntheit Kafkas, sondern auch an den kulturpolitischen Regulierungen des neuen Regimes nach 1933, die eine Beschäftigung mit Kafka in Deutschland immer mehr beeinträchtigten. Zwar erschienen ab 1935 Kafkas Gesammelte Schriften im Berliner Schocken Verlag, welche die Basis für Kafkas weltweite Geltung werden sollten. Doch wurde sein Werk just in dem Moment, wo es internationale Anerkennung zu finden begann, zu einem ausgegrenzten, exilierten. Als Reaktion auf das unvermeidliche Verbot der Ausgabe in Deutschland wurde sie von Schocken nach Prag verlegt.4 Symptomatisch für diese Situation war auch, dass Rezensionen der Ausgabe innerhalb Deutschlands ausschließlich in jüdischen Zeitschriften erscheinen konnten, ansonsten aber in der Exilpresse, etwa in der Schweiz (Hermann Hesse), in Holland (Klaus Mann) und der Tschechoslowakei (ebenfalls Klaus Mann). Gleiches gilt für die Artikel zu Kafkas zehntem Todestag am 3. Juni 1934. Auch diese erschienen entweder in der Exilpresse (etwa Oskar Baum in Moskau) oder aber in der deutschjüdischen Presse Deutschlands.5 Unter diesen Bedingungen publizierte auch Benjamin seinen Kafka-Essay. Erschienen war er auf Vermittlung Gershom Scholems bei Robert Weltsch in zwei Nummern der Jüdischen Rundschau Ende Dezember 1934 – verbunden mit der programmatischen wie auch zensurbedingten Auflage, dass »eine explizite und formulierte Beziehung aufs Judentum« herzustellen sei.6 Dieser Entstehungskontext ist für eine Relektüre des Kafka-Essays insofern relevant, als er verständlich macht, weshalb Benjamin mit diesem Text den Anschluss an die aktuelle Diskussion zu Kafka suchte, so rudimentär und disparat diese zu der Zeit auch war. Präzise diese Schreibsituation erklärt ein erstes bemerkenswertes Moment von Benjamins Kafka-Studien: ihre Dialogizität. Tatsächlich war Benjamin bemüht, möglichst alle aktuellen Arbeiten zu Kafka zu kennen, darunter diejenigen von Brod (auch wenn er diese sehr kritisch rezensierte)7, Susman, Haas und Kraft. Benjamin wartete zudem, wenn auch mit vorab gefasstem kritischem Urteil, auf eine entstehende 3 Vgl. Jürgen Born: Franz Kafka. Kritik und Rezeption. 1924–1938. Frankfurt/M. 1983, S. 89–92, 490–492, 494. 4 Vgl. Volker Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich. München 1993, S. 351 f. 5 Vgl. Born 1983 (wie Anm. 3), S. 333–351. 6 Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Benjamin über Kafka. Frankfurt/M. 1981, S. 68 f., hier S. 69. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden im laufenden Text zitiert mit dem Kürzel BK und der Seitenangabe. 7 Vgl. die Rezension Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. Prag 1937 (BK 49–52).
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Arbeit des jungen Hans-Joachim Schoeps, Brods Mitherausgeber der nachgelassenen Erzählungen. Wichtiger für den entstehenden Essay war jedoch, dass Benjamin im Juli 1934 mit Bert Brecht in Dänemark Gespräche über Kafka führte und in den folgenden Monaten in einen brieflichen Austausch mit Freunden über Kafka trat: allen voran mit Gershom Scholem, sodann auch mit Werner Kraft und Theodor W. Adorno, die sich ebenfalls »Separatgedanken über Kafka« (BK 64) machten, wie es Benjamin formulierte, sei es in Briefen, Rezensionen, Aufzeichnungen, kurzen Essays oder gar in Form von Gedichten wie jenem, das Scholem in eine Prozess-Ausgabe schrieb, die er Benjamin schickte. Allen diesen Gesprächspartnern stellte Benjamin teils eindringliche Fragen zu Kafka. Insbesondere erfragte er im Mai 1934 Scholems Vorstellungen zu dem eingeforderten »jüdischen Zentralnerv« in Kafkas Werk, einem Komplex, zu dem er sich Hinweise von Seiten des Jerusalemer Kabbalaprofessors erhoffte. Mit dieser Frage drang er regelrecht auf Scholem ein: »[…] deine besonderen, aus den jüdischen Einsichten hervorgehenden Anschauungen über Kafka [wären] mir bei diesem Unternehmen von größter Bedeutung – um nicht zu sagen nahezu unentbehrlich. Kannst du mir von ihnen einen Begriff geben?« (BK 70) Scholem ließ sich zwei Mal bitten, hielt aber dann nicht zurück: Er setzte die teils schon von Benjamin verwendeten Begriffe von Offenbarung und Tradition, von Schrift und Studium, von Halacha und Aggada ein, um eben jenen »jüdischen Zentralnerv« Kafkas zu erfassen. Es waren dies zugleich grundlegende Begriffe von Scholems Beschreibung der Kabbala überhaupt, die er in der Moderne gerade in ihrem Verlust von Tradition und Gesetz – und damit höchst dialektisch – als gerettet, ja vollendet erachtete.8 In dieser negativen Dialektik wurden sie zu Schlüsselbegriffen von Scholems und Benjamins gemeinsamer, wenn auch keineswegs deckungsgleicher Kafka-Lektüre: Kafkas »Nihilismus« der Tradition wurde ihnen zum » ›Heiligen‹typus der verfallenden jüdischen Mystik« (BK 90).9 Diese dialogische Schreibweise setzte Benjamin weiter fort, indem er in der Folge eine erste Manuskriptfassung des Essays an seine Briefpartner – 8 Vgl. Andreas Kilcher: Figuren des Endes. Vergangenheit und Aktualität der Kabbala bei Gershom Scholem. In: Stéphane Mosès; Sigrid Weigel (Hg.): Gershom Scholem. Literatur und Rhetorik. Köln 2000, S. 153–199. 9 Kafkas ›Genealogie‹ zur jüdischen Mystik betont Scholem noch in seinen Zehn unhistorischen Sätze über Kabbala (1958): »Unübertroffen hat er [=Kafka; A. K.] die Grenze zwischen Religion und Nihilismus zum Ausdruck gebracht. Darum haben seine Schriften, die säkularisierte Darstellung des (ihm selber unbekannten) kabbalistischen Weltgefühls für manchen heutigen Leser etwas vom strengen Glanze des Kanonischen – des Vollkommenen, das zerbricht.« Gershom Scholem: Zehn unhistorische Sätze über Kabbala. In: ders.: Judaica 3. Frankfurt/M. 1970, S. 264–271, hier S. 271. Walter Benjamin: Franz Kafka
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zunächst an Scholem, später an Kraft und Adorno – sandte, sodann ungeduldig auf ihre Kommentare wartete, nach deren Eingang die daraus hervorgehenden Desiderata notierte, um sodann auf dieser Grundlage eine revidierte Fassung herzustellen. Zwei von vier Teilen dieser revidierten Fassung erschienen schließlich Ende 1934 unter dem Titel Franz Kafka. Eine Würdigung in der Jüdischen Rundschau. Benjamins dialogische Kafka-Philologie ist freilich nicht nur in ihren sozialen, sondern auch in ihren historisch-politischen Bedingungen zu verstehen: dem Exil. Benjamin schrieb den Essay 1934 zunächst in Paris, sodann im dänischen Svendborg und im italienischen San Remo, bzw. von diesen Orten aus in Korrespondenzen nach Jerusalem an Scholem und Kraft sowie nach Berlin und Oxford an Adorno. Die Kartographie dieses Schreibens ist eine transitorische, exterritoriale. Sie folgt den Spuren eines weitverzweigten Exils, das Benjamins Kafka-Lektüre aufs Engste mit der heraufziehenden Katastrophe des 20. Jahrhunderts verbindet. Dialogizität und Exterritorialität sind mehr als nur äußere, biographischhistorische Schreibbedingungen von Benjamins Kafka-Studien. Sie sind zugleich Aspekte einer neuen Textwissenschaft, die den Gestus dozierender populärwissenschaftlicher Wissensvermittlung in historisch-biographischen Großdarstellungen ebenso zurückweist wie eine salbungsvoll theologische Philologie, die bei jeder Undeutbarkeit das Reich der Gnade vermutet (wie Brod etwa im Schloss-Roman).10 Gegen solche (theologische) »Abfertigung« (BK 40) eines Werks wie desjenigen Kafkas stellt sich Benjamin vehement, indem er im Gegenzug dazu dessen poetische Faktur, die Sprachlichkeit und Bildlichkeit, ernst zu nehmen beansprucht, dies folgerecht seinerseits in einer hochgradig sprach- und bildbewussten Wissenschaftssprache. Dabei nimmt er sich gerade der ›wolkigen‹, deutungsverweigernden, rätsel- und gleichnishaften Bildkomplexe von Kafkas Werk an, das er als Formation einer späten, gewissermaßen negativen Moderne lesbar macht, welche die Selbstverständlichkeiten des fortschrittsoptimistischen 19. Jahrhunderts ebenso hinter sich ließ, wie sie auch die neuen theologischen und politischen Sinnangebote der ›jüdischen Renaissance‹ und des Zionismus verweigerte. In diese Richtung zielen Benjamins Kafka-Studien bereits an einer früheren Stelle: in seiner Radiorezension der nachgelassenen Erzählungen von 1931. Schon dort weist er die Sublimation dieses Werks in simple, vor allem theologische Sinnhorizonte zurück, um »eine Deutung des Dichters aus der Mitte seiner Bildwelt« (BK 40) dagegenzuhalten. Anstatt hintergrün10 Vgl. Max Brod: Nachwort zur ersten Ausgabe. In: Franz Kafka: Das Schloß. Roman. Hg. v. Max Brod. New York 1967, S. 526–538, hier S. 529 f.
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dige Gehalte hinter und jenseits des Werk zu suchen, soll die Aufmerksamkeit gerade auf seine Textur, seine Schrift, auf Kafkas Sprach- und Bilderwelt überhaupt gerichtet werden, ja mehr noch: ausgerechnet auf seine gehaltsverweigernden, rätselhaften, dabei aber geradezu prophetischen Gestalten, Zeichen, Symptome, Bilder, Figuren und Gesten. Eine Analyse von Benjamins textgelehrten Schreib- und Leseverfahren muss präzise an dieser Stelle ansetzen. Zwar wären mit Blick auf Benjamins Textverfahren auch andere Akzentuierungen möglich als diejenige auf Kafkas Formation von Bildern und Gesten. So ließe sich etwa fragen, wie Benjamin Kafkas Texte – insbesondere durch Vergleiche und Zitate – in bestimmte literarische und philosophische Kontexte stellt. Dabei würde sich etwa zeigen lassen, dass er zugleich einen weltliterarischen und einen jüdischen Traditionszusammenhang aufruft: auf der einen Seite russische Moderne, deutsche Volksliteratur und Chinabilder (mit Puschkins Anekdote von Schuwalkin und dem ›bucklichen Männlein‹), auf der anderen Seite talmudische Legenden, aber auch moderne jüdische Philosophie mit Namen wie Ernst Bloch, Hermann Cohen, Franz Rosenzweig und Chaim Nachman Bialik. Es ließe sich weiter zeigen, wie Benjamin in der Engführung von Kafkas Bilderwelt mit solchen Sagen an das ›Vorweltliche‹ und Untergründige von Kafkas Texten gelangen will. Zu zeigen wäre schließlich, wie Benjamin an Kafkas Texten grundlegende Lektürekategorien entwickelt, insbesondere das Bialiks berühmtem Essay entlehnte Begriffspaar von Halacha und Aggada, von Gesetz und Sage, mit denen er Kafkas Parabolik und gleichermaßen seinen Gesetzesbegriff erklärt: als Emanzipation der Literatur vom Gesetz, der Parabel von der Moral, der Schrift von der Lehre (Tora).11
II. Vor dem Hintergrund dieser historischen und analytischen Bedingungen von Benjamins Kafka-Essay will diese Relektüre die Aufmerksamkeit jedoch auf einen bisher wenig beachteten, nichtsdestoweniger zentralen Komplex desselben richten: Benjamins Herausarbeitung des Gestischen und Theatralischen in Kafkas Texten. Auf den ersten Blick scheint Benjamin damit zwei wenig geeignete Kategorien zur Analyse von Kafkas Texten gewählt zu 11 Vgl. Chaim Nachman Bialik: Halacha und Aggada. In: Der Jude 4 (1919), S. 61–77. Der von Scholem ins Deutsche übersetzte Essay war für Benjamins Kafka-Interpretation von besonderer Bedeutung, wie aus der Korrespondenz der beiden zu Kafka ersichtlich wird. – Zur Bedeutung Bialiks für Scholem und Benjamin vgl. auch den Beitrag von Daniel Weidner in diesem Band, S. 259–279. Walter Benjamin: Franz Kafka
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haben, schon gattungspoetologisch, schrieb dieser doch (bis auf einen kurzen dramatischen Entwurf zum Gruftwächter12) ausschließlich erzählende Prosatexte. Dass Benjamin dennoch das Theatralische als eine erkenntnisleitende Kategorie von Kafkas Texten wählte, stellte Adorno daher grundsätzlich in Frage: Gerade nicht Theater, Performanz und Spiel seien Kafkas Texten angemessen, sondern allein Sprache und Musik. Gegen Benjamin behauptete der Musikphilosoph und Komponist Adorno zugespitzt, »daß Kafkas Kunstform […] zur theatralischen in der äußersten Antithese steht und Roman ist« (BK 105). Der Roman aber zeichnet sich nach Adorno nicht durch Performanz, sondern durch Repräsentation aus, und sei es durch die Extreme von Stummheit auf der einen und Musik auf der anderen Seite. In der dialogischen Kafka-Philologie ist dieser Kommentar Adornos zweifellos die schärfste Kritik einer Schlüsselkategorie Benjamins. Doch Benjamin beharrte darauf – und dies mit gutem Grund. Gut ist der Grund allein deshalb, weil Benjamin mit dem Theatralischen und dem Gestischen tatsächlich einen elementaren Aspekt von Kafkas Bildlichkeit in den Blick zu rücken vermag, um davon ausgehend einen sowohl ästhetischen als auch anthropologischen Begriff von Kafkas Figuren und Narrativen zu gewinnen. Das Gestische beobachtet Benjamin zunächst insbesondere an der Theaterszene des von Brod so genannten Amerika-Romans, dem Naturtheater von Oklahoma. Diese Beispielwahl liegt schon deshalb nahe, weil das Theater hier explizit zum Gegenstand gemacht ist. Das Kapitel steht jedoch an der Seite von zahlreichen weiteren theatralen Szenen und Anordnungen in Kafkas Texten, darunter Zirkusse, Varietés und Manegen, auf die Benjamin genauso hätte verweisen können. Im Amerika-Roman wird das Theater allerdings zugleich generalisiert. Zu einer Generalfigur wird es zunächst formal, nämlich in der Transformation der Repräsentation des Erzählens in die Performanz des Gestischen: Eine der bedeutsamsten Funktionen dieses Naturtheaters ist die Auflösung des Geschehens in das Gestische. Ja man darf weitergehen und sagen, eine ganze Anzahl der kleineren Studien und Geschichten Kafkas treten erst in ihr volles Licht, indem man sie gleichsam als Akte auf das Naturtheater von Oklahoma versetzt. Dann erst wird man mit Sicherheit erkennen, daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden. Das Theater ist der gegebene Ort solcher Versuchsanordnungen. (BK 18) 12 Vgl. Franz Kafka: Schriften. Tagebücher. Kritische Ausgabe: Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. v. Malcom Pasley. Frankfurt/M. 1993, S. 267–272, 276–289, 290–303.
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Das Gestische ist in dieser formalen Generalisierung mehr als nur eine körperliche Haltung. Es ist die allgemeine Form einer gewissermaßen negativen Handlung, d. h. eines Erzählens, dessen Handlung nicht nur rätselhaft, unauflöslich und undeutbar ist, sondern sich letztlich auflöst. Das Gestische ist eine nicht mehr sinnfällige Handlung, eine Haltung ohne Handlung, bloße Bewegung, figura. Doch nicht nur in diesem abstrakt-formalen Sinn ist das Theatralische in Kafkas Erzählen omnipräsent. Es charakterisiert auch sehr konkret das Verhalten von Kafkas Figuren, wie Benjamin herausstellt. Sie bewegen sich – auch im Sinne des Gestischen – stets wie auf einer Bühne: alles wird ihnen Bühne. Kafkas Welt ist, so Benjamin, auch in diesem konkreten Sinn ganz Theater, ganz Spiel. Wenn Benjamin deshalb für Kafkas Schreiben den barocken Begriff des ›Welttheaters‹ ins Spiel bringt, dann nicht, wie Adorno missverstehend anmerkt, um ein metaphysisch aufgehobenes und zugleich desavouiertes Weltgeschehen zu benennen, sondern vielmehr, um den entscheidenden Umstand festzuhalten, dass es zu Kafkas Bühnen förmlich kein Außen gibt: Sie sind allumfassend. Im Übrigen liest Benjamin Kafka hier nur wörtlich, ist doch im Amerika-Roman ausdrücklich vom »größte[n] Teater der Welt« die Rede.13 Benjamin freilich generalisiert diese globale Theaterfigur für Kafka: Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne. Und die Probe auf das Exempel ist: Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt. […] Die schauspielerische Eignung, an die man zuerst denken sollte, spielt scheinbar gar keine Rolle. Man kann das aber auch so ausdrücken: den Bewerbern wird überhaupt nichts anderes zugetraut, als sich zu spielen. (BK 22)
Dasein bedeutet für Kafkas Figuren daher, sich selbst zu spielen. Sie tun dies allerdings nicht im Sinn autonomer Individuen, sondern indem sie auf einer allumfassenden Bühne mit undurchschaubarer Regie Rollen übernehmen, um sich zu behaupten. Ihr Ziel ist nicht Selbstfindung, sondern Selbstbehauptung, mithin ein bloßer ›Ausweg‹, wie es der Schauspieler und Varietékünstler Rotpeter im Bericht für eine Akademie formuliert, Kafkas eindringlichste und – als schauspielender Nachahmer – konsequenteste Theatergestalt.14 Es 13 Vgl. Franz Kafka: Schriften. Tagebücher. Kritische Ausgabe: Der Verschollene. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt/M. 1983, S. 394. 14 Vgl. Franz Kafka: Bericht für eine Akademie. In: ders.: Schriften. Tagebücher. Kritische Ausgabe: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler u. a. Frankfurt/M. 1994, S. 299–313. Vgl. Andreas Kilcher: Das Theater der Assimilation. Kafka und der jüdische Nietzscheanismus. In: Friedrich Balke u. a. (Hg.): Für alle und keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Zürich; Berlin 2009, S. 201–229. Walter Benjamin: Franz Kafka
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ist dies in Benjamins Verständnis eine ›Erlösung‹ durch Spiel. Allerdings ist damit kein von der Theologie auf den Existenzkampf heruntergebrochener Begriff von Erlösung gemeint: Die Erlösung ist keine Prämie auf das Dasein, sondern die letzte Ausflucht eines Menschen, dem, wie Kafka sagt, »sein eigener Stirnknochen … den Weg« verlegt. Und das Gesetz dieses Theaters ist in dem versteckten Satz enthalten, den der ›Bericht für eine Akademie‹ enthält: » … ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund«. (BK 23)
Dieses Theater ist kein idealistisch-utopischer Innenraum der Freiheit, der außerhalb der Normbildung und Normpraxis von Politik und Religion stünde (wie es etwa Friedrich Schiller verstand). Zwar mag es zunächst so scheinen, als fände der aus Europa eingewanderte Karl Roßmann in seiner Odyssee durch die nach harten sozialdarwinistischen Gesetzen funktionierende amerikanische Geschäftswelt im »Teater von Oklahoma« einen solchen sozialutopischen Freiraum, wenn es etwa heißt, dass hier ein Jeder aufgenommen werde.15 Doch wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass dieses Theater nach denselben Gesetzen funktioniert wie die amerikanische Gesellschaft insgesamt. Schon räumlich ist das der Fall, indem das Theater kein autonomer Ort ist, sondern heteronom auf einer Rennbahn steht, auf einem Austragungsort physischer Wettkämpfe also, die stets der Schnellere, Stärkere gewinnt. Nach diesem Modell funktioniert auch die soziale Praxis der Rollenverteilung: Bei der Aufnahme ins Theater tritt Karl Roßmann zunächst, einem alten Wunschtraum folgend, mit dem Anspruch eines Ingenieurs auf, der zu sein er – gut theatralisch – vortäuscht. Er endet jedoch mit der denkbar schlechtesten Rolle: als technischer Arbeiter mit dem Außenseiternamen »Negro«, den er sich – in völliger Selbstvergessenheit – gibt.16 Das ist weit entfernt von der erhofften Freiheit, bedrohlich nah jedoch der sozialen Realität, der er im Theater gerade zu entkommen hofft. Mehr noch: Das Theater erweist sich immer deutlicher als ein umfassender Verwaltungsapparat mit zahllosen Kanzleien, Zweigstellen, Werbemaßnahmen und Personaladministration, als ein polypenartiger Trust gar, durchaus vergleichbar mit dem ›Schloss‹ und dem ›Gericht‹ der beiden späteren Romane Kafkas. Dieses Theater kennt kein Außen und Innen, keinen Anfang und Ende. Es ist vielmehr die irreduzible Immanenz eines unabschließbaren Spiels. Es ist der Übergang vom Theater zur Theatralität, die Expansion des ästhetischen
15 Vgl. Kafka 1983 (wie Anm. 13), S. 387. 16 Vgl. ebd., S. 402 f.
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zu einem sozialen und anthropologischen Theater als der conditio humana schlechthin. Die herausragende Bedeutung dieser doppelten Theatralität bei Kafka macht Benjamin folgerecht keineswegs nur am konkreten Theater-Beispiel des Amerika-Romans fest, sondern auch an einer Reihe von weiteren Texten, wobei erneut deutlich wird, dass Benjamin nahezu alle zu seiner Zeit publizierten Kafka-Texte zu Gebote standen: von der Betrachtung über die Landarzt-Erzählungen bis hin zu den nachgelassenen Romanen und Erzählungen. Das ermöglicht nicht nur die Dichte seiner philologischen Auseinandersetzung mit Kafka, sondern auch den Anspruch, aus der philologischen Textarbeit heraus mit der Theatralität eine grundlegende These zu Kafkas Werk zu formulieren. Nach dem Amerika-Roman zeigt Benjamin dies etwa am Bericht für eine Akademie sowie am Process-Roman, indem er K. als Schauspieler par excellence, d. h. als Typus der auf einer Bühne agierenden Figur, skizziert. Von herausragender Bedeutung ist die Theatralität auch in der Parabel über Das Schweigen der Sirenen. Benjamins These bestätigt sich hier wie an kaum einem anderen Text. Kafka legt die List des Odysseus ganz nach dem theatralen Muster ›Rettung durch Spiel‹ aus. Die Konstellation zwischen Odysseus und den Sirenen ist auf Theatralität ausgerichtet, die Handlung vollauf in Gesten aufgelöst: Odysseus und die Sirenen spielen sich wechselseitig Szenen vor. Beide Parteien sind zugleich Akteure und Zuschauer, wobei es in einer Art von theatralem Wettkampf darauf ankommt, wer mit seinem Spiel den Sieg davonträgt bzw. wer sich durch das Spiel retten kann. Dies gelingt bei Kafka dem zuletzt listenreicheren Odysseus: Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können (außer jenen welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten) aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, gar Wachs, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran nun dachte aber Odysseus nicht obwohl er davon vielleicht gehört hatte, er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen. Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehn, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Verstummen gewiß nicht. Dem Gefühl aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehn. Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, diese gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ. Walter Benjamin: Franz Kafka
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Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet es zu hören, flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das Tiefatmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn erklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden ihm förmlich, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen. Sie aber, schöner als jemals, streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Wind wehn und spannten die Krallen frei auf den Felsen, sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie solange als möglich erhaschen. Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden, so aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen. Es wird übrigens noch ein Anhang hiezu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte, vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.17
Mit Benjamin ließe sich sagen: Odysseus und den Sirenen ist in einem unabschließbaren Spiel alles Geste geworden. Die Falle dieses Spiels besteht darin, auch nur eine einzige Geste als ›wirklich‹ anzunehmen. Das hieße, sich über ihren Gestencharakter zu täuschen, aus dem Spiel der Gesten auszutreten – wer dies tut, ist verloren. Die Rettung besteht dagegen darin, das Spiel der Gesten in der Schwebe der Täuschung zu halten, also einerseits die Gesten des anderen als Täuschung zu genießen, andererseits aber selbst eine Meisterschaft des Gestischen, des listenreichen Täuschens zu entwickeln.
III. Es ist mehr als bloß aufmerksame Lektüre und philologische Textgelehrsamkeit, die Benjamin die elementare Bedeutung des Theatralischen bei Kafka erkennen ließ. Es sind auch philosophische Überlegungen, die zu dieser Expansion und Universalisierung des Theatralen führen. Hier liest nicht nur der ästhetisch geschulte Deuter von Kafkas Bilderwelt aus ihrer Mitte heraus, sondern auch der philosophisch geschulte Denker von Kafkas Einsatz des Theatralen aus einer philosophischen Peripherie heraus. Denn nicht unmittelbar aus dem Text, sondern erst aus seinem Kontext ergibt sich diese Erkenntnis, genauer aus dem Kontext der philosophischen Anthropologie. 17 Franz Kafka: Schriften. Tagebücher. Kritische Ausgabe: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. v. Jost Schillemeit Frankfurt/M. 1992, S. 40–42.
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Ausdrücklich zitiert Benjamin in seinem Essay aus diesem Archiv, besonders Johann Jakob Bachofen (BK 29). Indirekt angesprochen ist mit einer Philosophie des Theatralen aber auch dessen nicht weniger einflussreicher Basler Kollege: Friedrich Nietzsche. Mit dem Blick auf Nietzsches Begriff des Theatralen will ich weder zwischen den Zeilen des philosophischen Textgelehrten Benjamin lesen noch ein Kapitel zu Kafkas Nietzsche-Rezeption aufschlagen.18 Vielmehr geht es darum, einen diskursiven Raum zu erhellen, den Kafka und Benjamin gleichermaßen teilen und der Benjamins Universalisierung des Theaters bei Kafka sinnfällig machen kann. Tatsächlich entwickelt Nietzsche ein Begriffsspektrum, welches das Phänomen des Schauspiels in einer Engführung von ästhetischer Mimesis und anthropologischer Überlebenskunst neu begreift. Die platonische Angst vor der Mimesis wird bei Nietzsche dergestalt in Frage gestellt, dass die Wahrheit immer nur als Effekt jenes ›Heeres von Metaphern und Metonymien‹ erscheint, von der in der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1872) die Rede ist.19 Wo es aber keine ontologische Wahrheit mehr gibt, da fällt die Differenz zwischen Schein und Sein zugunsten einer Unhintergehbarkeit des Scheinhaften: »Schein, wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge […].«20 Damit formuliert Nietzsche zwar keine bedingungslose Apologie der Mimesis (und der mit ihr verknüpften Instanzen und Techniken wie Kunst, Illusion, Schauspiel oder Verstellung), aber doch die Erkenntnis ihrer irreduziblen ästhetischen und erkenntnistheoretischen Funktion jenseits des alteuropäischen Dualismus von Wahrheit und Erscheinung.21 Die anthropologische Perspektive auf dieses Primat des Spiels ergibt sich aus einer Auseinandersetzung mit Charles Darwin. Darwins These von der Mimikry als der leitenden und überlebensnotwendigen Strategie des Schwachen, sich »vor Gefahren [zu] schützen«,22 transferiert die Mimesis von der Sphäre der Kultur auf die der Natur, von der bewussten Produktion auf unbewusste Prozesse. Nietzsche folgt Darwin darin, dass er die Mimesis als die
18 Vgl. dazu Balke u. a. 2009 (wie Anm. 14). 19 Vgl. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli; Mazzino Montinari. Bd. 1. München 1980, S. 873–890, hier S. 880. Diese Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle KSA mit Band- und Seitenangabe zitiert. 20 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. In: ders.: KSA 11, S. 654. 21 Vgl. Gerd Franz Triebenecker: Für das Mimetische weiß ich leider nichts mehr anzufügen. Zur Rekonstruktion der Mimesis im Denken Friedrich Nietzsches. Hannover 2000. 22 Vgl. Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl [engl. 1859]. Leipzig 1884, S. 50. Walter Benjamin: Franz Kafka
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eigentliche Strategie des Schwachen versteht. So erkennt Nietzsche die »Verstellung« als eine der »Hauptkräfte« des menschlichen Intellekts: […] denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten […]. Im Menschen kommt die Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-demRücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst […] die Regel und das Gesetz […].23
Die vielfältigen theatralen Kunstfertigkeiten der Imitation und der Performanz werden hier zu anthropologischen – ›allzumenschlichen‹ – Strategien, die den Erfolg des mit physischen Mängeln behafteten Menschen erst begründen. In der Verstellungskunst erkennt Nietzsche damit eine elementare anthropologische Qualität, die sowohl die Leistungen des Denkens als auch die ästhetisch-mimetischen Leistungen der Kunst als Funktionen einer letztlich unbewussten, instinktiven, physisch motivierten Überlebenskunst erscheinen lassen. Das Theatrale gewinnt hier an Bedeutung, indem Nietzsche Darwin darin überbietet – so in einem Aphorismus der Götzen-Dämmerung mit dem Titel Anti-Darwin –, dass er in dem »berühmten Kampf um’s Leben« nicht etwa den Starken, sondern den Schwachen triumphieren sieht und damit denjenigen, der das Schauspiel am besten beherrscht: »[…] die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, […] die Schwachen haben mehr Geist […]. Ich verstehe unter Geist […] die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist […].«24 Diese Wendung hat ihr aufstörendes Moment darin, dass auch der »Geist« – die gesamte psychische und kulturelle Leistung des Menschen, das Bewusstsein ebenso wie die Kunst und die Moral – als Funktion des elementaren Überlebenswillens gesehen wird. Letztlich alle menschlichen Handlungen werden damit zu Surrogaten für den primären physischen Mangel. Das Schauspiel und die Figur des Schauspielers erweisen sich für Nietzsche nur als die kunstvollste, elaborierteste Variante dieser mimetischen Strategie. Der Schauspieler gilt ihm als Idealtypus des Schwachen, der durch Verstellung einen Ausweg aus seinem Mangel sucht; er vollendet den Typus des Menschen als Affen, wie es in der Morgenröthe unter dem Titel Philosophie der Schauspieler heißt: »Vergessen wir doch nie […], dass der Schau23 Nietzsche 1980 (wie Anm. 19), S. 876. 24 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosphirt [1889]. In: ders.: KSA 6, S. 55–161, hier S. 120 f.
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spieler eben ein idealer Affe ist und so sehr Affe, dass er an das ›Wesen‹ und das ›Wesentliche‹ gar nicht zu glauben vermag: Alles wird ihm Spiel, Ton, Gebärde, Bühne, Coulisse und Publicum.«25 Am Schauspieler verdeutlicht Nietzsche seine unheimliche Einsicht, dass Verstellung und Mimikry die elementaren Lebens- und Kulturfunktionen des Menschen überhaupt sind, selbst da noch, wo sie am weitesten vervollkommnet sind. Mehr noch: Gerade ihre artistische Herausstellung zeigt ihre tierische Herkunft, und damit die These, dass die kulturellen Leistungen des Menschen nur ein »Abenteuer glücklich angepasste[r] Halbthiere[]«26 sind. Vor diesem Hintergrund ist auch der Aphorismus Vom Probleme des Schauspielers aus dem Buch Die fröhliche Wissenschaft zu verstehen: Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend […]; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen: Alles das ist vielleicht nicht nur der Schauspieler an sich?27
Nietzsches lebensphilosophischer Begriff des Schauspiels weist aber auch über die anthropologische Grundlage von Kunst und Leben hinaus, zunächst in den Bereich des Sozialen. Die Logik des Spiels leitet nach Nietzsche insbesondere den sozial Schwachen, wobei er wesentlich auch die Juden im Blick hat, die ihm zufolge – in einer ebenso ambivalenten wie wirkungsmächtigen Formel – ein »Volk der Anpassungskunst par excellence« seien.28 Diese soziale These Nietzsches hat weitreichende Folgen für Kafka, aber auch für Benjamins Kafka-Lektüre, zumal im Entstehungs- und Publikationskontext von Benjamins Essay. Sie rückt den sozialen und kulturellen Zusammenhang der jüdischen condition moderne in den Blick, der vielleicht am eindringlichsten in Kafkas Bericht für eine Akademie – wenn auch parabolisch verschoben – erkennbar wird: Es ist die Geschichte eines Affen, der, in 25 Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile [1881]. In: ders.: KSA 3, S. 9–331, hier S. 231. 26 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887]. In: ders.: KSA 5, S. 245–412, hier S. 322. 27 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft [1882]. In: ders.: KSA 3, S. 343–651, hier S. 608 f. Vgl. dazu auch folgende Passage aus: »Genug! Genug! Man wird, fürchte ich, zu deutlich nur unter meinen heitern Strichen die sinistre Wirklichkeit wiedererkannt haben – das Bild eines Verfalls der Kunst, eines Verfalls auch der Künstler. Der letztere, ein Charakter-Verfall, käme vielleicht mit dieser Formel zu einem vorläufigen Ausdruck: der Musiker wird jetzt zum Schauspieler, seine Kunst entwickelt sich immer mehr als ein Talent zu lügen.« Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888]. In: ders.: KSA 6, S. 9–53, hier S. 26. 28 Nietzsche [1882] (wie Anm. 27), S. 609. Walter Benjamin: Franz Kafka
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Gefangenschaft geraten, den einzigen Ausweg darin sieht, sein »Affentum« abzulegen und Mensch zu werden: die Anstrengung, der Erfolg, aber auch der Zwang und der Preis von Emanzipation und Assimilation.29 In anderen Texten wie etwa im Process oder im Hungerkünstler wird dieser Zusammenhang zwar weniger deutlich als im Bericht, aber immerhin indirekt auf der Handlungs- und Bildebene erkennbar. Im Gegensatz zum erfolgreichen Affen Rotpeter ist etwa Josef K. ein zwar höchst bemühter Spieler und Redner, der seine Position durch Anpassung und Schauspiel zu verbessern versucht, aber er bleibt am Ende ohne Erfolg. Der Hungerkünstler wiederum perfektioniert gewissermaßen die Kunst des Schwachen – jedoch eben als Erfolg der Hungerkunst und damit um den Preis der Selbstauflösung. Im Gegensatz zum Affen Rotpeter wendet sich die Kunst des Hungerkünstlers gegen den Schauspieler; seine Selbstbehauptung durch Kunst schlägt um in Selbstvernichtung – als Kunst.
IV. In seinem Kafka-Essay hebt Benjamin nicht so sehr auf diese soziale Implikation des Szenischen und Gestischen ab. Vielmehr geht er zurück auf seine ›vorweltlichen‹, d. h. nicht nur theologischen und mythischen, sondern gänzlich urzeitlichen, elementaren Dispositionen, die er mit Bachofen als vergessene »Sumpfwelt« (BK 28) bezeichnet. Hier aber entfaltet sich der Konnex von Theater und Erlösung. Wo es auf der Ebene des Sozialen um einen Ausweg durch Mimikry geht, da zielt Benjamin zugleich auch auf Kategorien wie Sünde, Hoffnung und Erlösung. Was in Nietzsches Begriffen die Selbstbehauptung des Schwachen durch Schauspiel war, erscheint bei Benjamin allgemeiner noch als Erlösung durch Spiel. Schärfer noch: Wo bei Nietzsche die messianische Kategorie der Erlösung von der theologischen Sphäre in die des Daseins heruntergebrochen und in den Kontext einer philosophischen Anthropologie übersetzt wird, da verlagert Benjamins Blick auf Kafka die Anthropologie und ihre Konsequenz für soziale Ordnungen in vor-theologische, ja vor-mythische Zonen zurück: »Von Ordnungen und Hierarchien zu sprechen, ist hier nicht möglich. Die Welt des Mythos, die das nahelegt, ist unvergleichlich jünger als Kafkas Welt, der schon der Mythos die Erlösung versprochen hat.« (BK 15) Doch gerade in dieser ›vorweltlichen‹ Sphäre, die Benjamin in Kafkas Welt vorherrschend wirksam sieht, ist das Spiel eben nicht bloß gesellschaftlicher 29 Vgl. Kilcher 2009 (wie Anm. 14).
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Ausweg, sondern auch – in Benjamins Begriff – ›Erlösung‹. Nicht weniger als dies ist es, was das ›Welttheater‹ in Oklahoma und die Varietébühne des Affen Rotpeter letztlich versprechen: »Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne. Und die Probe auf das Exempel ist: Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt.« (BK 22) Ihnen ist der Ort des Theaters, so folgert Benjamin weiter, die »letzte Zuflucht« (BK 23) – und das meint auch: Erlösung. Was Benjamin im zweiten Teil seines Kafka-Essays noch vorsichtig formuliert, wird im vierten Teil vollends affirmativ gewendet, wenn er noch einmal auf das Naturtheater von Oklahoma zurückkommt: »Seine Schauspier sind erlöst« (BK 35). Unerlöst bleiben dagegen nach Benjamin Kafkas Studenten: Sie kommen zwar von derselben »Verheißung« her, »welche die Überlieferung an das der Thora angeschlossen hat« – jedoch »seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift abhanden kam.« (BK 37). Was wenig später zum Gegenstand der brieflichen Auseinandersetzung mit Scholem werden sollte, hat innerhalb des Essays die argumentationslogische Stellung des Gegensatzes: Nicht die der religiösen Welt des schriftgelehrten Lernens entsprungenen Studenten erscheinen bei Kafka als Erlöste, sondern die der archaischen Vorwelt des Szenischen und des Gestischen entsprungenen Schauspieler. Religiös im Sinne des Judentums ist diese Erlösung daher auch kaum zu verstehen. Sie findet nicht in der Welt des religiösen Studiums oder des klassischen jüdischen Messianismus statt, sondern vielmehr in der Sphäre des Spiels. Diese Erlösung aber ist, nach Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte von 1940, nur von einer »schwache[n] messianische[n] Kraft«30 getragen: Religiöse Heilsgewissheit ist hier in die unsichere Sphäre des ästhetischen Scheins verlagert. Die vorsichtig messianische Perspektive auf Kafka ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sie sich nicht mehr auf den positiven Begriff eines Gegebenen und eines Gesicherten von Gesetz und Tradition berufen kann. Vielmehr leitet diesen Messianismus gerade umgekehrt Gesetzesvergessenheit und Traditionsverlust. Diese ›Erlösung‹ entwickelt dabei ein allerdings essentielles dialektisches Moment. Denn gerade die gefallene, die unerlöste Welt ist es, die, wie Benjamin an Kafka zu zeigen versucht, geradezu notwendig den Index der Rettung in sich trägt. Erlösung durch Spiel ist, um es in Scholems pointierten Worten zu sagen, wesentlich auch »Erlösung durch Sünde«.31 30 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991, S. 693– 704, hier S. 694. Hervorhebung im Orig. 31 Gershom Scholem: Judaica 5. Erlösung durch Sünde. Hg. v. Michael Brocke. Frankfurt/M. 1992, S. 7–116. Walter Benjamin: Franz Kafka
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Philipp von Wussow
Adorno über literarische Erkenntnis
I.
Einleitung
Dass von Musik »Erkenntnischarakter« zu fordern sei, hat Adorno bereits 1932 unmissverständlich erklärt.1 Die Konzeption ästhetischer Erkenntnis blieb zunächst auf den Gegenstand der Musik beschränkt. Erst in den 1950er Jahren, nach der Rückkehr aus dem Exil, begann Adorno, literaturkritische Essays zu publizieren, um mit ihnen in die intellektuellen Debatten der frühen Bundesrepublik einzugreifen. Anders als im Fall der Musik tritt Adorno hier nicht als Fachmann auf; primär verbindet sich in den Noten zur Literatur die Liebe zu den Texten mit dem Anspruch einer radikalen kritischen Intervention. Erkenntnisse legitimieren sich aus dem Zusammenspiel von mitunter idiosynkratischen frühen Lektüreerfahrungen und einer philosophisch-gesellschaftlichen Theorie; die Analysen gelten nicht so sehr den technischen Details der Werke und bleiben dadurch oftmals konventioneller als die musikalischen Analysen. Doch gerade im Bereich der literarischen Studien entwickelte Adorno in den 1950er und 1960er Jahren eine außerordentliche Produktivität – was er selbst auf seine umfangreichen Vorarbeiten aus der Zeit des Exils zurückführte2 – und verzeichnete große äußere Erfolge. Eine Wirkungsgeschichte dieser Arbeiten zu schreiben, würde eine genaue Analyse der literarischen und gesellschaftlichen Kontexte erfordern, auf die Adornos Interventionen jeweils reagieren. Doch nicht zuletzt ist die Wendung zur Literatur auch in dem philosophischen Erkenntnisinteresse begründet, das sich durch die historischen Erfahrungen sowohl schärft als auch erweitert. Dieses Erkenntnisinteresse ist das Thema der vorliegenden Untersuchung. Adorno stellt seine philosophische Arbeit, um eine prägnante For1 Theodor W. Adorno: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann [künftig zitiert: GS]. Bd. 18. Frankfurt/M. 1984, S. 729−777, hier S. 732. 2 Vgl. Adornos Brief an Siegfried Kracauer vom 1. September 1955. In: ders.: Briefe und Briefwechsel. Bd. 7: Theodor W. Adorno; Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1966. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2008, S. 480−483, hier S. 481. Adorno über literarische Erkenntnis
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mulierung Ernst Cassirers aufzugreifen, »unter den Imperativ des Werkes«3 und, korrelativ dazu, der Interpretation. Die Beschäftigung mit den Werken ist dabei keine bloße Ergänzung der eigentlichen Arbeit, sondern sie führt mitten in das Zentrum der theoretischen Erkenntnis hinein und mitunter auch über diese hinaus. Eine Vergegenwärtigung dieses Programms jenseits der unmittelbaren Kontexte ist zugleich eine Aufgabe im Sinne einer post-postmodernistischen Kritik der Kritik – einer durchaus sympathetischen Kritik, die nach dem Ende der Postmoderne die Errungenschaften der Moderne neu vergegenwärtigen will. Vielleicht lässt sich erst außerhalb der polemischen Konstellation von Postmoderne und Moderne die Frage adäquat stellen, worum es bei diesen Errungenschaften jeweils eigentlich ging. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand lässt sich die Frage so stellen: Welche Art von Erkenntnis gewinnt Adorno tatsächlich durch Literatur? Was erfährt er aus der Literatur, das er nicht bereits vorher wusste? Darauf gibt es zwei mögliche plausible Antworten. Eine lautet, dass kein literarischer Text Adornos Philosophie eine entscheidend andere Richtung hätte geben können;4 er erkennt im Grunde nichts Neues, da er den Werken eine bestimmte theoretische Begrifflichkeit aufoktroyiert, um an ihnen eine vorgefertigte Betrachtungsweise zu legitimieren.5 Die andere Antwort lautet, dass Adorno in moderner Literatur, bei Kafka oder Beckett, etwas erkennt, das seiner Philosophie unverfügbar ist.6 Sie ergibt sich meines Erachtens aus dem Kontext der Frage nach dem Status philosophischer Erkenntnis nach Auschwitz. Gemäß der unmissverständlichen Anweisung, »daß jeder Gedanke, der an diesen Erfahrungen nicht sich mißt, völlig ohnmächtig, völlig gleichgültig, bloßer Spaß ist«,7 versucht Adorno zu bestimmen, was an den Werken unbestimmbar ist. 3 Ernst Cassirer: Über Basisphänomene. In: ders.: Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. v. John Michael Krois. Bd. 1. Hamburg 1995, S. 119−195, hier S. 190. 4 Jan Philipp Reemtsma: Der Traum von der Ich-Ferne. Adornos literarische Aufsätze. In: Axel Honneth (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M. 2005, S. 318–363, hier S. 346. 5 Manfred Jurgensen: Adornos Literaturkonzept. In: Axel Honneth; Albrecht Wellmer (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen. Berlin; New York 1986, S. 339–352, bes. S. 347; Gerhard van den Bergh: Adornos philosophisches Deuten von Dichtung. Ästhetische Theorie und Praxis der Interpretation: Der Hölderlin-Essay als Modell. Bonn 1989, S. 19 f. u. 196. 6 Wolfram Ette: Adorno und Beckett. Zur Gegenwart des Existentialismus in Adornos Denken. In: ders. u. a. (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Freiburg; München 2004, S. 339–362. 7 Theodor W. Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit. Frankfurt/M. 2001, S. 280.
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Diese beiden Möglichkeiten sind nicht bloß zwei verschiedene Lesarten, vielmehr handelt es sich um zwei widerstreitende Impulse in Adornos Theorie literarischer Erkenntnis selbst. Der eine Impuls drängt darauf, Erkenntnis als gesellschaftliche Erkenntnis zu fassen, und zwar als Erkenntnis über die Beschaffenheit der kapitalistischen Gesellschaft; sie besteht vor allem in der doppelten Einsicht, wie schlimm es wirklich ist und warum es ganz anders sein könnte. Dem anderen Impuls zufolge besteht das Erkenntnispotential der Literatur gerade in der Unbestimmtheit dessen, was zu erkennen sei. Demnach werden durch Literatur Erfahrungen und Erkenntnisse vermittelt, die sich nur mühevoll in das Paradigma der Gesellschaft – die zur Theorie gewordene zweifache Erwartung von Ungerechtigkeit und Ausbeutung8 – zurückübersetzen lassen. Die Spannung zwischen den beiden Konzeptionen, ihre Unvereinbarkeit, aber auch die unerwarteten Einsichten, die Adorno aus dem Widerstreit der Impulse gewinnt – dies ist der kritische Leitfaden für die vorliegende Untersuchung. Doch tatsächlich handelt es sich auch um zwei Lesarten, die beide den Status von Adornos Interpretationen in der Öffentlichkeit reflektieren. So ist in einer Reihe von Untersuchungen zur »Wahrheitspraxis« der Kritischen Theorie auf dem Weg zur Frankfurter Schule die These vertreten worden, dass Adornos Essays zur Literatur nur im Rahmen von Paradigmenkämpfen im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften zu verstehen seien.9 Demnach dienen Adornos Beiträge zur Literatur der Positionierung eines bestimmten ›progressiven‹ Intellektuellentyps in den ästhetischen und gesellschaftlichen Diskursen der Bundesrepublik, der sich selbst als »fortgeschrittenstes Bewusstsein«10 versteht. Durch die progressive Interpretation der großen Werke und die Schaffung eines neuen Literaturkanons entlang der Idee eines gleichermaßen gesellschaftlichen und immanent-ästhetischen Fortschritts wird eine Neuausrichtung der Kultur auf die Gesellschaft vorbereitet.11 So verstanden, ist literarische Erkenntnis weitgehend die Wiederholung von etwas bereits anderweitig Erkanntem. Sie dient als Medium in politi8 Siehe Hannah Arendt: The Crisis in Culture. In: dies.: Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought. New York 1993, S. 197–226, hier S. 200. 9 Alex Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Frankfurt/M. 1999; siehe auch Clemens Albrecht u. a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1999; Stefan MüllerDoohm: Adorno. Eine Biographie. Frankfurt/M. 2003, S. 535–554. 10 Theodor W. Adorno: Wozu noch Philosophie. In: ders.: GS 10.2 (1977), S. 459−473, hier S. 472. 11 Zu dieser Neuausrichtung siehe Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: ders.: GS 10.1 (1977), S. 11–30. Adorno über literarische Erkenntnis
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schen und sozialen Kämpfen, die in der Kultur ausgetragen werden, nachdem die politische Ordnung der liberalen Demokratie nicht mehr zur Disposition steht. Die Werke werden in die kulturellen Kämpfe hineingezogen und mithilfe soziologischer und psychoanalytischer Kategorien umcodiert. Eine solche Politisierung der Kultur reagiert darauf, dass es bereits andere Interpretationen derselben Werke gibt.12 So sieht sich Adorno auch deshalb zur Interpretation genötigt, weil es bereits die existentialistischen Interpretationen gibt, die dem Publikum weismachen wollen, dass die Welt in Ordnung sei; er erkennt seine Aufgabe darin, diese Deutung durch eine neue Interpretation beiseitezuschaffen, in der die Elemente auf eine andere, bessere Gesellschaft ausgerichtet sind. Er wird, nach einer Formulierung Walter Benjamins, zum »Strategen im Literaturkampf«.13 Vieles an Adornos literaturkritischen Arbeiten lässt sich durch eine solche ›wahrheitspolitische‹ Lektüre erschließen, sie enthalten jedoch auch eine ganz andere Perspektive, die das genaue Gegenteil einer solchen Politisierung der Kunst bildet (und diese Perspektive erscheint der ersten letztlich weitaus überlegen). Denn paradoxerweise hat die intensive Befassung mit moderner Literatur gerade auch den gegenteiligen Effekt einer Entpolitisierung. Diese paradoxe Funktion steht im Zusammenhang mit dem interpretative turn und zeigt eine bestimmte Stellung der Kritik zu den interpretierten Werken an. Adorno hat viel dazu beigetragen, die Literaturkritik auf die Werke zu lenken und das gesellschaftliche Interesse an den Veränderungen der Kultur mit genuinen Einsichten in die Funktionsweisen ästhetischer Formensprachen zu verbinden. Seine zentrale Forderung ist, nicht »von oben«14 herab über die 12 Vgl. dazu Michel Foucault: Nietzsche, Freud, Marx [frz. 1967]. In: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. v. Daniel Defert; François Ewald. Bd. I: 1954–1969. Frankfurt/M. 2001, S. 727–743. 13 Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV.1. Frankfurt/M. 1972, S. 83−148, hier S. 108. 14 So schreibt Adorno über den Begriff der bestimmten Negation: »Sie basiert auf der Erfahrung der Ohnmacht von Kritik, solange sie im Allgemeinen sich hält, etwa den kritisierten Gegenstand erledigt, indem sie ihn von oben her einem Begriff als dessen bloßen Repräsentanten subsumiert.« (Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. In: ders.: GS 5 [1971], S. 247−381, hier S. 318) Adorno leitet die Formel ›von oben her‹ oder ›von oben herab‹ von Husserl her, dem zufolge man »nicht von obenher postulieren oder dekretieren [kann]« (Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Walter Biemel. Bd. 3. Den Haag 1950, S. 44): »Man sehe sich doch die Phänomene selbst an, statt von oben her über sie zu reden und zu konstruieren.« (Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Walter Biemel. Bd. 2. Den Haag 21973, S. 60). Die Zentralität des Topos in Adornos Philosophie bezeugt ihr phänomenologisches Erbe – trotz aller Husserl-kritischer Exerzitien, die bereits 1934–1937 eine gigantische Textmenge produzierten und erst 1956 in Buchform erschienen (Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der
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Werke zu sprechen. Es sollen nicht »Etiketten von außen aufgeheftet«15 werden – ein Verfahren, bei dem »mit komischer Bedeutsamkeit […] immer wieder, differenzlos, das Gleiche herausgelesen« wird.16 Vielmehr soll sich die Interpretation dem »Wahrheitsanspruch« der Werke stellen.17 Die Möglichkeit, dass die Interpretation bloß eine Wiederholung des Subjekts sei, kann als das Grundproblem von Adornos Theorie der Interpretation und Kritik gelten. Dieses Problem erscheint gänzlich ungelöst, da auch Adorno oftmals dasselbe aus verschiedenen Texten herauszulesen scheint. Dieser Eindruck drängt sich besonders dort auf, wo er ein Werk unter ökonomiekritische Oberbegriffe wie den der »kapitalistischen Spätphase« subsumiert.18 Doch gerade an dem Zusammenhang zwischen der Einsicht in die Unzulänglichkeit der Subsumtion und der offensichtlichen Unmöglichkeit, dieser Einsicht im Erkenntnisprozess überall zu folgen, erweist sich, dass in Adornos Theorie literarischer Erkenntnis eine bestimmte Urteilsform verhandelt wird; diese Urteilsform wird von ihm in ihrer politischen Dimension bestimmt. Meiner These zufolge zeichnet sich die von Adorno anvisierte Urteilsform dadurch aus, dass sie den unmittelbaren politischen Anspruch der Literaturkritik zurücknimmt. Diese zurücknehmende Geste verdankt sich der Einsicht in die Unmöglichkeit einer vollen diskursiven Einholung des Gehalts literarischer Werke und ist eine Konsequenz aus der philosophischen Diagnose einer in sich dialektischen Aufklärung.
II. Erkenntnis Adorno zufolge ist der Weg von Erkenntnistheorie, »immer mehr an Objektivität aufs Subjekt zurückzuführen. Eben diese Tendenz wäre umzukehren.«19 Das bezieht sich wörtlich auf den Neukantianer Heinrich Rickert, dem Adorno 1940 eine Rezension gewidmet hatte, wird aber so weit verallgemeinert, dass dieser letzte große Idealist unwissentlich das Prinzip der
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Erkenntnistheorie. In: ders.: GS 5 [1971], S. 7–245). Adorno hielt diese Studie für eine seiner wichtigsten, gerade auch im Hinblick auf das Verhältnis von »immanenter« philosophischer Kritik und gesellschaftlicher Analyse. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. In: ders.: GS 14 (1973), S. 169−433, hier S. 407. Theodor W. Adorno: Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung, In: ders.: GS 10.2 (1977), S. 495−498, hier S. 498. Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. In: ders.: GS 5 (1971), S. 247−381, hier S. 251. Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: ders.: GS 10.1 (1977), S. 254−287, hier S. 268. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: ders.: GS 6 (1973), S. 7−412, hier S. 178. Adorno über literarische Erkenntnis
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abendländischen Geistesgeschichte angegeben habe. Die Formalisierung des Denkens soll als Konsequenz der Dialektik von Aufklärung (als Entmythologisierung) kenntlich werden, in der das Subjekt mehr und mehr die Objekte und dadurch auch sich selbst verliert. Es bleibt – in Rickerts Worten – ein »hirnloses Subjekt«20 zurück, das, von allen empirischen, heteronomen Bestimmungen gereinigt, sich radikal selbst zu begründen vermag; doch dabei fällt immer mehr von dem zum Opfer, was es eigentlich zu erkennen gilt. Um diese Dialektik zu unterbrechen, so Adorno in seiner Antrittsvorlesung, solle Philosophie »den Weg zu den rationalen Voraussetzungen nicht zu Ende gehen, sondern dort stehen bleiben, wo irreduzible Wirklichkeit einbricht; begibt sie sich weiter in die Region der Voraussetzungen, so wird sie diese allein formal und um den Preis jener Wirklichkeit erlangen können, in welcher ihre eigentlichen Aufgaben gelegen sind.«21 Die philosophiegeschichtliche Pointe von Adornos Antrittsvorlesung ist denn auch, dass alle vorherrschenden Richtungen und Schulen den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren haben.22 Seine frühen interpretationstheoretischen Schriften stehen ausdrücklich im Kontext der Krise der Wirklichkeit23 und lassen sich als eine zwar späte, aber schlagkräftige Antwort auf die Diagnosen der Kulturkritik in der Weimarer Republik lesen. Dabei werden von ihm zwei Wirklichkeitsbegriffe auf eine Weise miteinander verschränkt, die nicht zuletzt die heute so beliebte Vorstellung von einer Welt als Text, als unendliches Reservoir von Signifikanten angreift. Wirklichkeit wird dem Subjekt zunächst als leibliche Erfahrung und als logische Aporie zugänglich. Es ist der Wirklichkeitsbegriff von der »erfahrenen Widerständigkeit des Gegebenen«, wie sie von Blumenberg präzise beschrieben wird: Wirklichkeit ist »das dem Subjekt nicht 20 Heinrich Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie. Tübingen 61928, S. 34. Adornos Rezension von Unmittelbarkeit und Sinndeutung in: ders.: GS 20.1 (1986), S. 244–250. 21 Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie. In: ders.: GS 1 (1973), S. 325−344, hier S. 343. Zu Adornos Überlegungen zum »Einbruch der Realität« in die »scheinbar autonomen Fragestellungen des Geistes« siehe das Gesprächsprotokoll Wissenschaft und Krise. Differenz zwischen Idealismus und Materialismus. Diskussionen über Themen zu einer Vorlesung Max Horkheimers (1931/32). In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Hg. v. Alfred Schmidt. Bd. 12. Frankfurt/M. 1985, S. 349−397, hier S. 363. 22 Adorno: GS 1 (1973), S. 326–331. 23 Zum Topos siehe Otto Gerhard Oexle: »Wirklichkeit« – »Krise der Wirklichkeit« – »Neue Wirklichkeit«. Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933. In: Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945. München 2002, S. 1–20; ders.: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: ders. (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Göttingen 2005, S. 11–116.
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Gefügige, ihm Widerstand Leistende, und dies nicht nur als Erfahrung des Berührens, der trägen Masse, sondern auch und in letzter Zuspitzung in der logischen Form des Paradoxes.«24 Von Adorno ist hierzu zu erfahren, dass die Gestalt jener Wirklichkeit in das Denken »einbricht« und auf diese Weise »jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt«.25 Sie ist demnach nicht bloß widerspenstig, sondern prinzipiell »irreduzibel«, das heißt, sie kann nicht wieder auf formale Denkvoraussetzungen zurückgeführt werden. Um die schicksalhaften Implikationen einer solchen »vorgefundenen« Wirklichkeit26 zu vermeiden, betont Adorno andererseits den operationellen Charakter von Wirklichkeitserkenntnis. Danach ist Wirklichkeit das Ergebnis einer bestimmten Darstellungsweise, die die irreduzible Wirklichkeit zur Erscheinung bringt. Im Zentrum dieser Reflexion stehen hier die Art der Verknüpfung des Materials und die Weise, wie »Wirkliches in die Begriffe einging«. So heißt es zu Beginn der Kierkegaard-Studie (1933): Das Formgesetz der Philosophie fordert die Interpretation des Wirklichen im stimmigen Zusammenhang der Begriffe. Weder die Kundgabe der Subjektivität des Denkenden noch die pure Geschlossenheit des Gebildes in sich selber entscheiden über dessen Charakter als Philosophie, sondern erst: ob Wirkliches in die Begriffe einging, in ihnen sich ausweist und sie einsichtig begründet.27
Erkenntnis entsteht demnach aus einem bestimmten Zusammenhang, durch eine Weise der Verknüpfung von mitunter heterogenem Material; in der Philosophie wird dieser Zusammenhang durch Begriffe gestiftet. »Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.«28 Durch ihre Anordnung gewinnen die Begriffe einen spezifischen Wirklichkeitscharakter. Dies ist die für Adornos Lehre von der Darstellung zentrale Idee der Konstellation.29 Der doppelte Wirklichkeitsbegriff in seiner Verschränkung von Diagnose und Darstellung ist gleichsam die methodische Vorbedingung, um Erkenntnisse von jener Art gewinnen zu können, wie sie in der Ausgangsfrage in 24 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans [1964]. In: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt/M. 2001, S. 47–73; hier S. 68, S. 53. Hervorhebung im Orig. 25 Adorno: GS 1 (1973), S. 343 und 325. 26 Ebd., S. 338. 27 Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. In: ders.: GS 2 (1979), S. 9. 28 Adorno: GS 6 (1973), S. 164 f. 29 Zu Adornos Begriff der Konstellation vgl. Philipp von Wussow: Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie. Würzburg 2007, S. 141–143 u. 192 f. Adorno über literarische Erkenntnis
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Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung angezeigt sind: »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.«30 Es ist ratsam, die anschließenden methodischen Reflexionen der Vorrede ernst zu nehmen, um die außerordentlichen Schwierigkeiten einer solchen Erkenntnis nachzuvollziehen. Hier wird geltend gemacht, dass die Frage (für die Autoren zweifellos die wichtigste Frage schlechthin) innerhalb der »geltenden sprachlichen und gedank lichen Anforderungen« des »Wissenschaftsbetrieb[s]«31 nicht zu beantworten, nicht einmal zu stellen wäre. Der Grund ist, dass wissenschaftliches Denken jene Erkenntnis, auf die es zielt, durch die eigene Form verhindert. Als primäre Aufgabe des Denkens wird deshalb die »Selbstbesinnung über seine eigene Schuld« bestimmt. Diese Schuld artikuliert sich in der Reflexion auf die Weise, wie es Zusammenhänge zwischen den Dingen herstellt, durch das Urteil Form stiftet. Dabei erkennt es, dass es das, was es analysiert, durch die eigene Verfahrensweise reproduziert. Horkheimer und Adorno fassen diese Erkenntnis als »Eingedenken der Natur im Subjekt«, in der die Aufklärung zu »mehr als Aufklärung« wird und »der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt« ist: Solchen Schein [der vernünftigen Gesellschaft], in dem die restlos aufgeklärte Menschheit sich verliert, vermag das Denken nicht aufzulösen, das als Organ der Herrschaft zwischen Befehl und Gehorsam zu wählen hat. Ohne sich der Verstrickung, in der es in der Vorgeschichte befangen bleibt, entwinden zu können, reicht es jedoch hin, die Logik des Entweder-Oder, Konsequenz und Antinomie, mit der es von Natur radikal sich emanzipierte, als diese Natur, unversöhnt und sich selbst entfremdet, wiederzuerkennen. Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fortsetzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus. […] [Der Begriff] distanziert nicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnung eben des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomische Tendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen.32
Diese Stellen, die zu den zentralen Auskünften des Buchs gerechnet werden können, werfen die Frage nicht nur nach dem modus operandi und nach den Quellen, sondern auch nach der prinzipiellen Möglichkeit eines Denkens auf, das über das Denken hinausführt, ohne seine Bedingungen radikal überschreiten zu können. Die Schwierigkeiten lassen sich auflösen, 30 Max Horkheimer; Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno: GS 3 (1984), S. 11. 31 Ebd., S. 12 u. 11. 32 Ebd., S. 56 u. 57 f.
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indem man zwei verschiedene Modi desselben Denkens unterscheidet, die von Adorno an anderer Stelle ›Deutung‹ und ›Forschung‹ genannt werden.33 Verkürzt lässt sich der Unterschied folgendermaßen bezeichnen: Während wissenschaftliche Forschung blind für das Moment des Urteils im Erkenntnisprozess bleibt und damit den eigenen »Zwangsmechanismus« nicht zu erkennen vermag, ist Deutung eine Form des Urteils, das sich des Urteilscharakters bewusst ist und damit den eigenen Zwangscharakter durchbricht. Dabei kommt der Deutung zugute, dass sie es vorzugsweise mit Werken zu tun hat, die durch ihre Beschaffenheit den Prozess der »Formalisierung der Vernunft« (Horkheimer)34 unterbrechen: Als ›Gebilde‹ jenseits des Gegensatzes von Eigenem und Fremdem verweigern sie sich der Versuchung des Denkens, Objektives auf das Subjekt zurückzuführen; sie machen vor, wie sich Subjekt und Objekt verschränken, und fordern auf diese Weise das Urteil heraus, das sich ebenfalls einer solchen Verschränkung von Subjekt und Objekt verdankt. Sofern literarische Werke eine Funktion für das begriffliche Denken haben – was Adorno zugleich mit guten Gründen bestreitet –, besteht diese Funktion in der Verinhaltlichung des Denkens. Darin steht das Paradigma literarischer Erkenntnis in einem engen Zusammenhang mit der VI. These der Elemente des Antisemitismus, dass bei den Antisemiten die Verschränkung von Ich und Welt, von Eigenem und Fremdem unterbrochen ist. »In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich.«35 Die »falsche[] Projektion«, in der der Antisemit »immer nur sein zur abstrakten Sucht entäußertes Selbst zu wiederholen«36 vermag, ist die äußerste Konsequenz dieser Erstarrung. Demgegenüber fordern die Werke durch ihre Beschaffenheit eine bestimmte »aktiv-passive« Haltung des Lesers – eine Forderung, in deren Zentrum die Anweisung steht, »daß man sich beweglich macht«.37
33 Adorno: GS 1 (1973) S. 334. 34 Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6, Frankfurt/M. 1991, S. 31 u. passim. 35 Adorno: GS 3 (1984), S. 214. 36 Ebd., S. 211 u. 215. 37 Theodor W. Adorno: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: ders.: GS 15 (1976), S. 188−248, hier S. 210. Adorno über literarische Erkenntnis
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III. Wozu Literatur? Einige Motive Die zweite Funktion der für Adorno wesentlich funktionslosen Literatur steht ebenfalls in einem engen Zusammenhang mit dem Wirklichkeitsbegriff und betrifft ihr Darstellungsmoment. Literatur soll – in ihrem eigenen Medium und nach Maßgabe ihrer eigenen Formensprache – sagen, wie es ist. Ihr diese Aufgabe zuzuweisen, ist nur scheinbar trivial. Sie erfordert genaue Rechenschaft über das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im Erzählen. Adornos Theorie des Erzählens geht von der Aporie aus, dass sich in der Moderne nicht mehr erzählen lässt, während die Romanform doch der Erzählung bedarf. Die Situation des Erzählens wird ihm in Abgrenzung dazu fassbar, was er in Analogie zum bürgerlichen Theater die »Guckkastenbühne« des traditionellen Romans nennt: »Der Erzähler lüftet einen Vorhang: der Leser soll Geschehenes mitvollziehen, als wäre er leibhaft zugegen. Die Subjektivität des Erzählers bewährt sich in der Kraft, diese Illusion herzustellen«.38 Die Illusion des Romans durch eine reine Sprache und den Verzicht auf Reflexion herzustellen, sei am glücklichsten bei Flaubert gelungen. Nach Flaubert sei sie nicht mehr möglich; bereits bei Stifter münde der Versuch in manische Obsession. In neueren Romanen werde durch Reflexion die Immanenz der Form durchbrochen, womit der Erzähler (Proust, Gide, Musil oder der späte Thomas Mann) gegen die Lüge des Erzählens Partei ergreife, also gleichsam gegen sich selbst denke. Seine künstlerische Aufgabe bestehe nun darin, dieses reflexive Element »durch abermalige Reflexion der Sache selbst einzuverleiben, anstatt sie als stofflichen Überhang zu tolerieren«.39 Adorno konstatiert einen Funktionswandel des Erzählens durch das immer größer werdende Missverhältnis zwischen der Wirklichkeit und der Möglichkeit von deren adäquater Beschreibung – eine Entwicklung, die ihre genaue Entsprechung in der Theorie hat.40 Beide drohten an ihrer Aufgabe zu scheitern, zu sagen, wie es ist. Der Roman müsse nun, um seinem realistischen Erbe treu zu bleiben, auf den Realismus verzichten: Um sagen zu
38 Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: ders.: GS 11 (1974), S. 41−48, hier S. 45. Analog spricht Adorno in der Negativen Dialektik von der »Guckkastenmetaphysik«, ders.: GS 6 (1973), S. 143. 39 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: ders.: GS 7 (1970), S. 226. 40 Vgl. etwa Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung. In: ders.: GS 11 (1974), S. 251−280, hier S. 273.
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können, wie es ist, müsse Literatur hinausgehen über das, was ist.41 So berichte Kafka, »wie es eigentlich zugeht«, indem er den objektiven Wahn darstelle.42 Adornos literaturhistorische Strategie besteht nun darin, zu zeigen, dass der Bruch, der bei Kafka, Beckett oder Celan so manifest wird, schon nach Flaubert, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, auftritt, ja, bereits in den Anfängen griechischer Epik, in der homerischen Odyssee angelegt ist. Diese geschichtsphilosophische Denkfigur, deren Kenntnis für jegliches Verständnis von Adornos Analysen unabdingbar ist, lässt sich nur schwer in eine reguläre Literaturgeschichte zurückübersetzen, denn sie folgt dem (explizit von Historismus und Philologie abgegrenzten) methodischen Prinzip, »daß von den jüngsten Phänomenen her Licht fallen soll auf alle Kunst«.43 Dabei kehrt sich die Leserichtung um: Was an der Avantgarde sichtbar wird, so lautet die Denkfigur in Kurzform, zeichnet sich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts ab, gilt aber auch bereits für alle frühere Kunst. Von der Avantgarde bezieht Adorno ein bestimmtes Muster des Zusammenspiels von Traditionsbruch und Traditionsbewahrung. Er untersucht jede Konzeption im Hinblick darauf, wie aus der Tradition übernommene Inhalte durch neue formale Elemente reflektiert und dabei in ihrer Bedeutung revidiert werden, aber auch, wie inhaltliche Momente durch Formzwänge hindurchbrechen, schließlich wie formale Elemente zu Inhalten gerinnen. Durch diese Aufmerksamkeit auf die Verschränkungen von Inhalt und Form beschreiben die Analysen ein Pattern der kulturellen Reproduktion, das, in eine Konzeption literarischen Fortschritts eingebunden, sich an seiner Spitze umkehrt und rückwirkend die Problematik von Literatur überhaupt erschließt. Angesichts dieses Prinzips des Rückwärtslesens der Geschichte ist es nicht weiter erstaunlich, dass Adorno in Über epische Naivetät die Denkfigur der Dialektik der Aufklärung, die die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts erklären soll, in einer Analyse der homerischen Odyssee in die Literaturgeschichte einführt. Dass die Befreiung aus dem Naturzwang in die Herrschaft über Natur umschlägt, hat demnach seine Entsprechung im Erzählen: Es versucht der Immergleichheit des Mythos etwas Einmaliges, Erzählenswertes abzugewinnen, das es durch die eigene Form wieder zunichtemacht. Durch die Fixierung auf den Gegenstand der Erzählung ahmt es den Mythos nach,
41 Adorno: GS 11 (1974), S. 43; vgl. Theodor W. Adorno: Balzac-Lektüre. In: ders.: GS 11 (1974), S. 139−157, hier S. 147: »Um durchschaut zu werden, kann die Welt nicht mehr angeschaut werden.« 42 Adorno: GS 10.1 (1977), S. 280. 43 Adorno: GS 7 (1970), S. 533. Adorno über literarische Erkenntnis
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um die Furcht vor dem Gegenstand zu brechen, und wird dadurch mit mythischer Dummheit geschlagen. Adorno stellt hier offensichtlich die Kontinuität zwischen Logik und Poetik heraus,44 indem er dasjenige, was üblicherweise dem reflektierenden Denken vorbehalten ist, dem Erzählen zuschreibt. So sei die »rationale und kommunikative Rede des Erzählers samt ihrer subsumierenden Logik« bereits von einem »gleichsam positivistischen Bestreben« getragen, wenngleich sie zugleich dessen Gegenteil enthalte, den – allerdings vergeblichen – Versuch, das Besondere zu retten. Auch das Erzählen ist also in die Dialektik der Aufklärung verflochten, wenngleich auf eine andere Weise als das reflektierende Denken: Anstatt formalistisch zu werden, rettet es das gegenständliche Moment der Erkenntnis, doch die Gegenständlichkeit führt es an den Abgrund des Wahns (von Stifter bis Kafka). Nach dem Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts ist Wirklichkeit bloß noch »durchs Subjekt hindurch« erreichbar. Das Paradigma einer solchen Objektivität, die erst dann wieder erreichbar ist, wenn sie »vollends durchs Subjekt hindurchgegangen« und vom Ausdruck neu hervorgebracht worden ist,45 ist die Lyrik. Als »Sphäre des Ausdrucks«46, in der das Subjektivste sich objektiviert, zeugt die Lyrik am reinsten von dem »Bruch« zwischen Ich und Welt. Sie wiederholt den Gegensatz in ihrem eigenen Medium, der lyrischen Sprache, indem darin Ausdruck und Mitteilung auseinandertreten. Adorno konstatiert, dass bereits der späte Goethe mit diesem Widerspruch konfrontiert wurde, der dann bei Heine eine »Wunde« klaffen lässt, bis er von der Kulturindustrie und vom Jargon der Eigentlichkeit planvoll ausgebeutet wird. Die daraus resultierende »zweite babylonische Verwirrung«47 kann als das Grundthema von Adornos Lyrikinterpretationen gelten. Sein HeineEssay ist hierfür besonders aufschlussreich, da er die geschichtsphilosophische Figur des Bruchs in zweierlei Hinsicht konkretisiert, nämlich ökonomisch und im Hinblick auf die moderne jüdische Geschichte. In Heines Gedichten erkennt Adorno zunächst, wie sich Ware und Tausch des Lauts bemächtigen, der sie zuvor negiert hatte. Sie würden der »Gewalt einer fertigen, präparierten Sprache« erliegen, sich »fungibel« und »verkäuf44 Anders dagegen Reemtsma 2005 (wie Anm. 4), S. 323, der die Dialektik von Dichtung und Mythos bei Adorno strikt von der Dialektik der Aufklärung ausnimmt, indem er die poetische Rede eindeutig von der diskursiven Rede trennt. 45 Theodor W. Adorno: Im Jeu de Paume gekritzelt. In: ders.: GS 10.1 (1977), S. 321−325, hier S. 323. 46 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: ders.: GS 11 (1974), S. 48−68, hier S. 49. 47 Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: ders.: GS 10.1 (1977), S. 259.
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lich« machen und damit der »Verdinglichung« verfallen.48 Zugleich enthielten sie bereits den Versuch (der dann bei Baudelaire durchgeführt sei), die kapitalistischen Bedingungen in die poetische Form zu überführen, sie also zum Gestaltungsprinzip zu erheben. Heine, so heißt es, »hat gleichsam eine dichterische Technik der Reproduktion, die dem industriellen Zeitalter entsprach, auf die überkommenen romantischen Archetypen angewandt« und auf diese Weise »den bislang latenten Warencharakter [der Sprache] hervorgekehrt«.49 Adorno argumentiert, gerade hierauf würden sich die Scham und die Wut der Nachgeborenen beziehen – und sich dabei sadistisch gegen das Scheitern der jüdischen Emanzipation richten. Der Wechsel von der Kapitalismuskritik zur Kritik der jüdischen Emanzipation vollzieht sich also über ein rezeptionsgeschichtliches Argument, dem zufolge die jüdische Thematik von den Feinden Heines als seine »schwächste Stelle« ausgemacht wurde, während ihr Hass eigentlich dem Warencharakter seiner Gedichte gilt, der wiederum auf die bislang ausgebliebene »Befreiung der Menschen« verweist.50 Doch die Transposition der jüdischen in eine allgemeine Frage misslingt. Denn die Richtung dieser (recht trivialen) Argumentation wird in der Analyse von Heines Stellung zur Sprache genau umgekehrt: Sie führt vom Warencharakter der Sprache zur jüdischen Fremdheit gegenüber der deutschen Sprache – eine Fremdheit, die Heine davon abgehalten habe, die Spannung zwischen Ausdruck und Mitteilung auszutragen. Denn seine von der kommunikativen Sprache erborgte Geläufigkeit und Selbstverständlichkeit ist das Gegenteil heimatlicher Geborgenheit in der Sprache. Nur der verfügt über die Sprache wie über ein Instrument, der in Wahrheit nicht in ihr ist. […] Dem Subjekt […], das die Sprache wie ein vergriffenes Ding gebraucht, ist sie selber fremd. Heines Mutter, die er liebte, war des Deutschen nicht ganz mächtig. Seine Widerstandslosigkeit gegenüber dem kurrenten Wort ist der nachahmende Übereifer des Ausgeschlossenen. Die assimilatorische Sprache ist die von mißlungener Identifikation.51
Auch wenn diese Befunde nicht wiederum in eine Analyse von Heines Gedichten umgesetzt werden, ist die jüdische Thematik historisch wie poetologisch viel konkreter als die Kategorien der politischen Ökonomie, die über einen Befund zur allgemeinen Situation zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich hinausgelangen. Doch den hier sichtbaren Konflikt zwischen dem 48 49 50 51
Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine. In: ders.: GS 11 (1974), S. 95−100, hier S. 97. Ebd. Ebd. Ebd., S. 98. Adorno über literarische Erkenntnis
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ökonomiekritischen und dem jüdischen Paradigma versucht Adorno wiederum in einer universalhistorischen Perspektive aufzulösen. Das Argument lautet in Kurzform: Alle Menschen sind heimatlos geworden und beschädigt, insofern steht Heines Lyrik für die Menschheit; die Heimatlosigkeit der Welt wird erst durch die Befreiung der Menschheit überwunden, und die Wunde Heine schließt sich erst durch die Versöhnung.52 Die Sprache ist der Gegenstand, an dem Adorno sich über seine eigene Stellung zum deutsch-jüdischen Komplex klar wurde. Er hat sich nicht bloß zu keiner Zeit als »deutscher Jude« verstanden – jenes Sinnbild einer geglückten Identifikation von Deutschtum und Judentum war nach dem Scheitern der jüdischen Emanzipation nicht mehr anschlussfähig –, ebenso wenig verstand er sich je auf eine andere Weise positiv als Deutscher oder Jude. Seine Reflexionen zu diesem Komplex entfalten vielmehr die Denkfigur der doppelten Negation im Sinne einer doppelten Nichtpositionierung53: weder Jude noch Deutscher. Doch so konsequent Adorno diese Nichtpositionierung durchhielt, so sehr hat die Frage ihre Spuren an anderen Stellen hinterlassen: insbesondere an seinen Reflexionen zur Sprache. So verschiebt er immer wieder jüdische Erfahrungen auf die Sprache, um sie nicht als eigene Erfahrungen zu artikulieren. Damit transponiert er sie aus dem eigensten, partikularen Bereich in eine allgemeine Frage. Auch die Transposition der Frage nach der spezifischen Stellung zur deutschen Sprache in die Frage nach dem Warencharakter von Sprache überhaupt weist in diese Richtung. Man ist geneigt, in dieser Verschiebung – in Analogie zur Formel von der »Wunde Heine« – die Wunde Adorno zu erkennen. Adorno hat seine Doppelstellung als Nichtdeutscher und Nichtjude vor allem an der Stellung von Fremdwörtern im Deutschen diskutiert. Sein eigener Übereifer im Sprachgebrauch, der sich mit der Beschreibung Heines eng berührt, dürfte den Schlüssel liefern. So berichtet er über seinen Schulfreund Erich und sich: »[Wir] meinten, in unseren aparten Fremdwörtern den unabkömmlichen Patrioten Pfeile entgegenzuschleudern aus unserem geheimen Königreich, das weder vom Westerwald erreicht werden konnte, noch auf andere Art, wie jene es zu nennen liebten, eingedeutscht.«54 Fremdwörter spiegeln das Scheitern der jüdischen Emanzipation im Medium der deutschen Sprache. Adorno zufolge stechen sie »unassimiliert heraus«, anstatt
52 Ebd., S. 100. 53 Zum Begriff der doppelten Negation vgl. den Abschnitt Kritik der positiven Negation in: Adorno: GS 6 (1973), S. 161–163. 54 Theodor W. Adorno: Wörter aus der Fremde. In: ders.: GS 11 (1974), S. 216−230, hier S. 218; vgl. ders.: Über den Gebrauch von Fremdwörtern. In: ders.: GS 11 (1974), S. 640–646.
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von der deutschen Sprache auf produktive Weise aufgenommen zu werden; damit schaffen sie aber »eine Art Exogamie der Sprache, die aus dem Umkreis des Immergleichen, dem Bann dessen, was man ohnehin ist und kennt, heraus möchte«.55 In Minima Moralia heißt es schließlich knapp: »Fremdwörter sind die Juden der Sprache.«56 Dennoch hat Adorno seine Rückkehr nach Deutschland durch seine besondere Beziehung zur deutschen Sprache erklärt, denn Darstellung als die der Intention angemessene Form des Ausdrucks sei allein in der eigenen Sprache möglich. So wiederholt er unermüdlich, »daß wir die entscheidenden Dinge nur in der eigenen Sprache sagen können«.57 Die besondere Beziehung zur deutschen Sprache verweist zugleich auf die enge Verwandtschaft von Adornos Philosophie zur Literatur, die wesentlich in ihrem Darstellungscharakter begründet ist. Philosophie erkennt in Literatur zunächst, dass sie selbst sprachlich verfasst ist. Sie muss dabei aber zugleich erkennen, was sie nicht ist. In Der Essay als Form, dem Eingangstext der Noten zur Literatur, ist dieses Nichtseinkönnen nachdrücklich bezeichnet. Adorno warnt vor einem zu ungebrochen positiven Bezug der Philosophie auf die Literatur, der sich von einer Vermischung der Formen und Diskurse Zugang zu einer höheren Erkenntnis erhofft: Wo Philosophie durch Anleihe bei der Dichtung das vergegenständlichende Denken und seine Geschichte […] meint abschaffen zu können und gar hofft, es spreche in einer aus Parmenides und Jungnickel montierten Poesie Sein selber, nähert sie eben damit sich dem ausgelaugten Kulturgeschwätz.58
Unverkennbar gegen Heidegger gerichtet, macht die Stelle die »Verpflichtung des begrifflichen Denkens«59 geltend und bezeichnet die Gefahr einer unbekümmerten Mischung der Diskurse: Durch die Anleihe bei der Literatur nähere die philosophische Sprache »dem Kunstgewerbe sich an«.60 Philosophie reproduziere damit eben jene Entwicklung, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei Heine vollziehe, anstatt ihr durch das Gefüge der Begriffe zu widerstehen; die Vermischung mit Literatur bringe die Philosophie also nicht einer höheren Erkenntnis näher, sondern gliedere sie in die Kulturindustrie ein. So lässt sich der Eingangsessay der Noten zur Literatur 55 Adorno: GS 11 (1974), S. 218. 56 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: ders.: GS 4 (1980), S. 125. 57 Adorno 2008 (wie Anm. 2), S. 461, vgl. ebd., S. 484 u. 500. 58 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: ders.: GS 11 (1974), S. 9−33, hier S. 13. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 14. Adorno über literarische Erkenntnis
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als ein Warnschild verstehen, das vor den literarischen Analysen aufgerichtet ist, um vor einer Literarisierung der philosophischen Erkenntnis zu warnen. Wenn Adorno in der Antithese geltend macht, der Gegensatz von Kunst und Wissenschaft sei »auch nicht zu hypostasieren«, so bezieht sich dies allein darauf, dass auch in der Dichtung »notwendige und zwingende Erkenntnisse« zu gewinnen seien.61 Entscheidend ist, wie solche Erkenntnisse dem philosophischen Denken zugänglich werden können, ohne dass dieses den Fehler einer zu unmittelbaren Übertragung literarischer Verfahrensweisen in die eigene Form unternimmt.
IV. Hermeneutik der Form Adornos Reflexionen zur Hermeneutik der Kunst entfalten das Paradox, dass Kunst der philosophischen Deutung bedarf, während sie sich doch bereits selbst deutet und insofern der Deutung durch die Philosophie widerstrebt. Dies ist eine der Paradoxien bei Adorno, die nicht als unauflösliche Aporie oder als Konkurrenz zweier unversöhnlicher Paradigmen stehenbleiben, sondern durch einen Übergang verschwinden. Denn Kunst ist Deutung allein durch ihre eigene Form. Adorno insistiert darauf, dass diese Deutung »urteilslos«62 bleibt und ihrerseits der philosophischen Deutung bedarf, während die philosophische Deutung die urteilslose Selbstdeutung der Kunst aufgreift und urteilend artikuliert, wobei sie zugleich die Selbstherrlichkeit des Urteilens ablegt und sich der eigenen Unzulänglichkeit bewusst wird. Wie entsteht also literarisches Wissen oder Wissen aus Literatur? Nicht nur durch Einsicht in literarische Formen, sondern viel mehr noch durch die Form, die Literatur ist; nicht unabhängig, aber doch jeweils zu unterscheiden von ihrem Inhalt. Adornos anspruchsvolle Theorie der Form enthält demnach einen wichtigen Schlüssel zum Thema der literarischen Erkenntnis. Ihr Kern besteht darin, zu zeigen, wie sich in der Form inhaltliche Aspekte sedimentiert haben. Adornos Konzeption von Literatur als Form ist in einer materialen Analyse in der Ästhetischen Theorie dargestellt, und zwar dort, wo er das Moment der Errettung des Inhalts durch die Form bezeichnet, die damit zugleich selbst einen inhaltlichen Aspekt gewinnt. In dem Abschnitt Nichts unverwandelt kommentiert er Mörikes Mäusefallen-Sprüchlein:
61 Ebd., S. 14 f. 62 Adorno: GS 7 (1970), S. 363.
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Das Kind geht dreimal um die Falle und spricht: Kleine Gäste, kleines Haus. Liebe Mäusin, oder Maus, Stell dich nur kecklich ein Heut nacht bei Mondenschein! Mach aber die Tür fein hinter dir zu, Hörst du? Dabei hüte dein Schwänzchen! Nach Tische singen wir Nach Tische springen wir Und machen ein Tänzchen: Witt witt! Meine alte Katze tanzt wahrscheinlich mit.63
Adorno unterscheidet darin zwischen dem »diskursiven Inhalt« (der sadistischen Phantasie eines Tanzes von Kind, Katze und Maus) und dem eigentlichen künstlerischen Gehalt, der zwanglos in den »gesellschaftlichen« und geschichtlichen Gehalt übergeht. Es ist offensichtlich, dass dieser Gehalt hier in der literarischen Form als solcher begründet ist. Adorno zufolge – und dies ist entscheidend – ist der Hohn der letzten Zeile »nicht länger das letzte Wort, das er behält«; denn durch den »Gestus, der darauf deutet«, dass es so ist, wie es ist, »verklagt« das Gedicht, »wie es ist«. Der Gehalt der Werke liegt demnach genau darin, wie die Form auf den Inhalt deutet, ihn reflektiert und revidiert: »Die Form, welche die Verse zum Nachhall eines mythischen Spruchs fügt, hebt deren Gesinnung auf.«64 Es ist die Form, die nichts unverwandelt lässt von dem, was inhaltlich in das Kunstwerk eingeht. Darin ist sie der Deutung oder Interpretation verwandt, genauer: Sie wird selbst als Deutung erkennbar. Und indem Form den Inhalt deutet, finden jene kleinen Versetzungen der Elemente statt, denen Adorno zeitlebens nachspürt: »Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstellation treten, um ihre rechte Stelle zu finden. Weniger als daß sie imitierten, machen die Kunstwerke der Realität diese Versetzung vor.«65 Vieles deutet darauf hin, dass in dieser Formgeste der spezifische »Wahrheitsgehalt« der Werke zu suchen ist – und dass dessen Übersetzung die Notwendigkeit der philosophischen Interpretation begründet. Adornos Aufzeichnungen zu Kafka (1953) umkreisen immer wieder die Stelle, an der das 63 Ebd., S. 187 f. 64 Ebd., S. 186–188. 65 Ebd., S. 199. Adorno über literarische Erkenntnis
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inhaltliche Wort von der Geste der Form aufgegriffen und verschoben oder revidiert wird. Die Eindeutigkeit der Geste durchbricht die unendliche Vieldeutigkeit von Kafkas Prosa: Oft setzen Gesten Kontrapunkte zu den Worten: das Vorsprachliche, den Intentionen Entzogene fährt der Vieldeutigkeit in die Parade, die wie eine Krankheit alles Bedeuten bei Kafka angefressen hat. […] Solche Gesten sind die Spuren der Erfahrungen, die vom Bedeuten zugedeckt werden.66
Die Geste ist also das Moment, durch das die erfahrene Wirklichkeit in die Dichtung einbricht, nachdem sie von den Bedeutungen »zugedeckt« worden ist. Gestisches Denken soll die Sphäre der Bedeutsamkeit und des Sinns (Adorno zufolge die Sphäre des Immergleichen, in der die Welt in Ordnung scheint) durchbrechen und auf Spuren leiblicher Erfahrungen stoßen, die unter dem Zwang gesellschaftlicher Anpassung verdrängt wurden. Diese Idee eines »Hinzutretenden«67 durch leibliche Affekte ist zuerst in einem Brief an Walter Benjamin anlässlich von dessen Kafka-Interpretation aufgekommen. Hier heißt es: »In den Kafkaschen Gesten entbindet sich die Kreatur, der die Worte von den Dingen genommen worden sind.«68 Gerade an dem Motiv der Geste lässt sich erkennen, inwiefern Adorno Benjamins KafkaAufsatz voraussetzt und revidiert. Wie stets in seinen Weiterentwicklungen Benjamin’scher Motive schränkt Adorno auch hier die semantische Offenheit ein, die das Motiv bei Benjamin besitzt,69 indem er es an einen starken Wirklichkeitsbegriff zurückbindet (in der Geste stellt sich Wirklichkeit dar). Indem Adorno gegenüber Benjamin vehement die Eindeutigkeit der Geste geltend macht, gibt er bereits eine politische Differenz zu erkennen, die seine Arbeit am Kanon moderner Literatur weiterhin bestimmen wird. Doch gerade im Vernehmen der Geste, durch die sich in Literatur etwas ausdrückt, das sich nicht umstandslos sprachlich artikulieren lässt, erkennt Adorno auch die Grenzen der Deutbarkeit. Wenn überhaupt, so kann man hier von einer Dialektik der Interpretation sprechen: Gerade indem Adorno gegen66 Adorno: GS 10.1 (1977), S. 258 f. 67 So der spätere einschlägige Begriff in der Negativen Dialektik; Adorno: GS 6 (1973), S. 226 (»ein Ruck erfolgt«); vgl. Eckart Goebel: Das Hinzutretende. Zur Negativen Dialektik. In: Frankfurter Adorno Blätter. Bd. IV. München 1995, S. 109–116. 68 Theodor W. Adorno: Brief an Walter Benjamin, 17.12.1934. In: ders.: Briefe und Briefwechsel. Bd. 1.: Theodor W. Adorno; Walter Benjamin. Briefwechsel 1928–1940. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1994, S. 89–98, hier S. 94. – Zu Benjamins Kafka-Essay siehe auch den Beitrag von Andreas B. Kilcher in diesem Band, S. 143–157. 69 Vgl. Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.2. Frankfurt/M. 1977, S. 409–438, insbesondere S. 427 und S. 435 f.
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über Benjamin die Vieldeutigkeit der Interpretation angreift, gelangt er zur Einsicht in die konstitutive Unbestimmtheit des literarischen Gegenstands. Die Grenze der Deutbarkeit, die Adorno bei Kafka erkennt, bestärkt ihn zugleich in der Überzeugung, dass Kafkas Werk der Deutung bedarf. Doch diese Deutung ist nicht mehr jene, in der sich durch eine bestimmte konstellative Anordnung der Elemente ein kohärentes Bild zuverlässig einstellt. Hier lässt sich tatsächlich von einer Entwicklung innerhalb des weitgehend monolithischen Werks von Theodor W. Adorno sprechen: Die Operationalisierbarkeit der vorgefundenen Wirklichkeit im konstellativen Bild zergeht an der hermetischen Literatur. Die Studien zu Kafka, Beckett70 oder Hans G. Helms71 haben diese Revision vorbereitet, die sich wiederum rückwirkend auch auf die Interpretation älterer Literatur und auf die von Wirklichkeit überhaupt auswirkt.
V. Literarische Erkenntnis nach Auschwitz Vielleicht die wichtigste Forderung, die Adornos Noten zur Literatur an das Denken stellen, ist, sich dem »Zwang des Gebildes«72 zu unterwerfen und die Interpretation durch »Versenkung« in die Werke jener Sprache anzunähern, die diese Werke von sich aus sprechen. An einer eher obskuren Stelle über Georg Simmel wird das entscheidende Moment dieses Programms entfaltet: »Er hütet sich, durch die Versenkung ins Inkommensurable des Objekts zu entdecken, was dem Menschen an ihm selber verborgen wäre, und was er vom Objekt nicht ohnehin schon weiß.«73 Es soll hier nicht beurteilt werden, ob Simmel tatsächlich gar nicht oder doch zu oberflächlich interpretiert. Entscheidend ist die Implikation der These, es gelinge Simmel, indem er an den Objekten bloß das vorfinde, was er bereits mitgebracht habe, auch nicht, etwas darin Verborgenes zu erfahren. Denn umgekehrt heißt das: Durch Interpretation wird dem Subjekt etwas sichtbar, was ihm an ihm selber verborgen ist. Der Satz ist grammatisch unbestimmt: Die Verborgenheit kann sich auf das Subjekt wie das Objekt beziehen. Man muss Adornos Auffassung von der geschichtsphilosophischen Dignität grammatischer und orthographischer Details nicht vorbehaltlos zustimmen, um in der grammatischen 70 Theodor W. Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen. In: ders.: GS 11 (1974), S. 281–321. 71 Theodor W. Adorno: Voraussetzungen. Aus Anlaß einer Lesung von Hans G. Helms. In: ders.: GS 11 (1974), S. 431–446. 72 Theodor W. Adorno: Parataxis. In: ders.: GS 11 (1974), S. 447−491, hier S. 448. 73 Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. In: ders.: GS 11 (1974), S. 556−566, hier S. 561. Adorno über literarische Erkenntnis
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Unbestimmtheit keine Unachtsamkeit des Autors, sondern einen Reflex der Lehre von der wechselseitigen Bestimmung von Subjekt und Objekt auf der textuellen Ebene zu finden. Doch Adorno verweist zugleich darauf, dass jenes interpretierende Wissen, das sich in der komplexen Relation zwischen dem Erkennenden und dem Werk abspielt, etwas konstitutiv Verborgenes an dieser Relation einschließt. Damit kann die Interpretation zu dem Modus werden, in dem nach 1945 das Undarstellbare darstellbar wird. Zu Beginn des Essays Zur Schlußszene des Faust gibt Adorno das Programm eines kommentierenden Philosophierens: Für den Alexandrinismus, die auslegende Versenkung in überlieferte Schriften, spricht manches in der gegenwärtigen Lage. Scham sträubt sich dagegen, metaphysische Intentionen unmittelbar auszudrücken; wagte man es, so wäre man dem jubelnden Mißverständnis preisgegeben. Auch objektiv ist heute wohl alles verwehrt, was irgend dem Daseienden Sinn zuschriebe, und noch dessen Verleugnung, der offizielle Nihilismus, verkam zur Positivität der Aussage, einem Stück Schein, das womöglich die Verzweiflung in der Welt als deren Wesensgehalt rechtfertigt, Auschwitz als Grenzsituation. Darum sucht der Gedanke Schutz bei Texten.74
Die Form der Interpretation und des Kommentars, so die zentrale Auskunft, bietet dem Denken »Schutz«, und zwar in subjektiver wie objektiver Hinsicht. Subjektiv schützt sie vor einem zu unmittelbaren Ausdruck metaphysischer Intentionen. Durch den Hinweis auf die Erwartung »jubelnden Mißverständnis[ses]« wird nahegelegt, dass es sich zunächst um Schutz vor den Kollegen handelt. Adorno präsentiert – um eine Formel von Leo Strauss zu benutzen – das Kommentieren als eine vergessene Art des Schreibens (allerdings nicht in einer Weise, auf die sich Strauss’ Unterscheidung zwischen exoterischem und esoterischem Schreiben beziehen lässt).75 Die Frage, warum Strauss seinen Begriff exoterischen Schreibens inmitten einer liberalen Demokratie entfaltet, in der der Philosoph weniger denn je der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt ist, wird implizit durch Adorno beantwortet: Es handelt sich nicht mehr um äußere Zensur (wenngleich Adorno das editing mitunter in die Nähe von Zensur und politischer Verfolgung zu rücken scheint76), sondern um verinnerlichte Repression gegen das Denken; 74 Theodor W. Adorno: Zur Schlußszene des Faust. In: ders.: GS 11 (1974), S. 129−138, hier S. 129. 75 Leo Strauss: Persecution and the Art of Writing, Chicago 1952; ders.: On a Forgotten Kind of Writing. In: ders.: What is Political Philosophy? and other Studies. Chicago 1959, S. 221–232. 76 Vgl. Horkheimer/Adorno 1984 (wie Anm. 30), S. 13; Theodor W. Adorno: Auf die Frage: Was ist Deutsch. In: ders.: GS 20.2 (1977), S. 691–701, hier S. 698.
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Philipp von Wussow
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nicht um politische Verfolgung, sondern um Kämpfe im Bereich von Wissenschaft und Kultur. Ebenso wie das Diktieren dazu verhelfe, dem »Druck der Konformität« zu widerstehen77, werde das verinnerlichte Verbot, sich durch noch ungedeckte philosophische Absichten zu exponieren, durch die Form des Kommentars umgangen. Hier müssen die Thesen nicht direkt artikuliert werden, sondern können sich im Schutz des fremden Textes entwickeln. Indem sie temporär der Selbstkontrolle entzogen sind, werden sie nicht voreilig mit Konsistenzforderungen belastet – und erst dadurch kann die Interpretation etwas darstellen, das dem Denken ansonsten selber verborgen bliebe. Den »Schutz« anzunehmen, den die Texte gewähren, ist Adorno zufolge aber »auch objektiv« geboten. Diesen Anspruch versucht er an Ort und Stelle durch das – im weitesten Sinn ideologiekritische – Argument einzulösen, dass der unmittelbare Ausdruck metaphysischer Intentionen dem Dasein einen positiven Sinn zuschreibe; dies gelte übrigens gleichermaßen für die Behauptung der Sinnlosigkeit des Daseins. Vor diesem doppelten ideologiekritischen Einwand gegen die Annahme der Sinnhaftigkeit des Daseins und gegen den Nihilismus als deren Verleugnung sieht Adorno sich selbst geschützt durch die Einsicht in die untilgbare Differenz zwischen Interpretation und Wahrheit (man kann sagen: zwischen literarischer und metaphysischer oder theologischer Erkenntnis), deren Negativität sich bis zur Behauptung der »Unmöglichkeit« des gesamten Verfahrens steigert. Das Resultat ist eine Theorie metaphysischer Erkenntnis im Konjunktiv, ihre Aussageform »ein O wär’ es doch, gleich weit von der Versicherung, daß es so sei, wie von der, es sei nicht.«78 Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem geht über in eine Unbestimmtheit im Verhältnis von Sein und Nichtsein der metaphysischen Erkenntnis. Diese Unbestimmtheit ist nicht das letzte Wort Adornos zur Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis aus Literatur. In dem letzten der Kleinen Proust-Kommentare findet sich eine Variation zu dem Gedankengang, die jenen »objektiven« Einwand gegen die unmittelbare Rede von den letzten Dingen präzisiert: »Das ohnmächtige Wort, das sie selber nennt, schwächt sie selbst; Naivetät sowohl wie trotzige Unbekümmertheit im Ausdruck metaphysischer Ideen verrät deren Mangel an Verbürgtheit.«79 Zweierlei wird hier geltend gemacht: dass die letzten Dinge durch ihre unmittelbare Nennung geschwächt werden; und dass die Erkenntnis von diesen Dingen auf eine zu-
77 Adorno: GS 4 (1980), S. 30. 78 Adorno: GS 11 (1974), S. 129. 79 Theodor W. Adorno: Kleine Proust-Kommentare. In: ders.: GS 11 (1974), S. 203−215, hier S. 213. Adorno über literarische Erkenntnis
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nächst nicht näher bestimmte, aber an dem unbekümmerten Ausdruck negativ zu erkennende Weise verbürgt sein muss. Der Unterschied zwischen einer unbekümmerten und einer verbürgten Erkenntnis- und Darstellungsweise liegt in der Reflexion der Form der Kunst, die solche Erkenntnis ermöglicht. Bei Proust sieht Adorno die Rede von den letzten Dingen durch die Form der Kunst auf eine Weise verbürgt, dass an ihrer Dignität nicht zu zweifeln sei. Dies wird aus seiner nachfolgenden Interpretation eines einzigen Satzes aus Prousts Die Gefangene ersichtlich: »Der Gedanke, Bergotte sei nicht für alle Zeiten tot, ist demnach nicht völlig unglaubhaft.«80 Er berührt die Vorstellung von einer Abschaffung des Todes, die Gunzelin Schmid Noerr als einen »neuralgischen Punkt« der Kritischen Theorie erkannt hat.81 Im vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist jedoch die hieran anschließende proustische Reflexion, »daß die moralische Kraft des Dichters […] einer anderen Ordnung als der natürlichen angehöre und darum verheiße, diese sei nicht die letzte. Vergleichbar wäre diese Erfahrung der an großen Kunstwerken: daß ihr Gehalt unmöglich nicht wahr sein könne; daß ihr Gelingen und ihre Authentizität selber auf die Realität dessen verwiesen, wofür sie einstehen.«82 Der Verweis auf die Kunst ist nur scheinbar ein Vergleich, vielmehr handelt es sich um eine Explikation, denn es sind die großen Kunstwerke, die vormachen, wie der bestehenden Ordnung eine andere Ordnung entgegengesetzt wird. Als Formen treten sie in eine »Gegenposition« zur gesellschaftlichen Form und kritisieren diese damit »durch ihr bloßes Dasein«.83 Es ist eine solche Kritik, die eine größtmögliche Radikalität in der Artikulation mit einem grundsätzlichen Vorbehalt verbindet. Denn auch wenn die natürliche Ordnung nicht die letzte ist, denkt Adorno stets mit, dass jene andere Ordnung nicht die wahre ist. Dies wird nur scheinbar vom zweiten Satz wieder zurückgenommen, der ja auf die Realität jener anderen Ordnung zumindest verweist – allerdings im Modus der doppelten Negation (»unmöglich … nicht«). Der Sachverhalt wird nur verständlich, wenn man die Pointe von Adornos interpretatorischen Wendungen begreift, auch wo sie nicht expliziert ist. Sie könnte lauten: dass es möglich ist, 80 Ebd., S. 213 f. 81 Vgl. Gunzelin Schmid Noerr: Abschaffung des Todes? Ein neuralgischer Punkt der Kritischen Theorie. In: ders.: Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses. Darmstadt 1990, S. 230–275; zur Unausdenkbarkeit des Todes vgl. Adorno: GS 6 (1973), S. 364. 82 Adorno: GS 11 (1974), S. 214. 83 Adorno: GS 7 (1970), S. 335.
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heißt noch nicht, dass es ist. Es ist ein politischer Vorbehalt, der in Adornos Theorie und Praxis literarischer Erkenntnis eingebaut ist. In ihm manifestiert sich Adornos Bruch mit Walter Benjamins Politisierung der Kunst, vollzogen durch eine strikte Trennung der Sphären von Ethik und Politik.84 Die moralische Kraft des Dichters ist deshalb derjenigen des »Strategen im Literaturkampf« überlegen, weil er auf die Realität dessen, was er beschreibt, verweist, ohne diese Realität als bereits gegeben oder als unmittelbar erreichbar zu behaupten. Diese verweisende Geste ist das Muster eines politischen Verhaltens, das im Kern auf eine Entpolitisierung zielt, indem es den eigenen Anspruch auf jedwede revolutionäre Praxis zurücknimmt. Zugespitzt formuliert: Inmitten einer demokratischen Ordnung der Gesellschaft an der Idee einer anderen Ordnung festzuhalten, ist allein durch die Werke möglich, denn nur sie vermitteln Erkenntnisse von einer anderen Ordnung, die derart beschaffen sind, dass die Erfahrung ihrer Möglichkeit dem Bewusstsein nicht wieder verstellt werden kann, die aber zugleich erlauben, als Mitglied der demokratischen Ordnung zu leben. Das Wissen, dass das, was möglich ist, nicht wirklich ist, bildet die genaueste Entsprechung zu der Einsicht, dass die radikale Aktion zu einer Fortsetzung dessen führen würde, was sie abschaffen will.85 Adornos Utopie der Versöhnung und Überwindung menschlicher Herrschaft rechtfertigt deshalb keine politische Position, die über die demokratische Ordnung hinausführt; sie zeigt – wie Michael Hirsch treffend sagt – allein »die Richtung einer ›progressiven‹ politischen Veränderung an. Diese Veränderung aber muss strikt mit den bestehenden konstitutionellen Formen der liberalen Demokratie vereinbar sein. Das Ziel einer solchen ›reformistischen‹ Veränderung konvergiert mit der anarcho-kommunistischen Utopie. Sie zielt auf die größtmögliche Reduktion politischer Herrschaft, mit den gegebenen und legalen Mitteln der demokratischen politischen Macht.«86 Diese politische, genauer gesagt: antipolitische Unterscheidung ist bei Adorno eng verbunden, wenn nicht gar angelegt in der unscheinbaren Abgrenzung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Werk und Gesellschaft. Adorno führt diese Trennung wiederum als proustischen Vorbehalt gegen
84 Vgl. Michael Hirsch: Adorno nach Benjamin. Politik des Geistes, in: Zeitschrift für kritische Theorie 18/19 (2004), S. 239–263. 85 »Der Radikalismus, der sich alles von einer Veränderung des Ganzen erwartet, ist abstrakt: auch in einem veränderten Ganzen kehrt die Problematik des Einzelnen hartnäckig wieder.« Theodor W. Adorno: Kultur und Verwaltung. In: ders.: GS 8 (1972), S. 122−146, hier S. 141. 86 Hirsch 2004 (wie Anm. 84), S. 253. Adorno über literarische Erkenntnis
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jegliche Positivität ein: »Die Idee von Unsterblichkeit wird nur geduldet an dem, was selber […] vergänglich ist, den Werken«.87 Literatur vermittelt die Erfahrung der Möglichkeit einer anderen Ordnung, allerdings nur in der Formgeste, jener spezifischen Stelle, in der Adorno den Wahrheitsgehalt der Kunst verortet. Elementare Gesetze der Natur wie der Tod könnten außer Kraft gesetzt werden: Die Kunst mache vor, dass es möglich ist, aber das Denken erkenne zugleich, dass es nur in der Kunst möglich ist. So ist denn auch die letzte Erkenntnis, dass »[j]ede Interpretation der Stelle […] hinter ihr zurück[bleibt]«.88 Adorno hat im fünften Kapitel der Meditationen zur Metaphysik an seine Interpretation der Stelle angeknüpft und in der von Proust ausgedrückten »Hoffnung auf die Auferstehung« ein Argument gegen die Lebensphilosophie gefunden, deren Idee von der Fülle des Lebens sich angesichts des Todes als eitel erweise; sie könne nicht getrennt werden von Gier, Herrschaft und Gewalt. Auch hier findet sich eine Denkfigur der Entpolitisierung; in ihrem Zentrum steht wiederum die Reflexion auf die eigene Schuld, die sich wohl nicht zufällig an der Schuld des vom Holocaust »Verschonten«89 entzündet: Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits anderem Leben den Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Anzahl Ermordeter durch eine minimale Geretteter ergänzt […], ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gegenwärtig sein kann. Das, nichts anderes zwingt zur Philosophie. Diese erfährt dabei den Schock, daß, je tiefer, kräftiger sie eindringt, desto mehr der Argwohn sich anmeldet, sie entferne sich von dem, wie es ist; die oberflächlichsten und trivialsten Anschauungen vermöchten, wäre das Wesen einmal entschleiert, recht zu behalten gegen jene, welche auf das Wesen zielen.90
An dieser Stelle verschiebt Adorno den Schock von den Überlebenden auf die Philosophie. Noch die extremsten Erfahrungen scheinen ihm stets vor allem etwas über die Philosophie zu verraten, wenngleich nur negativ. Hier meldet sich mit dem Schock die Furcht an, jene trivialen Anschauungen der Wirklichkeit könnten dem philosophischen Denken überlegen sein. Mit jeder Denkbewegung, die es in die Wirklichkeit unternimmt, erfährt es, dass die Wirklichkeit schon da ist und sich »in keinem Augenblick ganz« erfassen lässt. Mehr noch, es zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass, je tiefer es »eindringt«, es sich desto mehr von dem entfernt, »wie es ist«. Die unerwar87 88 89 90
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Adorno: GS 11 (1974), S. 214. Ebd. Adorno: GS 6 (1973), S. 356. Ebd., S. 357.
Philipp von Wussow
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tete Wendung dieser Stelle ist, dass genau dieser Umstand »zur Philosophie zwingt«, und zwar Adorno zufolge zu einem solchen philosophischen Denken, das gegen sich selbst denkt, um zu einem »andere[n] Begriff von Wahrheit« zu gelangen.91 Die Präsenz der Schuld des Lebens im Denken ist – als Erfahrung und Erkenntnis – vielleicht die Quintessenz dessen, was sich für Adorno durch Auschwitz verändert hat. In der Reflexion dieser Präsenz erkennt das Denken einen blinden Fleck an sich selbst, eine Unbestimmbarkeit, die sich nicht weiter auflösen lässt. Adorno zufolge ist es jedoch möglich, diese Unbestimmtheit zu bestimmen, und zwar durch den Umweg über die Werke, die ebenfalls durch Arbeit am Unbestimmbaren im Medium der Form gekennzeichnet sind. Man kann sagen, Literatur lehrt solche Unbestimmbarkeit. So schreibt Adorno über Paul Valéry, einen seiner Hauptzeugen für die Erkenntniskraft der ästhetischen Form: »Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist« […], lautet der schönste Satz der Windstriche. Das Unbestimmbare ist das Unnachahmliche, und die ästhetische Mimesis wird zu einer des Absoluten, indem sie im Bedingten solches Unnachahmliche nachahmt.92
Es ist eine wahrlich paradoxe und fragile Situation, in der das Bedingte mimetisch am Absoluten teilhat, indem es nachahmt, was sich nicht nachahmen lässt. Sie wird vollends prekär für den Philosophen, der diese Geste interpretiert und dabei erkennt, dass die eigene Erkenntniskraft nicht ausreicht, um ihren vollen Gehalt zu explizieren. Doch in ihrer radikalen Konsequenz drückt sich die Schwere der Aufgabe aus, die Adorno dem philosophischen Denken mit der Figur der Selbstreflexion gestellt hat. Das Denken der Unbestimmbarkeit hat die paradoxe Funktion, die Grenzen zwischen Philosophie und Literatur zu bestimmen, wobei eine eindeutige und scharfe Abgrenzung jedoch misslingt. Hier lassen sich die beiden Lesarten von Adornos Theorie literarischer Erkenntnis zusammenführen. Tatsächlich erkennt Philosophie in Literatur sich selbst, allerdings nicht im Modus der Identifikation und der Wiederholung, sondern nur negativ und im Sinne der Reflexion der eigenen Form – eine Form, mit der sie die Art von Erkenntnis, die ihr vorschwebt, immer wieder verhindert.
91 Ebd. 92 Theodor W. Adorno: Valérys Abweichungen. In: ders.: GS 11 (1974), S. 158−202, hier S. 200. Adorno über literarische Erkenntnis
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RE SP ONDENZ
Detlev Claussen
Fußnoten zur Literatur Zum Beitrag von Philipp von Wussow1
Denken ist unwissenschaftlich. Theodor W. Adorno, 1945
Es ist merkwürdig: Wenn man wissenschaftliche Texte über Adorno von Autoren liest, die nicht der Kritischen Theorie verpflichtet sind, wird man das Gefühl nicht los, es werde dem Werk Gewalt angetan. Das hängt nicht von der Qualität des Autors ab, an der im Fall Philipp von Wussows – an seiner außerordentlichen Belesenheit, an seiner Vertrautheit mit dem Werk Adornos und an seiner einfühlsamen Intelligenz – kein Zweifel besteht. Es liegt an der Sache selbst. Adornos gedankliche Gebilde sind zerbrechlich, fragil – gerecht werden kann ihnen nur immanente Kritik. Eine von außen angelegte Konstruktion bringt sie zum Einsturz. Aber sogar noch im Zerbrechen geben sie wesentliche Einsichten frei, wie auch der Essay Philipp von Wussows zeigt. Liest man den Text von Wussows von seinem Ende her, kommt das Wesentliche zur Sprache: Adornos Reflexion von Literatur und seine Selbstreflexion des Denkens werden vom Bewusstsein der »Schuld des Lebens«2 erzwungen. Adornos intellektuelle Praxis steht seit den 1940er Jahren unter dem von ihm selbst in der Negativen Dialektik formulierten neuen kategorischen Imperativ, »daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«.3 Es geht mir im Folgenden darum, die Momente des Äußerlichen im Text von Wussows zu bezeichnen, die Adornos Erkenntnissen einen Bezugsrahmen aufzwingen, der ihm fremd bleibt. Von Wussow erkennt richtig das »Nach Auschwitz«-Motiv, das Adorno als sein Entréebillet in die nachnatio1 Zur Erinnerung an Xenia Rajewsky (1939–2011), mit der zusammen ich im Wintersemester 1967/68 in Frankfurt die Ästhetikvorlesung Theodor W. Adornos gehört habe. 2 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 6. Frankfurt/M. 1973, S. 7−412, hier S. 357. 3 Ebd., S. 358. Fußnoten zur Literatur
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nalsozialistische Öffentlichkeit Westdeutschlands designierte.4 Mit diesem Autor bekam sie einen, auf den sie nicht bauen konnte. Die Erkenntnis, zu der von Wussow am Ende seines Essays vordringt, hat Adorno 1949 formuliert, 1951 in einer Festschrift für Leopold von Wiese einer kleinen Öffentlichkeit bekannt gemacht und 1955 an den Anfang seines ersten Essaybandes Prismen gestellt, mit dem Peter Suhrkamp Adorno in Deutschland durchsetzen wollte. Man könnte sagen, Adorno habe die Dialektik von Kultur und Barbarei unmissverständlich formuliert; aber in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik führte dieser Text zu einer endlosen Quelle von Missverständnissen. Daher zitiere ich das Bekannte vollständig, um zu zeigen, wie unbekannt der Kontext des Gedankens geblieben ist: Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.5
Dieser Satz Adornos zerriss den Schleier der westdeutschen Kunstreligion, der die Mitschuld des deutschen Bürgertums an der Nazibarbarei verhüllen sollte. Mit den Prismen zeigte sich der Adorno, der zugleich als Testamentsvollstrecker auftrat. Sein Essay Zur Charakteristik Walter Benjamins beschließt die Essaysammlung. Im gleichen Jahr erscheinen, von geschäftlichen Sorgen Peter Suhrkamps begleitet, Walter Benjamins Werke, die dann bis zur westdeutschen Studentenbewegung wie Blei in den Regalen des Verlagshauses liegen bleiben. Der »Stratege im Literaturkampf«, der in der Weimarer Republik ein bekannter Publizist gewesen war, blieb nach 1945 lange verborgen, bis ihn die rebellierenden Studenten in Westdeutschland, später auch in den USA auf ihre Fahnen schrieben. Auch Adorno wurde erst Mitte der 1950er Jahre in seiner ganzen Bedeutung erkennbar. Bis dahin hatten nur die Minima Moralia (1951) eine größere Öffentlichkeit erreicht; aber keineswegs war dieser dabei klar, dass mit diesem Buch jemand antitraditionell an die in Deutschland verschütteten aufklärerischen Tendenzen von Lichten4 Der Kontext von Adornos Rückkehr ist nachzulesen in Detlev Claussen: Theodor W. Adorno – ein letztes Genie. Frankfurt/M. 2003, S. 247–252; zum publizistische Hintergrund der Prismen vgl. ders.: Adornos Heimkehr. Der Essay als Form, ein Transportmittel verfolgter Gedanken. In: Monika Boll; Raphael Gross (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Göttingen 2009, S. 78−91. 5 Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 10.1. Frankfurt/M. 1977, S. 11−30, hier S. 30; zu den Reaktionen etwa: Petra Kiedaisch (Hg.): Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter. Stuttgart 1995.
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Detlev Claussen
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berg bis Nietzsche erinnerte. In diese antitraditionelle Tradition stellt 1956 Adorno auch Heine. Die Wunde Heine erscheint 1958 im ersten Band seiner Noten zur Literatur, der Adornos Mythos in den literaturwissenschaftlichen Seminaren in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mitbegründete. In den intellektuellen Debatten der frühen Bundesrepublik ist Adorno nicht sehr präsent; er ist auch nicht als Fachmann für Musik bekannt geworden, bevor er sich auf das Feld der Literatur wagte. Die aus dem Exil mitgebrachten Schriften Philosophie der neuen Musik und Versuch über Wagner wurden stattdessen ignoriert oder sogar indigniert zurückgewiesen. Adorno hat sich nicht resignierend als ein Endprodukt wissenschaftlicher Arbeitsteilung begriffen und schon gar nicht als Fachidiot – weder in der Musik noch in der Philosophie. Zur akademischen Arbeitsteilung stand er quer – manchmal zum Schrecken der germanistischen oder altphilologischen Fakultätskollegen. In der Philosophischen Fakultät war tatsächlich niemand vor Adornos Interventionen sicher. Sich selbst aber begriff Adorno nicht mehr als traditionellen Philosophen, sondern als einen kritischen Theoretiker. Generationen von Akademikern, am prominentesten Jürgen Habermas, versuchten, ihn in einen traditionellen Philosophen zurückzuverwandeln. Seinen 1971 erschienenen Bibliothek-Suhrkamp-Band Philosophisch-politische Profile, der Theodor W. Adorno gewidmet ist, eröffnete Habermas mit dem Aufsatz Wozu noch Philosophie?, der ignoriert, dass der Adorno der Eingriffe 1962 diese Frage ganz unkonventionell ohne Fragezeichen gestellt hatte. Hier macht das Satzzeichen die Differenz ums Ganze aus.6 Zur Zeit der Weimarer Republik war der junge Adorno noch der linksradikale Ästhet Teddie Wiesengrund gewesen, dem die Kommunistische Partei nicht links genug und künstlerisch zu konservativ war. Das machte ihn Hanns Eisler verwandt, der in einer ähnlichen Haltung an der Vertonung von Liedern arbeitete – oder deren Unmöglichkeit praktisch demonstrierte. Die Frage nach der Unmöglichkeit, Gedichte zu schreiben, stellt sich schon vor Auschwitz. 1929 schreibt Wiesengrund über Eislers Zeitungsausschnitte. Für Gesang und Klavier, op. 11.: »Der Angriff, den sie unternehmen, gilt dem Recht lyrischer Bekundung als solcher und nimmt seine Gewalt aus der Politik, nicht aus der ästhetischen Reflexion.«7 Spätestens seit Mendelssohns 6 Jürgen Habermas: Wozu noch Philosophie? In: ders.: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt/M. 1971, S. 11−36; Theodor W. Adorno: Wozu noch Philosophie. In: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt/M. 1963, S. 11−28. 7 Theodor W. Adorno: Eisler: Zeitungsausschnitte. Für Gesang und Klavier, op. 11. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 18. Frankfurt/M. 1984, S. 524−527, hier S. 524. Fußnoten zur Literatur
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Liedern ohne Worte ist in der deutschsprachigen Diskussion das Verhältnis von deutscher Musik und Dichtung mit jüdischer Emanzipation verknüpft. In Heines Lyrik kristallisiert es sich heraus. Die Kritik an dessen dichterischer Sprache ist seit Karl Kraus Standard, um die der junge Kraus-Verehrer Wiesengrund ebenso wenig herumkam wie der späte Adorno. Teddies Vater Oscar, typisch für das assimilationsorientierte, im langen 19. Jahrhundert aufgewachsene jüdische Bürgertum, war ein glühender Heineverehrer. »It is hardly an exaggeration to say that there was no German business man with cultural ambitions who would not, when he felt compelled to write a birthday poem for his wife or his mother, imitate some established model of Heine’s«, rief Adorno 1949 einem emigrierten Publikum in Erinnerung, um eine »Reappraisal of Heine« vorzunehmen.8 Eine veränderte Bewertung Heines steht für eine veränderte Erfahrung, auch für ein neues Verhältnis zu den Eltern. Rasenbank (1944) reflektiert schon in den Minima Moralia auf diese Veränderung: »Mit Schrecken muß man einsehen, daß man oft früher schon, wenn man den Eltern opponierte, weil sie die Welt vertraten, insgeheim das Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte war.«9 Mit Formulierungen wie ›deutscher Jude‹ sollte man noch vorsichtiger sein; weder Horkheimer noch Adorno haben sich als solche verstanden. Adorno war kein Leo Baeck und wollte auch nicht der Jude Gross sein, zu dem ihn der ahnungslose Celan stilisieren wollte. Der große Jude, voll mit dem jüdischen Wissen, das ›wir nicht haben‹, war für ihn Benjamins bester Freund Gershom Scholem, der den assimilatorischen Eltern in einem seiner letzten Aufsätze 1978 ein schönes Denkmal gesetzt hat: »In der Rückschau bin ich überzeugter, als ich es in meiner von Leidenschaften des Protests erfüllten Jugend sein konnte, daß bei vielen dieser Menschen Illusion und Utopie ineinanderflossen und das vielleicht antizipatorische Glücksgefühl weckten, zu Hause zu sein.«10 Vor diesem Hintergrund kann man die Veränderung in der Bewertung Heines bei Adorno besser begreifen: »Heines Gedichte waren prompte Mittler zwischen der Kunst und der sinnverlassenen Alltäglichkeit.«11 Die Wunde Heine bedeutet die Unmöglichkeit dieser Vermittlung; die Erinnerung an die ermordeten Juden macht 8 Theodor W. Adorno: Toward a Reappraisal of Heine. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 20.2. Frankfurt/M. 1986, S. 441−452, hier S. 441 f. 9 Theodor W. Adorno: Rasenbank. In: ders.: Gesammelte Schriften Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 4. Frankfurt/M. 1980, S. 22 f., hier S. 23. 10 Gershom Scholem: Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900–1930. In: ders.: Judaica 4.Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1984, S. 253. 11 Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt/M. 1974, S. 95–100, hier S. 96.
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diese Erfahrung für jeden, der es wirklich wissen will, unmissverständlich. Das Gefühl einer veränderten Gesellschaft bewirkt, dass Heine neu und anders interpretiert wird: »Ist aller Ausdruck die Spur von Leiden, so hat er es vermocht, das eigene Ungenügen, die Sprachlosigkeit seiner Sprache, umzuschaffen zum Ausdruck des Bruchs.«12 So richtig es ist, die Einheit von Adornos Œuvre zu sehen, als objektivierten Geist, so wichtig ist es, den Bruch zwischen dem Autor Teddie Wiesengrund und Theodor W. Adorno zu sehen. Seine Antrittsvorlesung vom 7. Mai 1931, aus der von Wussow mehrfach zitiert, variiert listig für theoretisch Ungebildete, also die damalige Frankfurter Philosophische Fakultät, die Benjamin hatte scheitern lassen, die elfte Feuerbachthese: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.«13 Marx hatte dies zur Zeit seiner Freundschaft mit dem etwas älteren Heinrich Heine in der Pariser Emigration formuliert.14 Teddie Wiesengrund wollte fast ein Jahrhundert später seinen Habilitationsvortrag dem kurz zuvor in Frankfurt als Habilitand abgelehnten etwas älteren Freund Walter Benjamin widmen.15 Ironie der Geschichte: Nach der gescheiterten Revolution von 1848 hat Marx den Rest seines Lebens damit verbracht, die Welt neu zu interpretieren. Heine hat schon 1852 seinen »noch viel verstocktern Freund[] Marx«16 an seinen vormärzlichen Enthusiasmus erinnert. Auf die Abstraktheiten von Urteilen, die sich aus Rebellionen gegen das Elternhaus ergeben, reflektiert auch Adornos Aphorismus Rasenbank. Vorausgeschickt wird in den Minima Moralia nur noch die Erinnerung an Marcel Proust, in der an eine verschwindende Existenzweise erinnert wird, die Benjamin wie Adorno vor Augen hatten – eine unabhängige Existenz, in der die geistige Arbeitsteilung sich aufkündigen lässt. Der »Departementalisierung des Geistes«17 hat sich Adorno zeitlebens verweigert – ihn kann man
12 Ebd., S. 98. 13 11. Feuerbachthese in der Fassung von Karl Marx, Frühjahr 1845. In: Marx-Engels Werke. Bd. 3. Berlin 1962, S. 7. 14 »Man mag bezweifeln, ob er so stark den frühen Marx beeinflußte, wie manche junge Soziologen es möchten. Politisch war Heine ein unsicherer Geselle: auch des Sozialismus.« Adorno 1974 (wie Anm. 11), S. 96. 15 So Adornos Herausgeber Rolf Tiedemann in seiner Editorischen Nachbemerkung zu Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Frankfurt/M. 1973, S. 379−384, hier S. 383. 16 Heinrich Heine: Vorrede zur 2. Auflage von Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: ders.: Werke und Briefe. Hg. v. Hans Kaufmann. Bd. 5. Berlin; Weimar 1960, S. 167−175, hier S. 171. 17 Theodor W. Adorno: Für Marcel Proust. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 4. Frankfurt/M. 1980. S. 21−22, hier S. 21. Fußnoten zur Literatur
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nur nachträglich gegen seinen Willen zum Kulturphilosophen, Musikkenner oder Ästhetiker mit literarischen Interessen machen. Es geht um die Sache selbst: Adorno und die Literatur. Adorno hielt sich in Kunstfragen an Rimbauds Diktum Il faut être absolument moderne.18 Notwendige Modernität ist eine qualitative Kategorie, keine bloß temporäre. Die mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft um 1800 einsetzenden Veränderungen nötigen zur geschichtsphilosophischen Reflexion. Hegel avisiert mit dem Flug der Minerva das Ende der Kunst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Georg Lukács mit seiner Theorie des Romans den Hegel’schen Gedanken als Verschwinden der Lebensimmanenz des Sinnes konkretisiert.19 Unter den Augen ihres Mentors Siegfried Kracauer haben der junge Teddie Wiesengrund und Leo Löwenthal während des Ersten Weltkrieges diesen Text verschlungen. Lukács fand den Weg aus dieser Krise in der radikalen Politik und der sie begründenden Theorie in seinem Buch Geschichte und Klassenbewußtsein, das seither Generationen von linksradikalen Ästheten fasziniert hat. Adorno war einer der Ersten von ihnen. Schon Ende der 1920er Jahre musste Lukács auf Druck der Kommunistischen Partei alle seine bisherigen Positionen widerrufen. Die Zerstörung der eigenen Erfahrung, der bedingungslose Ersatz der Selbstreflexion durch Selbstkritik, machte aus ihm einen Ästhetiker des Sozialistischen Realismus. Erst seine existentielle Erfahrung als Minister der Reformregierung Imre Nagy, als Lukács nach dem Ungarnaufstand 1956 monatelang von den Sowjets interniert vor der eigenen Liquidierung stand, gab ihm den Mut, sein Verhältnis zur literarischen Moderne zu überdenken. 1958, zum gleichen Zeitpunkt, als der erste Band von Noten zur Literatur erschien, veröffentlichte Adorno einen Essay im Monat über Georg Lukács’ Erpresste Versöhnung, den er 1961 in den Band II der Noten aufnahm. Die radikale Kritik des jungen Marx an der damals noch jungen bürgerlichen Gesellschaft hatte sich an dem sie legitimierenden Hegel’schen System abgearbeitet. Die Hegel’sche Ästhetik versammelt noch einmal die gesamte Gewalt des Systems, um mit den neuen Erfahrungen des bürgerlichen Zeitalters fertig zu werden. Ästhetische Kritik bindet sich nun an den Erfahrungsbegriff, den schon der Prosaist Heine in seiner leichthändig geschriebenen Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland demonstriert. In seiner schon erwähnten Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie knüpft der junge Teddie Wiesengrund an die elfte Feuerbachthese des jungen Marx an, dessen Ökonomisch-Philosophische Manuskripte Ende der 1920er Jahre gerade entdeckt wurden. Hier wird nicht ›hegelianisch‹ formu18 Zitiert in Adorno 1963 (wie Anm. 6), S. 28. 19 Vgl. dazu den Beitrag von Gerhard Scheit in diesem Band, S. 39–63.
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liert, sondern die Kritik an der Philosophie, auch an ihren nachhegelianischen Tendenzen und Entwicklungen, wird nicht geleistet. Auch nach hundert Jahren steht diese Kritik noch aus. Horkheimers programmatischer Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie von 1936 knüpft an die theoretischen Impulse des jungen Marx mit dem Programm an, die für einen Einzelnen unmöglich gewordene Kritik der gesellschaftlichen Totalität nunmehr arbeitsteilig auf dem neuesten Erfahrungsstand anzuvisieren. Die Kritik an der Hegel’schen Philosophie nahm im Horkheimerkreis Herbert Marcuse in Angriff; die Kritik der Hegel’schen Ästhetik drückte sich in Adornos zweiter Hegelaneignung im Exil aus. Sein erstes deutsches Buch nach der Rückkehr, Philosophie der neuen Musik (1949), reflektiert die neue Musik in Kategorien der Hegel’schen Ästhetik, die aber durch die Konfrontation mit dem Material nicht Kunsturteile ermöglichen, sondern selbst wieder dynamisiert werden. Der unabgegoltene Emanzipationsanspruch der Französischen Revolution, die ihr innewohnende Dialektik der Aufklärung, ist Adorno zufolge keine bloße Denkfigur, sondern ein Widerspruch im ästhetischen Material selbst. Deswegen hat Adornos und Horkheimers Zugriff nichts mit den postnationalsozialistischen, zivilisationskritischen Theorien etwa eines Arnold Gehlen zu tun. Der Essay Erpreßte Versöhnung (1958) zeigt dem nachgeborenen Leser genau, wie man es nicht machen soll: Den subsumierenden, von oben her mit Kennmarken wie kritischer und sozialistischer Realismus operierenden Gestus teilt Lukács, trotz aller entgegenlautenden dynamischen Beteuerungen, nach wie vor mit den Kulturvögten. Die Hegelsche Kritik am Kantischen Formalismus in der Ästhetik ist versimpelt zu der Behauptung, daß in der modernen Kunst Stil, Form, Darstellungsmittel maßlos überschätzt seien […] − als ob nicht Lukács wissen müßte, daß durch diese Momente Kunst als Erkenntnis von der wissenschaftlichen sich unterscheidet; daß Kunstwerke, die indifferent wären gegen ihr Wie, ihren eigenen Begriff aufhöben.20
Diese Differenz zu markieren hatte Adorno in seinem die Noten zur Literatur einleitenden Essay Der Essay als Form versucht, der kritisch an den jungen Lukács, den Autor von Die Seele und die Formen, anknüpfte. Vor dem Erfahrungshintergrund von Exil und Verfolgung stellt Adorno die traditionelle deutsche Abneigung gegen Essayismus in Frage, die schon den Prosaschriftsteller Heine getroffen hatte: 20 Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung. Zu Georg Lukács: ›Wider den mißverstandenen Realismus‹. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt/M. 1974 S. 251−280, hier S. 253. Fußnoten zur Literatur
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Die Anstrengung des Subjekts, zu durchdringen, was als Objektivität hinter der Fassade sich versteckt, wird als müßig gebrandmarkt: aus Angst vor Negativität überhaupt. […] Dem, der deutet, anstatt hinzunehmen und einzuordnen, wird der gelbe Fleck dessen angeheftet, der kraftlos, mit fehlgeleiteter Intelligenz spintisiere und hineinlege, wo es nichts auszulegen gibt. Tatsachenmensch oder Luftmensch, das ist die Alternative.21
Nicht umsonst hat Theodor W. Adorno, der sich aufs Komponieren verstand, ans Ende seines Bandes Prismen, mit dem er vor das deutsche Publikum trat, die Aufzeichnungen zu Kafka gestellt. Im Nachspann datiert er sie sorgfältig: »geschrieben 1942–1953«. Sie dokumentieren die Zerstörung von Erfahrung, die einst die Basis ›rechtschaffenen‹ Erzählens gewesen war. Benjamin, der Adorno als seinen intellektuellen Testamentsvollstrecker einsetzte, hatte in seinem Essay Der Erzähler Lukács’ geschichtsphilosophischen Versuch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aufgegriffen und neu durchdacht. Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen. Eine Ursache dieser Erscheinung liegt auf der Hand: die Erfahrung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose.22
Nichts Anderes registriert Kafka. Vergessen wir nicht: Benjamin und Adorno haben sich als Zeitgenossen von Proust und Kafka verstanden – allesamt Menschen, die, wenn die Nazis ihrer habhaft geworden wären, von ihnen ermordet worden wären. Nur reflektiert durch das, was in Auschwitz geschah, lassen sich ihre Schriften lesen. Die Aufzeichnungen zu Kafka geben Einsichten preis, die nur durch das intensivste Studium des Lagergeschehens zu erlangen sind: In den Konzentrationslagern des Faschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Leben und Tod getilgt. Sie schufen einen Zwischenzustand, lebende Skelette und Verwesende, […] das Gelächter Satans über die Abschaffung des Todes. Wie in Kafkas verkehrten Epen ging da zugrunde, woran Erfahrung ihr Maß hat, das aus sich heraus zu Ende gelebte Leben.23 21 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt/M. 1974 S. 9–33, hier S. 10; zur jüdischen Erfahrungsgeschichte des Begriffs ›Luftmensch‹ siehe Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen 2008. 22 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1977, S. 438−465, hier S. 439. 23 Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 10.1. Frankfurt/M. 1977. S. 254−287, hier S. 273.
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Der Gestus, mit dem dieser Gedanke präsentiert wird, ist nicht der des Literaturkenners oder deutenden Ästheten, sondern der eines Aufklärers, der sich der Dialektik von Kultur und Barbarei bewusst ist. Der Aufklärer zerreißt den Schleier der Zeitlosigkeit, der die Einsicht in Kafkas Werk vernebelt: Mit der Liquidation des Traums durch dessen Allgegenwart verfolgte der Epiker Kafka den expressionistischen Impuls so weit wie nur die radikalen Lyriker. Sein Werk hat den Ton des Ultralinken: wer es aufs allgemein Menschliche nivelliert, verfälscht ihn bereits konformistisch.24
Wer sollte das in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren verstehen? ›Ultralinks‹ – der Begriff stammte aus der Sprache des Parteikommunismus – aus der Sicht des gezähmten Lukács waren damit Leute wie Brecht und Benjamin gemeint. Der Literaturkampf der 1920er Jahre war vergessen, die großen Debatten des Exils waren in Deutschland bis dahin so gut wie unbekannt geblieben. Adornos aufklärerische Arbeit der 1950er Jahre ist keine Intervention in einem imaginären Literaturkampf, sondern eine unermüdliche Anstrengung, dem Vergessen entgegenzuwirken. 1942 in Los Angeles hatte das exilierte Institut für Sozialforschung ein schlichtes, schwarzes Heft Walter Benjamin zum Gedächtnis an zweihundert Interessierte verschickt, in der zum ersten Mal dessen Geschichtsphilosophische Thesen veröffentlicht wurden. In These VII, der Benjamin ein Motto aus Brechts Dreigroschenoper vorangestellt hat, heißt es: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist.«25 Adornos Diktum über das Schreiben nach Auschwitz wäre ohne Benjamins Aktentasche nicht denkbar; der Weg dieser Gedanken in akademische Debatten der Universitäten, der Weg ihrer Rezeption, trägt selbst barbarische Züge, auch wenn man sie gerne als Missverständnisse verharmlost. Auch das gehört zur Überlieferung.
24 Ebd., S. 274. 25 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2. Frankfurt/M. 1974, S. 691−704, hier S. 696. Fußnoten zur Literatur
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RELEK T ÜRE
Elisabetta Mengaldo
»Zuflucht vor der Totale« Dialektik und Konstellationen in zwei Texten der Minima Moralia
Zur Moral des Denkens. – Naiv und unnaiv, das sind Begriffe, so unendlich ineinander verschlungen, daß es zu nichts Gutem taugt, den einen gegen den andern auszuspielen. Die Verteidigung des Naiven, wie sie von Irrationalisten und Intellektuellenfressern aller Art betrieben wird, ist unwürdig. Die Reflexion, welche die Partei der Naivetät nimmt, richtet sich selbst: Schlauheit und Obskurantismus sind immer noch dasselbe. Vermittelt die Unmittelbarkeit behaupten anstatt diese als in sich vermittelte begreifen, verkehrt Denken in die Apologetik seines eigenen Gegensatzes, in die unmittelbare Lüge. Sie dient allem Schlechten, von der Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seins bis zur Rechtfertigung des gesellschaftlichen Unrechts als Natur. Wollte man jedoch darum das Entgegengesetzte zum Prinzip erheben und – wie ich selber einmal es tat – Philosophie die bündige Verpflichtung zur Unnaivetät nennen, so führe man kaum besser. Nicht bloß ist Unnaivetät im Sinne von Versiertheit, Abgebrühtheit, Gewitzigtsein ein fragwürdiges Medium der Erkenntnis, durch Affinität zu den praktischen Ordnungen des Lebens, allseitigen mentalen Vorbehalt gegen Theorie selber stets bereit, in Naivetät, das Hinstarren aus Zwecke zurückzuschlagen. Auch wo Unnaivetät in dem theoretisch verantwortlichen Sinn des Erweiternden, des nicht beim isolierten Phänomen Stehenbleibens, des Gedankens ans Ganze gefasst wird, liegt eine Wolke darüber. Es ist eben jenes Weitergehen und nicht Verweilenkönnen, jene stillschweigende Zuerkennung des Vorrangs ans Allgemeine gegenüber dem Besonderen, worin nicht nur der Trug des Idealismus besteht, der die Begriffe hypostasiert, sondern auch seine Unmenschlichkeit, die das Besondere, kaum daß sie es ergreift, schon zur Durchgangsstation herabsetzt und schließlich mit Leiden und Tod der bloß in der Reflexion vorkommenden Versöhnung zuliebe allzu geschwind sich abfindet – in letzter Instanz die bürgerliche Kälte, die das Unausweichliche allzu gern unterschreibt. Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, dass über der Insistenz seine Isoliertheit zerfällt. Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil. Die dialektische Vermittlung ist nicht der Rekurs aufs Abstraktere, sondern der Auflösungsprozeß des Konkreten in sich. Nietzsche, der selber oft in allzu weiten Horizonten dachte, hat davon doch gewußt: »Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will«, heißt es in der Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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Fröhlichen Wissenschaft, »ist gezeichnet als mittelmäßig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen«. Die Moral des Denkens besteht darin, weder stur noch souverän, weder blind noch leer, weder atomistisch noch konsequent zu verfahren. Die Doppelschlächtigkeit der Methode, welche der Hegelschen Phänomenologie unter vernünftigen Leuten den Ruf abgründiger Schwierigkeit eingetragen hat, nämlich die Forderung, gleichzeitig die Phänomene als solche sprechen zu lassen – das »reine Zusehen« – und doch in jedem Augenblick ihre Beziehung auf das Bewusstsein als Subjekt, die Reflexion präsent zu halten, drückt diese Moral am genauesten und in aller Tiefe des Widerspruchs aus. Wie viel schwieriger aber ist es geworden, ihr nachzukommen, wenn man nicht mehr die Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben darf, in deren endlicher Annahme Hegel die antagonistischen Forderungen des Zusehens und Konstruierens noch zu Deckung brachte. Vom Denkenden heute wird nicht weniger verlangt, als daß er in jedem Augenblick in den Sachen und außer den Sachen sein soll – der Gestus Münchhausens, der sich an dem Zopf aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als entweder Feststellung oder Entwurf. Und dann kommen die angestellten Philosophen und machen uns zum Vorwurf, daß wir keinen festen Standpunkt hätten.1
Durch das für Adorno nicht ungewöhnliche Verfahren der Konkretisierung eines Begriffs oder einer historischen Bewegung mittels Rekurs auf eine Märchen- bzw. Romanfigur2 erscheint der Schluss des Aphorismus 46 aus den Minima Moralia wie ein Kommentar zum befremdenden Untertitel des ganzen Buches. Adornos Texte sind nämlich »Reflexionen« nicht über, sondern aus dem beschädigten Leben – eben aus dem Sumpf des Barons von Münchhausen. Nichts könnte besser als diese surreale und zugleich plastische Metapher Adornos Poetik des philosophischen Schreibens darstellen, das sich weder der reinen Betrachtung des Objekts (dem Hegelschen »reinen Zusehen«) überantworten möchte noch der abstrakten Reflexion des Subjekts entspringt, sondern das sich ins Leben versenken muss, um über das Leben sprechen zu können. 1 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951]. In.: ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. ²2003 [künftig zitiert: GS], Bd. 4, S. 82 f. Aus den Minima Moralia wird im Folgenden nach dieser Ausgabe mit dem Kürzel MM sowie Textnummer und Seitenzahl der jeweiligen Textstelle zitiert. – Für wichtige Hinweise und Anregungen danke ich Elisabeth Böhm und Burkhardt Wolf. 2 Dies bemerkt auch Joseph Vogl in seinem Kommentar zu Adornos Aphorismus Woher der Storch die Kinder bringt. In: Andreas Bernard; Ulrich Raulff (Hg.): »Minima Moralia« neu gelesen. Frankfurt/M. 2003, S. 44–46, hier S. 45. Zu Märchenmotiven in den Texten Adornos und Benjamins vgl. auch Elisabetta Mengaldo: »Seligkeit im Kleinen« oder Schein der Rettung? Märchen- und Volksliedstoffe in der Kurzprosa Benjamins und Adornos. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 56 (2012), S. 284 –306.
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Schon einige Jahre früher hatte sich Adorno dieses Bildes bedient, es aber eher negativ verwendet. Im 1940 veröffentlichten Aufsatz Husserl and the Problem of Idealism, der schon einige Fragestellungen skizziert, die dann die große Husserl-Studie aus dem Jahre 1956 wieder aufgreifen wird, hatte er versucht, die entgegengesetzten Positionen des Idealismus und des Materialismus zu versöhnen und gleichzeitig zu korrigieren, indem er ihre gegenseitige Verstricktheit offen legte: »Whoever tries to reduce the world to either the factual or the essence, comes in some a way or other into the position of Münchhausen, who tried to drag himself out of the swamp by his own pigtail«.3 Im späteren Text aus den Minima Moralia werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Die Identität von Subjekt und Objekt darf man sich nicht mehr »vorgeben« und der surreal-utopische Gestus Münchhausens wird eben deswegen als notwendig angesehen. Die Verschränkung einer rein theoretischen mit einer auch moralischen Frage ist wohl im alten Paradox der Kulturkritik enthalten, nach dem der Kritiker und Denker gleichzeitig »in den Sachen und außer den Sachen sein soll«4 und das die Arbeit an der kurzen Prosa der Minima Moralia sowohl theoretisch als auch sprachlich prägt. Die Minima Moralia kann man ja, auch aufgrund ihrer offenen, essayistischen oder aphoristischen Form, als Experiment auffassen, als Versuch, eine begriffliche Präzision des Ausdrucks zu erringen bei gleichzeitiger Vermeidung einer positivistischen und rein instrumentellen Fachsprache einerseits (der akademischen Philosophie, die Adorno als »organisierte Tautologie«5 benennt) und des abgegriffenen und »vom Kommerz geprägten Wort[es]«6 der Kulturindustrie andererseits – als einen Versuch also, in der Sprache über die Sprache zu reflektieren oder auch gegen die Sprache zu handeln. Der erste Teil des Textes entfaltet eine Umkehrung der Gedanken (»naiv« und »unnaiv«), die dem Leser Adornos vertraut klingt. Doch im Unterschied zu anderen Texten, welche den dialektischen Umschlag langsam vorbereiten und zunächst eine Parteinahme für die positive, verbreitete Meinung in3 Theodor W. Adorno: Husserl and the Problem of Idealism. In: Journal of Philosophy XXXVII (1940), H. 1, S. 5–18, hier S. 11. 4 Drinnen und draußen ist die Überschrift eines anderen, benachbarten und zum Teil ähnlichen Textes (MM 41, S. 74–76). Philipp von Wussow (Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie. Würzburg 2007) widmet den Minima Moralia ein kurzes Kapitel (Drinnen und draußen: ›Minima Moralia‹, S. 107–121), in dem er diese Eigenschaft von Adornos Denken hervorhebt und sich dabei auf den Aphorismus 41 konzentriert. 5 MM 41, S. 74. 6 MM 64, S. 114. Dieser kurze, als Moral und Stil betitelte Text stellt eins der besten Beispiele von Adornos Kulturkritik als Sprachkritik dar. Schlamperei und schematische Einfachheit im Ausdruck erzeugen Vertrautheit und folglich auch Konsens, entpuppen sich aber, gerade in ihrem Vorzug der Mitteilung, gleichzeitig als »Verrat am Mitgeteilten« (ebd.). Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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szenieren (z. B. Kind mit dem Bade, MM 22, S. 48 f.), erklärt Adorno hier von Anfang an die Durchdringung dieser Begriffe und betrachtet das Problem von beiden Seiten, bis er zu einer Sackgasse kommt, die aber gerade wegen ihrer vermeintlichen Ausweglosigkeit erst produktiv wird. Aporetisch sind jedoch schon die ersten beiden Teile, die jeweils dem »Naiven« und dem »Unnaiven« gewidmet sind, sodass am Ende eine Aporie in der Aporie entsteht. Es handelt sich nämlich nicht einfach um einen Begriff, der sich als sein eigenes Gegenteil erweist, sondern jeder der beiden Begriffe ist gleichzeitig der andere, in einer unendlichen Widerspiegelung und Verschachtelung, bei der das denkende Subjekt stillstehen muss. Die intellektuell unehrliche Haltung der Naivität, die eine Unmittelbarkeit des menschlichen Tuns und Denkens fingiert, »verkehrt Denken in die Apologetik seines eigenen Gegensatzes, in die unmittelbare Lüge« und in die »Rechtfertigung des gesellschaftlichen Unrechts als Natur«. Als »Schlauheit und Obskurantismus« (ein weiteres Oxymoron) bedeutet die irrationalistische Naivität unerwarteterweise die Unnaivität des berechnenden und egoistischen bürgerlichen Lebens. Unnaivität als verantwortliches Umgehen mit philosophischen Begriffen riskiert jedoch ihrerseits in Naivität umzuschlagen, und zwar aus zwei Gründen (hier verzweigt sich wieder der Gedankengang): einerseits aus Abgebrühtheit, die aber durch ihren »Vorbehalt gegen Theorie« für Adorno viel zu oft zur »Affinität zu den praktischen Ordnungen des Lebens« tendiert; und andererseits aus dem entgegengesetzten Grund, aus der theoretischen Erweiterung ins Allgemeine, die den Idealismus gekennzeichnet hat und die Adorno nicht nur als trügerisch, sondern auch als unmenschlich deutet. Die dialektische Maschinerie zermalmt bei jedem Anlauf das Subjektive und Besondere, das sie gerade zur Geltung gebracht hatte, um den Fortgang des Geistes nicht aufzuhalten. Das Ergebnis ist jene »bürgerliche Kälte, die das Unausweichliche allzu gern unterschreibt« und die sich als dasselbe wie die Folge der Naivität entlarvt: Indem sie das von der schlechten ratio der Menschen Erzeugte als das Unausweichliche verkauft, legt sie ein falsches Bewusstsein an den Tag, durch das sie die früher erwähnte »unmittelbare Lüge« sanktioniert. Die Annäherung der beiden Begriffe bis zur fast paradoxen Deckung erfolgt nicht durch einen Sprung in der Reflexion, sondern über sukzessive Verzweigungen und Erweiterungen (»Nicht bloß ist Unnaivetät […]. Auch wo Unnaivetät…«; »[…] worin nicht nur der Trug des Idealismus besteht […], sondern auch seine Unmenschlichkeit«).7 Was Adorno am Anfang als 7 Zur Argumentation nach gegensätzlichen Paaren und nach sukzessiven Unterscheidungen im philosophischen Denken siehe auch Chaïm Perelman; Lucie Olbrechts-Tyteca: Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren [frz. 1958]. Hg. v. Josef Kopperschmidt. Stuttgart 2004. Bd. 2, S. 597–619.
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Elisabetta Mengaldo
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Gleichsetzung von Gegensätzen apodiktisch behauptet, erläutert er dann durch die dialektische Bewegung. Viele Texte aus den Minima Moralia sind nach diesem argumentativen Schema gebaut, bei welchem dem Setzen einer These die Arbeit am Begriff als dialektische Entfaltung folgt. Von dieser Aporie löst sich Adorno durch einen ›Kompromiss‹, der dialektisch nach einer Versöhnung sucht, und der eigentlich ein Paradox ist, das sich aber als fruchtbar erweist: »Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheit zerfällt«. Von einem negativen und brutalen Zusammenleben zweier entgegengesetzter Begriffe im »falschen« Leben, das von der Dialektik demaskiert wird, geht Adorno zu einem durchaus positiven und gewaltfreien Bild der Insistenz auf dem Einzelnen über, das sich auch als programmatische Erklärung für sein eigenes Werk lesen lässt: Das Ganze nicht hypostasieren, sondern ihm erst durch die Reflexion über das ephemere Detail, das an den Rand der Geschichte Vertriebene, welches im Allgemeinen nicht aufgeht, auf dem Fuße folgen. Diese Reflexion findet ihre ideale Gestalt im Aphorismus und im Essay als Formen der Konkretion des Gegenstands im Denken und als »Ausnahmezustand der Philosophie«, denn »im Aphorismus geschehen Vollzug und Verwirklichung um den Preis des Urteils, dessen Rechtfertigung vom Argument abhängt«8. Die Kritik an der Hegel’schen Methode und an deren Hinwegschauen über das Besondere und Individuelle entspricht einer Verabschiedung der subsumierenden Verfahrensweise, die sich auch der mikrologischen Methode Walter Benjamins verdankt, wie Adorno hier implizit und an anderen Stellen explizit anmerkt.9 Hier verwendet er das »immanente« Bild des Verharrens beim Einzelnen und des 8 Alexander García-Düttmann: So ist es. Ein philosophischer Kommentar zu Adornos »Minima Moralia«. Frankfurt/M. 2004, S. 41. 9 Explizite Bezüge auf Benjamins Erbe finden sich vor allem im Frühwerk, etwa in der Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie [1931], die lange vor Der Essay als Form [1958] einen Zusammenhang zwischen Essayismus und kritischem philosophischen Potential herstellt und Benjamins Erkenntniskritische Vorrede zum Trauerspiel-Buch im Kontext der zentralen Frage der Darstellung in der Philosophie zitiert. Aber auch im letzten Teil der späteren Negativen Dialektik heißt es: »Der Hang dazu [= zum Materialismus, E. M.] läßt vom Hegelianer Marx bis zur Benjaminschen Rettung der Induktion sich verfolgen«. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik [1966]. In: ders.: GS, Bd. 6, S. 357. Außerdem stellt ein Text aus den Minima Moralia unter dem Titel Vermächtnis (MM 98, S. 171– 173) eine explizite Hommage auf Benjamins Erbe dar. Zur Frage der Rezeption Benjamins durch Adorno siehe u. a. Susan Buck-Morss: The Origins of Negative Dialectics. Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, and the Frankfurt Institute. Hassocks 1977, sowie das etwas zu einseitige Kapitel in: Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt/M. 1999, S. 64–85 (»Widerwillige Akzeptanz und verschwiegene Aneignung«). Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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Zerfallens von dessen Isoliertheit, an anderen Stellen die fast militärische Metapher der aktiven Sprengung durch den Blick: »Denn wohl vermag der Geist es nicht, die Totalität des Wirklichen zu erzeugen oder zu begreifen; aber er vermag es, im kleinen einzudringen, im kleinen die Maße des bloß Seienden zu sprengen«10. Dieses emphatische Sich-Versenken in die Details hat ein sprengendes Potential nicht nur, indem das Kleine, der Freud’sche »Abhub der Erscheinungswelt«11 über sich hinausgeht und so, von unten und von der Seite her ein anderes Licht auf das Ganze wirft, das die bürgerliche Ideologie auslöschen möchte, sondern es streut beim Sprengen eine Vielfalt von Details aus, die dann zu Konstellationen zusammenrücken. Dies ist ein zentraler Begriff Benjamins und später auch Adornos, der zwar in den Minima Moralia fast nie begegnet, dessen kritisches Potential gegenüber den Gefahren der Dialektik jedoch immer präsent ist.12 Da heute, »wenn man nicht mehr die Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben darf« (MM 46, S. 83) das strenge dialektische Verfahren nicht mehr anwendbar ist ohne das Risiko, in leere Bestätigung des Bestehenden zu verfallen, bedarf es nach Adorno einiger Korrekturen, die dem gerecht werden, was er später ›das Nichtidentische‹ nennen wird, was aber schon hier implizit formuliert wird und an die Kritik des identitären Denkens in der Dialektik der Aufklärung anschließt. Nichtidentisches, Konstellation und Mikrologie, die Adorno in der Negativen Dialektik explizit zusammenführen und mit einer neuen negativen und »utopischen« Metaphysik in Verbindung bringen soll13, scheinen schon hier einander zu bedingen.
10 Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie [1931]. In: ders.: GS, Bd. 1, S. 325–344, hier S. 344. 11 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 2. Vorlesung: Die Fehlleistungen. In: ders.: Studienausgabe. Bd. 1. Frankfurt/M. 1997, S. 50–62, hier S. 51. 12 Adorno verwendet den Begriff in Der Essay als Form (hier zusammen mit dem verwandten Terminus »Parataxe«, der später seinem Hölderlin-Aufsatz den Titel geben wird) und dann ausführlicher in der Negativen Dialektik (GS, Bd. 6, vor allem S. 164–168). Zu den Begriffen ›Konfiguration‹ und ›Konstellation‹ bei Adorno (auch in Anlehnung an Benjamin) siehe Andreas Lehr: Kleine Formen. Konstellation/Konfiguration, Montage und Essay bei Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und anderen. Norderstedt 2003, S. 133–183. Zum Konstellationsbegriff in der Negativen Dialektik siehe u. a. Reinhard Uhle: Zur Erschließung von Einzelnem aus Konstellationen. Negative Dialektik und »objektive Hermeneutik«. In: Jürgen Naeher (Hg.): Die negative Dialektik Adornos. Opladen 1984, S. 359–372. 13 »Das Absolute jedoch, wie es der Metaphysik vorschwebt, wäre das Nichtidentische, das erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging. […] Das Zurückweichende wird immer kleiner, […]; das ist der erkenntniskritische wie der geschichtsphilosophische Grund dafür, daß Metaphysik in die Mikrologie einwandert. Diese ist Ort der Metaphysik als Zuflucht vor der Totale. […] Metaphysik ist, dem eigenen Begriff nach, möglich nicht als ein deduktiver Zusammenhang von Urteilen über Seiendes. […] Danach wäre sie
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Man kann diese Suche nach Alternativen zum identitären und dichotomischen Denken mit dem von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägten Begriff des ›Rhizoms‹ vergleichen. Dieser ist – ähnlich wie Adornos Begriffe ›Konstellation‹, ›Konfiguration‹ und ›Parataxe‹ – als ein Gegenmodell zum hierarchischen Baum des Wissens, etwa zur taxonomischen und streng klassifikatorischen Wissensordnung in der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts, konzipiert.14 Doch im Unterschied zum rhizomatischen Gewebe weist die Sternbild-Metapher nicht auf eine netzartige und potenziell immer weiter wuchernde Verflechtung hin, sondern auf ein gewaltloses SichSammeln von Einzelheiten um einen Mittelpunkt, von dem aus der Blick aufs Ganze sich konkret herstellt. Sie ist nicht richtungslos, sondern sie entwickelt sich gleichsam aus ihrer eigenen Statik heraus. Adornos Überlegungen drehen sich dabei nie nur um die Frage nach einer neuen Denkmethode, sondern immer auch um die nach einer adäquaten Schreibweise: Alle Brückenbegriffe, alle Verbindungen und logischen Hilfsoperationen, die nicht in der Sache selber sind, alle sekundären und nicht mit der Erfahrung des Gegenstandes gesättigten Folgerungen müßten entfallen. In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen (MM 44, S. 79).
Die Konstellationen der Begriffe und die parataktischen Strukturen stehen nicht in Opposition zur Dialektik, sondern sind deren konsequente Fortführung und Korrektur, wenn die Dialektik nicht nur (oder besser: nicht mehr) zwischen Konkretem und Abstraktem vermitteln, sondern eben »der Auflösungsprozeß des Konkreten in sich« sein soll. Das außerordentliche Potential von Hegels spekulativem Satz, der eine Dynamisierung und Sprengung des logischen Urteils mit sich bringt und über die Bewegung wie über die Stillstellung des Gedankens reflektiert, ist ein Stachel, der gegen die Dialektik selbst gekehrt wird.15 möglich allein als lesbare Konstellation von Seiendem«. Adorno: Negative Dialektik (wie Anm. 9), S. 398 f. 14 Gilles Deleuze; Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II [frz. 1980]. Berlin 1992. Zur taxonomischen Wissensorganisation (als tableau) in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [frz. 1966]. Frankfurt/M. 1971, S. 252–260. 15 An mehreren Stellen betont Adorno, wie Hegels Philosophie schon die Keime der negativen Dialektik enthält und also nur um einen Schritt weiter gedacht werden muss, um die »vollendete Negativität« zu erreichen. In Skoteinos oder Wie zu lesen sei, in dem es um Probleme der Darstellung und der Methode in der Hegelschen Philosophie geht, heißt es etwa: »Durch die Explikation der Begriffe […] wird im Begriff selber, ohne den Umfang des Begriffs zu verletzen, sein Anderes, Nichtidentisches als sein Sinnesimplikat evident. Der Begriff wird solange hin- und hergewendet, daß er mehr ist, als er ist«. Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel [1963]. In: ders.: GS, Bd. 5, S. 326–375, hier S. 363. Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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So scheint dieser Text auch in seiner Form auf die Offenlegung dieser Aporie hin angelegt zu sein. Die Argumentation verläuft nämlich zunächst bis in die Terminologie hinein streng dialektisch und am typischen logischdialektischen Modell der gegensätzlichen Begriffspaare und der Erweiterung oder Biegung des Gedankens nach Aus- und Unterscheidungen entlang. Wenn aber die Sackgasse erreicht ist und eine zumindest heuristische Lösung angedeutet wird, hört dieser dialektische Argumentationsstrang plötzlich auf; die Unmöglichkeit oder ›Unehrlichkeit‹ seiner glatten Fortsetzung vollzieht sich im Akt des Schreibens selbst, das von hier an logisch-syntaktisch diskontinuierlicher wird und, statt zu subsumieren, eher Ideen nebeneinander rückt. Das auf den ersten Blick harmlose, aber auch befremdende Nietzsche-Zitat erweist sich in dieser Hinsicht als aufschlussreich. Erstens schafft es als Zitat selbst einen Bruch in der Kontinuität des Textes, indem es auf etwas der immanenten Denkbewegung gegenüber Heteronomes verweist und es gleichzeitig durch ein gemeinsames Wort (»Vermittlung«) in den Text einbaut. Zweitens setzt Adorno damit genau das um, was im Zitat selbst steht. Nietzsches experimentelles und perspektivistisches Denken steht nämlich quer zur Hegelschen Dialektik und ist mit dieser in einem ursprünglichen Sinn nicht ›vermittelbar‹. Adorno versucht dem gerecht zu werden, was Nietzsche vorschreibt, nämlich »zwei entschlossene Denker« verfremdend und nicht vermittelnd einander anzunähern, sie in einer Konstellation zu betrachten, welche eine allzu schnelle Identifikation vermeidet zugunsten einer Spannung des Nebeneinander. Gerade das gemeinsame Wort ›Vermittlung‹ erweist sich als das nicht Vermittelnde, denn die Bedeutung, die Adorno diesem Wort zuweist, ist die eines terminus technicus der dialektischen Philosophie, während Nietzsche es hier in einem konkreten und fast alltäglichen Sinn verwendet. Im Nietzsche-Zitat ist es tatsächlich nicht die Frage der Vermittlung, die Adorno interessiert. Die »Ähnlichseherei« und die »Gleichmacherei« lassen sich auch anders interpretieren, nämlich so, dass auch dieser kurze Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft in einen anderen Zusammenhang rückt und mehr besagt, als man auf den ersten Blick glauben könnte. Worauf Adorno hier versteckt anspielt, sind Nietzsches Kritik des Identitätsprinzips als Herrschaftsprinzips und seine Theorie der Entstehung des Begriffs als Gleichsetzung des Nicht-Gleichen – Konzepte, die auch die fast gleichzeitig mit der Arbeit an den Minima Moralia entstandene Dialektik der Aufklärung prägen. Diese verbindet Nietzsches Auffassungen mit Marx’ Theorie des Äquivalenzprinzips und stellt eine genealogische Verwandtschaft des Austauschs mit der Logik des subsumierenden Urteils und der Identität her. In demselben dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, aus 202
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dem das Zitat in Adornos Text entnommen ist, wird die Frage des »Gleich-sehens« in einer genealogischen Perspektive als »Herkunft des Logischen« erläutert und an die Frage der Subsumtion gekoppelt: Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiss aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muss. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen, giengen zu Grunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer zum Beispiel das »Gleiche« nicht oft genug aufzufinden wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen Thiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Aehnlichen sofort auf Gleichheit rieth.16
Adornos »Moral des Denkens« erweist sich also nicht nur als eine Moral des ›weder-noch‹, sondern auch als eine des ›sowohl-als auch‹, nicht im Sinne einer Indifferenz gegenüber der Sache, sondern als Denken der Differenz und nicht der Identität, des Bruchs und der Diskontinuität statt des Kontinuums der klassifikatorischen und unterordnenden Logik. Dieses ›andere‹ Denken soll sich in einer Poetik der »Lücken« niederschlagen, wie einige Seiten weiter im Text Nr. 50 (Lücken) formuliert wird: »Denn der Wert eines Gedankens misst sich an seiner Distanz von der Kontinuität des Bekannten. Er nimmt objektiv mit der Herabsetzung dieser Distanz ab; je mehr er sich dem vorgegebenen Standard annähert, umso mehr schwindet seine antithetische Funktion […]« (MM 50, S. 90 f., hier S. 90). Das Fragmentarische und Bruchstückhafte erweist sich als Symptom der Verzweiflung und zugleich als programmatische Absicht eines Schreibens, das »nicht mehr die Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben darf«. Man könnte meinen, diese Poetik der Differenz, die der Nicht-Identität gerecht werden soll, widerspräche der von Adorno immer wieder gewünschten »strengsten sprachlichen Objektivität«17. Semantische Strenge entspricht aber der syntaktischen und kompositorischen Freiheit, denn das Lässige und Unpräzise des Ausdrucks bedeutet Missachtung und Missbrauch des Einzelnen (in der Welt wie in der Sprache), genauso wie es dessen gewaltsame Subsumtion durch logische Oberbegriffe oder, als sprachliches Pendant, hypotaktische Syntax tut. Adornos Kritik des Positivismus als ›schlechtes‹ Erbe der idealistischen Dialektik, als diskursive Logik und als Denken der Identität, das sich als Tautologie erweist, dient somit der Errettung des rhetorischen Moments 16 Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft [1882]. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli; Mazzino Montinari. Berlin; New York ²1988. Bd. 3, S. 471. 17 MM 65, S. 115. Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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der Sprache – und der Bezug auf Nietzsche, der die Rhetorik wieder in den Mittelpunkt der philosophischen Sprache gerückt hat, ist auch deswegen kein Zufall. Rhetorik ist jedoch nicht als Gewalt der Überzeugung, sondern als Sprache zu verstehen, die sich, in ihrer Ablehnung des Identitäts- und Kontradiktionsprinzips, auch der reinen Bezeichnung entzieht, wie Adorno in seinem programmatischen Aufsatz Der Essay als Form und später in der Negativen Dialektik schreibt: Die Allergie der gesamten approbierten philosophischen Überlieferung gegen den Ausdruck, von Platon bis zu den Semantikern, ist konform dem Zug aller Aufklärung, das Undisziplinierte der Gebärde noch bis in die Logik hinein zu ahnden, einem Abwehrmechanismus des verdinglichten Bewußtseins. […] Mit Grund verbündet sich sprachliche Schlamperei – wissenschaftlich: das Unexakte – gern mit dem wissenschaftlichen Gestus der Unbestechlichkeit durch die Sprache. Denn die Abschaffung der Sprache im Denken ist nicht dessen Entmythologisierung. Verblendet opfert Philosophie mit der Sprache, worin sie zu ihrer Sache anders sich verhält als bloß signifikativ […]. Dialektik, dem Wortsinn nach Sprache als Organon des Denkens, wäre der Versuch, das rhetorische Moment kritisch zu erretten: Sache und Ausdruck bis zur Indifferenz einander zu nähern. […] das blank Antirhetorische ist verbündet mit der Barbarei, in welcher das bürgerliche Denken endet.18
»In den Sachen und außer den Sachen sein« heißt also auch sich ›durch‹ Sprache und gleichzeitig ›in‹ der Sprache zur Welt zu verhalten, Sprache nicht nur zu einem willkürlichen Mittel der Bezeichnung zu erniedrigen, sondern sie in ihrer mimetisch-expressiven Funktion zu retten. Man kann also sagen, dass diesen beiden Existenzweisen der Sprache zwei Formen von Dialektik entsprechen: eine Dialektik als positivistisch-instrumentelle Logik der Subsumierung und der zeitlichen Abfolge, deren Aporien Adorno anhand der dialektischen Methode selbst beweisen will; und eine Dialektik als kritisches Moment der Sprache, als Bewusstsein ihrer konstitutiven Differenz und als verdichtete Konfiguration von Widersprüchen – als Versuch also, die Dialektik selbst mit ihren eigenen Waffen zu zerstören, um sie als Rhetorik zu erretten. In diesem Zusammenhang lässt sich die Brücke schlagen zu einem weiteren Text der Minima Moralia, der zum dritten, 1946/47 verfassten Teil des Werkes gehört. Dem folgt deutscher Gesang. – Den freien Vers haben Künstler wie George als Mißform, als Zwitter von gebundener Rede und Prosa verworfen. Sie werden darin von Goethe und von Hölderlins späten Hymnen widerlegt. Ihr technischer Blick nimmt
18 Adorno: Negative Dialektik (wie Anm. 9), S. 65 f.
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den freien Vers hin, wie er sich gibt. Sie machen sich taub gegen die Geschichte, die seinen Ausdruck prägt. Nur im Zeitalter ihres Verfalls sind die freien Rhythmen nichts als untereinander gesetzte Prosaperioden von gehobenem Ton. Wo der freie Vers als Form eigenen Wesens sich erweist, ist er aus der gebundenen Strophe hervorgegangen, über die Subjektivität hinausdrängt. Er wendet das Pathos des Metrons gegen dessen eigenen Anspruch, strenge Negation des Strengsten, so wie die musikalische Prosa, von der Symmetrie der Achttaktigkeit emanzipiert, sich den unerbittlichen Konstruktionsprinzipien verdankt, die in der Artikulation des tonal Regelmäßigen heranreiften. In den freien Rhythmen werden die Trümmer der kunstvoll-reimlosen antiken Strophen beredt. Fremd ragen diese in die neuen Sprachen hinein und taugen kraft solcher Fremdheit zum Ausdruck dessen, was in Mitteilung sich nicht erschöpft. Aber unrettbar geben sie der Flut der Sprachen nach, in denen sie aufgerichtet waren. Brüchig nur, mitten im Reich der Kommunikation und durch keine Willkür von diesem zu scheiden, bedeuten sie Distanz und Stilisierung, inkognito gleichsam und privilegienlos, bis in solcher Lyrik wie der Trakls die Wellen des Traums über den hilflosen Versen zusammenschlagen. Nicht umsonst war die Epoche der freien Rhythmen die französische Revolution, der Einstand von Menschenwürde und -gleichheit. Aber ist nicht das bewußte Verfahren solcher Verse ähnlich dem Gesetz, welchem Sprache überhaupt in ihrer bewußtlosen Geschichte gehorcht? Ist nicht alle gearbeitete Prosa eigentlich ein System freier Rhythmen, der Versuch, den magischen Bann des Absoluten und die Negation seines Scheins zur Deckung zu bringen, eine Anstrengung des Geistes, die metaphysische Gewalt des Ausdrucks vermöge ihrer eigenen Säkularisierung zu erretten? Wäre dem so, dann fiele ein Strahl von Licht auf die Sisyphuslast, die jeder Prosaschriftsteller auf sich genommen hat, seitdem Entmythologisierung in die Zerstörung von Sprache selber übergegangen ist. Sprachliche Don Quixoterie ward zum Gebot, weil jedes Satzgefüge beiträgt zur Entscheidung darüber, ob die Sprache als solche, zweideutig von Urzeiten her, dem Betrieb verfällt und der geweihten Lüge, die zu diesem gehört, oder ob sie zum heiligen Text sich bereitet, indem sie sich spröde macht gegen das sakrale Element, aus dem sie lebt. Die asketische Abdichtung der Prosa gegen den Vers gilt der Beschwörung des Gesangs. (MM 142, S. 252 f.)
Adorno verbindet zunächst ein literaturhistorisches mit einem musikwissenschaftlichen Problem. Er stellt nämlich einen Vergleich an zwischen der Befreiung von festen metrischen Regeln in der Dichtung (dem ›freien Vers‹ bzw. den ›freien Rhythmen‹19) und der Lockerung des Taktschemas in der Mu19 Es bleibt unklar, ob Adorno hier die beiden Termini historisch unterscheidet oder nicht. Freie Rhythmen sind aus einer bestimmten metrischen Form hervorgegangen, sie sind nämlich aus der Auflockerung des Hexameters entstanden. Sie besitzen also eine ›setzende Kraft‹ in ihrem bewussten Sich-Abwenden von einer bestimmten Regel, während die Bezeichnung ›freie Verse‹ sich vor allem an die französische Tradition anlehnt, seit dem Symbolismus geläufig ist und sich im 20. Jahrhundert auf alle Gedichte bezieht, die auf ein festes Metrum (aber nicht unbedingt auf den Reim) verzichten. Siehe dazu Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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sik hin zu einer von formalen Symmetrien unabhängigen »musikalischen Prosa«, die Arnold Schönberg als »eine direkte und unumwundene Darstellung von Gedanken ohne jegliches Flickwerk, ohne bloßes Beiwerk und leere Wiederholungen«20 definiert. Musik soll »in Anlehnung an den Rhythmus freier ungebundener Sprache […] prosaähnlich werden«21. Gerade dieser implizite Bezug auf Schönberg festigt auch historisch die Verschränkung von Vers- und Musikfragen, die Adorno nicht näher erläutert. Wie so oft in einem aphoristisch-essayistischen Werk wie den Minima Moralia, werden auch hier viele Sachverhalte, also die rein informativen Aspekte, ausgespart und dem Wissen des Lesers überlassen, unter anderem auch der Titel, der den berühmten letzten Vers von Hölderlins Patmos zitiert, »der großartigsten parataktischen Struktur aus Hölderlins Hand«22. Wiederum verweist Adorno also implizit auf eine weitere wichtige Frage, auf die er hier nicht direkt eingeht. Hölderlin ist für ihn nämlich nicht nur als Dichter der freien Rhythmen, sondern vor allem als Dichter der Parataxis und der Konstellationen wichtig. In seinem zweiten Streichquartett (op. 10, 1907/08), das als ein Übergangswerk betrachtet werden kann, stellt Schönberg nicht nur das tonale System in Frage, indem er die anfängliche Tonart (fis-moll) in Atonalität auflöst. Er sprengt auch die Grenzen der Gattung, denn im dritten und vierten Satz führt er, auf eine für ein Streichquartett sehr unübliche Weise, eine Sopranstimme ein, die Gedichte von eben dem Dichter singt, der in Adornos Text gleich am Anfang als ein Feind des freien Verses erscheint: Stefan George.23 Und ein Jahr später vertont Schönberg wieder Texte von George (Das Buch der hängenden Gärten, op. 15) in Kompositionen, die als Musterbeispiel von ›musikalischer Prosa‹ gelten, also quasi gegen Georges Forderung gerichtet
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Hans-Jost Frey: Verszerfall. In: Hans-Jost Frey; Otto Lorenz: Kritik des freien Verses. Heidelberg 1980, S. 31–42, sowie Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart; Weimar 21997, S. 121–128. Arnold Schönberg: Brahms der Progressive [1933]. In: ders.: Stil und Gedanke. Hg. v. Frank Schneider. Leipzig 1989, S. 118. Zum schwierig zu bestimmenden Begriff der musikalischen Prosa siehe auch Hermann Danuser: Musikalische Prosa. In: Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.): Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1995, S. 250–269. Calvin Scott: »Ich löse mich in tönen…«. Zur Intermedialität bei Stefan George und der zweiten Wiener Schule, Berlin 2007, S. 104–111, hier S. 104. Theodor W. Adorno: Parataxis. In: ders.: Noten zur Literatur. GS, Bd. 11, S. 447–491, hier 474 f. Mit Recht bemerkt Bernhard Böschenstein in seinem Kommentar zu diesem Text: »In dieser Miniatur wird nie zitiert. In Parataxis dagegen werden gerade aus ›Patmos‹ mehrmals mehrere parataktische Folgen wörtlich vorgelegt. Die frühere Betrachtung ist eigentlich ein Geheimtip. Erst als entfaltete wird sie ganz verständlich werden.« In: Bernard/Raulff (wie Anm. 2), S. 115–117, hier S. 116. Es handelt sich um die Gedichte Litanei und Entrückung. Siehe dazu auch Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik. Köln; Wien 2005, S. 202–206.
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sind: »Gemäß seiner Vorstellung von musikalischer Prosa richtet sich Schönberg mehr nach der Syntax und den Sinnakzenten der Gedichte als nach ihren Verszeilen und ihrem Versmaß. Er löst Georges streng gekoppelte Verse in freie Prosa auf«24. Adorno geht es also darum, diese »gemischten« Formen nicht bloß um ihres Zwitterwesens willen zu preisen bzw. abzulehnen (wie es der ›technische Blick‹ Georges tut), sondern ihre Hybridität durch ihre historische Entwicklung hindurch zu begreifen. Wichtig ist nämlich, dass er beide Begriffe (›freie Rhythmen‹ und ›musikalische Prosa‹) dialektisch versteht, wenn er sie als »strenge Negation des Strengsten«, als historisch bedingte Aufhebung des »Pathos des Metrons«, der metrisch-rhythmischen Regelmäßigkeit, auffasst. Dies führt dann wiederum auf das für ihn aktuelle und dringende Problem der Sprache und deren janusköpfiges Schwanken zwischen Bezeichnung/Mitteilung/Urteil und Mimesis/Ausdruck, das auch in Zur Moral des Denkens zentral war und später zu einem der Kernprobleme der Ästhetischen Theorie werden sollte. Die paradoxe Figur des »drinnen und draußen«, durch die Allegorie Münchhausens verdichtet, entspricht hier dem Gegensatzpaar Nähe/Distanz bzw. Vertrautheit/Fremdheit, welches das Bild der Trümmer symbolisiert und gleichzeitig mit dem historischen Aspekt verbindet, mit der Tatsache also, dass in den freien Rhythmen bloß Restbestände der antiken Strophen übrig geblieben sind.25 Diese Metapher, die seit dem 18. Jahrhundert und seinem Kult der Ruine geläufig ist und in der Romantik besonders häufig vorkommt, ist an sich nicht überraschend. Sie gewinnt jedoch einen besonderen Stellenwert, wenn man sie in den Spannungsbogen zwischen historischer Distanz und dem Problem der Diskontinuität in der modernen Kunst setzt. Es ist auffällig, dass Walter Benjamin häufig dieselbe Metapher für seinen Begriff der Allegorie im Gegensatz zum Symbol verwendet, etwa im Trauerspiel-Buch, in einem als Ruine betitelten Unterkapitel: »Damit bekennt die Allegorie sich jenseits von Schönheit. Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge«26; oder später, mit Bezug auf Baudelaire und die moderne Dichtung, im Passagen-Werk: 24 Scott 2007 (wie Anm. 21), S. 105. 25 In der Ästhetischen Theorie wird Adorno dieselbe Doppelbewegung des Geistes auf der künstlerischen Ebene zeigen, nämlich in der Entmythologisierung (der Schauer wird im Kunstwerk durch Objektivierung überwunden) und gleichzeitiger Aufbewahrung und Rettung des Mythos durch Übertragung in die Imagination: »[…] die geschichtliche Bahn von Kunst als Vergeistigung ist eine der Kritik am Mythos sowohl wie eine zu seiner Rettung« (GS, Bd. 7, S. 180). Daraus erklärt sich die Divergenz von Konstruktivem und Mimetischem in der Kunst. 26 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. ²1991. Bd. I.1, S. 353 f. Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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Die Allegorie sieht das Dasein im Zeichen der Zerbrochenheit und der Trümmer stehen wie die Kunst. Das l’art pour l’art errichtet das Reich der Kunst außerhalb des profanen Daseins. Beiden ist der Verzicht auf die Idee der harmonischen Totalität gemeinsam, in der Kunst und profanes Dasein einander nach der Lehre sowohl des deutschen Idealismus wie des französischen Eklektizismus durchdringen […].27
In Benjamins Theorie der Allegorie, von der Adorno maßgeblich geprägt wurde, ist das Problem der Distanz entscheidend. Während das Symbol, in der bekannten Formulierung Goethes, unmittelbare Anwesenheit der Idee ist, bedeutet Allegorie Repräsentation. Das Symbol drückt in seiner metonymischen Struktur die Identität von Besonderem und Allgemeinem aus, während die Allegorie ihre Differenz markiert und deswegen von Benjamin für die moderne Kunst und ihren »Verzicht auf die Idee der harmonischen Totalität« in Anspruch genommen wird.28 Für Adorno ist das Problem des Verlusts der harmonischen Totalität in der Kunst nicht nur zentral, sondern es wird auch zum Programm erhoben und begründet sein Plädoyer für die avantgardistische und ›gebrochene‹ Kunst. Im Unterschied zu Benjamin macht Adorno jedoch aus einer Unmöglichkeit eine Art intellektuell-moralisches Verbot, ähnlich wie die Identität von Subjekt und Objekt im Aphorismus Nr. 46, die nicht nur nicht mehr gegeben ist, sondern die der Denker sich nicht mehr vorgeben darf. Auch auf der ästhetisch-theoretischen Ebene kreisen Adornos Überlegungen um die Doppeldeutigkeit von Nicht-können und Nicht-dürfen. Wie im Hölderlin-Aufsatz Parataxis liegt für ihn das kritische Potential von Kunst nicht in der ›Aussage‹, sondern im formalen Umbruch. Die Frage wurde in ihrer Dringlichkeit von der berühmten AuschwitzDebatte ausgelöst, von Adornos umstrittenem Diktum über die Unmöglichkeit der Dichtung nach Auschwitz29 und dessen partieller Revision etwa im späteren Aufsatz Engagement: 27 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 26), Bd. V.1, S. 416. 28 Zum Allegorie-Begriff Benjamins siehe u. a. Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt/M. 1980, S. 95–178; sowie Bettine Menke: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Benjamin. München 1991, S. 161–238. 29 Siehe Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft [1951]. In: ders.: Prismen. GS, Bd. 10.1, S. 11–30, hier S. 30. In seinen Celan-Studien wird Peter Szondi später betonen, dass die Spuren, welche die Opfer hinterlassen, die Möglichkeit und sogar die Verpflichtung und Notwendigkeit der Dichtung über Auschwitz bieten. Für Szondi stellt das Gedicht Engführung den Gegenbeweis zu Adornos Diktum dar, und er fügt hinzu: »Adorno, der seit Jahren einen längeren Essay über Celan schreiben wollte, […] war sich wohl bewusst, welchen Missverständnissen seine These ausgesetzt und dass sie vielleicht falsch war. Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz« (Peter Szondi: Celan-Studien. Frankfurt/M. 1972, S. 102 f.).
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Aber jenes Leiden, […] erheischt auch die Fortdauer von Kunst, die es verbietet. […] Die bedeutendsten Künstler der Epoche sind dem gefolgt. Der kompromißlose Radikalismus ihrer Werke, gerade die als formalistisch verfemten Momente, verleiht ihnen die schreckhafte Kraft, welche hilflosen Gedichten auf die Opfer abgeht.30
Angesichts des Unheils darf eine formale Harmonie, die auf eine falsche Versöhnung mit dem Geschehenen verweist, nicht fingiert werden. Allein die formalen Dissonanzen und Brüche sind dazu in der Lage, eine Sphäre des Utopischen zu eröffnen und gleichzeitig deren Umsetzung in der Jetztzeit zu verweigern. Die Sackgasse zeigt den Ausweg im Moment des Versagens. Im Aphorismus Nr. 46 beeinträchtigte die verlorene Identität von Subjekt und Objekt die Dialektik in ihren glatten Übergängen vom Besonderen zum Allgemeinen und zwang sie zum Stillstand, aber gleichzeitig wurde genau diese Aporie programmatisch und die an sich unproduktive Doppelbewegung des Sich-Versenkens und Zurückholens gerade erst produktiv. In diesem zweiten Text aus den Minima Moralia prägt genau dieselbe Schwellenfigur, diese Unentscheidbarkeit zwischen Vers und Prosa, die sich in den freien Rhythmen ausdrückt, den ganzen Text und erlaubt Adorno, den Blick von einer ästhetischen und kunsthistorischen Ebene (dem »bewußte[n] Verfahren« der Arbeit am künstlerischen Material) zu einer sprach- und kulturtheoretischen Ebene (»Sprache überhaupt in ihrer bewußtlosen Geschichte«) zu erweitern. Es geht darum, der säkularisierten und technifizierten Sprache (die uns so lügenhaft nah und vertraut vorkommt) durch Brüche und Verschiebungen zu ihrem Ausdruck zu verhelfen. Die durchgearbeitete Prosa als »System freier Rhythmen«, die das »Pathos des Metrons« gegen dessen eigenen Anspruch wenden, entspricht dem dialektischen Fortgang der Sprache in ihrem Versuch, sich selbst im Laufe der Entmythologisierung und Säkularisierung nicht zu zerstören und der rein tautologischen und instrumentellen Vernunft nicht zu verfallen. Berühmte Seiten aus dem Odysseus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung, die wenige Jahre vor diesem Aphorismus geschrieben wurde, bringen das Problem der Entwicklung der instrumentellen Vernunft und der logischen, bezeichnenden Sprache in einen Zusammenhang mit dem Schwanengesang der Poesie: Das Epos schweigt darüber, was den Sängerinnen widerfährt, nachdem das Schiff entschwunden ist. In der Tragödie aber müßte es ihre letzte Stunde gewesen sein, wie die der Sphinx es war, als Ödipus das Rätsel löste, ihr Gebot erfüllend und damit sie stürzend. […] Seit der glücklich-mißglückten Begegnung des Odysseus mit den Si30 Theodor W. Adorno: Engagement [1962]. In: ders.: Noten zur Literatur. GS, Bd. 11, S. 409–430, hier S. 423. Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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renen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch zugleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt. Mit der Auflösung des Vertrags durch dessen wörtliche Befolgung ändert sich der geschichtliche Standort der Sprache: sie beginnt in Bezeichnung überzugehen. […] Aus dem Formalismus der mythischen Namen und Satzungen […] tritt der Nominalismus hervor, der Prototyp bürgerlichen Denkens. […] Solche Anpassung ans Tote durch die Sprache enthält das Schema der modernen Mathematik.31
Hier begegnen wir einer weiteren typischen Denkfigur Adornos, derjenigen der Überwindung durch Erfüllung. Der technisch ausgerüstete Held betrügt und zerstört den Mythos, indem er gleichzeitig dessen archaische Macht anerkennt und ehrt. Er erfüllt den mythischen Vertrag und entkommt ihm, wie einem Gesetz, durch einen Trick, ähnlich dem Trick des MünchhausenKulturphilosophen, der sich »aus den Sachen zieht« (sie also kritisiert), indem er gleichzeitig in ihnen bleibt, sie aus der Nähe und im Detail betrachtet und sich durch sie kontaminieren lässt; und ähnlich dem Trick jedes heutigen Prosaschriftstellers, der in der entweihten Sprache der Kommunikation schwimmt und sich gleichzeitig immer wieder herausfischen muss, indem er den Gesang der Sirenen noch einmal vernimmt und nicht ganz in Vergessenheit geraten lässt. Gemeint ist hier also eine Bewegung von der »geweihten Lüge« der kommunikativen Sprache, die eigentlich nur Entweihung der instrumentellen Vernunft bedeutet, zur mythischen Lüge zurück, also exakt das Gegenteil von Odysseus’ Bewegung. Es geht aber nicht darum, zu den ›Müttern‹ zurückzukehren und in die Sprache des Mythos zurückzufallen. Das ist das Risiko sowohl eines ›mystischen‹ Zugangs zur Sprache (den Adorno eben nicht intendiert) als auch seines Gegenteils, nämlich einer entmythologisierten und technifizierten Sprache, weil sie als Instrument einer herrschsüchtigen und instrumentellen Vernunft zusammen mit dieser in Mythos zurückschlägt. Genau wie Naivität und Unnaivität im anderen Text auf dasselbe hinauslaufen, so in diesem Text prosaisch-logische und rein sakralarchaische Sprache. So lässt sich der Gegensatz zwischen ›heiligem‹ Text und ›sakralem‹ Element erhellen, der am Schluss angedeutet wird. Das Sakrale kann nämlich als Rituell-Magisches verstanden werden, dem die mythische Macht des Verses als archaische Wiederholung von Formeln zum Zweck der Beschwichtigung der Götter zugeordnet ist; aber es kann auch als institutionalisiert-heilig gedeutet werden, also als die »geweihte Lüge« der herrschenden Vernunft. Für Adorno gilt es, keiner dieser beiden Formen zu verfallen. 31 Theodor W. Adorno; Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947]. In: Adorno: GS, Bd. 3, S. 78 f.
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Man kann an dieser Stelle versuchen, das Wort ›Gesang‹ des Schlusses mit dem ›deutschen Gesang‹ aus der Patmos-Hymne im Titel über die HölderlinReferenz hinaus in Verbindung zu setzen. In diesem Text spielen, wie oben gezeigt, mehrere versteckte Querverweise auf musikhistorische und musiktheoretische Probleme eine Rolle. Vielleicht denkt Adorno beim »deutschen Gesang« an ein Werk, das in diesem Kontext eine besondere Rolle spielen könnte, nämlich Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms. Dafür spricht Einiges: Erstens ist Brahms der Musiker, dem Schönberg den oben erwähnten Aufsatz widmet (Brahms der Progressive), in dem es auch um die Frage der ›musikalischen Prosa‹ geht – einen Text, der die Wiederaufwertung Brahms’ im 20. Jahrhundert angebahnt hat. Die Merkmale, die Schönberg an Brahms hervorhebt, sind nicht nur für den Musiksoziologen Adorno wichtig, sondern sie scheinen mir auch für dessen Schreibideal, vor allem in den Minima Moralia, zu gelten. Brahms ist für Schönberg zunächst für seine melodisch-motivischen Neuerungen, vor allem für das kompositorische Prinzip der ›entwickelnden Variation‹ von Themen und Motiven, von enormer Bedeutung. Außerdem beobachtet Schönberg, wie Brahms aus den kleinsten melodischen Keimzellen heraus komponiert hat. Von diesem Verfahren hingen einige Prinzipien der Zwölftonmusik ab, für die Adorno nicht umsonst die Bezeichnungen ›Konfiguration‹ und ›Konstellation‹ verwendet. Im Gegensatz zu den ›formallogischen‹, subsumierenden Regeln der Tonalität versucht die Dodekaphonie, alle Töne gleichzusetzen und sie durch ›Reihen‹ aufeinander zu beziehen. In der Philosophie der neuen Musik befindet sich ein Satz, der von der Zwölftonmusik dasselbe behauptet wie vom idealen philosophischen Text32: »In allen ihren Momenten ist eine solche Musik gleich nahe zum Mittelpunkt«.33 Zweitens ist der Text von Brahms’ Requiem nicht Latein, sondern Deutsch. Die Neuerung besteht hier jedoch nicht so sehr in der Wahl der deutschen Sprache für den heiligen Text, sondern vor allem darin, dass Brahms’ Textauswahl Stellen aus dem Alten und dem Neuen Testament sowie aus den apokryphen Evangelien umfasst. Der standardisierte Requiem-Text wird also nicht über-, sondern ersetzt und der religiöse Gesang wird ebenso zum hermeneutischen und dialogischen Akt, wie die ›deutsche‹ Dichtung in Patmos den ›festen Buchstaben‹ der heiligen Schrift erneuern soll. Ein deutsches Requiem stellt damit einen Bruch innerhalb der kirchenmusikalischen Tradition dar und ist konfessions-, jedoch nicht religionslos. Der sakrale Charakter der Musik bleibt in der unmittelbaren Wucht der bi32 Vgl. MM 44, S. 79. 33 Adorno: GS, Bd. 12, S. 61. Siehe dazu auch García-Düttmann 2004 (wie Anm. 8), S. 42 f. und Anm. 12. Theodor W. Adorno: Minima Moralia
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blischen Zitate erhalten, ohne dem institutionalisiert ›Heiligen‹ zu verfallen, wie Prosa heute der »geweihten Lüge« nicht verfallen soll. Das Streben zum »heilige[n] Text« bedeutet für Adorno den Versuch, eine utopische Aussicht als unerfüllbares »Versprechen der Erlösung« beizubehalten, d. h. »alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten«, um den berühmten letzten Text der Minima Moralia anzuführen, in dem es weiter heißt: Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat.34
Ein unverkennbares Echo aus den geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins (vor allem aus der XVII.) verbindet sich hier mit der Korrektur der Hegel’schen Dialektik durch die ›vollendete Negativität‹, durch ein Denken, das, wie es später heißen wird, »solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«35 ist. Es drängt sich wieder der Grundgedanke auf, um den sich Adornos Schriften immer wieder drehen: die unlösbare Frage nach dem ›Standort‹ (»Standpunkt« hieß es in MM 46, S. 83) der Erkenntnis, die auch mit der Frage nach der ›wahren‹ Sprache und nach einem anderen Schreiben gekoppelt ist. Das Motiv der Schwelle, der Unentscheidbarkeit ist eine Konstante von Adornos Denken, die dessen aporetischen und gleichzeitig utopischen Charakter ausmacht. In den Minima Moralia wird sie zu einem Schreibexperiment, das die späteren Überlegungen in der Negativen Dialektik und in der Ästhetischen Theorie theoretisch einzuholen und zu untermauern versuchen werden. Die dialektische und hypotaktische Darstellungsweise unterhöhlt immer wieder eine entgegengesetzte, prozessuale Schreibintention, die durch die mikrologische Betrachtung sowie die Aneinanderreihung und Verdichtung von Details angetrieben wird. Solche Verschiebungen und Brüche, die zu einem Schreiben der Distanz und des Werdens statt der Identität und des 34 MM 153, S. 283. 35 Adorno: Negative Dialektik (wie Anm. 9), S. 400.
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Seins beitragen wollen, werden auch von der Anlage des aphoristischen Werkes selbst nahe gelegt, nämlich durch die serielle Komposition der Stücke und durch die Lücken, die zwischen Titel und Text entstehen. Adornos ›SchriftUtopie‹ in den Minima Moralia wird zu einem Schreibakt der wiederholten Suspension zwischen der Dialektik als Motor des Denkens und den Konstellationen als tragendem Gerüst des Werkes, zu einer Gratwanderung zwischen der Vertikalen der logisch-dialektischen Stringenz, die immer wieder in Aporien mündet, und der horizontalen Konfiguration der Fragmente, die sich prozessual ansammeln in einer potenziell unendlichen Projektion.
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Die Außenseiter sind die Lehrer Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
In seinen Minima Moralia formuliert Theodor W. Adorno unter der Überschrift Zwergobst den Aphorismus: »In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden.«1 Der Philosoph kehrte, trotz allem, was in Deutschland seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten geschehen war, nach 1945 mit Max Horkheimer dorthin zurück, um das Institut für Sozialforschung nach vielen Jahren im amerikanischen Exil in Frankfurt am Main weiterzuführen.2 Heimisch geworden war Adorno in Amerika nicht. Im Gegenteil: Seine Idiosynkrasien gegenüber den USA hielten zeit seines Lebens an. Leo Löwenthal dagegen war nach 1945 in den Vereinigten Staaten geblieben und dort noch mit 56 Jahren Ordinarius an der Universität in Berkeley geworden. Auch er äußerte, in einem Gespräch mit Mathias Greffrath, eine Sehnsucht nach Europa, indem er das Bekenntnis formulierte, er wäre wohl nicht glücklich, würde er nicht möglichst oft nach Europa zurückkehren, weil er »sehr viel wieder gewinne«, wenn er »wie Antäus den Boden hier berühre«. Auch Löwenthal ironisiert dieses Heimweh mit kulinarischen Reminiszenzen: »Ob es ein gutes Eisbein oder ein gutes Glas Wein ist, oder Begegnungen mit europäischen Intellektuellen – es ist schon notwendig.«3 In der Grundsatzentscheidung über die Rückkehr nach Europa oder den Verbleib in Amerika wie auch in der Ähnlichkeit der humorvollen Äußerungen über die eigene Nostalgie und das eigene Heimweh spiegelt sich viel 1 Theodor W. Adorno: Zwergobst. In: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1988, S. 55–57, hier S. 56. 2 Vgl. Monika Boll; Raphael Gross (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Göttingen 2009. 3 Leo Löwenthal: Gespräch mit Mathias Greffrath. »Wir haben im Leben nie diesen Ruhm erwartet«. In: ders.: Schriften. Hg. v. Helmut Dubiel. Bd. 4. Frankfurt/M. 1984 [künftig zitiert: Schriften 4], S. 299–326, hier S. 320. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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von der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Adorno und Löwenthal wider. Die Spannung zwischen beiden war für das Profil der Kritischen Theorie wichtig. Viele Texte und Bücher beider Philosophen sind aus gemeinsamen Diskussionen hervorgegangen, eine Tatsache, die Löwenthal später stärker hervorhob als Adorno. Das gilt sowohl für die 1932 im Auftrag des Frankfurter Instituts noch kurz vor der US-Emigration von Löwenthal mit inaugurierte Zeitschrift für Sozialforschung und viele der darin publizierten Aufsätze als auch für Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, an deren Thesen zum Antisemitismus Löwenthal mitgearbeitet hat.4 ›Kritische Theorie‹ bedeutet für Löwenthal in diesem Umkreis die Einnahme einer Perspektive, »die sich aus einer gemeinsamen kritischen Grundgesinnung auf alle kulturellen Phänomene ausdehnt, ohne jemals den Anspruch eines Systems« zu erheben.5 Pointiert ließe sich formulieren, dass nicht obwohl, sondern weil der Freischütz in Deutschland den Ton angab, auch die Zeitschrift für Sozialforschung in den späten 1930er Jahren in New York zumindest teilweise sogar weiter in deutscher Sprache herausgegeben wurde: Der achte und der neunte Jahrgang erschienen 1939 bis 1941 unter dem Titel Studies in Philosophy and Social Science; einzelne Beiträge darin wurden auf Deutsch publiziert, wenn auch die meisten nunmehr auf Englisch. Der Bezug auf die deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts blieb jedoch nicht nur für die Kritische Theorie insgesamt, sondern gerade auch für Leo Löwenthals literatursoziologischen Ansatz zentral, selbst in jenen Untersuchungen zur europäischen Literaturgeschichte, die Miguel de Cervantes, William Shakespeare, Fjodor Dostojewski, Henrik Ibsen oder Knut Hamsun gewidmet waren. In Löwenthals Porträt-Sammlung Judentum und deutscher Geist, einer Zusammenstellung von Zeitungsartikeln über Denker aus der jüdischen Geistesgeschichte, die der Verfasser bereits in den 1920er Jahren geschrieben hatte, wird deutlich, wie wichtig Heinrich Heines Beziehung zu Deutschland für Löwenthals eigenes späteres Selbstverständnis war. Schon hier interessiert Löwenthal vor allem Heines wehmütige Gebrochenheit, seine »Sehnsucht zur Heimat«, in der das jüdische »Bewusstsein der Heimatlosigkeit« immer wieder durchschlage.6 Das deutsche Gegenbild zu Heine stellt für Löwenthal Gustav Freytag dar, vor allem dessen Roman Soll und Haben (1855). Hier werde das Hohelied auf 4 Vgl. Leo Löwenthal: Adorno und seine Kritiker. In: ders.: Schriften 4, S. 59–73, hier S. 60; ders.: Erinnerung an Theodor W. Adorno. In: ebd., S. 74–87, hier S. 83. 5 Leo Löwenthal: Literatursoziologie im Rückblick. In: ders.: Schriften 4, S. 88–105, hier S. 90. 6 Leo Löwenthal: Judentum und deutscher Geist. In: ders.: Schriften 4, S. 9–56, hier S. 27.
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den bürgerlichen Profit gesungen; der Liberalismus sei dem Nationalismus gewichen, der durch den Autor als Garant des sozialen Zusammenhalts zu einer Ideologie stilisiert werde, in welcher der Außenseiter in der paradigmatischen Gegen-Gestalt ›des Juden‹ offen antisemitisch bekämpft werde.7 Aufschlussreich ist für Löwenthal hieran nicht zuletzt die Tatsache, dass bei Freytag die um 1850 beginnende Solidarisierung des Proletariats ignoriert wird. Bereits hier setze eine Verklärung der kapitalistischen Realität ein, mit der dem Tüchtigen vorgegaukelt werde, ihm gehöre die Welt, solange er nur fleißig und ordentlich im Handelskontor Buch führe und pünktlich zur Arbeit erscheine, ohne sich im Alltag mit verführerischen Adelstöchtern, Polen oder gar Juden einzulassen. Man findet diese Kritik an den ökonomischen Verhältnissen als eine grundlegende Denkfigur bei Löwenthal immer wieder: Der zu sich selbst gekommene Markt wird von ihm anhand seiner literarischen Abbilder durch die Zeiten hindurch als Gaukelspiel hinterfragt, das seine Barbarei hinter prunkenden, gut gefüllten Warenlagern verbirgt und vorspiegelt, der Einzelne könne jederzeit sein Glück machen, sofern er nur heiter mitarbeite und fleißig seine Aufgaben erledige. So konnte sich Löwenthal im Exil zunehmend der kritischen, empirischen und soziologischen Erforschung der Rezeption von literarischen Erzeugnissen der amerikanischen Unterhaltungs- und Massenkultur zuwenden, deren Ergebnisse Adorno zu so apodiktischen Feststellungen wie der folgenden aus den Minima Moralia inspirierten: Fortschritt und Barbarei sind heute als Massenkultur so verfilzt, daß einzig barbarische Askese gegen diese und den Fortschritt der Mittel das Unbarbarische wieder herzustellen vermöchte. Kein Kunstwerk, kein Gedanke hat eine Chance zu überleben, dem nicht die Absage an den falschen Reichtum und die erstklassige Produktion, an Farbenfilm und Fernsehen, an Millionärsmagazine und Toscanini innewohnte.8
Dass die perspektivische Besonderheit des Außenseitertums oder auch des lebenslangen Exils, das eine solche prononcierte intellektuelle Skepsis gegenüber den Hervorbringungen der Kulturindustrie impliziert, in der Utopie eines immer noch möglichen ›Besseren‹ in der Kunst in der jüdischen Geistes- und Ideengeschichte häufig wiederkehrt, wird auch in Löwenthals Heine-Aufsatz formuliert, in dem er hervorhebt, wie sehr das Judentum bereits für Heine als ein »Symbol der Befreiung« gegolten habe.9 Löwenthal selbst räumt 1982 in seinem Vortrag Zum Andenken Walter Benjamins ein: 7 Leo Löwenthal: Studien zum deutschen Roman des 19. Jahrhunderts. In: ders.: Schriften. Hg. v. Helmut Dubiel. Bd. 2. Frankfurt/M. 1981 [künftig zitiert: Schriften 2], S. 349–363. 8 Theodor W. Adorno: Pro domo nostra. In: ders. 1988 (wie Anm. 1), S. 57 f., hier S. 58. 9 Leo Löwenthal: Judentum und deutscher Geist. In: ders.: Schriften 4, S. 9–56, hier S. 29. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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Das utopisch-messianische Motiv, das tief in jüdischer Metaphysik und Mystik begründet ist, hat für Benjamin und sicher auch für Ernst Bloch oder Herbert Marcuse wie auch für mich eine bedeutende Rolle gespielt. […] Das Moment des vielleicht Unerreichbaren, des Unnennbaren, das aber die messianische Hoffnung auf Erfüllung enthält, diese Vorstellung ist sehr wohl jüdisch, ist bestimmt ein Moment in meinem Denken und war es wohl auch für meine Freunde […].10
Daraus folgte ein Selbstverständnis, aus dem heraus Löwenthal gerade mittels der eigenen Außenseiterposition zu wesentlichen Erkenntnissen über die Gesellschaften zu gelangen versuchte, in denen er lebte: »Wir waren bewusst am Rande der etablierten Macht. Noch immer […] ist mir in meiner eigenen Arbeit und vielleicht in meinem Lebensgefühl die Position am Rande, die Marginalität, die wichtigste Kategorie«, stellt er zu Beginn der 1980er Jahre fest.11 Trotz seiner wichtigen Stellung im Institut für Sozialforschung, in dem Löwenthal schon seit 1926 arbeitete, während Adorno erst ab 1938 in den Vereinigten Staaten zum festen Mitarbeiterstab zählte12, wurden seine Arbeiten in den wissenschaftlichen Diskussionen um die Kritische Theorie bislang weniger beachtet, als es ihrer zeitgenössischen Bedeutung entspricht.13 Auch die Veröffentlichung seiner Schriften in einer fünf Bände umfassenden Werkausgabe im Suhrkamp Verlag zu Beginn der 1980er Jahre konnte daran nichts ändern. Im Folgenden werden Löwenthals wichtigste literatursoziologische Untersuchungen und Denkansätze kurz vorgestellt, wobei ihre ideengeschichtliche Wirkung und auch ihre heutige Anschlussfähigkeit zumindest ansatzweise mit berücksichtigt werden sollen, um zu unterstreichen, dass diese Vernachlässigung weniger denn je gerechtfertigt ist.14 10 Leo Löwenthal: Zum Andenken Walter Benjamins. In: ders.: Schriften 4, S. 121–135, hier S. 133 f. 11 Löwenthal: Literatursoziologie im Rückblick (wie Anm. 5), S. 91. 12 Vgl. Udo Göttlich: Kritik der Medien. Reflexionsstufen kritisch-materialistischer Medientheorien. Aachen 1996, S. 79 f. 13 Ebd., S. 79 f. 14 Dieser Gedanke erscheint vielleicht im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der literaturwissenschaftlichen Theoriediskussion nicht gerade zwingend – wurde doch das Forschungsprogramm einer Sozialgeschichte der Literatur »in Hinblick auf fehlende Aussagen zur Theorie der Textinterpretation und zum Problem der ›Individualität‹ des literarischen Werks sowie wegen der unzulänglichen Umsetzung komplexer Modelle zum Verknüpfen von Literatur- und Gesellschaftsgeschichte in der Praxis der Literaturgeschichtsschreibung« in den letzten Jahrzehnten stark kritisiert (Jörg Schönert: Sozialgeschichte. In: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Berlin; New York 2007, S. 454–458, hier S. 456). Schönert weist allerdings auch darauf hin, dass seit der Phase zu Beginn der 1990er Jahre, in der Literatursoziologie als »erschöpft« galt, sich mittlerweile wieder »Vorschläge zu einer Erneuerung« mehrten (ebd., S. 457). Litera-
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I. Um Löwenthals Lebenswerk und den Sinn seiner ideologiekritischen Forschungen zu erfassen, sollte man zunächst von seiner Definition der Kunst ausgehen, durch die er sie von den trivialen Hervorbringungen der Massenkultur unterscheidet. Löwenthal stimmt Adornos Diagnose einer Defensivposition der Kunst im kapitalistischen Zeitalter prinzipiell zu. Er nennt die »Technik esoterischer Kommunikation« eine »Schutzwaffe der Integrität des Künstlers« und zählt die Namen Franz Kafka, James Joyce und Marcel Proust auf, deren jeweiliges Werk in gewisser Weise ›unverständlich‹ sei, wobei aber gerade diese ›Unverständlichkeit‹ ihr genuines Ziel ausmache.15 Die besten Kunstwerke sind Löwenthal zufolge diejenigen, die Randfiguren als Protestierende gegen die bestehende Ordnung ins Zentrum rücken: Kunst ist wirklich die Botschaft der Spannung, des gesellschaftlich nicht Erlösten, Kunst ist in der Tat das große Reservoir des geformten Protestes gegen das gesellschaftliche Unglück, der die Möglichkeit des gesellschaftlichen Glücks durchschimmern läßt. […] Im Kunstwerk artikuliert sich die Stimme der Verlierer im Weltprozeß, die hoffentlich einmal die Sieger sein werden. In dieser theoretischen Verknüpfung von Ästhetik und Politik ist eine wesentliche Erlösungsphilosophie am Werke. Dagegen wird in der Massenkultur nie etwas erlöst, da bleibt immer alles beim alten, weil es auch so sein soll. Bei Hamsun zum Beispiel sind selbst die Randfiguren Schweinehunde, da gibt es überhaupt kein Erlösungsphänomen, da wird nirgends angekündigt, daß es auch anders sein könnte und müßte. Und das ist für mich ein Prüfstein gewesen zu unterscheiden, was ein echtes Kunstwerk ist und was nicht.16
Damit liefert Löwenthal ein nicht nur für die Literatur nach wie vor erhellend wirkendes Bewertungskriterium. Vielmehr lässt es sich heute auch auf die Hervorbringungen von Massenmedien wie dem des Fernsehens anwenden. Der Kulturjournalist Georg Seeßlen etwa hat diese Manifestationen heutiger Massenkultur, wie sie in »Reality TV«-Formaten das Bewusstsein der Publikumsmehrheit in zunehmendem Maß bestimmen, im Grunde (aber ohne turtheoretische Differenzierungen, wie sie in der heutigen Debatte Standard sind, sind bei Löwenthal jedoch kaum zu finden. Es geht daher im Folgenden hauptsächlich um eine wissenschaftshistorische Einordnung seiner Schriften. Um Löwenthals Thesen verständlicher zu machen, sollen dabei jedoch mögliche kulturwissenschaftliche Anwendungen seiner Thesen auf aktuelle mediale Gesellschaftsphänomene zumindest angedeutet werden. 15 Leo Löwenthal: »Mitmachen wollte ich nie«. Gespräch mit Helmut Dubiel. In: ders.: Schriften 4, S. 271–298, hier S. 288. 16 Ebd., S. 284 f. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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seinen Namen zu erwähnen) im Anschluss an Leo Löwenthals Kritik kommentiert, die dieser bereits in den 1940er Jahren mit Blick auf die Schwemme populärer Biographien formulierte – in einem Beitrag, der im III. Kapitel des vorliegenden Aufsatzes genauer vorgestellt werden soll. In einem Essay über den Begriff des Eskapismus skizziert Seeßlen den grundlegenden Widerspruch dessen, was uns heute dominierende Narrative individueller Selbstverwirklichung immer wieder vorzugaukeln versuchen: Alle Fluchträume, die wir kennen, scheinen zugleich einen Abstand von der realen Gesellschaft zu versprechen und den Flüchtenden nur umso mehr, aber nun auf andere Art, an sie zu binden: Durch den Eskapismus wurde aus dem tätigen – auch »mitschuldigen« – Mitglied der Gesellschaft ein in ihr aufgelöstes Wesen, und die Flucht endet in nichts anderem als der »Verstellung«. Wer sich der Gesellschaft entzogen hat, als Outlaw oder als Extrembergsteiger, wird von ihr nur umso entschiedener »umarmt«.17
Was insbesondere in TV-Sendungen jüngeren Datums durchgeführt wird, ist nichts anderes als eine solche Propaganda alltäglicher Unterwerfungen des Zuschauers unter das Diktat möglichst perfekter Anpassungen an bestehende normative Diskurse des Konsumverhaltens bzw. von rigiden Körperidealen und von bestimmten modischen Persönlichkeitsmerkmalen. Seit vielen Jahren häufen sich Inszenierungen wie die von Fernsehkameras begleiteter medizinischer Schönheitsoperationen. Dies sind jedoch nur besonders frappierende Varianten einer ganzen Serie von Sendeformaten, welche die soziale Selbstentblößung ›abweichender‹ Individuen ausstellen – wie etwa in der notorischen nachmittäglichen Krawall-Talkshow, der geradezu militärisch anmutenden Model-Contest-Show oder den auf die Imitation stupider vorgegebener musikalischer Muster zielender Gesangswettbewerben wie »Deutschland sucht den Superstar«. Im Vergleich zur Kritik Löwenthals am Genre der Populärbiographien der 1940er Jahre nehmen sich diese heutigen massenkulturellen Moden kaum besser aus: Man solle nicht auf andere achten, sondern nur an sich selbst denken, lautet die egoistische Devise – und genau hinter dieser Form von Narzissmus verbirgt sich paradoxerweise eine Form der Negierung des Individuums, die Forderung eines möglichst vollständigen Aufgehens in einem affirmativen ideologischen System, welches das Subjekt primär nach einer Skala der Konsumbereitschaft bewertet: »Wer sich im Verlauf einer
17 Georg Seeßlen: Halbleichen im Keller. In: OPAK #07, November 2010 – Januar 2011, S. 10– 15, hier S. 14.
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Coachingshow nicht zum professionellen Darsteller von Leiden und Inkompetenz verwandelt, nicht vollständig zurücksinken kann in die Konsumentenrolle, muß an ihr krank werden«, schreibt Seeßlen. »Die Wiederkehr des Immergleichen« sei hier »die Bestätigung einer Geschichtslosigkeit«, stellt er fest, als wolle er Löwenthals Diagnose der prinzipiell konservativen bzw. restaurativen Massenkultur zitieren.18 Das Leben wird in den heutigen Medien vielleicht sogar noch radikaler denn je zu einem einzigen Contest umgemodelt, hinter jedem dieser Wettbewerbe winkt das falsche Versprechen, jeder der Teilnehmer könne es schaffen, als Gewinner daraus hervorzugehen – während es am Ende de facto nur noch Verlierer gibt, die ihr Los im neoliberalen ›Hamsterrad‹ akzeptiert haben. Löwenthal betont in seiner an literarischen Werken exemplifizierten Gesellschaftskritik, dass das hohe Maß an schöpferischer Kraft, das diejenigen Kunstwerke bestimme, die den Anforderungen des Mainstreams ihrer Zeit nicht folgten, diese geradezu prädestiniere, als besonders ausdrucksstarke Quellen für eine soziologische Analyse herangezogen zu werden. In diesen Ausnahmewerken, so Löwenthals prägnante Formulierung, stelle der Künstler letztlich dar, was »wirklicher ist als die Wirklichkeit selbst«19: In jeder Gesellschaft werden Menschen geboren, streben, lieben, leiden und sterben; entscheidend ist aber die Darstellung, wie sie auf diese allgemeinen menschlichen Erfahrungen reagieren, da ihre Reaktion fast ausnahmslos durch den gesellschaftlichen Zusammenhang bestimmt wird. Eben deswegen, weil große Literatur den ganzen Menschen in seiner Tiefe erfaßt, tendiert der Künstler stets mehr dazu, die Gesellschaft zu rechtfertigen oder herauszufordern, als ihr passiver Chronist zu sein.20
Für vergangene Epochen sei die Literatur daher »häufig die einzige verfügbare Quelle, aus der wir Kenntnisse über private Sitten und Gebräuche entnehmen können«.21 Das erklärte Ziel Löwenthals war es deswegen zeitlebens, in dieser Literatur mit Hilfe marxistischer und psychologischer Analysekriterien den Verfallsprozess des bürgerlichen Bewusstseins ideologiekritisch zu untersuchen, eines Niedergangs, dessen allgemeine Auswirkungen in den 18 Georg Seeßlen: Weniger Brot, mehr Spiele! Dritter und letzter Teil einer Passage durch ein Segment des Reality-TV: Der Angriff der Affekt-Vampire. In: Konkret 9/2008, S. 58–60, hier S. 58 f. 19 Leo Löwenthal: Das bürgerliche Bewußtsein in der Literatur. In: ders.: Schriften 2, S. 7. 20 Ebd., S. 12. 21 Leo Löwenthal: Aufgaben der Literatursoziologie (1948). In: ders.: Schriften. Hg. v. Helmut Dubiel. Bd. 1. Frankfurt/M. 1980 [künftig zitiert: Schriften 1], S. 328–349, hier S. 332. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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1920er und 1930er Jahren nicht mehr zu übersehen waren. Sein Ansatz war es, gewissermaßen mittels einer »Verheiratung von Marxscher Theorie und Psychoanalyse«22 Literatur auf ihr Aussagepotential über den Zustand der Gesellschaft hin zu lesen. Marxistische Literaturkritik sei »nicht nur völlig adäquat, sondern unbedingt notwendig in der Analyse der Massenkultur«, aber sie sei »mit größter Vorsicht auf die Kunst anzuwenden«: Kunst lehrt, und Massenkultur wird gelernt, und das bedeutet, daß die Soziologieanalyse der Kunst vorsichtig, supplementär und selektiv zu sein hat, während die Soziologieanalyse der Massenkultur total sein muß; denn deren Produkte sind nichts anderes als die Phänomene und Symptome des Abdankungsprozesses des Individuums der verwalteten Gesellschaft.23
Man muss sich die Radikalität dieser Selbstcharakterisierung Löwenthals als ›Neinsager‹ klar machen: »Kunst und Konsumware sind auf das strengste zu trennen«, dekretiert Löwenthal, der explizit macht, er könne »alle gegenwärtigen Versuche, die Trennungslinie zu verwischen«, nicht akzeptieren.24 Im Gespräch mit Helmut Dubiel geht Löwenthal sogar so weit, sich von Walter Benjamins Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) zu distanzieren, in der die Möglichkeit, eine Vervielfältigung und Affirmation politischer Wertungen in Literatur und Medien könne unter Umständen auch positive Verwendung finden, angedeutet wird: »Das halte ich für verkehrt. Das schlägt all unseren politischen Erfahrungen ins Gesicht.«25 In seinen Analysen geht es Löwenthal um konkrete Ergebnisse. Schon 1932, im ersten Jahrgang der Zeitschrift für Sozialforschung, wirft er der etablierten Literaturwissenschaft seiner Zeit den »Fehdehandschuh« hin26, indem er den von ihr gepflegten stilistischen Gestus metaphysischer Verzauberung und Vernebelung der untersuchten Werke anprangert.27 Gegen die Mehrheit der damaligen Literaturwissenschaftler und -historiker verteidigt Löwenthal hier bereits explizit und mit großem rhetorischem Aufwand das Instrumentarium der Psychoanalyse und des positivistischen Materialismus28 und fährt fort: 22 23 24 25 26 27
Zitiert nach Göttlich 1996 (wie Anm. 12), S. 89. Leo Löwenthal: Literatursoziologie im Rückblick. In: ders.: Schriften 4, S. 92. Ebd., S. 91. Löwenthal: Gespräch mit Helmut Dubiel. In: ders.: Schriften 4, S. 284. Ebd., S. 279. Leo Löwenthal: Zur gesellschaftlichen Lage der Literaturwissenschaft (1932). In: ders.: Schriften 1, S. 309–327. 28 Ebd., S. 314 f.
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Die Aufgabe der Literaturgeschichte ist zu einem großen Teil Ideologienforschung. Den Vorwurf, noch unentwickelte Methoden und einen zu rohen Begriffsapparat zu besitzen, kann die materialistische Geschichtstheorie ruhig hinnehmen. Sie darf demgegenüber darauf verweisen, daß sie immerhin diese Unvollkommenheit dem wissenschaftlichen Fortschritt zur Diskussion stellt und überhaupt alle ihre vermeintlichen Ergebnisse so formuliert, daß sie der Kontrolle des Wissenschaftlers wie der möglichen Veränderung durch neue Erfahrungen ausgesetzt sind und nicht sich zu Gebilden verflüchtigen, die vielleicht verzaubern und die Erkenntnis bestechen, aber nicht sich an ihr zu bewähren vermögen.29
Löwenthal geht es in seiner Literatursoziologie in letzter Konsequenz um eine politische Kritik der Tatsache, dass in Deutschland keine bürgerliche Revolution stattgefunden hat.30 Hinzu kommt das Erstarken des Nationalsozialismus zu dem Zeitpunkt, als diese Texte entstanden: »Wir spürten alle den drohenden Anmarsch Hitlers«, schreibt Löwenthal in seinem Beitrag Literatursoziologie im Rückblick (1981), in dem es weiter heißt: [Wir] hielten auch die übrige sogenannte zivilisierte Welt für beschädigt und bemühten uns, jeder nach seinen Kenntnissen und nach seiner Veranlagung, geschichtliche und zeitgenössische Probleme so zu interpretieren, daß ihr sozial regressiver oder progressiver Charakter sichtbar wurde. Wir verwarfen den Begriff einer wertfreien Wissenschaft als einen unverzeihlichen Verzicht auf die moralische Verpflichtung derjenigen, die mitten im allgemeinen Elend der Durchschnittsexistenzen das Glück hatten, ein geistiges Leben zu führen.31
Löwenthal stellt sich zunächst die Frage, ob die europäischen Schriftsteller vom 18. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dabei mitgeholfen haben könnten, die gesellschaftlichen Verhältnisse vom Niedergang des Feudalismus über den Aufstieg absolutistischer Regierungen und die Blütezeit der bürgerlichen Gesellschaft bis hin zu Nationalismus und Militarismus des Kaiserreichs und den ersten Anzeichen totalitärer Systeme zu affirmieren und zu zementieren – oder ob sie gerade umgekehrt den Versuch machten, diese Zustände zu kritisieren und zu entlarven. Henrik Ibsen etwa war für Löwenthal ein scharfer Kritiker des Bürgertums seiner Zeit. Auch Ibsen sah aus dem bürgerlichen Konkurrenzkampf nur noch Verlierer hervorgehen, wobei für ihn bezeichnenderweise die größte Außenseiterfigur des Liberalismus die Frau war. Es sei »die dialektische Ironie des literarischen Künstlers, daß diejenigen, die am wenigsten 29 Ebd., S. 320. 30 Löwenthal: Gespräch mit Helmut Dubiel. In: ders.: Schriften 4, S. 277. 31 Löwenthal: Literatursoziologie im Rückblick. In: ders.: Schriften 4, S. 88. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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dem banalbürgerlich ideologischen Begriff des Individuums genügen, das Zeichen befreiter autonomer Menschlichkeit tragen. […] Der extremste Fall, in dem die Perspektive der kritischen Theorie den kognitiven Charakter der literarisch dargestellten Randgruppen herauszuarbeiten versucht, ist der der Frau«, postuliert Löwenthal, und er zitiert in diesem Zusammenhang Ibsens Diktum: »Die moderne Gesellschaft ist keine menschliche Gesellschaft, sie ist einzig eine Gesellschaft des Mannsvolkes.«32 Aus der Perspektive der Kritischen Theorie werden Dichter für Löwenthal also dort zu unseren »Verbündeten«, wo sie zum »Sprecher des Kollektivs der Ausgestoßenen« werden, »der Armen, der Bettler, der Verbrecher, der Irrsinnigen, kurz all derer, die die Last der Gesellschaft tragen«: In der vermittelten Fantasie des Dichters, die der Realität näher kommt als unvermittelte Realität selbst, wird das Kollektiv der Menschen, die von den Profiten und Privilegien ausgeschlossen sind, als die wahre erste Natur des Menschen sichtbar. Im Kollektiv des Elends wird nicht als Verzerrung, sondern als immanente Anklage die Möglichkeit der wahren Menschlichkeit enthüllt.33
II. Eine der frühen Modellanalysen in Löwenthals Literatursoziologie ist die von Walter Benjamin besonders geschätzte Studie Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland von 1934.34 Von 1880 bis 1920 erschienen in Deutschland beinahe 800 Rezensionen zu Dostojewskis Romanen,35 die Löwenthal als Anzeichen für eine auffällige Fixierung der deutschen Literaturkritik auf den russischen Schriftsteller ideologiekritisch untersucht. Löwenthal zitiert eine Fülle von Belegen für das damit verbundene völkische Pathos und seine Stereotypen. So etwa das Klischee der ›russischen Seele‹ und des vermeintlich passiven Wesens ›der Slawen‹, die bei Dostojewski so muster32 Ebd., S. 95 f. 33 Ebd., S. 95. 34 Siehe Leo Löwenthal: Zum Andenken Walter Benjamins. In: ders.: Schriften 4, S. 124 f., hier S. 125. Löwenthal zitiert hier einen Brief Benjamins vom 1. Juli 1934, in dem dieser ihm aus Dänemark schreibt, die Studie sei für ihn »höchst ertragreich« gewesen. Daran anknüpfend stellt sich Benjamin allerdings die Frage, inwieweit die von Löwenthal skizzierte deutsche Rezeption Dostojewskis diesem gerecht geworden sei: »Für mich, der ich Dostojewski lange nicht aufschlug, sind diese Fragen zur Zeit offener, als es mir Ihnen zu sein scheint. Ich könnte mir denken, daß gerade in den Falten des Werkes, in welche Ihre psychoanalytische Betrachtung führt, Elemente sich finden, welche der kleinbürgerlichen Denkart nicht assimilierbar waren.« (Ebd.) 35 Siehe Göttlich 1996 (wie Anm. 12), S. 96.
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gültig und ›naturalistisch‹ wie noch nie zuvor dargestellt worden seien und in den einschlägigen Artikeln gerne dem des ›germanischen Tatmenschen‹ gegenüber gestellt würden. Wortführer dieser von ihm kritisierten Völkerpsychologie sind vor allem Vertreter der ›konservativen Revolution‹, besonders Arthur Moeller van den Bruck, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine weit verbreitete Werkausgabe Dostojewskis in deutscher Sprache besorgt hat.36 Löwenthals Analyse versucht den Nachweis zu führen, dass man zu dieser Zeit in Deutschland Dostojewskis Romane als Musterbeispiel des Ideals einer bürgerlichen Selbstbescheidung angesichts eines unabwendbaren Monopolkapitalismus betrachtete. So sei aus dem 19. Jahrhundert eine unhistorische Legende gemacht worden. Der Naturalismus des russischen Schriftstellers sei in der Lesart dieser völkerpsychologischen Rezeption zu einer »visionären künstlerischen Weltgestaltung«37 geworden. Zugleich werde jeder Einfluss des europäischen, insbesondere des französischen Realismus auf den Autor geleugnet, stattdessen werde eine unsinnige ›deutsche‹ Traditionslinie zu Goethe gezogen und die Romane Dostojewskis würden somit aus dem für sie charakteristischen literarhistorischen Zusammenhang gerissen. Das Ziel aller dieser rhetorischen Manöver, so Löwenthal, sei die Etablierung irrationaler und nationaler Heilsideologien, und er hält fest, dass es »zu den Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft« gehöre, »daß, je stärker die Tendenzen werden, im wirtschaftlichen Umbau rationale Planmäßigkeit walten zu lassen, im gesellschaftlichen Bewußtsein die rationalen und kritischen Elemente zurückgedrängt werden müssen.«38 Dostojewskis Literatur, besonders aber sein Roman Die Dämonen, der 1906 erstmals in deutscher Übersetzung mit einem Vorwort Moeller van den Brucks erschien, avancierte auf diesem Weg zur »geistige[n] Waffe gegen den Versuch einer gesellschaftlichen Umgestaltung«, in der völkischen Rezeption des Romans erscheine »der Weg der politischen Aktion schlechthin als Sünde wider die kreatürliche Ergebenheit«.39 Löwenthal unterstreicht zugleich aber auch, dass die gesellschaftliche und politische Realität des russischen Reiches, die Dostojewskis deutsche Rezensenten bei ihm dargestellt sahen, in seinen Romanen tatsächlich nur sehr ausschnitthaft vorkomme.40 Gerechtigkeit werde bei Dostojewski an keiner 36 Leo Löwenthal: Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland. In: ders.: Schriften 1, S. 188–230, hier S. 202. 37 Ebd., S. 204. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 207. Hervorhebung im Orig. 40 Ebd., S. 208. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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Stelle gefordert, wie auch irdisches Glück in seinen Schriften keinerlei Rolle spiele, was die »im wörtlichsten Sinn reaktionäre Haltung dieses Mannes« unterstreiche: An Stelle des Programms der Gerechtigkeit tritt die Selbstgerechtigkeit: sie kann sich der Maske einer Sinndeutung des privaten wie der des nationalen Schicksals bedienen. Der Hochmut einer Metaphysizierung der Privatexistenz und die nationale Mythologie befriedigen angemessener als ein soziales Programm der ideologischen Ansprüche der Mittelschicht.41
Sozialisten, Kommunisten und Revolutionäre tauchen bei Dostojewski zur Freude deutscher Rezensenten des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts lediglich als »Schwätzer und Hohlköpfe« auf 42, weswegen es auch sinnlos sei, etwa Die Dämonen zu einer »Quelle des Verständnisses für die russische Revolution von 1905 heranzuziehen«, da in diesem Roman Aufbegehrende bloß als Gesindel aufträten.43 Dostojewskis Literatur, so lautet Löwenthals Ergebnis, trage eben nicht zum Verständnis historischer und sozialer Zusammenhänge bei – und genau das sei auch der Grund, warum sich die reaktionäre Seite der deutschen Rezeption so begeistert auf dessen Romane gestürzt habe.44
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Ebd., S. 211. Ebd., S. 225. Ebd., S. 226. Mit Blick auf die Aktualität von Löwenthals Modellstudie sei darauf hingewiesen, dass zuletzt Jan Philipp Reemtsma sogar das Selbstverständnis der Roten Armee Fraktion (RAF) in Deutschland mittels einer Relektüre von Dostojewskis Roman Die Dämonen zu erklären versucht hat. Durchaus im Einklang mit Löwenthal betont er zunächst, Dostojewski verweigere sich »konsequent allen Versuchen, die Existenz und die Aktivitäten von terroristischen Gruppen aus irgendwelchen politischen Absichten heraus zu erklären«, vielmehr deute er »die terroristische Gewalt als Lebensform einer Gruppe«. Verblüffenderweise stimmt Reemtsma jedoch dieser, wie Löwenthal 1934 urteilte, unhistorischen Sicht der Dinge unumwunden zu und versucht sie auf Prozesse zu beziehen, die kaum mit denen in Russland um 1900 vergleichbar erscheinen. Die zeitgenössischen Taten der RAF seien nicht von politischen Motiven bestimmt gewesen, so Reemtsma, sondern schlicht von »Größenwahn, Machtgier und Lust an der Gewalttat«. (Jan Philipp Reemtsma: Lust an Gewalt. Die RAF fasziniert noch heute. In: Die Zeit vom 8. März 2007). Darauf antwortete Gerhard Baum, der zur Zeit des ›Deutschen Herbstes‹ Bundesinnenminister war: »Ein solcher Ansatz entpolitisiert und enthistorisiert die RAF und vernachlässigt die Tatsache, dass die Terrorismusforschung wesentlich weiter ist.« (Die Zeit vom 15. März 2007).
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III. Ein weiterer Meilenstein im Lebenswerk Löwenthals ist seine 1955 publizierte Studie über Die biographische Mode. Löwenthal sichtete populäre Biographien in amerikanischen Zeitschriften, aber auch literarisch anspruchsvollere Lebensdarstellungen aus der Feder von Exil-Autoren wie Stefan Zweig. Aus Rücksichtnahme auf die jüdischen Kollegen wurde diese kritische Studie, die bereits in den 1940er Jahren entstand, erst nach dem Krieg veröffentlicht. Da sich das Genre der Biographie auch heute wieder auffallend großer Beliebtheit erfreut, wirkt auch diese Arbeit Löwenthals alles andere als veraltet. Das prophezeite schon Adorno in einem Brief, den er am 2. Dezember 1954 an Löwenthal schrieb, um das baldige Erscheinen der von ihm gelobten Biographie-Studie anzumahnen. Löwenthal greift das Zitat in seiner Erinnerung an Adorno auf, mit der er 1983 Stellung gegen Stimmen bezog, die glaubten, die Kritische Theorie bereits allgemein verabschieden zu können: »Schließlich«, fährt Teddie fort, »möchte ich noch sagen, daß ich mich grundsätzlich nicht zu der Auffassung bekennen kann, daß unsere Arbeiten, wenn sie ein paar Jahre geschrieben sind, aus äußerlichen, thematischen Gründen veralten; denn das Gewicht dessen, was wir tun, liegt doch in der Theorie der Gesellschaft und nicht in den ephemeren Stoffen.«45
Die zentralen Punkte von Löwenthals Biographien-Analyse seien hier nur angedeutet: Die Biographik erscheint als Paradigma einer Soziologie des Massenkonsums, da auch sie Abstraktionen eines angeblich unabänderlichen Weltschicksals liefert und diese mit einem verlogenen und glatten Lobpreis der Individualität kontrastiert. Aus den Zeitschriftenbiographien von Hollywood-Filmsternchen und anderen Personen aus der Sphäre des trivialen Unterhaltungskonsums, die zu seiner Zeit die amerikanischen Unterhaltungsmagazine füllten, filtert Löwenthal unterkomplexe Suggestionen des amerikanischen Traums heraus. Dem Leser werde vorgegaukelt, auch er könne es schaffen, und gleichzeitig liefere die Lektüre solcher Geschichten die schnelle Vorlust, mit dabei zu sein, teilzuhaben an der Prosperität einer Elite, die alles, was sie besitzt, dem eigenen Fleiß und der eigenen Leistung verdanke. Wo solche Individualität konstruiert wird, werde tatsächlich nichts weiter als ein Massenartikel privaten ›Talmi-Glücks‹ generiert. Der in diesen Texten zentrale Ideologiebegriff sei der des ›Geheimnisses‹:
45 Löwenthal: Erinnerung an Adorno. In: ders.: Schriften 4, S. 86. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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Alle diese mystischen Etiketts geben gar keinen genau angebbaren Sinn. Aus diesen erstarrten Heldenleben spricht keine geschichtliche Bewegung, sondern nur die Unsicherheit und Zweideutigkeit der gegenwärtigen Existenz. Die Dunkelheit des individuellen Schicksals wird um nichts erhellt, wenn sie mit beliebig auswechselbaren Sinnzeichen versehen wird. Über ihre schlechte Zufälligkeit wird hinweggeredet, indem sie als freie Notwendigkeit im historischen Helden erscheint. Es ist immer wieder dasselbe: wo von der Individualität die Rede ist, scheint ein Reich der Freiheit aufzublühen, und in Wirklichkeit findet sich ein Massenartikel. Diese Artikel sind Menschen, die über nichts mehr selbst zu bestimmen haben. In der Ideologie nennt man das dann: »Geheimnis«.46
Man könnte diese Erkenntnis heute etwa auf die Sprache der Reiseberichte, der Reiseführer und der Kataloge der Tourismusindustrie anwenden. Auch hier werden leicht als bloße Massenartikel erkennbare Erlebnisse beschworen und als besonders individuell hingestellt: Die letzten lebenden Tiere einer fast ausgestorbenen Spezies könne man auf Safaris noch einmal selbst erleben, als einer der wenigen die höchsten Berge besteigen, das »Geheimnis« exotischer Länder abseits der Ströme des Massentourismus exklusiv entdecken.47 Gerade dieses gerne als besonderes Ideal der Erholung und Gesundung angepriesene Naturerlebnis hat Löwenthal 1934 in seiner Untersuchung zu Knut Hamsun zum Thema gemacht. Hier zeigt der Literatursoziologe anhand der Romane des norwegischen Literaturnobelpreisträgers, in welcher Form darin faschistisches Denken propagiert werde: Wenn in den sentimentalen Anteilen des Naturerlebnisses die Brutalität der Wirklichkeit negiert werden soll, spiegelt sich in der Naturbewunderung auch die gesellschaftliche Brutalität. […] Die Natur ist nicht nur das Paradigma des Leidens, sondern auch des Großartigen, des Heroischen.48
Am Ende seiner Untersuchung spitzt Löwenthal – mehrere Jahrzehnte vor den Werbe-Hochglanzbroschüren über den Urlaub unserer Tage – seine Beobachtungen zu folgender These zu: »Die Ruhe in der Natur, zu der die bürgerlichen Leserschichten mit Hamsun herüberdämmern möchten, ist bloßer Schein; in der Realität erweist sie sich als Industrie- und Kriegslärm der autoritären Herrschaft.«49 46 Leo Löwenthal: Die biographische Mode. In: ders.: Schriften 1, S. 231–257, hier S. 252. 47 Diese im Konsumzeitalter immer wiederkehrende Figur behaupteter Individualität untersucht auch Tatjana Freytag: Der unternommene Mensch. Eindimensionalitätsprozesse in der gegenwärtigen Gesellschaft. Weilerswist 2008. 48 Leo Löwenthal: Knut Hamsun. In: ders.: Schriften 2, S. 245–297, hier S. 249. 49 Ebd., S. 297. Ein neuerer Beleg für diese These findet sich etwa in der Financial Times vom 9. Januar 2009, wo unter der Rubrik Out of Office eine Abenteuerurlaubsreportage unter
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IV. Wie wenig die Themen und Thesen Leo Löwenthals bereits zu Beginn der 1980er Jahre noch in den Diskurs der Zeit zu passen schienen, zeigt die Rede, die der Autor 1982 in der Frankfurter Paulskirche über Johann Wolfgang von Goethe hielt. Anlass war der 150. Todestag Goethes, und ausgerechnet Ernst Jünger erhielt den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt. Löwenthal beginnt seine Ansprache mit den Worten: Meine ursprüngliche Begeisterung über die ehrenvolle Einladung der Stadt Frankfurt, den Festvortrag aus Anlaß des 150. Todestags von Goethe zu halten, wich bald einer tiefen Depression. Ich dachte an Walter Benjamin, der vor genau 50 Jahren zum 100. Todestag von Goethe schrieb: »Jedes in diesem Jahr über Goethe eingesparte Wort ist ein Segen.« Dann stieß ich auf Thomas Manns lapidare Bemerkung anlässlich des 200. Geburtstags Goethes 1949 in einem Vortrag über »Goethe und die Demokratie«: »Ich habe Ihnen nichts Neues zu sagen.« Und als ob das nicht genug wäre, bescheinigte uns Leo Kreutzer erst kürzlich: »An Goethe knüpft keine Idee mehr an, die noch irgendeine nennenswerte Rolle zu spielen vermöchte.«50
Löwenthal kritisiert in seiner Rede die Tendenz, selbst Goethe zu einem »Artikel der Massenkultur«51 herabzuwürdigen, um ihn zuletzt aber als Kritiker deutschen ›Gemüts‹ und deutscher ›Innerlichkeit‹ zu deuten und ihn gegen die ihm in der Rezeption seines Werks widerfahrenen Zumutungen in Schutz zu nehmen: Genug über die Versuche, Goethe zum positiven oder negativen Kulthelden zu machen; genug über die Bemühungen, in seinen Worten eine Ersatzreligion zu finden. Goethe als Lebenshilfe, Goethe als Vorbild, Goethe als unerschöpflicher Lieferant von Zitaten fürs tägliche Leben, mit Goethe durchs Jahr, Stunde für Stunde! Er hat es besser verdient, als nur eine Wunderkur im psychologischen Heilgewerbe der entfremdeten Massenkultur zu sein oder – was nicht weniger schlimm ist – als ein Symptom der Malaise der bürgerlichen Welt zu dienen. Angesichts solcher Beschwörungszeremonien ist man versucht zu sagen, man kann auch ohne Goethe leben.52
dem Titel Welcome to the Jungle von Horst von Buttlar eine geradezu paramilitärisch anmutende Exkursion unter Führung von ehemaligen Spezialkräften der malaysischen Armee propagiert. 50 Leo Löwenthal: Goethe und die falsche Subjektivität. Festrede zu Goethes 150. Todestag in der Frankfurter Paulskirche am 22. März 1982. In: ders.: Schriften 4, S. 106–120, hier S. 106. 51 Ebd., S. 108. 52 Ebd., S. 110. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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Die Wendung, man könne »auch ohne Goethe leben«, im Goethe-Gedenkjahr zu verwenden, stellte 1982, zum Beginn der konservativen Ära Kohl einen kulturpolitischen Affront dar und passte nicht in den Erwartungshorizont des Kulturbetriebs. Doch gerade diesen Erwartungen zu widerstehen – das war Teil der Lebensaufgabe Leo Löwenthals und seiner literatursoziologischen Dekonstruktionen: »Man kann recht gut und sollte vielleicht als Intellektueller stets am Rande leben«, sagt er in seinem 1981 an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag Literatursoziologie im Rückblick. Löwenthal dient, wie er einmal ironisch schreibt, die von ihm betriebene Literatursoziologie als »geschickter Trick«53, eben diesen Blick vom Rande her zu ermöglichen. Löwenthals Weigerung, die Gegenwartsliteratur zu untersuchen, weil sich an ihr noch nicht klar genug ihre historische Verflechtung typologisch ablesen lasse, sie noch nicht »durch das Sieb der Geschichte hindurchgegangen« sei54, wirkt aus heutiger Sicht zunächst einmal wenig überzeugend, ja altbacken. Ihm aber ging es gerade darum, in der Literatur anderweitig schon unzugänglich Gewordenes aufzufinden und zu analysieren. An literarischen Texten etwas zu zeigen, was man selbst bereits woanders habe erfahren können, hielt er dagegen für eine tautologische Banalität.55 Trotz ihrer angeblichen Unzeitgemäßheit erscheint Löwenthals Kritik der Massenkultur jedoch in vielen ihrer Facetten heute alles andere als obsolet. Udo Göttlich betont: Löwenthal hat mit seinem Ansatz darauf aufmerksam gemacht, daß man die Behandlung des Gegenstandes nicht von der Behandlung der Werte, mit denen man an den Gegenstand herantritt, trennen kann. Zusätzlich wird klar, daß Löwenthals überwiegend negative Bewertung der Massenkultur nicht irgendeiner Laune der Kritik entspringt. Sie hat ihr historisch konkretisierbares Umfeld und ist zugleich verbunden mit philosophischen und ästhetischen Prinzipien, die noch vor jeder Stellungnahme für oder gegen die Massenkultur verdeutlichen, daß man einer Wertediskussion in Fragen der Massenkommunikation nicht wird ausweichen können.56
Allerdings hat sich die Situation der Medien seit Löwenthals Aufforderung, ihre Wechselwirkungen zu betrachten57, noch mehrfach grundsätzlich gewandelt und ist um eine Vielfaches komplexer geworden: »Es bedarf ebenso medienökonomischer wie medieninstitutioneller Analysen, die die techno53 54 55 56 57
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Löwenthal: Literatursoziologie im Rückblick (wie Anm. 5), S. 105. Löwenthal: Gespräch mit Helmut Dubiel (wie Anm. 15), S. 289. Ebd., S. 290. Göttlich 1996 (wie Anm. 12), S. 172. Vgl. Leo Löwenthal: Aufgaben der Literatursoziologie (wie Anm. 21), S. 340, 343 u. 348.
Jan Süselbeck
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logischen Rationalisierungsprozesse von unterschiedlichen Seiten spiegeln«, schreibt Göttlich 199658 – also selbst noch vor der Entstehung der virtuellen Finanzblase des Neuen Marktes, ihrem Platzen um die Jahrtausendwende und der an Bedeutung immer weiter zunehmenden Rolle des Internets. Wikileaks, Google und Facebook markieren neue Probleme und Symptome dessen, was Löwenthal zwar bereits untersuchte, im Zeitalter des Web 2.0 jedoch ganz neue Dimensionen erreicht hat und sich so schnell zu wandeln beginnt, dass die ideologiekritische Analyse dieser Phänomene kaum noch nachkommt. Das heißt aber nicht, dass Löwenthals von der Literatursoziologie ausgehender Ansatz, der die Notwendigkeit einer interdisziplinären Erforschung massenkultureller Phänomene betont, damit im Sinne solcher weiterführender Reflexionen erledigt wäre. Gerade heute muss die komplexe Verflechtung verschiedener Mediendispositive in Löwenthals Sinn dringend weiter analysiert werden – und zwar unter genauer Begründung unserer eigenen Forschungsprinzipien und Kritikmaßstäbe, so wie es Löwenthal gefordert hat, um den Verlockungen des Jargons und propagandistischer Willfährigkeit zu widerstehen. Wenn Löwenthal 1981 im Gespräch mit Helmut Dubiel einräumt, seine Studie Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator (1949), die das Problem faschistischer und verschwörungstheoretischer Indoktrination untersuchte, sei sicher seinerzeit mit Randphänomenen beschäftigt gewesen, so wird man seit dem 11. September 2001, im Zeitalter mächtiger antisemitischer Populisten wie Mahmud Ahmadinedschad und angesichts der Erfolge rechtsextremer Politiker in ganz Europa seine darauf geäußerte Entgegnung heute vielleicht wieder besser verstehen als noch zu Beginn der 1980er Jahre: Auch heute würde ich noch sagen, daß der Mechanismus dessen, was ich Agitation genannt habe, etwas ist, was in keinem Fall der Geschichte angehört. [… ] Auch wenn das Material heute alt ist, so glaube ich trotzdem, daß die Mechanismen, die ich aufzuweisen versucht habe, die den Agitator sozusagen appetitlich machen, in keiner Weise zu wirken aufgehört haben. Man könnte auch sagen, daß in einer durchaus organisierten kapitalistischen Gesellschaft in gewissen Situationen die Benutzung der agitatorischen Mechanismen von größter Bedeutung sein kann und in vielen Ländern auch immer noch von großer Bedeutung ist.59
58 Göttlich 1996 (wie Anm. 12), S. 173. 59 Löwenthal: Gespräch mit Mathias Greffrath. In: ders.: Schriften 4, S. 316. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur
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RE SP ONDENZ
Hans-Joachim Hahn
Kunst als Residuum des Utopischen Zum Literaturbegriff Leo Löwenthals
Dem emphatischen Kunstbegriff Leo Löwenthals kommt für das Verständnis seiner Literatursoziologie eine grundlegende Bedeutung zu. Im Dialog mit dem Beitrag von Jan Süselbeck und dessen Ausführungen ergänzend soll im Folgenden ein Perspektivwechsel vorgeschlagen werden. Dadurch richtet sich der Blick weniger auf die Frage einer möglichen »heutige[n] Anschlussfähigkeit«1 der literatursoziologischen Arbeiten Löwenthals zur Massenkultur, ohne dass die Fruchtbarkeit des Versuchs, im Anschluss an Löwenthal eine kritische Theorie der Medien zu entwickeln, bestritten werden soll.2 Vielmehr zielt der Blickwechsel auf die Entstehungsbedingungen von Löwenthals Literatur- und Kunstverständnis vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit jüdischen Traditionen in den 1920er Jahren. Neben Erich Fromm war Löwenthal der Einzige aus dem engeren Kreis der Kritischen Theorie, der eine gewisse Zeit seines Lebens der jüdischen Neoorthodoxie nahe stand. Während Löwenthals Großvater väterlicherseits als streng orthodoxer Jude an der Frankfurter Samson Raphael HirschSchule unterrichtete, entfernte sich Löwenthals Vater als Einziges von dessen neun Kindern von der Orthodoxie. Seinen Vater beschreibt Löwenthal in einem Gespräch, das Helmut Dubiel 1978/1979 mit ihm in Berkeley führte, als überzeugten Anhänger des 19. Jahrhunderts und meint damit einen areligiösen Anhänger eines »mechanisch-materialistischen, wissenschaftsgläubigen Denkens«; die Situation in seinem Elternhaus nennt er »weltlich, aufklä-
1 Jan Süselbeck: Die Außenseiter sind die Lehrer. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur; in diesem Band, S. 215–231. 2 Einen solchen Versuch unternimmt Udo Göttlich: Kritik der Medien. Reflexionsstufen kritisch-materialistischer Medientheorien am Beispiel von Leo Löwenthal und Raymond Williams. Opladen 1996. Zum Literaturbegriff Leo Löwenthals
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rerisch und antireligiös«.3 Von dieser Grundlage aus wendet sich Löwenthal zwischen 1920 und 1926 der jüdischen Tradition zu. In welchem Verhältnis steht die damals betriebene Auseinandersetzung mit dem Judentum zu seinem späteren Kunstverständnis? In dem Gespräch mit Dubiel benennt Löwenthal die utopische Dimension, die er der Kunst zuschreibt, so genau, dass diese Stelle hier noch einmal zitiert sei. Kunst wird darin als »das große Reservoir des geformten Protestes gegen das gesellschaftliche Unglück, der die Möglichkeit des gesellschaftlichen Glücks durchschimmern läßt«4, bezeichnet. Im Kunstwerk artikuliere sich »die Stimme der Verlierer im Weltprozeß«. Dagegen werde in der »Massenkultur« nie etwas »erlöst«, sondern es bleibe alles beim Alten.5 Löwenthal spricht hier der ›echten‹ Kunst in Anlehnung an Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Herbert Marcuse ein messianisches Moment zu. Auf verschobene Weise schreibt sich dabei, so meine zentrale These, Löwenthals frühe geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Judentum fort. Was hier als grundlegende Dichotomie von ›echter Kunst‹ gegenüber ›Massenkultur‹ formuliert wird, hält Udo Göttlich für ein Charakteristikum sowohl von Löwenthals früher Kritik der Massenkultur als auch von seinen späteren Arbeiten aus den 1970er und 1980er Jahren, während er von diesen eine vermittelnde Position aus den 1960er Jahren unterscheidet, die er zur Reformulierung von Löwenthals theoretisch-methodischem Beitrag zu einer aktuellen Medien- und Kommunikationsanalyse für fruchtbarer hält. Für den späten Löwenthal sei demgegenüber die Parallelisierung von Kunst mit »echter Erfahrung« gegenüber einer Abwertung aller Massenkultur als »geborgter Erfahrung« kennzeichnend.6 Genau in diesem Sinne heißt es in Löwenthals Aufsatz Literatursoziologie im Rückblick von 1981: »Kunst lehrt, und Massenkultur wird gelernt«.7 Pointiert gesprochen erfährt Kunst in dieser Sicht einen sakralisierten Status, wenn sie als ein Medium jenseits aller Ideologie aufgefasst wird. Marxistische Literaturkritik, wie sie Löwenthal Anfang 3 Leo Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel. Frankfurt/M. 1980, S. 16. 4 Löwenthal: Gespräch mit Helmut Dubiel (wie Anm. 3), S. 175. Ausschnitte des Gesprächs auch in: Leo Löwenthal: Schriften. Hg. v. Helmut Dubiel. Bd. 4. Frankfurt/M. 1990 (künftig zitiert: Schriften 4), S. 271–298, hier S. 284. 5 Löwenthal: Gespräch mit Helmut Dubiel (wie Anm. 3), S. 176. Auch in: ders.: Schriften 4, S. 285. 6 Udo Göttlich: Massenkultur und Erfahrung. In: Peter-Erwin Jansen (Hg.): Das Utopische soll Funken schlagen … Zum hundertsten Geburtstag von Leo Löwenthal. Frankfurt/M. 2000, S. 125–140, hier S. 132. Siehe auch Göttlich 1996 (wie Anm. 2). 7 Leo Löwenthal: Literatursoziologie im Rückblick [1981]. In: ders.: Schriften 4, S. 88–105, hier S. 92.
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der 1980er Jahre am Werke sieht, sei dagegen nur mit größter Vorsicht auf Kunst anzuwenden und solle sich »auf die Residuen beziehen, die unzweideutig ideologisch« seien.8 Der späte Aufsatz enthält sowohl eine unverhohlene Skepsis gegenüber aktuellen marxistischen Versuchen der Literaturkritik als auch eine partielle Zurückweisung von Positionen, die Löwenthal 1932 selbst eingenommen hatte. Damals hatte er noch unmissverständlich als Aufgabe der Literaturgeschichte formuliert, sie sei »zu einem großen Teil Ideologienforschung.«9 Jetzt heißt es: »Literatur ist nicht Ideologie«.10 Dem emphatischen Kunst- und Literaturbegriff, der sich mal mehr, mal weniger explizit durch alle Arbeiten Löwenthals zieht, wohnt noch ein weiterer Aspekt inne, der von der Dichotomie ›Kunst‹ versus ›Massenkultur‹ aus dem Rückblick-Aufsatz eher verdeckt als erhellt wird. Immanent ließe sich dieser Aspekt aus den frühen literatursoziologischen Arbeiten Löwenthals ableiten, auf die Süselbeck ausführlich eingeht, etwa aus der Studie zu Knut Hamsun, dem Aufsatz zur Rezeption Dostojewskis oder auch der Untersuchung zur Biographischen Mode. Dieser weitere Gesichtspunkt betrifft die Vorstellung von Literatur als einer ›Quelle‹ und eines ›Zugangs‹ zum sozialen Leben. Ebenfalls in Literatursoziologie im Rückblick heißt es dazu: Die Literatur ist die einzige zuverlässige Quelle für das Bewußtsein und Selbstbewußtsein des Menschen, für sein Verhältnis zur Welt als Erfahrung. […] Einzigartig für Literatur ist, daß sie lehrt, Erfolg und Niederlage der Sozialisierung der Individuen in bestimmten geschichtlichen Augenblicken und Situationen zu sehen. Literatur ist der zuverlässigste Zugang, um das soziale Schicksal als Erlebnis zu studieren.11
Zwischen dem utopisch-messianischen Moment von Kunst und ihrer Funktion als Erkenntnismedium und Material zur Gesellschaftsanalyse besteht in Löwenthals Theoriebildung zweifellos ein Spannungsverhältnis. In dem Neologismus ›Textgelehrter‹, der dem vorliegenden Sammelband seinen Titel gibt, schwingt das Wort von den ›Schriftgelehrten‹ aus der Lutherbibel mit, wobei der ursprünglich auf die jüdischen Gesetzesgelehrten bezogene Begriff aus dem Bereich des Religiösen in den säkularen Raum wissenschaftlicher Philologie verschoben ist. Gleichwohl wird so der religiöse Ursprung des Begriffs nicht vollständig negiert, sondern eher transformiert. Damit aber stellt sich die Frage nach dem möglichen Zusammenhang zwi8 Ebd., S. 92. 9 Leo Löwenthal: Zur gesellschaftlichen Lage der Literaturwissenschaft [1932]. In: ders.: Schriften. Hg. v. Helmut Dubiel. Bd. 1. Frankfurt/M. 1980, S. 309–327, hier S. 320. 10 Löwenthal: Literatursoziologie im Rückblick (wie Anm. 7), S. 92. 11 Ebd., S. 93. Zum Literaturbegriff Leo Löwenthals
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schen den Arbeitsformen und Schreibweisen dieser herausgehobenen Gruppe von jüdischen Intellektuellen, die den Gegenstand der Beiträge dieses Bandes darstellen, und der von ihnen begründeten Kritischen Theorie mit der jüdischen Tradition und Lehre, der Halacha. Die Frage nach ›dem Jüdischen‹, also nach den Bezugnahmen auf jüdische Traditionen in Löwenthals wissenschaftlichem Werk, ist keineswegs akzidentell. Für sie gibt es eine Reihe von Anhaltspunkten. Nicht zuletzt hat Löwenthal vor allem in späteren Texten und Interviews dazu Stellung genommen. In Süselbecks Beitrag wird ein Ausschnitt aus der Rede Zum Andenken Walter Benjamins angeführt, in der Löwenthal rückblickend die Ansicht korrigiert, eine jüdische Erfahrung habe bei der Entwicklung der Kritischen Theorie überhaupt keine Rolle gespielt. Jetzt stellt er sie als ein drittes Moment dem ›Politischen‹ und dem ›Messianischen‹ an die Seite.12 Um die Bedeutung dieses Moments für Löwenthals Denken einschätzen zu können, scheint es deshalb fruchtbar, seine frühen Vorträge heranzuziehen, die er in den 1920er Jahren im Frankfurter Jüdischen Lehrhaus gehalten hatte, die teilweise im Jüdischen Wochenblatt erschienen und später von Löwenthal in die Aufsatzserie Judentum und deutscher Geist aufgenommen wurden, welche 1930 in der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung Ludwig Feuchtwangers publiziert wurde. In zum Teil leicht veränderter Form wurden die Letzteren auch in die von Helmut Dubiel besorgte Ausgabe der Schriften aufgenommen, wo sie den Judaica-Abschnitt bilden.13 Im Interview mit Dubiel spielt Löwenthal die Bedeutung dieser Texte zwar einerseits herunter, wenn er darauf verweist, dass diese Arbeiten seinerzeit entstanden seien, um das Auskommen zu verdienen.14 Andererseits erinnert er daran, dass er in der jüdischen Religionsphilosophie insbesondere bei Maimonides (1135–1204) einen »progressive[n] Rationalismus mit starken Diesseitstendenzen« angetroffen habe, worin »die Vorstellung eines Paradieses auf Erden mitenthalten«15 sei: Es war ein Motiv in meinem Denken damals, in diesem diesseitig orientierten Erlösungsgedanken jenes utopische Moment festzuhalten, das Marx, Heine oder auch Freud zumindest inhärent aufweisen. […] So sehr ich doch Martin Jay auszureden versucht habe, daß jüdische Motive bei uns im Institut überhaupt vorhanden gewesen seien – jetzt nach reifer Überlegung im höheren Alter muß ich doch zugeben, daß der untergründige Einfluß der jüdischen Tradition mitbestimmend gewesen ist.16 12 Leo Löwenthal: Zum Andenken Walter Benjamins. In: ders.: Schriften 4, S. 121–135, hier S. 133 f. 13 Löwenthal: Schriften 4, S. 7–56. 14 Löwenthal: Gespräch mit Helmut Dubiel (wie Anm. 3), S. 156. 15 Ebd.. 16 Ebd.
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Dieser »untergründige Einfluß« kann hier zwar kaum erschöpfend dargestellt werden. Allerdings soll wenigstens exemplarisch aufgezeigt werden, dass Löwenthals Literaturverständnis zweifellos einen zentralen Impuls für die Entwicklung seiner Literatursoziologie mitsamt ihrem utopischen Kunstbegriff auch aus der jüdischen Tradition bezieht. Schon die Wortwahl im wiedergegebenen Zitat erinnert an Hannah Arendts Zyklus Die verborgene Tradition, die Auswahl der von Löwenthal in diesen frühen Aufsätzen behandelten jüdischen Persönlichkeiten darüber hinaus an Isaac Deutschers Essay Der nichtjüdische Jude – beides Texte, die lange nach Löwenthals frühen Essays zum Judentum sowie seiner literatursoziologischen Grundsatzarbeit von 1932 entstanden, aber von verwandten Fragen motiviert scheinen.17 Es geht um die Bedeutung des Judentums für die Weltgeschichte, um die Wechselwirkung zwischen jüdischer und allgemeiner Geschichte und nicht zuletzt um einzelne herausragende jüdische Intellektuelle, deren Judentum nicht mehr im Zusammenhang der halachischen Überlieferung steht. Apodiktisch heißt es bei Deutscher über den jüdischen »Abtrünnigen«, mit dem er eine Reihe von »Revolutionäre[n] des modernen Denkens« bezeichnet, die er mit Baruch Spinoza beginnen lässt und über Heinrich Heine, Karl Marx und Rosa Luxemburg bis zu Sigmund Freud und Leo Trotzki weiterführt: »Der jüdische Abtrünnige, der über das Judentum hinausgelangt, steht in einer jüdischen Tradition.«18 Löwenthal ist sicher nicht umstandslos in diese Tradition einzureihen, doch erscheint die Ähnlichkeit des Erkenntnisinteresses von ihm und von Isaac Deutscher zumindest bedenkenswert. Löwenthal hat im Gespräch mit Helmut Dubiel und in dem Aufsatz Zum Andenken Walter Benjamins auf den Kontext hingewiesen, in dem er sich während der ersten Hälfte der 1920er Jahre mit dem Judentum beschäftigte. Zum einen ist der orthodoxe Rabbiner Nehemias Anton Nobel (1871–1922) zu nennen, der seinerzeit eine Reihe junger jüdischer Intellektueller, wie Rachel Heuberger schreibt, »mit ihren eigenen Traditionen bekanntmachte und damit zu den religiösen Wurzeln ihrer Identität zurückführte« und in Frankfurt so etwas wie eine »jüdische Renaissance« begründete.19 Zu dem Kreis um den charismatischen Rabbiner gehörten neben Löwenthal auch sein Schulfreund Erich Fromm, Martin Buber, Franz Rosenzweig, Ernst Simon 17 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt/M.1995; Isaac Deutscher: Der nichtjüdische Jude. In: ders.: Die ungelöste Judenfrage. Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus [engl. 1968]. Berlin 1977, S. 7–20. 18 Deutscher 1977 (wie Anm. 17), S. 8. 19 Rachel Heuberger: Die Entdeckung der jüdischen Wurzeln. Leo Löwenthal und der Frankfurter Rabbiner Nehemias Anton Nobel. In: Jansen 2000 (wie Anm. 6), S. 47–67, hier S. 47. Zum Literaturbegriff Leo Löwenthals
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und Siegfried Kracauer. Fromm wurde 1922 bei Alfred Weber in Heidelberg sogar mit einer Arbeit zum jüdischen Gesetzesbegriff promoviert.20 Unter dem Einfluss einer, wie Löwenthal ausführt, weiter gefassten »jüdischen Atmosphäre, in die sich auch Philosophie, etwas Sozialismus, etwas Psychoanalyse und auch etwas Mystizismus einmischte«, beschloss Löwenthal zusammen mit Golde Ginsburg, die er 1923 heiratete, eine Zeitlang die jüdischen Speisegesetze zu befolgen.21 Schließlich sei noch seine Mitarbeit am Heidelberger Psychotherapeutikum erwähnt; das von Frieda Reichmann, der ersten Frau Erich Fromms, geleitete psychoanalytische Institut wurde wegen seiner jüdisch-orthodoxen Leitung offenbar in Heidelberger Studierendenkreisen auch als »Thorapeutikum« bezeichnet.22 Aus dieser Zeit – von 1925 – stammt auch ein bislang kaum beachteter Vortrag Löwenthals über Maimonides.23 Peter-Erwin Jansen zufolge steht das Manuskript im Zusammenhang mit der Vortragsreihe Im Zwischenland: An der Grenze der jüdischen Geschichte, die Löwenthal im letzten Quartal 1925 im Frankfurter Freien Jüdischen Lehrhaus vortrug; allerdings blieb das Originalmanuskript verschollen und der genaue Ort des Vortrags ist deswegen nicht bekannt.24 Löwenthal präsentiert in dieser MaimonidesDeutung eine spezifische, historisch und geschichtsphilosophisch fundierte Perspektive auf gegenwärtige jüdische Belange. Es geht ihm um eine Erweiterung jüdischer Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie, die – wie spätere seiner Arbeiten zur europäischen Literatur – bei Einzelpersönlichkeiten ansetzt, um von dort aus auf die Interaktion mit ihrer jeweiligen nichtjüdischen Umwelt zu zielen. Dabei will er den Gegenstandsbereich der jüdischen Geschichte erweitern, zunächst, indem er »von der jüdischen Persönlichkeit her die jüdische Geschichte entfaltet«, damit sichtbar werde, »dass es mit zu der Eigenart der jüdischen Geschichte gehört, dass bestimmte Persönlichkeiten in bestimmten Zeitaltern ausserhalb der innerjüdischen Probleme ihre Produktivität entfalten«.25 Darüber hinaus versucht der Autor auch, jüdische Geschichte um den Blickwinkel von Judentum in der Welt zu erweitern. Auch dieses Interesse rückt den Austausch mit der jeweiligen Umgebung ins Zentrum und bezieht sich auf ein Verständnis von Judentum 20 Erich Fromm: Das jüdische Gesetz. Zur Soziologie des Diaspora-Judentums. Dissertation von 1922. Hg. u. bearb. v. Rainer Funk; Bernd Sahler (= Schriften aus dem Nachlaß. Bd. 2). Weinheim; Basel 1989. 21 Löwenthal: Gespräch mit Helmut Dubiel (wie Anm. 3), S. 18. 22 Heuberger: Die Entdeckung der jüdischen Wurzeln (wie Anm. 19), S. 49. 23 Leo Löwenthal: Maimonides [1925]. In: Jansen 2000 (wie Anm. 6) S. 75–94. 24 Vgl. Peter-Erwin Jansen: Vorbemerkung [zum Maimonides-Manuskript]. In: ders. 2000 (wie Anm. 6), S. 73 f., hier S. 74. 25 Löwenthal: Maimonides (wie Anm. 23), S. 75.
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als Vernunftreligion. Unter dem Einfluss von Walter Kinkel, einem Gießener Professor der Philosophie, war Löwenthal zum Anhänger von Hermann Cohens Neukantianismus geworden, was im Maimonides-Manuskript seinen deutlichen Niederschlag findet. Gleichzeitig weist der Aufsatz aber auch Spuren des Einflusses von Rabbiner Nobel auf. Grundsätzlich zielt der Vortrag auf die Rückgewinnung und Kontinuität ›jüdischer Substanz‹, die Löwenthal im Medium einer Problemgeschichte erkennt. Die Überschreitung einer rein innerjüdischen Perspektive ist programmatisch und lässt sich auch in der antikapitalistischen Verteidigung der Vernunft ausmachen: »Die Vernunft ist unbestechlich, weil es in ihrem Reich keine Waren und Münzen gibt.«26 Auch wenn die Gemeinsamkeit mit der nichtjüdischen Umwelt – und für Löwenthal heißt das konkret die staatsbürgerliche Integration – die Voraussetzung für die mit Maimonides erreichte Blütezeit jüdischer Kultur darstellt, betont er die Autonomie des jüdischen Geistes. Gerade weil jüdische Philosophen wie Maimonides von den »Prinzipien des Judentums lebendig durchdrungen« gewesen seien, hätten sie »die Geschichte als Weltgeschichte« verstehen können.27 Deutlich wird Löwenthals Vorstellung vom Judentum als einer Idee, wobei ihm der monotheistische Gottesbegriff als »Zentralbegriff der Erkenntnis« gilt.28 Zugespitzt lässt sich festhalten, dass Löwenthal mit seinem Verweis auf Moses Mendelssohn, Karl Marx und Ferdinand Lassalle zu Beginn des Textes eine Erneuerung des Judentums von gleichsam ›ketzerischen‹ Randpositionen aus betreibt, wobei die Orientierung an den Werten der Vernunft den Kern seiner Argumentation darstellt. Wo sich die Tradition als Aufklärung verstehen lässt, bezieht sich Löwenthal auf sie. Entsprechend rückt er die Bibelkritik des Maimonides ins Zentrum. Diese sei weder verstockter Hass noch Philologie, sondern »Kritik, die sie (die Bibel, H. J. H.) selber fordert«.29 Maimonides habe sich mit seiner Mischne Thora die Zerstörung des Aberglaubens, den falsches Bibelverständnis befördere, als Aufgabe gesetzt.30 Der Messianismus schließlich erscheint bei Löwenthal als Vollendung der Erkenntnis. Der Text ist insgesamt von einer Dichotomie zwischen dem »Erkenntnischarakter« und dem »Religionscharakter« des Judentums gekennzeichnet.31 Diesen Polen lassen sich auf der einen Seite Vernunft und Halacha zuordnen, während auf der anderen neben Dichtung, Mythos und 26 27 28 29 30 31
Ebd., S. 80. Ebd., S. 77. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82 Ebd., S. 83. Ebd., S. 79. Zum Literaturbegriff Leo Löwenthals
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Märchen auch die »hagadischen Träumereien« genannt werden.32 Interessanterweise schreibt Löwenthal nicht der Aggada, also den erzählenden Teilen des Talmud, die Fähigkeit zu, das Judentum durch eine unabgeschlossene Diskursivität lebendig zu erhalten, sondern der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, das für ihn weitgehend mit der monotheistischen Idee zusammenfällt.33 Mit Maimonides verbindet er außerdem die Vorstellung einer zeitlichen Begrenztheit von Erkenntnisformen, wodurch der Formkritik eine bedeutende Rolle zuwächst. Dieser Text Löwenthals vertritt daher implizit die Position einer Literaturkritik als Fortsetzung der rationalistischen Bibelkritik des Maimonides, während die Literatur selbst der Philosophie gegenüber noch als defizitär erscheint. Kunst und Literatur als Residuen des Utopischen kommen erst in den Blick, wenn ihr Erkenntnischarakter erkannt und die messianische Aufladung des Utopischen auf sie übertragen wird. Die Aktualität von Löwenthals Literaturstudien liegt in einem Verständnis von Literatur als komplexem Erkenntnismedium gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie bezieht sich dabei auf das leitende Erkenntnisinteresse Löwenthals an einer Verbindung von Sozialtheorie und Literaturanalyse, die in heutiger Lesart auch als Medienanalyse verstanden werden kann. Das utopische Moment von Kunst und insbesondere von Literatur, das Löwenthal – neben der stets beibehaltenen Vorstellung, Literatur könne als soziologische und historische Quelle herangezogen werden – in seinen literatursoziologischen Arbeiten immer verteidigt hat, kann als säkularisierte Form der ganz auf das Diesseits bezogenen Messias-Erwartung und somit als ein »untergründige[r] Einfluß«34 transformierter jüdischer Traditionen unter den Bedingungen der Moderne gedeutet werden. Das Dogma einer Gegenüberstellung von ›echter Kunst‹ und ›Massenkultur‹ – oder, wie es in der Diktion Adornos heißt, der ›Kulturindustrie‹ – klingt dann wie ein spätes Echo der im MaimonidesVortrag vertretenen Dichotomie von Erkenntnis (Vernunft, Halacha) versus Religion (Aberglauben, Dichtung, Mythos, Märchen, Aggada).
32 Vgl. ebd., S. 84 u. 91. 33 Zur Bedeutung der Aggada für die deutsch-jüdische Literatur vor allem im 19. Jahrhundert vgl. Johannes Sabel: Die Geburt der Literatur aus der Aggada. Formationen eines deutsch-jüdischen Literaturparadigmas. Tübingen 2010. 34 Löwenthal: Gespräch mit Helmut Dubiel (wie Anm. 3), S. 156.
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RELEK T ÜRE
Toni Tholen
Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur
I. Vorbemerkungen Die Affinität des Sozialphilosophen Herbert Marcuse zur Ästhetik und insbesondere zur Literatur lässt sich bereits aus seiner akademischen Ausbildung herleiten: Marcuse studierte in Berlin im Hauptfach Germanistik und Neuere deutsche Literaturgeschichte mit den Nebenfächern Philosophie und Nationalökonomie. Aufschlussreich für das Verständnis seines Essays Über den affirmativen Charakter der Kultur aus dem Jahre 1937 ist die Tatsache, dass Marcuse 1922 über den deutschen Künstlerroman promovierte.1 In seiner Dissertation spannt er den Bogen vom Sturm und Drang über Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser und Wilhelm Heinses Ardinghello, über Goethes Wilhelm Meister und die Romantik sowie das Junge Deutschland und Gottfried Keller bis hin zu Thomas Mann. In dem frühen Werk taucht schon ein für den modernen Kulturtheoretiker zentrales Problem auf, nämlich das des zunehmenden Auseinanderklaffens von Kunst und Leben im Zuge der modernen Ausdifferenzierung aller Lebensbereiche. Eine solche Entwicklung deutet Marcuse als Entfremdung, und genau dagegen rebelliere die Kunst, indem sie der »Sehnsucht nach schöneren freieren Lebensformen«2 Ausdruck verleihe. Wenn darüber hinaus die Forderung nach »völliger Revolutionierung der brüchigen Lebensformen«3 laut wird, dann liegt darin bereits der Versuch einer – wenngleich vorsichtigen – Politisierung des Ästhetischen. Die Dimensionen und die Bedeutung von Kunst und Ästhetik im Prozess der modernen Gesellschaft und Kultur haben Marcuses Denken wie das der 1 Vgl. zum Folgenden Hauke Brunkhorst; Gertrud Koch: Herbert Marcuse. Eine Einführung [1987]. Wiesbaden o. J., S. 11–14. 2 Herbert Marcuse: Der deutsche Künstlerroman. In: ders.: Schriften. Bd. 1. Frankfurt/M. 1978, S. 7–344, hier S. 182. 3 Ebd., S. 179. Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur
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anderen Theoretiker im Umkreis der Kritischen Theorie wesentlich tangiert. So steht auch noch eine seiner letzten Veröffentlichungen, der Essay Die Permanenz der Kunst von 1977, ganz im Zeichen der seinerzeit leidenschaftlich diskutierten Überlegungen zur gesellschaftlichen Funktionsbestimmung des Ästhetischen. Im Spektrum von Marcuses über fünf Jahrzehnte währender Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Beitrag die Kultur und vor allem die Künste zu einer Welt leisten können, in der das Leben nicht nur gefristet wird, sondern in welcher es sich in der Dimension von Kreativität und Genuss sinnvoll und kollektiv entfalten kann, nimmt der Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur eine zentrale Stellung ein. Er erschien 1937 in der nunmehr im New Yorker Exil redigierten und verlegten Zeitschrift für Sozialforschung, also zum Zeitpunkt der endgültigen Etablierung der Bezeichnung ›Kritische Theorie‹ für die Arbeiten des Intellektuellen-Kreises um Max Horkheimer, besonders durch dessen programmatischen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie im selben Jahrgang der Zeitschrift.4 Marcuses Aufsatz gilt nicht zuletzt aufgrund seiner Wirkungsgeschichte in der Zeit nach 1968 als einer der wichtigsten kulturtheoretischen Texte des Philosophen. Erst mehr als dreißig Jahre nach seinem Erscheinen trug er maßgeblich dazu bei, dass die Kultur- und Literaturtheorie sich auf breiterer Ebene als eine Form von Ideologiekritik verstand. Besonders deutlich lässt sich dies an Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974) aufzeigen, denn darin werden Marcuses Überlegungen zur affirmativen Kultur zu einer institutionssoziologischen Betrachtungsweise von Literatur weiterentwickelt. Mit Marcuse behauptet und kritisiert Bürger nicht nur die praktische Folgenlosigkeit innerhalb des bürgerlichen Systems Kunst, sondern formuliert auch die generelle theoretische Einsicht, [….] daß die Aufnahme eines einzelnen Kunstwerks immer unter schon vorgegebenen quasi institutionellen Rahmenbedingungen stattfindet, die die reale Wirkung entscheidend bestimmen. Man kann sogar sagen, daß in dem Modell die Institution Kunst (Autonomie) die Schlüsselstellung einnimmt und die reale gesellschaftliche Funktion von Kunst determiniert.5
Wiederum fast vierzig Jahre später ergibt sich die Möglichkeit, den Text auf andere Weise einer Relektüre zu unterziehen. Vor dem Hintergrund einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung seiner Gemachtheit, also der Lese4 Vgl. zur theoriegeschichtlichen Entwicklung im Zusammenhang der Institutsgeschichte im US-amerikanischen Exil Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung. München; Wien 1988, S. 246–250. 5 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M. 1974, S. 15.
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und Schreibweisen, die er zu erkennen gibt, möchte ich einige Hinweise dazu geben, wie man den Text aus heutiger Perspektive lesen kann. Mit und gegen Marcuse möchte ich für einen nicht ausschließlich kritischen Umgang mit dem Begriff des Affirmativen plädieren und dafür eine andere kulturelle und literarische Traditionslinie skizzieren, als sie Marcuse in seinem Essay zugrunde gelegt hat. Um dies zu tun, werde ich zunächst eine kurze Zusammenfassung des Textes unter besonderer Berücksichtigung der von Marcuse zitierten Referenztexte geben, sodann werde ich einige Spezifika seiner Leseweise, vor allem seines Traditionsbezugs, herausarbeiten, um danach – die abschließenden Überlegungen zur heutigen Diskussion des Affirmativen vorbereitend – auf seine Schreibweise einzugehen.
II. Der Essay und seine Referenztexte Marcuse macht unter Rückgriff auf die antike Philosophie, vor allem auf Aristoteles, deutlich, dass jede Erkenntnis auf Praxis gerichtet sein muss.6 Bezüglich des Praxisgedankens entdeckt er aber schon in der Antike, in Aristoteles’ und Platons politischen Schriften, eine grundsätzliche Teilung: die zwischen notwendiger, nützlicher Arbeit und schöner, Glück gewährender Tätigkeit in Muße. Dies amalgamiert Marcuse sogleich mit der Trennung zwischen zweckorientierter Arbeit und einer Sphäre idealer, Glück verheißender Kultur in der bürgerlichen Epoche. Auch die antike Teilung der Gesellschaft in Elite und Sklaven wird in der Neuzeit fortgesetzt; hier taucht sie – für Marcuse entscheidend – in der vom Marxismus diagnostizierten Klassengesellschaft wieder auf. Allerdings weist Marcuse auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Antike und bürgerlicher Epoche hin: Der Wert der Kultur (das Gute, Schöne, Wahre) werde im bürgerlichen Zeitalter allgemein; er werde ausgedehnt auf den Bereich des Notwendigen, also auf das Leben im Allgemeinen. Damit wird nicht nur die gesellschaftliche und kulturelle Oberschicht, sondern prinzipiell jedes Mitglied der Gesellschaft unter den Glücksanspruch kultivierender Tätigkeiten gestellt. Mit anderen Worten: Alle Menschen sollen an Kultur partizipieren. Erst aufgrund dieser Generalisierung wird die Dramatik des Konzepts affirmativer Kultur, wie es sich vor allem in der bürgerlichen Epoche herausgebildet habe, fassbar. Marcuse definiert: 6 Ich beziehe mich im Folgenden auf Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur [1937]. In: ders.: Kultur und Gesellschaft 1. Frankfurt/M. 1965, S. 56–101. Dieser Text wird von nun an nachgewiesen mit dem Kürzel ACK und Seitenangabe. Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur
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Unter affirmativer Kultur sei jene der bürgerlichen Epoche angehörige Kultur verstanden, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistigseelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum »von innen her«, ohne jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann.7
Statt eine bessere und wertvollere Welt auch nach außen hin zu schaffen, werde die Würde der Gegenstände der höheren Kultur durch Feierstunden zelebriert. Die Kultur diene daher einzig der »Erhebung«8. In impliziter Anlehnung an Karl Marx’ Religionskritik wird diese Diagnose insofern ideologiekritisch und dialektisch gewendet, als Marcuse zugesteht, dass die großen bürgerlichen Werke der Kunst auch ein Wahrheitsmoment in sich haben: Die Darstellung von Schönheit und überirdischem Glück wecke die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Auch die Darstellung von Trauer und Leid habe Teil am Eingedenken eines anderen Daseins. Wiederum eher implizit liegen der Funktionsbestimmung der großen bürgerlichen Kunst die Werke der Weimarer Klassik zugrunde. Sichtbar wird dies an den Referenzautoren des Aufsatzes, vor allem Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe. Die Kernzeit der von Marcuse so genannten affirmativen Kultur beginnt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und erstreckt sich über das gesamte 19. Jahrhundert. Begriffe wie ›Veredelung‹ bzw. ›veredelnd‹9, die nicht explizit zitiert, jedoch mit kritischer Intention in den Text eingeflochten werden, um zu zeigen, dass die Klassik nur eine Kultur innerlicher Vervollkommnung geschaffen habe ohne Folgen für eine gesamtgesellschaftliche Umsetzung des kulturellen Ideals, dienen somit als Allusion auf die Referenztexte, hier gezielt auf Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen.10 Marcuses Vorwurf an die Klassik insgesamt zielt also im Kern auf die Innerlichkeitskultur, welche durch jene etabliert worden sei, besonders durch Herders Ideen zu einem gemeinsamen Seelenraum:
7 8 9 10
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ACK, S. 63. Ebd. ACK, S. 71. Vgl. zu Marcuses lebenslanger Auseinandersetzung mit Schiller Per Øhrgaard: Schiller als Achtundsechziger? Herbert Marcuse und die ästhetische Erziehung. In: Text & Kontext 28 (2006), H. 1. S. 143–160.
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Wer auf die Seele sieht, sieht durch die ökonomischen Verhältnisse hindurch die Menschen selbst. Wo die Seele spricht, da wird die zufällige Stellung und Wertung der Menschen im Gesellschaftsprozeß transzendiert. Liebe durchbricht die Schranken zwischen reich und arm, hoch und niedrig […]. Die Seele entfaltet sich, trotz aller sozialen Hemmnisse und Verkümmerungen, im Innern des Individuums: der kleinste Lebensraum ist groß genug, um sich zum unendlichen Seelenraum erweitern zu können. So hat die affirmative Kultur in ihrem klassischen Zeitalter immer wieder die Seele gedichtet.11
Marcuse spricht im Anschluss verschärfend davon, dass die klassische Innerlichkeitskultur zu einer »Unterwerfung der Sinnlichkeit unter die Herrschaft der Seele«12 geführt habe, und er hat dabei die gesamte deutsche, protestantische Innerlichkeitstradition von Martin Luther bis Immanuel Kant und über diesen hinaus im Blick. In großen Bögen zeichnet der Autor eine Linie der sich fortsetzenden affirmativen Kultur bis ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart des Schreibenden hinein. Marcuse skizziert die kulturpolitischen und -morphologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit, welche sich um die dichotomisierenden Begriffspaare Kultur vs. Zivilisation und Seele vs. Geist ranken. Dabei bezieht sich Marcuse beinahe ausschließlich auf Oswald Spengler als Referenzautor.13 Ansonsten sind immer wieder die Autoren der Weimarer Klassik seine Gewährsleute; die spezifisch moderne Variante der Innerlichkeitsästhetik der Moderne, die mit dem Ästhetizismus um 1900 ihren folgenreichen Ausgang nimmt, bleibt vollkommen unerwähnt. Liest man indes Marcuses Kritik an der bürgerlichen Kultur genauer, wird deutlich, dass die Hervorhebung der Bedeutung des Seelischen für Marcuse nicht das eigentliche Problem ist, sondern vielmehr der Umstand, dass die seit der Klassik formulierten Ideale nur in der Kunst geduldet und verwirklicht worden seien. Dies ist für Marcuse vor allem in der ästhetischen Programmatik Schillers angelegt: Die klassische deutsche Ästhetik hat das Verhältnis zwischen Schönheit und Wahrheit in der Idee einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts aufgefaßt. Schiller sagt, daß das »politische Problem« einer besseren Organisation der Gesellschaft »durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert«. Und in seinem Gedicht ›Die Künstler‹ spricht er das Verhältnis zwischen der bestehenden und der kommenden Kultur in den Versen aus: »Was wir als Schönheit hier empfunden / Wird einst als Wahrheit uns ent11 ACK, S. 78. 12 Ebd. 13 Vgl. vor allem ACK, S. 76. Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur
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gegengehn.« Nach dem Maß an gesellschaftlich zugelassener Wahrheit und an Gestalt gewordenem Glück ist die Kunst innerhalb der affirmativen Kultur das höchste und für die Kultur repräsentativste Gebiet.14
Marcuse arbeitet an Schillers Ästhetik nicht so sehr das utopische Moment heraus, sondern sieht in ihr eher eine Art Trost realisiert. Die Schönheit der Kunst spende den »Trost des schönen Augenblicks in der nicht endenwollenden Kette von Unglück.«15 Nirgendwo aber werde das Glück dem entschwindenden Augenblick entrissen und in wirkliches Leben kollektiv und dauerhaft aufgehoben. Daraus resultiere der Schein-Charakter von Kunst. Das Ideal gebe sich als Entsagung zu erkennen und sei in diesem Sinne unempfindlich gegen das Glück. Bereits an dieser Stelle wird klar, dass Marcuse ein scharfer Kritiker der Sublimierung ist, und damit richtet sich sein Vorwurf nicht nur gegen die Klassiker, sondern zumindest implizit auch gegen seinen Zeitgenossen Sigmund Freud, mit welchem er in seiner späteren Schrift Triebstruktur und Gesellschaft eine ausführliche Auseinandersetzung über die Sublimierungsthese führen wird.16 Dass Marcuse sich jedoch schon in den 1930er Jahren nicht einfach dazu hinreißen ließ, bilderstürmerisch die bürgerliche Kultur zugunsten von entsublimierenden Kulturpraktiken der großen Masse zu opfern, geht aus dem – den Text als dialektische Antithese durchziehenden – Gestus der Anerkennung hervor, mit welchem er der großen bürgerlichen Kunst begegnet. Es wird nämlich auch von dem Recht gesprochen, das auf der Seite der affirmativen Kultur sei: Sie [die affirmative Kultur, T. T.] hat zwar die »äußeren Verhältnisse« von der Verantwortung um die »Bestimmung des Menschen« entlastet – so stabilisiert sie deren Ungerechtigkeit –, aber sie hält ihnen auch das Bild einer besseren Ordnung vor, die der gegenwärtigen aufgegeben ist. Das Bild ist verzerrt, und die Verzerrung hat alle kulturellen Werte des Bürgertums gefälscht. Trotzdem ist es ein Bild des Glücks: Es ist ein Stück irdischer Seligkeit in den Werken der großen bürgerlichen Kunst, auch wenn sie den Himmel malen.17
In der großen bürgerlichen Kunst erscheinen Dinge und Menschen als unentstellt, unentfremdet, in einer gleichsam vor-modernen Welt, in welcher 14 ACK, S. 85 f. 15 ACK, S. 86. 16 Vgl. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud [engl. 1955]. In: ders.: Schriften 5. Frankfurt/M. 1979, insbesondere S. 170– 189. Marcuse versucht dort, von Freud ausgehend, ein Konzept ›nicht-repressiver Sublimierung‹ zu entwickeln. 17 ACK, S. 88.
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die Beziehung von Zeichen und Gegenstand noch nicht arbiträr geworden ist. Denn die Wahrheit der Kunst ist für Marcuse die Identität von Bezeichnung und Bezeichnetem: Das Leid ist Leid und die Freude Freude. Die Welt erscheint wieder als das, was sie hinter der Warenform ist: eine Landschaft ist wirklich eine Landschaft, ein Mensch wirklich ein Mensch und ein Ding wirklich ein Ding.18
Im Akt des dialektischen Festhaltens am Utopiepotential der bürgerlichen Kunst lassen sich deutliche Sympathien mit bestimmten Phasen und Künstlern entdecken. So wird beispielsweise unter dem Einfluss Jacob Burckhardts dem Individualitätsverständnis der Renaissance aufgrund seines erkennbaren Aktivitätsdrangs der Vorrang vor der Verinnerlichung des Individuums seit Kant eingeräumt.19 Und vor dem Hintergrund der kulturstürmerischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts werden für Marcuse die Möglichkeiten einer realisierten Schönheit eher an den frühen Werken bürgerlicher Kunst und Musik, so derjenigen von Wolfgang Amadeus Mozart und des »alten Beethoven«20, vernehmbar als an der Kunst der eigenen Zeit. Dieser antizipierende Rückblick auf das noch nicht realisierte Potential früher bürgerlicher Kultur wird aber gestört durch die politischen und kulturellen Entwicklungen der eigenen Epoche. Während sich Marcuse auf der einen Seite dem Projekt einer rettenden Kritik bürgerlicher Kultur verpflichtet weiß, wird er auf der anderen Seite aufgrund der von ihm selbst diagnostizierten ›totalen Mobilmachung‹ (Ernst Jünger) des gesamten gesellschaftlichen Lebens dazu genötigt, einen härteren Ton in Bezug auf die Kulturdiagnose und die Handlungsmöglichkeiten anzuschlagen. Marcuse konstatiert gegen Ende des Textes für die eigene Gegenwart einen Umschlag der immer abstrakter gewordenen Innerlichkeit und inneren Gemeinschaft der affirmativen bürgerlichen Kultur in eine abstrakte äußere Gemeinschaft, welche, wie vor allem in Jüngers Buch Der Arbeiter deutlich werde, dieselbe Funktion wie jene erfülle: nämlich die Entsagung und die Einordnung ins Bestehende. Daraus ergibt sich für Marcuse die Notwendigkeit einer verschärften Handlungsweise, welche er an einigen Stellen seines Textes als revolutionäre Praxis etikettiert. Nur durch die Aufhebung der affirmativen Kultur in eine solche revolutionäre Praxis könne die Utopie eines schönen, sinnlich genießenden Lebens, für das Marcuse am Ende des Essays die Metapher vom Schlaraffenland21 verwendet, Wirklichkeit werden. 18 19 20 21
ACK, S. 89. Vgl. ACK, S. 91 ACK, S. 99. Vgl. ACK, S. 99 f. Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur
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III. Zur Lese- und Schreibweise des Essays In Bezug auf Marcuses Leseweise möchte ich zwei Aspekte besonders hervorheben. Erstens steht das Verfahren der Traditionskonstruktion im Mittelpunkt, verbunden mit der Frage, wie Marcuse sich auf die Texte, die er zitiert, bezieht und welchen Zusammenhang er zwischen ihnen aufbaut. Zweitens werde ich den Aspekt einer deutlichen Fixierung Marcuses auf den bürgerlichen Kanon thematisieren. Die Erläuterungen lassen einige womöglich über Marcuse hinausgehende Aussagen über die spezifische Form kritischer Intellektualität im Umkreis der Kritischen Theorie zu. Zum Ersten: Die Traditionskonstruktion folgt dem dreischrittigen Schema dialektischer Gedankenführung. Die drei epochalen Stationen sind die Antike, die bürgerliche Moderne und eine nachbürgerliche Ära. Während die Antike trotz der sie kennzeichnenden stratifizierten Gesellschaft prinzipiell an der Einheit von Theorie und Praxis festhält und die Realisierung von Idealen und Werten in der Immanenz des Lebens selbst nicht nur fordert, sondern auch in Form kontinuierlicher kultureller Praktiken vollzieht, enthält sie schon – freilich in einer nicht akzeptablen politischen Herrschaftsform – den richtigen Gedanken eines verwirklichten schönen Lebens. In der bürgerlichen Moderne wird der Gedanke aufrechterhalten, aber vereinseitigt, da ihm die Richtung auf die gelebte Praxis, genauer: auf eine in Schönheit und befreite Sinnlichkeit übergehende Lebenspraxis ausgetrieben wird. In einer dritten, nachbürgerlichen Ära wären eine Aufhebung dieser Trennung des ursprünglichen Ideals (Einheit von Theorie und Praxis) und der Lebenspraxis der Individuen und damit eine Aufhebung des Schein-Charakters bürgerlich-affirmativer Kunst zu avisieren. Diese Zeit sieht Marcuse durch die Zusammenarbeit von materialistischer Philosophie und revolutionären Gruppen gekommen.22 Die Konstruktion der Tradition folgt also dem philosophischen Anliegen des Textes, eine geschichtsphilosophisch begründete kritische Kulturtheorie zu liefern. Zum Zweiten: Sehr aufschlussreich ist Marcuses Fixierung auf den bürgerlichen Kanon, vor allem auf die deutsche Klassik, mit welcher der Autor selbst literaturwissenschaftlich sozialisiert worden ist. Kronzeugen seines Begriffs wie seiner Kritik der von ihm beschriebenen ›affirmativen Kultur‹ sind Herder, Schiller und Goethe. Marcuses Überlegungen suggerieren, dass sich in der Zeit um 1800 die bürgerlich-affirmative Kultur schon vollständig entfaltet habe und sich von da aus der dialektische Bogen in seine eigene Zeit 22 Vgl. ACK, S. 68.
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schlagen lasse, mit der Folge des Umschlagens der inneren in eine äußere Gemeinschaft wie bei Jünger. Die Folge einer solchen großlinigen Gedankenführung ist – auf der Ebene expliziter intertextueller Bezugnahme – eine beinahe vollständige Ausblendung der Literatur und Kultur der Moderne seit Ende des 19. Jahrhunderts.23 Die Ausdifferenzierung der literarischen und kulturellen Moderne um und nach 1900 in so differente ästhetisch-literarische Bewegungen wie den Naturalismus, den Ästhetizismus und die historischen Avantgarden wird nicht in den Blick genommen. Als Autoren, die für die Argumentation des frühen 20. Jahrhunderts wichtig erscheinen, werden nur Spengler und Jünger mit ihren theoretischen Schriften genannt. Wie ist mit diesem Befund umzugehen? Zunächst einmal wäre festzuhalten, dass sich in Marcuses Essay die eigene intellektuelle und literaturwissenschaftliche Sozialisation des Autors in der bürgerlichen Kultur und Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts spiegelt. Sie wird darin zum Bezugspunkt einer wiederholten, diesmal aber äußerst kritischen Aneignung. Mehr noch: Sie dient als Negativfolie der Konstruktion von Zeitgenossenschaft. Als solche ist Marcuses Position wie seine Selbstpositionierung ein Mixtum aus Traditionalismus und Avantgardismus. Traditionell ist sie in den 1930er Jahren deshalb, weil die ästhetischen Werte der Klassik (die Antike als Norm, der Primat der Schönheit, der Innerlichkeit, der Harmonie) spätestens seit dem Naturalismus, also seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in Frage gestellt und wenige Jahre später durch die historischen AvantgardeBewegungen aufgrund ihrer Bürgerlichkeit und gesellschaftlichen Folgenlosigkeit heftig attackiert worden waren.24 Schließlich markierte der Erste Weltkrieg mit dem Schock der technisch möglich gewordenen Massenzerstörungen generell eine absolute Zäsur in Bezug auf die Kontinuität bürgerlich affirmativer Kultur. Avantgardistisch ist die Position Marcuses, weil sie sich genau diesen kritischen Bewegungen, freilich ohne sie zu nennen, programmatisch anschließt. Dieses Verfahren der intellektuellen Einschreibung, aus dem eine gewisse Ungleichzeitigkeit, ein Changieren zwischen Traditionalismus und Avantgardismus innerhalb der Marcuse’schen Position resultiert, bleibt nicht ohne Folgen für die Etablierung seiner eigenen Kategorien und Werte. So fällt etwa die semantische Unbestimmtheit von Marcuses Schönheitsbegriff auf, den er für eine nicht mehr affirmative Kultur zu retten versucht. Was Schön23 Vereinzelt werden kurze Nietzsche-Zitate in den Text eingefügt, die aber nicht zum Anlass einer intensiven Auseinandersetzung mit den kulturellen Eigenheiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts werden. 24 Vgl. dazu im Überblick Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, bes. S. 13–23 u. 233–297. Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur
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heit aber sein soll, wird nirgendwo inhaltlich gefüllt, geschweige denn unter Rückgriff auf die spätestens seit Charles Baudelaire etablierte moderne Ästhetik reformuliert. Was stattdessen bleibt, ist eine expressive Schreibgeste, die als revolutionär aufgefasst werden will. Insgesamt lässt sich festhalten, dass man an der Ungleichzeitigkeit der kulturellen Verortung den zerrissenen bürgerlichen Intellektuellen erkennt, den Marcuse ähnlich wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno repräsentiert, wobei im Hinblick auf eine wirklich zeitgenössische ästhetische Theorie Letzterer die moderne Kunst wesentlich genauer, schärfer und kreativer durchdrungen hat. Die Ungleichzeitigkeit und Zerrissenheit des kritischen Intellektuellen zeigt sich im Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur aber auch noch auf andere Weise, nämlich in der Artikulation von Aggressions- und Kampfbereitschaft. Nicht nur spielt Marcuse mit dem Gedanken, sich als materialistischer Philosoph den »revolutionären Gruppen«25 zu verbünden, welche in seinen Augen viel eher als der Idealismus die Verwirklichung eines »neuen Leben[s]«26 herbeiführen können, sondern der Text enthält darüber hinaus auch abrupte Ausbrüche von Gewaltphantasien, die den gedanklichen Kontext sprengen. Am auffälligsten werden sie im Kontrast zur Metapher vom Schlaraffenland27 am Ende des Textes. Während sich der Rezipient bei der Nennung der Metapher auf die abschließende Ausmalung einer gewalt- und herrschaftslosen Utopie einstellt, wird er beim Lesen des folgenden Passus nicht unerheblich irritiert: Nicht das primitiv-materialistische Element an der Idee vom Schlaraffenland ist falsch, sondern seine Verewigung. Solange Vergänglichkeit ist, wird genug Kampf, Trauer und Leid sein, um das idyllische Bild zu zerstören; solange ein Reich der Notwendigkeit ist, wird genug Not sein. Auch eine nicht-affirmative Kultur wird mit der Vergänglichkeit und mit der Notwendigkeit belastet sein: ein Tanz auf dem Vulkan, ein Lachen unter Trauer, ein Spiel mit dem Tod.28
Hier mag sich der Leser fragen, warum in einer nicht-affirmativen Kultur ein »Spiel mit dem Tod«, ein »Tanz auf dem Vulkan« fortwirkt. Warum soll eine Gesellschaft, in der das Ideal einer individuellen Kultur des Glücks und der Schönheit als verwirklicht gedacht wird, in gleicher Weise wie die affirmative Kultur von einer lustbesetzten Gewaltbereitschaft geprägt sein? Hier kann sich die Vermutung einstellen, dass angesichts einer durch Widersprüche und Gewalt geprägten Gegenwartskultur die kritisch-dialektische Bewegung 25 26 27 28
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ACK, S. 68. Ebd. Vgl. ACK, S. 99. ACK, S. 100.
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des Gedankens selbst auch nicht vor der Kontamination mit Gewaltprojektionen gefeit ist. Mit dieser Beobachtung am Text befinden wir uns bereits mitten in der Erörterung der Frage nach Marcuses Schreibweise. Die Feststellung, dass der Text dem Genre entsprechend auch expressiv-unsystematische Züge aufweist, macht es schwer, ihn als eine wissenschaftliche Abhandlung einzustufen. Allerdings handelt es sich auch nicht um einen Essay im strengen Sinne des Wortes. Auf der einen Seite weist er durchaus essayistische Züge auf, weil er auf eine methodische Rahmung der thematisierten Gegenstände und geistesgeschichtlichen Epochen verzichtet. Stattdessen ist der Text aus Versatzstücken ganz unterschiedlicher Denkbereiche – Philosophie, Literatur, Ästhetik, Soziologie – wie ein Patchwork zusammengesetzt, durch das sich gleichwohl ein Leitfaden zieht, nämlich die dialektische Denkfigur der ›affirmativen Kultur‹. Auf der anderen Seite ist der Text nicht-essayistisch, weil er keine explizit subjektive Perspektive oder Erfahrungsdimension zu erkennen gibt, wie dies für die Tradition des Essayismus seit Michel de Montaigne formspezifisch ist. Er kann denn auch nicht im Sinne von Adornos späterer Formbestimmung als Text eines Schreibenden gelesen werden, der »sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung«29 macht, denn dazu ist er nicht offen genug und zu sehr im Gestus des Wissens geschrieben. Der Schreibende weiß sich im Besitz einer kulturtheoretischen, historisch-materialistisch geprägten Erkenntnis. Und deshalb finden sich im Text auch keinerlei Gesten der Unsicherheit, der Ungewissheit, der Offenheit und der relativierenden Selbstreflexion. Marcuses Text kommt ohne Fragen aus und lässt darüber hinaus kein schreibend-reflexives Erfahrungssubjekt in Erscheinung treten. Im Kontext der Kritischen Theorie betrachtet, lässt sich festhalten, dass Marcuses Text Über den affirmativen Charakter der Kultur noch vor der Herausbildung einer kritisch-essayistischen Schreibweise liegt, deren Motor eine erkennbar auch subjektiv oder autobiographisch bestimmte dialektische Negativität wurde, wie sie wenige Jahre später Horkheimers und Adornos philosophische Fragmente mit dem Titel Dialektik der Aufklärung geprägt hat. Das darin Form gewordene kompromisslose Bewusstsein der Negativität angesichts von Zweitem Weltkrieg und Holocaust ist in Marcuses Text aus dem Jahr 1937 noch nicht erkennbar. Aus diesem Grund ist das Vertrauen auf die Möglichkeit des und das Begehren nach dem Schönen gerade bei Marcuse deutlicher vernehmbar als bei seinen kritisch-theoretischen Weggefährten. 29 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form [1958]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. a. Bd. 11. Frankfurt/M. 1997, S. 9–33, hier S. 21. Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur
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IV. Zum ›Re‹ der Relektüre Gegenwärtig scheint eine Relektüre von Marcuses Text bei aller seiner Befremdlichkeit besonders lohnend, da der Begriff der Affirmation im ästhetischen und kulturtheoretischen Zusammenhang wieder eine verstärkte Aufmerksamkeit erfährt. Generell ist festzustellen, dass die moderne Negativitätsästhetik in einer Zeit, in der die Suche nach Sinn und nach Formen eines erfüllten Lebens eine ganz neue existenzielle Dimension und Dynamik angenommen hat, nicht mehr in gleicher Weise überzeugt wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So hat sich vor wenigen Jahren etwa eine Gruppe von Autoren der Zeitschrift Merkur um deren damaligen Herausgeber Karl Heinz Bohrer aufgemacht, Ästhetik und Kultur unter dem Stichwort der Affirmation bzw. des Rühmens neu zu definieren.30 Sie tun das im Gestus einer aggressiven Wendung gegen die Kritische Theorie, die sie für tot erklären. Die Unzeitgemäßheit radikaler Kritik dekretierend, plädieren sie für ein uneingeschränkt präsentisches Denken und Handeln. Die Grundhaltung eines derart der Kultur als Heilmittel verordneten Präsentismus lässt sich als eine gesteigert affirmative Einstellung zum Leben, zur kapitalistischen Gesellschaft, zum Ästhetisch-Schönen und schließlich auch zur Männlichkeit beschreiben. Für die Kultivierung einer solchen Haltung sind die Autoren zu Vielem bereit: Sie affirmieren einen permanenten und aktiven Konsumismus, sie rühmen die Sinnlichkeit Präsenz erzeugender Gewaltszenen in der Literatur seit Pindar und Homer und finden darin eine neue Form wieder erstarkender Maskulinität. Mit einer solchen restaurativen Programmatik ist der kritische Sinn des Marcuse’schen Begriffs der affirmativen Kultur nicht vermittelbar. Dies ist freilich auch nicht die Absicht der Merkur-Autoren. Die Erwähnung ihrer Pamphlete aber verdeutlicht ex negativo das aktuelle Ringen um ein Verständnis von Kultur, welches nicht nur in Negativität, Kritik und revolutionärer Gesinnung aufgeht, sondern von der Lebenspraxis und von der existenziellen Frage nach den Möglichkeiten eines gelingenden und schönen Lebens ausgeht, dessen Verwirklichung im Hier und Jetzt der Gegenwart gesucht wird und sich mit ästhetischer Praxis verbindet. Als wesentlich wirksamer und nachhaltiger als die Positionen Bohrers und seiner Autoren im Merkur hat sich die Wiederentdeckung der Tradition der 30 Vgl. die Beiträge in Merkur 57 (2003), H. 9/10 (Sonderheft: Kapitalismus oder Barbarei) und in Merkur 58 (2004), H. 9/10 (Sonderheft: Ressentiment! Zur Kritik der Kultur). Vgl. zur Kritik an den dort geäußerten Positionen Toni Tholen: Ästhetik des Rühmens. Über Affirmation heute. In: Zeitschrift für kritische Theorie 11 (2005), H. 20/21, S. 7–23. Vgl. für das Folgende ebd.
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Lebenskunst erwiesen, wie sie vor allem durch die späten Arbeiten Michel Foucaults und Roland Barthes’ initiiert worden ist.31 Die Langzeitwirkung dieser Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts begonnenen Wiederanknüpfung an die antiken und christlichen Lebenskunstlehren erweist sich darin, dass sie mittlerweile aus dem Diskurs der auf die Künste bezogenen Wissenschaften nicht mehr wegzudenken sind. So etwa bilden sie in der seit Kurzem ausgetragenen Debatte um eine Neubestimmung der Literaturwissenschaft als ›Lebenswissenschaft‹ einen zentralen Anknüpfungspunkt.32 In der Philosophie der Lebenskunst steht nicht so sehr wie noch bei Marcuse und in der Literaturtheorie um und nach 1968 die Frage nach dem Status und der Autonomie der Kunst und ihrer möglichen oder auch unmöglichen Aufhebung in Lebenspraxis im Vordergrund, sondern vielmehr der Gedanke einer Rettung der affirmativen Aspekte der Kultur (Seele, Glück, Schönheit) nach dem Scheitern der historischen Avantgardebewegungen. Die Lehre von der Lebenskunst setzt deshalb eher das Scheitern der aufs Ganze zielenden avantgardistischen Forderung voraus, sie ist, so ließe sich sagen, die gegenwärtige Erfahrung dieses Scheiterns. Doch nimmt sie den Impuls auf, der von den Avantgarden ausgegangen ist und in Marcuses Forderung einer eingelösten Affirmation, einer wirklichen Schönheit weiterlebt.33 Gegenwärtig verschafft sie sich Gehör in einer Auffassung von Kultur, die Kunst und Literatur wieder enger an eine existenzielle Praxis und ans Leben des Einzelnen anbindet. Allerdings unterscheiden sich solche Bestrebungen von Marcuses Ansatz in dem Text Über den affirmativen Charakter der Kultur. Sie sind dezi31 Vgl. Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. v. Daniel Defert; François Ewald. Frankfurt/M. 2007; ders.: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82). Frankfurt/M. 2009. Vgl. Roland Barthes: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977. Hg. v. Éric Marty. Frankfurt/M. 2007; ders.: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Hg. v. Éric Marty. Frankfurt/M. 2005; ders.: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 und 1979–1980. Hg. v. Éric Marty. Frankfurt/M. 2008. 32 Vgl. dazu den die bisherigen Beiträge bündelnden Band Ottmar Ette; Wolfgang Asholt (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Tübingen 2010. 33 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Marcuse nur phasenweise mit der Avantgarde und ihrer radikalen Forderung der Aufhebung von Kunst in Lebenspraxis sympathisiert hat. Die Forschung hat wiederholt herausgearbeitet, dass Marcuse das Autonomiepostulat nie wirklich aufgegeben hat. Vgl. John Abromeit; Mark Cobb: Introduction. In: dies. (Hg.): Herbert Marcuse. A critical reader. New York 2004, S. 1–39, hier S. 21. Vgl. speziell zur Auseinandersetzung Marcuses mit Avantgarde-Künstlern wie Marcel Duchamp den Beitrag von Gerhard Schweppenhäuser: Cézanne auf dem Klosett. Marcuse über Kunst, Alltagskultur und Duchamp. In: Musik & Ästhetik 11 (2007). H. 44, S. 27–40, insbes. das Resümee ebd., S. 40. Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur
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diert nicht revolutionär und nicht marxistisch. Sie verstehen sich auch nicht als Teil einer kulturellen Makrotheorie oder einer universalistischen, kritischen Sozialphilosophie. Sie knüpfen darüber hinaus nicht mehr primär an die Klassiker um 1800 und deren Klassizismus an, sondern an andere Traditionen, etwa an die essayistische Tradition, ausgehend von Montaigne, aber auch mit interkulturellem Blick an die Tradition des ostasiatischen, nicht werkhaften Schreibens, etwa in Yoshida Kenkos Tsurezuregusa;34 ferner an die Romantik und hier vor allem an die Texte von Autorinnen wie Bettina von Arnim;35 an die Avantgarden des 20. Jahrhunderts in ihrem Bestreben, Werkhaftigkeit zu überwinden; schließlich an kulturtheoretische Schriften, die, wie Roland Barthes’ späte Vorlesungen, um die Frage nach einer gelingenden Lebensführung mit ästhetischen Mitteln kreisen.36 Allen diesen Referenzquellen ist gemein, dass sie schon im Akt des Hervorbringens von Kunst und Literatur dem Leben selbst einen primären Ort einräumen und dass sie folglich die Autonomie-Ansprüche der bürgerlichen ›Institution Kunst‹ (Peter Bürger) permanent unterlaufen, in dem Wissen freilich, dass diese auch gegenwärtig noch erhoben werden. In dieser Perspektive verändert sich nicht zuletzt das Schreiben selbst, verstanden als umfassende kulturelle Praxis: Es realisiert sich viel eher im Prozess und in der Gegenwart, im Augenblick seines Vollzugs. Der Schreibprozess ist ganz auf das gegenwärtige Leben und Erleben gerichtet. Von daher stellt er sich nicht in den Dienst einer Geschichtsprojektion, mit ihm verbindet sich auch keine revolutionäre Geste; vielmehr regt sich in ihm das Begehren nach Realisationsformen einer individuellen Utopie. Indem sich die kulturelle Praxis als Lebensform – als je individuelle Ausprägung der Formung des Lebens um seiner selbst willen37 – zu verstehen beginnt, verdichten sich die Hinweise darauf, dass die Kultur als Ganze eine Hinwendung zum ›Affirmativen‹ vollzieht – nach einem langen Weg durch die Negativität der Moderne. Die große Geste Herbert Marcuses, im Augenblick des Untergangs das Affirmative der Kultur und damit diese selbst zu retten, ist auch heute 34 Vgl. dazu Rolf Elberfeld: Zur Handlungsform der »Muße«. Ostasiatische Perspektiven jenseits von Aktivität und Passivität. In: Paragrana 16 (2007), H.1, S. 193–203. 35 Vgl. dazu Christa Bürger: Das Denken des Lebens. Frankfurt/M. 2001, S. 255–486, bes. S. 406–421. 36 Vgl. für einen komprimierten Überblick über das ethisch-ästhetische Projekt in Barthes’ Vorlesungen: Toni Tholen: Ästhetik der Existenz. Zur literarischen Ethik des späten Roland Barthes. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes 32 (2008), S. 393–412. 37 Vgl. zur Einführung des Begriffs Lebensform im Zusammenhang einer Philologie des Lebens: Toni Tholen: Philologie im Zeichen des Lebens. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 59 (2009), S. 51–63.
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nicht obsolet. Nach den realen Zertrümmerungen des 20. Jahrhunderts und nach den philosophischen, kulturtheoretischen und vor allem auch ökonomischen Destruktionsprojekten bis in die Gegenwart hinein gilt es nun, Kultur und Literatur unter Rückgriff auf lebens- und praxiszugewandte Traditionen neu zu denken und auch wissenschaftlich neue Wege ihrer Formung und Gestaltung einzuschlagen.
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III. Auseinandersetzungen
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Daniel Weidner
Lernen, Lesen, Schreiben Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
Im Juli 1934 schreibt Gershom Scholem aus Jerusalem einen Brief an Walter Benjamin, in welchem er dem Freund vom Tod Chaim Nachman Bialiks berichtet. Dessen Bedeutung liege in seinem »geistige[n] Wissen«, er habe, so Scholem, »unsere Landschaft sonderbar erhellt, er war der produktivste Sprecher dieses Landes […]. Er war ein ›Lehrer‹ genau in dem Sinn, in dem man sich die großen Talmudisten, einen Rabbi Akiba oder Jochanan vorstellt.«1 Ohne Überleitung und ohne Absatz schließt danach eine Diskussion über Benjamins Kafka-Aufsatz an, an dem Scholem offenkundig vor allem eine Passage über das Studium stört: »Die Pforte der Gerechtigkeit ist das Studium«, hatte Benjamin geschrieben, und weiter: »Und doch wagt Kafka nicht, an dieses Studium die Verheißungen zu knüpfen, welche die Überlieferung an das der Thora geschlossen hat. Seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Studenten sind Schüler, denen die Schrift abhanden kam.«2 Scholems Widerspruch in diesem Brief lautet, dass dies die Bedeutung des geheimen Gesetzes, das doch bei Kafka allenthalben zu Tage liege, unterschlage, und er wendet ein: »Nicht so sehr Schüler, denen die Schrift abhanden gekommen ist […], als Schüler, die sie nicht enträtseln können, sind jene Studenten, von denen du am Ende sprichst.«3 Wenn Benjamin darauf wiederum antwortet, das laufe doch auf das Gleiche hinaus, »weil die Schrift
1 Walter Benjamin; Gershom Scholem: Briefwechsel 1933–1940. Hg. v. Gershom Scholem. Frankfurt/M. 1980, S. 157. Vgl. dazu Daniel Weidner: Jüdisches Gedächtnis, mystische Tradition und moderne Literatur. Walter Benjamin und Gershom Scholem deuten Kafka. In: Weimarer Beiträge 46 (2000), S. 234–249. 2 Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1980, S. 409–438, hier S. 437. – Zum Kafka-Essay von Walter Benjamin vgl. auch den Beitrag von Andreas Kilcher in diesem Band, S. 143–157. 3 Benjamin/Scholem: Briefwechsel, S. 158. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist sondern Leben«, so sieht Scholem darin »den größten Irrtum, der Dir begegnen konnte«.4 ›Lehrer‹, ›Studenten‹, ›Schrift‹ und ›Leben‹ – anhand eines Textes über Franz Kafka diskutieren die beiden Freunde hier die Frage der ›Lehre‹, die sie schon in ihrer Jugend zentral beschäftigt hatte.5 Offensichtlich geht es dabei nicht nur um die Gehilfen und Studenten in Kafkas Werk, sondern auch um Kafkas Werk als Ganzes und um Kafkas Verhältnis zur ›Schrift‹. Die Parallele zu Bialik, die der Brief zieht, macht nicht nur deutlich, dass für Scholem auch Kafka ein ›Lehrer‹ ist, sondern dass beide im Rahmen der jüdischen Erneuerung und des modernen Judentums stehen. Im Rückblick wird Scholem diese Bindung an eine ›Schrift‹, auch wenn diese unlesbar geworden ist, als entscheidende Prägung für Benjamins intellektuelle Physiognomie betrachten und gerade darin auch die »Bindung« an eine jüdische Tradition des Freundes sehen: Dessen Denken sei durchdrungen gewesen, so Scholem, durch »die tiefe Bindung des echten Theologischen Denkens der Juden an die Sprache«,6 sein »Verfahren« sei wesentlich die »Kommentierung großer und autoritativer Texte« gewesen, und auch die Kategorie der Offenbarung sei bei dem späten, sich materialistisch gebenden Benjamin weniger »verschwunden« als »eher nur verschwiegen, indem sie nun wahrhaft esoterisches Wissen geworden ist«.7 Und schließlich wird Scholem immer wieder suggerieren, dass sich auch sein eigenes Schreiben als Philologe und Historiker der Kabbala als Sorge um die ›Schrift‹ beschreiben lässt. Gershom Scholem ist fraglos einer der großen jüdischen Textgelehrten des 20. Jahrhunderts: Er hat ein ganzes Korpus von Texten erschlossen und herausgegeben, kommentiert und durch Einführungen und Spezialuntersuchungen kontextualisiert und damit, trotz einiger wichtiger Vorgänger, das Thema der jüdischen Kabbala als Gegenstand der Forschung überhaupt erst in der Forschung etabliert. Er hatte über Jahrzehnte hinweg und auch jenseits seines eigentlichen Spezialgebiets der Kabbalaforschung eine ausgesprochene und unausgesprochene Autorität in jüdischen Fragen, die etwa in der von Rolf Tiedemann überlieferten Anekdote zum Ausdruck kommt, am Frankfurter Institut für Sozialforschung sei Scholem in den 1960er Jahren ein ganz besonderer Ruf vorausgeeilt: »Es war der Ruf uneingeschränkter
4 Benjamin/Scholem: Briefwechsel, S. 167 u. 175. 5 Vgl. dazu Daniel Weidner: Das Überstürzen der Tradition. Das Problem der Lehre in den Debatten zwischen Benjamin und Scholem. In: Trajekte Nr. 13 (2006), S. 36–38. 6 Gershom Scholem: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleinere Beiträge. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1983, S. 28. 7 Ebd., S. 30.
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Autorität, ohne daß man so recht hätte sagen können: Autorität wofür.«8 Diese Autorität, die sein Urteil in Fragen der jüdischen und insbesondere der deutsch-jüdischen Geschichte erlaubte, speiste sich aus der Vertrautheit mit der jüdischen Überlieferung, eine Überlieferung, die Scholem, der sich selber gerne als ›Philologe‹ bezeichnete, immer als Wissen von Texten verstand. Scholem verkörperte die Figur des Textgelehrten aber nicht nur in seiner Persönlichkeit, er war auch ganz wesentlich daran beteiligt, sie gleichsam theoretisch zu entwerfen. Denn wirksam geworden ist die Idee dieser Figur gerade durch seine eigenen Texte, die sich mit anderen Textgelehrten – etwa mit Franz Kafka oder Walter Benjamin – beschäftigen und die auch aufgrund der erwähnten Autorität von Scholem in der Nachkriegszeit eine kaum zu überschätzende intellektuelle Wirkungsmacht hatten und bis heute immer wieder gelesen und gedeutet werden, sei es aufgrund ihres Autors, sei es aufgrund ihres Themas. Wie die Idee eines Textgelehrten konstituiert wird und welche zentrale Rolle sie für Scholems eigene intellektuelle Selbstwahrnehmung hatte, wird der Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Ich werde daher im Folgenden nicht ein weiteres Mal die wissenschaftlichen und essayistischen Leistungen Scholems auflisten und diese unter den gleichermaßen unscharfen wie suggestiven Begriff des ›Textgelehrten‹ stellen, sondern eher untersuchen, wie diese Figur bei Scholem konstruiert wird und wie sie funktioniert. Dass dies nicht einfach ist, zeigt bereits der anfangs zitierte Briefwechsel. Alle vier hier involvierten Personen verkörpern in besonderem Sinne moderne jüdische Intellektualität als ein Verhältnis zum Text, allerdings in sehr verschiedener Form: Bialik war noch traditionell jüdisch erzogen und sozialisiert und wirkte als Zionist der ersten Stunde, als Kulturpolitiker im Jishuv und als dichterischer Erneuerer der hebräischen Sprache; Kafka war der jüdischen Tradition entfremdet und schrieb in Prag auf Deutsch als Autor des assimilierten Judentums über diesen Traditionsbruch; Benjamin dachte und schrieb als Philosoph und als moderner Mystiker, sein Judentum wiederum wurde selbst von Scholem als höchst problematisch angesehen; schließlich wirkte Scholem als Historiker und Philologe nicht nur der jüdischen Überlieferung, sondern auch des Freundes Benjamin. Trotz ihrer Unterschiede bilden sie in der Korrespondenz eine Reihe, und gerade in ihrer Reihung liegt die Evidenz der hier umrissenen Figur eines modernen jüdischen Textgelehrten. Denn diese Reihung und der scheinbar einfache Übergang vom einen zum anderen verbinden nicht nur die verschiedenen Weisen des Umgangs mit dem Text, sondern verbinden auch das 8 Rolf Tiedemann: Erinnerung an Scholem. In: Scholem 1983 (wie Anm. 6), S. 211–221, hier S. 212. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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explizit Gesagte mit dem Impliziten: die jeweils thematischen Glieder der Kette mit den anderen, aber auch die ganze Kette mit dem Vorausgesetzten, mit der Tradition jener Talmudisten, welche diese modernen Gelehrten ja nur fortzusetzen scheinen. Wenn man verstehen will, worin die Stärke, die Fruchtbarkeit, aber auch die produktive Unschärfe der Idee von ›jüdischen Textgelehrten‹ liegt, dann muss man diese Reihe mitsamt der in ihr enthaltenen spezifischen Spannungen nachgehen. Daher soll im Folgenden nach einigen einleitenden Bemerkungen zur Idee der ›jüdischen Textgelehrsamkeit‹ (I.) in drei Schritten gezeigt werden, wie diese Verbindungen von Scholem jeweils gezogen werden: als er während des Ersten Weltkriegs beginnt, sich mit der jüdischen Tradition auseinanderzusetzen, also im traditionellen Sinne ›lernt‹› und zugleich kritisch darüber reflektiert (II.); als er in den 1920er Jahren seinen historischen Zugang zur Kabbala entwickelt, also deren Texte philologisch zu lesen versucht (III.); und schließlich, als er in den 1950er Jahren auf sein schon entwickeltes Werk zurückblickt und es kommentiert, also – wenngleich indirekt – über sich schreibt (IV.). Der Beitrag endet mit einem Ausblick (V.).
I. Was einen ›jüdischen Textgelehrten‹ charakterisiert, ist zunächst alles andere als eindeutig. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine deskriptive Kennzeichnung, die verschiedene Termini miteinander verbindet: einen bestimmten Phänomenbereich – den Text – mit einem spezifischen Zugang oder einer Form des Wissens – der des Gelehrten – und einer kulturellen Zugehörigkeit – eben dem ›Jüdischen‹. Scheinen zunächst der erste und der dritte Begriff recht klar bestimmbar zu sein, so bleibt der des ›Gelehrten‹ eigenartig schillernd und zugleich unzeitgemäß, denn er bezeichnet ein Wissen, das nicht Wissenschaft und nicht Weisheit, nicht gelebter Wahrheit und nicht methodischer Produktion entspricht, ein Wissen, dem sogar etwas Exzentrisches anhaftet, das den Typus des Gelehrten schon seit jeher zum Gegenstand der Satire gemacht hat. Jedenfalls lässt sich der Gelehrte von anderen Typen des Wissenden abgrenzen, und demgemäß auch der Textgelehrte von anderen Typen derjenigen, die etwas von Texten wissen, unterscheiden, etwa vom Exegeten, dem gegenüber er weniger fachwissenschaftlich spezialisiert ist, vom Kritiker, dessen polemisch-politisches Verhältnis zum Text das antiquarische des Gelehrten entspricht, und schließlich vom Hermeneuten, der sich primär für den Inhalt des Textes interessiert, während Gelehrte alles wissen können. 262
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Vor dem Hintergrund dieser Bedeutung von ›Gelehrsamkeit‹ ist dann auch der Begriff des Textes nicht mehr neutral zu verstehen, geschweige denn der des Jüdischen. Für einen Gelehrten ist der Text mehr als ein Gegenstand – er weiß nicht nur etwas über Texte, sondern sein Wissen ist auch textuell verfasst; er hat es aus Texten und er vertraut es wiederum Texten an. Gelehrtes Wissen ist Bücherwissen – nicht ein Wissen der Sachen selbst und auch kein lebendiges Wissen, sondern ein Wissen der ›toten‹ Buchstaben, demnach ein Wissen der ›Schrift‹ in jenem ambivalenten Sinne, von dem aus es nur noch ein Schritt ist zum ›jüdischen Schriftgelehrten‹, dem seit Luthers Übersetzung des Neuen Testament geläufigen und topischen Ausdruck für jene Vertreter und Ausleger des ›toten‹ Gesetzes, die sich gegenüber dem lebendigen Wort Christi feindlich verhalten. Die Rede vom ›jüdischen Textgelehrten‹ ist also innerhalb der herkömmlichen kulturellen Semantik zunächst ein deutlich negativ besetzter Begriff. Greift man ihn heute affirmativ auf, so wertet man ihn um oder versucht das zumindest, was natürlich in vielerlei Hinsicht an andere Umwertungen anschließt, etwa an die Aufwertung der ›Schrift‹ und des ›Jüdischen‹ in den letzten Jahrzehnten. So eine Umwertung ist auch immer eine Übertragung im rhetorischen Sinne, insofern der alte Gehalt als Konnotation weiterhin präsent bleibt, sei es auch in der Negation. Und solche Übertragung wiederum hat zur Folge, dass die Idee eines ›jüdischen Textgelehrten‹ wohl weniger als Begriff aufzufassen ist, den man extensiv oder intensiv durch Kriterien definieren könnte, denn als eine Figur im Sinne der Rhetorik: als übertragene Rede eines uns prägnant erscheinenden Ausdrucks, der etwas anschaulich macht und dessen Anschaulichkeit gerade darin liegen kann, scheinbar heterogene Phänomene zusammenzufassen – wie dies bereits der Briefwechsel Scholems mit Benjamins zeigte. Tatsächlich basiert die Idee des modernen jüdischen Textgelehrten ja auch auf einer doppelten Übertragung, insofern der Begriff nicht nur ganz verschiedene intellektuelle Praktiken wie Kritik, Lektüre, Kommentar zu einer Figur zusammenfasst, sondern zugleich auch suggeriert, diese Figur habe eine Beziehung zu jener ›Schriftgelehrsamkeit‹ der Tradition, also zu den großen Talmudisten, in deren Nachfolge Scholem Bialik und Kafka stehen sah. Dabei handelt es sich um ein Wechselverhältnis, denn was man sich unter einem modernen jüdischen Textgelehrten vorstellt, wird selbstverständlich dadurch bedingt, welches Bild man sich von den Gelehrten dieser Tradition macht – und umgekehrt. Für Scholem sind jedenfalls die jüdischen Rabbiner ›Textgelehrte‹ wenn er, nach den einflussreichen Formulierungen aus Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum, gerade die Textbindung des Wissens als spezifisch jüdische und traditionelle Form des WisGershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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sens bestimmt, eine Form, für welche gelte: »[…] nicht das System, sondern der Kommentar ist die legitime Form, unter der die Wahrheit entwickelt werden kann. […] Die Wahrheit muß an einem Text entfaltet werden, in dem sie vorgegeben ist.«9 Es sei hier dahingestellt, ob der Begriff ›Kommentar‹ geeignet ist, um die Praxis der traditionellen jüdischen Schriftkultur zu beschreiben. In vielerlei Hinsicht scheint es sich hier um eine wohl protestantisch bedingte Projektion moderner Exegesepraktiken auf ein Vorgehen zu handeln, das sich präziser als »writing with scripture« oder auch als »verschriftete Sprechakte« beschreiben lässt, insofern der rabbinische ›Kommentar‹ weniger ›über‹ den biblischen ›Text‹ spricht, als ›aus‹ ihm besteht.10 In jedem Fall verschließt man sich die Einsicht in die eigentliche Produktivität der Figur jüdischer Textgelehrsamkeit, wenn man Scholems Beschreibung der jüdischen Tradition einfach als historisch voraussetzt. Rein logisch ist das Verhältnis von erfundener Tradition (dem Bild der rabbinischen Tradition) und fortgesetzter Tradition (dem Bild moderner Textgelehrsamkeit) zirkulär, und dies umso mehr, als Scholem damit ja nicht zuletzt auch seine eigene Position beschreibt. Das gilt freilich nicht mehr auf der Ebene figuralen Sprechens, das seine Kraft gerade aus den Tautologien, Paradoxien und anderen Paralogismen schöpft, die es verdichtet konnotiert, wie es etwa in der Figur des Schriftgelehrten ohne Schrift aus dem Briefwechsel Scholems mit Benjamin geschieht. Tatsächlich kann die paradoxe Figur des jüdischen Textgelehrten, wenn sie fruchtbar und produktiv verstanden werden soll, eine der Spannung, der Grenze, eventuell sogar der Unmöglichkeit sein. Diese Problematik wird vor allem sichtbar, wenn man sie als ›Figur‹ in zweierlei Wortsinn betrachtet: Erstens gilt es zu untersuchen, wie eine solche Denkfigur in bestimmten Texten funktioniert, was sie dort leistet und konnotiert, welche Probleme sie jeweils anzeigt und welche sie umgekehrt unsichtbar macht; zweitens ist auch zu beachten, wie Scholem sie in jener subjektgeschichtlich entscheidenden Phase aufgreift, in der er beginnt, sich 9 Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt/M. 1970, S. 90–120, hier S. 101. 10 Vgl. zu einer allgemeinen Kritik der Kommentarvorstellung Peter Schäfer: Text, Auslegung und Kommentar im rabbinischen Judentum. In: Jan Assmann; Burkhard Gladigow (Hg.): Text und Kommentar. München 1995, S. 163–186; zum Konzept des Writing with Scripture vgl. Jacob Neusner; William Scott Green: Writing with Scripture [1989]. Atlanta, Ga. 21993. Zum verschrifteten Sprechakt vgl. Arnold Goldberg: Der verschriftete Sprechakt als rabbinische Literatur. In: Aleida u. Jan Assmann; Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. München 1983, S. 123–140. Grundsätzlich wird diese Frage in der (überwiegend kritischen) Debatte über Midrasch und Literatur diskutiert, die in Deutschland noch kaum angekommen ist; vgl. besonders David Stern: Midrash and Theory. Ancient Jewish Exegesis and Contemporary Literary Studies. Evanston, Ill. 1996.
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selbst gegenüber und in der jüdischen Tradition zu positionieren. Im Rückblick hat Scholem einmal nicht ohne Ironie gesagt, sein entscheidendes jüdisches »Erlebnis« sei seine Lektüre der klassischen Kommentarliteratur gewesen, also die »traditionelle und direkte Begegnung nicht mit der Bibel, sondern mit der jüdischen Substanz in der Tradition«.11 Es handelt sich also gewissermaßen um eine direkte Begegnung mit dem Indirekten, um eine Abhängigkeit zweiter Stufe. Wie sich zeigen wird, ist diese Indirektheit für den jungen Gershom Scholem der paradoxe Grund der Möglichkeit sowohl der Auseinandersetzung mit der rabbinischen Überlieferung als auch des eigenen Schreibens. Denn für ihn als modernen Juden ist es zugleich unmöglich und zwingend, sich in die Tradition zu stellen; daher wird auch seine Beschreibung dieser Tradition samt ihrer säkularen Nachgeschichte immer die Beschreibung eines Grenzfalls.
II. Der folgende Text, aus dem hier einige besonders typische Teile zitiert werden, besteht aus einer Sammlung von fünfundneunzig Thesen, die Gershom Scholem später unter dem Titel 95 Thesen über Judentum und Zionismus publizierte und die zuerst für eine Diskussion mit Walter Benjamin verfasst waren, zu der es dann allerdings aufgrund der Zeitläufte nicht mehr kommen sollte. In dieser Thesen-Sammlung heißt es: 1) 2) 3) 4)
Das Judentum ist aus seiner Sprache herzuleiten. Die Lehre ist die Sphäre der doppelten Verneinung. »Er gab uns die Lehre im Zeichen und erläuterte sie in der Tradition.« Die Rationalisten behaupten im Grunde nur, die Göttlichkeit der Bibel liege in ihrer Menschlichkeit. 5) Historie ist der Terminus für das innere Gesetz der Lehre. 6) Samson Raphael Hirsch leugnet den bösen Trieb. 7) Religionen verhalten sich zueinander wie Sprachen, ohne doch Sprachen zu sein. 8) »Die Gerechten bereiten die Erde zur Stätte des Göttlichen.« […] 15) »In der Lehre gibt es kein Vorher und Nachher.« 16) Geschriebene Tradition ist die Paradoxie, in der die jüdische Literatur sich essentiell entfaltet. […] 22) Die Tradition ist der absolute Gegenstand der jüdischen Mystik. 11 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M. 1994, S. 53. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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23) Samson Raphael Hirsch ist der letzte Kabbalist, der uns bekannt ist. 24) Das Gesetz der talmudischen Dialektik ist: Die Wahrheit ist eine stetige Funktion der Sprache. […] 27) Die Lehre ist das Medium, in dem sich der Lernende in den Lehrer verwandelt. Die Gelehrten sind die Schüler der Weisen. 28) In der Lehre gibt es weder Objekt noch Subjekt. Sie ist Medium. […] 31) Kommentar, d. i. legitime Deutung, ist die innere Form der Lehre. 32) Die gesprochene, mündliche Lehre besteht aus Fragen […] 58) Die Lehre wird im Schweigen – nicht durch Schweigen – tradiert. 59) Wo die Lehre das Schweigen durchbricht, wird ihre Beziehung auf das Leben dialektisch. Hierauf gründet sich die äußere Geschichte der Lehre.12
Thematisch und formal können diese Thesen des jungen Scholem als exemplarisch gelten für seine Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition, die er seinerzeit in geradezu manischer Weise in einer Vielzahl von Texten führte.13 In ihrer Form offensichtlich auch eine ironische Anspielung auf Martin Luther, stellen sie eine Art Extrakt dar, den Scholem im Sommer 1918 aus seinen zahlreichen Aufzeichnungen des letzten Jahres zusammenstellte. Vergleicht man die Thesen dabei mit diesen Vorstufen, so wird deutlich, dass hinter den hier gesammelten Sätzen in der Regel keine allgemeinen Überlegungen gestanden haben, sondern konkrete Situationen. So geht etwa die These 24 aus den umfangreichen Überlegungen hervor, die neukantianische erkenntnistheoretische Terminologie auf die talmudische Dialektik anzuwenden14; die Thesen 58 und 59 stammen aus einer Polemik gegen die Jugendbewegung, die Scholem zufolge einfach zu viel rede, statt ordentlich zu schweigen.15 Solche Erörterungen sind stufenweise in Thesen verwandelt worden, wobei oft noch im letzten Schritt präzisierende Ergänzungen ausgeschieden werden. So liest sich eine Vorstufe zur ersten These folgender12 Gershom Scholem: 95 Thesen über Judentum und Zionismus. In: ders.: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 2. Halbband: 1917–1923. Hg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt/M. 2000, S. 300–306, hier S. 300–304. 13 Vgl. zu den biographischen und thematischen Zusammenhänge dieser Texte Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, Esoterisches und Historiographisches Schreiben. München 2003, S. 197–210; über das Verhältnis zu Benjamin ebd., S. 79–84. 14 Vgl. dazu etwa die Notiz Über die Forschungsweise der Talmudisten. In: Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 1. Halbband: 1913–1917. Hg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt/M. 2000, S. 438–442. 15 Vgl. dazu den offenen Brief an Siegfried Bernfeld in: Gershom Scholem: Briefe. Bd. 1. Hg. v. Itta Shedletzky. München 1994, S. 461–466.
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maßen: »Es gibt nur einen Beweis für das Judentum: die Sprache. Diese Einsicht ist ein Paradoxon, solange sie nicht entfaltet wird.«16 Die Thesen sind also durch Mechanismen der Verkürzung, der Verdichtung und vor allem der Isolierung entstanden: Indem Scholem die spezifischen Kontexte seiner Überlegungen eliminiert, gewinnen diese ihre allgemeine Bedeutung und ihre prägnante Form, werden in ihrer Abgeschlossenheit aber zugleich vieldeutig. Das wird natürlich noch dadurch gesteigert, dass die Thesen keine unmittelbar einsichtige Reihenfolge haben, sich also auch wechselseitig nicht kommentieren oder kontextualisieren. Die Kombination von apodiktischer Setzung, poetischer Verdichtung und unbestimmter Diskursivierung ist charakteristisch für die Schreibweise des jungen Scholem. Sie produziert weniger einen Text – geschweige denn ein ›System‹, von dem immer wieder die Rede ist – als vielmehr eine Aneinanderreihung von Sentenzen. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass diese aphoristische Form, ebenso wie das Nebeneinander von eigenen Aussagen und Zitaten, eine formale Anlehnung an die jüdische Traditionsliteratur ist. – These 3 und These 15 sind ja tatsächlich Zitate aus dem Talmud.17 Scholem schreibt hier nicht nur über die Tradition, sondern er versucht zugleich, wie diese zu schreiben; seine Thesen sind – wie seine frühen Schriften insgesamt – nicht lediglich eine neutrale Abhandlung über die Tradition, sondern immer zugleich auch der Versuch, sich diese Tradition anzueignen oder sich in sie einzuschreiben. Diese Aneignung der Tradition ist überhaupt das zentrale und keineswegs nur theoretische Projekt des jungen Scholem. Man darf nicht vergessen, dass sich Scholem zur selben Zeit, in der er sich mit Benjamin austauscht und seine spekulativen Thesen über das Judentum entwickelt, mit den klassischen Texten der jüdischen Literatur beschäftigt und die hebräische Sprache lernt. Ebenso ist es von kaum zu überschätzender Bedeutung, dass Scholem – anders als etwa seine älteren Zeitgenossen Martin Buber und Hermann Cohen – keine traditionelle jüdische Sozialisation und schulische Ausbildung erfuhr, bevor er sich der jüdischen Tradition zuwandte, sondern dass Entschluss und Aneignung streng parallel verlaufen. Auch das macht sein Verhältnis zur Tradition so paradox: 16 Scholem: Tagebücher, 2. Halbbd., S. 213. Hervorhebung im Orig. 17 Darüber hinaus sind die zentralen Ausdrücke der Thesen oft Übersetzungen. Der nicht erklärte Ausdruck ›Lehre‹ etwa ist eine Übersetzung von ›Torah‹, von der Scholem in einer früheren Aufzeichnung gesagt hatte, sie könne gar nicht definiert werden. Die Thesen sind also auch in dieser Hinsicht keine freischwebende Axiomatik, sondern haben einen hebräischen Subtext, der allein sie plausibel macht, der aber eben auch nicht mehr als ein Subtext ist: Obwohl Scholem 1918 schon recht gut Hebräisch kann, führt er seine Aufzeichnungen auf Deutsch fort. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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Es unterscheidet ihn gerade von seinen zionistischen und jugendbewegten Zeitgenossen, dass er jeden Versuch ablehnt, die historische Distanz durch einen Akt existentieller Entschlossenheit unsichtbar zu machen: »Es ist keine Lösung des Problems, über den Abgrund hinwegzuspringen: Wir können nicht springen.«18 Die Beschreibung der Tradition als paradoxes Phänomen in den Thesen spiegelt dies wider, denn nur wenn die Tradition wesentlich paradox erscheint, kann ihre Erscheinungsweise in der Moderne nicht als Ende der Tradition, sondern als genuine, legitime und authentische Fortsetzung der Tradition betrachtet werden. Diese Paradoxie wird nun als eine Theorie des Schreibens artikuliert, wie sie sich kondensiert in der 16. These findet: »Geschriebene Tradition ist die Paradoxie, in der die jüdische Literatur sich essentiell entfaltet.« Spätestens an dieser Stelle des Textes wird deutlich, dass er nicht nur eine Reihung konstatierender Aussagen darstellt, sondern eine eminent performative Äußerung. Denn mit dem Paradox der geschriebenen Tradition spricht Scholem nicht nur über die historische Tradition, sondern auch über sich selbst, genauer: über sein eigenes Schreiben. Wie so mancher jugendliche Diarist klagt Scholem immer wieder, er könne nicht schreiben und alles, was er schreibe, bleibe Stückwerk: »Ich verfasse symbolische Literatur, die nur für mich selbst verständlich ist. […] Das System der Philosophie aber werde ich nur tradieren. Und das ist gewiß paradox. Aber es ist dies eben eine eminente jüdische Paradoxie.«19 Die paradoxe Rede von der ›Tradition‹ erlaubt es hier also, das eigene, als unabgeschlossen und unvollkommen erlebte Schreiben nicht nur zu entschuldigen, sondern als eine produktive, zugleich offene und systematisch ausgerichtete Schreibweise zu charakterisieren, die darüber hinaus dezidiert jüdisch ist und mit anderen Begriffen der jüdischen Traditionsliteratur leicht verbunden werden kann: »[…] ich empfinde in meinem eigenen Leben aufs allerdeutlichste die Berechtigung des Verbotes des Schreibens der mündlichen Lehre.«20 Man kann daher die 16. These vom Paradox der geschriebenen Tradition auf mehreren Ebenen lesen: Sie spricht über ein Problem in der historischen Tradition, aber auch über ein Problem des eigenen Schreibens, schließlich – 18 Scholem: Tagebücher, 1. Halbbd., S. 123. 19 Ebd., S. 423. 20 Scholem: Tagebücher, 2. Halbbd., S. 156. – Diese Beschränkung hat zusammen mit der Figur des Schweigens durchaus existentielle Bedeutung für Scholem, denn gerade in der Zeit der Abfassung der Thesen führt auch die Enttäuschung über den Dialog mit Benjamin zunehmend dazu, dass Scholem die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit des Schweigens betont (vgl. etwa ebd., S. 261). Aus dieser Perspektive sind die bestimmten Formulierungen der Thesen nur ein Durchgangspunkt, mit dem Scholem nicht zufrieden ist und den er eines Tages zu verbessern hofft (vgl. ebd., S. 262).
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und entscheidend – projiziert sie die eigene Paradoxie in die Tradition. Es ist also zugleich Beschreibung und Selbstbeschreibung, wobei Letztere sich nur verschleiert als solche gibt und nur als verschleierte funktionieren kann. Denn diese Doppelreferenz wird durch die oben erwähnten formalen Mechanismen der Isolierung und Verdichtung möglich, in der das Subjekt der Äußerung, von der die These ja auch handelt, nicht mehr auftaucht. Beides, die Doppelreferenz oder mise en abyme von Aussage und eigener Äußerung sowie die Verschleierung dieser Struktur, machen den Satz semantisch höchst produktiv und führen zu einer komplexen Theorie der Tradition, die wiederum performativ insofern produktiv ist, als sie es Scholem erlaubt, gewissermaßen ›fiktiv‹ einen Platz in der Tradition einzunehmen. In den Thesen ist nur am Rande von der Kabbala die Rede, etwa in der 23. These. Als Scholem sich zur selben Zeit mit ihr zu beschäftigen beginnt, kann er seine Theorie der Tradition besonders gut anwenden, und er wird zeitlebens immer wieder betonen, dass die Kabbala zuallererst als Tradition zu verstehen ist, nicht als System, nicht als Spekulation, nicht als Erlebnis und nicht als Magie. Aber neben den Begriff der Tradition tritt nun ein anderer Begriff, der der Philologie, von der Scholem 1918 schreibt, sie sei eine »wahre Geheimwissenschaft, und die einzige wahrhaft historische Wissenschaft, die es bisher gibt« und in der er »eine der größten Bestätigungen meiner Ansicht über die zentrale Bedeutung der Tradition in einem freilich neuen Sinn dieses Wortes« sieht.21 Im folgenden Abschnitt soll kurz umrissen werden, inwiefern sich die Bedeutung von ›Tradition‹ mit dem neuen Begriff von Philologie verschiebt und wie sich dieser Begriff wiederum zur wissenschaftlichen Methode von Scholem verhält, mit der er ab den 1930er Jahren die Kabbala untersucht.
III. Wenn Scholem 1918 von Philologie spricht, so steht das offensichtlich im Zeichen des gemeinsam mit Walter Benjamin betriebenen Studiums der Frühromantik. Aber dahinter steht auch eine andere Erfahrung: die Lektüre religionshistorischer und bibelwissenschaftlicher Fachliteratur, die Scholem in diesen Jahren extensiv und intensiv studiert und die ihn, wenn auch zögernd, zu Änderungen seines Denken veranlasst. Dabei bildet auch die kritische Exegese in gewisser Weise eine Tradition aus; so schreibt er, Phi21 Gershom Scholem: Brief an Escha Burchhardt vom 23. Juli 1918. In: ders.: Briefe, Bd. 1, S. 165–168, hier S. 167. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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lologie sei sogar eines »der präzisesten Beispiele des wahren Begriffes von Tradition. Die Arbeit einer ganzen Generation verdichtet sich zu einigen wenigen Sätzen, die die Grundlage der folgenden ausmachen. Sie geht darin auf, und ist sehr notwendig, obwohl sie vergessen – scheint.«22 Die kritische Philologie bediene sich, so Scholem weiter, auch des Kommentars, den er jetzt als ›legitime‹ Gestalt philologischen Schrifttums versteht; auch daran zeigt sich eine Wahlverwandtschaft zur Kabbala. Schließlich begründet die Philologie einen neuen Begriff von Geschichte, mit der sich Scholems Spekulationen immer schon beschäftigten. In einer Art Vorausdeutung auf Benjamins Kritik des Historismus – und sicherlich auch von diesem beeinflusst – behauptet Scholem nämlich schon 1919, Geschichte könne nicht erzählt, sondern nur kommentiert werden: Das, was an der Geschichte darstellbar ist, ist nicht ihr Verlauf, sondern eine Abfolge höchst unwirklicher Konstellationen: in jedem historischen Moment bleibt die Abfolge der Ereignisse, die historische Bewegung, zeitlich stehen, und es erleidet dann dieses System eigenartige virtuelle Verschiebungen. Dieser Zustand ist der, der einer Wissenschaft: Geschichtsschreibung als Gegenstand aufgegeben ist. Immanente Änderungen der Beziehungen ohne zeitliche Variation vollziehen sich bei dem Übergang der Geschichte ins Schrifttum, in die Quellen oder selbst die mündliche Tradition, die beide ihre höchst eigenartigen Gesetze historischer Mechanik […] haben. […] Die Lehre selbst also ist nie darstellbar, sondern stets nur ihre (unwirkliche, aber exakte) Erstarrung in unendlich kleinen Verschiebungen ihrer Wirklichkeit.23
Nicht die geschichtliche Veränderung als solche sei also darstellbar, sondern eine diskontinuierliche Abfolge von Konstellationen. Weil sich die Konstellationen im Moment der Einschreibung bilden, erhält die philologische Untersuchungen der ›Quellen‹ eine besondere Bedeutung: Ihre Aufgabe ist es, jedes Dokument der Geschichte als Konstellation zu fixieren und die Verschiebungen zwischen diesen Konstellationen zu untersuchen. Die Philologie, die Benjamin einmal auch als »Geschichte der Terminologie« bestimmt, ist damit eine Theorie des historischen Textes als Theorie der Einschreibung.24 22 Scholem: Tagebücher, 2. Halbbd., S. 271. 23 Ebd., S. 387 f. 24 Benjamin äußert sich 1921 gegenüber Scholem zum Verhältnis von Philologie und Geschichte: Jene biete »eine Seite der Geschichte, oder besser eine Schicht des Historischen dar, für die der Mensch zwar vielleicht regulative, methodische, wie konstitutive, elementarlogische Begriffe mag erwerben können; aber der Zusammenhang zwischen ihnen muß ihm verschlossen bleiben. Ich definiere Philologie nicht als Wissenschaft oder Geschichte der Sprache sondern in ihrer tiefsten Schicht als Geschichte der Terminologie, wobei man es dann sicher mit einem höchst rätselhaften Zeitbegriff und sehr rätselhaften Phänomenen zu tun hat. Ich ahne auch, ohne es ausführen zu können, was Sie andeuten,
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Wenn Gershom Scholem von ›Philologie‹ spricht, meint er also von vornherein eine historisch orientierte Arbeit, auch wenn das Historische selbst jenseits der Darstellbarkeit liegt. Und in dieser historischen Orientierung unterscheidet sich die Rede von der Philologie auch von jener der Tradition. Während diese ein inklusiver Begriff ist, jeder folgende Tradent die Tradition also ergänzend fortführt, tritt der Philologe der Tradition mit einem Interesse gegenüber, dass sich von dem des Tradenten gerade unterscheidet – eine Differenz, die Scholem immer wieder in Erinnerung ruft. Die Paradoxie der Tradition nimmt eine andere Gestalt an, der Leser ist jetzt nicht mehr nur einfach Mitglied der Tradition, sondern er erscheint eher aus seinem Gegenstand exiliert zu sein. Gerade Scholems Aufsatz über die Wissenschaft des Judentums zeigt, dass er sich bei allen Vorbehalten derselben kritischen Dialektik unterworfen sah wie die von ihm kritisierten antiquarischen Gelehrten der älteren Wissenschaft des Judentums, für welche die Beschäftigung mit der vergangenen Tradition notwendig zusammenfiel mit der Distanznahme gegenüber ihr.25 Die Implikationen dieser Verschiebung werden noch deutlicher, wenn man sich klarmacht, welche Art von Philologie Scholem eigentlich betreibt. Zwar spricht manches dafür, dass ihm in den 1910er und frühen 1920er Jahren zunächst einfach eine Restauration der Kabbala vorschwebte: Indem man schlicht die Texte zugänglich machte, müsste es auch zu einer Erneuerung jüdischer Spiritualität oder des jüdischen Denkens kommen. Scholem gibt dieses Projekt, das in einer ganzen Reihe von kulturzionistischen Anthologieprojekten verfolgt wird, jedoch bald zugunsten einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Judentum auf. Emblematisch für den Umbruch ist die Spätdatierung des Sohar, von der sich Scholem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre schrittweise und gegen viele Widerstände überzeugte. Sie zeigt, dass die Kabbala nicht lediglich ein authentisches jüdisches Erbe darstellt, dass man einfach nur von seinen Überformungen befreit präsentieren muss, um es wieder fruchtbar werden zu lassen; stattdessen macht sie einsichtig, dass es notwendig ist, die kabbalistischen Texte zu verstehen, unter Umständen sogar, dass es nötig ist, sie anders zu verstehen, als sie sich wenn ich nicht irre, daß Philologie der Geschichte von Seiten der Chronik nahe steht. Die Chronik ist die grundsätzlich interpolierte Geschichte. Die philologische Interpretation in Chroniken bringt an der Form einfach die Intention des Gehalts zum Vorschein, denn ihr Gehalt interpoliert Geschichte.« (Benjamin an Scholem am 14. Februar 1921. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. v. Christoph Gödde; Henri Lonitz. Bd. 2. Frankfurt/M. 1996, S. 136–139, hier S. 137) 25 Vgl. dazu Daniel Weidner: Gershom Scholem, die Wissenschaft des Judentums und der ›Ort‹ des Historikers. In: Ashkenaz 11/2 (2001), S. 435–464. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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selber verstanden. In gewisser Weise hört Scholem mit dieser Forderung auf, ein ›reiner‹ Philologe zu sein, er wird zum Vertreter eines bestimmten Forschungsparadigmas. Mit auffälliger Selbstverständlichkeit fordert Scholem immer ein religionsgeschichtliches Verständnis der Kabbala. 1921 heißt es etwa in seinen Tagebüchern, dass die Kabbala »erst von den Religionsgeschichtlern wieder als ein legitimer Gegenstand der Forschung scheint bewiesen werden zu müssen«26, in seiner Dissertation kritisiert er jene jüdischen Historiker, welche »die Entwicklung der Kabbala mehr in philosophiegeschichtlichen als in religionsgeschichtlichen Zusammenhängen suchten«27. Scholems Ansatz unterscheidet ihn dabei tatsächlich vom Großteil seiner Vorgänger, nicht aber von seinen Zeitgenossen. Unter ihnen ist ›Religionsgeschichte‹ nicht nur ein willkürlicher Ausdruck, sondern ein deutlich konturiertes Forschungsprogramm, das vor allem von der religionsgeschichtlichen Schule und der Formkritik der Bibelwissenschaft ausgeht, also gerade von jenen Texten, die Scholem schon zur Zeit seines Interesses für Philologie gelesen hatte und deren Methodik er scheinbar unbewusst auch für seine Untersuchungen übernommen hat.28 Für die Religionsgeschichte sind historische Texte weniger als Produkte bewusster und individueller Autorschaft von Interesse denn als Beispiel für den Ausdruck allgemeiner religiöser Entwicklungen, vor allem im Hinblick für die die Religion beherrschende Spannung zwischen Ent- und ReMythisierung, die auch in Scholems späterem Aufriss der Kabbala eine entscheidende Rolle spielen sollte. Auch viele andere Details seines Werkes sind durch die Religionsgeschichte vorgeprägt, so etwa das Interesse an der Gnosis und die Betonung der Apokalyptik bei Forschern wie Wilhelm Bousset, Richard Reitzenstein und Hans Jonas. Scholems Zugang zum Phänomen der Mystik ähnelt insgesamt auffällig den Untersuchungen von Ernst Troeltsch, für den Mystik einerseits ein sekundäres Phänomen darstellt, das aus Krisen der Tradition entstehe, andererseits ein soziales Phänomen ist, das anarchische und befreiende Wirkungen in der Gesellschaft habe. Dass dabei auch für die Interpretation von Troeltsch die radikalen Sekten der frühen Neuzeit eine Schlüsselrolle im Prozess der Modernisierung spielen, unterstreicht diese Parallele noch. Religionsgeschichte ist mehr als Tradition und auch mehr als Philologie. Sie ist so besehen ein Forschungsparadigma, eine Verbindung von ver26 Scholem: Tagebücher, 2. Halbbd., S. 659. 27 Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala auf Grund der Kritischen Neuausgabe von Gerhard Scholem, Leipzig 1923 (Nachdruck Darmstadt 1980), S. 20. 28 Vgl. zu den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründen Weidner 2003 (wie Anm. 13), bes. S. 304–363.
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schiedenen Methoden, Konzepten und Forschungsinteressen.29 Für Scholem ermöglicht dieses Paradigma, die kabbalistischen Texte wieder lesbar zu machen und darüber hinaus ihre historische Bedeutung zu verstehen. Erst auf religionsgeschichtlicher Grundlage entwirft Scholem im Verlauf der 1930er Jahre seine große Erzählung der Kabbala, in der die ältere Kabbala eine latente Gnosis darstellt, die mit der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 wirksam wird, später zur Entstehung der lurianischen Kabbala führt und schließlich zum Höhepunkt der Geschichte, der Krise des Sabbatianisus führt, dort also, wo sich Scholem zufolge »alle Begriffe der jüdischen Mystik nur zusammengefunden haben, um an ihrer eigenen Dialektik zu explodieren oder – trauriger gesagt –, zu verpuffen«30. Es ist dabei höchst bezeichnend, dass wir am Höhepunkt der Geschichte auf eine besonders auffällige, expressive Metaphorik stoßen: auf die von Scholem wieder und wieder herangezogene Rede von der ›Explosion‹ der Tradition. Indem sie eine theoretische Formulierung ersetzt, welche präzisieren würde, welche Art von Kausalität hier am Werk ist, lässt sie in gewisser Weise unbestimmt, wie sich der Übergang von einer Konstellation zur anderen eigentlich vollzieht und in welcher Weise hier die Doktrin (die kabbalistische Spekulation) und die politische und soziale Wirklichkeit (die sabbatianische Frömmigkeit) sich zueinander verhalten. Dass Scholem sich hier nicht äußert, ist typisch für ihn und zugleich charakteristisch für die von ihm beanspruchte Position des ›Philologen‹.31 Denn zu dessen Habitus gehörte, zumal in der deutschen Wissenschaftstradition des späten 19. Jahrhunderts, ein Purismus in der wissenschaftlichen Praxis, eine Selbstbeschränkung auf das Material und eine Ablehnung jeglicher theoretischer Erörterungen. Interessanterweise führt daher an dieser Stelle gerade die Beteuerung, ›nur‹ Philologe zu sein, auch einen Überschuss an Bedeutung mit sich, der sich in der Metapher der Explosion niederschlägt. Dieses spannungsreiche Verhältnis von Philologie, Geschichte und Tradition lässt sich poetologisch an einem kleinen Text präzisieren, den Scholem später über das Verhältnis von Kabbala und ihrer philologischen Erforschung schreibt und von dem nun noch die Rede sein soll. 29 Vgl. die methodisch vorbildliche Rekonstruktion des Paradigmas bei Michael MurrmannKahl: Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920. Gütersloh 1992. 30 Gershom Scholem: Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos. In: ders.: Judaica. Bd. I. Frankfurt/M. 1963, S. 119–146, hier S. 132. 31 Charakteristisch dafür ist auch der hochgradig metaphorische Charakter des methodischen Textes Ursprünge, Widersprüche und Auswirkungen des Sabbatianismus (Gershom Scholem: Erlösung durch Sünde. Judaica. Bd. 5. Frankfurt/M. 1992, S. 117–130). Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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IV. Bei diesem Text handelt es sich um den ersten der Zehn unhistorischen Sätze über Kabbala, eine kurze Abhandlung, die Scholem 1958 an eher versteckter Stelle veröffentlichte, die aber nichtsdestoweniger – oder gerade deswegen – schon häufig als der Schlüssel für sein Denken interpretiert wurde: Die Philologie einer mystischen Disziplin wie der Kabbala hat etwas Ironisches an sich. Sie beschäftigt sich mit einem Nebelschleier, der als Geschichte der mystischen Tradition das Korpus, den Raum der Sache selbst umhängt, ein Nebel freilich, der aus ihr selber dringt. Bleibt in ihm, dem Philologen sichtbar, etwas vom Gesetz der Sache selbst oder verschwindet gerade das Wesentliche in dieser Projektion des Historischen? Die Ungewißheit in der Beantwortung dieser Frage gehört zur Natur der philologischen Fragestellung selbst, und so behält die Hoffnung, von der diese Arbeit lebt, etwas Ironisches, das von ihr nicht abgelöst werden kann. Aber liegt solch Element der Ironie nicht vielmehr schon im Gegenstand dieser Kabbala selber, und nicht nur in ihrer Geschichte? Der Kabbalist behauptet, es gäbe eine Tradition über die Wahrheit, die tradierbar sei. Eine ironische Behauptung, da ja die Wahrheit, um die es hier geht, alles andere ist als tradierbar. Sie kann erkannt werden, aber nicht überliefert werden, und gerade das in ihr, was überlieferbar wird, enthält sie nicht mehr. Echte Tradition bleibt verborgen; erst die verfallende Tradition verfällt auf einen Gegenstand und wird im Verfall erst in ihrer Größe sichtbar.32
Offensichtlich greift Scholem hier auf die Überlegungen zu Tradition und Philologie zurück, die wir schon kennen; tatsächlich besteht auch dieser Text, ähnlich wie die oben betrachteten Thesen, zum großen Teil aus Selbstzitaten, – teils aus Scholems historischen Untersuchungen zur Kabbala, teils aus theologischen Auseinandersetzungen, die er in den 1930er Jahren mit Benjamin und Hans-Joaachim Schoeps geführt hatte, insbesondere aber aus zwei älteren Texten über das Verhältnis von Kabbala und deren Geschichte, auf die ich gleich noch zurückkommen werde.33 Auf den ersten Blick wird das Verhältnis der Kabbala zu ihrer philologischen Erforschung mit der im Historismus verbreiteten Gewandmetapho32 Gershom Scholem: Zehn unhistorische Sätze über Kabbala. In: ders.: Judaica. Bd. III. Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt/M. 1970, S. 264–271, hier S. 264. 33 Die intertextuellen Bezüge zur Kabbala und zu Scholems anderen Werken untersucht David Biale: Gershom Scholem’s Ten Unhistorical Aphorisms on Kabbalah. Text and Commentary. In: Harold Bloom (Hg.): Gershom Scholem. Modern Critical Views. New York u. a. 1987, S. 99–124.
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rik beschrieben: Was der Historiker von den Dingen selbst und insbesondere vom Wesen der Kabbala sieht, ist nur deren Abschattung in der äußerlichen, historischen Wirklichkeit, die ihrem Wesen, dem Ding an sich, sekundär ist – im Bild gesprochen sieht er eben nur eine Erscheinung im Nebel. Aber dieser Nebel verhüllt nicht nur, sondern ist auch ein Medium, in dem etwas zuallererst erscheint, wie sich in der Rede von der Projektion andeutet. Denn diese Rede verweist auf eine räumliche Metaphorik, die in den Vorstufen des Textes deutlicher ist und die das konventionelle Bild zu einer komplexen Allegorie historischer Erkenntnis macht. In einem 1937 verfassten offenen Brief an Salman Schocken macht Scholem deutlich, dass das Projektionsverfahren auch eines der räumlichen Abbildung ist. Gewiß, Geschichte mag im Grunde ein Schein sein, aber ein Schein, ohne den in der Zeit keine Einsicht in das Wesen möglich ist. Im wunderlichen Hohlspiegel der philologischen Kritik kann für heutige Menschen zuerst und auf die reinlichste Weise, in den legitimen Ordnungen des Kommentars, jene mystische Totalität des Systems gesichtet werden, dessen Existenz doch gerade in der Projektion auf die historische Zeit verschwindet.34
Indem die philologische Kritik als »Hohlspiegel« figuriert, wird ihre produktive Leistung betont. Anders als ein normaler Spiegel gibt ein Hohlspiegel den Gegenstand ja nicht nur auf einer Ebene, reduziert um dessen dritte Dimension, wieder, sondern verzerrt ihn, so dass auch seine Tiefe in der Abbildung sichtbar wird. Im Hohlspiegel hat die Philologie zwar nur ein Abbild der Kabbala, aber eines, das deren Unabbildbarkeit verzerrt gleich mit abbildet. Diese Metapher suggeriert darüber hinaus, dass die Kabbala, jene mystische Totalität des Systems, nicht einem ausdehnungslosen Punkt oder einem transzendenten Wesen gleicht, das nur im Raum der Geschichte ein Kleid tragen muss, sondern dass sie selbst eine räumliche Ausdehnung hat. An anderer Stelle spricht Scholem auch vom »Vieldimensional-SubstantiellRäumliche[n]« der Kabbala und hält das »mystisch-körperliche an der Kabbala« für ihr Wesentliches35, wobei das Oxymoron betont, dass die Kabbala selbst eben tatsächlich nur in der Abschattung erscheinen kann. Somit ist hier auch der ›Nebelschleier‹ nicht nur eine ›Wand‹, die verhüllt, und letztlich durchschritten werden muss, um zur Sache selbst durchzudringen, wie der 34 Gershom Scholem: Ein offenes Wort über die wahren Absichten meines Kabbalastudiums. In: ders.: Briefe. Bd. 1, S. 471 f., hier S. 472. 35 Scholem: Tagebücher, 2. Halbbd., S. 685. Zu diesem Text (Über die Kabbala, jenseits betrachtet) vgl. Peter Schäfer: »Die Philologie der Kabbala ist nur eine Projektion auf eine Fläche«: Gershom Scholem über die wahren Absichten seines Kabbalastudiums. In: Jewish Studies Quarterly 5 (1999), S. 1–25. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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frühere Text suggeriert; sie ist zugleich das Medium, oder, wie es an anderer Stelle sehr treffend heißt, das »ironische Papier der Geschichtsschreibung«, auf dem überhaupt erst die Kabbala darstellbar wird.36 Die Überdeterminierung der Bildlichkeit macht den Text von Scholem paradox, was sich in der Fassung von 1958 vor allem in der starken Präsenz der Ironie ausdrückt, die besonders den zweiten Absatz dominiert. Ironisch sind auch die Fragen, die diesen Absatz rahmen, ironisch ist die variierende Wiederholung von ›selbst‹, das sich hier mal auf die Kabbala, mal auf die Philologie bezieht, doppelt ironisch ist schließlich der letzte Satz des vorliegenden Textes. Denn die Schärfe der Paradoxie, dass man echte Tradition nicht sieht und eine ›große‹ stets eine verfallene Tradition ist, wird hier auf der Ausdrucksebene durch die variierende Wiederholung des ›Verfallens‹ und der ›Tradition‹ gemildert; sie wird durch ihre Position am Schluss des Textes motiviert, den sie noch einmal resümiert und zugleich – durch die Verschiebung der Opposition ›Schein‹ und ›Wesen‹ zu jener von ›Echtheit‹ und ›Verfall‹ – revidiert. Die Variation über ›Tradition‹, die der letzte Absatz insgesamt darstellt, beruht dabei auch auf der Homonymie des Ausdrucks, eine rhetorische Figur, die beim späten Scholem generell eine zentrale Rolle spielt. Denn die ›Tradition‹, die der Kabbalist behauptet, kann sich sowohl auf einen Bestand tradierter Güter, also das traditum, beziehen als auch auf den Prozess des Tradierens, also die traditio. Auch kann ›Tradition‹ sowohl einen profanen Prozess der Wirkungsgeschichte als auch eine authentische Weitergabe heiliger Güter beschreiben. Dass Gershom Scholem ›Tradition‹ nicht selten auch als Übersetzung von Kabbala verwendet, macht die Ambiguität und Komplexität des Ausdrucks nicht geringer. ›Tradition‹ ist für ihn wie wohl generell im jüdischen Kontext keineswegs ein neutraler kulturwissenschaft lichen Begriff, sondern eine gleichsam rhetorische Reserve, die es ermöglicht, die Widersprüche und Spannungen des jüdischen historischen Bewusstseins auszusagen, und die es zweitens erlaubt, diese Spannungen wieder jüdisch zu ›traditionalisieren‹, also an die kanonischen Texte jüdischer Identität zurückzubinden. Dabei produziert sie schließlich so dichte Aussagen wie jenen Schlusssatz des untersuchten Textausschnittes.
36 Scholem: Tagebücher, 2. Halbbd., S. 687. Dieses ironische Papier, das zugleich Ort der Verschleierung und des Erscheinens ist, kann als duales Zeichen im Sinne Michael Riffaterres verstanden werden und ist entscheidend für die poetische Überdeterminierung des Textes, vgl. dazu meine ausführlichere Lektüre in: Reading Gershom Scholem. In: Jewish Quarterly Review 96/2 (2006), S. 203–231.
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V. Der letzte der zehn Unhistorischen Sätze handelt von Kafka, den Scholem in eine wie immer gebrochene häretisch-nihilistische Tradition der Kabbala stellt, etwa diejenige des wenig bekannten Prager Frankisten Jonas Wehle (1752–1823). Dieser habe, so Scholem, Kafkas Gedankenwelt bereits vorweggenommen: Er ist der erste, der sich die Frage vorgelegt (und bejaht) hat, ob das Paradies mit der Vertreibung der Menschen nicht mehr verloren hat als der Mensch selber. […] Ist es nun Sympathie der Seelen, die hundert Jahre später Kafka auf damit tief kommunizierende Gedanken gebracht hat? Vielleicht weil wir nicht wissen, was mit dem Paradies geschehen ist, hat er jene Erwägungen darüber angestellt, warum das Gute ›In gewissem Sinne trostlos‹ sei. Erwägungen, die fürwahr einer häretischen Kabbala entsprungen zu sein scheinen. Denn unübertroffen hat er die Grenze zwischen Religion und Nihilismus zum Ausdruck gebracht. Darum haben seine Schriften, die säkularisierte Darstellung des (ihm selber unbekannten) kabbalistischen Weltgefühls für manchen heutigen Leser etwas von dem strengen Glanze des Kanonischen – des Vollkommenen, das zerbricht.37
Der letzte von Scholems Sätzen führt aus der Tradition der Kabbala in deren Nachgeschichte und damit aus der Vergangenheit in die Gegenwart der eigenen Äußerung. Zusammen mit dem ersten Satz über das Verhältnis von Kabbala und Philologie stellt der Satz einen Rahmen für die anderen Sätze dar, die zwar nicht weniger ›unhistorisch‹ sind – auch sie verallgemeinern und bedienen sich des bewussten ›Anachronismus‹, wenn sie etwa die Kabbalisten als »mystische Materialisten dialektischer Tendenz« vorstellen38 –, aber meist über die Kabbala selbst sprechen, nicht über den sie umgebenden Nebel oder den von ihr ausgehenden ›Glanz‹.39 Es ist dabei kein Zufall, dass Scholem am Ende der Thesen wieder bei Kafka angelangt ist, der schon in dem fünfundzwanzig Jahre älteren Briefwechsel mit Benjamin eine entscheidende Rolle gespielt hatte und der neben zionistischen Intellektuellen wie Chaim N. Bialik für Scholem zum Garanten der Möglichkeit einer modernen jüdischen Tradition wurde. Es ist eine Tradition, die an der 37 Scholem 1970 (wie Anm. 32), S. 271. 38 Ebd., S. 267. 39 Eine gewisse Ausnahme stellt der sechste Satz über die Verwandlung der Kabbala in die Aufklärung dar, der sich aber mit der Rede von der »Transparenz« des Gesetzes und von dem es durchbrechenden »Schimmer« einer Wirklichkeit auffälligerweise derselben Metaphorik wie der letzte Satz bedient. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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Grenze von Religion und Nihilismus steht, sie aber nicht überschreitet, die der Kabbala ›entsprungen‹ zu sein scheint, ohne sich von ihrem Ursprung schon unwiderruflich entfernt zu haben. Schon in diesem ›Entspringen‹ liegt daher eine ›Zweideutigkeit‹, die an den Disput mit Benjamin erinnert, ob nun die ›Schrift‹ bei Kafka abwesend oder bloß unlesbar ist. Noch deutlicher drückt sich das in der abschließenden Formulierung über das Kanonische aus, die mit einer zweifellos beabsichtigten Ambiguität arbeitet, bleibt doch nicht nur unklar, ob das Vollkommene etwas (oder jemand) anderes zerbricht oder selbst zerbrochen wird, sondern auch, ob das Kanonische das Vollkommene ist, das nur akzidentell zerbricht, oder ob das Vollkommene nur insofern das Kanonische ist, als es zerbricht. Zerbricht also bei Kafka das Kanonische, so bleibt die Frage offen, ob der Faden der Tradition reißt oder ob sich gerade deren Wesensgesetz offenbart, oder aber beides: Vielleicht offenbart sich das Wesensgesetz gerade im Zerbrechen? Das ›Brechen‹, von dem hier die Rede ist, hat dabei eine ganze Reihe von Konnotationen: Es erinnert an kabbalistische Ideen, etwa die des lurianischen Bruchs der Gefäße, aber auch an einen Brief Benjamins, der Scholem 1917 über Tradition geschrieben hatte: Wer sein Wissen als überliefertes begriffen hat in dem allein wird es überlieferbar, er wird in unerhörter Weise frei. Hier denke ich mir den Ursprung des talmudischen Witzes. Die Lehre ist wie ein wogendes Meer, für die Welle aber (wenn wir sie als Bild des Menschen nehmen) kommt alles darauf an, sich seiner Bewegung so hinzugeben, daß sie bis zum Kamm wächst und überstürzt mit Schäumen.40
Demnach wäre das ›Brechen‹ des Vollkommenen nicht nur ein ›Abbrechen‹, sondern auch ein ›Aufbrechen‹ oder ein Moment der ›Brechung‹ wie das Licht durch ein Prisma in seine Farben zerlegt wird, ein mediales Verhältnis also. Was hier die ›Lehre‹ ist und wer die ›Gelehrten‹ sind, die sie pflegen und fortsetzen, ist daher mehrdeutig und kann nur im Bild ausgedrückt werden, sei es in Benjamins Denkbild der sich brechenden Wellen, sei es im Bild des ›Glanzes‹, das seinerseits wieder auf Kafka zurückverweist, handelt es sich doch um eine deutliche Referenz an Kafkas Parabel Vor dem Gesetz, wo von einem »Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht«, die Rede ist.41 Solche Bilder können in ihrer Mehrdeutigkeit nicht nur die Komplexität der Tradition in besonderer Weise ausdrücken, sie erlauben es auch, die Position der eigenen Äußerung gegenüber ihrem Gegenstand aufzuladen, 40 Benjamin an Scholem im September 1917. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. 1. Frankfurt/M. 1995, S. 382 f. 41 Franz Kafka: Vor dem Gesetz. In: ders.: Schriften. Tagebücher. Kritische Ausgabe: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler u. a. Darmstadt 1994, S. 267–269, hier S. 269.
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ohne sich festzulegen: Die Unhistorischen Sätze sprechen über die Tradition, sie setzen aber auch die Tradition fort und gehören damit zugleich zur Tradition, deren Ende sie doch verkünden. Die Figur des Textgelehrten ist genau an dieser Grenze angesiedelt und wird produktiv aufgrund dieser Bildlichkeit. Hugo Bergmann berichtet in seinem Tagebuch, Scholems Schüler Jesahjah Tishby habe seinen Lehrer zu dessen sechzigsten Geburtstag aufgefordert, nach Jahren der historischen Analyse eine ›Synthese‹ zu schreiben. Scholem habe geantwortet, »er habe eine Synthese gemacht, als er anfing und nichts wußte. Von Walter Benjamin habe er gelernt, was es heißt zu denken. Er habe gelernt: ›Wenn du etwas nicht vollkommen sagen kannst, ist es besser zu schweigen‹.«42 Dieses Schweigen ist allerdings keineswegs nur eine professionelle Zurückhaltung, es ist vielmehr Ausdruck eines starken Anspruchs, wohl gar eine bewusste Form der Selbstkanonisierung, deren Verfahren Scholem an anderer Stelle, wieder angesichts von Benjamins Schreibstrategie, präzise beschrieben hat: Dessen »Gestus des Esoterikers […] war der des Produzenten autoritärer, und das heißt freilich auch: von vornherein und ihrem Wesen nach zitierbarer und deutbarer Sätze«.43 ›Von vornherein deutbar‹ sind Sätze, die mit ihrer eigenen Mehrdeutigkeit spielen, ›von vornherein zitierbar‹ sind Sätze, die aus ihrem Kontext gerissen werden können, ohne ihre Bedeutung zu verlieren. Gerade so, als poetische Sentenzen, bleiben sie gegenüber all ihren Deutungen transzendent und müssen damit immer weiter wiederholt und überliefert werden. Mit diesen Sentenzen und ihrem Zitatwert hat es Scholem geschafft, gegen eine Tradition jüdischer Textgelehrsamkeit anzuschreiben und sich dabei zugleich auch selbst fest in diese Tradition einzuschreiben, nicht obwohl, sondern gerade indem er seine eigenen Texte auf der Grenze positioniert hat, nämlich genau zwischen traditionaler Zugehörigkeit und reflexiver Distanz. Ein moderner Textgelehrter zu sein bedeutet in diesem Sinne, Tradition zu lesen, Tradition fortzuschreiben und mit der Bedeutung von ›Tradition‹ zu spielen.
42 Hugo Bergmann: Tagebücher und Briefe. Königstein/Ts. 1985. Bd. II, S. 264 f. 43 Scholem 1983 (wie Anm. 6), S. 35. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹
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RE SP ONDENZ
Ottfried Fraisse
Zum Beitrag von Daniel Weidner
Auf kaum einen anderen modernen Autor trifft, wie Daniel Weidner zu Recht betont, der Ausdruck ›Textgelehrter‹ mehr zu als auf Gershom Scholem. Dies gilt nicht nur in einem beschreibenden oder gar verklärenden Sinn: Die Verbindung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, von Text und Lehre, wie sie in der Wortbildung ›Textgelehrter‹ evoziert wird (wenn es hier einmal erlaubt ist, den Gelehrten auf seine wichtigste Rolle zu reduzieren), wurde von kaum einem anderen so intensiv reflektiert wie von Gershom Scholem. Er hat den gewagten Versuch unternommen, jüdische Tradition gleichzeitig mit einem wissenschaftlichen Blick von außen und mit einem Blick von innen zu betrachten – eine vermeintliche Paradoxie, die eine Analogie zum paradoxen Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der jüdischen Tradition selbst darstellt, denn der Talmud ist mündliche Tradition, die gleichwohl als Text vorliegt.1 Genau genommen ist damit das Schreiben Scholems über die jüdische Tradition eine Paradoxie der Paradoxie. Weidner bringt das auf die Formel: »Scholem schreibt […] nicht nur über die Tradition, sondern er versucht zugleich, wie diese zu schreiben«.2 Kein Wunder, dass Weidner an anderer Stelle, nämlich in seinem Aufsatz Reading Gershom Scholem feststellt: »To a certain extent, the deeper importance of Scholem’s œuvre remains vague, and I believe this vagueness is an essential part of his legacy, as well as a source of fascination for his readers«.3 So stellt sich die Frage, wie produktiv es ist, von dem Leser der Texte Scholems den
1 Vgl. die sechzehnte der 95 Thesen über Judentum und Zionismus: »Geschriebene Tradition ist die Paradoxie, in der die jüdische Literatur sich essentiell entfaltet.« Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 2. Halbband: 1917–1923. Hg. v. Karlfried Gründer u. a. Frankfurt/M. 2000, S. 300–306, hier S. 302. 2 Daniel Weidner: Lernen, Lesen, Schreiben. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹. In diesem Band, S. 259–279, hier S. 267. 3 Daniel Weidner: Reading Gershom Scholem. In: The Jewish Quarterly Review 96 (2006), Nr. 2, S. 203–231, hier S. 203. Zum Beitrag von Daniel Weidner
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simultanen Nachvollzug von dessen Doppelperspektive zu erwarten: Tradition als Objekt und gleichzeitig als Subjekt der Betrachtung. Ziel der folgenden Zeilen ist der Vorschlag, Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Scholems Werk nicht erneut in ihrer mehrfach paradoxalen Verbindung zu fassen, sondern seine Methode, Tradition, die ja per definitionem bereits eine Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit darstellt, als Objekt zu behandeln, von seiner Methode einer mit Hilfe wissenschaftlicher Mittel als Subjekt agierenden Tradition heuristisch abzukoppeln. Einerseits kritisiert Weidner die in der Forschung dominierenden biographischen und ideengeschichtlichen Wege, weil beide anstrebten, die Einheit des spekulierenden und des historisch arbeitenden Scholem sichtbar zu machen; hierbei, so Weidner, werde mehr Kohärenz und Konsistenz erzeugt, als der Faktenlage angemessen sei.4 Andererseits hält Weidner an der Idee fest, dass eine Vereinbarkeit der scheinbar inkompatiblen Dimensionen Scholems gefunden werden müsse. Seine Antwort lautet, dass deren Verbindung weniger auf der Sachebene als auf der Ebene der Textproduktion, dem Akt des Schreibens selbst, gesucht werden müsse. Wird aber der Versuch, Scholem zu verstehen, zu schnell und ausschließlich auf die Frage einer möglichen Einheit von Schriftlichkeit und Mündlichkeit oder von Tradition als Objekt und Tradition als Subjekt verengt, dann könnte die Suche nach der schlüssigen Synthese seines Lebenswerks das verschütten, was er mutig eingefordert und antizipiert hat: die Möglichkeit eines dritten Wegs zwischen vormodernem und modernem Traditionsverständnis. Möglicherweise wird ihn doch noch jemand anderes zu Ende gehen können. Im Folgenden sollen daher die konzeptionellen Spannungen zwischen dem objektivierenden und dem spekulativen Scholem nicht im Zentrum der Betrachtung stehen. Statt auf den Autor Scholem, der schreibend traditionsbildend wirkte, soll der Fokus nur auf den Leser Scholem, der die Tradition objektivierend analysierte, gerichtet werden. Der lesende Scholem folgte einem originellen philologischen Konzept, in das die jüdischen Erfahrungen mit der philologischen Tradition des 19. Jahrhunderts einflossen und eine neue Form fanden. Für die heuristische Trennung des lesenden und des schreibenden Gelehrten gilt es, seine moderne Leseperspektive zu rekonstruieren, denn unbezweifelbar ist Scholem ein versierter Leser, der davon überzeugt war, dass religiöse Traditionen mit der Moderne nur in wissenschaftlicher Gestalt zusammengeführt werden können. Historisch haben sich zwei markante Modelle der Bibelkritik herausgebildet, die protestantische Wissenschaft auf 4 Weidner 2006 (wie Anm. 3), S. 206.
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der einen und die diesem Vorbild folgende Wissenschaft des Judentums auf der anderen Seite (in Zukunft kann – unter einer so gewendeten systematischen Perspektive – eine Wissenschaft des Islam erwartet werden). Scholem war von der Notwendigkeit der Verwissenschaftlichung seiner religiösen Tradition überzeugt, suchte aber neben der seit Leopold Zunz und Abraham Geiger etablierten Wissenschaft des Judentums nach einer eigenen Variante ihrer Modernisierung. Diese Suche und damit seine Kritik an der etablierten Wissenschaft des Judentums waren für Scholem von existentieller Bedeutung. Dies wird aus dem emotionalen Ton seines ursprünglich auf Hebräisch verfassten Aufsatzes Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum aus dem Jahr 1944 deutlich. Dieser Text ist deshalb so bedeutsam, weil er in aller Schärfe mit der Wissenschaft des Judentums ins Gericht geht, zugleich aber deren Kritikern, zu denen Scholem ja selbst gehörte, keinen anhaltenden Erfolg attestiert.5 Es stelle sich die Aufgabe, so Scholem, die Dialektik zwischen dem destruktiven und dem konstruktiven Potential der Methode der historischen Kritik, deren Notwendigkeit grundsätzlich unbezweifelbar sei, anders zu nutzen, als es die Wissenschaft des Judentums getan habe.6 Die überzeugende Umsetzung dieser Aufgabe, sozusagen die Kritik der Kritik, die »Destruktion der Destruktion« stehe aber noch aus.7 Dass der Philologie, die ein wesentlicher Aspekt der Methode der historischen Kritik ist, in Scholems Erforschung der Geschichte des Judentums eine zentrale Rolle zukommt, wurde von ihm schon früh zum Ausdruck gebracht; erinnert sei nur an folgende Briefpassage aus dem Jahr 1918: »Es ist eine wahre Geheimwissenschaft, und die einzige wahrhaft historische Wissenschaft die es bisher gibt. Sie ist eine der größten Bestätigungen meiner Ansicht über die zentrale Bedeutung der Tradition in einem freilich neuen Sinne des Wortes«.8 Bevor 5 Gershom Scholem: Judaica 6. Die Wissenschaft vom Judentum. Hg. v. Peter Schäfer. Frankfurt/M. 1997, S. 9–52. Der spätere analoge Text unter dem Titel Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt (Gershom Scholem: Judaica 1. Frankfurt/M. 1963, S. 147–164) aus dem Jahr 1959 trägt dasselbe Argument vor, ist jedoch weit weniger apodiktisch. 6 »Es entspricht dem Wesen der historischen Kritik als wissenschaftliche Methode, daß sie sich dieser Dialektik ohnehin nicht entziehen kann. Ihre destruktive Aufgabe – und zweifellos ist ihre natürliche und ins Auge stechende Aufgabe destruktiv – kann sich auf der Stelle ins Gegenteil verkehren: in die Freilegung einer Masse von Fakten oder von Werten, die mit einem Mal die gesamte Perspektive verändern, eine Freilegung, die, ohne es zu wollen, Trümmer der Vergangenheit zu Symbolen eines verzauberten Lebens erheben. Der kritisch arbeitende Historiker muß jeden Augenblick mit der Möglichkeit rechnen, bei der nächsten Wendung seiner Vorgehensweise auch als Restaurator in Erscheinung zu treten« (Scholem 1997 [wie Anm. 5], S. 19). 7 Ebd., S. 43 f. 8 Gershom Scholem: Brief an Escha Burchhardt vom 23. Juli 1918. In: ders.: Briefe. Hg. v. Itta Shedletzky. Bd. 1. München 1994, S. 167. Zum Beitrag von Daniel Weidner
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aber auf Scholems alternatives Konzept der Philologie näher eingegangen wird, folgt zunächst eine kurze Kontextualisierung der Wissenschaft des Judentums, ohne die Scholems Kritik nicht angemessen nachvollziehbar wäre. Das noch heute dominante Modell religiöser Modernisierung geht auf die Argumentation von Max Weber9 und Ernst Troeltsch10 zurück, nach der vor allem der Protestantismus für die Profilierung der Moderne entscheidend war. Dieser Ansatz konnte universalisiert werden und mittlerweile wird im Hinblick auf die Modernisierung weiterer Religionen von der jeweiligen Notwendigkeit ihrer ›Protestantisierung‹ gesprochen. So sahen und sehen sich Judentum und Islam der Erwartung ausgesetzt, durch eine Verinnerlichung ihrer Religion diese mit der in der Aufklärung autonom erklärten Vernunft kompatibel zu machen. Dass dieses Konzept der ›Protestantisierung‹ in einer erheblichen Spannung zu diesen beiden durch religiöse Gesetze auf die Tat ausgerichteten Religionen steht, ist evident. Vor allem das Judentum hat im Verlauf der innerjüdischen Aufklärung (Haskala) und im Rahmen der darin gegründeten Wissenschaft des Judentums weitgehend diesen Erwartungen Folge geleistet. Die Haskala und die Wissenschaft des Judentums zogen daher wegen ihrer Spiritualisierung der Tradition den Zorn Scholems auf sich. In dem schon erwähnten Text Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum fasst Scholem seine Haltung gegenüber der Wissenschaft des Judentums in folgenden Worten zusammen: Was also halte ich dieser Wissenschaft vom Judentum in der Epoche ihrer kleinbürgerlichen Anpassung vor? […] Die Entfernung des irrationalen Stachels und die Austreibung der dämonischen Glut aus der jüdischen Geschichte durch übertriebene Theologisierung und Spiritualisierung. Darin besteht eigentlich der Sündenfall, der den alles entscheidenden Ausschlag gibt. Jener dräuende Riese: unsere Geschichte, sie wird in den Zeugenstand und zur Lehre gerufen, sie ist zum Zeugnis bestimmt – und jenes gewaltige Geschöpf voller Sprengkraft, aus Vitalität, Bosheit und Vollkommenheit zusammengesetzt, macht sich klein, schrumpft in sich zusammen und behauptet von sich selbst, daß es rein gar nichts sei. Der dämonische Riese ist nur noch ein harmloser Idiot, der die Gewohnheiten des fortschrittsgläubigen Bürgers pflegt […].11
Warum erscheint aber Scholem ausgerechnet die Philologie als ein Mittel, um dieser Situation zu entkommen? Hatte diese sich in der Nachfolge des deutschen Idealismus nicht hinsichtlich der Spiritualisierung – oder besser 9 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1904]. Tübingen 1920 (Nachdruck Köln 2009). 10 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt. München 1911 (Nachdruck Berlin 2001). 11 Scholem 1997 (wie Anm. 5), S. 35 f.
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ausgedrückt: Christianisierung – der Geschichte mitschuldig gemacht? Erinnert sei etwa an Julius Wellhausen und dessen Reinterpretation der Dokumentenhypothese. Seine einflussreiche Datierung der sogenannten Priesterschrift in die nach-exilische Zeit bot ihm die Möglichkeit, den sogenannten jüdischen Legalismus als eine späte Verfallserscheinung von der früheren, höher stehenden prophetischen Tradition – verkörpert in der Quellenschicht des Deuteronomisten – abzuspalten. Selbstverständlich sah Wellhausen dann das Christentum in Kontinuität mit dem Deuteronomisten, während das Judentum in der sich in der Priesterschrift abzeichnenden gesetzlichen Erstarrung ihr baldiges Ende gefunden habe. Die philologische Methode in den Händen der meisten protestantischen Theologen eröffnete, so zeigt dieses Beispiel, dem Judentum durchaus keine in die Zukunft gerichteten eigenen Perspektiven. Dass Scholem mit philologischen Mitteln gegen die protestantisierende Tendenz in der etablierten Wissenschaft des Judentums glaubte angehen zu können, mutet aus heutiger Sicht geradezu tollkühn an. Zu diesem Zweck richtete er die philologische Methode neu aus und an zwei Grundgedanken des jungen Scholem zur Philologie sei im Folgenden erinnert (Scholem hat sie später, wenn auch in andere Metaphern gekleidet, wiederholt). Geschichte sei, so schreibt er bereits 1918, in ihrem Verlauf nicht darstellbar. Was bleibt, seien in bestimmten historischen Momenten unterschiedliche, statische Konstellationen des philologischen Befunds. Nur diese seien Gegenstand der Wissenschaft.12 Umgekehrt extrapoliere die entwicklungsgeschichtliche Darstellung aus jenen Konstellationen einen zusätzlichen Sinn, indem sie – geleitet von der Idee eines geschichtlichen Kontinuums –, spiritualisierend einen ›logischen‹ Zusammenhang unter den philologisch fixierten Konstellationen herstelle. Nach diesem Modell sind jene philologischen Konstellationen, die Scholem hier im Sinn hatte, also stets ›früher‹ als ihre Deutungen in Form von Geschichtsschreibung und so wirken philologische Konstellationen als eine permanente, die bestehenden Geschichtszusammenhänge dekonstruierende Kraft. Damit aber nicht genug. Scholem beharrt nicht nur auf dem – mit Lessing gesprochen – ›garstigen Graben‹ zwischen philologischem Befund und seiner historischer Deutung, sondern grenzt die philologischen ›Konstella12 »Das, was an der Geschichte darstellbar ist, ist nicht ihr Verlauf, sondern eine Abfolge höchst unwirklicher Konstellationen: in jedem historischen Moment bleibt die Abfolge der Ereignisse, die historische Bewegung, zeitlich stehen, und es erleidet dann dieses System eigenartige virtuelle Verschiebungen. Dieser Zustand ist der, der einer Wissenschaft: Geschichtsschreibung als Gegenstand aufgegeben ist.« (Scholem 2000 [wie Anm. 1], S. 387) Zum Beitrag von Daniel Weidner
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tionen‹ durch einen weiteren Graben von der eigentlichen Lehre des Textes ab. Die Konstellationen bilden sich ihm zufolge während der philologischen Rekonstruktion des Schrifttums, der Quellen oder gar der mündlichen Tradition. Sie folgen aber eigenen Gesetzen und dürfen nicht mit ihren Inhalten, mit der Lehre selbst, verwechselt werden.13 Diese Nicht-Darstellbarkeit der Lehre zementiert die Distanz zu den Quellen. Wie schon gegenüber der Geschichte verweist Scholem auch gegenüber den Quellen auf die ›philologische Verschiebung‹ als das einzige, was der Wissenschaft von der Lehre zur Verfügung steht, und er schneidet damit einen direkten Zugriff auf die Wahrheit der Quelle ab. Hieraus lässt sich das Fazit ziehen, dass nach Scholem sowohl die Geschichte als auch die Wahrheit der Tradition aufgrund dieser beiden Gräben nur in ihrer Brechung »in den unendlich kleinen Verschiebungen« der Philologie bzw. als Schein, den die philologischen Verschiebungen von der Wahrheit oder der Geschichte bewahrt haben, zugänglich sind. Durch meinen Versuch, die Doppelreferenz in Scholems Schreiben aufzuspalten und nur den lesenden Philologen, weniger den schreibenden Autor in den Blick zu nehmen, hat sich bestätigt, dass Scholem eine philologische Methode zu Gebote stand, die einen wirksamen Schutz gegen jede Spiritualisierung und unliebsame Theologisierung hätte darstellen können (ein Mittel, das – nebenbei bemerkt – dem sich modernisierenden Islam ebenfalls empfohlen werden könnte). Aufgrund dieses Ergebnisses drängt sich die Frage auf, wie es sein kann, dass gerade das, was der lesende Scholem durch sein philologisches Konzept einer gegen spiritualisierende Tendenzen gerichtete Methode an Territorium gegenüber anderen Modellen der Verwissenschaftlichung der jüdischen Tradition gewonnen hatte, als schreibender Autor scheinbar unüberlegt wieder aufgab? Wie kommt es, dass derselbe Textgelehrte, der sich zur übermäßigen Spiritualisierung der Wissenschaft vom Judentum so bitter geäußert hat, selber eine ›Theologie‹ der Kabbala entwickelt, die ihr Wesen auf eine durch das Symbol vermittelte verborgene Wirklichkeit festlegt? Zur Frage der zentralen Position des Symbols in Scholems Schriften sagt Moshe Idel: »[…] this is the reason why I propose to designate Scholem’s and his school’s approach as pan-symbolic«14. Die zentrale Stellung 13 »Immanente Änderungen der Beziehungen ohne zeitliche Variation vollziehen sich bei dem Übergang der Geschichte ins Schrifttum, in die Quellen oder selbst die münd liche Tradition, die beide ihre höchst eigenartigen Gesetze historischer Mechanik […] haben. […] Die Lehre selbst also ist nie darstellbar, sondern stets nur ihre (unwirkliche, aber exakte) Erstarrung in unendlich kleinen Verschiebungen ihrer Wirklichkeit«. (Ebd., S. 387 f.) 14 Moshe Idel: On the Theologization of Kabbalah in Modern Scholarship. In: Yossef Schwartz; Volkhard Krech (Hg.): Religious Apologetics – Philosophical Argumentation. Tübingen 2004, S. 123–174, hier S. 153.
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des Symbols sei eine Übertreibung und gehe auf Kosten der praktischen oder halachischen Verwurzelung der Kabbala: It is the relegation of those technical, ritualistic, linguistic modes of activities to the margin, which created the unbalance between the theological and the symbolic on the one hand, and the ergetic or performative aspects of Kabbalah on the other. I see this unbalance in Jewish scholars’ perception of Jewish mysticism as the result of a vision that follows the Christian emphasis on theology and faith as central for understanding religion.15
Diese Inkonsequenz in Scholems Werk wird erst unabweisbar, wenn man den lesenden und den schreibenden Scholem nicht unter dem Zwang ihrer inneren Einheit behandelt. Stattdessen zeigt es sich, dass der von Scholem eingeforderte enttheologisierte, entbürgerlichte und verlebendigte Traditionsbegriff gerade auf der Basis des Instrumentariums des lesenden Scholem erreichbar – und daher seine Verwirklichung noch möglich ist.
15 Ebd., S. 153 f. Zum Beitrag von Daniel Weidner
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Sigrid Weigel
Buchstäblichkeit Walter Benjamins und Hannah Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
I. Dichtungs-Zitate bei Hannah Arendt Als Hannah Arendt 1961 einige Beiträge zu Grundbegriffen des politischen Denkens – wie Natur, Geschichte, Freiheit, Politik, Wahrheit – zu dem Buch Between Past and Future zusammenstellt, beginnt sie ihr Vorwort mit einem Aphorismus des französischen Schriftstellers René Char: »›Notre héritage n’est précédé d’aucun testament‹ – ›unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.‹«1 Dieses Zitat ist Ausgangspunkt einer Reflexion über die Lücke, die das Verschwinden der Tradition für das Handeln hinterlässt: Das Testament, das dem Erben sagt, was rechtmäßig sein eigen ist, verfügt über vergangenen Besitz für eine Zukunft. Ohne Testament oder, um die Metapher aufzulösen, ohne Tradition – die auswählt und benennt, die übergibt und bewahrt, die anzeigt, wo die Schätze sind und was ihr Wert ist – scheint es keine gewollte zeitliche Kontinuität und also, menschlich gesprochen, keine Vergangenheit und Zukunft zu geben, nur immerwährenden Wandel der Welt und den biologischen Kreislauf der lebendigen Geschöpfe in ihr.2
Arendt deutet das ›Testament‹ bei Char also als Metapher für eine Reflexion über die Rolle der Tradition im Hinblick auf die zeitliche Organisation der Geschichte. Doch es ist keineswegs so, dass Arendt nach Auflösung dieser Metapher ohne den Schriftsteller auskäme. Vielmehr zitiert sie in ihrer anschließenden Erörterung einen weiteren literarischen Autor, und dies gleich mit einer längeren Passage. Die exakte Beschreibung dieser Lage sei, so Arendt, »nur in einer jener Parabeln von Franz Kafka zu finden, welche 1 Hannah Arendt: Übungen im politischen Denken. Bd. 1: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Hg. v. Ursula Ludz. München; Zürich 1994, S. 7. 2 Ebd., S. 9. Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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in dieser Hinsicht vielleicht einzigartig in der Literatur, wirkliche παραβολή (parabole) sind«: Kafkas Parabel hat folgenden Wortlaut: »Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem Ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.«3
Diese Parabel wird zum Leitmotiv von Arendts Reflexion über jene Zeitlücke, in der der Mensch »in der ganzen Aktualität seines konkreten Seins« zwischen Vergangenheit und Zukunft agiert. Die Lücke sei jedoch kein modernes Phänomen, sondern »der vom Denken gezogene Pfad«, »dieser schmale Weg der Nicht-Zeit, den die Tätigkeit des Denkens in den Zeit-Raum der sterblichen Menschen schlägt und in den hinein Denken, Erinnerung und Antizipation aus dem Trümmerhaufen der geschichtlichen und biographischen Zeit das retten, was immer sie auf ihrem Gang berühren.« Wenn Arendt diese Lücke als »kleinen Nicht-Zeit-Raum im eigentlichen Herzen der Zeit«4 beschreibt, führt sie selbst noch weitere Metaphern in die Erörterung ein. Dies geschieht auch dort noch, wo sie eine Ausdeutung von Kafkas Parabel vornimmt. Idealiter sollte das Handeln der zwei Kräfte, die das Parallelogramm, wo Kafkas »Er« sein Kampffeld gefunden hat, bilden, eine dritte Kraft zum Ergebnis haben, nämlich die Diagonale, deren Ursprung der Punkt wäre, an dem die Kräfte aufeinanderprallen und auf den sie wirken. Diese diagonale Kraft würde sich von den zwei Kräften, deren Ergebnis sie ist, in folgender Hinsicht unterscheiden. Die antagonistischen Kräfte sind beide, was ihren Ursprung angeht, unbegrenzt: die eine, weil aus einer unendlichen Vergangenheit, die andere, weil aus einer unendlichen Zukunft herkommend; doch obwohl sie keinen bekannten Anfang haben, haben sie ein begrenzendes Ende, den Punkt nämlich, an dem sie aufeinanderprallen. Im Gegensatz dazu wäre die diagonale Kraft hinsichtlich ihres Ursprungs begrenzt, weil ihr Ausgangspunkt der Zusammenprall der antagonistischen Kräfte ist, aber sie wäre unendlich hinsichtlich ihres Endes – aufgrund der Tatsache, daß sie aus dem konzertierten 3 Ebd., S. 11. 4 Ebd.
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Sigrid Weigel
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Handeln zweier Kräfte, deren Ursprung die Unendlichkeit ist, entstanden ist. Diese diagonale Kraft, deren Ursprung bekannt und deren Richtung durch Vergangenheit und Zukunft determiniert ist, deren eventuelles Ende jedoch in der Unendlichkeit liegt, ist die perfekte Metapher für die Tätigkeit des Denkens.5
Die »Tätigkeit des Denkens« wird also selbst in einer Art Denkbild beschrieben, welches sie als eine perfekte Metapher qualifiziert. Auffällig ist dabei, dass Arendt ihre Zitate aus der Literatur hier mit Hilfe von Termini aus der Rhetorik benennt – Metapher, Parabel –, deren besonderes Potential aber als ein epistemisches Vermögen erörtert. So etwa, wenn sie Kafkas Parabel als ein Bild kennzeichnet, das einen die äußere Erscheinung durchdringenden Blick ermögliche »– neben das Geschehen und um es herum wie Lichtstrahlen geworfen«, der einem Röntgenblick gleichkomme: wie Lichtstrahlen, »die nicht dessen äußere Erscheinungen erhellen, sondern die Kraft von Röntgenstrahlen besitzen, um dessen innere Struktur, die in unserem Falle aus den verborgenen Prozessen des Geistes besteht, bloßzulegen.«6 Am Vorwort zu dem Buch Zwischen Vergangenheit und Zukunft lässt sich also beobachten, auf welche Weise Hannah Arendt Literaturzitate als Metaphern in ihrem eigenen Text einsetzt, um diese dann in ihrer Erörterung mit eigenen Metaphern fortzuschreiben. Darüber hinaus ist das gesamte Vorwort selbst wie ein Emblem gestaltet, das sie den Kapiteln des Buches voranstellt: der Aphorismus von René Char als Inscriptio oder Titel, die Kafka’sche Parabel als Imago oder Bild und ihre Ausdeutung als Subscriptio. So gesehen, stellt die Subscriptio sich als eine Art geschriebenes Bild (der Diagonale) oder als Denkbild dar. Insofern ist es nahe liegend, diese Schreibweise mit der von Walter Benjamin zu vergleichen, etwa mit dem kurzen Text, der als Theologisch-politisches Fragment bekannt ist. Dort gibt Benjamin seinen Reflexionen über das Verhältnis von Historie und Messianismus, die er als »Lehrstück der Geschichtsphilosophie« bezeichnet, die Gestalt einer gegenstrebigen Fügung, die aus dem Gegen- und Miteinander von Dynamis der Geschichte und messianischer Intensität gebildet wird: als Bild von zwei Pfeilen, die sich in gegenseitiger Richtung bewegen und dabei gegenseitig befördern. Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. Die Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichtsauffassung bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen läßt. Wenn eine Pfeil5 Ebd., S. 15. 6 Ebd., S. 11. Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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richtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches.7
In diesem Text Benjamins wird, wie in Hannah Arendts Bild der Diagonale, nicht nur das Verhältnis von Historie und Erlösung, sondern auch das Verhältnis von Geschichte und Natur thematisiert. In unserem Zusammenhang soll es aber weniger um Benjamins Entwurf einer »messianischen Natur« als um die Darstellungsweise, die Textualität des Denkens gehen. Nehmen wir die Nähe zwischen Arendts und Benjamins Umgangsweise mit Metapher und Vergleich also zum Anlass, die Art und Weise, wie die beiden Autoren mit Literaturzitaten, sprachlichen Bildern und Denkbildern umgehen, näher anzusehen und zu vergleichen.
II. Der Zwischenraum des Denkens und Schreibens – Hannah Arendts Denktagebuch Ging es im zitierten Vorwort zu Zwischen Vergangenheit und Zukunft um Metaphern, die das Denken beschreiben, so folgt eine systematische und theoretische Erörterung über die Rolle von Metaphern für das Denken im zweiten Kapitel von Arendts letztem abgeschlossenen Buch Vom Leben des Geistes 1. Das Denken (engl. 1977, dt. 1979). Dessen zentrale Themen sind die geistige Tätigkeit und die Bedeutung der Sprache dafür.8 Insbesondere die Abschnitte Sprache und Metapher und Die Metapher und das Unsagbare gehen zurück auf Eintragungen im Denktagebuch, das Arendt von 1950 bis 1973 geführt hat. Arendts Denktagebuch ist zugleich ein Tagebuch des Denkens und eines über das Denken, wobei die Bestimmung des Denkens als Raum des Zwiegesprächs mit sich selbst die Notizbücher wie ein Leitmotiv durchzieht: »Der tonlose Dialog des Denkens, das Zwei-in-Einem«.9 Arendt hat dieses Medium aber auch als Schriftraum des Zweifels und der Skepsis genutzt, als Ort für eine Art begleitender Reflexion über die Möglichkeiten und Unmöglich7 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1980. Bd. II.1, S. 203 f. 8 Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes I. Das Denken. München; Zürich 1979. 9 Hannah Arendt: Denktagebuch 1950–1973. Hg. v. Ursula Ludz; Ingeborg Nordmann. 2 Bde. München; Zürich 2002, S. 721 (Juli 1969, XXVI/25).
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keiten des eigenen Tuns als Autorin der politischen Theorie. Darüber hinaus ist das Tagebuch für Arendt ein Raum der Auseinandersetzung mit ihrer Zweisprachigkeit im amerikanischen Exil. Nicht zufällig beginnen ihre Eintragungen im Denktagebuch zu dem Zeitpunkt, als sie mit dem Totalitarismusbuch als englischsprachige Autorin politischer Theorie an die Öffentlichkeit tritt.10 Bekanntlich hat Arendt es in dem berühmten Gespräch mit Günter Gaus 1964 zurückgewiesen, als Philosophin bezeichnet zu werden: »Mein Beruf – wenn man davon denn überhaupt sprechen kann – ist politische Theorie.«11 Doch selbst noch diesem ›Beruf‹ gegenüber verhält sich die Selbstreflexion im Denktagebuch grundsätzlich kritisch. So reflektieren die Aufzeichnungen immer wieder den Gegensatz von Politik und Philosophie, zugespitzt in der Feststellung, »dass ›politische Philosophie‹ eine Contradictio in adjecto« sei12, aufgeschrieben ausgerechnet im Mai 1968, als ansonsten die Politisierung aller Lebensverhältnisse und Wissensbereiche auf der Tagesordnung stand. Doch war die Reflexion über den objektiven Widerspruch zwischen Politik und Philosophie für Arendt kein Grund, keine politische Philosophie zu betreiben, sie war vielmehr deren Voraussetzung, wie der Beginn der zitierten Eintragung formuliert: »Jeder ›politischen Philosophie‹ muss ein Verständnis über das Verhältnis von Philosophie und Politik vorausgehen.«13 Das Gleiche gilt für Arendts englischsprachiges Publizieren, wenn sie etwa darüber nachdenkt, warum sie mit ihrer Art zu denken und ihrer Sprache beim amerikanischen Publikum auf Widerstände und Unverständnis stößt. Diesen Umstand analysiert sie im April 1970 unter dem Titel On the difficulties I have with my English readers, um diese Schwierigkeiten in vier Punkten systematisch zu untersuchen. In diesem Zusammenhang äußert sie ihr Befremden und ihre Distanz zu einer Auffassung von Sprache, die sie »Thesaurus-Philosophie« nennt – also Sprache verstanden als Wörterbuch definierbarer Stichworte –, eine Auffassung, die davon ausgeht, »that words ›express‹ ideas which I supposedly have prior to having the words.« Dagegen bezweifelt sie, »that we would have any ›ideas‹ without language.«14
10 Zu Arendts Zweisprachigkeit vgl. Sigrid Weigel: Sounding through – Poetic Difference – Selftranslation. In: Eckart Goebel; Sigrid Weigel (Hg.): Escape to Life. German Intellectuals in New York. A Compendium on Exile after 1933. Berlin 2012, S. 55–79. 11 Hannah Arendt: Fernsehgespräch mit Günter Gaus. In: dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. v. Ursula Ludz. München; Zürich 1996, S. 44–70, hier S. 44. 12 Arendt 2002 (wie Anm. 9), S. 683 (Mai 1968, XXV/56). 13 Ebd. 14 Ebd., S. 771 (April 1970, XXVII/45). Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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In diesen Passagen geht es um den Gegensatz zwischen analytischer Philosophie und einem Denken, das von der Sprache ausgeht, einem Denken, das in den USA unter dem Namen ›Continental Philosophy‹ firmiert. Mit Bezug auf einzelne Rezensionen ihrer Schriften deutet Arendt deren Kritik als einen Angriff auf ihre spezifische Art des Denkens. »What he means is my thinking that transcends mere description. Or: similes and metaphors.« Es folgt ein Beispiel, in dem nicht zufällig Walter Benjamin eine zentrale Rolle spielt, nämlich Arendts Feststellung, dass er poetisch, das heißt in Metaphern denke – eine Beobachtung, die sie zur Frage nach der Metapher geführt habe, Überlegungen also, die nach Auffassung des Rezensenten nichts mit einer Darstellung von Benjamin zu tun hätten: »What this adds up to is that the whole notion of thinking a matter through is alien to English ›philosophy‹.«15 In diesen Aufzeichnungen wird deutlich, dass das poetische Denken und die Vorstellung, ›eine Sache durchzudenken‹, für Arendt eng miteinander verknüpft sind. Unter diesem Gesichtspunkt bleibt die englische Sprache, der ihr Denken ›fremd‹ sei, im wörtlichen Sinne des Wortes eine ›Fremdsprache‹. Im Englischen publiziert sie ihre politische Theorie, während das Deutsche im Denktagebuch einen Denkraum eröffnet, in dem Zweifel, Einspruch und Selbstverständigung möglich sind. Doch gerade aus dieser Zweisprachigkeit hat Hannah Arendt das ihr eigene Schreiben gewonnen. Und so polemisiert sie auch gegen den »Unsinn der Weltsprache – gegen die ›condition humaine‹, die künstlich gewaltsame Vereindeutigung des Vieldeutigen« und plädiert für eine »Pluralität der Sprachen« und für die »Vieldeutigkeit, die mit der Sprache und vor allem mit den Sprachen gegeben ist.«16 Mit der Sprache und mit den Sprachen: In dieser Formulierung wird deutlich, dass der Umgang mit der Vieldeutigkeit sich sowohl zwischen verschiedenen Sprachen als auch in der Sprache abspielen kann – sofern man die Sprache nicht als Ausdruck vorsprachlicher Ideen versteht, sondern sich ihrer Erkenntnismöglichkeiten in der Spannung von Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bewusst ist und sie nutzt. Genau damit aber kommt die Nähe von Denken und Dichten ins Spiel.
15 Ebd. 16 Ebd., S. 42 (November 1959, II/15).
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III. Metapher und Begriff – Dichten und Denken »Was Denken und Dichten verbindet, ist die Metapher. In der Philosophie nennt man Begriff, was in der Dichtung Metapher heißt. Das Denken schöpft aus dem Sichtbaren seine ›Begriffe‹, um das Unsichtbare zu bezeichnen.« So heißt es in einem Lektüre-Kommentar zu Hans Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie: »Er übersieht, […] dass alles Denken ›überträgt‹, metaphorisch ist.«17 – In dieser Passage wird deutlich, wie sich auf dem Wege der Lektüre, der Auseinandersetzung mit den Überlegungen eines anderen Autors, eines der leitmotivischen Themen des Denktagebuchs zu einer These verdichtet: Alles Denken ist metaphorisch. Das bedeutet, dass Arendt das Verhältnis von Philosophie und Literatur nicht in Analogie zu dem von Begriff und Metapher versteht, nicht also als Gegensatz zwischen einem Reich der exakten Terminologie und einer Welt voller Polysemien und Ambiguitäten. Vielmehr werden die Bildlichkeit und die Figurativität der Sprache als fundamentale Voraussetzungen jeden Denkens betrachtet. Dieselben Wörter können als Begriffe oder Metaphern wahrgenommen werden, mit dem Unterschied allerdings, dass ihre Auffassung als Metapher das Moment der Übertragung reflektiert, das ihnen stets eingeschrieben ist – zumindest dort, wo es um die Bezeichnung und Erörterung von Nichtsichtbarem geht. Deshalb auch unterhalten die Metaphern eine engere Beziehung zur Wahrheit als die Begriffe, eine These, die nicht gleichbedeutend ist mit der Behauptung, dass die Metaphern wahrer seien. Die erste Aufzeichnung zur Metapher, die sich im Denktagebuch findet, lautet denn auch: Die Metaphern und die Wahrheit: In nichts offenbart sich die eigentümliche Vieldeutigkeit der Sprache – in der allein wir Wahrheit haben und sagen können, durch die allein wir aktiv Wahrheit aus der Welt schaffen können und die in ihrer notwendigen Abgeschliffenheit uns immer im Weg ist, die Wahrheit zu finden – deutlicher als in der Metapher.18
Damit wird die Metapher von Arendt keineswegs als Sprache der Wahrheit definiert, sondern als Symptom, an dem jene Vieldeutigkeit der Sprache erkennbar wird, die Bedingung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Wahrheit ist. Gerade die Philosophie, die es mit denjenigen Bereichen zu tun hat, die jenseits der Welt des Sichtbaren, des Materiellen und der Phänomene 17 Ebd., S. 728 (August 1969, XXVI/30). Arendt bezieht sich auf Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Bonn 1960. 18 Arendt 2002 (wie Anm. 9), S. 46 (Dezember 1950, II/22). Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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liegen, ist deshalb auf Metaphern angewiesen: »Die Rolle der Metapher: die Verbindung (so – wie) des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren, des Gewussten mit dem Unwissbaren usw.«19 Und wenige Monate später: »Der Vorrang des Sinnlichen in der Metapher«.20 Diese ›Rolle‹ von Übertragung und Analogie, die Arendt an der Metapher betont, betrifft einen Aspekt, der sie auch an Immanuel Kant interessiert. Während die Aufzeichnungen in ihrem Kant-Heft vor allem um die Begriffe von Urteil und Kritik kreisen, begegnet derselbe Autor in den anderen Notizheften auch im Kontext von Arendts Metaphern-Reflexionen: Ad Metapher: / Kant über Analogien: Sie müssten uns überall leiten, »wo dem Verstande der Faden der untrüglichen Beweise mangelt« (Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels). Zum Beispiel: Verhältnis Gottes zur Welt in Analogie zum Verhältnis des Menschen zu seinem Produkt.21
Mit diesem Überall, »wo dem Verstande der Faden der untrüglichen Beweise mangelt«, wird die philosophische Arbeit am Bereich jenseits von Empirie, Sichtbarkeit und Evidenz als ein Denken bewertet, dessen Verständnis geradezu auf das epistemische Potential von Analogien und Übertragungen angewiesen ist, weil es per se keinen direkten Zugang dazu, keinen Einblick und keine unmittelbare Benennung davon geben kann. In Bezug auf ein verbreitetes Verständnis begrifflichen Denkens als genuin philosophisches Feld sieht Hannah Arendt das Verhältnis zwischen Metaphysik und Lebenswelt genau umgekehrt, wenn sie die ›menschlichen Angelegenheiten‹ als eigentliche Welt der Begriffe beschreibt. Aus dieser Sprachwelt muss auch die Philosophie ihre Begriffe schöpfen: Das Unsichtbare: die »Bilder« der Einbildungskraft, die in die Kontemplation und die Identifizierung von Wahrheit und Anschauung führen, und die »Begriffe«, welche die Sprache vorgibt. Die letzteren sind immer aus dem Bereich der mensch lichen Angelegenheiten gewonnen, die ersteren beziehen sich auf »Gegebenes«, Natur, Universum etc.22
Die Bildung von Analogien mit der lebensweltlichen, menschlichen Sprache erscheint damit als eine der Grundoperationen der Philosophie. Eine noch radikalere Konsequenz aus Arendts These, dass alles Denken überträgt, als die von Kant zitierte Notwendigkeit von Analogiebildungen ist die Vorstellung von einem gleichsam Unausgesprochenen inmitten der Sprache. Wenn 19 20 21 22
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Ebd., S. 729 (September 1969, XXVI/32). Ebd., S. 764 (Januar 1970, XXVII/28). Ebd., S. 674 (Januar 1968, XXV/34). Ebd., S. 767 (Januar 1970, XXVII/38).
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das Denken, um das Unsichtbare zu bezeichnen, seine Begriffe aus dem Sichtbaren schöpft, wie Arendt anlässlich der Lektüre von Hans Blumenbergs Metaphorologie formuliert hat, muss diese sprachliche Übertragung das Unsichtbare notwendigerweise immer auch verfehlen. Diese Problematik ist es, für die im Denktagebuch einige signifikante Heidegger-Zitate einstehen: Ad Heidegger Interpretationen: Das Neue besteht im Folgenden: Heidegger nimmt nicht nur an (was andere vor ihm taten), dass jedes Werk ein ihm spezifisch Unausgesprochenes in sich trägt, sondern dass dies Unausgesprochene seinen eigent lichen Kern bildet, […] also gleichsam der leere, in der Mitte liegende Raum, um den sich alles dreht und der alles andere organisiert. Auf diesen Platz setzt sich Heidegger, also in die Mitte des Werkes, in der sein Autor gerade nicht ist, als dies der ausgesparte Raum für den Leser oder Hörer. Von hier aus rückverwandelt sich das Werk aus dem Resultathaft-tot-Gedruckten in eine lebendige Rede, auf die Widerrede möglich ist. Es ergibt sich ein Zwiegespräch, bei dem der Leser nicht mehr von aussen kommt, sondern mittendrin mitbeteiligt ist.23
In dieser von Heidegger übernommenen Auffassung sind die Nähe zwischen Philosophie und Literatur und zugleich der Abstand zur ›politischen Philosophie‹ am größten. Das Zwiegespräch des Denkens, das gleichsam innersubjektiv stattfindet, wird für Arendt dabei zum Modell auch der Lektüre und zum Grund einer grundlegenden dialogischen Signatur des Philosophierens überhaupt. Auf der Spur dieser und vergleichbarer Aufzeichnungen, die an den Grund des Denkens und der Sprache rühren, lässt sich das Denktagebuch auch als Kumulation jener Reflexionen lesen, die nicht in die politischen Schriften Arendts eingegangen sind, aber das (erst postum veröffentlichte) mehrbändige Projekt The Life of the Mind/Vom Leben des Geistes (1978, dt. 1979) hervorgebracht haben. In diesem Buch entwirft Arendt eine Theorie des Denkens, in der der Denk- und Schreibstil des Denktagebuchs gleichsam aufgehoben ist.
23 Ebd., S. 353 f. (April 1953, XV/13). Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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IV. Umkehr und Lesbarkeit – Walter Benjamins Arbeit an der Differenz zwischen biblischer und profaner Sprache Walter Benjamin denke in Metaphern, heißt es bei Hannah Arendt. Trotz der Wahlverwandtschaft beider24, die sich auch persönlich sehr nahe standen, verfehlt diese Beschreibung doch Benjamins Umgangsweise mit der Sprache, insbesondere sein Verfahren im Umgang mit sprachlichen Bildern.25 Denn Benjamins Denken bewegt sich auf den Spuren der Sprache selbst, der Genese von Bedeutungen in der Sprache, indem er diese gleichsam rückwärts liest, um in den Wörtern die ihnen eingeschriebenen Übertragungen, Überlagerungen und begrifflichen Fixierungen zu beleuchten und wieder lesbar zu machen. Man kann dieses Verfahren der Umkehr als Voraussetzung von Lesbarkeit und Erkennbarkeit mit einem Satz aus seinem Kafka-Essay kennzeichnen: »Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt.«26 Das Feld, in dem Benjamin dabei vorzugsweise operiert, ist die Beziehung zwischen biblischer und profaner Sprache. Um das an einem signifikanten, bisher weitgehend übersehenen Beispiel zu zeigen, beginne ich mit einer Passage aus der Kritik der Gewalt (1921), jenem Text, in dem Benjamin analysiert, auf welche Weise die ›Gerechtigkeit‹ als biblisches Konzept die Vorstellungen vom Recht wie auch die Debatte über ›gerechte Gewalt‹ grundiert.27 Dabei wird die Überschreitung der Grenze rechtstheoretischer Begriffe durch den Begriff der ›Erlösung‹ – als religiöses Palimpsest der ›Lösung‹ – ausgelöst. Nachdem Benjamin festgestellt hat, dass sich innerhalb von Naturrecht und positivem Recht kein Bereich der Gewalt finde, der von der schweren Problematik jeder Rechtsgewalt frei wäre, setzt er mit einer Geste des »dennoch« neu an: Da dennoch jede Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lösung menschlicher Aufgaben, ganz zu geschweigen einer Erlösung aus dem Bannkreis aller bisherigen welt24 Vgl. dazu Sigrid Weigel: Zur Gegenwärtigkeit von Arendts und Benjamins Denken nach der Postmoderne. In: Rüdiger Schmidt-Grépaly u. a.(Hg.): Der Ausnahmezustand als Regel. Eine Bilanz der Kritischen Theorie. Weimar 2013, S. 225–240. 25 Vgl. Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt/M. 1997. 26 Walter Benjamin: Franz Kafka. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2, S. 409–438, hier S. 437. – Zu Benjamins Kafka-Essay vgl. den Beitrag von Andreas B. Kilcher in diesem Band, S. 143–157. 27 Zu einer ausführlicheren Lektüre dieser Passage im Kontext von Benjamins Dialektik der Säkularisierung vgl. Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder. Frankfurt/M. 2008.
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geschichtlichen Daseinslagen, unter völliger und prinzipieller Ausschaltung jedweder Gewalt unvollziehbar bleibt, so nötigt sich die Frage nach andern Arten der Gewalt auf, als alle Rechtstheorie ins Auge faßt.28
Die Frage nach »andern Arten der Gewalt«, die hier – durch den Begriff der Erlösung – mit einer messianischen Perspektive assoziiert wird, führt nicht nur über die Begriffe der Rechtstheorie hinaus. Sie wird von Benjamin umgehend einer grundsätzlichen Befragung jenes Grunddogmas überantwortet, das die Gewaltfrage in Form einer Abwägung zwischen ›gerechten Zwecken‹ und ›berechtigten Mitteln‹ stellt und derart zum Gegenstand einer vernünftigen diskursiven Erörterung macht. Eine derartige Inanspruchnahme von Begriffen, die biblischen Vorstellungen oder einer göttlichen Ordnung entstammen, wird von Benjamin an verschiedenen Stellen als Anmaßung eines ›göttlichen Mandats‹ kritisiert. Diese Kritik gründet hier ebenso wie in seinem Essay über Goethes Wahlverwandtschaften in einer Anerkennung der unauflösbaren Differenz zwischen biblischen und profanen Begriffen. Im Goethe-Essay betrifft seine Kritik vor allem die Vermischung von Kunst und Religion, so etwa in Friedrich Gundolfs Verständnis des Autors als mythischer Heros, als »Halbgott«, als »Zwitter von Heros und Schöpfer« oder als »übermenschlicher Typus des Erlösers«29, der durch sein Werk die Menschheit am Sternenhimmel vertrete. Von dieser Kritik ausgehend zieht sich eine strikte Grenzlinie durch Benjamins Essay, mit der die Begriffe des Kunstdiskurses von solchen Begriffen unterschieden werden, die einem anderen, biblischen Register angehören. Während seine kritischen Reflexionen zum Mythos, die eine Art Leitmotiv insbesondere des ersten Teils des Goethe-Essays darstellen, in der Rezeption viel Beachtung gefunden haben, ist diese Arbeit an der Sprache, die als Reflexion der Begriffe eine für Benjamins Denken grundlegende Rolle spielt und den ganzen Essay strukturiert, weitgehend unbeachtet geblieben. Ein wichtiges Beispiel sind seine Erörterungen zur Differenz zwischen Aufgabe und Forderungen. Dichtung im eigentlichen Sinn kann für Benjamin erst dort entstehen, wo ›das Wort sich vom Banne der Aufgabe‹ frei mache. Die Kritik an der Verwechslung von Dichtung mit einer göttlichen Sendung richtet sich hier gegen die Bestimmung des ›Dichters‹ in Programmatik und Rhetorik der George-Schule.
28 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1, S. 179–203, hier S. 196. Hervorhebungen v. S. W. 29 Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.1., S. 123–201, hier S. 158 u. 160. Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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Ihm nämlich wird, gleich dem Heros, sein Werk als Aufgabe von ihr [der GeorgeSchule, S. W.] zugesprochen und somit sein Mandat als göttliches betrachtet. Von Gott aber kommen dem Menschen nicht Aufgaben sondern einzig Forderungen, und daher ist vor Gott kein Sonderwert dem dichterischen Leben zuzuschreiben. Wie denn übrigens der Begriff der Aufgabe auch vom Dichter aus betrachtet unangemessen ist.30
Diese radikale Verwerfung einer ›Aufgabe‹ in der Kunst richtet sich gegen die Legitimierung von Dichtung durch eine ihr fremde, wie auch immer geartete und bezeichnete ›höhere‹ Instanz. Erst in der Entbindung und Befreiung der Sprache aus einer Aufgabenbestimmung liegt in Benjamins Sicht die Möglichkeitsbedingung für ein ›wahres Kunstwerk‹. Mit dem Hinweis darauf, von Gott kämen einzig Forderungen, nicht Aufgaben, wird zugleich eine Profanierung kritisiert, die die göttliche Instanz zu einer Art Auftraggeber macht und damit die unhintergehbare Differenz Gott-Mensch einebnet, ohne die die göttlichen Begriffe ihren Sinn verlieren. Weitere Wortpaare, an denen Benjamin vergleichbare Reflexionen anstellt, sind: das ›Geschöpf‹ als Produkt einer göttlichen Schöpfung im Unterschied zum ›Gebilde‹ als Produkt menschlicher Herstellung, die ›Sühne‹ als mythischer Begriff im Unterschied zur ›Entsühnung‹ als Vorstellung, die sich mit dem strafenden Gott der Bibel verbindet, und ›Versöhnung‹ als eine, wie er formuliert, überweltliche Vorstellung im Unterschied zur ›Aussöhnung‹ der Mitmenschen untereinander. – Diese Arbeit der Unterscheidungen zielt bei Benjamin dabei keineswegs auf eine Reinheit der Sprache; vielmehr geht es darum, dass es erst über ein Bewusstsein der Differenz und eine Einsicht in deren Herkunft möglich wird, diejenigen sakralen Bedeutungen auszumachen, die in der profanen Sprache nachleben und fortwirken. Benjamins Umgang mit den sprachlichen Bildern gründet damit in einer Reflexion der Dialektik der Säkularisierung – wobei Säkularisierung weniger Zurückdrängung von Theologie, Entmächtigung oder Enteignung der Kirche und auch nicht Trennung von Staat und Kirche bedeutet, sondern von Benjamin als eine generelle Entfernung von der Welt der Offenbarung gedacht wird. Damit wird die Trennung von Begriff und Metapher als Effekt einer Säkularisierung begriffen, in deren Zusammenhang die Sprache erst zu einem Zeichensystem geworden ist, aus dem die bildliche Sprache als ›uneigentliche‹ verbannt ist. Diesem Vorgang gegenüber stellt sich Benjamins Schreibweise als eine Umkehr dar, in der jene den Begriffen eingeschriebene Bildlichkeit wieder zur Sichtbarkeit und – im Sinne der Erkennbarkeit – zum Einsatz kommt.
30 Ebd., S. 158 f. Hervorhebungen v. S. W.
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V. Zeugnis und Zeugung Beispielsweise wird das Verhältnis von Geschichte und Genealogie im Hinblick auf die Sprache von Benjamin immer wieder in dialektischen Bildern bearbeitet, die sich auf das Wortfeld der Zeugung beziehen. Verweisen Ort und Name Babels, wo das Projekt der Menschen misslang, sich mit Hilfe des Baus einer Stadt und eines in den Himmel reichenden Turmes ›einen Namen zu machen‹, auf die Gleichursprünglichkeit einer Vermehrung der Sprachen und einer Zerstreuung der Völker (1. Mose 11), so bezeichnet diese biblische Szene zugleich auch die Aufspaltung der vorgängigen Einheit von Genealogie und Sprachgeschichte. Von diesem Augenblick an sind leibliche und intelligible Fortzeugung, sind soma und sema auseinander getreten, worin sich jene vorausgegangene Zäsur des ›Sündenfalls‹ wiederholt, dessen Erzählung von der Gleichursprünglichkeit von Wissen und Sexualität im Erkennen handelt. Von hier aus hat sich eine Praxis vielfältiger Übertragungen zwischen dem Feld der Sprache/des Denkens und dem der leiblichen Zeugung entwickelt. Nicht nur in der biblischen Tradition, auch in den Überlieferungen der griechischen Antike sind diese Übertragungen anzutreffen, beispielsweise im Modell des sokratischen Eros, den Walter Benjamin in seinem Anti-Sokrates (1916)31 wegen der Degradierung des Eros zum Mittel und der Vermischung der Sphären geistiger und leiblicher Zeugung als dämonisch bewertet. Auf einen solchen religions- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Sprache und Fortpflanzung bezieht sich Benjamins obsessive und dekonstruktive Arbeit am Vergleich zwischen Zeugung und Zeugnis, die in mehreren seiner Texte zu studieren ist. Eines der wichtigsten Beispiele ist eine Passage des Essays über Karl Kraus, in der er Kraus’ Bezugnahme auf die Kreatur wegen der impliziten Thematisierung geschichtlicher Verhältnisse als Naturverhältnisse kritisiert und dessen entsprechende Vorstellungen polemisch als »Tempel der Kreatur« charakterisiert. Benjamin analysiert Kraus’ Diskurs als Rhetorik, mit deren Hilfe seine idealen Anhänger als »ergebene Kreatur« produziert, nämlich geistig erst ins Leben gerufen werden, während er sich zugleich auf sie als Instanz beruft. Verdichtet wird diese Kritik in dem Satz: »Bestimmen kann sein Zeugnis nur die, denen es Zeugung nie werden kann.«32 Steht hier eine doppelte Übertragung ins Natürliche zur Debatte, so erweist sich das Sprachspiel von Zeugnis und Zeugung 31 Walter Benjamin: Sokrates. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1, S. 129–132. 32 Walter Benjamin: Karl Kraus. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1, S. 334–367, hier S. 341. Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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als ein gelesenes Bild: Es rekurriert auf die Tradition des zitierten Vergleichs und sprengt die darin vorgenommene Gleichsetzung in eine Figuration der Ungleichzeitigkeit auf, um den Abgrund zwischen Zeugnis und Zeugung wieder sichtbar zu machen. Der Kraus-Essay stellt in Teilen die Ausarbeitung einer Idee dar, die Benjamin in einer Notiz der Einbahnstraße vorweggenommen hat. Unter dem Stichwort Für Männer heißt es dort: »Überzeugen ist unfruchtbar«.33 Ein Denkbild par excellence, mit dem das ›Überzeugen‹, das zugleich als überzeugen, als ein Zuviel, gelesen werden kann, als Übertragung der Zeugungsökonomie in die Sprache erscheint – womit im Effekt ein rhetorischer Übereifer hervorgebracht wird, der das Gegenteil seiner Absicht erzielt. Dabei geht es um eine an Prokreation, an Nachkommen oder Ergebnissen ausgerichtete Ökonomie der Mitteilbarkeit, die dem Vergleich zwischen Wort- und Samenfülle eingeschrieben ist – und im Effekt ihr Ziel verfehlt. Das Überzeugen wird als ›über-zeugen‹ zugleich als Übererfüllung einer positivistischen Haltung, eines vom Bezeugten und vom Zeugnis abhängigen Denkens reflektiert, einer unmöglichen Haltung, die am Ende doch leer ausgeht, insofern sie auf das erhoffte Ergebnis nicht zählen, damit nicht rechnen kann.
VI. Das Wort beim Namen nehmen: Zurückgehen hinter die Trennung von Bild und Begriff Benjamins Bilddenken richtet sich vor allem gegen die Funktion konventioneller Metaphern, Vergleiche und Anspielungen in der Sprache, im Gedächtnis und im Diskurs, deren Bezeichnung als sogenannte übertragene oder uneigentliche Sprache im Theorem einer eigentlichen, begrifflichen Sprache gründet. So grenzt er auch im Sürrealismus-Essay den Begriff des Bildes ausdrücklich von Metapher und Vergleich ab, um im Anschluss daran die Entdeckung des »hundertprozentigen Bildraum[s]« zu postulieren.34 Einer der meistzitierten Sätze aus Benjamins Schriften, ein Zitat im Zitat, betrifft diese Problematik des ›Eigentlichen‹: »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹.«35 Die in diesem Satz zurückgewiesene Möglichkeit einer vollkommenen Erkenntnis 33 Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV.1, S. 83–148, hier S. 87. 34 Walter Benjamin: Über den Sürrealismus. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1, S. 295–310, hier S. 309. 35 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2, S. 691–704, hier S. 695.
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der Vergangenheit – als authentisches Bild des Gewesen-Seins – ist, obschon als ein On dit daherkommend, in der Benjamin-Rezeption als Ranke-Zitat identifiziert und infolgedessen als Auseinandersetzung mit dem Historismus gedeutet worden. Der Satz aus Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte zitiert zugleich aber auch jenes ›Eigentliche‹, das die Sphäre von Metaphysik und Ontologie in der Philosophie berührt, die Theodor W. Adorno als Jargon der Eigentlichkeit kritisieren und Hans Blumenberg, ebenfalls mit Bezug auf Heidegger, im Zusammenhang seiner Theorie des ›Unbegrifflichen‹ erörtern wird. Nach Blumenberg entspringt die philosophische (nicht sprachtheoretische) Negation des Eigentlichen einer Sphäre des Seins, die metaphorisch, also sprachlich nicht zu fassen ist. Die »Uneigentlichkeit unserer Existenz«, die Heidegger im Konzept seiner Seinsgeschichte »als Episode der Seinsverborgenheit, besser: der Seinsverbergung des Seins« begriffen habe, wird von Blumenberg als Antwort auf die – unhintergehbare – metaphorische Verfehlung der Eigentlichkeit gedeutet: »Daß Dasein In-der-WeltSein ist, bedeutet gerade, daß die Welt dieses In-Seins nicht aus ›Gegenständen‹ besteht, aber auch nicht in Metaphern erfaßt werden kann.«36 Da Walter Benjamins Praxis des Zitierens auf den Wortsinn von ›zitieren‹ im Sinne von ›herbeirufen‹ zurückgeht, nutzt er diese Praxis, um die vielfältige Geschichte eines Wortes und dessen Transformation vom Namen in eine Bezeichnung zu vergegenwärtigen. Zitieren heißt bei ihm, ›das Wort beim Namen aufrufen‹,37 so auch im Falle von ›eigentlich‹. – Indem Benjamin mit dem genannten Zitat auch die für das Sprach- und Metaphernverständnis relevante Bedeutungsdimension von ›eigentlich‹ evoziert, entwirft er eine andere Antwort auf die notwendig verfehlte Eigentlichkeit. Aus seiner Verneinung von ›eigentlich‹ folgt keine Bezugnahme auf das Uneigentliche, weder auf das der Metaphorik noch auf das einer ontologischen Umschrift des Uneigentlichen in Seinsverborgenheit. Stattdessen kehrt er zur Wörtlichkeit und zum vorbegrifflichen Ursprung des Nicht-Eigentlichen zurück, indem er den in den Begriffen verborgenen Bildcharakter der Worte wieder hervortreibt, aufruft oder zitiert. Dieser Sprachgebrauch korrespondiert mit seinem Konzept des Bildes, das hinter die Aufspaltung in Begriff und Metapher zurückgeht – und sich im Vorbegrifflichen mit dem Namen berührt. Sein Sprach- und Bildverständnis geht davon aus, dass in jedem Bild das Heterogene von Intelligiblem
36 Hans Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit [1979]. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher. 2., ergänzte Ausgabe. Darmstadt 1996, S. 438–454, hier S. 452. 37 Walter Benjamin: Karl Kraus. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1, S. 363. Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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und Sinnlichem zu einer Konstellation zusammentritt. Mit dem Verfahren, das Wort beim Namen aufzurufen, nähern sich die Worte den Eigennamen und damit einer Schicht der Sprache, in der das Gesetz ihrer Übersetzung auf eine genuine Unübersetzbarkeit stößt. Diese ist der Gleichzeitigkeit von Buchstäblichkeit und Bedeutung geschuldet. So hat Stéphane Mosès in einer Untersuchung der biblischen Namen zeigen können, dass deren Namenslogik, die der Struktur der hebräischen Sprache eingeschrieben ist, »per definitionem unübersetzbar ist«. Trifft diese genuine Unübersetzbarkeit für den göttlichen Namen ohnehin zu, so erläutert Mosès dasselbe Phänomen auch für solche Namen wie z. B. jiZH’aK (Isaak) und deren Gleichzeitigkeit von Buchstäblichkeit und Sinn.38 In lateinischen und deutschen Bibel-Übersetzungen verschwindet diese Gleichzeitigkeit regelmäßig, weil sie sich entweder für eine semantische oder für eine onomatopoetische Übertragung entscheiden müssen. Diese jüdisch-biblische Spur der Sprache begründet auch Benjamins viel zitierte Theorie des Zitats. Darin steht beispielsweise die Doppelbedeutung von ›stimmig‹ – im Sinne der Vernunft, die Semantik betreffend, und als Klang, also Ähnlichkeit und Reim betreffend – für das Wechselspiel von Sinn und Buchstäblichkeit: Es [das Zitat, S. W.] ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung. Nicht ungereimt erscheint es, klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes. Als Reim versammelt es in seiner Aura das Ähnliche; als Name steht es einsam und ausdruckslos. Vor der Sprache weisen sich beide Reiche – Ursprung so wie Zerstörung – im Zitat aus. Und umgekehrt: nur wo sie sich durchdringen – im Zitat – ist sie vollendet.39
Das Moment der Zerstörung kommt dem Zitat dadurch zu, dass es die zitierten Worte aus dem Sinnzusammenhang ihres Herkunftstextes reißt, womit der Klang sich vom Sinn entfernt – oder ›befreit‹ – und das Wort so in seiner Ursprünglichkeit erscheint, besser: der Ursprung des Wortes aufscheint, den Benjamin als Namensstatus des Wortes bezeichnet, weil die ursprüngliche Benennung der Dinge durch Worte ihr Name ist. In einen neuen Text eingefügt, trägt das Zitat diese Dimension der Worte mit in den neuen Sinnzusammenhang hinein.
38 Stéphane Mosès: »Ich werde sein, der ich sein werde«. Zur Unübersetzbarkeit der biblischen Gottesnamen. In: Carola Hilfrich-Kunjappu; Stéphane Mosès (Hg.): Zwischen den Kulturen. Theorie und Praxis des interkulturellen Dialogs. Tübingen 1997, S. 65–77. 39 Walter Benjamin: Karl Kraus. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1, S. 363.
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Wenn Benjamin weiter schreibt, dass sich im Zitat die Engelssprache spiegele, und er diese wiederum als Bruchstücke der Genesis charakterisiert, nämlich als Motti im Buch der Schöpfung, aufgestört »aus dem idyllischen Zusammenhang des Sinnes«40, dann ist das Zitat als Nachleben von Bruchstücken einer ›Schöpfung aus dem Worte‹ charakterisiert – mit Aby Warburg könnte man sagen: als Nachleben biblischer Pathosformeln in der Dichtung oder in der Schrift der Moderne.41 Zitieren heißt für Benjamin insofern: auf der Spur von Klang und Buchstäblichkeit die Übertragungen, die sich im Zuge der Säkularisierung an und mit der Sprache ereignet haben, zurückzuverfolgen und in ihnen die im sprachlichen Begriffs- und Zeichensystem vergessene Ähnlichkeit wieder hervorkehren.
VII. Nähe und Differenz: Arendts und Benjamins Denken auf der Spur der Sprache Vergleichbar ist das sprachliche Verfahren beider Autoren in ihrer Rückwendung zu jenen Ursprungstropen, denen der philosophische Diskurs entsprungen ist und die erst im Zuge der Abgrenzung der Philosophie gegenüber dem Mythos und über die Verleugnung ihres Bildcharakters zu einer Sprache des Eigentlichen mutiert sind, zu Begriffen, von denen dann die Metaphern als unrein und uneigentlich abgespalten werden, wie Jacques Derrida in der Weißen Mythologie entwickelt hat.42 In ihrer Sprachpraxis umkreisen beide Autoren, Benjamin und Arendt, die Buchstäblichkeit sprachlicher Wendungen, nutzen somit die Leiblichkeit und Bildlichkeit der Sprache. Dazu gehört auch jene gleichsam körperlich-räumliche Bedeutungsdimension, die immer wieder Anlass zur Erörterung des spezifischen epistemologischen Potentials und der daraus folgenden Denk- und Schreibstile deutschsprachiger Philosophie und Kulturwissenschaft gegeben hat. Von Georges-Arthur Goldschmidt wurde sie beispielsweise als ›das Unbewusste der Sprache‹ analysiert, aus dem dann nicht zufällig Freuds Theorie des Unbewussten erarbeitet werden konnte.43 40 Ebd. 41 Zum Verhältnis von Benjamin und Warburg vgl. das Kapitel Die Entstehung der Kulturwissenschaft aus der Lektüre von Details in: Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Benjamin bis Shakespeare. München 2004. 42 Jacques Derrida: Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text [frz. 1971]. In: ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 205–258. 43 Georges-Arthur Goldschmidt: Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache [frz. 1988]. Zürich 1999. Benjamins und Arendts Denken auf den Spuren der Sprache
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Im Unterschied zu Benjamins Umkehr zu den biblischen Ursprüngen der Sprache entzündet sich Hannah Arendts Praxis der Buchstäblichkeit – nach der Auseinandersetzung mit Urszenen christlicher Gemeinschaft bei Augustinus in ihrer Dissertation44 – aber vor allem an der antiken Sprachtradition. So gewinnt sie die grundlegenden Begriffe und Distinktionen ihres Denksystems aus der griechischen Unterscheidung zwischen oikos und polis und geht beispielsweise in ihrer Kritik des zeitgenössischen antiautoritären Diskurses auf den römischen Ursprung von auctoritas zurück. Neben einer Arbeit an der begriffsgeschichtlichen Dimension gegenwärtiger Analysen steht bei ihr das Bemühen, den konkreten, lebensweltlichen Grund der Begriffe zu nutzen – darin eher Heidegger als Benjamin folgend. An einer Eintragung Hannah Arendts zum Zusammenhang von Entsagung und Ent-Sagen in ihrem Denktagebuch lassen sich Nähe und Differenz zwischen Arendts und Benjamins Sprachbilddenken noch einmal beleuchten. Die Eintragung erinnert an die Anregung, die Hannah Arendt für ihre Theorie der Privatheit als Sphäre der Geborgenheit in ihrem Buch Vita activa (1958)45 durch Heideggers Rede von der ›Entbergung‹ erhalten hat: Freiburg den 22.4.71 Heidegger Ent-sagen
Ad Sagen – Sein: Das Ent-sagen (wie ent-nehmen) entnimmt das zu Sagende von dem Sein und ent-sagt dabei, d. h. gibt es zurück.46
Das Ent-sagen der ›Entsagung‹ erscheint wie eine sprachliche Geste, mit der jene Übertragung der Metapher, die jedem Denken zugrunde liegt, zurückgenommen und auf diese Weise eine Pathosformel des philosophischen Diskurses gleichsam entleert wird, um das Wort an jene Sphäre zurückzugeben, der es entstammt: der Sphäre der lebensweltlichen, ›einfachen‹, konkreten Begriffe. Von dieser Geste, einer Art Sprachhandlung, soll abschließend ein Blick zurückgeworfen werden auf Benjamins Satz »Überzeugen ist unfruchtbar«. Auch dieses Wortspiel nutzt die Mehrdeutigkeit eines Präfixes zwischen Konkretion und Konvention, womit die Nähe beider Sprachpraxen deutlich wird. Zugleich wird aber deutlich, dass Benjamins Satz, anders als
44 Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustinus. Versuch einer philosophischen Interpretation [1929]. Hg. v. Ludger Lütkehaus. Berlin; Wien 2003. 45 Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben [1958]. München 1967. 46 Arendt 2002 (wie Anm. 9), S. 803 (XXVIII/7).
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Arendts Aufzeichnung, weniger auf die philosophische Operation der Metapher abzielt als auf die Mehrdeutigkeit des Wortfeldes – in diesem Falle ›zeugen‹ in der doppelten Bedeutung von leiblicher und sprachlicher Ökonomie – und auf die ihm eingeschriebene Dialektik der Säkularisierung – und dabei selbst ein Denkbild herstellt.
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Irmela von der Lühe
Erzählen als ›Bewältigen‹ Hannah Arendt und die Dichtung
»Dichtung hat in meinem Leben eine große Rolle gespielt«, hat Hannah Arendt in dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus 1964 erklärt.1 Tatsächlich beginnt die Beschäftigung mit Literatur und Dichtung bei der Begeisterung der Studentin für griechische Poesie, sie zeigt sich im frühen Rilke-Aufsatz, im Rahel-Varnhagen-Buch2 ebenso wie in den Essays über Lessing, Heine, Kafka, Brecht und Benjamin, über Tania Blixen und Nathalie Sarraute.3 Sie reicht von eigenen lyrischen Versuchen, wie man sie aus der Korrespondenz mit Martin Heidegger und dem Denktagebuch4 kennt, bis zur engen Freundschaft mit Autoren wie Hermann Broch, Wystan Hugh Auden und Uwe Johnson, in dessen Jahrestagen sie schließlich sogar selbst zur literarischen Figur wird.5 Ebenso lakonisch wie hymnisch hat Hannah Arendt am 7. Februar 1972 ihr Urteil über die Jahrestage formuliert und damit Regalmeter von späterer Forschungsliteratur in den Status des Sekundären verwiesen: Dies ist ein Dokument, und zwar ein gültiges für diese ganze Nach-Hitler-Zeit. Diese Vergangenheit haben Sie in der Tat haltbar gemacht, und was vielleicht viel unwahrscheinlicher ist, Sie haben sie überzeugend gemacht. Wie es da bei Euch war und ist, 1 Hannah Arendt: Fernsehgespräch mit Günter Gaus. In: dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. v. Ursula Ludz. München; Zürich 1997, S. 44−70, hier S. 54. 2 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik [engl. 1958]. München; Zürich 1998. 3 Vgl. dazu Wolfgang Heuer; Irmela von der Lühe (Hg.): Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste. Göttingen 2007;. Barbara Hahn; Marie Luise Knott: Hannah Arendt – von den Dichtern erwarten wir Wahrheit. Berlin 2007. 4 Hannah Arendt: Denktagebuch. 1950−1973. Hg. v. Ursula Ludz; Ingeborg Nordmann. 2 Bde. München; Zürich 2002; Hannah Arendt; Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse [1998]. Hg. v. Ursula Ludz. Frankfurt/M. ²1999. 5 Hannah Arendt; Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967−1975. Hg. v. Eberhard Falke; Thomas Wild. Frankfurt/M. 2004. Hannah Arendt und die Dichtung
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das weiss ich jetzt gleichsam bis in die Spitze des kleinen Zehs. Die Langsamkeit und dies ständige Sich-Besinnen, das ich ja schon sehr an dem Jakob-Buch liebte, ist hier zu dem langen Atem – auch in der Satzbildung – geworden […]. Nur so – von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind – im Zusammenspiel der Generationen und in zwei Kontinenten kann man scheint’s angemessen sprechen und denken.6
Aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln Dichtung Vergangenheit »haltbar« und das Verstehen der Vergangenheit »überzeugend« machen kann, zu dieser Frage hätte man sich – zumal angesichts der repetitiven Debatten über Erinnerungskulturen und historische Konstruktion – ein Buch von Hannah Arendt gewünscht. Es ist die transkontinentale und transgenerationelle Großerzählung, die kompositorisch und stilistisch auf Langsamkeit und Innehalten zielt, ohne doch Linearität und epische Geschlossenheit zu intendieren, ein Erzählen aus der Zeit und über die Zeit, das Zeit anhält und Chronologie subversiv kommentiert, was Hannah Arendt an Johnsons Tetralogie beeindruckt.7 Ein solches Erzählen ist in ihren Augen tatsächlich Ausdruck und Garant für eine dauerhafte Vergegenwärtigung der Vergangenheit, dafür also, dass Vergangenheit »haltbar gemacht« werden kann. Solche eher beiläufigen und lobenden Kommentare zum Werk eines ihr befreundeten Autors der Nachkriegsgeneration lassen sich freilich auf grundsätzliche Überlegungen Hannah Arendts zur Kunst im Allgemeinen und zum Erzählen im Besonderen zurückführen. In welche Richtung sich ihr Denken über Kunst bewegte, klingt in § 23 von Vita activa8 an. Die Beständigkeit der Welt und das Kunstwerk ist dieser Paragraph überschrieben, der sich offensiv zur »Nutzlosigkeit von Kunstdingen«9 bekennt und damit zum Vermögen der Kunst (in diesem Falle des Gedichts), Gedächtnis zu stiften und als »toter Buchstabe«10 vom lebendig »sinnende[n] Denken«11 zu zeugen. Dies steht im Kontext von Reflexionen über das Herstellen, das Verdinglichen und das Handeln und kulminiert in der Feststellung: »In dem Sinne, in dem der Zweck eines Stuhls nur verwirklicht ist,
6 Ebd., S. 66 f. 7 Eine ausführliche und materialreiche Darstellung zur Konstellation zwischen Hannah Arendt und Uwe Johnson sowie zu Hilde Domin, Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger findet sich bei Thomas Wild: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt. Berlin 2009. 8 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben [engl. 1958]. München; Zürich 1981, S. 154−163. 9 Ebd., S. 155. 10 Ebd., S. 157. 11 Ebd., S. 156.
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wenn jemand auf ihm sitzt, gibt es überhaupt keinen Zweck, den ein Kunstwerk erfüllt.«12 Die Dauerhaftigkeit der Kunstwerke, so Hannah Arendt in diesem Zusammenhang, überragt qualitativ und quantitativ die Stabilität aller anderen Dinge, ja, die Beständigkeit des zweckfrei produzierten Kunstwerks »ist so ungemeiner Art, daß es unter Umständen durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch den sich ändernden Bestand der Welt zu begleiten vermag«.13 Weder Schiller und die Autonomieästhetik des 18. Jahrhunderts noch das romantisch-idealistische Konzept einer transgressiven Entbindung der Phantasie werden an dieser Stelle von Hannah Arendt zur Beglaubigung aufgerufen, sondern Rilkes Gedicht Magie aus dem Jahre 1924: Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen solche Gebilde −: Fühl! und glaub! Wir leidens oft: zu Asche werden Flammen; doch, in der Kunst: zur Flamme wird der Staub.14
Mit der sehr freien Paraphrase dieser Zeilen wird der Gedankengang nicht lediglich illustriert, seine Bilder werden vielmehr zum Argument, sie verschränken sich mit dem deduzierenden Duktus des Paragraphen und illuminieren in einem philosophisch-theoretischen Text momenthaft, was nach Hannah Arendts Überzeugung durch Kunstwerke insgesamt zum Leuchten gebracht wird: »die Weltlichkeit der Welt«.15 In der Beständigkeit der Kunstwerke gewinnt der »Wandel und Gang«16 der Welt einen Glanz, einen »Wink möglichen Unsterblichseins«17; nun allerdings nicht in einem Verständnis, das Unsterblichkeit der Seele oder des Lebens meinte, sondern das Unsterblichkeit in dem erkennt, »was sterbliche Hände gemacht haben; und das Ergreifende dieses Tatbestands ist, daß er nicht eine sehnende Regung des Gemüts ist, sondern im Gegenteil greifbar und den Sinnen gegenwärtig vorliegt, leuchtend, um gesehen zu werden, tönend, um gehört zu werden, in die Welt noch hineinsprechend aus den Zeilen des gelesenen Buches.«18 12 Ebd., S. 155. 13 Ebd. 14 Rainer Maria Rilke: Magie. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Rilke-Archiv in Verb. mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 2. Frankfurt/M. 1987, S. 174 f., hier S. 174; vgl. Arendt 1981 (wie Anm. 8), S. 156. Der Nachweis findet sich bei Arendt auf S. 352, Anm. 40. 15 Arendt 1981 (wie Anm. 8), S. 155. 16 Diese Wendung steht im Kontext von vier weiteren Rilke-Versen, die Arendt in dieser Passage (ebd.) zitiert. 17 Ebd. 18 Ebd. Hannah Arendt und die Dichtung
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Solche Gedanken sind im Kontext von Vita activa zwar von marginaler, für den vorliegenden Zusammenhang indes von zentraler Bedeutung. Sie lassen sich gewiss nicht zum Nachweis von ›Elementen und Ursprüngen‹ einer Arendt’schen Ästhetik instrumentalisieren, wohl aber lässt sich an ihnen erörtern, ob und gegebenenfalls bis zu welchem Grade Hannah Arendt selbst zugeschrieben werden kann, was sie an Walter Benjamin so faszinierte: das Vermögen, dichterisch zu denken. Hannah Arendt ist in den erwähnten Autorenporträts, im Rahel-Buch und in den zitierten Passagen aus Vita activa mit Werkzitaten ähnlich umgegangen, wie sie es an Benjamins Texten beschrieben hat: montierend und fragmentierend, kompilierend und analysierend; vor allem aber nachhaltig davon überzeugt, dass die Authentizität des Zitats sich im Umfang des Zitierten nicht etwa verliert, sondern gesteigert wird. Zwei Themenkreise sind in Hannah Arendts Beschäftigung mit Literatur auszumachen; der eine bezieht sich auf die der jüdischen Tradition direkt folgende Auffassung von der ›erlösenden‹ Kraft des Erzählens, in welcher die Dichtung Geschichte ›haltbar‹ macht, Wahrheit über Vergangenes festhält und in der Welt hält. Der zweite, mit dem eben genannten verbundene Themenkreis lässt sich aus den zitierten Überlegungen in Vita activa entwickeln und hat mit Hannah Arendts Verständnis von Sprache und Metapher zu tun. Vor allem die Rückbindung von Kunst und Literatur an den Konnex von Denken, Sinnen und Herstellen ist hierbei entscheidend. In Analogie zu Adam Smiths Auffassung, die sie direkt paraphrasiert, dass nämlich Gebrauchsgegenstände oder Waren der »menschlichen ›Neigung zum Tauschen und Einhandeln‹« entstammen, formuliert Hannah Arendt: »[…] dann entstehen Kunstwerke aus der menschlichen Fähigkeit zu denken und zu sinnen«.19 Sinnendes Denken, sofern es der Kunst gilt, ist freilich für Hannah Arendt nicht herstellend, sondern ein Akt der Transformation, eine Metamorphose radikaler Art, durch die – wie es Rilkes Gedicht Magie illustriert – »der natürliche Lauf der Dinge umgekehrt werden« kann.20 Dieser Transformationsvorgang, durch den beispielsweise in Büchern, Bildern, Statuen oder musikalischen Kompositionen ein Gefühl, ein Erleben, eine Empfindung Gestalt gewinnt und aus dem »Gefängnis des bloßen Bewußtseins, d. h. eines nur sich selbst fühlenden Selbsts, in die Weite der Welt«21 tritt, ist vor allem in der Metapher greifbar. Die Kehrseite die19 Ebd., S. 156. 20 Ebd. 21 Ebd.
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ses kreativen Entäußerungs- und Vergegenständlichungsvorgangs ist ein Vorgang der Mortifikation. Indem Denken und Sinnen sich im Kunstwerk als greifbare Dinge (Texte, Töne, Bilder) vergegenständlichen, wird ein hoher Preis fällig: »[…] der Preis ist das Leben selbst, da immer nur ein ›toter Buchstabe‹ überdauern kann, was einen flüchtigen Augenblick lang lebendigster Geist war«.22 Die Verlebendigung des toten Buchstabens im Lektüre- und Rezeptionsvorgang anderer Menschen und späterer Generationen ändert in Hannah Arendts Sicht nichts an der prinzipiellen (fundamentalontologischen) Leblosigkeit der Künste; freilich ist diese in den Künsten unterschiedlich stark ausgeprägt, am schwächsten in der Musik und der Dichtung, wo die »herstellende Verdinglichung«23 am wenigsten materialgebunden ist. Solche Überlegungen führen Hannah Arendt zu einer Überzeugung, die nicht nur in Vita activa, sondern vielfältig variiert in zahlreichen ihrer politischen Essays, in ihren Buchrezensionen und Dichterporträts auftaucht: dass nämlich Dichtung »gewissermaßen [die] menschlichste und unweltlichste der Künste ist«.24 Das Material der Dichtung ist die Sprache selbst; ihr Produkt bleibt dem Denken, das es hervorgebracht hat, am nächsten. Die Beständigkeit des Gedichts – so spitzt Hannah Arendt zu – ist mithin einer genuinen, auch etymologisch verbürgten ›Verdichtung‹ geschuldet: »[…] es ist, als wäre ein in äußerster Dichte und Aufmerksamkeit gesprochenes Sprechen in sich bereits ›dichterisch‹.«25 Von allen »Gedankendingen der Kunst«26 bleiben Gedichte dem Denken selbst am nächsten; unter allen Dingen, die in die Welt treten, sind Gedichte am wenigsten dinglich; Gedichte sind, nach Herkunft, Materialität und Seins-Status, das undinglichste unter allen Dingen, die als gemachte in die Welt treten. Dichten und Denken verbindet also im Ursprung schon eine besondere Nähe. Sie stellen nichts her und der Status der greifbaren »Dinge«, der von beiden in der Welt zeugt und materialiter in der Sprache existiert, ist ein gleich ursprünglicher und für das »Gedächtnis der Menschheit«27 gleich existenzieller. Solche Überlegungen lassen sich in der autonomieästhetischen und der romantischen Tradition verorten; mit Nietzsche können sie auch als Eingeständnis dafür ausgelegt werden, dass nur die Kunst die Existenz erträg-
22 23 24 25 26 27
Ebd., S. 157. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 158. Ebd., S. 163. Hannah Arendt und die Dichtung
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lich mache;28 auch sind die hier referierten Gedanken als philosophischtheoretische Vorbereitung für das von Hannah Arendt an Walter Benjamin so folgenreich diagnostizierte Prinzip des ›dichterischen Denkens‹ zu lesen.29 Darüber hinaus aber soll hier der aus heutiger Sicht selbstverständliche, nach Herkunft und Entstehungskontext aber originäre Gedanke vom ›andenkenden Erinnern‹ (der Mnemosyne) unterstrichen werden. Dieses ist als Akt sprachlicher Verdichtung und Konzentration, aber auch als Transformation aufzufassen. Fragt man nach rezeptiven und produktiven Zugangsweisen von Textgelehrten zu literarischen Texten und Textformen, so lässt sich für Hannah Arendt feststellen: Ihre Zugangsweise verbindet im philosophisch-theoretischen ebenso wie im literaturkritisch-literaturgeschichtlichen Teil ihres Werkes (im Buch über Rahel Varnhagen, in den Dichter-Porträts) die rezeptiven und produktiven Aspekte, und sie geht – wie aus Anlass von Vita activa erläutert – so weit, dem Proprium der Dichtung philosophische Dignität zu verleihen. Die autonomieästhetische Tradition, die Lyrik der Moderne (vor allem Rilke), aber auch so divergente Autoren wie Heine und Kafka, Broch und Brecht, Uwe Johnson und Rolf Hochhuth, Ingeborg Bachmann und Max Frisch sind ihr die Garanten für das, was in der Lessing-Rede so formuliert wird: »Keine Lebensweisheit, keine Analyse, kein Resultat, kein noch so tiefsinniger Aphorismus kann es an Eindringlichkeit und Sinnfülle mit der recht erzählten Geschichte aufnehmen.«30 Mit Entschiedenheit insistiert Hannah Arendt in der Lessing-Rede auf der existenziellen Notwendigkeit und auf der vitalen Bedeutung des Erzählens, des guten Erzählens und damit der Dichtung. Dies wird vorbereitet und begleitet von Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart und hier vor allem der seinerzeit (1959) wohlfeilen Redensart, man müsse ›die Vergangenheit bewältigen‹. Arendt widerspricht diesem Anliegen ganz entschieden: Bewältigen könne man wohl überhaupt keine Vergangenheit und diejenige des nationalsozialistischen Massenmords schon gar nicht. Bezeichnenderweise widerspricht Hannah Arendt der Phrase von der ›Vergangenheitsbewältigung‹ aber auch mit Verweis auf die Potentiale der Dichtung. 28 Vgl. Marie Luise Knott: Hannah Arendt liest Franz Kafka 1944. In: Text + Kritik 166/167 (2005), S. 150–161. 29 Hannah Arendt: Benjamin, Brecht. Zwei Essays. München 1971. Vgl. auch Helgardt Mahrdt: »Unausrottbar ist das Poetische solange es noch das Wundern gibt« – Hannah Arendt über Walter Benjamin. In: Heuer/von der Lühe 2007 (wie Anm. 3), S. 31–49. 30 Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz. München; Zürich 1989, S. 17–48, hier S. 38.
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Als Beispiel wählt sie William Faulkners Legende (1954; dt. 1955), einen Text, der die »innere Wahrheit des Geschehens«, also der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, so »transparent« mache, dass der Leser unter Tränen werde sagen können: »ja, so ist es gewesen«.31 Es werde in Faulkners als Passionsgeschichte und Vater-Sohn-Konflikt gestalteter Erzählung von einer gescheiterten Meuterei im Ersten Weltkrieg wenig beschrieben, gar nichts erklärt und überhaupt nichts bewältigt. Freilich sei – so entwickelt Hannah Arendt in deutlicher Analogie zu Lessings Mitleidsästhetik – die Erschütterung, also die Wirkung der Lektüre, der »tragische Effekt« oder die »tragische Lust«, ein Ereignis, das den Leser »wissend« und also fähig mache, die Katastrophe zu ertragen und sich mit ihr abzufinden. Hannah Arendt radikalisiert damit Lessings Position, sie liest sie im Horizont von Vita activa, wenn sie den Zusammenhang von Handeln, Erleiden und Geschehen betont. Ein »echte[s] Geschehen« im Unterschied zu den reinen, ggf. auch nichttragischen Handlungsabläufen liegt erst vor, wenn es eine rückwärts gewandte, erkennende Erinnerung gibt – wenn das Handeln zum Abschluss gekommen und als eine »Geschichte erzählbar geworden ist«.32 Sofern es überhaupt ein ›Bewältigen‹ der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat; aber auch dies Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nichts endgültig. Vielmehr regt es, solange der Sinn des Geschehens lebendig bleibt – und dies kann durch sehr lange Zeiträume der Fall sein – zu immer wiederholendem Erzählen an. Die Dichter in einem sehr allgemeinen, die Geschichtsschreiber in einem sehr speziellen Sinn haben die Aufgabe, dies Erzählen in Gang zu bringen und uns in ihm anzuleiten.33
Es folgen Hinweise auf die Alltags- und Lebenspraxis, auf die menschliche Lebenserfahrung, die auch Personen, die weder Dichter noch Historiker sind, das Bedürfnis haben lässt, Erlebnisse zu erzählen, Erinnerungen erzählend mitzuteilen und weiterzugeben. Dichten erscheint bei Hannah Arendt als »menschliche Möglichkeit«34, die beim eigentlichen Dichter eine gültige, auf Dauerhaftigkeit und Beständigkeit angelegte Form erhält. Mit fast gleichlautenden Worten wie in Vita activa – beide Texte entstanden 1958/59 – formuliert Hannah Arendt in der Lessing-Rede, dass Erzählung (bzw. Dichtung) die Geschichte beständig und dauerhaft mache, dass sie als »Ding«, als
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Ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 36 f. Ebd., S. 37. Ebd. Hannah Arendt und die Dichtung
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»ein Weltding unter anderen Weltdingen«, zwar kein ›Bewältigen‹, aber ein erkennendes Ertragen und Eingedenken der Vergangenheit erlaube.35 Es sind dies Überlegungen, die sie dreizehn Jahre später aus Anlass von Johnsons Jahrestagen wiederholen wird. An späterer Stelle der Lessing-Rede entwickelt Arendt eine implizite Theorie literarischer Dialogizität, einen Entwurf zum Konnex zwischen Dichtung und Dialog, Literatur, Freundschaft und Gespräch. Auch Arendts eigene Schreibweisen sind durch diesen Konnex bestimmt. Schon 1988 hat Seyla Benhabib in ihrem Aufsatz über die »erlösende Kraft des Erzählens«36 nachgewiesen, in welchem Maße die Verflechtung von Reflexion und Narration zum Kompositions- und Darstellungsprinzip des Buchs Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft wird. Genau diese aus heutiger Sicht als transgressiv oder sogar hybrid zu charakterisierende Schreibweise hat die Kritik an diesem Grundlagenwerk ausgelöst. Aus der Sicht der Historiographie ist es entweder zu narrativ oder systematisch zu ehrgeizig und in der Thesenbildung zu forciert; aus der Sicht der philosophisch-politologischen Theoriebildung hingegen ist das voluminöse Werk zu anekdotisch, um systematisch zu überzeugen; und der lebendig-anschauliche, auf Verstehen und Dialog zielende Stil der Darstellung rückt das Werk, zumal aus der Perspektive deutscher Wissenschaftsgläubigkeit, die allzu gern mit Unverständlichkeit einhergeht, gar in die Nähe des Journalismus. Einer der ersten Kritiker des Werks, der politische Philosoph Eric Voegelin, hat die mangelnde Einheitlichkeit des Werkes kritisiert. Tatsächlich ist man als Leser aufgefordert, die verbindenden Linien zwischen den drei großen Kapiteln über Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus selbst herzustellen. Diesen Einwänden soll hier nicht begegnet werden. Deutlich ist, dass der zwischen Historiographie und politischer Theorie, Gegenwartsanalyse und systematischer Zeitdiagnose angesiedelte Text ein Darstellungsverfahren praktiziert, das den disziplinären Normen der Wissens- und Erkenntnisgewinnung einerseits widerstreitet, ihnen in anderer Hinsicht aber sehr wohl folgt: so im prinzipiell historisierenden Zugriff, wenn im Kapitel über Antisemitismus dessen Ursprünge in der Geschichte der Hofjuden und damit in den Elementen und Konzepten der Assimilation ausgemacht werden. Zugleich arbeitet Hannah Arendt an einer systematischen Theorie 35 Ebd., S. 38. 36 Seyla Benhabib: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens. In: Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/M. 1988, S. 150–174 u. 276– 281; vgl. auch dies.: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne [engl. 1996]. Hamburg 1998.
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totaler Herrschaft, sucht das Singuläre und Genuine herauszuarbeiten, ohne freilich historische Ursachenforschung zu beabsichtigen. Die Verflechtung von Reflexion und Narration findet sich als Darstellungs- und Deutungsverfahren auch in der Studie Über die Revolution (1963) und natürlich in allen Texten, die literarische oder literaturgeschichtliche Phänomene zum Gegenstand haben.37 Das Rahel-Buch ist ein prominentes Beispiel dafür. Schon Hermann Broch hatte Hannah Arendt 1947 nach der Lektüre des Manuskripts mitgeteilt, das Buch repräsentiere einen »neue[n] Typ von Biographie«, eine »abstrakte Biographie«38; in einem Brief an den Verleger C. Posen nennt er es wenig später ein »Experiment«, eine »philosophische«, ja »gewissermaßen ›existentialistische‹« Biographie.39 Das traf zu einem guten Teil auch Hannah Arendts Anliegen. In den Jahren 1929/30 hatte sie – im Horizont der heftigen, nicht zuletzt von Siegfried Kracauer vorangetriebenen Debatte über Die Biographie als neubürgerliche Kunstform40 – mit diesem Buch begonnen. Mit Ausnahme zweier Kapitel, die erst in Gesprächen mit Walter Benjamin und Heinrich Blücher im Pariser Exil entstanden, war es 1933 fast abgeschlossen. Als sie das fertige Manuskript 1938 beim Preisausschreiben der »American Guild« einreichte, versteckte sie ihre Autorschaft unter dem Pseudonym »Peter Schlemihl« und fügte dem Titel Rahel Varnhagen den Untertitel hinzu: Ein Exempel statuiert.41 Die Wahl des Autornamens spielt mit einem kanonischen, grenzgängerischen Helden, dem Repräsentanten traumwandlerischer Realitätstüchtigkeit, der Figuration einer Verschmelzung von Wirklichkeit und Phantasie, die – auf märchenhafte Weise – ohne Einbuße für beide Seiten gelingt. 37 Vgl. u. a. Hannah Arendts folgende Essaybände: Menschen in finsteren Zeiten (1968); Die verborgene Tradition (1976). 38 Hannah Arendt; Hermann Broch: Briefwechsel 1946–1951. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M. 1996, hier S. 65. Vgl. auch Irmela von der Lühe: Biographie als Versuch über weibliche Intellektualität. Hannah Arendts Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. In: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 6 (2001), S. 103–115. 39 Arendt/Broch 1996 (wie Anm. 38), S. 69. 40 Siegfried Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt/M. 1977, S. 50–63. 41 Deutsche Intellektuelle im Exil. Ihre Akademie und die »Guild for German Cultural Freedom«. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933−1945 der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main. München; London 1993, S. 391, 395 f. Zur Entstehung und Wirkungsgeschichte des Rahel-Buches vgl. auch: Liliane Weissberg (Hg.): Rahel Varnhagen: The Life of a Jewess. First complete edition. Translated by Richard and Clara Winston. Baltimore, London 1997, S. 3–69, hier S. 45 f.; Claudia Christophersen: Das Leben wird gestaltet. Rahel Varnhagens Goethe-Verehrung aus der Sicht von Hannah Arendt. In: Heuer/ von der Lühe 2007 (wie Anm. 3), S. 15–30. Hannah Arendt und die Dichtung
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Das »Exempel« freilich, das mit und an Rahel Varnhagen »statuiert« werden sollte, galt einer Existenzform, die in der Biographie und in großen Teilen des Arendt’schen Werkes zur Darstellungsform werden sollte. Gemeint ist die erwähnte Verschränkung von Narration und Reflexion, gemeint ist aber zugleich eine luzide Analyse der Reflexion als Lebensform, die in der Tat an Rahel Varnhagen kritisch diagnostiziert wird, und zwar auf der Grundlage von Selbstäußerungen, Zitaten aus Briefen und Tagebüchern. Diese Montage aus Originalzitaten und Autorreflexion entstammt der Absicht, eine Autobiographie von fremder Hand zu schreiben: »Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können«.42 Diesem anscheinend so selbstgewissen Anspruch korrespondiert eine Darstellungsmethode, durch welche die Autorin des Textes hinter ihrer Heldin verschwindet; die Rahel Varnhagen mit Texten und Selbstäußerungen ausführlich zu Wort kommen lässt und zugleich den Dialog, die kritische Auseinandersetzung mit dem Zitierten, sucht. Im Zentrum dieses Dialogs steht jenes Paradigma, das in Hannah Arendts Sicht den Selbstentwurf Rahel Varnhagens entscheidend bestimmt: die Reflexion. Diagnose und Dialog über das Dilemma der Reflexion prägen sowohl den Darstellungsgegenstand als auch die Schreibweise der Biographie. Als emotionale, mentale und intellektuelle Konstante im Leben und in der Selbstsicht Rahel Varnhagens gilt Hannah Arendt die Fixierung auf ihre »Minderwertigkeit«, auf ihre »infame Geburt«.43 Der Wunsch, dem Judentum zu entfliehen, sei für Rahel Varnhagen gleichbedeutend gewesen mit dem Versuch, in der Welt heimisch zu werden. Ihr »verzweifeltes Draußenstehen«44, auch durch die Ehe mit Varnhagen nie wirklich überwunden, habe sie in der Reaktion auf Menschen, Liebe, Schönheit und Geselligkeit zu einer Radikalität gezwungen, die zwischen Naivität und Hypertrophie, zwischen Wahrheit und Lüge kaum zu unterscheiden vermochte. Ihre spezifische »Zweideutigkeit«45, die extreme, durch Zurücksetzung nur »gesteigerte[] Sensibilität«46, erscheint in Hannah Arendts Interpretation in gänzlich anderem Licht. Nicht der außergewöhnliche Charakter und das Genie des Gesprächs, nicht die Meisterin des Verstehens und die unaufhörliche Briefschreiberin, sondern die zu Distanz und Fremdheit gezwungene, zwischen Ursprünglichkeit und reflexiver Selbstverkennung schwankende Intellektuelle ist es, deren Lebensstationen Hannah Arendt verfolgt. 42 43 44 45 46
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Arendt 1998 (wie Anm. 2), S. 12. Ebd., S. 213. Ebd., S. 183. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32.
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In der zwanghaften Introspektion sieht Hannah Arendt die Existenzund Identitätsform Rahel Varnhagens. Mit ihrer »Reflexionssucht«47 stehe sie zwar in der aufklärerischen Tradition Jean-Jacques Rousseaus; Hannah Arendt betont indes die genuin sozialen Ursprünge dieser Haltung: Sie entstamme der schmerzhaften Erfahrung, dass sich vernunftwidrige Vorurteile vielleicht individuell überwinden lassen, dass sie in den Köpfen und im Denken der anderen aber gerade nicht Vergangenheit sind, sondern Gegenwart bleiben. Man mag – so Hannah Arendt über ihre Heldin – im Denken die eigene Herkunft als Jüdin ausgelöscht und als Relikt der Vergangenheit abgetan haben, »als Vorurteil in den Köpfen anderer wird [sie] eben doch zur leidigsten Gegenwart«.48 Die Illusionen eines auf reine Reflexion gestützten Identitätsentwurfs unterzieht Hannah Arendt im Rahel-Buch einer doppelten Kritik: Zum einen führt die »Reflexionssucht« auf selbstzerstörerische Weise zu Distanz, Einsamkeit und Lebensfremdheit und damit in eine selbst erzeugte kompensatorisch-elitäre Haltung. Lebensentwurf und Lebensvollzug folgen der Gewissheit: »Die Wirklichkeit kann nichts Neues bringen, die Reflexion hat immer schon alles vorweggenommen«.49 Zum anderen aber – und dieser Aspekt ist für Hannah Arendt fast noch wichtiger – erwächst aus der intellektuellen Introspektion eine illusionäre Ignoranz gegenüber der Welt, ein gleichsam irrationales Assimilationsbegehren, das in der jüdischen Herkunft ein ›persönliches Pech‹, ein ›privates Unglück‹, aber niemals eine zu kritisierende soziale Stigmatisierung erkennt. In diesem Sinne ist Rahel Varnhagen ein weiblicher ›Parvenü‹, der Gegentypus zum ›Paria‹ Heine. Schon früh wurde die assimilationskritische Perspektive des Rahel-Buches als überzogen und retrospektiv vereinseitigend kritisiert. Käte Hamburger hat sogar von einem »Rahel durchweg höhnisch diffamierende[n] Buch« gesprochen.50 Dem soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden, wiewohl ein systematischer Vergleich der Darstellungs- und Deutungsmuster, welche die beiden weiblichen jüdischen Textgelehrten Hannah Arendt und Käte Hamburger an Rahel Varnhagen entwickeln, gewiss lohnend wäre. 47 48 49 50
Ebd., S. 24. Ebd. Ebd. Käte Hamburger: Rahel und Goethe. In: Konrad Feilchenfeldt u. a. (Hg.): Rahel-Bibliothek. Rahel Varnhagen. Gesammelte Werke. Bd. X: Studien, Materialien, Register. München 1983, S. 179–204, hier S. 203. Vgl. Konrad Feilchenfeld: Rahel-Philologie im Zeichen der antisemitischen Gefahr (Margarete Susman, Hannah Arendt, Käte Hamburger). In: Barbara Hahn; Ursula Isselstein (Hg.): Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin. Göttingen 1987, S.187–195. Hannah Arendt und die Dichtung
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Für die besondere Verflechtung von Reflexion und Narration, die Hannah Arendts Schreiben nicht nur über literarische Gegenstände charakterisiert, ist das Rahel-Buch mit seiner zitatgestützten Analyse von Reflexivität als Lebensmodus ein prominentes Beispiel. In Duktus und Diktion, in Stil und Syntax, in Komposition und Intention sind die Porträts über Heine und Kafka, Brecht, Broch und Benjamin, Auden und Blixen ähnlich angelegt: Sie entstammen der erklärten oder verschwiegenen Absicht, einen Autor so darzustellen, wie er sich selbst gesehen hat, ohne dass daraus Apologie oder Idolatrie würde. Sie führen aus und konkretisieren, was Arendt in § 23 von Vita activa theoretisch dargelegt hat, den Nachweis vom singulären transformatorischen Potential der Dichtung, und zielen auf das, was von ihr vor allem in der Lessing-Rede programmatisch entwickelt wurde: Was nicht Gegenstand des Gesprächs werden kann, mag erhaben oder furchtbar oder unheimlich sein, es mag auch eine Menschenstimme finden, durch die es in die Welt hineintönt; menschlich gerade ist es nicht. Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir das, was in der Welt ist, wie das, was in unserem eigenen Innern vorgeht, und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein.51
Das Dialogische ist immer wieder als Merkmal der Lese- und Schreibweisen Hannah Arendts herausgestellt worden. Es kennzeichnet ihren theoretischen und literaturgeschichtlichen Arbeitsstil, aber auch ihren Diskussionsstil. Ein Beispiel mag dies abschließend verdeutlichen. Rolf Hochhuth, dessen Skandalstück Der Stellvertreter (1963) vier Tage nach Erscheinen der ersten Folge von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem im »New Yorker« (16. Februar 1963) in Berlin Premiere hatte (am 20. Februar 1963), hat es überliefert. Auf die Koinzidenz der Ereignisse, auf die Affinität des Themas – in beiden Texten geht es um Kritik an kollektiven Lebenslügen – Bezug nehmend, erinnert sich Rolf Hochhuth an seine Gespräche mit Hannah Arendt, spricht von ihrer »dichterischen Kraft« und fügt hinzu: »Sie war durch und durch Literatin – das bemerkte ich selbst und es zog mich an.«52
51 Hannah Arendt 1989 (wie Anm. 30), S. 35. 52 Ich verdanke diesen Hinweis dem instruktiven Aufsatz von Thomas Wild: Kreative Konstellationen – Hannah Arendt und die deutsche Literatur der Gegenwart. Ein Überblick und eine Wirkungsanalyse am Beispiel Rolf Hochhuths. In: Text + Kritik 166/167 (2005), S. 162–173, hier S. 168. Vgl. auch das Kapitel über Hannah Arendt und Rolf Hochhuth in Wild 2009 (wie Anm. 7), S. 147–173.
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RE SP ONDENZ
Elisabeth Gallas
Zum Beitrag von Irmela von der Lühe
Das »dichterische Denken« von Hannah Arendt, also die von ihr zur Methode erhobene »Verschränkung von Narration und Reflexion« als Form der erkennenden Annäherung an die Welt, entwickelt an denjenigen Punkten eine ganz besondere Wirkung, an denen Arendt von den literarischen Fragestellungen, die sie zeitlebens faszinierten, am weitesten entfernt zu sein scheint – in ihrer erkenntnistheoretischen und historischen Analyse des nationalsozialistischen Totalitarismus. Ihr Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), das oft als sperrig, als nur lose zusammengefügt und von manchen sogar als in sich widersprüchlich wahrgenommen wurde, zeugt auf besondere Weise von den literarischen Anleihen ihres Zugriffs und ist, wie Irmela von der Lühe zu Recht betont, ein beredtes Beispiel von Arendts Überzeugung, dem Erzählen und dem Akt der Erzählbarkeit selbst eine zentrale Bedeutung für das Verstehen und ›Bewältigen‹ zuzuschreiben. Diesen Aspekt möchte ich in meinem Beitrag, die Überlegungen von der Lühes weiterführend, vertiefen. Die historische Erfahrung des Holocaust macht aus Arendts Sicht eine umfassende Neubestimmung allen Denkens und Handelns erforderlich – die Elemente und Ursprünge sind Ausdruck der Suche nach dieser Neubestimmung im Bewusstsein von deren Aporien und Grenzen.1 In einer Vorlesung Arendts zu Fragen der Ethik aus dem Jahre 1965 werden diese Auseinandersetzungen für die Entstehungszeit ihres Buches noch einmal zusammengefasst:
1 Einführend hierzu Claudia Althaus: Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie. Göttingen 2006; Seyla Benhabib: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens. In: Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/M. 1988, S. 150–174 u. 276–281; David Luban: Explaining Dark Times. Hannah Arendt’s Theory of Theory. In: Social Research 50 (1983) H.1, S. 215–248; Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt als Geschichtenerzählerin. In: Adalbert Reif (Hg.): Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk. Wien 1979, S. 319–327. Zum Beitrag von Irmela von der Lühe
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Wenn ich an die zwei Jahrzehnte seit dem Ende des letzten Krieges zurückdenke, habe ich das Gefühl, daß dieses moralische Problem [der Zusammenbruch aller moralischen Ordnung durch den Nationalsozialismus, E. G.] im Schlummer gelegen hat, weil es von etwas zugedeckt war, über das zu sprechen in der Tat äußerst schwierig und das zu begreifen fast unmöglich ist – vom Horror selbst in seiner nackten Monstrosität. Als wir erstmals mit ihm konfrontiert wurden, schien er nicht nur für mich, sondern für viele Andere alle moralischen Kategorien ebenso hinter sich zu lassen, wie er sicher alle juristischen Normen sprengte. Man konnte dem auf verschiedene Weise Ausdruck verleihen. Ich habe gewöhnlich gesagt, daß dies etwas ist, das niemals hätte geschehen dürfen; denn die Menschen werden unfähig sein, es zu bestrafen oder zu vergeben. Hiermit uns zu versöhnen und es zu begreifen, werden wir nicht in der Lage sein, was wir aber bei allem Vergangenen tun sollten.2
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lassen sich die Elemente und Ursprünge als Versuch Arendts lesen, Kategorien des Denkens und Schreibens zu finden, die der Autorin eine begreifende Annäherung an das Ereignis des Holocaust und dessen Folgen für die menschliche Erkenntnis, ja die menschliche Existenz selbst ermöglichen sollten.3 Um diese Annäherung in aller Kürze nachvollziehen zu können, werden sich die folgenden Ausführungen auf zwei Kernelemente von Arendts Zugriff konzentrieren, die in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielen. Es geht um das Konzept des Verstehens und das der Erfahrung. Die veränderten Erzähl- und Darstellungsweisen Arendts nach dem von ihr als ›Traditionsbruch‹ bezeichneten Geschehen, wie sie sich in den Elementen und Ursprüngen zeigen, sind, so meine These, von dem Motiv des Verstehen-Wollens angeleitet und sollen der explizit gedachten Nähe zur eigenen Erfahrung dienen. Nach dem »Ruin unserer Denkkategorien und Urteilsmaßstäbe«,4 nach der Zerstörung von Sinn- und Erzählstruktur im traditionellen Sinn, dem Ende geschichtlicher Kontinuität durch die Erfahrung des Holocaust, sollte Arendts Schreiben den eigenen Verstehensprozess anregen, ausdrücken und nachvollziehbar werden lassen. 2 Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik [engl. 2003]. München; Zürich 2007, S. 17. 3 Für eine solche Perspektive stehen exemplarisch: Steven E. Aschheim: Nazism, Culture and The Origins of Totalitarianism: Hannah Arendt and the Discourse of Evil. In: New German Critique 70 (1997), S. 117–139; Richard Bernstein: Hannah Arendt and the Jewish Question. Cambridge, Mass. 1996; Hauke Brunkhorst: Antisemitismus und Totalitarismus im Werk Hannah Arendts. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 22 (2007), S. 72– 86; Dan Diner: Marranische Einschreibungen. Erwägungen zu verborgenen Traditionen bei Hannah Arendt. In: ebd., S. 62–71. 4 Hannah Arendt: Verstehen und Politik. In: dies.: Übungen im politischen Denken. Bd. 1: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Hg. v. Ursula Ludz [1994]. München; Zürich 2000, S. 110–127, hier S. 122.
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Was das ›Verstehen‹ für Hannah Arendt in diesem Zusammenhang bedeutet, hat sie im Vorwort der Elemente und Ursprünge formuliert: Dieses Buch stellt den Versuch dar zu verstehen, was auf den ersten und selbst den zweiten Blick nur ungeheuerlich erschien. […] Kurz: [es] bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist und war, zu stellen und entgegenzustellen.5
Verstehen hat hier weniger eine hermeneutische denn eine politische Dimension, es bestimmt Formen der Erzählung und des Urteils, es ermöglicht eine Konfrontation mit der Realität, ohne »das Ungeheuerliche zu leugnen, das Beispiellose mit Beispielen zu vergleichen oder Erscheinungen mit Hilfe von Analogien und Verallgemeinerungen zu erklären, die das Erschütternde der Wirklichkeit und das Schockhafte der Erfahrung nicht mehr spüren lassen.«6 Die Textkomposition der Elemente und Ursprünge zeichnet sich durch eine fragmentarische Form aus. Die drei Teile sind aus etlichen kleinen Texten komponiert, die je verschiedene Lebensstationen und Stadien des Nachdenkens Arendts repräsentieren. Wie Theodor W. Adorno ist auch Arendt davon überzeugt, dass der Essay als besonders angemessene Form des Ausdrucks nach dem ›Traditionsbruch‹ gelten könne. Im Essay, einem Genre, das die Verknüpfung literarischer mit erkenntnistheoretischen Zugriffen erlaubt, entsteht der Raum zur Darstellung direkter Erfahrungsnähe und zu deren Verbindung mit dem kritischen historischen Urteil.7 Arendts zwischen 1944 und 1951 entstandene Artikel, die Vorarbeiten der Elemente und Ursprünge waren oder sogar ganz in das Buch eingingen, bewegen sich genau in diesem Spannungsfeld zwischen der experimentellen Denkbewegung, der politischen Reflexion und der unmittelbaren Erfahrung. Im zusammengesetzten Text spielen demzufolge Bilder, Metaphern, Parabelformen, Hyperbeln, Fragmente, Leerstellen und weitere poetologische Stilmittel eine wichtige Rolle für den Erkenntnisprozess. Auch das Zitat und der intertextuelle Verweis sind wesentliche Elemente des Buches, die Verknüpfung des historiographisch-theoretischen mit dem literarischen Diskurs wird auf explizite Weise vorgeführt, denn Hannah Arendt war der Überzeugung, dass die Dichtung dem Wesen des Denkens am nächsten komme.8 5 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München; Zürich 102005, S. 25. 6 Arendt 2005 (wie Anm. 5), S. 25. 7 Vgl. Alfons Söllner: Der Essay als Form des politischen Denkens. Die Anfänge von Hannah Arendt und Theodor W. Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Text + Kritik 166/167 (2005), S. 79–91. 8 Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München; Zürich 41985, S. 157. Zum Beitrag von Irmela von der Lühe
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Darüber hinaus arbeitet sie in ihrem Text entlang von Brüchen, die sichtbar sind und in ihrem Wesen verstanden werden müssen – Brüche, die auch die eigene Biographie prägten. Hannah Arendt hat selbst darauf hingewiesen, wie eng ihr Nachdenken und ihre Lebenserfahrung miteinander verknüpft sind, wenn sie formuliert: »Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist.«9 Erinnerung und Erfahrung sind neben dem Verstehen die zentralen Kategorien, die Arendts Denken und Schreiben in jener Zeit bestimmten. Sie war davon überzeugt, dass »ohne die Dichter und Geschichtsschreiber, ohne die Kunst des Bildens und die des Erzählens, […] das Einzige, was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen vermögen, nämlich die Geschichte, in der sie handelnd und sprechend auftraten, bis sie sich soweit gefügt hat, daß einer sie als Geschichte berichten kann, niemals sich so dem Gedächtnis einprägen [könnte], daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben.«10 Sowohl die Genese als auch die Struktur der Elemente und Ursprünge verweisen auf diese Zusammenhänge. Hannah Arendts Lebensstationen von Deutschland über die Flucht nach Frankreich, die dortige Internierung im Konzentrationslager Gurs und das rettende Exil in den Vereinigten Staaten finden nicht nur eine direkte Abbildung in ihren zu der jeweiligen Zeit verfassten Artikeln, sondern auch in deren späterer Zusammenführung in den Gesamttext der Elemente und Ursprünge. Die drei Großkapitel – strukturell zusammenhängend, wenn auch nicht logisch miteinander verknüpft – sind relativ eng mit diesen Stationen verbunden. Ihre Auseinandersetzung mit der gescheiterten Assimilation der Juden in Westeuropa im ersten Kapitel der Elemente und Ursprünge unter dem Titel Antisemitismus wurde jenseits ihrer weitreichenden Forschungen zur jüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, die sie bereits für das Buch über Rahel Varnhagen durchgeführt hatte, maßgeblich von ihrem Blick auf Frankreich geprägt. Die Wahrnehmung der zentralen Bedeutung des gegenwärtigen Antisemitismus wuchs im Kontext ihres eigenen Aufenthalts in Paris in den späten 1930er Jahren, während dessen sie sich intensiv mit der Genese antisemitischer Anfeindungen und mit der Konstitution des europäischen Nationalstaates befasste.11 Hier diente ihr 9 Hannah Arendt: Fernsehgespräch mit Günter Gaus. In: dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. v. Ursula Ludz. München; Zürich 22006, S. 46–72, hier S. 69. 10 Arendt 1985 (Anm. 8), S. 162 f. 11 Vgl. hierzu Arendts umfassenden Artikel Antisemitism von 1938/39, der in ihrem Nachlass gefunden wurde und die wesentlichen Punkte des gleichnamigen Kapitels vorbereitet. Abgedruckt in: Hannah Arendt: The Jewish Writings. Hg. v. Jerome Kohn; Ron H. Feld-
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in besonderer Weise die ›Dreyfus-Affäre‹ als Beispiel der Kristallisation des Antisemitismus in den westeuropäischen Gesellschaften im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – diese »Komödie«, wie es in ihren eigenen Worten heißt, brachte für Arendt den zunehmend kulissenhaften Charakter nationalstaatlicher Prinzipien wie der Gleichheit vor dem Gesetz und den sich wirkungsmächtig ausbreitenden Antisemitismus sowie die Funktion dieser Entwicklungen als Vorausdeutungen auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zur Anschauung. Auch das zweite Großkapitel unter dem Titel Imperialismus referiert auf den französischen Kontext, wächst aber bereits darüber hinaus, denn es kulminiert in Arendts wegweisender Diskussion des Rechtsverlusts durch den Status der Staatenlosigkeit, eine Erfahrung, die ihrer eigenen Lebenswirklichkeit entsprach. So schildert sie zum Abschluss des Imperialismus-Teils die Konsequenzen des bereits anhand der ›Dreyfus-Affäre‹ konstatierten politischen Niedergangs des Nationalstaates und das Scheitern bei der Suche nach einer angemessenen Antwort auf die Minderheitenfrage. Das Skandalon des Ausstoßes von Individuen aus Recht und Gesetz, die ›Rechtlosigkeit‹, wie sie Hannah Arendt selbst getroffen hat, rückt ins Zentrum ihrer Überlegungen, die in der berühmten Analyse der Aporien der Menschenrechte und der dieser immanenten existentiellen Forderung nach dem »Recht, Rechte zu haben«, gipfelt.12 Mit dieser Darstellung weist Arendt auf das voraus, was den dritten Teil des Buches bestimmen sollte – die Erklärung und Deutung des Totalitarismus als einer beispiellosen Organisationsform des Politischen, die de facto Politik zu einem Ort des Bösen werden ließ. Die Genese dieses Kapitels ist eng mit den Denkbewegungen verbunden, die Hannah Arendt in den Vereinigten Staaten entwickelte. Und diese lassen sich, wie sie es in Vita Activa selbst formulieren sollte, von ihrem politischen Handeln in dieser Zeit nicht trennen. In den späten 1940er Jahren kreist ihr Denken und Tun um den verstörenden Kern, den es zu fassen und zu deuten gilt – der Weg zum Verstehen führt über Denken und Handeln. Dieses war seinerzeit tatsächlich eng mit ihren Forschungsthemen verknüpft: Hannah Arendts großes persönliches Engagement für die Dokumentation des präzedenzlosen Kulturraubes der Nationalsozialisten an den Juden und für die Rettung der auffindbaren jüdischen Kulturgüter Europas durch ihre Arbeit man. New York 2007, S. 46–121; eine ähnliche Lesart bietet Alfons Söllner: »Adieu, la France?« – Frankreich im Frühwerk von Hannah Arendt. In: ders. (Hg.): Deutsche Frankreich-Bücher aus der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden 2011, S. 317–346. 12 Hannah Arendt: Die Aporien der Menschenrechte. In: dies. 2005 (wie Anm. 5), S. 601–625, hier S. 614. Vgl. dazu Seyla Benhabib; Raluca Eddon: From Antisemitism to »the Right to Have Rights«. The Jewish Roots of Hannah Arendt’s Cosmopolitanism. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 22 (2007), S. 44–61. Zum Beitrag von Irmela von der Lühe
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bei der Organisation der Jewish Cultural Reconstruction (JCR), die als Treuhänderin für erbenloses geraubtes jüdisches Kulturgut auftrat, und ihre damit verbundenen Reisen durch das postnationalsozialistische Deutschland boten in diesen Jahren entscheidendes Material für ihre wissenschaftliche und schriftstellerische Arbeit. Die nach dem Krieg wieder aufgenommene Korrespondenz mit ihrem akademischen Lehrer Karl Jaspers sowie der stetige Briefwechsel mit Gershom Scholem in Israel, der nicht nur alle Artikel von Arendt ausführlich kommentierte, sondern auch mit ihr zusammen für die JCR tätig war, sind beredte Zeugnisse der Kontexte, in denen die betreffenden Abschnitte von Elemente und Ursprünge entstanden. Der gesamte Text ihres Hauptwerkes weist also erstens eine enge Korrespondenz zu Arendts eigener Biographie und ihrem politischen Wirken auf: Insbesondere das französische Umfeld sowie die durch die New Yorker Restitutionsorganisation und den hiermit verbundenen akademischen und intellektuellen Kontext gewonnenen Informationen und Impulse verlängerten sich in die Anlage und die Fragestellung des Buchs hinein. Fragen, die auf die verschiedenen Stationen zurückweisen, ziehen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text. Arendt formulierte hier zweitens einen ganz spezifischen Erzählstil, der Elemente der Kritik, der Distanz und der Empörung deutlich zur Anschauung bringt, sie als Stilmittel einsetzt und dazu nutzt, ihre eigene Haltung zu artikulieren. So schrieb sie 1953 an den Kritiker Eric Voegelin in einer Antwort auf dessen ablehnende Bewertung ihres empathischen Stils in Elemente und Ursprünge: Die Konzentrationslager sine ira zu beschreiben, heißt nicht »objektiv« zu sein, sondern sie zu billigen. […] Wenn ich das Bild der Hölle benutzte, meinte ich dies nicht im allegorischen sondern im buchstäblichen Sinne […]. Deshalb denke ich, dass eine Beschreibung der Lager als Hölle auf Erden »objektiver« ist, also ihrer Essenz adäquater, als Darstellungen rein soziologischer oder psychologischer Natur.«13
Der ganze Text ist drittens davon geprägt, grobe Linearitäten der Traditionskritik, falsche Kontinuitäten ihrer Verteidigung wie überhaupt alle herkömmlichen Ganzheitspostulate aufzulösen – er stellt den Bruch, das NichtStringente und das Nicht-Handhabbare ins Zentrum der Darstellung und des Nachdenkens.14 Damit entsteht zugleich auch das für Hannah Arendt wichtige dialogische Moment; sie bietet ihren Lesern an, die Denkbewegung 13 Hannah Arendt: A Reply to Erich Voegelin. In: The Review of Politics 15 (1953), H. 1, S. 76–84, hier S. 79 [Übersetzung v. E. G.]. 14 Zur narrativen Strategie und Idee der Elemente und Ursprünge vgl. Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne [engl. 1996]. Hamburg 1998, Kapitel III.
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selbst zu erfassen und so dem Gegenstand ihrer Überlegungen näher zu kommen. Alle drei skizzierten Merkmale beleuchten, was Arendt mit ihrem politisch-ethischen Konzept des Verstehens zu erreichen versuchte: eben jene Konfrontation, die eigentlich nicht möglich und trotzdem unausweichlich ist. So sind die scheinbar irritierenden Erzählhaltungen und Darstellungsformen, die Struktur und die Denkbewegung der Elemente und Ursprünge gerade ein sinnfälliger Ausdruck von Arendts Einsicht in die Notwendigkeit einer Neubestimmung aller Denk-, Sprach- und Urteilshandlungen nach dem Holocaust.
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Galili Shahar
Auerbachs Narben Der Monotheismus und die Frage der Literatur1
I.
Prolog
Am Anfang seines Buches Mimesis2, im Kapitel Die Narbe des Odysseus, liest Erich Auerbach die »wohlvorbereitete[] und ergreifende[] Szene« im 19. Gesang des homerischen Epos, »in der die alte Schaffnerin Eurykleia den heimgekehrten Odysseus, dessen Amme sie einst war, an einer Narbe am Schenkel wiedererkennt«.3 Odysseus aber, der sich seiner Narbe erinnert und seine Wiedererkennung wenigstens vor Penelope noch zu verbergen wünscht, rückt »abseits ins Dunkle«. An dieser Stelle jedoch, »wo die Schaffnerin die Narbe erkennt, also im Augenblick der Krise«, wird, wie Auerbach referiert, der Fortgang der Erzählung unterbrochen; die darauf folgende lange Passage schildert nun »die Entstehung der Narbe, einen Jagdunfall aus Odysseus’ Jugendzeit«.4 Erich Auerbachs Mimesis wurde in den 1940er Jahren in Istanbul geschrieben. Es ist ein Werk des Exils und das Dokument einer literarischen Kritik, das seinen Ursprung, seine ›Narbe‹, nicht verleugnet. Im Folgenden soll Auerbachs Werk in seinem historischen Zusammenhang erörtert und mit Bezug auf seinen theologisch-philologischen Prätext diskutiert werden: die biblische Szene von der Akeda (der Opferung oder ›Bindung‹ Isaaks), die bei Auerbach auf die Erzählung von der Narbe des Odysseus folgt. Auerbachs Interpretation der ›stillen‹, undarstellbaren Szene von der Geschichte Abrahams und Isaaks konstruiert in Mimesis die Bedingung der Möglichkeit, die Frage des Realismus bzw. der realistischen Darstellung in der abendländischen Literatur zu diskutieren. 1 Für ihre Bemerkungen bin ich Stefanie Leuenberger dankbar. 2 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946]. Bern 2001. 3 Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 5. 4 Ebd., S. 6. Auerbachs Narben
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Auerbachs Verständnis von Judentum und dessen Bedeutung für sein literaturwissenschaftliches Hauptwerk wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Kontexten diskutiert.5 Ich möchte noch einmal zum Ausgangspunkt dieser Diskussion zurückkehren, nun aber unter einem neuen, dringlicheren Vorzeichen. Erich Auerbachs Mimesis, so meine These, kann erst im Zusammenhang des deutsch-jüdischen Diskurses über Literatur verstanden werden, eines Diskurses, in dem die Dialektik von Moderne und Tradition, Philologie und Theologie, Judentum und Christentum, Ethik und Messianismus radikale Interpretationsansätze erzeugte. Die Erörterung von Mimesis im Kontext des deutsch-jüdischen Modernediskurses dient im Folgenden als Ausgangpunkt, um die theologisch-philologische Dimension des Buches aufzuzeigen. Auerbachs Interpretation der Akeda wird dabei im Rahmen eines Dialogs dargestellt – mit und gegen Søren Kierkegaard und zugleich mit und gegen Sigmund Freud. Auf diesem Weg über Korrespondenzen, über Gemeinsamkeiten, die selbst aber auf Differenz und Distanz aufgebaut sind, kann das Potential von Auerbachs Interpretation ausgeleuchtet werden. Die Lesart von Korrespondenzen ist aber die Lesart der Narben: Die Narbe ist die figura, der Ursprung und die Struktur der Darstellung in Auerbachs literarischem Projekt. Sie hat die Struktur von Schnitt und Stich, die Form eines Risses, die zugleich die der Naht ist. Die Narbe in Mimesis ist der Bindestrich zwischen dem Theologischen und dem Historischen, dem Realen und dem Symbolischen, dem Biographischen und dem Literarischen. Die Narbe stellt das Griechische dar und weist auf das Jüdische hin; sie weist auf den monotheistischen Schnitt, auf die Beschneidung hin, und damit markiert sie auch die Kluft und die Zusammengehörigkeit von Christentum und Judentum. Diese Lesarten werden uns dazu führen, die Narbe als eine Signatur von Mimesis zu erkennen, als Signifikanten, der den Anfang, den Ursprung und die Struktur der Darstellung verkörpert, die in Auerbachs Buch mit dem historischen Bewusstsein der Verfolgung und Verbannung aufgeladen war – Europa im Jahr 1942.
5 Vgl. James I. Porter: Erich Auerbach and the Judaizing of Philology. In: Critical Inquiry 35 (2008), S. 115–147; Martin Treml: Auerbachs imaginäre jüdische Orte. In: ders., Karlheinz Barck (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Berlin 2007, S. 230–251; Hans-Ulrich Gumbrecht: Pathos of the Earthly Progress. Erich Auerbach’s Legacy. In: Seth Lerer (Hg.): Literary History and the Challenge of Philology. The Legacy of Erich Auerbach. Stanford, Calif. 1996, S. 13–35.
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II. Philologie, die Narbe Erich Auerbach wurde 1892 in Berlin geboren. Dort besuchte er das Französische Gymnasium (1900–1910) und studierte daraufhin an der Berliner Universität Jura (1910–1913). Seine 1913 abgeschlossene Dissertation verfasste er als Beitrag zu einer Reform des deutschen Strafrechts.6 Schon während seines Jurastudiums, so berichtet Auerbach in seinem Marburger Lebenslauf 7, hat er sich mit Philosophie, Kunstgeschichte und den romanischen Literaturen beschäftigt. Einen Beleg dafür findet man in seiner juristischen Dissertation, in der er in einer Fußnote Don Quijote und Sancho Pansa als literarisches Beispiel für Personen ohne freien Willen nennt.8 Cervantes’ Protagonisten, die Narren, die am Rande von Auerbachs juristischer Arbeit erwähnt werden, sind Präfigurationen seiner literarischen Analyse der Frage des Gesetzes und der Gerechtigkeit.9 Im Ersten Weltkrieg diente Auerbach im deutschen Heer und nahm an den Gefechten in Nordfrankreich teil. Im April 1918 wurde er schwer verwundet und lag bis Dezember 1918 in einem Lazarett.10 Als er wieder genesen war, setzte er sein Studium fort und schloss seine Promotion in Romanistik mit der Dissertation Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich ab. Eine seiner ersten Publikationen war die Übersetzung der Scienza Nuova von Giambattista Vico. Die Beschäftigung mit Vicos Werk führte Auerbach zur Entwicklung seines Konzepts vom ›ästhetischen Historismus‹, das sein Interesse an einer kulturhistorischen Perspektive auf Literatur und Philologie entfaltete.11 Diese Prägung ist beim Lesen von Mimesis bis heute unmittelbar zu bemerken. Zwischen 1923 und 1929 war Erich Auerbach als Bibliothekar an der Staatsbibliothek Berlin tätig. Dort traf er auch mit Walter Benjamin zusammen.12 Im Jahr 1929, nach der Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift Dante als 6 Karlheinz Barck: Erich Auerbach in Berlin. Spurensicherung und ein Porträt. In: Treml/ Barck 2007 (wie Anm. 5), S. 195–214, hier S. 204 f. 7 Auerbach berichtet über seine akademische Laufbahn in einer biographischen Notiz, seinem Marburger CV. Zitiert nach ebd., S. 199. 8 Zitiert nach Gumbrecht 1996 (wie Anm. 5), S. 28. 9 Der doppelte Hintergrund des Juristen und Philologen oder Dichters, die Dialektik von Gesetz und Literatur, ist in einigen deutschen Biographien – man denke an Goethe, die Brüder Grimm, E. T. A. Hoffmann oder Kafka – spürbar. 10 Marburger CV, zitiert nach Barck 2007 (wie Anm. 6), S. 199. 11 Vgl. Erich Auerbach: Vico and Aesthetic Historism. In: ders.: Scenes from the Drama of European Literature. New York 1959, S. 183–198. 12 Karlheinz Barck: Walter Benjamin and Erich Auerbach: Fragments of a Correspondence, in: Diacritics 22 (1992), H. 3/4, S. 81–83. Auerbachs Narben
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Dichter der irdischen Welt, wurde er an die Marburger Universität berufen. Nach der Machtübernahme der Nazis und den umgehend erlassenen judenfeindlichen Gesetzen im April 1933 verlor Auerbach seine Professur in Marburg und verließ Deutschland. Zuflucht fand er an der Staatsuniversität Istanbul; dort war er für akademische Reformen im Bereich Fremdsprachen und Literaturen zuständig. Während seines Aufenthalts in Istanbul schrieb er an seiner großen Studie Mimesis, die schließlich 1946 publiziert wurde. Kurz nach dem Krieg emigrierte Auerbach in die Vereinigten Staaten, wo er zuerst an der Pennsylvania State University tätig war und später in Yale lehrte. Dort blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1957. Alle Studien zur romanischen Philologie und europäischen Literatur von Auerbach und sein Verständnis von Wissenschaft insgesamt waren mit der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und mit dem Bewusstsein der Krise, des Verlusts und des Exils verbunden. Auerbach betrat das Feld der Philologie als ein ›verwundeter Körper‹ und sein Hauptwerk Mimesis hält die Erinnerung an diese Verwundungen und die an sie gemahnende Narbe fest.13 Durch diese Erfahrungen ist Auerbach mit zahlreichen Vertretern der Kritischen Theorie verbunden, auch wenn seine Verbindungen mit diesen nur locker waren.
III. Fragmente, figura, Stilmischung Mimesis umfasst zwanzig Kapitel über verschiedene Themen der westlichen Literaturen. Das Buch beginnt mit einer Erörterung des Homerischen Epos und der biblischen Geschichte, an die sich Studien zur romanischen Literatur, zum Rolandslied und zum christlichen Theater, Deutungen der Göttlichen Komödie Dantes, des Decamerone Boccaccios sowie der Werke von Rabelais, Montaigne, Shakespeare, Racine und Cervantes anschließen. Es enthält ferner Studien zu Schiller und Goethe, Voltaire, Stendhal, Balzac und Flaubert. Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel über Texte der literarischen Moderne, das sich vor allem mit Virginia Woolf, Marcel Proust und James Joyce auseinandersetzt. Auerbach entfaltet seinen Kanon also als eine Galerie von Werken und Interpretationen, an denen er die Geschichte des Darstellungsproblems in der europäischen Literatur demonstriert. Indem er diese Bei13 In einem Brief an Werner Krauss vom Dezember 1946 erinnert sich Auerbach an die traumatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs und betrauert seine Freunde und Kollegen, die im Krieg gefallen sind. »Mir ist es«, schreibt Auerbach an Krauss, »in der ersten Weltkriegsepoche, obgleich diese sich mit der zweiten an Schrecklichkeit nicht vergleichen läßt, ebenso ergangen.« Zitiert nach Barck 2007 (wie Anm. 6), S. 204 f.
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spiele erörtert, zeigt Auerbach, wie jede Epoche das realistische Erzählen und dramatische Präsentieren in einen neuen, ihren gesellschaft lichen und kulturellen Bedingungen gemäßen Rahmen stellt. Darüber hinaus erforscht er die historische Entwicklung des Begriffs ›Darstellung‹ und dessen Affinität zum Prozess der Säkularisierung in der westlichen Zivilisation. Jedes Kapitel enthält eine eng am Text durchgeführte Interpretation mehrerer Szenen, Fragmente und Zitate, anhand deren Auerbach dem Leser unterschiedliche Erzählstrategien, poetische Strukturen und Stilmischungen verdeutlicht. Denn für Auerbach ist der Realismus nicht einfach ein Spiegel der Realität, sondern vielmehr ein komplexes Modell der Poetik, in dem sich das Erhabene im Gewöhnlichen offenbart und das Heilige im Irdischen; im Realismus verbindet sich das Tragische mit dem Komischen, das Großartige mit dem Grotesken und das Metaphysische mit dem Sinnlichen. Das Modell, mit dem sich Mimesis deswegen vornehmlich befasst, ist die Stilmischung. So entfaltet das Buch eine These über Poetik, die verschiedene Sprachregister und Stimmen zusammenführt, Sprachfiguren der höheren und der niedrigeren Stilebene anwendet, um die Vielfältigkeit und Offenheit der Realität darzustellen. Auerbachs Modell der realistischen Darstellung hängt eng mit seiner Interpretation des Begriffs figura zusammen. In seinem gleichnamigen Essay von 1938 unterzieht er diesen Begriff einer Analyse, indem er dessen griechische und christliche Genealogie sowie dessen philologische und theologische Implikationen erörtert.14 In der figuralen Interpretation verkörpert die Figur nicht allein sich selbst und ihre eigene gegenwärtige Realität, sondern zugleich eine Person, eine Auffassung oder ein Ereignis, das erst in der Zukunft eintritt. Die figura ist ›hier und jetzt‹, aber zugleich ›noch nicht‹. Sie zeigt deshalb eine Offenheit – die Möglichkeit einer Veränderung in der Zeit, die Möglichkeit des Werdens, in dem das Selbst zum Anderen wird. Die Gegenwart bleibt hier »offen und fraglich« und »weist auf etwas noch Verhülltes«.15 In der christlichen Interpretation wurde das Zukünftige als heilig aufgefasst: Das Kommende ist das Erlösende. In dem mit Paulus beginnenden christlichen Rahmen stand der Begriff figura wesentlich für die Möglichkeit einer theologischen Interpretation: die Verkörperung und Antizipation einer zukünftigen himmlischen Ordnung, die mit dem Erscheinen Christi verbunden ist.16 Nach Paulus’ Lehre wurde das Alte Testament als Verheißung und Vorgeschichte Christi gelesen. Erst mit dem Erscheinen Christi 14 Auerbach: Figura. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern; München 1967, S. 55–92. 15 Ebd., S. 81. 16 Ebd., S. 74–82. Auerbachs Narben
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und des Evangeliums erfüllt sich die jüdische Bibel und erreicht ihre vollkommene heilige Bedeutung.17 Der Diskurs der figura ist deshalb ein Diskurs des offenen Textes, in dem sich ein messianisches Element verbirgt. Die figura ist zugleich historisch und theologisch, gegenwärtig und zukünftig, irdisch und heilig, zeitlich und ewig. Dieses Konzept der Offenheit des Textes, das mit der Dialektik der monotheistischen Tradition, mit der Spannung zwischen Judentum und Christentum und mit dem Werk des Paulus verbunden ist, steht im Mittelpunkt des literaturwissenschaftlichen Werks von Erich Auerbach. In Mimesis macht Auerbach den Höhepunkt des figuralen Diskurses in Dantes Göttlicher Komödie aus. Dante lade die Poetik mit grotesken Figuren, profanen Themen, historischen Anspielungen, volkstümlichen Redewendungen und kurzen natürlichen Strukturen des Ausdrucks auf, die aber den theologischen Horizont des Christentums noch bewahrten. In seinem Werk schaffe Dante ein dynamisches, spontanes, irdisches Medium der Darstellung, das dabei dem christlichen Glauben an den »göttlichen Heilsplan« treu bleibe.18 In der Göttlichen Komödie findet Auerbach »mehrere irdische Erscheinungen«, die die »Vorankündigung des Gottesreiches« sind. Die Protagonisten sind deshalb figural: »[…] ihre Erscheinung im Jenseits [ist] eine Erfüllung ihrer irdischen Erscheinung«.19 Die im Jenseits wohnende Figur stellt die »Summe und Resultante« ihrer Handlungen dar und offenbart »das Entscheidende« in ihrem Leben.20 Es sind die Helden der ›Jenseitsrealistik‹, die Toten, die Einwohner der Hölle, deren Poesie die höchste Form des irdischen Lebens verkörpert.21 Hier zeigt sich nach Auerbach das ›Paradox‹ des Dante’schen Realismus: Die realistische Darstellung der irdischen Welt, die sinnliche, offene, wechselhafte Darstellung der Wirklichkeit ist das Werk von Figuren, die an einem wechsellosen, ewigen, zeitlosen Ort wohnen.22 In diesem Paradox verbirgt sich das Geheimnis der figura. Das Kapitel über Dante enthält eine der zentralen Argumentationen von Mimesis, da hier die figurale These Auerbachs und sein Modell der Stilmischung zusammengeführt werden. Auerbach entdeckt Dantes Vermächtnis, den reichen, farbenfrohen Stil, den Dialog zwischen Tragik und Komik, den Wechsel der Perspektiven und die Bandbreite an Stimmen und Akzen-
17 18 19 20 21 22
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Ebd., S. 75–77. Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 186. Ebd., S. 186 f. Ebd., S. 189. Ebd., S. 190–194. Ebd., S. 182 f.
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ten, auch im »geistigen Wirbel« von Rabelais.23 Rabelais’ Welt, so Auerbach, ist ein realistisches Universum, eine reale Gegenwart, die Welt des Hier und Jetzt, die sich mit einem ›Feuerwerk von Witz‹ verbindet, mit erotischem Gelächter und Humor, mit ironischen Betrachtungen der Utopie und mit Parodien auf Wissenschaft, Medizin, Recht und Religion. Rabelais’ Werk ist nicht mehr christlich und trägt keine weltgeschichtliche Moral. Eine ähnliche Tendenz sieht Auerbach schon in Boccaccios Decamerone. Dessen Geschichten sind wie Szenen des Alltagslebens geschrieben, sie schildern die Möglichkeit erotischer Erfahrungen in einer exemplarischen Situation, in der von den Figuren die Last des Glaubens genommen ist. Boccaccio ist der Vorbote der profanen Literatur, sein Werk ist ein Unternehmen des Begehrens und der Sinne. Seine Botschaft ist die Ethik der Liebe. Aus dieser Welt ist die figura verschwunden: Die Gestalten Boccaccios leben »nur auf der Erde«, sie kennen nicht mehr die Perspektive des Jenseits.24 Der ›realistische Stil‹ der europäischen Literatur ist nach Auerbach mit der Darstellung der Welt in Bewegung, Veränderung und raschem Wechsel der Standpunkte und Perspektiven verbunden. ›Realismus‹ ist auf sinnliche Wahrnehmungen, auf Diskurse des Begehrens und Dialoge des Alltagslebens ausgerichtet. Der Gegenstand des Realismus ist das Werden; seine Perspektive ist die Ironie, seine Helden sind deshalb mehr Narren als Helden. ›Realismus‹ ist für Auerbach keine Epochenbezeichnung, sondern eine Schreibhaltung. Das Vermächtnis der Narren und die realistische Schreibhaltung sind deswegen auch im Theater Shakespeares spürbar. Shakespeare ist für Auerbach ein Meister des Konzepts der ›Stilmischung‹; er integriert komische Elemente in seine Tragödien und führt den hohen und niedrigen Stil, Erhabenes und Alltägliches zusammen.25 Der tragische Held ist zwar auch bei ihm immer noch aristokratisch, doch in jedem seiner Helden verbirgt sich immer auch ein Narr:26 In Shakespeares Werken finden sich groteske Figuren, ironische Reden sowie Diskurse von zynischer Vernunft, Selbst-Zweifeln und Müdigkeit. Schon in dieser Welt herrscht nicht mehr die Einheit der christlichen Ordnung, sondern es dominieren bereits die Bewegungen, die Perspektiven und die Dynamik der Säkularisierung, die bei Shakespeare jedoch noch frei vom Joch moderner Wissenschaft und den Zwängen des Rationalismus sind. Ein anderes Narren-Porträt entdeckt Auerbach in Cervantes’ Don Quijote. In diesem Kapitel, das 1949 nachträglich in Mimesis eingefügt wurde, disku23 24 25 26
Ebd., S. 259. Ebd., S. 214. Ebd., S. 308–312. Ebd., S. 300. Auerbachs Narben
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tiert Auerbach nur eine einzige Szene aus dem Roman, die berühmte imaginäre Begegnung zwischen Don Quijote und seiner Geliebten Dulcinea. Die Dialoge in Cervantes’ Roman zeigen in Auerbachs Lektüre die schwindende Macht eines Helden, eines Ritters, der in poetischen Illusionen, ziellosen Reisen und in bedeutungslosen Abenteuern gefangen ist. Anders als Shakespeares Protagonisten vermeidet Don Quijote jeden realen Konflikt; deswegen ist sein Nachdenken auch nicht philosophisch, seine Taten bleiben untragisch. Die natürliche Heimat des modernen Realismus ist indes weder England noch Spanien, sondern der französische Roman des 19. Jahrhunderts. Den Werken Stendhals, Balzacs und Flauberts eignet ein historisches und politisches Bewusstsein, ihr Blick auf die Welt und die soziale Frage ist dabei von Tragik bestimmt. Der Realismus Stendhals, schreibt Auerbach, sei ›revolutionär‹, der Balzacs ›dämonisch‹ und der Flauberts ›objektiv‹. Dennoch sind ihm zufolge alle drei Autoren einer gemeinsamen Richtung verpflichtet, die von der Romantik wegführt und sich der Frage der Realität stellt. Dergestalt entgehe der französische Roman dem Idealismus, der ›Spekulation‹ und der ›Verinnerlichung‹, die nach Auerbach so charakteristisch für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts sind. Was dort nicht gelinge, sei in Frankreich die Regel, nämlich ›reale‹, also ernsthaft und kritisch gezeichnete Bilder psychologischer, sozialer und politischer Konstellationen. Das letzte Kapitel in Mimesis befasst sich mit den modernen Versionen des Realismus. Auerbach setzt sich hier mit den Romanen von Virginia Woolf, Marcel Proust und James Joyce auseinander und bestimmt anhand dieses Kanons wichtige Tendenzen der Literatur des 20. Jahrhunderts: die Ablehnung von Meta-Narrativen und von allen ideologischen Rahmungen der Darstellung und umgekehrt die Anerkennung der Fragmentierung des modernen Seins. Der moderne Roman ist nach Auerbach eine Prosa kleiner Universen, ein Feld von Fragmenten und pessimistischen Anekdoten.27 Diese Literatur dokumentiere den Prozess der Entfremdung und den Niedergang des einheitlichen kollektiven Bewusstseins. Der neue Roman skizziere ein Geflecht subjektiver, privater Erinnerungen. Nicht Weisheit, sondern Zweifel; nicht Wissen, sondern Rätsel; nicht Ordnung, sondern Krise – dies sind die Formen und die Werte der literarischen Moderne. Die moderne Literatur lasse sich zwar als »ein Symptom der Verworrenheit und Ratlosigkeit«, als »ein Spiegel des Untergangs unserer Welt« lesen.28 Doch selbst in dieser Ruinenlandschaft der europäischen Literatur, die bereits die Narben des 27 Ebd., S. 511–514. 28 Ebd., S. 512.
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Ersten Weltkriegs trägt, entdeckt Auerbach Betrachtungsweisen des Schönen, Gesten der Liebe und einen neuen Blick auf die »Wirklichkeitsfülle und Lebenstiefe eines jeden Augenblicks, dem man sich absichtslos hingibt«.29 Es ist die conditio humana, so Auerbach, »das Elementare und Gemeinsame der Menschen überhaupt«, das nun in diesem Feld der Fragmente und narratologischen Brüche ans Licht komme. ›Moderne‹ verkörpere somit die umgekehrte Seite von figura – eine ›Erfüllung‹, die nicht in einer heiligen Ordnung liege, sondern in den zerbrochenen Formen des irdischen Lebens.
IV. Die Moderne und der deutsch-jüdische Literaturdiskurs Auerbachs Mimesis enthält eine ›karnevalistische‹ Sicht der Frage der Literatur und zeigt die grotesken Aspekte des Realismus.30 Die Stilmischung, die Vielfalt der Stimmen und Töne in der europäischen Literatur waren aber ursprünglich mit der figura verbunden. Auerbach entwirft das Modell eines offenen Texts, der auf theologischen Elementen aufgebaut ist. Dieses theologisch-philologische Modell trägt auch politische Implikationen. Der Leser in Auerbachs Welt ist kein passives Subjekt des Textes, sondern ein freier Bürger der res publica literaria. Obwohl noch immer gebunden an eurozentrische Traditionen, ist Mimesis dennoch einer Bewegung verpflichtet, die nationale Grenzen überschreitet. Die literarische Reise Auerbachs gehorcht nicht territorialen Definitionen: In seinem Buch reist er durch Frankreich, Italien und Spanien nach Deutschland und England. Die kosmopolitische Bewegung von Mimesis ist auch in einer Poetik der Fremdsprachen zu erkennen: Auerbach bringt in seinen Kapiteln lange, unübersetzte Zitate aus dem Französischen und Spanischen, Italienischen und Englischen, die mit dem Deutschen, der originalen Sprache des Werks, verflochten sind. Die Erscheinung der Fremdsprachen in Mimesis fordert die Hegemonie und Einheit der Muttersprache heraus und verursacht regelrechte philologische Wirbel im Text.31 Das fremde Wort soll in diesem Zusammenhang auch als Fragment einer verlorenen humanistischen Kultur 29 Ebd., S. 513. Dort auch das folgende Zitat. 30 Der Vergleich von Auerbachs Mimesis mit Bakhtins Werk drängt sich daher auf. Vgl. Mikhail Bakhtin: Problems of Dostoevsky’s Poetics [russ. 1929]. Minneapolis, Minn. 1993. 31 Über das Fremdwort schreibt Deleuze, es sei das Wesen der Literatur. Das Fremdwort unterbricht und dekonstruiert die homogene Struktur der nationalen Sprache und bedingt einen Diskurs des Widerstands im sprachlichen Rahmen. Hier beginnt eine Poetik, die jede affirmative, funktionale, repressive Tendenz vermeidet. Vgl. Gilles Deleuze: Kritik und Klinik [frz. 1993]. Frankfurt/M. 2000, S. 11–17. Auerbachs Narben
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verstanden werden.32 Das Fremdwort ist ein Fragment – ein Signifikant, der seinem originalen Zusammenhang, seiner Sprache, seinem Raum und seiner Zeit entrissen ist. Es steht nun als Signatur der Verfremdung und der Verlorenheit. Das Fragment spricht deshalb wahr: Das Fragment ist real. Auerbachs Technik der Repräsentation, seine Philologie der Fragmente, die Art und Weise, in der er kurze Texte und kleine Stücke, literarische Anekdoten und Fremdwörter aus der Geschichte des Romans liest, zeigen seine Versuche, ›das Reale zu berühren‹.33 Über das Fragment und die zerbrochene Form, über das Fremdwort, das Empirische und das Groteske im Feld der Literatur kommt Auerbach nah ans Herz der eigenen historischen Erfahrung. Mimesis vergisst nicht die Vielfältigkeit und den Pluralismus, die Willkürlichkeit und Unvollkommenheit des Realen. Das Buch sieht die Schwäche, die Fehler und ganz allgemein den Verfall aller menschlichen Unternehmungen. Zugleich bleibt es der »Wirklichkeitsfülle und Lebenstiefe« treu. Die poetischen, theologischen und politischen Aspekte des Buches Mimesis, seine Philologie des Fragments und die Poetik der Fremdwörter, seine Stilmischung und die Perspektiven der Krise, sein Konzept des Verfalls und die These über figura, seine Grotesken und Diskurse der Ironie – all dies sollte nicht von den Kontexten der deutsch-jüdischen Literaturkritik getrennt betrachtet werden. Sprach- und Literaturkritik diente bei zahlreichen deutsch-jüdischen Autoren, von Moses Mendelsohn und Heinrich Heine bis zu Karl Kraus und Walter Benjamin, als Ursprung der Selbstreflexion. Debatten über Sprache und Literatur sowie über Bildung waren die Orte der jüdischen Emanzipation und Selbstkritik.34 Für die Juden war Bildung ein offenes Feld, in dem sie ihre Begehren, ihre politische Libido und ihre Sehnsüchte nach Assimilation und Öffentlichkeit investieren konnten. Die Literatur, ein Feld von offenen, abstrakten, konvertierbaren Signifikanten, stellte dabei die Möglichkeit der Erprobung von Veränderungen dar. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reflektierte dieses Feld literarischer Möglichkeiten auch die offensichtlich gewordenen Unmöglichkeiten: die Schwierigkeiten der Assimilation, die antisemitischen Reaktionen, die Krise der Bildung, die neue Entfremdung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Juden, 32 Zum Wesen des Fremdworts als Fragment einer humanistischen Kultur vgl. Theodor W. Adorno: Wörter aus der Fremde. In: ders.: Noten zur Literatur. Bd. 2. Frankfurt/M. 1998, S. 216–232. 33 Zu Mimesis und die historische Erkenntnis des Realen, das sich in Anekdoten und Fragmenten aus dem Alltag zeigt, vgl. Catherine Gallagher; Stephen Greenblatt: Practicing New Historicism. Chicago, Ill. 2000, S. 31–48. 34 Shulamit Volkov: Die Ambivalenz der Bildung: Juden im deutschen Kulturbereich. In: dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. München 2001, S. 165–183.
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nachdem diese die Emanzipationsforderungen, die an sie gerichtet wurden, erfüllt hatten. In diesem Kontext sei nur an Heinrich Heines Werk, an seine Reiseberichte, Gedichte, politischen und poetischen Stücke und an seine literarische Kritik erinnert. In seinen Schriften verflicht Heine intellektuelle Porträts von Zeitgenossen mit philosophischen Parodien und führt historische Ereignisse mit literarischen Grotesken und satirischen Einsichten über das Exil zusammen. Das Werk Heines enthält bereits die figura der Spannung, die später in den Werken der modernen deutsch-jüdischen Schriftsteller und Kritiker, wie etwa Karl Kraus, Alfred Kerr, Ernst Toller, Else Lasker-Schüler und Walter Benjamin, radikalisiert Ausprägung finden. Ihre Werke enthalten die Poetik des Fragments, den Schock, das Prinzip der Montage, die Perspektiven des Verfalls und der Dekadenz und die Thematik des Exils. Der moderne Diskurs der Literatur, vom Expressionismus über den Dadaismus bis zu Bertolt Brechts epischen Theater, dient auch als Medium einer dekonstruktiven Interpretation der jüdischen Tradition. Die Literatur der Moderne, besonders die deutsch-jüdische Literatur, entwirft eine kritische Perspektive, über die die Frage des Monotheismus, seine Dialektik der Darstellung und die Implikationen von Gesetz und Gerechtigkeit neu eröffnet werden. Auerbachs Buch ist Ausdruck des deutsch-jüdischen Diskurses, der in Form und Inhalt ein modernes Bewusstsein verkörpert, über das die Frage des Monotheismus kritisch behandelt wird. Zwar ist das Gewicht der romanistischen Aspekte, durch die Auerbachs Buch neben die Werke von Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer und Karl Vossler tritt, nicht gering.35 Aber der Versuch, Auerbach zurück in den Kontext eines deutsch-jüdischen Diskurses zu bringen, in dem die Moderne zur Bedingung einer neuen poetischen und politischen Interpretation der Tradition wurde, trägt ebenso zum Verständnis seines Projekts und von dessen historischer Dringlichkeit bei. Aufschlussreicher Weise vermeidet Auerbach – abgesehen vom letzten Kapitel in Mimesis – jede direkte Auseinandersetzung mit den Avantgardebewegungen seiner Zeit. Autoren wie Franz Kafka werden nur kurz erwähnt. Doch Auerbachs Lesart der Geschichte des Realismus verweist auf sein modernes Bewusstsein.36 Es sind die Techniken des Fragments, des Zitats und der Montage, die sein philologisches Projekt prägen. 35 Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss. München 2002; William Calin: The Twentieth-Century Humanist Critics: From Spitzer to Frye. Toronto 2007. 36 Über Auerbach als Modernisten vgl. Hayden White: Auerbach’s Literary History: The Figural Causation and Modernist Historicism. In: Lerer 1996 (wie Anm. 5), S. 212–214. Auerbachs Narben
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Im letzten Kapitel von Mimesis bekennt sich Auerbach in einer kurzen Bemerkung auch direkt zur modernen Technik. An dieser Stelle wird sein Buch zu einer unmittelbaren Illustration für den modernen Ansatz, den die Literaturwissenschaft der Literatur, die sie kommentiert, entnimmt, ein Ansatz, der von großen Synthesen und Narrativen Abstand nimmt, die klassische chronologische Darstellung von Leben und Werk eines Autors zurücknimmt und sich stattdessen kurzen Szenen oder einigen ›absichtslos erarbeiteten Motiven‹ zuwendet: Man kann dies Vorgehen moderner Schriftsteller mit dem einiger moderner Philologen vergleichen, welche meinen, es lasse sich aus einer Interpretation weniger Stellen aus Hamlet, Phèdre oder Faust mehr und Entscheidenderes über Shakespeare, Racine oder Goethe und über die Epochen gewinnen als aus Vorlesungen, die systematisch und chronologisch ihr Leben und ihre Werke behandeln; ja man kann die vorliegende Untersuchung selbst als Beispiel anführen.37
Mimesis kann somit als ein Beispiel eines modernen Literaturprojekts verstanden werden, dem eben jene Einsichten in die Fragmentierung und Kontingenz von Leben und Text zugrunde liegen, die auch die Werke von Proust, Joyce und Woolf auszeichnen: […] so werden auch sie [die modernen Schriftsteller; G. S.] (mehr oder weniger bewußt) von der Erwägung geleitet, daß es hoffnungslos ist, innerhalb des äußeren Gesamtverlaufs wirklich vollständig zu sein und dabei das Wesentliche hervorleuchten zu lassen; auch scheuen sie sich dem Leben, ihrem Gegenstand, eine Ordnung aufzuerlegen, die es selbst nicht bietet.38
Auerbachs Buch rückt vor diesem Hintergrund als Teil des modernen Literaturprojekts nicht nur in die Nähe der modernen Literatur, sondern kann selbst als literarisches Werk gelesen werden. Das moderne Bewusstsein, das von ›Miniaturen‹, von kurzen, wechselnden Szenen und Fragmenten des Alltagslebens bestimmt ist, ist in die Struktur und die philologische Methode von Mimesis eingegangen. Auerbachs Buch enthält Zitate, Szenen, Stimmen und Fragmente aus der Vergangenheit der europäischen Literatur, es sammelt Bruchstücke aus der Geschichte des Romans. Ähnlich wie Walter Benjamins allegorisches Verständnis der Literatur ist Auerbachs Modernekonzeption auf Zitaten, Exkursen, Gesten der Unterbrechung und zerbrochenen Formen, auf der ›Ruine‹ einer historischen Erkenntnis auf-
37 Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 509. 38 Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 510.
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gebaut, einer Erkenntnis, die philologisch und zugleich mit Ironie verbunden ist.39 Es war Walter Benjamin, der auf Auerbachs durch die moderne Literatur geprägte Lektüren hinwies, als er in seinem Essay zum Surrealismus Auerbachs Dantebuch und dessen Interpretation der mittelalterlichen Dichtung erwähnte. Laut Benjamin zeigt diese Interpretation, wie »überraschend nah« die mittelalterliche Poetik der Liebe »an die surrealistische Konzeption der Liebe heranführt«.40 Benjamin zufolge betrachtet Auerbach also das Archiv der mittelalterlichen Literatur mit einem an der Moderne geschulten Blick. In seinem Buch über Dante bestätigt Auerbach seine Methode, die Dichtung des Mittelalters analog zu den zeitgenössischen Sprachdiskursen zu lesen, um das Verständnis der Kunstdichtung der Vergangenheit zu erleichtern. Auerbachs moderne Philologie, seine Poetik der zerbrochenen Form ist dabei, ähnlich wie diejenige Benjamins, auch als eine Reflexion über die jüdische Tradition und ihre Dialektik der Darstellung zu verstehen. Das historische Bewusstsein Auerbachs zeigt sich auch in dem kritischen Dialog, den er mit den Konzepten und Vermächtnissen der deutschen Bildung führt. Seine Kritik wird besonders deutlich im Kapitel über den Musikus Miller, in dem er das Werk Schillers und Goethes sowie Probleme des deutschen Dramas und der Goethe-Rezeption diskutiert. Goethes »konservative, aristokratische und revolutionsfeindliche Gesinnung«41, sein abstraktes, allgemeines Bildungsideal, sein Konzept der Entsagung, der Verzicht auf das reale und konkrete Leben haben Auerbach zufolge die Entwicklung eines progressiven realistischen Paradigmas in Deutschland verhindert. Stattdessen habe Goethe durch seine Ablehnung des Realismus die Entwicklung einer Kultur des »Phantastischen oder Idyllischen« befördert. Die Bildungstradition in Deutschland seit Goethe habe es aufgrund ihrer unpragmatischen Konzepte von Geschichte und Politik versäumt, vorbildlich auf die deutsche Gesellschaft und Literatur zu wirken.42 Die Konsequenzen von Goethes Idealismus sieht Auerbach auch in seiner Gegenwart, in der das öffentliche Leben in Deutschland radikalen Kräften preisgegeben wird. 39 In diesem Zusammenhang kann vielleicht Mimesis parallel zu Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels gelesen werden, wo figura analog zu Benjamins Konzept der Allegorie zu verstehen ist. Vgl. Jesse M. Gellrich: Figura, Allegory, and the Question of History. In: Lerer 1996 (wie Anm. 5), S. 107–123. Vgl. auch: Robert Kahn: Eine ›List der Vorsehung‹: Erich Auerbach und Walter Benjamin. In: Treml/Barck 2007 (wie Anm. 5), S. 208–212. 40 Walter Benjamin: Der Sürrealismus. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2.1. Frankfurt/M. 1980, S. 295–310, hier S. 299. 41 Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 416. 42 Ebd., S. 420. Auerbachs Narben
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Auerbachs Kritik an Goethe ist nicht ohne Einseitigkeit: Sie vernachlässigt die empirischen, dialogischen, karnevalistischen Momente in Goethes Werk und übersieht auch die Komplexität seiner Romane. Mit dieser Kritik aber verdeutlicht Mimesis die Ausrichtung auf eine engagierte, realistische Poetik. Auerbach lehnt das nationale Projekt der Literatur und damit auch die germanistische Tradition des 19. Jahrhunderts ab. Seine Kritik an der deutschen Literatur führt Auerbach auch in dem Kapitel Germinie Lacerteux, aus, in dem er die These vom Scheitern des realistischen deutschen Romans plausibel zu machen versucht. Abgesehen von literarischen Leistungen bei Gottfried Keller, Gustav Freytag und Theodor Fontane hätten die deutschen Autoren beim Versuch, eine »echte[] Zeitrealistik« zu schaffen, versagt.43 Mimesis kann mithin als Antwort auf Goethe und seine literarische Wirkungsgeschichte gelesen werden, als eine Antwort auf die Dominanz einer nationalen Auffassung von ›Leben und Werk‹, die Welt der Bildung, die im Verfall war und die in der Zeit, in der das Buch entstand, in Gewalt versank – die Welt also, aus der Auerbach nun verbannt war. Daneben reflektiert Mimesis auch die Frage des ›Parias‹, des Verbannten. In seinen Bemerkungen zu Shakespeare schreibt Auerbach auch über den Kaufmann von Venedig und die Figur des Shylock. Gerade dieser sei eine Ausnahme und ein »Grenzfall«, er stehe an den Grenzen seines literarischen Genres, verkörpere zwar eine tragische Problematik und trage »Kraft der Leidenschaft und Gewalt des Ausdrucks«, erscheine aber als »eine niedere Figur, des Tragischen unwürdig«, deren »lächerlich groteske Züge«, »Geiz« und »senile Ängstlichkeit« betont werden.44 Vor dem Ende des Dramas sei er zudem verschwunden und werde wohl ebenso rasch vergessen. Shylock, so Auerbach, sei die Figur einer Stilmischung, ein Hybrid des Tragischen und des Komischen, der eine Fremdheit verkörpere und doch ein Echo »große[r] humanitäre[r] Gedanken« darstelle, und zwar derjenigen, »die die späteren Jahrhunderte aufs tiefste bewegt haben«.45 Shylock ist in dieser Darstellung des ins Exil vertriebenen jüdischen Literaturwissenschaftlers das andere, fremde Porträt des europäischen Humanismus: »Der Paria Shylock beruft sich nicht auf das natürliche Recht, sondern auf das bestehende Unrecht; welch dynamische Aktualität liegt in so bitterer tragischer Ironie!«46 Dieser Hinweis auf die Aktualität Shylocks kann auf zweifache Weise gelesen werden, als ein Hinweis auf seinen Widerspruch gegen das faktische Unrecht, 43 44 45 46
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Ebd., S. 482. Ebd., S. 299 f. Ebd., S. 299. Ebd., S. 310.
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unter dem er leidet; aber auch als Übertragung dieser Gerechtigkeitsforderung auf die Parias im Jahr 1942 – die Aktualität Shylocks als einer Figuration der Verbannung der Juden. Mit seinen aktualisierenden Bemerkungen über Shylock schließt Auerbach an eine Diskussion an, die bereits Autoren wie Heinrich Heine und Gustav Landauer über die Figur Shylock und die ambivalente Stellung der Juden in Europa führten. Die Darstellung eines Parias, eines Fremden, der die Stimme des Humanismus verteidigt, ist eine Allegorie auf Auerbachs eigenen Text. Mimesis, ähnlich wie Shylock, ist das Werk eines »Parias«47 – ein Projekt des Außenseiters, dem die ›Stilmischung‹ zur Erfahrung wurde, die das Tragische und das Groteske zusammenführt und damit ein anderes Porträt des Humanismus zeigt. Die Diskussion über Mimesis und die Affinität Auerbachs zur Dialektik des deutsch-jüdischen literarischen Diskurses soll die Komplexität seines Projekts nicht auf eine ›jüdische Philologie‹ reduzieren. Doch kann man den deutsch-jüdischen Literaturdiskurs als ein Drama, als einen ›dämonischen‹ Dialog verstehen, der auf die Paradoxien des Jüdisch/Deutsch-Seins gegründet ist. So gesehen wäre von einem Diskurs der Dualität zu sprechen, der durch eine Narbe markiert ist – die Differenz und der Strich, der Bindestrich, der zwischen den Identitäten (der jüdischen, der deutschen, der christlichen, der griechischen) steht und der eine Signatur ausgebildet hat, von der auch Mimesis geprägt ist.
V. Mimesis und die Narbe: Monotheismus und die Dialektik der Darstellung Die Auseinandersetzung mit Mimesis als Teil des deutsch-jüdischen Kanons bringt uns zurück zum Anfang des Buches, dem Kapitel Die Narbe des Odysseus. In dieser Szene, schreibt Auerbach, wird alles »genau ausgeformt und mit Muße erzählt«. Menschen und Dinge, Gefühle und Gedanken werden »[k]lar umschrieben, hell und gleichmäßig belichtet«.48 Die Szene, in der Odysseus an seiner Narbe erkannt wird, führt, wie Auerbach herausarbeitet, zu einer langen Passage über die Entstehung der Narbe, in dem neue Charaktere und Einzelheiten der Erzählung eingeführt werden. Die Unterbrechung lässt nichts im Dunkeln, alles wird erzählt, alle Dinge und Figu47 Zum Paria und seiner Bedeutung im jüdischen Diskurs vgl. Hannah Arendt: The Jew as Pariah: Jewish Identity and Politics in the Modern Age. New York 1978, S. 67–90. 48 Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 5 Auerbachs Narben
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ren, die mit der Geschichte der Narbe verbunden sind, werden ans Licht gebracht. Die Beschreibungen sind »klar« und »fein«, »tastbar und sichtbar«.49 Die Abschweifung über die Narbe bewahrt also die Technik der Darstellung, die auch in der Haupthandlung herrscht – eine sinnliche Ausformung der Erscheinungen: »Hier ist es die Narbe, welche im Zuge der Handlung hervortritt«.50 Der Exkurs, schreibt Auerbach, unterscheide sich nicht grundsätzlich von vielen anderen Stellen im griechischen Epos.51 Die Einfügung von Episoden und Exkursen begegnet uns nicht selten im homerischen Werk und dient als retardierendes Element, das zur Entspannung und Lösung dramatischer Konflikte beiträgt. Und doch ist es eine Erzählung von einem verwundeten Körper, mit der Auerbach sein Buch über die Frage der Darstellung beginnt. Die Narbe ist das erste literarische Zeichen in Mimesis und zudem ist sie die Signatur des griechischen Subjekts. An ihr wird der Grieche zu Hause erkannt. Wie bei Christus, der bei seiner Wiederkehr an den Wunden der Kreuzigung erkannt wird, ist Odysseus’ Identität mit einer Wunde/Narbe verbunden. Darzustellen, dargestellt zu werden, heißt nach Auerbach, die Wunden zu offenbaren. Bedeutsam ist deshalb die Tatsache, dass Auerbachs Essay Figura auch mit dem Hinweis auf eine Wunde des Odysseus beginnt. Zu Beginn dieses Essays zitiert er ein Fragment des römischen Dichters Marcus Pacuvius, in dem er die ursprüngliche Bedeutung von figura als ›plastisches Gebilde‹ findet.52 Das lateinische Fragment erzählt von der barbarica pestis, einer ausländischen Pest, mittels der nova figura, einer neuen, unbekannten Form. Bei der barbarica pestis, schreibt Auerbach in einer Fußnote, handelt es sich »wahrscheinlich um einen Rochenstachel, durch den Odysseus zu Tode verwundet ist«.53 Die Diskussion über die Narbe des Odysseus bildet den ersten Teil in Auerbachs Prolog über die Frage der Darstellung. Der zweite Teil ist der biblischen Erzählung gewidmet, der Szene über die Akeda, die Opferung Isaaks im Alten Testament. Der biblische Stil, so argumentiert Auerbach, sei abstrakt und rätselhaft, er belasse die Welt in einem verhüllten Zustand. Die Reise Abrahams und Isaaks nach Moria sei kein irdischer, sondern ein heiliger Vorgang, bar jeder sinnlichen Bedeutung und in Schweigen gehüllt. Der Ort der Opferung oder Bindung sei dabei ein ›Nicht-Ort‹, ein Ort ohne landschaftliche Umgebung; es handelt sich eher um einen »moralischen Ort«.54 Hier aber 49 50 51 52 53 54
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Ebd., S. 8. Ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Auerbach 1967 (wie Anm. 13), S. 55. Ebd., S. 55, Anm. 1. Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 10.
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erscheine Gott »gestaltlos« (und doch, schreibt Auerbach, »erscheint er«).55 Der jüdische Gott ist durch »Gestalt losigkeit, Ortlosigkeit und »Einsamkeit« charakterisiert.56 Und wie der jüdische Gott sind auch die biblischen Figuren »gestaltlos«. Der Leser erfährt nichts über ihre äußere Erscheinung; sie tauchen als körperlose, abstrakte Geschöpfe auf. So wenig wie sein Gott hat Isaak physische Maße. Seine Geschichte ist die eines körperlosen Opfers. Die biblische Szene zeigt nicht, sondern verbirgt ihre Gestalten und Handlungen. Die biblischen Figuren sind keine Subjekte der Schönheit, sondern sind durch ein moralisches Urteil bestimmt. Das homerische Epos und die biblische Erzählung bilden Auerbachs Lesart zufolge einen Gegensatz: Das griechische Epos ist sinnlich, einfach, klar und wohl formuliert; es zeigt den Körper und seine Narbe, aber es mangelt ihm an psychologischer Tiefe und es vernachlässigt dramatische Konflikte; mit seinem ganzen Stoff bleibt Homer im Sagenhaften, gefangen in der Welt des Mythos. Die biblische Erzählung dagegen ist lautlos, fragmentiert und dunkel – sie verbirgt den Körper und erzeugt Rätsel der Darstellung. Dabei ist sie historisch; ihre Protagonisten erfahren Entwicklungen und Konflikte. Der Stil der Bibel ist erhaben, seine Komplexitäten sind tragisch. Beide Stile hatten einen komplementären Einfluss auf die Geschichte der europäischen Literatur.57 Die ethischen Allegorien des jüdischen Buches, argumentiert Auerbach, sind mit der Gestaltlosigkeit Gottes und der biblischen Figuren verbunden. »Die Gottesvorstellung der Juden«, schreibt er, ist ein »Symptom« der jüdischen »Auffassungs- und Darstellungsweise« der Welt.58 Die Szene der Akeda scheint also schon dem monotheistischen Bilderverbot zu folgen. Die jüdische Tradition schreibt es Abraham zu, die Revolte gegen den Kult der Idole und der Sterne in seiner Heimat zu führen und damit den Monotheismus zu begründen. Shewirat ha-Zurot, die ›Zerbrechung der Formen‹, sagt die Tradition, ist der Ursprung und das Wesen des Unternehmens von Abraham.59 Diese Erfahrung Abrahams, die Revolte gegen das Bild und die Form, ist auch in der Szene der Akeda ausgeprägt. Nach dieser Interpretation liegt das Wesen des jüdischen Monotheismus nicht allein im Konzept eines einzigen Gottes, sondern vor allem auch in dessen Undarstellbarkeit. Ein ähnliches Argument finden wir auch in Sigmund Freuds Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion: 55 56 57 58 59
Ebd., S. 11. Ebd., S. 10. Ebd., S. 26 f. Ebd., S. 10. Vgl. Moshe Ben Maimon: Sefer HaMada. Jerusalem 1992, S. 126–129. Auerbachs Narben
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Unter den Vorschriften der Mosesreligion findet sich eine, die bedeutungsvoller ist, als man zunächst erkennt. Es ist das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, also der Zwang, einen Gott zu verehren, den man nicht sehen kann.60
Der jüdische Monotheismus ist demnach auf die Verehrung eines unsichtbaren Gottes aufgebaut. Das Bilderverbot bedeute einen »Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit«.61 Das Verbot des Sinnlichen sei eine Bedingung für den geistigen Fortschritt, für Studium, Schrifttum und Ethik. Denn, schreibt Freud, »Ethik ist Triebeinschränkung«.62 Freud verbindet aber den Triebverzicht und den ethischen Fortschritt mit dem Sieg des Vaters: Es ist die Wendung von der matriarchalischen zur patriarchalischen Ordnung, die durch den Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit markiert ist. Die Ordnung der Ethik, der Schrift und der Namen ist diejenige des Vaters.63 Und sie ist seit Abraham (oder, nach Freuds Version, seit der Adaptation des ägyptischen Rituals, das von Moses, dem ›Ägypter‹, überliefert war) mit einer ›Narbe‹, mit dem Schnitt und Stich der Beschneidung, gekennzeichnet. Der Körper des Bilderverbots, der monotheistische Korpus, ist mit der Beschneidung, mit »dem symbolischen Ersatz der Kastration« markiert.64 Die biblische Szene der Akeda kann also auch in diesem Zusammenhang als die Erzählung einer verborgenen Narbe gelesen werden. Die Figuren der Akeda korrespondieren mit den Figuren der Beschneidung: die Opferung des Sohnes, das Messer des Vaters, der Vertrag mit dem Heiligen. Die biblische Szene weist einmal mehr auf die patriarchalische Sphäre des Monotheismus hin, die mit der Narbe der Beschneidung gezeichnet ist. Es ist die Sphäre der Namen-des-Vaters65, in der die monotheistische Struktur des Schnittes geprägt wird – das Herausschneiden des Subjekts aus dem Lustprinzip und seine Transformation in den Bereich des Namens, in die Sprache und die Schrift. Die Narbe der Beschneidung ist als der erste Signifikant einer symbolischen Ordnung zu verstehen. Die Beschneidung ist die Geste der Schrift selbst, mit der die Möglichkeiten der Tradition, der Erinnerung und der Darstellung verbunden sind.66
60 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion [1939]. In: ders.: Studienausgabe. Bd. 9. Frankfurt/M. 2000, S. 455–581, hier S. 559. 61 Ebd., S. 559. 62 Ebd., S. 564. 63 Ebd., S. 560 f. 64 Ebd., S. 567. 65 Jacques Lacan: Namen-des-Vaters [frz. 2005]. Wien 2006, S. 75–100. 66 Jacques Derrida: The Archive Fever [frz. 1995]. Chicago, Ill. 1998, S. 20–31.
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Freuds theologisch-psychologische These über das Judentum, seine kritische Perspektive in Bezug auf den Monotheismus enthält Widersprüche und zweifelhafte Interpretationen. Als solche aber weist sie auf die Komplexitäten und Ambivalenzen des deutsch-jüdischen Diskurses hin und zeigt seine Dialektik der Tradition und seine ›pathologische‹ Sicht des Körpers.67 Freuds Buch wurde in den 1930er Jahren geschrieben. Seine letzte Version ist im Londoner Exil entstanden. Beide Bücher, Freuds Moses, wie Auerbachs Mimesis, sind Dokumente eines deutsch-jüdischen Diskurses, die im Moment einer Krise, im Schatten des Antisemitismus und im Bewusstsein der Verbannung geschrieben wurden. In beiden finden wir analoge Thesen zur Frage des Monotheismus, die das Geheimnis des Judentums in der Darstellungsweise und im Bilderverbot, in der Vorschrift gegen die Vorstellung und in der Ablehnung des Sinnlichen erörtern. Beide Schlüsselszenen, die biblische der Akeda wie diejenige der homerischen Erzählung, berichten von einem Schnitt und einer Narbe. Das Zeichen aber, das im griechischen Fall sinnlich und offenbar ist, bleibt im jüdischen verborgen und symbolisch. Auerbachs Erörterung der Akeda, die Art und Weise, in der er die alte hebräische Geschichte, die biblische Quelle, definiert und vom griechischen Ursprung unterscheidet, erinnert auch daran, wie Søren Kierkegaard in Furcht und Zittern die biblische Szene vor dem Hintergrund der Geschichte der westlichen Literatur und Philosophie erörtert und sich mit der »Bewegung des Glaubens« auseinandersetzt.68 Abrahams Wanderung zum Berg Moria, schreibt Kierkegaard, könne nicht verstanden werden, denn sie habe keine Bedeutung, die zu vermitteln sei. Die Reise nach Moria sei jenseits von Vernunft und Sprache. Kein Wort entspreche der unheimlichen Erfahrung Abrahams. Seine Entscheidung, Gottes Ruf zu folgen und seinen geliebten Sohn zu opfern, sei nicht universell – Abrahams Tat könne nicht mit allgemeinen Kategorien der Sprache und des Denkens gerechtfertigt werden. Die Erfahrung der Akeda sei singulär und finde keine allgemeine, moralische Gültigkeit. Sie fordere vielmehr die »teleologische Suspension des Ethischen«.69 Die Erfahrung der Akeda sei nicht logisch, sondern paradox und enthalte deshalb keine ethische Bedeutung.
67 Vgl. Sander Gilman: Freud, Race and Gender. Princeton, NJ. 1993; Daniel Boyarin: Unheroic Conduct: The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man. Berkeley, Calif. 1997; Jay Geller: On Freud’s Jewish Body. Mitigating Circumcision. New York 2007. 68 Søren Kierkegaard: Furcht und Zittern [dän. 1843]. München 2007, S. 180–329. 69 Ebd., S. 238–241. Auerbachs Narben
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Ähnlich wie Auerbach, der die Akeda parallel zum homerischen Epos liest, vergleicht schon Kierkegaard das Alte Testament mit einem griechischen Text. Kierkegaard liest die biblische Szene mit und gegen Euripides’ Iphigenie in Aulis.70 In der griechischen Tragödie habe die Opferung Zweck und Sinn. Agamemnon sei bereit, seine Tochter Iphigenie zu opfern, um die griechische Flotte zum Krieg anzuführen und damit dem Geschick seines Volks zu dienen. Die Tat des tragischen Helden habe damit ein Ziel und mit diesem auch eine Bedeutung, die zu vermitteln, darzustellen und zu erklären ist. »Der tragische Held verbleibt noch innerhalb des Ethischen«.71 Hingegen habe das Opfer Isaaks kein telos. Seine Bedeutung bleibt dunkel, ›verheimlicht‹ im Hebräischen, und deshalb jenseits der universalen Mitteilung der Sprache.72 Doch die Rätsel, die Paradoxien, das Schweigen der biblischen Szene werden zu einer Herausforderung aller literarischen Diskurse. Die Geschichte der abendländischen Literatur, von der griechischen Tragödie bis zu Hamlet, Faust und den Werken seiner Gegenwart, wird von Kierkegaard neu gelesen im Schatten der biblischen Erzählung. Eine ähnliche Dialektik ist auch in Mimesis zu finden. Auch für Auerbach hängen das Bedürfnis und die Möglichkeit der Literatur zu diskutieren mit der Problematik der Akeda und der Dialektik des Monotheismus zusammen. Die Möglichkeit, Schönheit und Ironie, das Tragische und die Groteske, das Dämonische und das Erhabene zu studieren, sind in beiden Lesarten, der Auerbachs und der Kierkegaards, mit der undarstellbaren, schweigsamen Erfahrung Abrahams verbunden. Auerbachs Interpretation des Alten Testaments folgt zwar Kierkegaard in wichtigen Aspekten, dennoch vermeidet sie den Paulinischen Glaubensdiskurs73 und fordert nicht, das Ethische zu suspendieren. Das ermöglicht uns, eine letzte Analogie zu Mimesis zu verfolgen – nämlich, die Korrespondenz mit Emmanuel Levinas zu erkennen, der ähnlich über Odysseus und Abraham schreibt und die Differenzen zwischen ihren ›Bewegungen‹ diskutiert. Nach Levinas verkörpert der Grieche die Geste
70 Ebd., S. 241–246. 71 Ebd., S. 243. 72 So schreibt Kierkegaard ironisch über das Paradox des Hebräischen: »Jener Mann war kein gelehrter Exeget, er konnte kein Hebräisch; hätte er Hebräisch gekonnt, dann hätte er die Erzählung und Abraham vielleicht unschwer verstanden« (ebd., S. 186). 73 Kierkegaards Lesart der Akeda, schreibt Derrida, ist zwar evangelisch und folgt Paulus’ Diskurs des Glaubens, seiner Kritik des Gesetzes und der Erwartung der messianischen Wiederkehr. Noch aber ist diese christliche Interpretation offen und lehnt ein jüdisches oder muslimisches Lesen nicht ab, sondern markiert die Tiefe der monotheistischen Erfahrung und ihres Paradoxes. Jacques Derrida: Whom to Give To. In: ders.: The Gift of Death. Chicago, Ill. 1996, S. 53–81, hier S. 56 f. und S. 80 f.
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der Wiederkehr. Odysseus kehrt nach Hause zurück, zu sich selbst. Damit findet die metaphysische Struktur des Selbst ihre Bestätigung.74 Abraham, der seine Heimat für immer verlässt und in ein noch unbekanntes Land fährt, verkörpert hingegen die »Bewegung ohne Wiederkehr« – eine Bewegung, die nicht zu sich selbst führt, sondern ins Fremde, Unbekannte, ins Andere. Hier verbergen sich die Essenz der ethischen Erfahrung Abrahams und ihre Bedeutung im Rahmen des Monotheismus: Der Mensch, der seine Heimat nicht nur zeitweilig, sondern für immer verlassen hat, bewegt sich auf das Andere zu.75 Abrahams Erfahrung ist nicht ästhetisch. Sie entkommt der Vorstellung, der Schönheit, dem Sinnlichen. Die Struktur der Akeda ist die des »Nichts der Offenbarung«76 – der leeren Struktur der Darstellung. Und doch, der Abgrund, das Schweigen, das unvorstellbare Element der monotheistischen Tradition steht immer wieder, immer noch, als eine Bedingung und Herausforderung für die Literatur da. Erich Auerbach versteht die biblische Erzählung als ein Rätsel: Die schweigsamen Figuren und verborgenen Handlungen der Akeda verlangten seiner Auffassung zufolge »nach grübelnder Vertiefung und Ausdeutung«.77 Die biblische Erzählung über den einen, undarstellbaren Gott verkörpere nicht allein einen »Herrschaftsanspruch«, sondern zugleich ein »Deutungsbedürfnis«.78 Die biblischen Schriften forderten unendliche Interpretation. In ihr werde der Schlüssel zur jüdischen Tradition sichtbar – die Institutionen der Interpretation und des Bibelkommentars. Dieses Verlangen nach immer neuen Anläufen der Interpretationen und Deutungen des Alten Testaments erstrecke sich »auch auf außerhalb des ursprünglich Jüdisch-Israeli-
74 Levinas entdeckt in der Bewegung Odysseus’ das Schema der abendländischen Philosophie, in der die Autonomie des Bewusstseins, das immer wieder zu sich selbst zurückkommt, herrscht. Emmanuel Levinas: The Trace of the Other. In: Mark C. Taylor (Hg.): Deconstruction in Context. Chicago, Ill. 1986, S. 346. 75 Levinas’ ethische Lesart der Reise Abrahams bringt ihn dazu, Kierkegaards Interpretation, die eine »Suspension des Ethischen« forderte, abzulehnen. Über Levinas’ Kritik und die Möglichkeiten eines Dialogs zwischen seiner Lehre und derjenigen Kierkegaards vgl. Derrida 1996 (wie Anm. 73), S. 78, Anm. 6; Merold Westphal: Levinas and Kierkegaard in Dialogue. Bloomington, Ind. 2008; J. Aaron Simmons; David Wood (Hg.): Kierkegaard and Levinas: Ethics, Politics and Religion. Bloomington, Ind. 2008. 76 Die Kategorie des Nichts der Offenbarung wird von Gershom Scholem in seinem Briefwechsel mit Walter Benjamin über die theologische Bedeutung des Werks Kafkas eingeführt. Vgl. Gershom Scholem; Walter Benjamin: Briefwechsel 1933–1940. Frankfurt/M. 1985, S. 82. 77 Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 17. 78 Ebd., S. 18. Auerbachs Narben
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tischen liegende Wirklichkeitsbereiche« und »das Deuten« werde so zu einer »allgemeinen Methode der Wirklichkeitsauffassung«.79 Historisch, theologisch und literarisch betrachtet, so erläutert Auerbach, geschah die »eindrucksvollste Deutungsarbeit dieser Art« mit der Entstehung des Christentums durch das Werk des Paulus und der Kirchenväter. Diese hätten »die gesamte jüdische Überlieferung […] in eine Reihe von vorbeugenden Figuren des Erscheinens Christi« umgedeutet, und auf diese Weise »dem Römischen Reich seinen Platz […] innerhalb des göttlichen Heilsplanes« zugewiesen.80 Hier, mit der christlichen Interpretation des Alten Testaments, wurde die figura – das Gebilde der literarischen Imagination – wiedergeboren. Im zweiten Kapitel von Mimesis schreibt Auerbach über Paulus, er sei ein Diasporajude, der sich der Heidenwelt zugewandt habe. Damit sei es für ihn erforderlich geworden, seine Verkündigung von den »besonderen Voraussetzungen des Judentums« loszulösen, das so genannte Alte Testament und das jüdische Gesetz zu entwerten. Das Jüdische verwandelte sich in eine »Reihe von ›Figuren‹«, in »Vorverkündigungen und Vorandeutungen des Erscheinens Jesu«.81 Der christliche Versuch, sich die jüdische Bibel durch figurale Interpretationen anzueignen, habe aber auch seinen literarischen Preis gefordert: Nun habe die Gefahr bestanden, dass »die Anschaulichkeit der Vorgänge unter dem dichten Netz der Bedeutungen erstarrte und erstarb«.82 Auerbach demonstriert dies am Beispiel einer figuralen Interpretation der Wunde: Adams ›Seitenwunde‹, der Schnitt in die Rippe, aus dem Gott Eva, das erste Weib, »die Urmutter der Menschen nach dem Fleisch«, schuf; und die ›Seitenwunde‹ Christi, aus der die Kirche, »die Mutter der Lebenden nach dem Geist«, geboren wurde.83 Wieder ist es eine Wunde, mit der Auerbach die figura darstellt. Ihre christliche Interpretation, die das empirische, geschichtliche Element der Bibel ablehnt, wird hier abstrakt und deshalb ›allegorisch‹ oder bloß ›symbolisch‹ gewendet.84 Auerbachs Kritik an dieser Interpretation kann als ein Versuch betrachtet werden, das Alte Testament vor dem vereinnahmenden Zugriff durch das Christentum zu bewahren, ohne damit die figura selbst abzulehnen. Denn figura war die Methode, den monotheistischen Text für literarische Diskurse zu öffnen; sie steht für die literarische Offenheit des Monotheismus. Bei Auerbach verkörpert figura eine wichtige Bewegung in 79 80 81 82 83 84
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Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 51 f. Vgl. Auerbach 1967 (wie Anm. 13), S. 75 f. und 78 f.
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der Welt der Literatur, die in den Schriften der monotheistischen Tradition beginnt und eine doppelte Dimension hat. Die erste ist horizontal: Die Schrift wird immer wieder in neuen historischen Zusammenhängen interpretiert und bewegt sich unaufhörlich nach vorne. Die zweite ist vertikal: Die Schrift wird zugleich in theologischen Zusammenhängen interpretiert und bewegt sich nach oben, zur erlösenden Erfüllung. Die figurale Interpretation schenkt also der Weltliteratur eine historische, textuelle Offenheit und zugleich einen messianischen Horizont. Doch diese Spannung, die Dialektik der historischen, horizontalen Bewegung und der theologischen, vertikalen, ist bereits im biblischen Text selbst gegeben. Darüber schreibt Auerbach: Das Alte Testament ist in seiner Komposition unvergleichlich weniger einheitlich als die homerischen Gedichte, es ist viel auffälliger zusammengestückt – aber die einzelnen Stücke gehören alle in einen weltgeschichtlichen und weltgeschichtsdeutenden Zusammenhang.85
Die jüdische Bibel, so Auerbach, besteht aus Stücken und Abschnitten, denen es an Einheit und Kohärenz mangelt. Es sind horizontal unverbundene, vereinzelte Erzählungen, die aber vertikal eng verknüpft sind. Die Erzählung, welche die monotheistische These von der Einheit Gottes enthält, ist auf ihrer Oberfläche von Zerrissenheit geprägt. Diese Spannung zwischen vertikaler Einheit und horizontaler Vielheit verleiht der Bibel ihr unerschöpfliches Potential für Neuinterpretationen. Und mehr noch: Die biblische Geschichte bietet zugleich die Grundlage für ein Modell historischer Darstellung, das auch den Komplexitäten, Widersprüchen und Konflikten im Europa der 1940er Jahre angemessen ist. Das »Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland« und »das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten vor und während des gegenwärtigen (1942) Krieges«86 sind für Auerbach komplizierte Ereignisse, in denen eine »Fülle widersprechender Motive« zum Tragen kommen. Während das homerische Epos im Reich der Sage verbleibe, nähere sich das Alte Testament der Geschichte an; die hebräische Bibel mutet bereits wie eine historische Erzählung an und weist daher auf den Rahmen hin, der später zur Darstellung der »uneinheitliche[n], widerspruchvolle[n] wirre[n] Geschichte Europas« geeignet sein wird.87 Der Erzähltext des Monotheismus enthält daher auch die
85 Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 19. 86 Ebd., S. 22. 87 Ebd. Auerbachs Narben
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Bedingungen einer historischen Darstellung, die der Zeit des Krieges, der Zeit der Katastrophen (Europa im Jahr 1942) entspricht. Die Tatsache, dass Auerbach sein Modell der Weltliteratur mit der biblischen Szene der Fesselung Isaaks, einer der wichtigsten Szenen der jüdischen Tradition, verbindet, ist bedeutsam. Doch Auerbachs Entscheidung, über die Akeda zu schreiben, sollte nicht allein als Akt einer ›jüdischen Philologie‹ verstanden werden.88 Auerbachs Interpretation der biblischen Szene, ihre Konturierung gegen die griechischen und die christlichen Kulturtraditionen sowie die Deutung des monotheistischen Textes als einer Bedingung dafür, Literatur im historischen Zusammenhang der Gegenwart zu diskutieren, sind Hinweise auf die Narbe, den Schnitt und die Naht des deutsch-jüdischen literarischen Diskurses. Auerbachs Lektüre der biblischen Erzählung zeigt erneut seine Philologie des Fragments und die Poetik der Fremdwörter. Das erste Fremdwort, das Mimesis zitiert, kommt aus dem Hebräischen: das Wort Hinne-ni, ›hier siehe mich‹.89 Es ist der Ausdruck von »Gehorsam und Bereitschaft«, schreibt Auerbach, in dem sich Abrahams »moralischer Ort im Verhältnis zu Gott«90 widerspiegele. Die Poetik der Fremdwörter in Mimesis beginnt also mit einer Geste ethischer Entsprechung – es ist eine stille sprachliche Bewegung, die aus der Welt des Hebräischen in die Weltliteratur fließt.
88 Vgl. Porter 2008 (wie Anm. 5), S. 124–126 und 134–136. 89 Auerbach 2001 (wie Anm. 2), S. 11. Dort auch das folgende Zitat. 90 Ebd., S. 10.
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RE SP ONDENZ
Natasha Gordinsky
Zum Beitrag von Galili Shahar
Seit seiner Publikation im Jahre 1946 regt Erich Auerbachs Mimesis neue Lektüren und Deutungen an. In mehr als sechs Jahrzehnten Rezeption ist das Buch zu einem der grundlegenden Texte der Komparatistik geworden. Die zahlreichen Interpretationen von Auerbachs opus magnum, die in jeweils unterschiedlichen historischen und intellektuellen Kontexten entstanden, sind dabei stets auch von verschiedenen Kulturtheorien geprägt. In diesem Zusammenhang wird nicht nur der Text von Auerbach reinterpretiert, sondern es wird auch seine Gelehrtenpersönlichkeit neu gedeutet – zunächst in Deutschland und danach vor allem in den Vereinigten Staaten. Es scheint fast, als produziere jedes Jahrzehnt seinen eigenen ›Auerbach‹, oder mit den Worten Djelal Kadirs ausgedrückt: »Auerbach ist durch die verschiedenen Deutungen seiner philologischen Arbeiten selbst in gewissem Sinne zur figura geworden.«1 Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts sind bereits mehrere wichtige Studien über Auerbachs während des Krieges in Istanbul entstandenes Werk publiziert worden. In diesen Arbeiten sind zwei Arten von Erkenntnisinteresse in dem weiten Interpretationsfeld zu Mimesis zu unterscheiden. So hat die Relektüre von Auerbachs Buch in der Literaturwissenschaft eine erneute Reflexion über den Status der Komparatistik als Disziplin und über die Bedeutung des humanistischen Erbes angesichts der politischen und kulturellen Entwicklungen nach dem 11. September 2001 angestoßen, etwa in den Werken von Paul Reitter2, Emily Apter3 und dem bereits erwähnten Djelal Kadir. Daneben wurde die literaturwissenschaftliche
1 Djelal Kadir: Memos from the Besieged Cities. Lifelines for Cultural Sustainability. Palo Alto, Calif. 2010, S. 19–41, hier S. 27. 2 Paul Reitter: Comparative Literature in Exile: Said and Auerbach. In: Alexander Stephan (Hg.): Exile and Otherness. New Approaches to the Experiences of the Nazi Refugees. Bern 2005, S. 21–31. 3 Emily Apter: Translation Zone. A New Comparative Literature. Princeton, NJ 2006, S. 41– 65. Zum Beitrag von Galili Shahar
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Arbeit Auerbachs im Zusammenhang mit bislang nicht beachteten kulturellen Konstellationen ihrer Entstehungszeit gedeutet, Konstellationen, die für die Entwicklung seines philologischen Denkens eine konstituierende Rolle gespielt haben, wie zum Beispiel die Studie von Kader Konuk4 argumentiert, oder, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, ein von Karlheinz Barck und Martin Treml herausgegebener Sammelband herausgearbeitet hat.5 Zwischen diesen beiden epistemologischen und hermeneutischen Achsen von Komparatistik und Literaturwissenschaft auf der einen, Kulturwissenschaft und ihrer Historisierung auf der anderen Seite bewegt sich auch der Aufsatz von Galili Shahar. In seinen Ausführungen stellt er sowohl die Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Monotheismus als auch die Frage nach der Bedeutung von Auerbachs Werk vor dem Horizont der deutsch-jüdischen Moderne. So führt er einen Interpretationsansatz fort, wie er in den letzten Jahren bereits an anderer Stelle eingeführt worden war, etwa im Hinblick auf Auerbachs Deutung der Erzählung von der Bindung Isaaks, der akeda, deren Bedeutung in der neueren Forschung ebenfalls in einem Zusammenhang mit der Frage jüdischer Zugehörigkeit diskutiert wurde. Umso mehr ergibt sich die Notwendigkeit, Shahars Sicht auf das Thema der jüdischen Zugehörigkeit in Mimesis von diesen anderen Interpretationen zu unterscheiden, um die Spezifik seines Zugriffs präzisieren zu können. Auch Martin Treml und James I. Porter haben sich mit dieser Frage aus verschiedenen Perspektiven beschäftigt. Während Treml nach der Bedeutung jüdischer Zugehörigkeit in Erich Auerbachs Biographie fragt, konzentriert sich Porter auf eine Dimension von Auerbachs hermeneutischer Praxis, die er – im Bewusstsein aller damit einhergehenden Konnotationen – als textuelle Strategie einer ›Judaisierung der Philologie‹ bezeichnet hat. Auch wenn es in den Beiträgen beider Forscher um unterschiedliche Dimensionen jüdischer Zugehörigkeit geht, vertreten beide im Kern die gleiche These: Im ersten Kapitel von Mimesis habe Auerbach eine Hierarchie zwischen den Darstellungsweisen von Bibel und Homerischem Epos etabliert, um »Jüdisches durch den Bezug auf Griechisches«6 zu ›nobilitieren‹, so Tremls Ausdruck, oder in Porters sehr viel radikalerer Formulierung: »Auerbach is inverting the modern edifice of philology; he is Judaizing it and thereby enacting a
4 Kader Konuk: East West Mimesis. Auerbach in Turkey. Palo Alto, Calif. 2010. 5 Karlheinz Barck; Martin Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Berlin 2007. 6 Martin Treml: Auerbachs imaginäre jüdische Orte. In: Barck/Treml 2007 (wie Anm. 5), S. 230−251, hier S. 235.
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kind of philological revenge in the name of tyrannical, terrifiying, all-seeing but hidden Jewish god.«7 Die Aufsätze von Treml und Porter bieten dabei nicht nur eine ähnliche Lektüre des Mimesis-Buches, sie teilen auch ihren methodologischen Ausgangspunkt. Beide Studien gehen davon aus, dass eine Kategorie des ›Jüdischen‹ als solchen existiert. Dieser Zugriff manifestiert sich gleich am Anfang beider Aufsätze. So formuliert Treml sein Erkenntnisinteresse als Frage: »Wenn es Jüdisches für Auerbach gab, er es sich selbst zurechnete, wie ist es heute am besten zu verstehen?«8 Porter weist seine Leser in Bezug auf das erste Kapitel von Mimesis in einer Weise auf einen aus seiner Sicht bestehenden Umstand hin, die keine Zweifel an seinem Ansatz offen lässt: »Look closer and you will notice that the Jews in that chapter are a little too Jewish […]«9. Angesichts dieser beiden Zitate wäre indes zu fragen, was der Begriff des ›Jüdischen‹ eigentlich bedeuten soll und welche Rolle ihm in beiden Aufsätzen zugewiesen wird. Obwohl Treml und Porter Auerbachs jüdische Zugehörigkeit eigentlich in einem kulturell-politischen Rahmen betrachten, verwenden sie diese in den Studien als eine a priori gegebene und teilweise essentialistisch definierbare Kategorie. Treml versucht die jüdische Zugehörigkeit Auerbachs durch den Bezug auf eine bestimmte Atmosphäre – Treml nennt dies »das air« in seinen Worten –, in der Auerbach gelebt habe, zu betrachten, darüber hinaus bezieht er sich wenig auf Auerbachs jüdische Erfahrungswelt. Durch eine solche Leseweise wird die Zugehörigkeit Auerbachs in gewisser Weise auf eine imaginäre Ebene verschoben. Umgekehrt im Falle Porters: In dessen Aufsatz ist jüdische Zugehörigkeit nicht nur etwas Angedeutetes, sondern kaum zu übersehen, sie wird vom Autor als nahezu omnipräsent verstanden, weil sie aus seiner Sicht einen neuen Rahmen von Philologie zu diktieren versucht. Doch bei allen Unterschieden enthalten beide Studien eine ähnliche hermeneutische Geste, die jüdischer Zugehörigkeit eine transzendentale Dimension zuschreibt. Im Unterschied zu diesen beiden Studien konzentriert sich der Aufsatz von Galili Shahar auf eine Deutung der textuellen Konstruktion von Zugehörigkeit in Mimesis. Shahar bringt Auerbachs Interpretation der akeda mit zwei anderen prominenten Lektüren der biblischen Szene zusammen, den Deutungen von Kierkegaard und Freud. Er zeigt auf, wie es Auerbach gelingt, durch den Dialog mit den beiden Denkern die philologische wie die philosophische These des Buches zu artikulieren, die laut Shahar vom Span7 James I. Porter: Erich Auerbach and the Judaizing of Philology. In: Critical Inquiry 35 (2008), S. 115−147, hier S. 137. 8 Treml 2007 (wie Anm.6), S. 230. 9 Porter 2008 (wie Anm.7), S. 115. Hervorhebung im Orig. Zum Beitrag von Galili Shahar
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nungsfeld zwischen Judentum und Christentum geprägt ist und auf die Dialektik der monotheistischen Tradition verweist. Mit dem Blick auf diese inhärente Spannung des Mimesis-Buches schlägt Shahar vor, die figura, einen der Schlüsselbegriffe in Auerbachs philologischem Denken, als einen offenen Text zu verstehen, »in dem sich ein messianisches Element verbirgt«10. Diese theologisch-hermeneutische Deutung des figura-Begriffs ermöglicht es Shahar, Auerbachs Mimesis als einen offenen Text zu lesen, der auf zukünftige Interpretationen des Lesers wartet.11 Mit seiner Lektüre von Mimesis verortet Shahar Auerbachs Werk implizit in der Tradition jüdischer Textgelehrsamkeit, die kanonische Texte immer wieder auf ihr Potential für neue Interpretationen befragt.12 In diesem Sinne kann auch Auerbachs Beschreibung seiner eigenen Methode im Nachwort zu Mimesis verstanden werden: »Die Methode der Textinterpretation lässt dem Ermessen des Interpreten einigen Spielraum: er kann auswählen und die Akzente setzen, wie es ihm gefällt«13 Dies ist keine apologetische Aussage, sondern vielmehr die methodologische Reflexion eines Textgelehrten, der aus zentralen Texten der westlichen Literatur von Homer bis in seine Gegenwart den Kanon zukünftiger Deutungen entfaltet.14 In seiner eigenen figuralen Lektüre konzentriert sich Shahar auf das erste, programmatische Kapitel des Buches15 und insbesondere auf das Motiv der Narbe, mit dem Auerbach im Hinblick auf die Narbe des Odysseus dieses Kapitel beginnt: So liest er die Narbe als figura. Die Deutung der Narbe in Mimesis hat in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Rolle in der Auerbach-Forschung eingenommen.16 Doch trotz der bereits vorliegenden Deutungsbezüge ist die Lektüre von Shahar sehr fruchtbar, weil sie die figura der Narbe auf mehreren diskursiven Ebenen interpretiert, vor allem jedoch als eine kulturelle monotheistische Trope. Shahar vertritt die These, dass im ersten Kapitel von Mimesis nicht nur Die Narbe des Odysseus Thema ist, 10 Galili Shahar: Auerbachs Narben, in diesem Band S. 329–352, hier S. 334. 11 Es wäre interessant diese Deutung von figura im Dialog mit Djelal Kadirs Lektüre der Mimesis als Flaschenpost zusammenzubringen, siehe dazu: Djelal Kadir 2010 (wie Anm.1), S. 19−24. 12 Vgl. dazu Daniel Weidners Beitrag in diesem Band, S. 259–279. 13 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946]. Bern 2001, S. 517. 14 Vgl. Robert Kahn: Eine ›Liste der Vorsehung‹: Erich Auerbach und Walter Benjamin. Barck/Treml 2007 (wie Anm. 5), S. 153–166, hier S. 153. Kahn verweist auf die Parallelen zwischen den literaturwissenschaftlichen Methoden Benjamins und Auerbachs. 15 Erich Auerbach: Die Narbe des Odysseus. In: ders. 2001 (wie Anm. 13), S. 5−27. 16 Vgl. David Damrosch: Auerbach in Exile. Comparative Literature 47 (1995) H. 2, S. 97−115; James I. Porter: Auerbach, Homer and the Jews. In: Susan Stephens, Phiroze Vasunia (Hg.): Classics and National Culture. Oxford 2010, S. 235−258.
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sondern auch die verborgene Narbe der Beschneidung evoziert wird. Shahar folgt hier den Überlegungen von Jacques Derrida, der auf die Signifikanz der Beschneidung in der symbolischen Ordnung der Dinge und ihre Einschreibung in die Schrift verwiesen hat.17 Das Verborgene in Auerbachs Text, so Shahar, bestehe aus der Verknüpfung der biblischen Szene der akeda mit dem Verbot der Darstellung Gottes im Judentum. Angesichts dessen kann man die Bedeutung dieser Szene für Auerbachs Denken kaum überschätzen, denn im biblischen Text, der sich mit der Gottesvorstellung befasst18, findet Auerbach auch die leitende Frage für seine eigene Forschung wieder, nämlich die Frage der Darstellung der Wirklichkeit in der westlichen Literatur. Durch seinen gleichzeitigen Blick auf die altgriechische Literatur und die hebräischen Bibeltexte sowie auf die historischen und biographischen Konstellationen des Jahres 1942, in denen das erste Kapitel des Mimesis-Buchs geschrieben wurde, kann Shahar die These entwickeln, dass das Erkenntnisinteresse von Auerbach auf eine verborgene Ebene, auf das Verhältnis von Literatur und Monotheismus zielt und damit zugleich auch die Frage der deutsch-jüdischen Zugehörigkeit reflektiert. Diese dialektische Bewegung manifestiert sich auch durch die Figur der Narbe, die in der konsequenten Sicht von Shahar auch »den Schnitt und die Naht des deutsch-jüdischen literarischen Diskurses«19 markiert. Im letzen Kapitel von Mimesis, das der Wirklichkeitsdarstellung in der literarischen Moderne gewidmet ist, kommt Auerbach zu einem Aspekt zurück, der im gesamten Text eine wesentliche Rolle spielt, nämlich auf die Frage nach der Möglichkeit, Veränderungsprozesse im menschlichen Leben literarisch darzustellen. In den Texten von Virginia Woolf und Marcel Proust erkennt Auerbach das Potential, existenzielle Änderungen nachzuvollziehen und durch die Repräsentation des kontingenten Augenblicks darzustellen. Die chronologische Darstellung des Lebens, die andere moderne Schriftsteller weiterhin beschäftigt, ist aus Auerbachs Sicht eine literarische und philosophische Voraussetzung, die nach der Gesamtdeutung des Lebens als totaler Einheit strebt. In beiden Fällen, so Auerbach, entstehen die Verfahren der Deutung und Ordnung im Leben selbst: »[…] es vollzieht sich in uns unablässig ein Formungs- und Deutungsprozess, dessen Gegenstand wir selbst sind«20. Vor diesem epistemologischen Horizont der Selbstdeutungsprozesse, der beide Konstanten, also Kontingenz und Chronologie, anerkennt, lässt sich 17 18 19 20
Jacques Derrida: The Archive Fever [frz. 1995]. Chicago, Ill. 1998. Vgl. Auerbach 2001 (wie Anm. 13), S. 10. Shahar (wie Anm. 10), S. 352. Auerbach 2001 (wie Anm. 13), S. 510. Zum Beitrag von Galili Shahar
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noch ein weiterer Aspekt in Auerbachs Bezugnahme auf die hebräische Bibel in Die Narbe des Odysseus verdeutlichen: Auerbachs Interpretation des sakralen Textes ist als Teil eines Deutungsprozesses seiner eigenen Zugehörigkeit zu verstehen. Mit seiner Deutung der hebräischen Bibel strebt Auerbach danach, den jüdischen Text für universale Deutungen zu öffnen. Diese philologische Strategie verweist auf eines der bedeutenden Embleme jüdischer Zugehörigkeit, die sich mit den Worten Dan Diners durch eine »Verwandlung, Verschiebung, Verflüssigung«21 der sakralen Textkultur konstituiert. In diesem vielschichtigen Prozess sind Existenzerfahrung und Text untrennbar, weil nur durch ihre kontinuierliche Begegnung und Verschmelzung die einzigartige, partikulare jüdische Zugehörigkeit entstehen kann, die zugleich paradigmatisch für den Prozess der Säkularisierung betrachtet werden soll. Durch diese epistemologische Gleichzeitigkeit ist Auerbachs eigenes Schreiben geprägt: Einerseits bezieht sich das erste Kapitel auf Kontingenz, also auf Auerbachs Erfahrung während der Kriegszeit; zum anderen auf die Chronologie, eben den biblischen Text, den Auerbach als einen der Ursprünge der westlichen Literatur deutet. In dieser Transformation vom sakralen in den profanen – eben literaturwissenschaftlich-komparatistischen – Text fordert Auerbach dazu auf, nicht nur die jüdischen Literaturen als untrennbaren Bestandteil der westlichen Literaturen, sondern auch die Frage der Darstellung der Zugehörigkeit als die verborgene Frage in seinem Mimesis-Buch zu verstehen.
21 Dan Diner: Einführung. In: ders. (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 1. Stuttgart; Weimar 2011, S. VII−XVIII, hier S. VIII.
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IV. Anschlüsse
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Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik Zum Denkstil eines Außenseiters der Kritischen Theorie
I.
Einleitung: Zum Begriff des ›Außenseiters‹
Die Wahl des Begriffs ›Außenseiter‹ im Titel eines Beitrags über Hans Mayer mag Erstaunen hervorrufen, doch sei mit ein paar einleitenden Worten dargelegt, warum diese Wahl vielleicht doch nicht ganz so fehlgeht, wie es für den Kenner von Mayers Schriften im ersten Moment den Anschein haben muss: Das Schlagwort ›Außenseiter‹ spielt ja nicht bloß auf Mayers gleichnamiges Hauptwerk an, in dem anhand einer Fülle literaturgeschichtlicher Beispiele die These plausibel gemacht werden soll, die europäische Aufklärung sei daran gescheitert, dass es ihr nicht gelungen sei, die Außenseiter der Gesellschaft zu integrieren, namentlich Juden, Homosexuelle und Frauen, und das lasse sich vor allem an der Literaturgeschichte ablesen.1 Der Ausdruck ›Außenseiter‹ enthält darüber hinaus auch in denkbar verknappter Form Mayers Deutungsangebot für seine eigene Biographie: Sein Lebenslauf als ›Deutscher auf Widerruf‹ ist dadurch geprägt, dass er in der Weimarer Republik, in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit – sowohl in der Deutschen Demokratischen Republik als auch in der Bundesrepublik Deutschland – zu einem Außenseiterdasein verurteilt ist. Konkret greifbar wird das durch den dreimaligen Gang ins Exil: die Flucht vor den Nazis 1933 nach Frankreich und später in die Schweiz, die Übersiedlung von Frankfurt am Main nach Leipzig 1948 und dann zurück in die Bundesrepublik 1963. In der Autobiographie wird das Deutungsmuster flexibel angewandt: Mayer sieht sich als Außenseiter in seiner Eigenschaft vor allem als Jude, aber auch als Intellektueller und als Marxist.2 Die Übertragung die1 Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt/M. 1975. – Für kritische Lektüre des Manuskripts dieses Beitrags danke ich Silke Horstkotte (Leipzig) und Ludwig Stockinger (Leipzig). 2 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. 2 Bde. Frankfurt/M. 1988 [zuerst 1982 u. 1984]. Ebd., Bd. 2, S. 283 der Hinweis, man möge Außenseiter nicht »als verschämte oder gar als offene Autobiographie« missverstehen. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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ses Deutungsmusters auf andere Bereiche ist wohlfeil: Bereits mit Blick auf Mayers Status innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin Germanistik hat man ihn verschiedentlich als Außenseiter beschrieben.3 Inwieweit das zutrifft, wird im Folgenden zu klären sein. Wenn ich von Hans Mayer im Rahmen dieses Bandes als Außenseiter spreche, dann meine ich damit aber, dass er, was die direkten Spuren und Beziehungen angeht, mit Blick auf die Kritische Theorie gruppensoziologisch als Außenseiter betrachtet werden muss. Diese These möchte ich im folgenden, kürzeren Teil meiner Ausführungen (II.) etwas detaillierter belegen. Der anschließende, umfangreichere Teil der Ausführungen (III.) soll dann zeigen, dass mit Blick auf den Denkstil durchaus enge Verbindungen Mayers zur Kritischen Theorie bestehen – und das soll auch für den Leipziger Mayer gelten, der von 1948 bis 1963 in der DDR lebt und lehrt. Auf die früheren Schriften aus dieser Zeit (1948–1956) möchte ich mich konzentrieren, weil mir ein weiterer Aspekt des Außenseitertums besonders untersuchungsbedürftig zu sein scheint: Die Kritische Theorie als nicht-orthodoxe Form marxistischer Philosophie ist in der Nachkriegszeit in erster Linie ein westdeutsches Phänomen. Lässt sich eine dieser Philosophie konzeptionell nahestehende literaturwissenschaftliche Position auch unter DDR-Bedingungen als denkstilverwandt beschreiben, also unter Bedingungen einer der normativen Idee nach monoparadigmatischen Wissenschaft, die sich an einer Vorstellung sozialistischer Orthodoxie ausrichtet?4
3 Vgl. den Titel des Beitrags von Friedrich Vollhardt: Außenseiter – Hans Mayer liest Lessing. In: treibhaus 4 (2008), S. 292–304; ferner die Beschreibung bei Klaus Pezold: Mayer, Hans [Art.]. In: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. 3 Bde. Berlin; New York 2003, Bd. 2, S. 1181–1184 [nur in der, in diesem Punkt von der Druckfassung abweichenden, Online-Ausgabe]: »Durch Lebensumstände, Bildungsgang und Kritikvermögen stets ein Außenseiter unter den Germanisten seiner Generation, hat H. M. als unorthodoxer Marxist mit weitem literarischem und kulturellem Horizont sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik einen ungewöhnlich großen geistigen Einfluß ausgeübt.« Außerdem Marcel Reich-Ranicki: Hans Mayer. Der beredsame Gelehrte [1961/1975]. In: ders.: Die Anwälte der Literatur. Stuttgart 1994, S. 251–269 und 350 f. [Anmerkungen], hier S. 263: »Der hier über Außenseiter schreibt, war immer schon und aus mehr als einem Grund ein Außenseiter.« 4 Vgl. die Einschätzung von Klaus-Dieter Hähnel: Dokument und Erinnerung. Zu Mark Lehmstedts Briefedition: »Hans Mayer: Briefe 1948–1963«. Hans Mayer (1907–2001) zum hundertsten Geburtstag. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 17 (2007), S. 184–194, hier S. 188: »Hans Mayer, der marxistisch geschulte Gelehrte, der inzwischen eine rasante und außergewöhnlich vielseitige wissenschaftliche Entwicklung nahm, die ihm Anerkennung in der Bundesrepublik und im Ausland eingebracht hatte, dachte nicht daran, sich in das monoparadigmatische Muster einzupassen.« Vgl. auch die Ausführungen von Hendrik Niether: Intellektuelle aus dem Umfeld der Frankfurter Schule in der DDR. Hans Mayer,
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II. Mayer und die Kritische Theorie: Direkte Beziehungen Dass Mayer im Schweizer Exil unter anderem von Auftragsarbeiten für Max Horkheimers Institut für Sozialforschung lebte, kann man in jedem Lexikonund Überblicksartikel lesen.5 In der Nachkriegszeit bestand ein solcher Arbeitszusammenhang nicht mehr. Viel später, 1970 und 1992, schildert Mayer in längeren Erinnerungsbeiträgen seine Sicht auf die Zeitgenossen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin.6 In seinen Texten der späten 1940er und frühen 1950er Jahre aber zitiert er die Autoren der Kritischen Theorie selten – abgesehen von Adorno, der jedoch von ihm vor allem als Musiktheoretiker rezipiert wird. Das kann man beispielsweise in dem Essay Kulturkrise und Neue Musik von 1948 nachlesen, in dem Adornos These einer Regression des Hörens in Zeiten kultureller Verdinglichung sowie qualitativer Standardisierung und Verarmung der Musik affirmativ zitiert wird, um die These zu belegen, man lebe in einer durch vielerlei Ver- und Zerfallsmomente charakterisierten Zeit der Kulturkrise.7 Es ist kein Zufall, dass im selben Essay auch Thomas Mann mit seinem Faustus-Roman gleichsam als Theoretiker zitiert wird, der Mayers These durch seine Reflexionen stützen soll.8 Auch in anderer Hinsicht ergibt sich in der frühen Nachkriegszeit eine charakteristische Dreierkonstellation, bei der Mann das Mittelglied bildet: Sowohl Mayer als auch Adorno verbindet eine je besondere Beziehung mit dem späten Mann. Adorno begegnet Mann bekanntlich im Exil und hat
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Ernst Engelberg und Henryk Grossmann an der Universität Leipzig. In: Monika Boll; Raphael Gross (Hg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Göttingen 2009, S. 218–227. Pezold 2003 (wie Anm. 3) weist (wieder nur in der Online-Ausgabe) auf die im Nachlass Horkheimer in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/M. enthaltene Korrespondenz zwischen Mayer und Horkheimer von 1936 bis 1971 hin. Keine Einträge zu Mayer enthalten Andreas B. Kilcher (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart; Weimar 2000 und ders. u. a. (Hg.): Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart. Lizenzausgabe Darmstadt 2003. Hans Mayer: Nachdenken über Theodor W. Adorno [1970]. In: ders.: Zeitgenossen. Erinnerung und Deutung. Frankfurt/M. 1998, S. 23–47; ders.: Der Zeitgenosse Walter Benjamin. Frankfurt/M. 1992. Hans Mayer: Kulturkrise und neue Musik [1948]. In: ders.: Literatur der Übergangszeit. Essays. Berlin 1949 [1949a], S. 200–217. Vgl. auch ders.: Thomas Mann. Werk und Entwicklung. Berlin 1950, S. 369 zur These vom »Warencharakter« der modernen Kunst. Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 212. Vgl. auch ders.: Thomas Mann als bürgerlicher Schriftsteller [1945]. Ebd., S. 156–163; ders.: Thomas Manns Roman »Doktor Faustus« [1948]. Ebd., S. 164–176. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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einen wichtigen Anteil an der Entstehung des Doktor Faustus; Mayer dagegen profiliert sich Anfang der 1950er Jahre als Autor einer umfangreichen Mann-Monographie und in der Folge als Herausgeber der ersten, zwölfbändigen Gesamtausgabe.9 Zwischen Mann und Adorno sowie zwischen Mann und Mayer liegen Briefwechsel vor, in denen auch vom jeweils Abwesenden die Rede ist. So berichtet Adorno Mann in einem Brief vom 28. Dezember 1949: »Hans Mayer suchte mich auf, ein recht erfreuliches Gespräch, bei dem Ihnen die Ohren geklungen haben müssen.« Und gleich im Anschluss daran: »Von Mayers Essaybuch ›Literatur der Uebergangszeit‹ hab ich einen recht guten Eindruck […].«10 Über das Gespräch mit Adorno berichtet Mayer gleichfalls in einem Brief an Mann vom 23. Dezember 1949: Es war mir […] eine große Freude, daß ich bei einer Vortragsreise in Westdeutschland […] mit Doktor Adorno zusammentraf, mit dem es ein langes und ein schönes Gespräch gab. Durch ihn erhalte ich nun endlich auch seine »Philosophie der neuen Musik«, die mir gerade jetzt unentbehrlich ist, da ich [bei der Mann-Monographie; D. W.] an den Abschnitten arbeite, die dem ›Faustus‹ gewidmet sein werden.11
An seinen Freund Walter Wilhelm schreibt Mayer am 24. Mai 1950: Er [Adorno; D. W.] schickte mir neulich eine Arbeit von sich über die Philosophie Husserls. Ich werde ihm dafür mein Buch [das Mann-Buch; D. W.] senden und bin neugierig, was er für Augen machen wird, wenn er liest, was ich dort – in aller Hochachtung – über ihn aussage.12
In Adornos Brief an Mann vom 6. Juli 1950 kann man nachlesen, was er tatsächlich »für Augen« gemacht hat, nachdem er die entsprechenden Passagen gelesen hatte: Daß der gute Hans Mayer in seinem Buch über Sie mich unterdessen zum physischen Vorbild Ihres Teufels hat avancieren lassen, mit dem ich kaum mehr als die Hornbrille gemeinsam habe, wird Sie nicht weniger erstaunt haben als mich, der sich diabolischer Züge nicht eben bewußt ist.13
9 Mayer 1950 (wie Anm. 7); Thomas Mann: Gesammelte Werke. 12 Bde. Berlin; Weimar 1955. 10 Theodor W. Adorno; Thomas Mann: Briefwechsel 1943–1955. Hg. v. Christoph Gödde; Thomas Sprecher. Frankfurt/M. 2002 [Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel. Hg. v. Theodor W. Adorno Archiv. Bd. 3], S. 49. 11 Hans Mayer: Briefe 1948–1963. Hg. u. komm. v. Mark Lehmstedt. Leipzig 2006, S. 45. 12 Ebd., S. 64. 13 Adorno/Mann: Briefwechsel (wie Anm. 10), S. 72.
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Der Hintergrund ist der, dass Mayer in seinem Mann-Buch eine der Verwandlungen des Teufels im Teufelspakt-Dialog des Doktor Faustus als Personifikation Adornos gedeutet hat, der die »Hornbrille des Intellektuellen« trage – übrigens im impliziten Anschluss an ähnliche, bereits vorher publizierte Deutungen.14 Mann antwortet Adorno am 11. Juli und nimmt Adornos punktuelle Kritik zum Anlass, um seinem Unbehagen über manche Deutungen des Buchs allgemein Luft zu machen: Kafka liebte den »Tonio Kröger« – das ist eine Erinnerung unter manchen anderen (Hofmannsthal, Schnitzler, Beer-Hofmann, Hesse, selbst Hauptmann) gegen die Aussagen Hans Mayers über das Unverhältnis der deutschen Zeitgenossen zu meinem Werk und meine [sic] Rolle als ›Ungeliebter‹. Es ist viel dankenswert Kluges, aber auch viel Danebengehendes und Fehlendes in dem Buch, und dass der Teufel als Musikgelehrter nach Ihrem Aeusseren gezeichnet sein soll, ist nun schon ganz absurd. Tragen Sie überhaupt eine Hornbrille? Jedenfalls gibt es da sonst keinen Zug von Ihnen. Aber man will eben so viel wie möglich ›merken‹. Ist nun, frage ich mich, solch ein Buch hilfreich und fähig, den Bogen eines Lebens am geistigen Firmament zu befestigen? Dem Verfasser habe ich dankend den Glauben daran ausgedrückt.15
Adorno geht in seinem Antwortschreiben vom 1. August noch einen Schritt weiter und konkretisiert damit, was sich als Einschätzung Mayers hinter dem bereits vorher gebrauchten Epitheton ›der gute‹ verbirgt: Wer heute im Ernst die Verantwortung auf sich nimmt, über Sie zu schreiben, müßte es schon so tun, daß er sich nicht damit begnügt, plump herauszuholen, was Sie mit tiefsinniger Zartheit in Ihrem Werk versteckt haben, sondern stattdessen was das Werk selber versteckt. Es müßte Interpretation im philosophischen Sinn, kein Kommentar des philosophischen Inhalts sein. Das ist eine so formidable Aufgabe, daß man das Gruseln darüber lernen kann; aber leider hat der gute Mayer überhaupt kein Gruseln gelernt, nicht einmal vor sich selber, vom Teufel ganz zu schweigen. Es ist ein Jammer, daß in geistigen Dingen, wenn es wirklich um die Wahrheit geht, die gute und anständige Gesinnung allein so gar nichts hilft.16 14 Mayer 1950 (wie Anm. 7), S. 370. Vgl. Adornos Brief an Mann vom 28. Dezember 1949: »Daß unterdessen einige christliche Kritiker wie Doflein und Horst mich offiziell zu Ihrem Teufel ernannten, ist Ihnen ja wohl nicht unbekannt geblieben – hoffentlich dünkt Ihnen das Klima dieser Hölle nicht weniger anheimelnd als mir.« Adorno/Mann: Briefwechsel (wie Anm. 10), S. 49. Gemeint sind nach Auskunft des Kommentars, ebd., S. 52 f. der »Musikpädagoge und Musikschriftsteller Erich Doflein« sowie der »Essayist, Erzähler und Literaturkritiker Karl August Horst«. Der Wortlaut der Textstellen, an denen die beiden die Assoziation ›Mann – Teufel – Adorno‹ nahe legen, ebd. 15 Adorno/Mann: Briefwechsel (wie Anm. 10), S. 76. 16 Ebd., S. 81 f. Einen Brief vom 2. Januar 1952 unterschreibt Adorno »in treuer Verehrung Ihr alter Teufel« (ebd., S. 94). Hinweise zum indirekten Briefwechsel hat schon Lehmstedt in seinen Kommentaren der Mayer-Briefausgabe gegeben; vgl. Mayer: Briefe (wie Anm. 11), S. 66 f., Anm. 6. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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Adorno schätzt Mayer immerhin so weit, dass er seinen Verleger anweist, ihm bei Erscheinen ein Belegexemplar der Minima Moralia zu übersenden – Mayer zufolge mit der Widmung »Für Hans Mayer mit den herzlichsten Wünschen von seinem alten Teufel.«17 Aus Briefen von Mayer geht hervor, dass er Adornos Schriften zur Kenntnis nimmt und sich mit ihnen auseinandersetzt: Einmal schreibt er an Walter Wilhelm, er habe seinen Aufsatz über Richard Wagners geistige Entwicklung als »Anti-Adorno« angelegt18; einmal lobt er dessen Aufzeichnungen zu Kafka als »bei weitem das Beste, was zu diesem bis zum Überdruss durchgequatschten Thema seit einiger Zeit geschrieben wurde«19; dann wieder deutet er in einem Brief an den Literaturwissenschaftler Horst Rüdiger an, dass er Adornos Deutung Benjamins für eine bloß »partielle Analyse« hält.20 Auch Einschätzungen zu Adornos Persönlichkeit finden sich in Mayers Briefen, etwa in einem Schreiben an den Redakteur des Bayerischen Rundfunks Gerhard Szczesny vom 1. Februar 1960 – es geht um die Suche nach einem Partner für Mayer bei einem Rundfunkgespräch über Die Intellektuellen und die Gesellschaft: »Adorno aufzufordern, halte ich für sinnlos, weil das kein Gespräch ergibt, sondern einen Monolog mit überleitenden Rezitativen der Partner.«21 Die selektive Zusammenstellung direkter Spuren und Beziehungen ergibt, dass Mayer mit Blick auf diese Ebene wissenschaftshistorischer Zusammenhänge keineswegs als Angehöriger der Kritischen Theorie gesehen werden kann – dafür sind die Beziehungen zu lose, die Selbstwahrnehmung entspricht dem ebenso wenig wie die Wahrnehmung Adornos als des in der Zeit führenden Vertreters der Kritischen Theorie.22 Das korreliert mit der Ein17 Mayer 1988 (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 81. Dort auch Mayers Reaktion auf den ihm inzwischen bekannten Brief Manns an Adorno mit der Frage, ob Adorno überhaupt eine Hornbrille trage: »Als wenn er es nicht wüßte, der Meister einer jeden Einzelheit!« 18 Mayer: Briefe (wie Anm. 11), S. 160 [Brief vom 2. Juni 1953]. 19 Ebd., S. 194 [Brief vom 6. Februar 1954]. 20 Ebd., S. 285 [Brief vom 21. Mai 1956]. 21 Ebd., S. 427. Gleichwohl hat es im Laufe der Jahre Rundfunkgespräche zwischen Mayer und Adorno gegeben; vgl. etwa Theodor W. Adorno; Hans Mayer: Über Spätstil in Musik und Literatur. Ein Rundfunkgespräch. In: Frankfurter Adorno Blätter 7 (2001), S. 135– 145. An diesem 1966 gesendeten Gespräch lässt sich gut studieren, was Mayer meint mit dem »Monolog mit überleitenden Rezitativen der Partner«. Vgl. auch die Ausführungen zu einem Rundfunkgespräch über die musikhistorische Bedeutung Gustav Mahlers 1968 bei Jörg Krämer: Hans Mayers Schriften zur Musik. In: treibhaus 4 (2008), S. 266–291, hier S. 270–274. In dem Aufsatz finden sich auch lesenswerte Überlegungen zu Mayers Verhältnis zu Adorno allgemein sowie zu seinem Denkstil. 22 Keine weiteren Hinweise auf Mayers Beziehungen zur Kritischen Theorie finden sich bei Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung. München 21987; vgl. aber die verstreuten, ergänzenden Hinweise bei
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schätzung westdeutscher Zeitzeugen, die Mayer in den 1970er Jahren als Vertreter marxistischer Literaturwissenschaft einordneten, dessen Position aber klar von derjenigen der Frankfurter Schule unterschieden wurde.23 Es ergibt sich jedoch ein anderes Bild, wenn man Mayers Denkstil untersucht.
III. Der indirekte Weg: Mayers Denkstil Wenn ich im Folgenden von ›Denkstil‹ spreche, dann meine ich damit ein strukturell komplexes Bündel inhaltlich und formal charakteristischer Faktoren und Eigenschaften der Präsentation und Produktion von Wissensansprüchen, die untereinander in Wechselbeziehung stehen.24 Bei den Textbeobachtungen an Schriften Mayers beziehe ich mich auf die 1949 erschienene Aufsatzsammlung Literatur der Übergangszeit, auf die ebenfalls 1949 als Separatdruck erschienene Rede Goethe in unserer Zeit, auf das Buch Thomas Mann. Werk und Entwicklung von 1950, die 1954 erschienenen Studien Deutsche Literatur und Weltliteratur und Lessing, Mitwelt und Nachwelt Clemens Albrecht u. a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/M.; New York 1999 [die einschlägigen Stellen sind auffindbar über das Namenregister]. Weitere verstreute Hinweise auch in der Autobiographie Mayer 1988 (wie Anm. 2). 23 Ludwig Stockinger: Vom Recht der Literatur und des Literaten. Rede zur Enthüllung der Gedenktafel für Hans Mayer am 19. März 2005. In: Leipziger Universitätsreden. Neue Folge Heft 100. Vorträge an der Universität Leipzig 2004/05. Leipzig 2005, S. 71–78, hier S. 73. 24 Vgl. zur Explikation dieser Definition Dirk Werle: Stil, Denkstil, Wissenschaftsstil. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften. In: Lutz Danneberg u. a. (Hg.): Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I). Frankfurt/M. u. a. 2005, S. 3–30. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das hier verwendete Konzept des Denkstils impliziert eine nicht-essentialistische Interpretation, die aus vielerlei Gründen streng von essentialistischen Interpretationen abgegrenzt werden muss. Eine besonders üble essentialistische Interpretation des Denkstils untersucht Wolfgang Höppner: »Rasse ist Stil«. Anmerkungen zum Wissenschaftsstil in der germanistischen Literaturwissenschaft des »Dritten Reiches«. In: Frank-Michael Kirsch; Birgitta Almgren (Hg.): Sprache und Politik im skandinavischen und deutschen Kontext 1933–1945. Aalborg 2003, S. 73–88. Vollhardt 2008 (wie Anm. 3), S. 292 verwendet etwas textzentrierter den Begriff ›Interpretationsstil‹. Ergänzend zum hier Vorgetragenen, vor allem hinsichtlich der im vorigen Abschnitt skizzenhaft rekonstruierten Dreieckskonstellation, vgl. Stefan Müller-Doohm: Thomas Mann und Theodor W. Adorno als öffentliche Intellektuelle. Eine Analyse ihres Denkstils. In: Thomas Mann Jahrbuch 20 (2007), S. 43–61. Müller-Doohms Ausführungen lassen hinsichtlich der Intensität der Textarbeit und der methodologischen Reflexion manches zu wünschen übrig, bieten aber gleichwohl erhellende Beobachtungen zu Ähnlichkeiten und Unterschieden von Manns und Adornos öffentlichem Auftreten als Intellektuellen. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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sowie auf den 1956 nicht ausgestrahlten, aber dafür gedruckten Radiovortrag Zur Gegenwartslage unserer Literatur und die beiden unter dem Titel Leiden und Größe Thomas Manns im selben Jahr publizierten Festreden.25 Wenn ich im Anschluss daran etwas über die Beziehungen seines Denkstils zum Denkstil der Kritischen Theorie sage, dann muss ich mich aus darstellungsökonomischen Gründen auf naturgemäß entproblematisierte und vereinfachte Überblicksbeiträge26 und auf einige besonders prominente Referenztexte27 stützen. Insbesondere möchte ich auf drei Aspekte von Mayers Denkstil eingehen: a) auf die Frage, was für eine Art von Gelehrtentypus er verkörpert; b) auf Besonderheiten seiner Schreibweise; c) auf seine grundlegenden theoretischen Annahmen über Literatur und Literaturgeschichte. a) Gelehrtentypus. Jens Saadhoff hat den Mayer der Leipziger Zeit zu Recht als ›Star-Germanisten‹ bezeichnet, dessen Geschichte man – im Anschluss an seine eigenen Darstellungen in der Autobiographie, aber auch gestützt auf die jüngst erschienenen Brief- und Dokumentenbände – nach dem Muster von Aufstieg und Fall im Sinne der ›klassischen Dramenform‹ erzählen kann.28 Dabei kann man sogar die Peripetie genau bestimmen; sie liegt im
25 Mayer 1949a (wie Anm. 7); Hans Mayer: Goethe in unserer Zeit. Eine Rede vor jungen Menschen, gehalten im Deutschen Nationaltheater Weimar am 21. März 1949. Berlin 1949 [1949b]; ders. 1950 (wie Anm. 7); ders.: Deutsche Literatur und Weltliteratur [1954a]. In: ders.: Deutsche Literatur und Weltliteratur. Reden und Aufsätze. Berlin 1957, S. 169–193; ders.: Lessing, Mitwelt und Nachwelt. Eine Rede. In: ders.: Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1954, S. 39–61, 263 f. [Anmerkungen] [1954b]; ders.: Zur Gegenwartslage unserer Literatur [1956a]. In: Inge Jens (Hg.): Über Hans Mayer. Frankfurt/M. 1977, S. 65–74; ders.: Leiden und Größe Thomas Manns. Zwei Reden. Berlin 1956 [1956b]. 26 Vor allem Klaus R. Scherpe: Kritische Theorie [Art.]. In: Harald Fricke u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2: H–O. Berlin; New York 2000, S. 345– 349 mit reichhaltigen Literaturhinweisen. 27 Zu diesen prominenten Referenztexten für einen Denkstil der Kritischen Theorie gehören zuerst Leo Löwenthal: Zur gesellschaftlichen Lage der Literaturwissenschaft [1932]. In: ders.: Literatur und Massenkultur. Frankfurt/M. 1990 (= Schriften. Hg. v. Helmut Dubiel. Bd. 1), S. 309–327; Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie [1937]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941. Hg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt/M. 1988, S. 162–225; Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur [1937]. In: ders.: Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934–1941. Frankfurt/M. 1979 (= Schriften. Bd. 3), S. 186–226; Theodor W. Adorno: Der Essay als Form [1958]. In: ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 2003 (= Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. a. Bd. 2), S. 9–33. 28 Jens Saadhoff: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen »gesellschaftlichem Auftrag« und disziplinärer Eigenlogik. Heidelberg 2007; zu Mayer vor allem S. 94– 109, das Zitat S. 94. Vgl. Mayer: Briefe (wie Anm. 11) sowie Mark Lehmstedt (Hg.): Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956–1963. Leipzig 2007.
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Dirk Werle
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Herbst 1956.29 Zwischen 1948 und 1956 vollzieht sich der Aufstieg zu einem der, wenn nicht gar dem führenden Literaturwissenschaftler der jungen DDR; ab 1956 und bis 1963 gerät Mayer mehr und mehr ins Visier orthodoxer Parteiorgane und, wie man heute weiß, auch der Staatssicherheit; die zunehmende Entwicklung der DDR zu einem totalitären Staat mit einer auch restriktiven Kulturpolitik kann er immer weniger mittragen, bis es schließlich 1963 zum katastrophischen Finale kommt: Mayer kehrt von einer Reise in den Westen, wie die oft wiederholte Sprachregelung lautet, nicht wieder nach Leipzig zurück. Stargermanisten haben bisweilen scheinbar widersprüchlicher Weise einen Zug, den Frieder von Ammon in anderem Zusammenhang als das ›Para-Germanistische‹ bezeichnet hat.30 ›Para-Germanistik‹ ist germanistisches Arbeiten, das sich außerhalb der Institution und der wissenschaftlichen Konventionen des Fachs Germanistik abspielt. Der Mayer der Leipziger Zeit bewegt sich bekanntlich durchaus innerhalb der Institution Germanistik, sogar in einer ziemlich zentralen Position. Mit Blick auf den Gelehrtentypus sollte man deshalb vielleicht eher von einem ›para-wissenschaftlichen‹ Zug sprechen, insofern für Mayers Texte zur Literatur wissenschaftliche Konventionen des Fachs nicht in jeder Hinsicht Verbindlichkeit zu besitzen scheinen. Dieser bei dem Star-Germanisten Mayer zu beobachtende Zug kommt zum Ausdruck etwa in dem Umstand, dass er es vermeidet, Anschlussforschung zu betreiben, also mit seinen Beiträgen affirmativ oder kritisch an die Ergebnisse anderer Forscher anzuschließen.31 Das belegt zunächst seine Anmerkungspolitik: Oft verzichtet Mayer ganz auf Fußnoten; in jedem Fall aber geht er sparsam mit ihnen um. Das gilt für essayistische Arbeiten und die Abdrucke von Reden, aber auch für wissenschaftliche Abhandlungen im engeren Sinne, etwa das Thomas-MannBuch. Zwar schreibt Mayer darüber am 22. Dezember 1949 an Max Rychner: 29 Vgl. Bernd Leistner: Hans Mayer als Literaturprofessor in Leipzig. In: treibhaus 4 (2008), S. 207–220, hier S. 207. 30 Frieder von Ammon: Gelehrte und ihre Gesellen. Deutsche Schriftsteller als Frühneuzeitgermanisten. In: Marcel Lepper; Dirk Werle (Hg.): Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Stuttgart 2011, S. 201–226. 31 Das gilt in ähnlicher Form und mit ähnlichen Konsequenzen einige Jahrzehnte zuvor etwa auch für den ›Star-Germanisten‹ Friedrich Gundolf. Vgl. dazu Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Christoph König; Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt/M. 1993, S. 177–198; Wolfgang Höppner: Zur Kontroverse um Friedrich Gundolfs »Goethe«. In: Ralf Klausnitzer; Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse. Bern u. a. 2007, S. 183–205; Dirk Werle: Vossler gegen Gundolf. Eine Kontroverse über die Ruhmesgeschichte. In: George-Jahrbuch 8 (2010/2011), S. 103–127. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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»[…] der Band wird mit einem furchteinflößenden Anhang voller Anmerkungen erscheinen […].«32 Wenn man sich den Anmerkungsapparat aber anschaut, kann man diese Einschätzung schwerlich teilen: Mayer belegt hier im Wesentlichen seine Zitate aus den Schriften Thomas Manns und gibt ab und zu sparsame Literaturhinweise. Eine solche Zitierpolitik mag in dieser Zeit weniger ungewöhnlich erscheinen als heute; bekanntlich handelt es sich um eine Zeit, in der Vertreter einer ›geistesgeschichtlich‹ beziehungsweise ›werkimmanent‹ ausgerichteten Literaturbetrachtung daran arbeiten, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte Verwissenschaftlichung der neueren Literaturgeschichte wieder zurückzufahren. Gleichwohl scheint es nicht übertrieben zu behaupten, dass auch gemessen an den Standards der 1940er und 1950er Jahre Mayers Fußnoteneinsatz relativ sparsam ist. Auch wenn Mayer global und ohne konkreten Textnachweis zitiert, bezieht er sich in der Regel auf nur wenige, immer wiederkehrende Referenzautoren, vor allem auf Georg Lukács,33 aber auch auf Franz Mehring.34 Theodor Wilhelm Danzel wird ebenfalls des Öfteren als Bezugsgröße bemüht.35 Diese Referenzautoren werden jedoch in erster Linie als Autoritäten im Hinblick auf den theoretischen Überbau zitiert, nicht als Experten für literaturwissenschaftliche Einzelfragen. So arbeitet Mayer durch vielfältiges Verschweigen und gezieltes Nennen ausgewählter Namen an einer alternativen literaturwissenschaftlichen Traditionsbildung durch Umkanonisierung. Nur selten nennt er die germanistischen Referenzautoren, gegen die er sich mit seinen Konzeptionen richtet. Wenn er es doch einmal tut, dann sind die hier genannten Namen so starke Signale, dass sie nicht sonderlich überraschen können: Wie die Autoren der Kritischen Theorie seit den 1930er Jahren, wenn sie sich literaturgeschichtlich äußern, so positioniert sich auch Mayer gegen die in den Jahrzehnten vorher in der Germanistik dominanten Strömungen des ›Positivismus‹, personifiziert vor allem durch Wilhelm Scherer,36 und der ›Geistesgeschichte‹, personifiziert unter anderem durch seinen Leipziger Kollegen Hermann August Korff.37 32 Mayer: Briefe (wie Anm. 11), S. 42. 33 Vgl. etwa Mayer 1954b (wie Anm.25), S. 50; ders. 1956a (wie Anm. 25), S. 73; ders. 1956b (wie Anm. 25), S. 16. 34 Vgl. etwa Mayer 1954b (wie Anm. 25), S. 40 u. 50. 35 Vgl. Mayer 1954b (wie Anm. 25), S. 49; ders. 1954a (wie Anm. 25), S. 169. Vgl. auch ders.: Danzel als Literaturhistoriker. In: Theodor Wilhelm Danzel: Zur Literatur und Philosophie der Goethezeit. Gesammelte Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Hg. v. Hans Mayer. Stuttgart 1962, S. V–XLII. 36 Vgl. Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 239–256 (Die deutsche Literatur und der Scheiterhaufen), hier S. 251; ders. 1954b (wie Anm. 25), S. 50. 37 Zur Einschätzung Korffs durch Mayer vgl. zuerst Mayer 1988 (wie Anm. 2), S. 109 f.
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Die star-germanistische Botschaft, die durch den sparsamen Verweis auf andere Forschungsbeiträge kommuniziert wird, lautet in etwa: ›Die hier vorgetragenen Einsichten sind etwas wesentlich Neues und Originelles; darum kann ich mich dabei auch nicht auf Vorgänger beziehen.‹ Die para-germanistische Kehrseite des Ganzen ist nun die, dass die in den betreffenden Texten geäußerten Einsichten für den Kenner germanistischer Fachdiskussionen manchmal weniger neu und originell sind, als die Verfasser behaupten. Das ist, soweit ich es erkennen kann, auch bei Texten Mayers nicht selten der Fall: Vieles von dem, was er über die von ihm behandelten Autoren schreibt, ist zu der Zeit bereits bekannt oder liegt auf der Hand.38 Manches ist neu, weil es sich auf zeitgenössische Autoren wie Thomas Mann oder Bertolt Brecht bezieht. Anderes erscheint als neu, weil es von der Warte eines neuen ›Paradigmas‹ der Literaturbetrachtung perspektiviert wird, nämlich der Warte einer sozialgeschichtlichen Literaturwissenschaft marxistischer Spielart. Tendenziell para-wissenschaftlich ist auch Mayers Editionspraxis. Im untersuchten Zeitraum publiziert er in größerer Zahl Ausgaben literarischer Texte – allerdings nicht etwa historisch-kritische Ausgaben oder textphilologisch gesicherte Studienausgaben, sondern Leseausgaben auf der Grundlage älterer, vergriffener Texte. Diese Politik hat einen guten Grund: In der frühen DDR sind viele literarhistorisch wichtige Texte nicht einfach erhältlich, so dass es vor allem darauf ankommt, sie überhaupt zur Verfügung zu stellen. Die editionswissenschaftliche Qualität wird demgegenüber als weniger erheblich eingeschätzt. Die Inszenierung Mayers in seinen Publikationen ist die eines ›Textgelehrten‹ in einem ähnlichen Sinne, wie er von den Herausgebern dieses Bandes vorgeschlagen wird, nämlich als eines alternativen Gelehrtentypus, der sich von dem verstaubten Buchgelehrten traditioneller Provenienz unterscheiden will. Das lässt sich mit Blick auf Mayer präzisieren, wenn man fragt: Was unterscheidet Mayer von einem Gelehrten traditioneller Couleur? Versteht man Gelehrsamkeit als Begriff mit einer leicht negativen (zumindest altmodischen) Konnotation, dann wird man die bloße, etwas langweilige Gelehrsamkeit abgrenzen von der schnittigen Ideenproduktion, die sich weniger an den Büchern, sondern vielmehr am ›Leben‹ orientiert. Das tut Mayer: Ihm geht es stets um den Aufweis, dass der jeweils behandelte lite-
38 Das gilt nicht für Mayers Büchner-Buch, wie Gideon Stiening gezeigt hat: »Der Dichter jedoch, der Denker und Revolutionär Georg Büchner läßt sich nicht aufteilen.« Hans Mayer interpretiert Büchner. In: treibhaus 4 (2008), S. 305–322. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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rarische Gegenstand irgendwie aktuell oder lebensrelevant ist;39 und er präsentiert sich als jemand, der Ideen vorgibt, nicht aber als staubiger Gelehrter, der über den Büchern sitzt. Zwar wird Mayer, wie viele andere Groß-Germanisten und Star-Theoretiker, nicht selten mit dem Topos der »stupenden Belesenheit« beschrieben,40 und er stilisiert sich auch selbst geradezu als Universalgelehrten – allein: wenn man seine Texte liest, dann findet man die stupende Belesenheit darin nicht: Entweder der Autor hält sie als Ausdruck seiner Urbanität vornehm zurück, oder sie ist gar nicht da. Mayer ist natürlich sehr belesen, so wie jeder Gelehrte es sein sollte, der sich öffentlich äußert – aber die Belesenheit geht, soweit ich es erkennen kann, nicht über das, zweifellos immer beeindruckende, Normalmaß eines Intellektuellen hinaus. Vielleicht kann man den Gelehrtentypus Mayer mit der auf Nietzsche zurückgehenden Typologie so beschreiben, dass er keineswegs antiquarisch ist, dafür aber kritisch mit Zügen zum Monumentalischen41 – zu Letzterem jedoch später. Was geschieht, wenn man den Beinamen des Gelehrten mit positiven Konnotationen versehen versteht? Dann würde man unter einem Gelehrten einen Experten für einen Gegenstand verstehen, im Unterschied zu einem Amateur. Das Para-Wissenschaftliche an Mayer ließe sich nun aber auch so reformulieren, dass er in seiner wissenschaftlichen Arbeit durchaus amateurhafte Züge trägt. Das hat mit der von ihm intendierten ›Mehrfachadressierung‹ zu tun42: Er will nicht bloß germanistische Fachkollegen, sondern auch oder vor allem ein allgemein an literarischer Bildung interessiertes Publikum erreichen. Das trägt ihm einen Mangel an Anerkennung durch die Fachkollegenschaft ein, gipfelnd in Theodor Frings’ Behauptung, Mayer sei gar kein 39 Darauf weist auch Vollhardt 2008 (wie Anm. 3), S. 292 hin. Vgl. etwa Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 51–61 (Geist der Restauration [1935]), hier S. 61: »Der vergessenste unter den Denkern der Restaurationszeit ist vielleicht der aktuellste«; ders. 1949b (wie Anm. 25), S. 24: »Die Goethe-Zeit liegt fern, aber Goethes Haltung zur Welt bleibt uns nahe und vertraut.« 40 Vgl. etwa Alfred Klein: Der Dichter und sein Kritiker. Hans Mayers Verhältnis zu Johannes R. Becher. In: Regina Fasold u. a. (Hg.): Begegnung der Zeiten. Festschrift für Helmut Richter zum 65. Geburtstag. Leipzig 1999, S. 367–379, hier S. 370, allerdings in charakteristischer Relativierung: »Hans Mayer verfügte damals noch nicht über die immensen Literaturkenntnisse, mit denen er später aufwarten konnte.« Außerdem Saadhoff 2007 (wie Anm. 28), S. 95, Anm. 231: »Mayer erweist sich quasi als Inbegriff des ›allseitig gebildeten‹ und ungemein belesenen Gelehrten […].« 41 Frei nach Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874]. In: ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli; Mazzino Montinari. Bd. 1. München u. a. 1999, S. 243–334, vor allem S. 258–270. 42 Vgl. Saadhoff 2007 (wie Anm. 28), S. 94.
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richtiger Wissenschaftler, sondern eher eine Art Journalist.43 Worum es mir geht ist zu betonen, dass Mayer als Gelehrtentyp der traditionellen Vorstellung von Gelehrsamkeit nicht entspricht und er sich wenigstens in Teilen, wie die Autoren der Kritischen Theorie, als Gelehrten alternativen Zuschnitts darstellt. Er präsentiert sich nicht als Germanisten traditioneller Couleur, aber auch nicht als Literaturkritiker, sondern als besondere Form des ›Textgelehrten‹, dessen Texte ›neben‹ oder ›über‹ der germanistischen ›Normalwissenschaft‹ zu lokalisieren sind. b) Schreibweise. Eine geisteswissenschaftliche Abhandlung oder ein Aufsatz zu kulturellen Themen ohne oder mit nur wenigen Fußnoten wird oft pauschal als Essay bezeichnet. In diesem Sinne kann man sagen, dass Mayer das essayistische Schreiben bevorzugt – ähnlich wie die meisten Autoren der Kritischen Theorie.44 Und dies noch in einem weiteren Sinne: Wenn die Qualität seiner literaturwissenschaftlichen Texte schon nicht darin liegt, dass sie Anschlussforschung betreiben, dann kann man zum mindesten sagen, dass sie gut geschrieben sind.45 Die formal ansprechende und gedanklich anspruchsvolle Faktur, die Mayers Texten eignet und die die Bezeichnung ›essayistisch‹ zutreffend erscheinen lässt, ist jedoch nicht im Sinne Adornos zu verstehen – 43 Vgl. Mayer: Briefe (wie Anm. 11), S. 294, Anm. 11. 44 Viele der in der Leipziger Zeit veröffentlichten unselbständigen Beiträge erscheinen in Peter Huchels Zeitschrift Sinn und Form oder als Vorworte von Ausgaben literarischer Texte. – In seinem Essay über den Essay nennt Adorno eine Reihe exemplarischer Essayisten: »Simmel und der junge Lukács, Kassner und Benjamin«; Adorno 1958 (wie Anm. 27), S. 10. Eine ähnliche Reihe, in die dann auch Adorno und Mayer gestellt werden, konstruiert Gert Mattenklott: Hans Mayer – Plädoyer als Form. In: Sinn und Form 49 (1997), H. 2, S. 206–215, hier S. 208: »Karl Kraus und Hugo von Hofmannsthal, Georg Lukács und Leo Popper, der verkrüppelte und so tapfere Rudolf Kassner und Georg Simmel, Siegfried Kracauer und Ernst Bloch« seien frühe Zeugen einer Tradition »intellektuelle[r] Grenzgänger zwischen Dichtung und Kritik, Philosophie und Wissenschaft. […] Sind nicht Hans Mayer und Theodor W. Adorno […] habituell noch immer Spätlinge dieser Tradition?« 45 Vgl. Mayer: Briefe (wie Anm. 11), S. 204 f. (An Gustav Just, 4. Mai 1954), hier S. 204 [über seinen Band Studien zur deutschen Literaturgeschichte]: »Das sind eigentlich keine ›Essays‹, sondern literarhistorische Abhandlungen. Vielleicht mit dem Unterschied, dass sie manchmal etwas besser geschrieben sind, als das bei derlei Monographien sonst der Fall ist. Aber diese Sorge um die äussere Form unserer Arbeiten macht unsereinen noch nicht zum ›Schriftsteller‹.« Dagegen ebd., S. 319–323 (An Johannes R. Becher, 25. März 1957), hier S. 319 [über seinen Band Deutsche Literatur und Weltliteratur]: »Wenn Sie beim Lesen der einen oder anderen Arbeit in diesem neuen Band nicht bloss den Gedanken und Arbeitsergebnissen Ihre Aufmerksamkeit schenken, sondern auch […] das Bemühen billigen, hier die Kunstform des Essays und der Rede in zahlreichen Abhandlungen nach meinen Kräften gepflegt zu haben, so würde ich mich über diese Ansicht freuen.« Ähnlich ebd., S. 333 f. (An Peter Huchel, 16. Juli 1957), hier S. 333. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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in dem Sinne nämlich, dass der Essay als autonome, eigengesetzliche Form zwischen Literatur und Philosophie vermag, die Verbindung von Ideologiebeziehungsweise Systemkritik und Ästhetik auf eine Weise herzustellen, wie eine Abhandlung das nicht könnte.46 Mit Blick auf Mayer bringt es Adorno in dem schon zitierten Brief an Thomas Mann auf den Punkt: Mayer biete mit seinen Essays keine »Interpretation im philosophischen Sinn«, sondern allenfalls einen »Kommentar des philosophischen Inhalts«. Mayers Essays wissen sich inhaltlich zwar wie die Adornos der Ideologiekritik verpflichtet, aber mit Blick auf ihre Form kann man eher sagen, dass es sich um rhetorische Essays handelt: Locker strukturiert, aber zielgenau disponiert und ansprechend ausgearbeitet, sprechen sie den Leser an und wollen ihn überzeugen. Seine Essays lässt Mayer häufig mit Anekdoten beginnen:47 ein probates rhetorisches Mittel, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu gewinnen. In der Anekdote soll aber auch, so scheint die Lektüre von Mayers Texten nahe zu legen, der Inhalt des Mitzuteilenden in kondensierter Form bereits enthalten sein. Die Anekdote ist zudem Ausdruck eines Darstellungsstils, dem daran gelegen ist, das Mitzuteilende möglichst anschaulich zu machen. Dem entspricht auch die Tendenz, die Essays mit Dichterzitaten ausklingen zu lassen:48 Der Text wird nicht mit einer These oder einem Fazit geschlossen, sondern durch das Zitat wird am Ende ein Assoziationsraum eröffnet, der dem Leser ermöglichen soll, die rezipierten Gedanken durch eigene Reflexionen weiterzuführen. Das ist auch charakteristisch für die Weise, wie Mayer in seinen Texten Plausibilitäten herstellt, nämlich weniger über einen Argumentationsgang als vielmehr über das Herstellen von Evidenzen. Überhaupt hat Mayers Gelehrtenideal manches mit dem Ideal des allgemein gebildeten, auf die Erziehung der Mitmenschen abzielenden Redners gemein, das seit der Antike in der Theorie der Rhetorik entwickelt wurde. Dem trägt Marcel Reich-Ranicki Rechnung, wenn er einen Essay über Mayer mit dem Titel Der beredsame Gelehrte versieht,49 und dem entspricht auch das Darstellungsideal des gelernten Juristen Mayer, das, wie Gert Mattenklott gezeigt hat, an der Form des Plädoyers orientiert ist: Es geht darum, die Literatur zu loben oder zu kritisieren.50 Mit der Gattung der Beratungsrede, nach deren 46 Adorno 1958 (wie Anm. 27). 47 Vgl. etwa Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 51–61 (Geist der Restauration [1935]), hier S. 51 f.; ders. 1949b (wie Anm. 25), S. 3; ders. 1954a (wie Anm. 25), S. 169. 48 Vgl. etwa Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 188–199 (Der Schriftsteller und die Krise der Huma nität), hier S. 198 f.; ders. 1949b (wie Anm. 25), S. 30; ders. 1954a (wie Anm. 25), S. 193; ders. 1954b (wie Anm. 25), S. 61; ders. 1956b (wie Anm. 25), S. 28; ebd., S. 48. 49 Reich-Ranicki 1994 (wie Anm. 3). 50 Mattenklott 1997 (wie Anm. 44).
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Vorbild literaturwissenschaftliche Texte traditionell am ehesten modelliert werden, mischen sich in Mayers literaturwissenschaftlichen Texten auch die Genera Gerichts- und Festrede. Letztere ist auch im ganz wörtlichen Sinne eine von Mayers favorisierten Formen; seine Essays gehen oft aus tatsächlich gehaltenen, anlassgebundenen Reden hervor.51 In Verbindung damit ist auf zwei weitere Charakteristika essayistischen Schreibens hinzuweisen: sein wie auch immer gearteter literarischer und sein nach Adorno genuin kritischer Charakter. Mayer sieht sich selbst in einer bestimmten Hinsicht als Para-Wissenschaftler, indem er für sich in Anspruch nimmt, nicht bloß Wissenschaftler, sondern gleichzeitig auch Literat und Literaturkritiker zu sein. In diesem umfassenden Sinne kann man ihn, wenn man will, als Philologen bezeichnen, als Liebhaber des Worts, der diese Liebe zum Wort einer breiten Öffentlichkeit vermitteln möchte. Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik stehen so im Dienste der Volkspädagogik. Mayers Selbstverständnis ist genuin didaktisch; es geht ihm darum, einen sozialistischen Bildungsanspruch umzusetzen. c) Theoretische Basisüberzeugungen über Literatur und Literaturgeschichte. Entsprechend diesem auf breite Kreise abzielenden Bildungsanspruch unterscheidet sich Mayers Literaturverständnis etwa von dem tendenziell elitären Adornos:52 Wie Adorno glaubt Mayer an eine Autonomie der Kunst und Literatur gegenüber gesellschaftlichen Zwängen; aber wenn Adorno das damit begründet, dass Kunst und Literatur »Erkenntnis und Widerstand […] als Freisetzung eines Nicht-Identischen vom Identitätszwang der Gesellschaft«53 ermöglichten, dann ist Mayers Vorstellung etwas boden51 Etwa Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 188–199 (Der Schriftsteller und die Krise der Humanität); ebd., S. 239–256 (Die deutsche Literatur und der Scheiterhaufen); ders. 1949b (wie Anm. 25); ders. 1954a (wie Anm. 25); ders. 1954 b (wie Anm. 25); ders. 1956a (wie Anm. 25); ders. 1956b (wie Anm. 25). 52 Vgl. Mattenklott 1997 (wie Anm. 44), S. 214 nach der abgrenzenden Deutung Mayer 1970 (wie Anm. 6), S. 27 f. [mit Blick auf Adornos musiksoziologische Schriften]: »Verstörend blieb, wie ich heute meine, die elitäre Attitüde jener Arbeit […].« Allgemein ebd., S. 41: »In der Tat ist Adornos Denken im hohen Maße elitär, wenn nicht autoritär. […] Künstlertum, das sich nur dem kleinsten Kreise der ›happy few‹ zuwendet, schwierigste Denkformen, welche dem Denkliebhaber und Dilettanten von vornherein das Verstehen verweigern; Selbststilisierungen, die es auf schroffe Antithesen abgesehen haben zwischen Elite und Masse, zwischen einer Existenz als sui generis und einer Allgemeinheit der berüchtigten ›Vielzuvielen‹: wo dies alles manifest wird, ist Adorno zur Stelle. […] Vermutlich hat auch Adornos sonderbare Überschätzung einer literarischen Gestalt wie Rudolf Borchardt weit mehr mit den elitären (und kulturkonservativen) Zügen zu tun als mit ehrlicher Begeisterung für die Krampfhaftigkeiten des Schriftstellers Borchardt.« 53 So Scherpe 2000 (wie Anm. 26), S. 347. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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ständiger und nicht allzu weit entfernt von traditionellen bildungsbürgerlichen Idealen: Kunst und Literatur machen den Menschen Mayer zufolge besser, sie machen ihn aus dem, was er ist, mehr zu dem, was er idealer Weise sein könnte. Der Schlüsselbegriff, der diese beiden Vorstellungen vermitteln soll, lautet ›Humanität‹. Dichter können in diesem Sinne als Vorbilder fungieren, und darum ist es besonders wichtig und nützlich, sich als Literaturwissenschaftler Mayer’scher Couleur mit Dichtern und Denkern zu befassen, die in ihrem Leben und ihrer Literatur ›Humanität‹ zum Ausdruck bringen und selbst verkörpern.54 Das Stichwort findet sich in Mayers Texten der späten 1940er und frühen 1950er Jahre häufig. Der unscharfe Begriff der Humanität erlaubt es, sozialistische Ideologie mit Weltanschauungen anderer Provenienz zu verknüpfen – explizit etwa mit dem Denken des späten Thomas Mann, der den Appell an die Humanität ebenfalls häufig im Munde führt,55 aber implizit auch mit bürgerlichen Gelehrten wie Ernst Robert Curtius, Erich Auerbach, Hugo Friedrich oder auch Viktor Pöschl, die nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus mittels monumentaler monographischer Studien am Projekt einer Wiedergewinnung der Kultur durch Anknüpfen an eine ›humanistische‹ geistesgeschichtliche Tradition arbeiten.56 Das Projekt der Wiedergewinnung der kulturellen europäischen Tradition nach der Barbarei der Nazizeit verbindet Mayers Arbeiten aber nicht zuletzt auch mit den Denkern der Kritischen Theorie, die wie er nach der Exilzeit zum Teil nach Deutschland zurückkehren und an einem kulturellen Wiederaufbau mitarbeiten, der das Erinnern an die vergangenen Schrecken lebendig erhalten möchte.57
54 Vgl. Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 7–16 (Hegel oder das Problem des unglücklichen Bewußtseins [1948]), hier S. 15; ebd., S. 188–199 (Der Schriftsteller und die Krise der Humanität [1948]); ders. 1949b (wie Anm. 25), S. 10, 12 u. 27; ders. 1954b (wie Anm. 25), S. 60 f.; ders. 1956a (wie Anm. 25), S. 72; ders. 1956b (wie Anm. 25), S. 6 und passim. Bündig ders. 1954a (wie Anm. 25), S. 191: »[…] eine Literatur, die sich zur Inhumanität bekennt, wird niemals Weltliteratur werden können.« Vgl. auch ders.: Briefe (wie Anm. 11), S. 12–14 [An Thomas Mann, 20. Oktober 1948], hier S. 12. 55 Vgl. dazu die Hinweise in Dirk Werle: Große Männer. Zur Entfaltung einer Topik in Thomas Manns essayistischen Schriften. In: Stefan Börnchen; Claudia Liebrand (Hg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. München 2008, S. 243–265, hier S. 261. 56 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948]. Tübingen; Basel 111993; Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1946; Hugo Friedrich: Montaigne [1949]. Tübingen; Basel 31993; Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Äneis. Wiesbaden 1950. 57 Das Stichwort der Wiedergewinnung in diesem Sinne findet sich auch bei Hans Heinz Holz: Hans Mayers Beitrag zur Ideologietheorie. In: Inge Jens (Hg.): Über Hans Mayer. Frankfurt/M. 1977, S. 39–56, hier S. 54.
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Seine literaturwissenschaftliche Position beschreibt Mayer selbst in der Autobiographie als ›ideologiekritisch‹.58 Das trifft sicher zu, nur dürfte es schwierig sein, diese Position präziser zu fassen. Am ehesten kann man wohl sagen, dass Mayer eine eklektische sozialgeschichtliche Position vertritt: Er probiert unterschiedliche literaturgeschichtliche Erklärungsmuster aus, und dabei wäre es etwas zu schematisch zu behaupten, dass Mayer in seiner Leipziger Zeit orthodox marxistisch argumentiert, in späterer Zeit dagegen im Sinne eines unorthodoxen Marxismus in Anlehnung an die Kritische Theorie.59 Auch der Mayer der 1950er Jahre ist kein marxistisch-orthodoxer Literaturinterpret, sondern er bedient sich nach Bedarf unterschiedlicher sozialgeschichtlicher Erklärungsmuster. Er vertritt dabei eine liberale Form des Marxismus, die auch in der Leipziger Zeit schon manches mit der Kritischen Theorie gemeinsam hat. Wichtig ist ihm, und das betont er immer wieder, dass Literaturgeschichte nicht als autonome Dynamik gesehen werden sollte, sondern als Prozess, der eng an die Gesellschaftsgeschichte gekoppelt ist.60 Mit Blick auf die sozialistische Orthodoxie ist Mayer bereit, in seiner Deutung der Literaturgeschichte »bis an die Grenze des Möglichen zu gehen«.61 Diese Grenze wird gebildet durch die Überzeugung, dass Literatur als Kunst im Kern gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen doch autonom ist.62 Wenn oben gesagt wurde, dass Mayer durch Umkanonisierung an einer alternativen literaturwissenschaftlichen Traditionsbildung arbeitet, dann kann man analog dazu sagen, dass er auch an einer alternativen literarischen Traditionsbildung arbeitet – aber nicht durch Umkanonisierung, sondern durch Umdeutung der Höhenkammautoren. So erklärt sich auch, warum überhaupt Mayer fast ausschließlich über kanonisierte Autoren schreibt.63 Es geht ihm vor allem darum, die Bedeutung ›großer‹ historischer Autoren und ihrer Literatur für die Gegenwart aufzuweisen, nicht so sehr darum, die Literaturhistorie in ihrer Komplexität zu rekonstruieren. Der wesentliche Unterschied von Mayers Geschichtsbild und dem von Horkheimer und Adorno, so wie diese es vor allem in der Dialektik der Auf58 Mayer 1988 (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 99. 59 In diese Richtung argumentiert in seinem ansonsten sehr lesenswerten Artikel Vollhardt 2008 (wie Anm. 3). 60 Vgl. etwa Mayer 1949b (wie Anm. 25), S. 14 f.; ders. 1956b (wie Anm. 25), S. 8 f. 61 Ludwig Stockinger: Hans Mayer. Zu seinem 100. Geburtstag am 19. März 2007. In: Rektor der Universität Leipzig (Hg.): Jubiläen 2007. Personen, Ereignisse. Leipzig 2007, S. 37–42, hier S. 39. 62 Vgl. Stockinger 2005 (wie Anm. 23), S. 77; Saadhoff 2007 (wie Anm. 28), S. 103. Vgl. exemplarisch Mayer 1956a (wie Anm. 25), S. 74. 63 Vgl. mit affirmativem Gestus Alfred Klein: Heimat auf Zeit. Hans Mayer an der Universität Leipzig. In: Utopie kreativ 1997, H. 77, S. 29–45, hier S. 33. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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klärung entwerfen, ist der, dass Mayers Geschichtsbild optimistischer ist, weil es sich an dem traditionell marxistischen Bild orientiert und daher nicht an einen negativen Umschlag der Aufklärung glaubt – beziehungsweise die Negation der Negation in der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft sieht.64 Gleichwohl ist dieses Bild bei Mayer stets gebrochen, und er nimmt es nicht als Gesetz, sondern als heuristischen Ausgangspunkt für die historische Deutung literarischer Phänomene. Allerdings zeigt die unterschiedliche Deutung von Nationalsozialismus und Holocaust die Differenzen zu Horkheimer und Adorno: Mayer sieht die Nazizeit und die Shoah nicht als historische Konsequenz der instrumentellen Vernunft, sondern als nicht vorgesehenen Unfall, als ausnahmeartigen »Rückfall in die Barbarei«, der die Aufklärung nicht grundsätzlich und heillos pervertiert.65 Entsprechend ist es für Mayer leichter, das traditionelle marxistische Geschichtsbild für die Literaturgeschichte und -interpretation fruchtbar zu machen, was er auch häufig tut – anders als die Autoren der Kritischen Theorie. Mit Blick auf Mayers Umgang mit marxistischen Modellen der Literaturgeschichte und auf seine Konzeption von Humanität sind seine Deutungen zweier Großschriftsteller signifikant: Goethe und Thomas Mann.66 Beide werden als bürgerliche Schriftsteller beschrieben, die aber jeweils in ihrem Spätwerk die Grenzen des bürgerlichen Zeitalters erkennen und prophetisch darüber hinausgehen. Die großen Autoren erscheinen mithin im Sinne einer monumentalischen Geschichtsschreibung bei Mayer als Vorreiter und Vorausahner künftiger Veränderungen.67 Das aber können sie nach Mayer nur sein, weil ihnen Humanität eignet.
64 Vgl. Holz 1977 (wie Anm. 57), S. 44 f. und die implizite Selbstdeutung im Spiegel Adornos bei Mayer 1970 (wie Anm. 6), S. 44 u. 46. 65 Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 239–256 (Die deutsche Literatur und der Scheiterhaufen), hier S. 240 und passim. Vgl. des Weiteren Mayer 1949b (wie Anm. 25), S. 13. Vgl. jedoch die ›dialektische‹ Deutung ders. 1949a (wie Anm. 7), S. 7–16 (Hegel oder das Problem des unglücklichen Bewußtseins [1948]), hier S. 14. 66 Das müsste genauer erläutert werden, was aber in diesem Rahmen nicht geschehen kann. Auch Hähnel 2007 (wie Anm. 4), S. 192 mahnt die Notwendigkeit der Erforschung des wissenschaftsgeschichtlichen Orts des Thomas-Mann-Buchs an. 67 Vgl. mit Blick auf Goethe Mayer 1949b (wie Anm. 25), S. 7: Der alte Goethe habe versucht, »die neuen sozialen Aufgaben zu verstehen und zu meistern«; ebd., S. 7 f.: In Wilhelm Meisters Wanderjahren werde der »Versuch einer Überwindung des bürgerlich-kapitalistischen Daseins« thematisiert; ebd., S. 8: Überall weise »Goethes Erkenntnis und Darstellung über die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus«. Mit Blick auf Mann ders. 1949a (wie Anm. 7), S. 156–163 (Thomas Mann als bürgerlicher Schriftsteller [1945]), hier S. 163: »[…] sein Werk hat Bestand und Bedeutung für jenen einzigen großen Weg der europäischen Zivilisation: den Weg vom zerfallenen bürgerlichen zum sozialistischen
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Ähnliche Beobachtungen im Hinblick auf eine Einbettung der Literaturgeschichte in das Modell der marxistischen Geschichtsphilosophie kann man machen, wenn man Mayers Verwendung literaturhistorischer Schlüsselbegriffe anschaut,68 etwa ›Übergangszeit‹, ›Nachwelt‹ oder ›Weltliteratur‹. ›Übergangszeit‹ bedeutet für Mayer den Zeitraum des Übergangs zwischen ›bürgerlicher‹ und ›sozialistischer‹ Gesellschaft.69 Den Nachweltbegriff setzt er mit Blick auf die Wirkung Lessings auseinander: Lessings Dramen seien zwar »unsterblich«, aber sie seien »nicht bei uns fruchtbar geworden«.70 Das sei darin begründet, dass Lessing »die tiefen politischen Aufgaben nicht erkannt« habe, »die mit dem Gedanken einer deutschen Nationalliteratur und eines deutschen Nationaltheaters verbunden waren«.71 Als Weltliteratur lässt sich, so Mayer, deutsche Literatur immer dann bezeichnen, wenn sie mithilft, »die Menschen aus dem Schlaf und den veralteten Zuständen und Denkgewohnheiten zu reißen«.72 Bemerkenswert ist in diesem Sinne die diskrepante Bewertung der Lyrik Eduard Mörikes durch Mayer und Adorno. Für Mayer gilt: Wo die Literatur »den geschichtlichen Entscheidungen ausweicht, gelingt ihr zwar im einzelnen viel Schönes und Beglückendes, einiges Reinste unserer Lyrik wie bei Mörike […]. Allein Weltliteratur ist das alles nicht geworden.«73 Dagegen steht die berühmt gewordene Aufwertung des Mörike-Gedichts Auf einer Wanderung drei Jahre später durch Adorno in seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft, in der das Gedicht als »geschichtsphilosophische Sonnenuhr« gedeutet wird.74
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Humanismus« sowie ders. 1956b (wie Anm. 25), S. 37: »Daß er sich die Zukunft nicht ohne ›kommunistische Züge‹ vorstellen könne, hat er in seinen letzten Lebensjahrzehnten immer wieder klar und unmißverständlich ausgesprochen.« Vgl. auch die Hinweise bei Helmut Peitsch: Der ›junge‹ Hans Mayer in den ersten westdeutschen Nachkriegsjahren. – »kein Germanist […]: sondern ein Schriftsteller« – In: Hania Siebenpfeiffer; Ute Wölfel (Hg.): Krieg und Nachkrieg. Konfigurationen der deutschsprachigen Literatur (1940–1965). Berlin 2004, S. 39–63. Vgl. Mayer 1949a (wie Anm. 7), S. 7–16 (Hegel oder das Problem des unglücklichen Bewußtseins [1948]), hier S. 16; ebd., S. 51–61 (Geist der Restauration [1935]), hier S. 53 f. Mayer 1954b (wie Anm. 25), S. 47. Ebd., S. 49. Hervorhebung v. D. W. Mayer 1954a (wie Anm. 25), S. 181. Ebd. Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft [1957]. In: ders. 2003 (wie Anm. 27), S. 49–68, hier S. 60. Vgl. dazu die Hinweise bei Mayer 1998 (wie Anm. 6), S. 42 f. Hans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik
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IV. Fazit Die Aufnahme des Begriffs des Außenseiters im Titel dieses Beitrags sollte zunächst daran erinnern, dass dieser Begriff in vielfältig schillernder Weise mit Hans Mayer als kultur- und wissenschaftshistorischer Figur verbunden ist. Zunächst ein negativ wertender Ausdruck, eignet ihn sich Mayer zuerst für die literaturhistorische Beschreibung und dann auch für die biographische Selbstbeschreibung an. Diese Aneignung impliziert eine Umwertung, der Ausdruck ist jetzt positiv konnotiert: Gesellschaftliche Außenseiter sind nach diesem Denkmuster zu Intellektuellen prädestiniert, insofern sie vom Rande der Gesellschaft, an den diese sie selbst verdrängt hat, einen besonders klaren und freien Blick für die Analyse der Gesellschaft und ihrer Kultur gewinnen. Die Untersuchung hat erstens gezeigt, dass sich der Außenseiter-Begriff, wenn man ihn gruppensoziologisch wertfrei zu bestimmen versucht, für die Beschreibung des Verhältnisses Mayers zu der Kritischen Theorie eignet. Auf der Ebene direkter Beziehungen lassen sich in der Nachkriegszeit vielfältige wechselseitige Rezeptionsspuren und Zeugnisse unmittelbaren Austauschs zwischen Mayer und dem zu dieser Zeit führenden Vertreter der Kritischen Theorie, Adorno, nachweisen. Die Untersuchung dieser Ebene zeigt aber auch deutlich, dass Mayer – gruppensoziologisch gesprochen – keineswegs als Angehöriger der Kritischen Theorie zu beschreiben ist. Demgegenüber gibt es zweitens zwischen ihm und den Vertretern der Kritischen Theorie zahlreiche Übereinstimmungen hinsichtlich des Denkstils, der nicht zuletzt durch die skizzierte Umwertung und Aneignung des Außenseiterkonzepts geprägt ist: Mayer verkörpert wie die Autoren der Kritischen Theorie den Gelehrtentypus des Textgelehrten. Allerdings lässt sich mit Blick auf Mayer auch zeigen, dass dieser Typus nicht umstandslos aktualisierungsfähig ist, insofern er aus heutiger Sicht durchaus auch fragwürdige Seiten besitzen kann, die eine wissenschaftshistorische Kontextualisierung geboten erscheinen lassen. Mayer präferiert ähnliche Schreibweisen wie die Autoren der Kritischen Theorie, aber seine Konzeption essayistischen Schreibens unterscheidet sich von der einflussreichen Konzeption Adornos durch einen noch stärker verfolgten selbstgestellten Bildungsauftrag und einen damit einhergehenden rhetorisch-didaktischen Zug. Schließlich ist das Verständnis von Literatur und Literaturgeschichte bei Mayer wie bei den Autoren der Kritischen Theorie durch eine unorthodoxe, liberalmarxistische Sichtweise geprägt. Dabei ist jedoch das Beharren Mayers und Adornos auf einem autonomen Kern der Literatur gegenüber gesellschaft380
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lichen Bezügen je unterschiedlich motiviert, und hinsichtlich des Geschichtskonzepts ist festzuhalten, dass Mayer das tradierte positiv-dialektische Modell beibehält und flexibel appliziert, wogegen Adorno bekanntlich seine Konzeption einer ›negativen Dialektik‹ entwickelt.
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RE SP ONDENZ
Anna Lux
Integration eines Außenseiters Zum Beitrag von Dirk Werle
Dem Beitrag von Dirk Werle über die Leipziger Zeit von Hans Mayer möchte ich einige Überlegungen hinzufügen und ihn durch eine lebensgeschichtliche Kontextualisierung Mayers in den 1950er Jahren ergänzen. Doch zunächst ein Wort zu den direkten Beziehungen von Hans Mayer zu den Vertretern der Kritischen Theorie. Gerade zu Adorno gab es – über Thomas Mann und die Musiktheorie hinaus – weitere Berührungspunkte. Es mag Zufall sein, doch zumindest ist es bemerkenswert, dass Adorno in Mayers Buch Zeitgenossen an erster Stelle steht, einer Sammlung von Porträts, in denen er von prägenden Begegnungen erzählt.1 Darin heißt es einleitend: »Nachdenkend über den Tod von Theodor Wiesengrund Adorno stoße ich zuerst auf das Empfinden einer jähen und starken Betroffenheit beim Empfang der Nachricht.«2 Im weiteren Verlauf des Textes geht Mayer der Frage nach, was ihn eigentlich so betroffen macht, denn, so schreibt er weiter, »es wäre unsinnig gewesen, hier vom Verlust eines Freundes zu sprechen. Das war Adorno nicht, wenngleich es Beziehungen und Begegnungen zwischen uns gab, die mehr als 30 Jahre zurückreichten.«3 Mayer spielt damit auf das Kennenlernen im Jahr 1933 in Frankfurt an, auf die gemeinsame Tätigkeit für das Institut für Sozialforschung Mitte der 1930er Jahre, auf einige Treffen während der Emigration und auf Gespräche in der Nachkriegszeit.4 Möglichkeiten, die Beziehung zu intensivieren, hätte es also gegeben, doch blieb 1 Hans Mayer: Zeitgenossen. Erinnerungen und Deutung. Frankfurt/M. 1998. Der Band ist alphabetisch geordnet; gleichwohl handelt es sich hierbei um eine frei gewählte Gliederungsform (gegenüber etwa einer chronologischen), die zur Folge hat, dass Adorno der erste Beitrag gewidmet ist. 2 Hans Mayer: Nachdenken über Theodor W. Adorno. In: ders. 1998 (wie Anm. 1), S. 23–47, hier S. 23. 3 Ebd., S. 24. 4 Wenn Mayer von Leipzig nach Frankfurt kam, pflegte er Adorno in seiner Wohnung oder im Institut für Sozialforschung zu besuchen. Vgl. ebd., S. 28. Integration eines Außenseiters
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es bei der Distanz. Diese erklärt Mayer mit der »elitären Attitüde« in den Arbeiten von Adorno, mit »dieser sonderbaren Verbindung einer elitären Ästhetik und einer totalen Absage an alle Formen der bürgerlichen – und auch der sowjetischen – Kulturindustrie.«5 Die Differenzen zwischen Mayer und Adorno hatten einen tiefen Ursprung, der offensichtlich auch in den späteren Jahren nicht überbrückt werden konnte. Dieser reichte weit in die Zeit ihrer intellektuellen Sozialisation zurück; er betraf ihr Verhältnis zu Georg Lukács und dessen Schriften als theoretischem Bezugsrahmen, ihre Erfahrungen während des Exils und den Grad ihrer Eingebundenheit in das Institut für Sozialforschung. Nicht zuletzt aber, und darauf möchte ich im Folgenden eingehen, waren für Mayers Entwicklung seine aktive Rolle und seine Funktion in der frühen DDR von prägender Bedeutung.6 Dirk Werle hat von dem ›Außenseiter‹ Hans Mayer gesprochen. Betrachten wir jedoch die Leipziger Zeit, vor allem die frühen 1950er Jahre, so trifft das Bild des Außenseiters nicht zu; am ehesten noch kann es Geltung mit Blick auf Mayers direkten akademischen Wirkungsrahmen, das Germanistische Institut in Leipzig, beanspruchen. Hier kam er bei seiner Berufung in eine spezifische Personalsituation, in der die beiden Traditionsordinarien Hermann August Korff und Theodor Frings neben einer Reihe ihrer Schüler, darunter Martin Greiner und Ludwig Erich Schmitt, wirkten.7 Auf Grund dieser Konstellation gab es immer wieder Auseinandersetzungen, in denen sich Mayer zu behaupten wusste.8 Die weitergehenden akademischen Weihen jedoch, die Aufnahme in die wissenschaftlichen Akademien, blieben ihm verwehrt, da er »weniger Forscher als Journalist« sei, so das abwertende Urteil von Frings.9
5 Ebd., S. 27 f. 6 Zu dieser Erfahrung gehörte auch die Abgrenzung der marxistisch-praxisnahen Literaturund Kulturbetrachtung von der ›bürgerlich-elitären‹ im Westen. Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Ästhetik und Sozialismus. Zur neueren Literaturtheorie der DDR. In: ders.; Patricia Herminghouse (Hg.): Literatur und Literaturtheorie in der DDR. Frankfurt/M. 1976, S. 100–162, hier S. 102 f. 7 Vgl. Anna Lux: Räume des Möglichen. Germanistik und Politik in Leipzig, Berlin und Jena (1918–1961). Stuttgart 2014 [im Erscheinen]. 8 Vgl. Petra Boden: Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945–1958. In: dies.; Rainer Rosenberg (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Berlin 1997, S. 119–159, hier S. 131–134. 9 Die Argumente von Frings gibt Werner Hartke in einem Schreiben an das ZK der SED/ Kurt Hager vom 23. Juni 1960 wieder, zitiert nach: Mark Lehmstedt (Hg.): Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956–1963. Leipzig 2007, S. 294.
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Insgesamt jedoch war Mayer kurze Zeit nach seiner Übersiedlung in die sowjetisch besetzte Zone im Frühjahr 1948 auf kulturpolitischem Gebiet kein Außenseiter, sondern nahezu allgegenwärtig: Er korrespondierte mit dem einflussreichen Kulturpolitiker Alexander Abusch, besprach sich mit dem späteren Politbüromitglied Kurt Hager, traf sich mit dem Schriftsteller und Mitbegründer des Kulturbunds Johannes R. Becher, mit Bertolt Brecht und dem Autor und Chefredakteur der Neuen deutschen Literatur Willi Bredel.10 In der öffentlichen wie in der eigenen Wahrnehmung wurde Hans Mayer in dieser Zeit zudem zum »kulturellen Festredner vom Dienst«.11 Der Wechsel von Hans Mayer in den entstehenden Staat DDR war ein Schritt zur Teilhabe an einem grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungsprozess auf marxistischer Grundlage. Dieses Anliegen teilte er mit einer Gruppe anderer marxistischer Intellektueller, die entweder aus der Emigration oder aus den NS-Zuchthäusern in die SBZ zurückgekehrt waren, darunter Walter Markov, Ernst Bloch, Karl Krauss sowie Gerhard und Katharina Harig.12 Diese Gruppe einte, dass sie mit dem Wechsel in die DDR den Wunsch zum Neuaufbau einer Gesellschaft verknüpft hatte. Hier »harrte ihrer eine Aufgabe – Baufreiheit! hat es einer genannt, und viele hatten das Gefühl, dass sie hier in der Tat gebraucht wurden«, so erinnert sich Markov, und weiter: »Nunmehr bot sich ihnen eine Chance, mit ihrem akkumulierten Wissen und Können Positives hinzubauen – in ihrem Fach und in einer Gesellschaft, die im Werden war, von ihnen mitgeformt.«13 Mayer als jemanden zu verstehen, der als ›kulturpolitische[r] Vermittler‹ die Gesellschaft mitformte, ändert auch die Perspektive auf seine Arbeiten, die in dieser Zeit entstanden sind. Dirk Werle hat sie als ›volkspädagogisch‹ beschrieben – mit starken essayistischen Zügen, ohne Anschlussreferenzen, mit rhetorischen Mitteln versehen: Texte also, die ansprechen und überzeugen wollen. Das als ›amateurhaft‹ zu bezeichnen, greift allerdings zu kurz, denn genau dieser Duktus spiegelt ja ein zentrales Anliegen dieser Texte. Ihre Aufgabe war es – eben in Abgrenzung von »sich verweigernder
10 Vgl. zu Korrespondenz und Begegnungen die von Mark Lehmstedt herausgegebenen Briefe (Hans Mayer. Briefe 1948–1963. Hg. v. Mark Lehmstedt. Leipzig 2006) und Dokumente (wie Anm. 9). 11 Hans Mayer: Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. 2. Frankfurt/M. 1988, S. 37. 12 Vgl. zu diesen ›Doppelstaatsbürgern von Partei und Fach‹, die an der Leipziger Universität durch ihre Konzentration eine wesentliche Rolle spielten, Ralph Jessen: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ära Ulbricht. Göttingen 1999, S. 315–327. 13 Walter Markov: Zwiesprache mit dem Jahrhundert. Berlin 1989, S. 183 f. Integration eines Außenseiters
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Kommunikation«14 – Literatur und Kultur neu zu sehen und diese Sichtweise auch zu vermitteln. Dies war keine allein auf den akademischen Bereich zielende Angelegenheit, sondern eine, die auf die gesamte Gesellschaft bezogen war. Genau deshalb waren die Texte in dieser Art geschrieben; sie sollten leicht zugänglich sein, unabhängig vom Bildungshintergrund und der sozialen Herkunft der Leser. Bewusst wählte Mayer diese Art der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit Emigration und Entwurzelung. Und auch das Ziel dieser Texte war klar formuliert: die Erziehung der Gesellschaft, mithin der Jugend, zum Sozialismus. In nuce findet sich dieser Erziehungsanspruch in Mayers Reden und Texten um 1948/49. Einem historischen Materialismus in Anlehnung an Lukács verpflichtet, glaubte er an die Kraft der Kultur, daran, dass man – auch nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust – mit Rückgriff auf Humanität und Aufklärung den Fortschritt zur ›humanistischen Welt‹ weiter treiben muss und nicht in der Negation verharren darf. Denn »wir haben keinen Grund, einsam und verzweifelt und Feinde des Menschen zu sein. Wir sehen Schwierigkeiten, aber auch große Aufgaben vor uns. Aufgaben, die sich nur in Gemeinschaft durch freies und gemeinschaftliches Tun unserer Generation lösen lassen.«15 Und an anderer Stelle heißt es: Die ›Aufhebung‹ ideologischen Denkens bedeutet nicht schlechthin nur Zerstörung und Entlarvung; es bedeutet zugleich Bewahrung und Verwertung gereinigten Denkens auf höherer Erkenntnisstufe. Wäre es anders, so bliebe uns der Begriff des ›Erbes‹ gänzlich fremd, so hätten die großen geistigen Leistungen der Vergangenheit, die zeitgebunden, in dogmatischer oder verdinglichter Form ausgesprochen wurde, für uns jeden Wert verloren.16
Solche Texte kann man literaturwissenschaftlich analysieren und hierbei zu ernüchternden Ergebnissen kommen. Jedoch bleibt die Frage, wie weit man sich auf diesem Weg dem ›historischen Mayer‹ nähern kann oder ob 14 »Elitäres Denken und Snobismus – wo beides in der neueren Geistes- und Kunstentwicklung auftrat, hatte Adorno einen Gegenstand des Nachdenkens gefunden: Künstlertum, das sich nur dem kleinsten Kreis der ›happy few‹ zuwendet, schwierigste Denkformen, welche dem Denkliebhaber und Dilettanten von vornherein das Verstehen verweigern; Selbststilisierungen, die es auf schroffe Antithesen abgesehen haben zwischen Elite und Masse, zwischen einer Existenz sui generis und einer Allgemeinheit der berüchtigten ›Vielzuvielen‹; wo dies alles manifest wird, ist Adorno zur Stelle. Meist in der Form des denkerischen Einverständnisses. Arnold Schönberg und Stefan George, Baudelaire, Mallarmé und dessen Schüler Valéry.« Mayer 1998 (wie Anm. 1), S. 41. 15 Hans Mayer: Goethe in unserer Zeit. Eine Rede vor jungen Menschen [1949]. In: ders.: Nach Jahr und Tag. Reden 1945–1977. Frankfurt/M. 1985, S. 53–75, hier S. 70. 16 Hans Mayer: Karl Marx und das Elend des Geistes. Meisenheim am Glan 1948, S. 90.
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man nicht damit in der erstaunten Perspektive des Nachgeborenen verharren muss. Ein anderer Weg, mit kritischer Distanz auf die Rezeption und den Mythos von Hans Mayer zu blicken, ist die differenzierte Kontextualisierung.17 Vor solch einem Hintergrund sind die genannten Texte als zeithistorische Dokumente zu lesen, die in einem spezifischen historischen und ideologiegeschichtlichen Zusammenhang stehen. Mayer gehörte zu den aktiven Mitgestaltern des ›real existierenden Sozialismus‹ der frühen DDR. Sein expliziter Wille zur Parteinahme und zugleich die ihm von staatlicher Seite zugestandene Möglichkeit an politischer Mitgestaltung unterscheiden ihn – um den Bogen zu schließen – grundlegend von den Vertretern der Kritischen Theorie in Frankfurt am Main. Verblieben diese in der ›reinen‹ wissenschaftlichen Beobachterposition, so wurde Mayer zum wissenschaftlichen und politischen Akteur. Er war Praktiker, wo sie auf Theorie setzten; er wollte Teil sein und Teil haben und lehnte das Verharren der ›Frankfurter Schule‹ in ideologiekritischer Skepsis und Negation ab.18 Dass er selbst mit dieser politischen Anschauung an seine Grenzen kam, zeigen die wachsenden Spannungen zwischen ihm und dem SED-Staat nach dem Ungarn-Aufstand 1956. Diese führten schließlich zum Scheitern seines Versuchs, sich in die DDR zu integrieren.
17 Zur Erarbeitung der Kontexte hat Mark Lehmstedt mit seinen Editionen wichtige Grundlagen gelegt (vgl. Anm. 9 u. 10). 18 Vgl. Hans Heinz Holz: Hans Mayers Beitrag zur Ideologietheorie. In: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 17 (2001), S. 39–56. Integration eines Außenseiters
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E SS AY
Andreas Isenschmid
Peter Szondi Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
I.
Einleitung
Das folgende Portrait des jungen Peter Szondi geht zurück auf ein doppeltes Staunen – das Staunen ist ja der Beginn allen Fragens und somit der Anfang der Philosophie, jedenfalls nach Platon. Während der Arbeit am Nachlass Szondis im Deutschen Literaturarchiv in Marbach hat mich wenig so sehr erstaunt wie die Entdeckung, wie früh Szondi intellektuell fertig ausgebildet war. Nicht erst 1956, als seine Dissertation Theorie des modernen Dramas bei Suhrkamp, einem damals wie heute für Doktorarbeiten sehr ungewöhnlichen Publikationsort, veröffentlicht wurde. Auch nicht 1954, als Szondi mit dieser Arbeit an der Universität Zürich promoviert wurde – nein, die ersten seiner wirklich reifen Texte stammen bereits aus dem Jahr 1951.1 Es geht von diesen Arbeiten des erst 22-jährigen jungen Mannes, so unpersönlich, so sachlich, knapp und theoretisch kristallin sie formuliert sind, bereits die starke persönliche Strahlung aus, die einen als Leser an allen späteren Schriften Szondis so frappiert. An einigen Stellen dieser Frühtexte liest sich seine Rede von Vereinsamung, Verinnerlichung und Verlorenheit wie eine verdeckte Autobiographie. Nie verlässt einen das Gefühl, die kulturkritische Aufladung seiner reifen Seminararbeiten sei ähnlich ausgeprägt wie die ihrer Vorbildbücher, der 1949 erschienenen Philosophie der neuen Musik von Theodor W. Adorno und der Theorie des Romans von Georg Lukács aus dem Jahr 1916. Nur dass diese Autoren ihren kulturkritischen Impetus – einen romantischen Antikapitalismus im Fall von Lukács, die pessimistische Dialektik der Aufklärung bei Adorno – offen aussprachen, während sich Szondi eine vergleichbare Direktheit sehr früh versagte. 1 Die unveröffentlichten Texte befinden sich in Szondis Nachlass im Deutschen Literaturarchiv, Marbach/N. (im Folgenden: DLA). Aus diesen Nachlassschriften wird im Folgenden zitiert. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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Hinzu kommt, dass Szondi schon als Anfänger für sich eine besondere Weise des Schreibens über Dramatik etabliert hat, die es zuvor noch nicht gegeben hatte. Einerseits schreibt er so textnah wie sein Lehrer Emil Staiger, andererseits so geschichtsphilosophisch wie Lukács, und doch gleicht er keinem dieser beiden berühmten Zeitgenossen. Seine Formanalysen haben eine solche technische Präzision, dass neben ihnen die Darlegungen des jungen Lukács im Einleitungskapitel zur Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas2, die Szondi so sehr beeinflusst haben, etwas höchst Undeutliches, etwas geradezu Raunendes haben. Und seine Textanalysen haben bei aller Genauigkeit einen geschichtsphilosophischen Weitblick, neben dem die Textnähe Staigers wie mit Scheuklappen geschrieben wirkt.3 Ohnehin ist der junge Szondi Welten von der konventionellen dramentheoretischen Diskussion der damaligen Literaturwissenschaft entfernt, wie sie etwa sein anderer Zürcher Lehrer Max Wehrli in dem 1951 erschienenen Buch Allgemeine Literaturwissenschaft4 dokumentiert hat. Diese frühe Reife Szondis an sich – das war also der erste Grund meines Staunens. Der zweite folgte, als ich die unglaublich rasche Periode intellektueller Schnellreifung in den Blick bekam, die zu dieser Position geführt hatte. Ein rasanter Prozess, der 1947 einsetzt, als Szondi seine ersten ernst zu nehmenden Schulaufsätze schreibt, und ihn in wenigen Jahren zu dem Gelehrten macht, den wir heute kennen. Diese intellektuelle Entwicklung Szondis in den Jahren 1947 bis 1952 soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Ich versuche zunächst zu zeigen, mit welchen aufeinanderfolgenden Schritten Peter Szondi seinen Weg zu einem eigenständigen wissenschaftlichen Stil geht – das ist der Blick auf die chronologische Seite. Und ich möchte in einem weiteren Schritt zeigen, wie er mit fast jedem dieser Schritte zugleich eine theoretische Position bezieht, die für sein ganzes gelehrtes Werk bestimmend bleiben sollte – das ist der damit einhergehende Versuch, die Chronologie zu systematisieren und zu deuten. Die vier Positionen, die der junge Szondi nach und nach in seine Gedankenwelt einbaut, sind die folgenden: Erstens denkt und schreibt er mit Bezug auf den Holocaust, der als Zentrum seiner Gedanken- und Erfahrungswelt betrachtet werden kann. Zweitens argumentiert Szondi generell und in radikaler Weise mit Bezug auf die Geschichte – und dies zu einer Zeit, in der 2 Vgl. Georg Lukács: Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas [ungar. 1911]. Hg. v. Frank Benseler. Werke. Bd. 15. Darmstadt; Neuwied 1981, S. 17−52. 3 Über Szondis Verhältnis zu Emil Staiger vgl. Andreas Isenschmid: Emil Staiger und Peter Szondi. In: Joachim Rickes u. a. (Hg.): 1955–2005: Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹ heute. Bern u. a. 2007, S. 173–188. 4 Vgl. Max Wehrli: Allgemeine Literaturwissenschaft. Bern 1951.
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Andreas Isenschmid
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durch die Dominanz des Existentialismus geschichtliches Denken nicht gerade auf der Tagesordnung stand. Drittens nehmen seine Überlegungen immer wieder Bezug auf die Themenkomplexe Heimat und Fremde, Heimkehr und Ankunft – diese Denkfiguren sind elementare Pole seiner Gedankenwelt, deren Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Szondi wird sie immer wieder verwenden, etwa dann, wenn er über seine Lebensbestimmung spricht; er benutzt sie auch in seinen wichtigsten Schriften, in den Aufsätzen über Walter Benjamin5, den Hölderlin-Studien6 und den CelanStudien7; und er verwendet sie ebenfalls, wenn er über seine eigene Kindheit spricht. Sie umgreifen das Ganze seines Lebens und Denkens. Viertens schließlich nimmt Szondi immer wieder Bezug auf die – wie er es später formulieren wird – ›Geschichte im Kunstwerk‹, die ihn stets mehr interessiert als das ›Kunstwerk in der Geschichte‹.8 Dabei sucht er – auch dies eine Besonderheit zu seiner Zeit – früh schon das Geschichtliche in der Form und nicht allein im Inhalt des Kunstwerks. Er betreibt das, was er schon in den ersten Notizen zur Dissertation »historische Formsemantik«9 nennt.
II. »Das Leben braucht auch Gelehrte« Im Dezember 1944 gelangt Peter Szondi mit seiner Familie aus dem Lager Bergen-Belsen in die Schweiz. Im Verlauf des Frühjahrs 1945 verbessert er während eines Heimaufenthalts seine Deutschkenntnisse. Und im November desselben Jahres äußert er sich erstmals zu seiner Berufswahl. Im zweiten Schulaufsatz an der Kantonsschule (der Appenzeller Entsprechung für das Gymnasium) Trogen erklärt er – in einem noch nicht fehlerfreien Deutsch – einem Mitschüler, der die Schule verlässt, um in der Werkstatt seines Vaters zu arbeiten, warum er weiter die Schulbank zu drücken gedenke, eine Be5 Peter Szondi: Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin [1961]. In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack u. a. Bd. 2. Frankfurt/M. 1978, S. 275−294; ders.: Benjamins Städtebilder [1963]. In: ebd., S. 295−309. Vgl. dazu: Andreas Isenschmid: »In mancher Hinsicht ein Glaubensbekenntnis«. Peter Szondis Benjamin-Rezeption. In: Detlev Schöttker (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste. Ausst.-Kat. Berlin 2004. Frankfurt/M. 2004, S. 82–93. 6 Peter Szondi: Hölderlin-Studien [1967]. In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack u. a. Bd. 1. Frankfurt/M. 1978, S. 261−412. 7 Peter Szondi: Celan-Studien [postum 1972]. In: Szondi: Schriften 2 (wie Anm. 5), S. 321−398. 8 Siehe dazu unten, Abschnitt V sowie den Beitrag von Thomas Sparr in diesem Band, S. 427–438, hier S. 435 f. 9 Peter Szondi: Das mittelalterliche geistliche Spiel und das Problem des epischen Theaters. Hausarbeit für Max Wehrli, zwei Fassungen, Entwürfe und Notizen. Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1152. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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gründung, die in der Sentenz gipfelt: »Das Leben braucht auch Gelehrte.«10 Unabhängig denkt der werdende Gelehrte hier noch nicht, stattdessen rekurriert er in häufig etwas geborgt klingenden Formulierungen auf Vererbungstheorien und bemüht in diesem Zusammenhang auch die Freud’sche Triebdeutung, von der er durch seinen Vater, den Psychiater Leopold Szondi, erfahren hat. Aber schon im September 1946, als Szondi erst ein knappes Jahr auf der Schule ist, also keine zwei Jahre nach der Zeit im Lager, wird ein grundsätzlicher und zudem dezidiert politischer Ton in seinen Aufzeichnungen erkennbar. Szondi schreibt hier mit siebzehn Jahren bereits über die »Greuel des 20. Jahrhunderts« und über das »Vernichten« von Menschen. Das Thema ist ihm so wichtig, dass es sich ihm in einem eher unerwarteten Zusammenhang aufzudrängen scheint, nämlich in einem Aufsatz über das Volkslied, das er als »Zufluchtsort« vor den Schrecken des Jahrhunderts interpretiert.11 Nur vier Monate später rückt der Holocaust endgültig als Thema in den Mittelpunkt von Szondis Gedankenwelt. Drei unpublizierte Texte aus dem Jahr 1947 markieren diesen Wandel. Im Januar 1947 hatte Szondi einen Aufsatz zur Lebensregel aus Goethes Sprüchen zu verfassen.12 Die einleitenden zwei Verse bei Goethe »Willst du dir ein gut Leben zimmern, / Mußt um’s Vergangne dich nicht bekümmern«13 bezieht er in einer Assoziation, die, wie er sagt, auch über den Assoziierenden etwas sage, »auf die ganze Menschheit, die den zweiten Weltkrieg er- und überlebt hat, die ihn noch nicht hat vergessen können«14. Szondi antwortet hierauf mit der Gegenfrage, ob sich einer (er spricht hier von einem Bekannten, nicht von sich selbst) von der Vergangenheit abwenden könne, der gesehen habe, wie »seine Familie in die Donau gestossen wurde?«15 Weiter heißt es in seinen Anknüpfungen an das Goethe-Wort:
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Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1166. Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1166, H 1, A 7. Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1166, H 3. Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1166. Das Zitat stammt in dieser Form aus einer handschriftlich erhaltenen, modifizierten und erweiterten Fassung der sechsversigen Lebensregel aus der Abteilung Epigrammatisch in der Gedichtsammlung von 1815; in der späten Handschrift, die keine Überschrift, aber die Datierung »Zum 25. October 1828« enthält, bilden die beiden Verse den Anfang eines aus zehn Versen bestehenden Gedichts, das zuerst 1888 in der Weimarer Ausgabe unter Zahme Xenien VIII gedruckt wurde. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. v. Henrik Birus u. a. Bd. I.2: Gedichte 1800–1832. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt/M. 1988, S. 422 u. S. 707, dazu den Kommentar ebd., S. 1225 f. 14 Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1166. 15 Ebd.
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Diese Unglücklichen werden kaum mehr ein gut Leben haben und wahrscheinlich dieses auch nicht zimmern wollen. Solchen Leuten helfen kaum mehr einige Zeilen, ein Gedicht, denn diese haben ausser ihnen Nahestehenden auch das Vertrauen an die Menschheit verloren.16
Näher als bei Goethe und dessen geschmeidiger Weltläufigkeit fühlt sich der junge Szondi in diesem Aufsatz bei Friedrich Hölderlin und bei Robert Schumann, bei den Romantikern im weiteren Sinne also, »auf die Keats’ Wort zutrifft: The world is to brutal for me«17. Und er nimmt diesen Ton wieder auf, als er kurz darauf im Aufsatz Frühlingsgedanken bekennt, er könne sich am »Frühling nicht mehr recht freuen«18, und als Grund seine Erfahrungen in der Nazizeit angibt: »Einer, der kaum aus der Kindheit entwachsen, sich gegenüber dem grauenvollen Krieg erblickte, ist sehr nahe daran, die Hoffnung zu verlieren.«19 Wie sind diese Äußerungen eines Achtzehnjährigen zu bewerten? Lediglich als ungeformte Gedanken und Bekenntnisse eines Heranwachsenden? Sie sind das und zugleich mehr, und man sollte sie nicht in einer psychologisierenden Art und Weise kleinreden, denn die Bezüge und Wertungen, die sich hier ein erstes Mal hören lassen, werden dauerhaft zum Kern von Szondis Weltsicht gehören. Sie entsprechen mutatis mutandis dem »uralten Blick«, den die Lyrikerin Hilde Domin bei einem Gespräch in einem Zürcher Café in den frühen 1960er Jahren am kaum über dreißig Jahre alten Peter Szondi wahrnimmt: Oft haben Sie etwas so Junges und Zutrauliches, etwas die Sympathie und eine fast zärtliche Protektion Hervorrufendes. Aber wenn Sie diesen Blick haben und dies Alter, dann fühlt man die misshandelten Juden aller Ghettos hinter Ihnen. Und fast wird einem Angst vor dem Unrecht, das der Missbrauchte zuzufügen seinerseits in der Lage ist.20
Szondi hat sich in diesen Worten Domins ausdrücklich wiedererkannt, und er antwortet mit Gedanken, die an diejenigen des Gymnasiasten erinnern: »Ich glaube, Sie sehen mich richtig, beide Seiten in mir.«21 In seinem 16 17 18 19 20
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Hilde Domin: Brief an Peter Szondi vom 9. April 1965. In: Hilde Domin; Peter Szondi: Briefwechsel. Hg. v. Andreas Isenschmid. In: Neue Rundschau 119 (2008), H. 3, S. 77–112, hier S. 95. 21 Peter Szondi, Brief an Hilde Domin vom 14. Mai 1965. In: ebd., S. 96 f., hier S. 96. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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Blick lebe »eine Bindung an die misshandelten Juden der Vergangenheit«22, schreibt er und schließt: »Wir alle sind Überlebende, und jeder versucht, auf seine Weise mit dieser Schmach fertig zu werden.«23 Seine Treue zu dieser Bindung sei »vielleicht ein solcher Weg«24. Noch in einer weiteren Hinsicht und auf verblüffende Weise kehren die Aufsatzideen des Gymnasiasten im späteren Werk Szondis wieder. Wie schon der Schüler sich näher bei Hölderlin als beim geschichtsvergessenen Goethe der Lebensregel fühlte, so wird auch der reife Szondi in Hölderlin einen Verwandten sehen, viel mehr als in den Vertretern der Weimarer Klassik, von denen er ihn durch eine ›Kluft‹ getrennt sieht. Und er wird dies – zumal gegenüber Friedrich Schiller – in einem Kontext tun und mit Argumenten begründen, die denen des Gymnasiasten sehr ähnlich sind. Mehrfach und mit teilweise vor Betroffenheit geradezu glühenden Worten wird er Hölderlins »Idealismus, der sich von der historischen Wirklichkeit nicht lossagt«, vom »ganz anders gearteten Idealismus Schillers« abgrenzen.25 Die Geste der Entschiedenheit, mit der er gegen die ›Nebelaura‹ des Geist- und Humanitätsbegriffs der Goethezeit im Allgemeinen und gegen Schillers realitätsfernen und unpolitischen Begriff der Freiheit im Besonderen Einspruch erhebt, entspricht genau der Absage an den geschichtslosen Begriff des ›guten Lebens‹ in Goethes Lebensregel. Und wie beim Gymnasiasten ergibt sich die Entschiedenheit der Ablehnung auch für den reifen Szondi aus dem – hier ungewöhnlich direkt formulierten – Bezug auf den Holocaust. Den unpolitischen Ideen der Klassik schreibt er »ein gerüttelt Maß Schuld« an der Politikferne zu, »die schließlich die Barbarei heraufführte«.26 Und Schillers zur Ideologie gewordener »Freiheitsreligion« hält er vor, sie habe zur verhängnisvollen Selbsttäuschung der assimilierten Juden beigetragen27, die sich in ihrem Schillerkult unter Absehung von der ungleichen gesellschaftlichen Realität als gleiche Deutsche hatten wähnen können.28
22 23 24 25
Ebd., S. 97. Ebd. Ebd. Peter Szondi: Interpretationsprobleme. Hölderlin: Feiertagshymne, Friedensfeier. In: ders.: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. v. Jean Bollack; Helen Stierlin. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 5. Frankfurt/M. 1975, S. 193−402, hier S. 330. 26 Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. In: ebd., S. 7−191, hier S. 139. 27 Peter Szondi: Der Fürstenmord, der nicht stattfand. Hölderlin und die Französische Revolution. In: ebd., S. 409−426, hier S. 422. 28 Zur Verehrung Schillers in den gebildeten jüdischen Kreisen vgl. Andreas B. Kilcher: Geteilte Freude. Schiller-Rezeption in der jüdischen Moderne. Mit einer Edition der hebräischen und jiddischen Übersetzungen der Ode An die Freude. München 2007.
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III. Literatur und Holocaust: Der Résistance-Dichter Vercors Dass die Hinwendung zum Thema Holocaust im Jahr 1947 eine grundsätzliche Bezugnahme bedeutet, belegt aber vor allem Szondis Quartalsarbeit aus dem Herbst desselben Jahres.29 Sie gilt Leben und Werk des RésistanceDichters Vercors (das ist Jean Bruller, 1902–1991). Hier handelt es sich nicht mehr nur um wenige handschriftliche Seiten aus einem Aufsatzheft, sondern um ein 26-seitiges, sorgfältig durchgearbeitetes Typoskript. Es ist sprachlich da und dort noch immer unsicher, besticht aber schon durch knappe und genaue Formulierungen, die den aphoristischen Einschlag des späteren Werks von Szondi ahnen lassen. Es glänzt durch textnahe, sehr akkurate und kluge Verweise und Deutungen. So findet sich bereits hier ein Hinweis auf Thornton Wilders dramaturgisches Konzept des ›Spielleiters‹, das in der Dissertation so wichtig werden wird. Außerdem tauchen schon in diesem Text Überlegungen zur Gattungstheorie auf, wie sie Szondi später so lieben wird, im Vergleich von Epik und Dramatik, aber auch im Vergleich von Vercors’ Erzählweise mit dem musikalischen Impressionismus eines Claude Debussy oder mit Richard Wagners Tristan und Isolde. Und der Text überrascht durch einen ausgeprägten persönlichen Standpunkt, der sich in nuancierter, unabhängiger, offener und unbefangener Urteilsfreude ausspricht – von schülerhafter Unselbstständigkeit ist hier fast nichts mehr zu spüren. Am verblüffendsten sind aber die Hinwendung zu gerade diesem Autor und die mit dieser Entscheidung verbundene Themenwahl als solche. Der Zeichner, Karikaturist und Autor Vercors gründete 1941 zusammen mit Pierre de Lescure im Untergrund die Éditions de Minuit, die in der Nachkriegszeit auch Samuel Beckett und Claude Simon verlegen sollten. Als erstes Buch publizierten sie 1942 klandestin Vercors’ unerbittlich gegen die deutsche Besatzung gerichtete Erzählung Le silence de la nuit. Vercors’ weitere, noch vor Kriegsende im Untergrund publizierte Erzählungen La marche à l’étoile (1943) und Le songe (1943) zeigen, wie früh die Themen des nationalsozialistischen Antisemitismus, der Deportation und der Vernichtungslager in der französischen Literatur präsent waren. Szondi las Vercors’ Bücher indes nicht in den Ausgaben der Éditions de Minuit, sondern in denen des vom Schweizer Diplomaten Francois Lachenal betriebenen Genfer Verlags Éditions des Trois Collines, der über seinen Ableger À la porte d’Ivoire (den Namen hatte Jean Starobinski erfunden) den Éditions de Minuit verbun-
29 Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1158, »Vercors«, Quartalsarbeit 1947. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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den war30. Szondis Französisch-Lehrer Fritz Hunziker hat in der Bewertung der Vercors-Arbeit31 angedeutet, Szondi habe auch durch eine private Verbindung Zugang zu Vercors’ Büchern gefunden. Es mag eine Begegnung in Crans-Montana gegeben haben, wo sich Szondis Familie und Vercors im Sommer 1947 aufgehalten haben.32 Denkbar ist auch, dass Peter Szondis Vater Leopold Szondi über den politisch engagierten Psychiater Oscar Forel, in dessen Klinik Les Rives de Prangins bei Nyon er 1945/46 arbeitete, einen Hinweis auf Vercors’ Werk erhalten hat. Wie auch immer, Szondi wählt sich jedenfalls zielsicher dasjenige Werk der Gegenwartsliteratur, das wie kein zweites in dieser Zeit auch für seine persönliche Erfahrung steht und mit dem sich die Themen der Okkupation, der Deportation, des Lagers und der Heimkehr aufgreifen lassen. Mehr noch als über Szondis Arbeit erschrickt man bei der Lektüre der vier Erzählungen Vercors’ ob der Fülle intimer Bezüge, die Szondi hier antraf und in denen er seinen eigenen Erlebnissen gleichsam ›begegnet‹ sein muss. Die Erzählung Le silence de la mer (Das Schweigen des Meeres)33 aus dem Jahr 1942 handelt vom kompromisslos ablehnenden Umgang einer französischen Familie mit einem deutschen Besatzungsoffizier – man weiß, dass es für Szondi später ein Grund zur Bedrückung war, durch einen Geldhandel mit der SS im Rahmen des Kasztner-Transports freigekauft worden zu sein. La marche à l’étoile (Der Stern der Verheißung)34 von 1943 erzählt die Geschichte eines nach dem Vorbild von Vercors’ ungarischem Vater geformten osteuropäisch-jüdischen Protagonisten, Thomas Müritz, in dessen Familie man wie in derjenigen Szondis slowakisch und ungarisch sprach. Dieser Thomas Müritz ist, wie es auch der leidenschaftliche Molière-Leser Szondi schon seit seiner Kindheit war, ein überzeugter Frankophiler. Als sein Cousin, der sich politisch zu einem überzeugten Antisemiten entwickelt hat, sich das Leben nimmt, nachdem er erfahren hat, dass er in Wahrheit jüdischer Herkunft ist, beschließt Müritz, nach Frankreich, ins Land der Freiheit, der Menschenrechte und des Universalismus auszuwandern. Er wird dort gut aufgenommen, wird ganz
30 Zu den Verbindungen des Genfer Verlegers und seiner Freunde Jean Starobinski und Albert Béguin mit der Résistance siehe: Francois Lachenal: Editions des Trois Collines: Genève – Paris. Paris 1995. 31 Nachlass Szondi im DLA; 88.1158. 32 Vercors’ Aufenthalt bezeugt ein Brief Karl Jaspers’ an Hannah Arendt vom 20. Juli 1947. In: Hannah Arendt; Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969. Hg. v. Lotte Köhler; Hans Saner. München 1985, S. 128–133, hier S. 132. 33 Vercors: Le silence de la mer. Paris 1942 (dt. Übersetzung erstmals 1945). 34 Vercors: La marche à l’étoile. Paris 1943 (dt. Übersetzung erstmals 1948).
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Franzose und ›opfert‹ (wie er selbst nie sagen würde, wie es aber zeitgenössisch hieß) seinen Sohn im Ersten Weltkrieg. Am Ende trägt jedoch auch er den gelben Stern und wird von einem Polizisten, den der Schriftsteller als einen jener typischen Franzosen schildert, die Müritz bis dahin so verehrt hat, erschossen. Es ist anzunehmen, dass Szondi diese Erzählung auch vor dem eigenen Lebenshintergrund las – wurde doch auch seine Magyarisierung durch den gelben Stern beendet. In dem Text spiegelt sich zudem auch sein seit jeher gehegter Wunsch, in Paris zu wohnen. In Le songe (Der Traum)35 aus dem Jahr 1943 zeichnet Vercors ein bedrückendes Bild davon, wie die Lagerrealität jegliche Menschlichkeit auflöst. Und die Erzählung Les armes de la nuit (Die Waffen der Nacht)36, die 1946 erschien und die Szondi mit frühem Feingefühl für Texte der Fremdheit als die schönste von Vercors bezeichnet hat, hat die versteinerte Einsamkeit eines aus dem Lager Heimgekehrten zum Thema, der sein Leben gerettet, die eigene Seele aber verloren hat, weil er als Funktionshäftling Leichen ins Feuer werfen musste, unter denen auch die eines seiner Freunde war. Szondi resümiert und analysiert Vercors’ Erzählungen meist in sachlichem, unpersönlichem Ton. Seine autobiographische Beteiligung dringt weniger explizit als vielmehr in den unausgesprochenen Akzentsetzungen durch. In der Betonung etwa, die er der Todessehnsucht aller Helden Vercors’ gibt, zeigt sich noch ein weiteres Thema, das ihn manchen Zeugnissen zufolge schon früh beschäftigt hat. Am deutlichsten aber wird die individuelle Involvierung Szondis in das Thema seines frühen Essays in den Gesichtspunkten, unter denen er die Handlungen diskutiert. Er überspringt in der inhaltlichen Diskussion manche Teile des Erzählhergangs, um das Ganze dafür umso entschiedener auf die moralische Conclusio hin zu raffen. Hier kommen sein Standpunkt und seine Urteilsfreude zum Tragen – und das in sehr bemerkenswerter Mischung. Szondi lobt das Werk Vercors’, weil es sich so stark von dem unterscheidet, was der Gymnasiast den ›Schund‹ vieler zeitgenössischer Auseinandersetzungen mit dem Holocaust nennt. Vercors habe eben eine Novelle und nicht bloß eine ›Propagandaschrift‹ verfasst.37 Was seine Beschreibung der Lagerrealität aus denen anderer heraushebe, sei »nicht nur sein glänzender Stil (wie dies auch der Fall ist in [Ernst] Wiecherts Totenwald), sondern auch der Umstand, dass bei Vercors diese Beschreibung kein Ziel ist, sondern
35 Vercors: Le songe. Paris 1943 (dt. Übersetzung erstmals 1948). 36 Vercors: Les armes de la nuit. Paris 1946 (dt. Übersetzung erstmals 1949). 37 Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1158. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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eigentlich bloss ein Mittel zu seinem Ziel.«38 Vercors versuche den Leser aus dem »plombierten Wagen« (eine Formulierung von Vercors selbst) der teilnahmslos zusehenden Alltagserfahrung zu befreien und ihn »das Schicksal seiner Menschenbrüder […] miterleben« zu lassen.39 Beim teilnahmslosen Zusehen habe nämlich der »weitaus grössere Teil der Menschheit«40 Schuld auf sich geladen als beim Mittun. Aber Szondi lobt Vercors nicht nur, sondern er kritisiert ihn zugleich. Anders als der wahrhaft humanistische Romain Rolland sei Vercors vom Patriotismus geblendet, habe mitunter eine »völlig ungerechte und intolerante Haltung«41 und vergesse ob seiner Liebe zu Frankreich »seine Pflichten der gesamten Menschheit gegenüber«42. Seine Bücher, so Szondis Einspruch, wimmelten in ihrem Deutschenhass von Sätzen, die »an den Pranger und nicht ins Buch eines sog. Antifascisten gehören«.43 Diese Mischung aus Lob und Tadel ist aufs Ganze gesehen gewiss ein frühes Beispiel von Szondis deutlicher und nuancierter Urteilsfreude. Doch seine Unbefangenheit mischt sich zu diesem Zeitpunkt noch mit einer bemerkenswerten Befangenheit. Szondi macht hier den Holocaust zwar zum Thema, aber er wehrt die damit verbundene Erkenntnis zugleich durch einen eigenartigen Vergleich ab. Zumindest dämpft er die unmittelbare Wucht der Einsicht, wenn er etwa zu Vercors’ Lager-›Traum‹ schreibt: »Er muss jetzt [im Jahr 1947; A. I.] nicht mehr beschrieben werden. Damals, 1943, hatte er eine gewisse Aktualität, war neu […]. Jetzt wissen wir es, was jenseits unserer Grenzen geschah, geschehen konnte; wir wissen es von den vielen ›Tatsachenberichten‹, ›Dokumentarfilmen‹.«44 Vercors’ Werk gehöre allerdings nicht zu jenen Texten, in denen »Journalisten vielleicht allzu eifrig […] der sensationsdurstigen Menschheit des XX. Jahrhunderts statt Kriminalroman und Karl May«45 die Schrecken der vergangenen Dekaden darböten und in Bezug auf welche Szondi nun die rhetorische Frage stellt: »Ist es nicht schade für das Papier und für das Zelluloid und für das Geld?!«46 Szondi wählt also zwar das Thema Holocaust, distanziert sich aber zugleich von bestimmten Formen von dessen Repräsentation, die er für kritikwürdig hält. Und er tut es, indem er sich mit der Formulierung »unsere Grenzen« als Schweizer darstellt. 38 39 40 41 42 43 44 45 46
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Später, im Jahre 1966, wird er einmal, als ihm ein ähnliches kollektives ›uns‹ unterläuft, sagen: »ein trauriges ›uns‹ in meinem Mund«.47 Zugleich kann man sich heute fragen, ob Szondi, der von Bergen-Belsen den für das System der Nazi-Konzentrationslager insgesamt nicht repräsentativen Ausschnitt des sogenannten ›Ungarn-Lagers‹ kannte, damals selbst wusste, was ›jenseits der Grenzen‹ geschehen war. Gegen Vercors’ Deutschenhass führt er das folgende, wenig überzeugende Argument an: Höre ich von Österreichern – und ich höre es, so oft ich danach frage – dass die französische Besatzungsarmee an den deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen genau dieselben Methoden anwendet, wie einst die SS in den Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern bei Dachau, Buchenwald usw., so muss ich […] sagen: er hat kein Recht darauf zu schreiben – wenn er von den Deutschen spricht –: vous que je ne veux pas appeler mes semblables.48
Diesen Satz hätte Szondi später gewiss nicht mehr unterschrieben. Er geht über die Kritik einer patriotisch verblendeten, ungerechtfertigten Entgegensetzung von Franzosen und Deutschen weit hinaus. Er vertritt, aufgrund von on-dits von Bekannten, die Meinung, die französische Besatzungsarmee wende die gleichen Methoden an wie die SS und deshalb müsse Vercors die Deutschen sehr wohl als »semblables«, als ähnlich, gleichartig ansehen.
IV. ›Sozialer Humanismus‹, die Historizität historischer Formen und die Heimatlosigkeit Wir wissen nicht, wann genau Szondis Auffassungen über den Holocaust und über Fragen von dessen Darstellbarkeit intellektuell ausbalancierter geworden sind. Zwar bleibt die Ermordung der europäischen Juden für Szondis Denken und Handeln weiterhin entscheidend; dabei blitzt sie nicht selten in Briefen und politischen Stellungsnahmen auf und steht auch hinter dem 1962 gefassten und lange aufgeschobenen Plan, über Paul Celans Engführung zu schreiben49; aber als Szondi nach einem Jahr, aus dem keine Texte überliefert sind (1948) – vielleicht wäre das aus dem Nachlass verschwundene Romanfragment in dieses Jahr zu datieren – 1949 weiterschreibt, taucht das Ereignis des Holocaust nicht mehr explizit auf. Als ausdrückliches Thema wird 47 Peter Szondi: Brief an Albrecht Schöne vom 15. Juli 1966. In: ders.: Briefe. Hg. v. Christoph König; Thomas Sparr. Frankfurt/M. 1993, S. 193−200, hier S. 197. 48 Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1158. 49 Vgl. Peter Szondi: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts [frz. 1971]. In: Szondi: Schriften 2 (wie Anm. 5), S. 345−389. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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er bei Szondi nur noch im Jahr 1967 in der Rezension der Reden von Eugen Gerstenmaier und Karl Jaspers auftauchen.50 Szondi hat in der Zwischenzeit Monsieur Teste von Paul Valéry und Thomas Manns Doktor Faustus (den »Roman meiner Epoche«, wie es in der Entstehung des Doktor Faustus heißt51) gelesen und damit nach Vercors die Bekanntschaft zweier weiterer Zeitdiagnostiker der Nachkriegszeit gemacht. Er wird 1947 auf einer Reise nach Ungarn – es bleibt seine einzige Rückkehr nach Budapest – von Ivan Nagel auf Georg Lukács hingewiesen, der aber ohnehin zur kulturellen Mitgift von Szondis Mutter Lili Szondi-Radványi gehört hat. Er hat im September 1948 das Gymnasium mit der Matura abgeschlossen und im Wintersemester 1948/49 an der Universität Zürich das Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie aufgenommen – um seinen zwanzigsten Geburtstag im Mai 1949 ist Szondi ein anderer geworden, aber manches bleibt aus seiner Vercors-Zeit erhalten oder verstärkt sich sogar. Was ist geblieben, was ist neu an den Texten, die Szondi in dieser Zeit schreibt? Geblieben ist und intensiviert hat sich eine oft zur Polemik zuspitzende, klare Unterscheidungen suchende (»Unterschiedenes ist gut«52), in jedem Fall entschiedene Urteilskraft. In zwei Theaterkritiken aus dem Jahr 1949, den ersten Texten, die Szondi überhaupt veröffentlicht hat53, lebt sie sich aus in keck herausfordernden jugendlichen Frechheiten und im Florettfechten eines in kurzen Sätzen rasch touchierenden Stils, wie ihn Szondi später nie wieder schreiben wird. In einem Fragment gebliebenen Text über Camus’ La peste (1949) bekennt sich Szondi in einer polemischen Formulierung zu einer »eindeutigen, fanatischen und kategorischen Antwort«54 auf das antihumanistische Denken der Existentialisten. Mit dieser Abgrenzung geht der zweite Aspekt einher, der sich im Schreiben Szondis erhalten hat: Die Argumentation im Namen eines Humanismus, den er auch ›sozialen Humanismus‹ nennt.55 Er verschärft damit seine Kri50 Peter Szondi: Deutsche und Juden. In: ders.: Über eine »Freie (d. h. freie) Universität«. Stellungnahmen eines Philologen. Aus dem Nachlass hg. v. Jean Bollack u. a. Frankfurt/M. 1973, S. 63−67. 51 Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. In: ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe − Tagebücher. Hg. v. Heinrich Detering u. a. Bd. 19.1. Frankfurt/M. 2009, S. 409−585, hier S. 435. 52 Szondi: Hölderlin-Studien (wie Anm. 6), S. 262. Bei diesem Motto des Buches handelt es sich um ein Hölderlin-Zitat. 53 Peter Szondi: Quant aux hommes…»Les mains sales« [1949]. In: Szondi: Schriften 2 (wie Anm. 5), S. 410–413. Und: Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1178 (= psz.: Schauspielhäusliche Disproportionen, Zürcher Student 1949, S. 40–43). 54 Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1143. 55 Den Begriff ›sozialer Humanismus‹ verwendet Szondi in seinem Text über Camus’ Die Pest, Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1143.
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tik an Vercors und seine Parteinahme für Romain Rolland, verleiht seinen Stellungnahmen aber zugleich einen vollkommen neuen Akzent. Richtete er sich in der Arbeit über Vercors gegen den Partikularismus des Patrioten, so argumentiert er nun gegen die Geschichtslosigkeit des Existentialismus. Der Humanismus, wie Szondi ihn in dieser Phase vertritt, ist dem ›Werden‹, der Existentialismus dagegen dem ›Sein‹ verpflichtet. Damit findet Szondi – nach der Bezugnahme auf den Holocaust – die zweite für sein Schreiben lebenslang prägende Orientierung: Von nun an wird es ihm in seinen Arbeiten stets um Geschichtserfahrungen und Geschichtserinnerung gehen. Man kann von einem zweiten Kernmotiv Szondis sprechen, das in allen seinen Werken – mit der sehr befremdlichen Ausnahme des Versuchs über das Tragische56 – erkennbar wird: Er verfolgt in einer immer präziseren Theoriesprache den Versuch einer Entzifferung der Historizität ästhetischer Formen. Den ersten, eindrücklichen Entwurf dieses geschichtsphilosophischen Lesens bildet die wohl noch im selben Jahr 1949 begonnene erste Seminararbeit Szondis.57 Er schreibt sie in einem Seminar von Emil Staiger, ihr Thema gilt dem Roman Ahnung und Gegenwart von Joseph von Eichendorff, den dieser 1812 vollendete, der aber erst drei Jahre später erschien.58 Auch dieser Text Szondis setzt, wenn auch wissenschaftlich kühler formuliert, die Polemik des urteilenden Stils fort, und auch hier argumentiert der junge Student mit einer deutlich herausgestellten Orientierung auf die Geschichte. Staiger selbst hat 1939 in Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters59 Abschied von der Geistesgeschichte genommen, die er in seiner für Szondi wichtigen Habilitationsschrift Der Geist der Liebe und das Schicksal60 1935 selber noch vertreten hatte. Und zusammen mit Theophil Spoerri hat Staiger 1942 in das programmatische Vorwort ihres gemeinsamen Sprachrohrs, der Zeitschrift Trivium, den apodiktischen Satz hineingeschrieben: »Literaturwissenschaft ist Philologie und nicht Geschichte.«61 Dieser Absage stellt sich Szondi klar entgegen: Er betreibt programmatisch Geistesgeschichte und bezieht dabei in einer Polemik, die er auf allen ersten Seiten seiner Seminararbeiten 56 Peter Szondi: Versuch über das Tragische [1961]. In: Szondi: Schriften 1 (wie Anm. 6), S. 149−260. 57 Peter Szondi: Eichendorffs »Ahnung und Gegenwart«. Ein Roman der Romantik (Typoskript, 32 Bl.), in: Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1147. 58 Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Ein Roman [1815]. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. a. Bd. 2. Frankfurt/M. 1985, S. 53–382. 59 Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters: Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Zürich; Leipzig 1939. 60 Emil Staiger: Der Geist der Liebe und das Schicksal: Schelling, Hegel und Hölderlin. Frauenfeld; Leipzig 1935. 61 Theophil Spoerri; Emil Staiger: Vorwort. In: Trivium 1 (1942), S.1−3, hier S. 2. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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weiterführen und entfalten wird, von Anfang an Stellung gegen seine beiden hochverehrten Zürcher Lehrer. Er schließt Eichendorffs Roman an die Epochendiagnose an, für die er seit der Polemik gegen Atomwaffen in seinen Schüleraufsätzen und durch die Vercors-Arbeit hindurch ein Faible hat. Er liest ihn vor diesem Hintergrund als Form gewordene moderne Heimatlosigkeit, als Ausdruck einer Zeit, die »in vielem […] die unsrige« ist, und erkennt in dem romantischen Text ein Problem, das »bis auf den heutigen Tag aktuell« geblieben ist.62 Szondi will ihn »aus der grossen geistigen Entwicklung der letzten drei Jahrhunderte […] begreifen« und setzt sich dabei explizit von der geschichtslosen Lesart des für seine Lehrer so wichtigen Existentialismus ab, der »die in den letzen Jahrhunderten historisch entstandene Vereinsamung des Menschen« (hier hört man bereits das Thema seiner Dissertation heraus) »als eine ontische statuiert und damit akzeptiert«.63 Mit dem Thema der Vereinsamung spricht Szondi bereits in der Eichendorff-Arbeit ein drittes Lebensthema an, das ihn durch viele seiner späteren Studien begleiten wird: Fremdheit und Heimatlosigkeit werden zumal in seinen Benjamin- und Hölderlin-Aufsätzen zentral. Man wird nicht fehlgehen, wenn man auch hier, wie schon in der Vercors-Arbeit, autobiographische Bezüge entdeckt. Sich selbst nennt Szondi später etwa eine »self displaced person«64, er beschreibt sich als einen Menschen, der seit seiner Budapester Kindheit mit den Fragen einer problematischen Zugehörigkeit des Nirgendwo-zu-Hause-Seins umzugehen hat. Szondi reist zu dieser Zeit mit dem Pass eines Staatenlosen. Er hat das Nichtdazugehören schon in einem Schulaufsatz am Beispiel Heinrich Heines beschrieben. 1949, also in demselben Jahr, in dem die Eichendorff-Arbeit entstanden ist, verfasst er ferner einen literarischen Text, in dem der Erzähler sein Leben als »Gastspiel« ohne »festes Engagement« beschreibt.65 Die hier einmal mehr anklingende Außenseiterperspektive wird Szondi bald in den Formulierungen eines seiner Lieblingsbücher wieder finden, in Günther Anders’ Kafka. Pro und Contra66 von 1951, so beispielsweise in der Metapher über das Leben, das »höchstens ein Antichambrieren«67 sei. Das explizit Autobiographische ist freilich schon seit der EichendorffArbeit aus Szondis Schreiben verschwunden. Immerhin setzt der junge Stu62 Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1147. 63 Ebd. 64 Peter Szondi: Brief an Gershom Scholem vom 3. Mai 1969. In: Szondi: Briefe (wie Anm. 47), S. 266 f., hier S. 267. 65 Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1252/1, »Das Gastspiel«. 66 Günther Anders: Kafka. Pro und Contra. Die Prozeß-Unterlagen. München 1951. 67 Ebd., S. 21.
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dent das ihm gewiss nicht unvertraute »Wir sehnen uns nach Hause / Und wissen nicht – wohin?«68 als Motto über die Seminararbeit. Und er liest den Roman im Hinblick auf Eichendorff biographisch. Das Heimweh-Motiv sei für diesen »nicht nur eine geistig-dichterische, sondern auch eine biographische Realität«69 gewesen, Eichendorff sei durch »sein Fernsein von der Stätte der Kindheit […] wie kein anderer prädestiniert [gewesen], die geistige Situation seiner Zeit in einer gültigen Weise zu formulieren«70. Aber was Szondi im Kern interessiert, ist gar nicht »die Weltanschauung des Dichters«; den Roman Ahnung und Gegenwart liest er nicht als »Traktat«, sondern »von einem mehr romantheoretisch und -technisch interessierten Standpunkt aus«.71 Er möchte auf diese Weise »mehr die formalen denn die stofflichen Elemente in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung beleuchten«72, und insofern ist seine Lektüre auch ein Versuch, aufzuzeigen, wie weit die Geschichte »an der Formwerdung« beteiligt ist »und so im Kunstwerk undargestellt dennoch vorhanden ist«73.
V. Die Reifung zum Textgelehrten Peter Szondi ist mit gerade einmal zwanzig Jahren unterwegs zu einem vierten dauerhaften Bezugspunkt seines Denkens, zu seiner berühmten Formulierung von 1962, »daß einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt.«74 Er ist unterwegs auch zur metaphorischen Denkfigur von der ›Form als niedergeschlagenem Inhalt‹, die er bei Adorno entleihen und von der gleich noch genauer die Rede sein wird. Szondi hat seit der Vercors-Arbeit, die 1949 nur zwei Jahre zurückliegt, auf unglaublich schnelle Weise an intellektueller Selbstgewissheit und somit Statur gewonnen. Sein Denkstil hat nun etwas, sit venia verbo, Genialisch-Expansives. Er konfrontiert den Eichendorff-Roman mit der ganzen Fülle seiner romantheoretischen Lesefrüchte; er bettet ihn in die Geschichte 68 Joseph von Eichendorff: ›Der Pilger‹. In: ders.: Werke. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. a. Bd. 1. Gedichte, Versepen. Hg. v. Hartwig Schultz. Frankfurt/M. 1987, S. 377. Von Szondi zitiert in: Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1147. 69 Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1147. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd. Hervorhebung im Orig. 74 Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis [1962]. In: Szondi: Schriften 1 (wie Anm. 6), S. 263−286, hier S. 275. Hervorhebung im Orig. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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des Entwicklungsromans ein, vergleicht ihn mit Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen; er führt seine daran anschließenden Reflexionen zum modernen Roman mit jugendlichem Überschwang weiter über Stendhal und Thomas Mann bis zu James Joyce und Marcel Proust sowie darüber hinaus bis zur poésie pure. Er gelangt zu präzisen Einsichten in die ästhetische Faktur des Romans. Und er bindet ihn, mit bisweilen etwas undeutlich bleibenden theoretischen Koordinaten, immer wieder zurück an die ihm so wichtige Epochendiagnose. Mit Verweis auf Adorno, auf den österreichischen Kunsthistoriker Hans Sedlmayr und den russischen Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew vergleicht er den Roman mit Arnold Schönbergs Musik und Pablo Picassos Kubismus und ordnet ihn dem Thema »der Auflösung des menschlichen Bildes«75 in der Moderne zu. Es zeigt den verborgenen intellektuellen Stolz Szondis, dass er als reifer Gelehrter noch zwei Mal auf seinen wissenschaftlichen Erstling zurückgreifen sollte. Er erwog es, Eichendorffs Roman zum Gegenstand seines Habilitationskolloquiums zu machen, entschied sich dann aber für den Vergleich des Amphitryon-Stoffes in den Bearbeitungen von Molière und Heinrich von Kleist.76 Und er schlug Anfang der 1960er Jahre Rudolf Hirsch vom Insel-Verlag vor, den Eichendorff-Aufsatz in die Essaysammlung Satz und Gegensatz77 aufzunehmen. Dazu kam es nicht, denn dem Text und seinem expansiven Gestus des Suchens im Ganzen fehlte noch die später zur Regel werdende Genauigkeit, die sich Szondi etwa seit dem Jahr 1950 durch ein genaues Studium von Adornos im Vorjahr erschienener Philosophie der neuen Musik und der Hegel’schen Ästhetik angeeignet hat. Aus diesem Jahr liegen keine überlieferten schriftlichen Zeugnisse Szondis vor. Aber man kann an der intellektuellen Explosion des Jahres 1951 trotzdem sehen, welchen umwälzenden Eindruck vor allem die Lektüre der Philosophie der neuen Musik auf ihn gemacht haben muss. Vier Arbeiten schreibt Szondi im Jahr 1951, in drei von ihnen hat er emphatische Bezüge auf die Philosophie der neuen Musik eingetragen. Über die erste, eine Hausarbeit bei Max Wehrli über Das mittelalterliche geistliche Spiel und das Problem des epischen Theaters78, setzt er den Satz Adornos: »Die 75 Szondi zitiert die Formulierung aus Nikolaus Berdjajew: Der Sinn der Geschichte. Versuch einer Philosophie des Menschengeschicks. Darmstadt 1925. Berdjajew behandelt das Thema im Kapitel ›Das Ende der Renaissance und die Krisis des Humanismus. Die Auflösung des menschlichen Bildes‹, ebd., S. 233–254. 76 Vgl. Peter Szondi: Amphitryon. Kleists »Lustspiel nach Molière« [1961]. In: Szondi: Schriften 2 (wie Anm. 5), S. 155–169. 77 Peter Szondi: Satz und Gegensatz. Sechs Essays. Frankfurt/M. 1964. 78 Szondi: Das mittelalterliche geistliche Spiel und das Problem des epischen Theaters (wie Anm. 9).
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Formen der Kunst verzeichnen die Geschichte der Menschheit gerechter als die Dokumente.«79 Im zweiten Manuskript, es handelt sich hierbei um für ein Spoerri-Seminar verfasste Kritische Bemerkungen zu Heideggers Aufsatz: »Der Ursprung des Kunstwerks«80, nimmt er Bezug auf die Philosophie der modernen Musik und ergreift in polemischen Worten Partei für die Dialektik Adornos und gegen Martin Heideggers »unmenschliches« Denken. Auch diese Entscheidung war somit früh getroffen – er wird sie stets beibehalten und nach der Berliner Tagung der Hölderlin-Gesellschaft von 1963 mit Amüsement berichten, dass ihm ein Professor der Freien Universität für seine Verteidigung von Adornos Attacke auf Heidegger im Gespräch gar Ohrfeigen angedroht habe.81 In der dritten Arbeit, einem wiederum bei Spoerri verfassten Seminarvortrag Zeit und Raum in der Lyrik Apollinaires82, zitiert er auf der ersten Seite Hegels Satz, man habe es bei der Kunst nicht mit einem »bloss angenehmen oder nützlichen Spielwerk« zu tun, sondern mit einer »Entfaltung der Wahrheit«.83 Dieser Satz aus der Ästhetik, den Szondi auf der ersten Seite einer weiteren, später verfassten Spoerri-Arbeit gleich noch einmal zitieren wird84, ist zugleich eine Hommage an Adorno, der ihn als Motto über die Einleitung der Philosophie der neuen Musik gesetzt hat.85 Es ist aus heutiger Sicht leicht einzusehen, warum gerade dieses Buch Adornos einen so entscheidenden Eindruck auf den jungen Szondi macht. Im Umkreis der Seiten, auf die er sich bezieht – und er bezieht sich stets nur auf wenige Seiten – fügen sich alle Motive zusammen, die für Szondi seit seinen literarischen Anfängen Bedeutung haben. Und sie kommen dabei auf eine Art und Weise zusammen, dass sich daraus der Ton einer eigenen Theoriesprache herauskristallisiert, die Szondi kurz darauf selber sprechen und die er beibehalten wird, bis sich gegen Ende seines Lebens durch die Lektüre Roman Jakobsons und Jacques Derridas eine erneute intellektuelle Wende abzeichnet. Adorno führt in diesem Buch, das er einen »ausgeführte[n] Exkurs zur ›Dialektik der Aufklärung‹«86 nennt, Zeitdiagnose und Form79 Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik [1949]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 12. Frankfurt/M. 1975, S. 47. 80 Peter Szondi: Kritische Bemerkungen zu Heideggers Aufsatz: »Der Ursprung des Kunstwerks«. Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1151. 81 Mündliche Mitteilung von Prof. Dr. Bernhard Böschenstein. 82 Peter Szondi: Zeit und Raum in der Lyrik Apollinaires. Seminarvortrag, November 1951. Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1171. 83 Ebd. 84 Peter Szondi: Die defizienten Formen der Begegnung im modernen Theater. Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1146. 85 Adorno 1975 (wie Anm. 79), S. 13. 86 Ebd., S. 11. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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analyse zusammen. Sein Buch umkreist Einsamkeit, Angst und Ohnmacht und spricht in einer neuen, unverstellten Weise vom »grenzenlosen Leid, das über die Menschen hereinbrach« in der »jüngste[n] Phase« der Vergangenheit, ein Leid, das »durch seine reale Gewalt die Darstellung im Bilde fast ausschließt«.87 Aber »was sonst vergessen ist und unmittelbar nicht mehr zu reden vermag«88, hat dennoch seinen Ort. Es »überlebt« in den Formen der radikalen Musik Arnold Schönbergs, die wie »[a]lle Formen der Musik […] niedergeschlagene Inhalte«89 sind. Adorno deutet die »Narben« und »Kleckse« der Form als Zeichen, die das »reale Leid […] im Kunstwerk zurückgelassen« habe, »so wenig wegzuwischen […] wie Blutspuren im Märchen«.90 Das ist der Zusammenhang, in dem die Wendung von der Form als ›niedergeschlagenem Inhalt‹ zuerst begegnet, von der Szondi einen so weitgehenden – sowohl auf die Form als auch auf den Inhalt bezogenen – dialektischen und geschichtsphilosophischen Gebrauch machen wird. Das ist der Zusammenhang, in den Adornos von Szondi zum Motto gemachter Satz gehört, die Formen der Kunst verzeichneten die Geschichte der Menschen gerechter als die Dokumente des Archivs – es war dabei keine beliebige Geschichte, die Szondi im Auge hatte, als ihn dieser Satz traf. Hierher gehört auch das Pathos von Szondis gleich doppelt bei Adorno geborgtem Hegel-Motto, die Kunst sei kein Spielwerk, sondern eine Entfaltung der Wahrheit. Das nötige den Philologen – so erklärt Szondi in der Apollinaire-Arbeit seinen geschichtsskeptischen Zürcher Lehrern –, über die Philologie hinaus und zur Frage nach der Zeiterfahrung und der historischen Situation fortzuschreiten. Nach der Adorno-Rezeption von 1950 tritt im Jahr 1951 an die Stelle des gerade noch fast fieberhaft suchenden Studenten der Eichendorff-Arbeit der auch jetzt erst 22-jährige Gelehrte Peter Szondi, wie wir ihn aus seinen später publizierten Büchern kennen. In den handschriftlichen Notizen zur Arbeit über das mittelalterliche geistliche Spiel (sie stammen wohl aus der Pariser Zeit des Wintersemesters 1950/51) gehen manchmal die Bezüge auf Heidegger und Sedlmayr sowie die auf Adorno und Lukács noch kunterbunt durcheinander. Aber im Heidegger-Text aus dem Sommersemester 1951 ist, in manchmal noch recht verwinkelten Argumenten, die Klärung vollzogen; Heidegger und Adorno sind als antagonistische Kontrahenten erkannt. Es mag sein, dass das erste der Darmstädter Gespräche, bei dem sich im Herbst 1950 Adorno und Sedlmayr zum Thema Menschenbild gegenüberstanden, dazu beigetragen hat, diese Klärung herbeizuführen. Noch im Sommer 1951 87 88 89 90
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Ebd., S. 23. Ebd., S. 47. Ebd. Ebd., S. 44.
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hat Szondi an dem Fragment Das Drama gearbeitet; es ist weitgehend textidentisch mit dem später berühmt gewordenen gleichnamigen Kapitel seiner Theorie des modernen Dramas: Peter Szondi ist bei seinem Thema angekommen. Im Herbst 1951 ist er ein ›Textgelehrter‹ und schreibt aus dem damit verbundenen Selbstbewusstsein seine beiden ersten vollkommen reifen wissenschaftlichen Texte – es sind die frühesten, die er publizieren wird, einen in der Neuen Zürcher Zeitung, den anderen in der Neuen Rundschau.91 Der Apollinaire-Text Szondis arbeitet zum ersten Mal mit der bei Adorno gelernten Form-Inhalt-Dialektik und wendet sie sogleich virtuos auf die moderne Lyrik an. Dabei ist der Aufsatz nicht weniger als der ältere Bruder des späten Essays über Paul Celans Gedicht Engführung. In beiden Texten vollzieht der Leser und Autor Szondi, was er eigentlich immer schon getan hat und weiterhin tut, auch in der Dissertation und in den darauffolgenden Hölderlin-Studien: Er befasst sich mit Untergängen, Übergängen, Zwischenzeiten, und er betrachtet diese vor dem Hintergrund autobiographischer Implikationen, die ihn als Person mit seinen Themen verbinden, aber nicht explizit gemacht werden. Hier, bei Apollinaire, untersucht Szondi in erster Linie einen epochalen stilistischen Umbruch, den Umbruch von der »traditionelle[n] Dichtung«, die dem Sukzessionsprinzip folgt, zu einer, in der die Selbstentfremdung »zur Form selbst sich niederschlägt«92, genauer: zu einer räumlichen Form, die dem Simultanprinzip folgt. In Celans Gedicht untersucht er später den Umbruch von der »traditionellen hermetischen Sprache« zu einer »musikalischen Komposition«, vor der »die traditionelle Sprache der Textauslegung« versagt.93 Auch der andere Text, den er Versuch über Thomas Mann94 nennt, gilt einem Umschlag, einer ›Wende‹, hier der Wende im Werk Manns vom Gegensatz zwischen Geist und Natur zu deren Versöhnung. Vor allem erfüllt der Text ein zweites Reife-Kriterium: Er ist das früheste Beispiel für die theoretische Konzentration und Geschlossenheit, durch die sich so viele Texte Szondis auszeichnen, und beleuchtet aus einem einzigen scharf gesehenen Grundtheorem die Ablauflogik eines ganzen Werks. 91 In der Neuen Zürcher Zeitung publiziert Szondi am 3.6.1956 leicht überarbeitet einen Teil seiner Apollinaire-Arbeit von 1951 (Nachlass Szondi im DLA; 88.9.1171). Siehe Peter Szondi: »Zone«. Marginalien zu einem Gedicht Apollinaires. In: Szondi: Schriften 2 (wie Anm. 5), S. 414−422. In der Neuen Rundschau erscheint 1956 (67. Jg., 4. H., S. 557–563) der 1951 verfasste Versuch über Thomas Mann. Er fand unter dem Titel Thomas Manns Gnadenmär von Narziß Eingang in Szondis Essay-Sammlung Satz und Gegensatz (wie Anm. 77). Siehe Szondi: Schriften 2 (wie Anm. 5), S. 235–242. 92 Szondi: »Zone« (wie Anm. 91), S. 417. 93 Szondi: Durch die Enge geführt (wie Anm. 49), S. 360, 363, 368. 94 Vgl. Anm. 91. Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann
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VI. ›Alles Frühere aufgehoben‹ Nun hat der junge Szondi alles beisammen, was er weiterhin benötigen wird: die biographisch gefärbte Zeitdiagnostik, den genauen Blick auf die Geschichte, die Thematik der Einsamkeit und Fremdheit und – am wichtigsten – die historische Formsemantik, die es ihm erlaubt, von allen seinen Themen in Gestalt streng philologischer Analysen reden zu können, ohne die Zeitdiagnose, die doch alles im Inneren trägt, direkt ansprechen zu müssen. Im Jahr 1953 verfasst er, mit diesen Axiomen und Überzeugungen versehen, wiederum in einer Hausarbeit für den Lehrer Spoerri, gleichsam den Grundriss zur späteren Dissertation. Auf lediglich 13 Seiten sind nun deren Grundthese, ihr weiter literaturhistorischer und komparatistischer Bezug auf Henrik Ibsen, Maurice Maeterlinck und Anton Tschechow sowie viele später wörtlich übernommene Formulierungen vorhanden. Der Text enthält sogar danach wieder getilgte Hinweise auf die neueste dramatische Aktualität: Szondi hat den im Oktober 1952 erschienenen Text Warten auf Godot von Samuel Beckett bereits ebenso eingearbeitet wie das erst als Bühnenmanuskript vorliegende Stück Der Blinde von Friedrich Dürrenmatt. Etwas mehr als fünf Jahre nach den ersten Arbeiten des Gymnasiasten steht nun also der uns bekannte literarische Gelehrte vor uns. Und er hat, um es mit der Wendung zu sagen, die ihm lieb war, alles Frühere aufgehoben.
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RE SP ONDENZ
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Der letzte Textgelehrte Bemerkungen zu Peter Szondi
I. Der am 27. Mai 1929 in Budapest geborene Peter Szondi ist mit großem Abstand der Jüngste unter den in diesem Band behandelten Textgelehrten im Umkreis der Kritischen Theorie: Er ist etwa zwei Generationen – nahezu ein halbes Jahrhundert – jünger als die 1885 geborenen Denker Georg Lukács und Ernst Bloch und immerhin noch eine Generation jünger als der 1903 geborene Theodor W. Adorno. Hätte Szondi nicht, vermutlich am 18. Oktober 1971, nur 42 Jahre alt, im Berliner Halensee Suizid begangen, so könnte er – wie etwa der nur wenige Wochen jüngere Jürgen Habermas, den er im Januar 1962 in Heidelberg kennen lernte1 – noch immer ein Denker unserer Gegenwart sein. Der frühe Tod aber hat ihn nicht zu einem alten Mann werden lassen. Dennoch: Wir lesen das wissenschaftliche Werk Szondis, das innerhalb von gerade einmal zwei Jahrzehnten, von den frühen 1950er Jahren bis zum Beginn der 1970er Jahre, entstand, nicht als das Werk eines Unvollendeten, sondern als ein gleichsam klassisches Œuvre der Literaturwissenschaft. Und das Bild, das wir uns heute von Szondi machen, ist nicht das eines suchenden Adoleszenten, sondern das eines jungen Wissenschaftlers, der spätestens seit Beginn der 1960er Jahre, also seit seiner Habilitation an der Freien Universität Berlin 1961, zielgerichtet, wenn auch nicht ohne Rückschläge2, an seiner Karriere im 1 Vgl. Peter Szondi: Brief an Theodor W. Adorno vom 17. Januar 1962. In: ders.: Briefe. Hg. v. Christoph König; Thomas Sparr. Frankfurt/M. 1993, S. 122 f., hier S. 123. – Das Verhältnis von Szondi zu Habermas und die Bedeutung beider für die Weiterentwicklung der Kritischen Theorie, gerade im Bereich der Ästhetik und Kulturkritik, wären einer genaueren Untersuchung wert. 2 Äußerst kontrovers wird das Scheitern der von Adorno massiv unterstützten Bewerbung Szondis 1964 an der Universität Frankfurt am Main bewertet. Offensichtlich kam ein Bündel von Gründen zusammen: Szondis publizistisches Eintreten für Paul Celan in der ›GollAffäre‹ (aktuell gegen den Kritiker Hans Egon Holthusen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung [FAZ]); unausgesprochene Vorbehalte gegen seine jüdische Zugehörigkeit bei Bemerkungen zu Peter Szondi
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Wissenschafts- und Kulturbetrieb arbeitete, die nach einer Reihe prominenter Gast- und Vertretungsprofessuren in Berlin, Heidelberg, Göttingen und Princeton 1965 mit der Ernennung zum Ordinarius für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der FU Berlin ihr vorläufiges Ziel erreichte; es folgten 1968 eine Gastprofessur an der Hebräischen Universität in Jerusalem, 1970 die Ablehnung von Scholems Vorschlag, dort den Lehrstuhl der verstorbenen Lea Goldberg zu übernehmen3, im selben Jahr ein nicht angenommener Ruf an die neu gegründete Ruhr-Universität Bochum und im Juli 1971 – wenige Monate vor seinem Tod – der Ruf auf ein Ordinariat an der Universität Zürich, den Szondi zum Sommersemester 1972 annehmen wollte.4 Szondi erscheint im Rückblick in den mehr als sechs Jahren seiner Berliner Professorentätigkeit als ein umsichtiger Leiter des von ihm begründeten und heute nach ihm benannten, hoch angesehenen komparatistischen Instituts, als ein verantwortungsvoller akademischer Lehrer und Doktorvater und als ein klar denkender und unerschrockener Universitätspolitiker in den schwierigen Zeiten der Studentenbewegung, die an der FU Berlin eines ihrer Zentren hatte.5 Mitgliedern der Berufungskommission, von denen einige (Heinz Otto Burger, Paul Stöcklein) selbst eine nationalsozialistische Vergangenheit hatten; das alles verbunden mit der Abwehrhaltung der Frankfurter Germanisten gegenüber dem zunehmenden Einfluss Adornos und des Instituts für Sozialforschung auf die Geisteswissenschaften der Universität (Adorno hatte auch den erst kurz zuvor aus Heidelberg berufenen Jürgen Habermas in die Kommission geholt). Vgl. Christoph König (unter Mitarb. v. Andreas Isenschmid): Engführungen. Peter Szondi und die Literatur. Marbacher Magazin 108. Marbach/N. 2004, S. 73–75; Klaus von See: Peter Szondi und die Frankfurter Universität. Eine Recherche aus aktuellem Anlaß. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 (2005), S. 341–356; Lorenz Jäger: Ende Legende. Peter Szondi und Frankfurt. In: FAZ vom 6. Juli 2005; Jürgen Habermas: In unverkennbar aggressiver Tonlage. Aus aktuellem Anlaß: Erinnerungen an die »Szondi-Affäre« in Frankfurt. In: FAZ vom 13. Juli 2005; Klaus von See: Unspektakulärer Vorgang. Nochmals zur Frank furter »SzondiAffäre«. In: FAZ vom 20. Juli 2005; Regina Weber: Berufungen. Szondi, Adorno und Politzer. In: FAZ vom 17. August 2005. 3 Vgl. Peter Szondi: Brief an Gershom Scholem vom 26. Februar 1970. In: Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 301–304. 4 Die präzisen biographischen Daten lassen sich hier und im Folgenden der von Andreas Isenschmid erstellten Chronik entnehmen. In: König 2004 (wie Anm. 2), S. 99–112 [Isenschmid 2004a]. 5 Vgl. vor allem Gert Mattenklott: Peter Szondi als Komparatist. In: Vermittler. Deutschfranzösisches Jahrbuch 1 [mehr nicht erschienen]. Hg. v. Jürgen Sieß. Frankfurt/M. 1981, S. 127–141; ders.: Peter Szondi – Bei Gelegenheit einer Ausgabe von Briefen. In: http://www. geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we03/institut/Institutsgeschichte/peter_szondi/index. html [21.02.2013]; Eberhard Lämmert: Peter Szondi. Ein Rückblick zu seinem 65. Geburtstag. In: Poetica 26 (1994), S. 1–30; Klaus Reichert: Zum Bilde Szondis. Gespräche und Begegnungen aus diskreter Nähe. In: Neue Zürcher Zeitung vom 19. Februar 2005. – Die hochschulpolitischen Schriften sind gesammelt in Peter Szondi: Über eine »Freie (d. h. freie) Universität«. Stellungnahmen eines Philologen. Hg. v. Jean Bollack u. a. Frankfurt/M. 1973.
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Christoph König hat dieses Bild Szondis, das in der (vor allem deutschen, italienischen und französischen) Literaturwissenschaft – mittlerweile mehr als vier Jahrzehnte nach seinem Tod – verbreitet ist, präzise formuliert: »Peter Szondi ist eine Leitfigur der Literaturwissenschaft bis heute.«6 Und: »Das große Interesse an Szondis Werk bis auf den heutigen Tag […] ist vom Versuch geleitet, das Modell, das Szondi gibt, zu begreifen. Von Anfang an ist, wenn auch nicht alles, so doch vieles da: Jung hat er sich schon als alten Mann bezeichnet.«7 Andreas Isenschmid knüpft in seinem Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann hier an.8 Isenschmid, mit Thomas Sparr und Christoph König sicherlich der beste Kenner von Szondis im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar verwahrtem wissenschaftlichen Nachlass, zeigt auf, dass wichtige Grundmotive von Szondis späterem Werk – das Verhältnis der Literatur zum Holocaust, dem Szondi mit seiner Familie knapp entronnen war, das Humanismus-Problem, die Theorie und Geschichte des Dramas – bereits in den frühesten der im Nachlass überlieferten Texte zu finden sind: in Aufsätzen, die Szondi 1947 an der Kantonsschule Trogen verfasste, in Theaterkritiken aus dem Jahr 1949 (seinen allerersten Veröffentlichungen) sowie in Seminararbeiten, die er zwischen 1949 und 1953 für Seminare seiner akademischen Lehrer an der Universität Zürich schrieb, der Germanisten Emil Staiger und Max Wehrli sowie des Romanisten Theophil Spoerri. Doch wie läuft die Entfaltung des von Isenschmid überzeugend aufgezeigten Nukleus von Szondis Werk ab? Kann man von zumindest vorläufigen Abschlüssen einiger seiner Projekte sprechen, und gibt es Entwicklungen in Szondis letzten Lebens- und Arbeitsjahren, die Neues andeuten, was der Autor dann nicht mehr zur Ausführung und zum Abschluss bringen konnte? Zugespitzt formuliert: Gibt es in Szondis tragisch früh abgebrochenem Œuvre neben den schon von Anfang an bekannten Hauptwerken und dem von Isenschmid beleuchteten Frühwerk auch so etwas wie ein Spätwerk? Oder, Isenschmids Titel weiterführend: Gibt es bei Szondi neben dem Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann auch einen 6 König 2004 (wie Anm. 2), S. 5. 7 Ebd., S. 13. 8 Siehe den voranstehenden Essay von Andreas Isenschmid, S. 389–408. – Diesem Aufsatz gehen weitere einlässliche Texte des Autors zu Szondi voraus. Vgl. etwa Andreas Isenschmid: »Die philologische Leidenschaft des Differenzierens«: lebensgeschichtliche Hintergründe von Philologie und Politk bei Peter Szondi. In: Ueli Mäder; Hans Saner (Hg.): Realismus der Utopie. Zur politischen Philosophie von Arnold Künzli. Zürich 2003, S. 267–297; ders.: Peter Szondi: Philologie und jüdische Erfahrung. In: Monika Boll; Raphael Gross (Hg.): »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945. Frankfurt/M. 2013, S. 62–86. Bemerkungen zu Peter Szondi
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Ulysses und möglicherweise sogar ein Finnegans Wake? Diesen Fragen möchte ich hier skizzenhaft nachgehen. Äußerst hilfreich ist dabei, dass die Grundzüge von Szondis reifem Werk, insbesondere dem der 1960er Jahre, in der folgenden Relektüre des Traktats Über philologische Erkenntnis durch Thomas Sparr nachgezeichnet werden, sodass ich diese Aspekte hier nicht vertiefen muss.9 Szondi steht – das ist ein erster Aspekt, den ich hervorheben möchte – mit einer Reihe der in diesem Band behandelten älteren Textgelehrten in vielfältigen Verbindungen. Er lernt schon in seiner Budapester Jugendzeit die frühen Werke des ebenfalls aus der ungarischen Metropole stammenden Georg Lukács kennen, zu dem einige seiner Verwandten sogar enge Verbindungen gehabt haben.10 Mit seiner Theorie des modernen Dramas knüpft Szondi – und nicht allein durch den Titel – an Lukács’ Werke Zur Soziologie des modernen Dramas (dt. 1914; das zweite Kapitel der umfangreichen Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas) und Die Theorie des Romans (1916; Buchausgabe 1920) an.11 Szondi wird von gleichaltrigen und älteren ungarischen Freunden sogar zum Nachfolger Lukács’ stilisiert: Der Jugendund Studienfreund Ivan Nagel schenkt ihm zur Promotion 1954 ein Manuskript Lukács’ mit einer Skizze aus den Vorarbeiten zu dessen Entwicklungsgeschichte; der Philosoph Wilhelm Szilasi sieht in Szondi in einem Brief vom 3. Februar 1957 die »Radikalität und Tiefe« des jungen Lukács weiterleben.12 Das Manuskriptgeschenk soll offenbar den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass die Textgelehrsamkeit mit den Schritten Schreiben – Lesen – Weiterschreiben vom Älteren auf den Jüngeren übergehen möge. Ab Ende der 1950er Jahre lernt Szondi weitere wichtige Textgelehrte aus dem Umkreis der Kritischen Theorie kennen: Auf den Sommeraufenthalten ab 1958 im schweizerischen Sils trifft er immer wieder Theodor W. Adorno, der für Szondi schon seit 1949, als er mit Nagel die Philosophie der neuen
9 Siehe den folgenden Text von Thomas Sparr, S. 427–438. 10 Vgl. Isenschmid 2003 (wie Anm. 8), S. 275–286, bes. S. 279 f.; ders. 2004a (wie Anm. 4), S. 99; ders.: Frühe Meisterschaft in der ›Theorie des modernen Dramas‹. In: König 2004 (wie Anm. 2), S. 22–30 [Isenschmid 2004b]. – Eine persönliche Bekanntschaft zwischen Szondi und Lukács ist dagegen nicht belegt, was vor allem daran liegt, dass Szondi nach dem Krieg nur noch ein einziges Mal (zu Weihnachten 1947) kurz nach Budapest zurückkehrt. 11 Georg Lukács: Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas [ungar. 1911]. Hg. v. Frank Benseler. Werke. Bd. 15. Darmstadt; Neuwied 1981, S. 52–132. Der Ansatz dieser Frühschrift von Lukács ist gleichsam transzendental-historisch: »Gibt es ein modernes Drama und ist es möglich?« (Ebd., S. 52) – Ders.: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin 1920. 12 Zit. nach: Isenschmid 2004b (wie Anm. 10), S. 29 f.
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Musik liest, Vorbild und Lehrer13 ist und nun zu einem seiner wichtigsten Mentoren und Freunde wird. In Sils begegnet er im Juli 1959 auch Herbert Marcuse und Hannah Arendts erstem Ehemann Günther Stern (bekannter unter seinem Pseudonym Günther Anders), in Zürich im Oktober 1960 erstmals Gershom Scholem.14 Mit Scholem und Adorno setzt er sich beim Suhrkamp-Verlag für die Publikation von Walter Benjamins Werken ein, dessen Texte er bereits 1948 zu studieren begonnen hat.15 Während seiner Professurvertretung in Heidelberg trifft er nicht nur auf Habermas, sondern auch auf Ernst Bloch16, den er am 21. März 1966 an die FU Berlin einzuladen versucht.17 Der Princeton-Aufenthalt vom Februar bis zum Mai 1965 bringt ihn mit Siegfried Kracauer zusammen. In einer brieflichen Stellungnahme von 1968 prüft er mit einiger Skepsis die Möglichkeiten einer »kritischen Wissenschaft der Literatur« in der Gegenwart und greift dabei auf Max Horkheimers Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie sowie auf Walter Benjamins marxistisches Spätwerk wissenschaftsgeschichtlich reflektiert zurück.18
13 In der Einführung zu Adornos (von massiven studentischen Störungen begleitetem) Vortrag Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie am 7. Juli 1967 im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin bekennt sich Szondi öffentlich als »Schüler« Adornos, »[o]bwohl ich leider nie bei ihm habe studieren können«. Szondi 1973 (wie Anm. 5), S. 55– 59, hier S. 56. 14 Isenschmid 2004a (wie Anm. 4), S. 104 f. – In der Datierung der ersten Begegnung zwischen Szondi und Scholem weiche ich von Isenschmid (der den Sommer 1959 annimmt) ab, denn die erste Erwähnung Szondis bei Scholem findet sich in dessen Brief an Walter Benjamins Jugendfreund Ernst Schoen vom 28. November 1960: »Ich höre übrigens, dass ein junger ungarischer Jude, jetzt Schweizer, den ich vor 6 Wochen in Zürich traf, sich mit einer Arbeit oder Vorlesung über Walter Benjamin an der Berliner Universität des Westens für Literaturgeschichte habilitieren will. Er heisst Peter Szondi und scheint nicht unintelligent.« (Gershom Scholem: Briefe II. 1948–1970. Hg. v. Thomas Sparr. München 1995, S. 71–73, hier S. 73) Sofern Scholem hier keine Mystifikation betreibt, scheint es ausgeschlossen, dass er Szondi zu diesem Zeitpunkt schon länger als ein Jahr kennt. 15 Vgl. Szondis Brief an Siegfried Unseld vom 16. Dezember 1960. In: Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 116; ferner das Gutachten zum Projekt der neuen (ab 1972 realisierten) Benjamin-Gesamtausgabe für die Stiftung Volkswagenwerk vom 14. Oktober 1968; ebd., S. 258–261. – Über Benjamin führt Szondi 1964 Rundfunkgespräche mit Adorno, Bloch, Scholem und Max Rychner, die später in den 1968 bei Suhrkamp erscheinenden Band Über Walter Benjamin eingehen; vgl. den Brief an Gershom Scholem vom 20. Juni 1964 und den Kommentar dazu. In: Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 168–170. – Siehe Andreas Isenschmid: »In mancher Hinsicht ein Glaubensbekenntnis«. Peter Szondis BenjaminRezeption. In: Detlev Schöttker (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste. Ausst.-Kat. Berlin 2004. Frankfurt/M. 2004, S. 82–93 [Isenschmid 2004c]. 16 Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 123. 17 König 2004 (wie Anm. 2), S. 35. 18 Peter Szondi: Brief an Siegfried Unseld vom 7. Oktober 1968. In: Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 254–257, hier S. 256 f. Bemerkungen zu Peter Szondi
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Mit einem Wort: Nicht ganz zu Unrecht kann man Peter Szondi als den letzten der Textgelehrten im Umkreis der Kritischen Theorie ansehen. Er ist der Nachkomme par excellence, findet die intellektuelle Welt der Kritischen Theorie in ihrer Ausgestaltung nach der Erfahrung des Holocaust schon vor und führt sie methodisch konsequent in die schweizerische und westdeutsche Literaturwissenschaft der 1950er und 1960er Jahre ein, die zu großen Teilen noch vom Vorkriegsdenken und von Verdrängungsbestrebungen geprägt ist. Schon kurz nach seinem frühen Tod wird die Generation der mit ihm Gleichaltrigen oder etwas Jüngeren diese Impulse stark modifizieren.19 Gerade diese Stellung als letzter wichtiger und selbständiger Vertreter der Kritischen Theorie in ihrer authentischen Ausprägung, verbunden mit einer systematischen Neugierde auf die theoretischen und methodischen Neuerungen der 1960er Jahre, macht – so meine These – die Attraktivität der intellektuellen Persönlichkeit und des wissenschaftlichen Œuvres von Peter Szondi bis heute aus.
II. In den 1950er und noch in den frühen 1960er Jahren steht die Beschäftigung mit dem Drama, mit dem Theater und mit der Theorie des Dramatischen (des Tragischen wie des Komischen) im Mittelpunkt von Szondis literaturwissenschaftlicher Tätigkeit. Ihren sichtbarsten Ausdruck findet sie in den beiden Qualifikationsschriften, der Zürcher Dissertation Theorie des modernen Dramas von 1954, die 1956 in erweiterter Form bei Suhrkamp erscheint und Szondis größter Bucherfolg wird, sowie in der 1960 angenommenen Habilitationsschrift Versuch über das Tragische, die er 1961 im Insel-Verlag publiziert. Die beiden schmalen Bücher, das zweite konsequenter noch als das erste – Szondi selbst nennt im Brief an seinen Freund Jean Bollack vom 13. November 1960 den Versuch über das Tragische sein »opus parvum«20 –, sind als Sammlungen von Kommentaren zu einer Reihe von Textauszügen aus der dramatischen und dramentheoretischen Weltliteratur 19 Eine maßgebliche und bis heute anregende Kartierung dieser intellektuellen Landschaft nimmt Jürgen Habermas 1979 vor, wenn er aufzeigt, dass Peter Bürger und Karl Heinz Bohrer auf je verschiedene Weise die kulturkritischen Impulse Adornos zehn Jahre nach dessen Tod aufnehmen und transformieren. Vgl. Jürgen Habermas: Einleitung. In: ders. (Hg.): Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹. Bd. 1. Frankfurt/M. 1979, S. 7–35, bes. S. 32–35. Szondi starb zu schnell nach Adorno, um in diese Reihe mit aufgenommen zu werden. 20 Zit. nach: König 2004 (wie Anm. 2), S. 40.
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angelegt. Szondi folgt damit dem Vorbild Walter Benjamins und löst trotz des Erfolges des ersten Buches beim Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld mit dem zweiten Buch Befremden und Ablehnung aus.21 Szondis spätere Bücher Satz und Gegensatz. Sechs Essays (1964) und Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis (1967, insgesamt fünf Essays) sind als ebenfalls schmale Sammlungen von Essays angelegt; das gilt auch für die von Szondi noch projektierten, aber erst postum erschienenen Bücher Celan-Studien (1972, drei Essays) und Lektüren und Lektionen (1973, neun Essays). Szondi hat also nach den beiden Qualifikationsschriften nur noch Essays und Sammlungen von Essays, aber keine Monographien mehr vorgelegt; und selbst die beiden Bücher zum modernen Drama und zum Tragischen22 wurden nicht als Monographien rezipiert, wie sie die Literaturwissenschaft bis dahin gewohnt war. Szondis publiziertes Gesamtwerk umfasst mithin in den beiden Bänden seiner Schriften (1978) nicht mehr als 850 Seiten.23 In dieser Verweigerung der großen Form kann man auch einen stillen Protest Szondis gegen den Monumentalismus seiner Lehrer lesen24 – man denke etwa an die voluminösen Goethe- und Schiller-Monographien Emil Staigers.25 21 Vgl. den Brief Unselds an Szondi vom 5. September 1960 sowie dessen Antwort vom 10. September 1960; in: Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 103–108. 22 Der Titel Versuch über das Tragische lässt einen Groß-Essay erwarten und entzieht sich, wie die Kontroverse mit Unseld zeigt, auch dieser Erwartung durch die Ansammlung von unverbundenen Einzel-Kommentaren. 23 Von Szondis Mutter Lili Szondi ist die frühe mündliche Aussage ihres Sohnes überliefert: »Ich werde ein kleines œuvre haben.« (Brief an Jean Bollack vom 23. Juni 1977; zit. nach: König 2004 [wie Anm. 2], S. 83) 24 Schon im Brief an Ivan Nagel vom 4. September 1953 sieht Szondi die Literaturwissenschaft »am Veröden«; Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 22–26, hier S. 22. – Vgl. als Beleg für Szondis anhaltend skeptische Haltung gegenüber der Germanistik den Brief an Geoffrey Hartman vom 15. April 1968; Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 247 f., bes. S. 247 (»die Lage der Germanistik in Deutschland, die trist genug ist«). Differenzierter fällt Szondis Stellungnahme gegenüber Siegfried Unseld aus: »Sie können sich denken, daß es mir schwer fiele, die Germanistik zu verteidigen. Aber darum geht es nicht. Ich glaube nur nicht, daß es die Germanistik, die – nach Ihren Worten – ›als Wissenschaft in eine ausweglose Sackgasse geraten‹ ist, überhaupt gibt.« Szondi: Brief an Unseld vom 7. Oktober 1968 (wie Anm. 18), S. 255. Hervorhebung im Orig. 25 Öffentlich ausgetragen – etwa durch Max Frisch – wurde die Auseinandersetzung mit der die Literatur der Moderne perhorreszierenden Position Staigers im ›Zürcher Literaturstreit‹ 1967, in dessen Folge Szondi einen eingehenden kontroversen Briefwechsel mit seinem früheren Lehrer führte. Vgl. Erwin Jaeckle: Der Zürcher Literaturschock. Bericht. München; Wien 1968; Martin Meyer: Der Zürcher Literaturstreit: neue Dokumente; Emil Staiger und Peter Szondi. Ein Briefwechsel aus dem Jahr 1967. In: Neue Zürcher Zeitung vom 15. Juni 1990; Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 219–232 u. 246; allgemein Andreas Isenschmid: Emil Staiger und Peter Szondi. In: Joachim Rickes u. a. (Hg.): 1955–2005: Emil Staiger und die ›Kunst der Interpretation‹ heute. Bern u. a. 2007, S. 173–188. Bemerkungen zu Peter Szondi
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Mehr noch als sein Vorbild Walter Benjamin versenkt sich Szondi dagegen in die einzelne Textstelle, auch in seinen Übersetzungen ausgewählter Aphorismen Paul Valérys, die er unter dem Titel Windstriche 1959 gemeinsam mit Bernhard Böschenstein und Hans Staub vorlegt, und in seiner Übersetzungskritik.26 Szondi ist aber auch ein Autor zahlreicher und immer wieder korrigierter Notizen, die er vorwiegend in Notizbücher eintrug, wie wir dem ihm gewidmeten, aus dem Nachlass schöpfenden Marbacher Magazin entnehmen können.27 Und schließlich gibt es bei Szondi doch eine große Form: die der bis in die letzte Formulierung hinein schriftlich ausgearbeiteten Vorlesung, wie er sie vom Sommersemester 1961 (gleich nach seiner Habilitation) bis zum Wintersemester 1970/71 mit nur wenigen Unterbrechungen hielt. Dieser Teil seines Wirkens ist dank der 1973 bis 1975 von Szondis Schülern herausgegebenen Studienausgabe der Vorlesungen in fünf Bänden umfassend dokumentiert. Die Vorlesungen weisen zwar thematische Überschneidungen mit den Essays auf, stellen aber zahlreiche Sachverhalte anders, ausführlicher und anschaulicher als diese dar. König sieht zu Recht auch in den Vorlesungen stets den »Rhythmus von Text und Kommentar« am Werke.28 Der Philologe Peter Szondi beginnt, wie die Darlegungen Isenschmids zum Frühwerk noch einmal deutlich machen, als Romanist. Während sich der Gymnasiast und der junge Student, dessen Muttersprache Ungarisch ist, in der deutschsprachigen Schweiz das Deutsche als Sprache der mündlichen und der schriftlichen Verständigung mit zunehmender Virtuosität aneignet29, bildet er, der ja Germanistik als Hauptfach studiert, sich vor allem zu einem Kenner der französischen Literatur aus; seine frühen Arbeiten gelten etwa Vercors, Camus, Sartre und Apollinaire; hinzu kommen Eichendorff oder Heidegger. Es zeugt von einem bei aller Rückwärtsgewandtheit doch hohen Maß an Toleranz und Urteilssicherheit der germanistischen Gutachter, besonders Staigers, dass die Theorie des modernen Dramas, die in der eingereichten Fassung (den ersten drei Kapiteln) nur einen Abschnitt zu Gerhart Hauptmann enthält und sich ansonsten mit 26 Vgl. König 2004 (wie Anm. 2), S. 5–13. 27 Vgl. ebd., S. 32, 64, 72, 82. 28 Ebd., S. 34. Vgl. auch Königs Polemik gegen Manfred Durzaks despektierliches SzondiBild. Christoph König: Invidia. In: Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 17/18 (2000), S. 8 f. 29 Wie wichtig ihm dieser Aspekt auch später noch ist, betont Szondi im Brief an Geoffrey Hartman vom 15. April 1968, wenn er im Zusammenhang von Überlegungen, nach Israel überzusiedeln, hervorhebt: »[…] dazu kam das Gefühl, wie sehr mir doch die deutsche Sprache als Erkenntnis- und Ausdrucksmittel unentbehrlich geworden ist.« (Szondi: Briefe [wie Anm. 1], S. 247 f., hier S. 248)
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Ibsen, Tschechow, Strindberg und Maeterlinck beschäftigt, als germanistische Dissertation akzeptiert und sogar mit der Höchstnote bewertet wurde. Der Versuch über das Tragische, obwohl ebenfalls in Deutscher Philologie eingereicht, ist mit seinem Radius, der von Sophokles bis Büchner und von Schelling bis Scheler reicht, vollends ein Grundbuch der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in der neuen Form, wie sie Szondi immer angestrebt hat30 und wie er sie in den Jahren 1965 bis 1971 an der Freien Universität institutionalisieren konnte. Und doch: Im Zuge der Habilitation und in seiner Bewerbungsphase als Privatdozent nähert sich Szondi stark der Germanistik an31: Seine erste Berliner Vorlesung im Sommersemester 1961 ist Hölderlins Spätwerk gewidmet; in einer gleichzeitigen Übung zur modernen Lyrik behandelt er besonders ausführlich Paul Celan.32 Im Heidelberger Wintersemester 1961/62 liest er über Grundfragen der Poetik in den ästhetischen Schriften der Goethezeit und hält an den Berliner Universitätstagen Anfang 1962 den Vortrag Zur Erkenntnisproblematik der Literaturwissenschaft, in dem er vor allem anhand von Beispielen aus der Hölderlin-Forschung argumentiert und der als Traktat Über philologische Erkenntnis fünf Jahre später die Hölderlin-Studien eröffnet.33 Seine Umhabilitation im Fach Deutsche Philologie an die Universität Göttingen, wohin Szondi von Berlin Walther Killy gefolgt ist, schließt Szondi am 21. Mai 1962 mit der Antrittsvorlesung Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte von Hölderlins hymnischem Spätstil ab, die 1963 zunächst separat als Insel-Broschüre erscheint und 1967 ebenfalls in die Hölderlin-Studien aufgenommen wird. Hölderlin wird der einzige Dichter bleiben, dem Szondi zu seinen Lebzeiten ein ganzes Buch (eine Sammlung von Aufsätzen) widmen wird, das er übrigens für sein »bestes Büchlein« hielt.34 30 Vgl. Szondis geradezu flehentliche – und im Ergebnis erfolgreiche – Schreiben an verantwortliche Berliner Professoren aus seiner Göttinger Zeit, die seine Bewerbungen unterstützen sollen: Brief an Hans-Egon Hass vom 6. Juli 1963, in: Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 132 f., hier S. 132; Brief an Rainer Gruenter vom 20. Februar 1964, in: ebd., S. 149 f., hier S. 150. 31 Mattenklott (1981 [wie Anm. 5], S. 135) weist darauf hin, dass in Szondis Werk allein die Hölderlin-Studien nicht »komparatistisch angelegt« seien; »dafür« hätten sie »allerdings als methodische Exerzitien den Vergleich ausdrücklich oder indirekt zum Thema«. 32 Diese und die folgenden Informationen zu Szondis Lehr- und Vortragstätigkeit nach Isenschmid 2004a (wie Anm. 4), S. 106 f. 33 Vgl. dazu die eingehende Relektüre von Thomas Sparr in diesem Band. Unbrauchbar ist dagegen folgender Beitrag: Thomas Schestag: Philologie, Erkenntnis. In: Neue Rundschau 119 (2008). H. 3, S. 128–143. 34 Peter Szondi: Brief an Rudolf Hirsch vom 23. Dezember 1966; zitiert nach Isenschmid 2004c (wie Anm. 15), S. 88. – Vgl. Bernhard Böschenstein: Les études sur Hölderlin de Peter Szondi. Un trajet exemplaire. In: Mayotte Bollack (Hg.): L’acte critique. Un colloque sur l’œuvre de Peter Szondi (Paris, 21–23 juin 1979). Lille 1985, S. 193–211, Diskussion S. 211–215. Bemerkungen zu Peter Szondi
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Hölderlin ist es auch, der die Verbindung zwischen Szondi und Adorno in der publizistischen Öffentlichkeit besonders deutlich macht – am klarsten in der Widmung von Adornos Aufsatz Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins (1964) an Szondi.35 Mit Szondis zunehmender Konzentration auf Hölderlins Werk geht eine gattungspoetische Umorientierung einher: Nachdem er sich in den 1950er Jahren vorwiegend mit dem Drama beschäftigt hat, erkennt Szondi nun »den Vorrang des Gedichts in der Moderne«.36 Szondi folgt darin Hölderlins eigener Gattungspoetik, welche Epos und Tragödie »als antike, die Lyrik dagegen, kraft ihrer naiven, abendländisch-nüchternen Grundstimmung, als moderne Dichtart« zu erweisen versuche.37 Neben Hölderlin ist es immer schon die Lyrik Paul Celans, mit der er sich intensiv beschäftigt; am 8. April 1959 besucht er den Dichter in Paris38, womit eine lebenslange, wenn auch nicht spannungsfreie Freundschaft zwischen beiden beginnt.39 Nach Celans Freitod in der Seine, vermutlich am 20. April 1970, beginnt Szondi die Arbeit an seinen Celan-Studien, dem Gegenstück zu den Arbeiten über Hölderlin. Zwei Aufsätze kann er abschließen und 1971 noch selber zur Veröffentlichung bringen: Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit. Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105 und Lecture de Strette. Essai sur la poésie de Paul Celan; der von April bis September 1971 entstehende Text Eden bleibt unvollendet. Der 1972 aus dem Nachlass veröffentlichte Band Celan-Studien vereinigt die drei Essays, den zweiten in deutscher Übersetzung unter dem Titel Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts.40 Vereinfacht gesagt: Szondis intellektueller Weg von den 1950er Jahren in die 1960er Jahre führt also vom Drama zur Lyrik, sein Weg von den frühen 35 Vgl. dazu Sparr in diesem Band, S. 434 f. 36 König 2004 (wie Anm. 2), S. 41. Hervorhebung im Orig.; vgl. auch ebd., S. 52 u. 65. Die Beschäftigung mit Erzählliteratur, die für die meisten Literaturwissenschaftler damals wie heute die Königsdisziplin darstellt, spielt für Szondi nur eine untergeordnete Rolle; eine Ausnahme bildet der knappe, schon 1951 geschriebene, aber erst 1956 veröffentlichte Aufsatz über den Erwählten: Thomas Manns Gnadenmär von Narziß (Peter Szondi: Schriften II. Hg. v. Jean Bollack u. a. Frankfurt/M. 1978, S. 235–242). 37 Peter Szondi: Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie. Mit einem Exkurs über Schiller, Schlegel und Hölderlin. In: ders.: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack u. a. Frankfurt/M. 1978, S. 367–412, hier S. 388. 38 Vgl. Peter Szondi: Brief an Paul Celan vom 6. April 1959; in: Szondi: Briefe (wie Anm. 1), S. 86; ders.: Brief an Rudolf Hirsch vom 9. April 1959; in: ebd., S. 87. 39 Vgl. König 2004 (wie Anm. 2), S. 56–63; Paul Celan; Peter Szondi: Briefwechsel. Mit Briefen von Gisèle Celan-Lestrange an Peter Szondi und Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Peter Szondi und Jean und Mayotte Bollack. Hg. v. Christoph König. Frankfurt/M. 2005. 40 Peter Szondi: Celan-Studien. In: ders.: Schriften II (wie Anm. 36), S. 319–398.
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1960er Jahren in die frühen 1970er Jahre von Hölderlin zu Celan. Dabei bleibt sein Interesse an den zuvor behandelten Genres und Dichtern jedoch weiter bestehen. Besonders interessieren ihn auch Gattungsübergänge und -mischungen, wie er sie in seiner Vorlesung Das lyrische Drama des Fin de siècle eingehend untersucht.41 Dennoch hält er in einer Zeit, in welcher große Teile der intellektuellen Öffentlichkeit die Zertrümmerung aller hergebrachten Formen auf ihre Fahnen geschrieben haben, bis zu seinen letzten Vorlesungen, Essays und Stellungnahmen an der Überzeugung fest, dass Literatur ohne die Vorstellung von Gattungen und ohne gattungspoetische Reflexion undenkbar ist. Mit stets gleichbleibender Intensität verfolgt er die Theorie und Geschichte der literarischen Hermeneutik42 sowie die Geschichte der Ästhetik und der Poetik, besonders der Gattungspoetik, seit dem 18. Jahrhundert. Sein nicht mehr realisiertes Ziel ist die Entwicklung »einer historischen Formenlehre der Literatur, zu der es nur Ansätze gibt«.43
III. Ein konstitutiver Teil von Szondis auf die Werke einzelner Autoren bezogener Hermeneutik ist eine Theorie des Gesamtwerks, die in einer Theorie des Spätwerks kulminiert. Für diese Konzeptionen konnte sich Szondi bei aller Innovationskraft seines Ansatzes durch die Hermeneutiken des 19. Jahrhunderts, insbesondere diejenige Friedrich Schleiermachers, anregen lassen.44 41 Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Hg. v. Henriette Beese. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 4. Frankfurt/M. 1975. 42 Vgl. Rainer Nägele: Texte, histoire et sujet critique. Remarques sur la théorie et la pratique de l’herméneutique chez Peter Szondi. In: M. Bollack 1985 (wie Anm. 34), S. 40–60, Diskussion S. 61–72; Jean Bollack: Peter Szondis materiale Hermeneutik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 370–390; Eberhard Lämmert: Theorie und Praxis der Kritik. Peter Szondis Hermeneutik. In: Michael Klein; Sieglinde Klettenhammer (Hg.): Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft. Wien 2005, S. 77–99; Friedmar Apel: Unterschiedenes ist gut. Stellenhermeneutik nach Peter Szondi. In: Susanne Kaul; Lothar van Laak (Hg.): Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik. München 2007, S. 107–112. 43 Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. In: ders.: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. v. Jean Bollack; Helen Stierlin. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 5. Frankfurt/M. 1975, S. 7–191 [Szondi 1975a], hier S. 129. 44 Vgl. den »Paul Celan zum Gedächtnis« gewidmeten späten, zuerst französisch in Poétique 2 (1970) erschienenen Aufsatz: Peter Szondi: Schleiermachers Hermeneutik heute. In: ders.: Schriften II (wie Anm. 36), S. 106–130. – Wilhelm Dilthey spielt dagegen für Szondi weitgehend nur als Historiograph der Entstehung der Hermeneutik (1900) eine Rolle; zu sehr scheint ihm Diltheys eigene Hermeneutik unter dem Bann einer Einfühlungsästhetik zu stehen, die er als hoffnungslos obsolet, irrationalistisch und textfern ansieht (vgl. Bemerkungen zu Peter Szondi
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Diese Überlegungen finden sich in besonders klaren und verdichteten Formulierungen zu Beginn von Szondis Göttinger Antrittsvorlesung Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils: Wer vom Spätwerk Hölderlins spricht, meint jene Hymnen in freien Rhythmen, zu deren bekanntesten Patmos, Der Einzige, Friedensfeier gehören. Daß diese Dichtungen Hölderlins als Spätwerk, daß als Hölderlins Spätwerk diese Dichtungen bezeichnet werden, versteht sich indessen keineswegs von selbst. Nicht nur sind sie das Werk eines Dreißigjährigen. In den letzten Jahren vor der Umnachtung, in welcher Hölderlin sich selbst um mehr als vierzig Jahre überleben wird, entstehen sie neben Gedichten, die anderen Gattungen angehören: neben Oden und Elegien. Und doch besteht ihr Name, besteht ihr Vorrang zu Recht. Daß Hölderlin in den Jahren 1801 und 1802 nicht bloß die Hymnen Am Quell der Donau, Friedensfeier, Der Einzige geschrieben hat, sondern auch die Elegien Brod und Wein und Heimkunft, die Oden Der blinde Sänger und Dichtermuth, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der inneren Chronologie seiner Dichtung die Hymnen einer späteren Epoche angehören als die beiden anderen lyrischen Gattungen.45
Auf die besonderen Akzente, die Szondi mit diesen Thesen innerhalb der Hölderlinforschung setzt, kann hier nicht eingegangen werden.46 Festzuhalten ist: Szondi setzt neben der – bei Hölderlin nahe liegenden – Vorstellung, dass Dichtungen eindeutig bestimmten Gattungen zugehören, einen klaren Begriff des Spätwerks geradezu axiomatisch voraus, ohne ihn zu begründen oder auch generell zu explizieren. Dieser Begriff beruht, so können wir seiner Argumentation implizit entnehmen, nicht auf der konventionellen Vorstellung, ein Spätwerk sei das Produkt eines Künstlers in fortgeschrittenem Lebensalter, denn dieses Bild greift bei Hölderlin, der sein in Rede stehendes ›spätes‹ Œuvre am Ende seiner ersten Lebenshälfte, als gut Dreißigjähriger, schafft, um sich dann »selbst um mehr als vierzig Jahre [zu] überleben«,
Szondi 1975a [wie Anm. 42], S. 170). Aus heutiger Sicht hätten Diltheys Überlegungen zur Biographie sowie zum Verhältnis von Leben und Werk Szondi möglicherweise Ansatzpunkte zur Lösung von Problemen bieten können, die sich ihm bei der Beschäftigung mit Hölderlins und mit Celans Texten stellten. 45 Peter Szondi: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils. In: ders.: Schriften I (wie Anm. 37), S. 289–314, hier S. 289. – Sehr viel ausführlicher entfaltet Szondi diese Gedanken in seiner Hölderlin-Vorlesung, die er im Sommersemester 1961 und (in modifizierter Form) noch einmal im Wintersemester 1966/67 in Berlin hielt; vgl. Peter Szondi: Interpretationsprobleme. Hölderlin: Feiertagshymne, Friedensfeier. In: ders.: Einführung in die literarische Hermeneutik (wie Anm. 42), S. 193–402 [Szondi 1975b], hier S. 195–212. 46 Vgl. dazu Dieter Burdorf: Hölderlins späte Gedichtfragmente: »Unendlicher Deutung voll«. Stuttgart; Weimar 1993, S. 42–53.
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gerade nicht.47 Vielmehr geht Szondi davon aus, dass es eine ›innere Chronologie der Dichtung‹ eines Autors gibt und dass man innerhalb dieser frühere von späteren ›Epochen‹ unterscheiden könne. Wann der Dichter die Arbeit in der jeweiligen Gattung beginnt, ist dafür ein wichtiges Indiz; so führt Szondi im Folgenden als Argument an, dass Hölderlins erste freirhythmische Hymne aus der Zeit um 1800 datiert, während Oden und Elegien viel früher in der Genese seines Werks auftauchen. Und selbst die Oden und Elegien Hölderlins durchlaufen Szondi zufolge einen »Stilwandel«48, der über ihre eigenen Prinzipien hinaus zu den Hymnen hinüberleite.49 Nachdem er diesen Gedanken expliziert hat, führt Szondi ein noch gewichtigeres Argument für seine These an, es gebe bei Hölderlin einen hymnischen Spätstil: Der Einwand […], daß die Dichtungen eines Dreißigjährigen nicht dürfen Spätwerk genannt werden, könnte erst durch eine grundsätzliche Klärung dieses eher stilkritisch denn biographisch verwendeten Begriffs sowie durch eine Analyse der Hymnen selbst entkräftet werden. Zu zeigen wäre, wie Hölderlins Hymnensprache – im Gegensatz zu den letzten Gedichten der Umnachtungszeit – teilhat an jener paradoxen Verschränkung von Entschlossenheit zum Äußersten und von Zaghaftigkeit, von Kühnheit und Demut, Kraft und Schwäche, die für die Spätwerke von Künstlern kennzeichnend ist, die ihr Werk nicht der abgeklärten Heiterkeit zuführen, sondern mit weltabgewandtem Eigensinn über einen Schatten zu springen trachten, der nicht nur der ihre ist, sondern auch der ihrer Zeit. Was so entsteht, wird meist erst nach Generationen begriffen: man denke an Beethovens letzte Quartette, an die späten Bilder Cézannes – an Hölderlins Hymnen. Solche Werke zeugen weder von dem Übermut der Jugend, der in der Auflehnung gegen das Bestehende einen Zweifel an sich selber nicht kennt, noch von der Ruhe der Lebensmitte, der es um die Versöhnung von Ich und Welt, von Neuem und Altem geht. Harmonie ist hier kein höchster Wert, aber ebensowenig wird für wert gefunden, daß man gegen sie rebelliere. Der Künstler ist allein mit seinem Werk: er kämpft nur noch gegen die Versuchung durch sich selber, gegen die eigenen Zweifel, gegen die eigene Schwäche.50 47 Szondi folgt mit diesen Datierungen des Spätwerks auf die Jahre bis 1802 den zu seiner Zeit noch weitgehend unbezweifelten Vorschlägen Friedrich Beißners im Kommentar der Großen Stuttgarter Hölderlinausgabe. Heute datiert man Hölderlins späte Texte mindestens bis 1806, wenn nicht bis 1807; die Texte aus dem Tübinger Turm (1807–1843) bezeichnet man meist als ›späteste Gedichte‹. 48 Szondi: Schriften I (wie Anm. 37), S. 291. Szondi benutzt damit eine Formulierung, die annähernd gleichzeitig auch sein Lehrer Staiger an zentraler Stelle (als Buchtitel) verwendet; vgl. Emil Staiger: Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit. Zürich; Freiburg/Br. 1963. 49 Szondi nennt das in der Hölderlin-Vorlesung die »Endstellung der Hymnen«, ihren »Spätwerk-Charakter«; Szondi 1975b (wie Anm. 44), S. 201. 50 Szondi: Schriften I (wie Anm. 37), S. 291 f. – Das Beethoven-Beispiel wie auch einige allgemeine Charakterisierungen von ›Spätstil‹ übernimmt Szondi unverkennbar von Adorno: »Die Reife der Spätwerke bedeutender Künstler gleicht nicht der von Früchten. Sie sind Bemerkungen zu Peter Szondi
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Szondi führt dann noch Verse aus Hölderlins Hymne Der Einzige an, in deren »Tonfall« ihm zufolge »die Sicherheit des Wissens und das Gericht über sich selbst, Aufschwung und Verzweiflung sich ineinander verschlungen haben«. Damit verbindet er folgenden dringlichen Wunsch: »Gelänge es, die Diktion solcher Verse in Worte zu fassen […], man wäre dem Geheimnis der Hymnen näher und wüßte zugleich, warum man sie als Spätwerk empfindet«.51 Dieses Ziel zu erreichen strebt Szondi in diesem Aufsatz (wie in seinen Hölderlin-Studien insgesamt) nicht an; vielmehr fragt er bescheidener nur nach dem »Weg, der zu ihm [Hölderlins Spätwerk; D. B.] geführt hat«.52 Es ist ein selbst erst wenig über dreißig Jahre alter Mann, der hier mit äußerster Sensitivität und Empathie, zugleich aber auch mit einem souveränen literaturgeschichtlichen Weitblick von den Charakteristika und der historischen Funktion von Spätwerken spricht.53 Es wäre wohlfeil, zu versuchen, Formulierungen von solcher Subtilität umstandslos auf ihren Autor zurückzubeziehen. Und doch soll wenigstens gefragt werden, ob nicht die Vorstellung einer »paradoxen Verschränkung von Entschlossenheit zum Äußersten und von Zaghaftigkeit, von Kühnheit und Demut, Kraft und Schwäche«, einer unauflöslichen Verschlingung von »Aufschwung und Verzweiflung« sehr viel auch verstehbar zu machen vermag von Szondis eigenem intellektuellen und existentiellen Habitus. Nachdenklich vor dem Hintergrund
gemeinhin nicht rund, sondern durchfurcht, gar zerrissen; sie pflegen der Süße zu entraten und weigern sich herb, stachlig dem bloßen Schmecken; es fehlt ihnen all jene Harmonie, welche die klassizistische Ästhetik vom Kunstwerk zu fordern gewohnt ist, und von Geschichte zeigen sie mehr die Spur als von Wachstum.« Theodor W. Adorno: Spätstil Beethovens [1937]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. a. Bd. 17 [1982]. Frankfurt/M. 1997, S. 13–17, hier S. 13. Zwar erschien Adornos Sammlung Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze 1928–1962, die durch diesen Aufsatz eröffnet wird, erst 1964, und es ist unwahrscheinlich, dass Szondi die an entlegenem Ort erschienene Erstpublikation (in: Der Auftakt. Blätter für die tschechoslowakische Republik 17/1937) heranziehen konnte. Doch der intensive Austausch zwischen Adorno und Szondi in den Jahren des Entstehens der Hölderlin-Studien macht einen direkten Einfluss Adornos auf Szondis Konzept des ›Spätstils‹ sehr wahrscheinlich. Für Adorno bleiben die Überlegungen zum »Spätstil bedeutender Künstler« bis zur postum veröffentlichten Ästhetischen Theorie wichtig; vgl. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. a. Bd. 7 [1970]. Frankfurt/M. 1997, S. 168. 51 Szondi: Schriften I (wie Anm. 37), S. 292. 52 Ebd. 53 Erst in allerjüngster Zeit werden die Impulse Adornos (siehe Anm. 50) und Szondis, über die Spätwerke von Künstlern generell nachzudenken, in der literatur- und kunstwissenschaftlichen Forschung wieder aufgegriffen. Vgl. als Überblick Hans Ulrich Gumbrecht: Verschmelzung, Synthese, Alterssubjektivität. Gibt es einen Spätstil der künstlerischen und literarischen Spätwerke? In: FAZ vom 24. April 2013.
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des Wissens von Szondis Lebenstrauma als Überlebender des Holocaust54 stimmt dann auch die Formulierung, dass Hölderlin »sich selbst um mehr als vierzig Jahre« überlebt habe. Szondi hat seine Überlegungen zu Hölderlins Spätwerk zwischen 1961 und 1967 mehrfach variierend in Vorlesungen und Vorträgen, in Aufsatzund Buchform verbreitet. Soweit ich sehe, hat er sie außerhalb der Hölderlin-Interpretationen und in den wenigen ihm noch verbleibenden folgenden Jahren nicht weitergeführt. Doch lässt sich nach den durch hochschulpolitische Auseinandersetzungen dominierten Jahren ab 1967 in seinen letzten literaturwissenschaftlichen Arbeiten, den drei Celan-Studien aus den Jahren 1970/71, wiederum ein Neuansatz beobachten. Das gilt einerseits für die stark vom Strukturalismus Roman Jakobsons und vom gerade erst sich entwickelnden Dekonstruktivismus Jacques Derridas beeinflusste Methode in dem Aufsatz zu Celans Shakespeare-Übertragung und in dem Kommentar zum Gedicht Engführung.55 Das gilt andererseits und in noch höherem Maß für den Fragment gebliebenen, nur wenige Seiten umfassenden Text Eden.56 Er ist dem Gedicht Du liegst im großen Gelausche … gewidmet, das auf Celans Berlinaufenthalt im Dezember 1967 zurückgeht, bei dem Szondi den Dichter häufig traf und begleitete. So kann Szondi Details dieses Aufenthalts in seinen Kommentar einbringen, die sich aus dem Gedicht-Text selbst nicht erschließen ließen, etwa, dass er Celan an einem der Berliner Abende ein Buch über den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1919 geliehen habe, die ihre letzten Stunden im Hotel Eden verbracht hatten. Celan verschmilzt in dem Gedicht Motive dieser Morde mit solchen der Hinrichtung der Verschwörer vom 20. Juli 1944, deren Stätte in Plötzensee er besuchte, und von Eindrücken, die er auf Berliner Weihnachtsmärkten gesammelt hat.57 Celans Gedicht, so Szondi, wäre ein anderes geworden »ohne die 54 »Wir alle sind Überlebende, und jeder von uns versucht auf seine Weise, mit dieser Schmach fertig zu werden.« Peter Szondi: Brief an Hilde Domin vom 14. Mai 1965. In: Hilde Domin; Peter Szondi: Briefwechsel. Hg. v. Andreas Isenschmid. In: Neue Rundschau 119 (2008), H. 3, S. 71–112, hier S. 96 f., Zitat S. 97. 55 Peter Szondi: Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit. Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105. In: ders.: Schriften II (wie Anm. 36), S. 321–344; ders.: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts. In: ebd., S. 345– 389 (Übersetzung der Herausgeber von Peter Szondi: Lecture de Strette. Essai sur la poésie de Paul Celan. In: Critique 27, Nr. 288 [1971], S. 387–429). – Vgl. Mattenklott 1981 (wie Anm. 5), S. 139–141; Jean Bollack: Szondis ›Celan-Studien‹ heute. In: Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 19/20 (2001), S. 5–9; König 2004 (wie Anm. 2), S. 64–71. König sieht die Celan-Studien mit ihren methodischen Neuansätzen insgesamt als »Experimente« an (ebd., S. 69). 56 Peter Szondi: Eden. In: ders.: Schriften II (wie Anm. 36), S. 390–398. 57 Ebd., S. 393 u. 395. Bemerkungen zu Peter Szondi
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Erlebnissequenz seines Berlinaufenthalts«, die auch vom Zufall bestimmt gewesen sei.58 Heißt das, dass nur diejenigen, die Celan in Berlin begleitet haben, dieses Gedicht adäquat verstehen können, dass wir wenigstens auf ihre detaillierten nachträglichen Informationen angewiesen sind, wie sie Szondi in diesem Text gibt?59 Was aber bedeutete das für alle die Texte von Celan, für die uns keine solchen genauen Informationen über ihre Entstehungskontexte vorliegen? Das Problem stellt sich analog für alle anderen Lyriker und Lyrikerinnen der Moderne, deren poetisches Verfahren vergleichbar mit demjenigen Celans ist.60 Szondi hat auf diese Fragen keine verbindlichen Antworten.61 Doch in einer gestrichenen Passage des Typoskripts, auf dem sein Kommentar-Fragment überliefert ist, stellt er folgendes Gedankenexperiment an: Weil im folgenden diese Frage untersucht werden soll, oder vielmehr: von der Arbeitshypothese ausgegangen, daß es diese Autonomie des Gedichts gibt und daß sie zu erfragen ist, werden die zuvor aufgezeichneten Wege von der Biographie zum Gedicht vernachlässigt. Wenn Interpretation und Strukturanalyse oft von der Verlegenheit gefärbt sind, daß dem Verständnis keine biographisch-historischen Daten zur Verfügung stehen, wie sie der Positivismus liebte, so kann sie hier, en connaissance 58 Ebd., S. 395. Schon im Traktat Über philologische Erkenntnis spricht Szondi vom »individuellen Vorgang, dessen Ergebnis die Stelle ist« (Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: ders.: Schriften I [wie Anm. 37], S. 263–286, hier S. 271). 59 Es gibt mittlerweile auch andere Augenzeugenberichte zu Celans Berlinaufenthalt, so den von Szondis damaliger Studentin Marlies Janz: »… noch nichts Interkurrierendes«. Paul Celan in Berlin im Dezember 1967. In: Celan-Jahrbuch 8 (2001/02), S. 335–345. Janz gibt einige zusätzliche Detail-Informationen, die vereinzelt von der Darstellung Szondis leicht abweichen. 60 Szondi befindet sich hier im Dissens mit Hilde Domin, die – der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers folgend – auch in Gedichten der Moderne stets das Allgemeine, nicht das Individuelle sucht. Szondi lehnt es denn auch im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen und Freunde ab, an Domins Buch Doppelinterpretationen (1966) mitzuwirken; vgl. König 2004 (wie Anm. 2), S. 62 f. Siehe dazu den Brief Domins an Szondi vom 10. Oktober 1965 sowie Szondis Gegenbriefe vom 14. und 15. Oktober 1965 sowie vom 18. März 1966; in: Domin/ Szondi: Briefwechsel (wie Anm. 54), S. 98–102. – Es ist Gadamer, der sich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. November 1972 mit dem Eden-Aufsatzfragment kritisch auseinandersetzt und bei aller Anerkennung der Verdienste Szondis eine verallgemeinernde, ent-individualisierende Interpretation von Celans Gedicht Du liegst im großen Gelausche … plausibel zu machen versucht. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Was muß der Leser wissen? In: ders.: Gedicht und Gespräch. Essays. Frankfurt/M. 1990, S. 115–122. 61 Friedmar Apel sieht das in seiner Polemik gegen den Versuch Isenschmids, Szondis Wirken auf dessen Biographie zurückzuführen (vgl. Isenschmid 2003 [wie Anm. 8]), ganz anders. Die tastende Interpretation in Eden versteht er als »eine demonstrative ›Antilektüre‹, die gerade zeigen sollte, daß ein Gedicht sowenig wie eine Person in dem aufgeht, was geschehen ist.« (Friedmar Apel: Unterschiedenes ist gut. Philologie und Politik bei Peter Szondi. In: FAZ vom 21. April 2004) Diese von Apel behauptete Sicherheit Szondis vermag ich aus dem späten, abbrechenden Text nicht herauszulesen.
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de cause, in einem von methodologischen Erwägungen motivierten absicht lichen Absehen von ihnen versucht werden. Rekurriert wird auf sie nur, um zu überprüfen, ob die Analyse ihr Material insgeheim nicht doch von ihnen bezieht, als Schmuggelware. Zugleich wird dank ihrer Kenntnis, die dem Leser vorgängig der Interpretation vermittelt worden ist, auch dieser die Arbeitshypothese verifizieren können, derzufolge die Determiniertheit des Gedichts durch den Erlebnishintergrund einer Autonomie hat weichen müssen, die in der immanenten Logik des Gedichts besteht.62
Diese Sätze sind gekennzeichnet durch eine doppelte Negation: Sie sprechen davon, dass die »biographisch-historischen Daten«, die zuvor als Materialien zum Verständnis des Gedichts gesammelt und präsentiert worden sind, wieder »vernachlässigt« werden sollen, um der »Autonomie des Gedichts«, seiner »immanenten Logik« nicht im Wege zu stehen. Zugleich sei das Wissen von den »Daten«, vom »Erlebnishintergrund« nützlich, um sie in ihrem zwiespältigen Status als »Schmuggelware« zu erkennen und so erst zur reinen »Autonomie« des Gedichts durchzudringen. Doch alle diese eindringlichen methodologischen Überlegungen werden von Szondi selbst ersatzlos gestrichen. Wie ist diese zweite Negation zu lesen? Wollte er damit die Abwertung der »Schmuggelware« und die Aufwertung der »Autonomie des Gedichts« wieder in Frage stellen, oder suchte er nur nach dann nicht mehr gefundenen, noch treffenderen Formulierungen? Wir wissen es nicht. Aber in dieser doppelten Negation, mit der Szondi seine postumen Leser allein lässt, eröffnet er eine Reflexion über das Verhältnis von Text und Leben, Autor und Leser, welche die Literaturwissenschaft bis heute beschäftigt.63 62 Szondi: Schriften II (wie Anm. 36), S. 429 f. Hervorhebung im Orig. Ein Faksimile der Typoskriptseite mit dieser gestrichenen Passage, welches das textgenetische Ringen um diese Formulierungen sinnfällig vor Augen führt, findet sich in König 2004 (wie Anm. 2), S. 64. 63 Jacques Derrida, den Szondi 1968 in Paris mit Celan bekannt machte, knüpft in seinem Celan-Buch auf die ihm eigene Weise daran an: »Wenn es um die Lesung eines Gedichts, um jenen Teilungsvorgang, zu dem die Lektüre ihrerseits wird, geht, so ist eine direkte Zeugenschaft, bezüglich jener Umstände, unter welchen ein Gedicht geschrieben wurde, besser: der Umstände, die von einem Gedicht benannt, die von ihm im eigenen Leib verschlüsselt, verkleidet oder datiert aufbewahrt werden, zugleich unerläßlich, wesentlich, aber doch nur von zusätzlichem Informationswert, letztlich also unwesentlich, da die besagte Zeugenschaft allenfalls ein Mehr an Verständlichkeit bewirken mag, worauf ein Gedicht getrost verzichten kann. Zugleich wesentlich und unwesentlich. Dieses Zugleich gehört – so lautet meine Hypothese – zur Struktur des Datums.« Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan [frz. 1986]. Graz; Wien 1986, S. 40. Hervorhebungen im Orig. – König (2004 [wie Anm. 2], S. 68) weist darauf hin, dass Szondi die »Folgen« des Dekonstruktivismus »für die Interpretation« noch nicht voll überschauen konnte. Immerhin beklagt Szondi im Brief an Herbert Dieckmann vom 20. November 1970, an »unserem Seminar« mache sich »immer mehr eine Esoterik à la Derrida breit«, was er »ungern« sage, »weil ich Derrida sehr gern habe« (Szondi: Briefe [wie Anm. 1], S. 317–319, hier S. 318). Bemerkungen zu Peter Szondi
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RELEK T ÜRE
Thomas Sparr
Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis
Ende Januar 1962 hielt Peter Szondi, der in diesem Semester mit der Vertretung einer Professur in Heidelberg betraut war, im Rahmen der Berliner Universitätstage »einen recht schwierigen Vortrag«1, wie er am 17. Januar 1962 Theodor W. Adorno schreibt. Der Aufsatz Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft 2 erschien bald darauf in der Neuen Rundschau und wurde einige Jahre später unter dem Titel Über philologische Erkenntnis den Hölderlin-Studien3 vorangestellt. Während der Arbeit an dem Text schreibt Szondi in dem genannten Brief an Adorno: Ich versuche, die gängigen Methoden philologischer Beweisführung sowie den Begriff des philologischen Wissens von ihren inneren Widersprüchen her zu sprengen, und komme zu einem Begriff der Erkenntnis, der Ihren Ausführungen (etwa in den »Voraussetzungen«) viel verdankt.4
Das ›recht Schwierige‹ liegt in der Verbindung von Theorie und Praxis, Grundsätzlichem und Partikularem, in der Spannung von Reflexion und ihrer Anwendung. Der Text birgt im Blick auf den Zustand der damaligen Universitäten und Philologien in Deutschland mehr Sprengstoff, als er nach außen sichtbar werden lässt. Was damals als explosiv erscheinen konnte, ist freilich heute Allgemeingut. Man muss den Abstand eines halben Jahrhunderts mit bedenken, wenn man heute Szondis Traktat liest. 1 Peter Szondi: An Theodor W. Adorno. In: ders.: Briefe. Hg. v. Christoph König; Thomas Sparr. Frankfurt/M. 1993, S. 122 f., hier S. 122. 2 Peter Szondi: Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft. In: Neue Rundschau 73 (1962), H. 1, S. 146−165. 3 Peter Szondi: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/M. 1967. Siehe ders.: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack u. a. Frankfurt/M. 1978, S. 261−412. 4 Szondi 1993 (wie Anm. 1), S. 122. Gemeint ist Adornos Essay Voraussetzungen. Aus Anlaß einer Lesung von Hans G. Helms in den Noten zur Literatur III; vgl. Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt/M. 1974, S. 431–446. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis
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Der 32-jährige Privatdozent hat im Januar 1962 gerade ein schwieriges, umstrittenes Habilitationsverfahren an der Freien Universität hinter sich und hält nun einen Vortrag, der mit der gängigen literaturwissenschaftlichen Praxis streng ins Gericht geht. Er sucht aus grundsätzlichen Erwägungen die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Praxis seiner Zeit und markiert einen Standard an Reflexion und Selbstvergewisserung, der ihm darin zu fehlen scheint. Zugleich ist dieser Vortrag aber auch die Selbstdeklaration eines jungen Philologen, der sein Forschungsfeld, die Stationen und Paradigmen der nachfolgenden zehn Jahre vermisst, die ihm noch bleiben werden. So birgt dieser eine Text, wie kein zweiter in Szondis Werk, ein historisches Fazit, eine Gegenwartsanalyse und einen Ausblick, der heute wiederum historisch geworden ist. Auch der Ort des Vortrags hat eine eigene, damals in der Zukunft liegende, heute historisch gewordene Bedeutung: 1965 wird Peter Szondi an die Freie Universität in West-Berlin berufen. Es geht in dem Grundsatzreferat um die Erkenntnisweise der Literaturwissenschaft, genauer: um das Objekt und den Modus dieser Erkenntnis. Szondi zitiert am Beginn einen Satz aus Friedrich Schleiermachers Kurzer Darstellung des theologischen Studiums: »Das vollkommene Verstehen einer Rede oder Schrift ist eine Kunstleistung und erheischt eine Kunstlehre oder Technik, welche wir durch den Ausdruck Hermeneutik bezeichnen.«5 Sodann zeigt er, wie sehr die gegenwärtige Philologie sich den Erfordernissen einer so verstandenen, umfassenden Hermeneutik verweigert. Philologische Erkenntnis beziehe sich für sie, so seine Kritik, auf das bloße Textverständnis, nicht aber auf den Ideengehalt und die Struktur des Kunstwerks und dessen Stellung im geschichtlichen Zusammenhang. In keinem der germanistischen Lehrbücher werde der Student Anfang der 1960er Jahre mit den prinzipiellen Fragen des Textverständnisses vertraut gemacht; Grundfragen der Hermeneutik blieben ausgeblendet. Acht Jahre später, 1970, wird Peter Szondi auf einem interdisziplinären Kolloquium zur Hermeneutik in Zürich äußern, der Literaturwissenschaftler sitze lediglich als »armer Verwandter«6 neben dem Theologen und dem Juristen am Tisch. Dass es eine theoretische Hermeneutik im germanisti-
5 Szondi zitiert den Satz nach der Einleitung des Herausgebers in folgender Ausgabe: Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hg. v. Heinz Kimmerle. Heidelberg 1959, S. 9–24, hier S. 20; vgl. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: ders. 1978 (wie Anm. 3), S. 263−286 [Szondi 1978a], hier S. 263. 6 Peter Szondi: Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik [1970]. In: ders.: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 5. Hg. v. Jean Bollack; Helen Stierlin. Frankfurt/M. 1975, S. 404–408, hier S. 404.
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Thomas Sparr
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schen Fach nicht gebe, könne auch, so Szondi schon 1962, mit ihrem reflexiven Wesen zusammenhängen: »In der Hermeneutik fragt die Wissenschaft nicht nach ihrem Gegenstand, sondern nach sich selber, danach, wie sie zur Erkenntnis ihres Gegenstands gelangt.«7 Die prinzipiellen Fragen der Hermeneutik sind bereits an Schlüsselstellen in Szondis früherem Vortrag formuliert; 1970 skizziert er sie dann erneut auf wenigen Seiten bescheiden als Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik: Die Konzeption der historischen Erkenntnis als einer durch den historischen Standort des Erkennenden mitbedingten stellt die literarische Hermeneutik vor die Aufgabe, Kriterien zu gewinnen, welche sie davor bewahrt, aus der als Selbsttäuschung erkannten Objektivität historistischer Einfühlung in die Willkür aktualisierender Subjektivität zu geraten.8
Zwei Kristallisationspunkte hebt Szondi dabei hervor: die Formanalyse und die Historizität der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis. Zunächst betont er die grammatische Interpretation in der Nachfolge von Schleiermachers Hermeneutik, eine Sprach- und Formanalyse, die bis dahin in seinen Augen zugunsten der ›psychologischen Interpretation‹, der Analyse des eigent lichen Gemeinten gegenüber dem Gemachten, vernachlässigt worden ist. Wenige Jahre zuvor, 1959, war Schleiermachers Hermeneutik in einer kritischen Edition von Heinz Kimmerle erschienen, angeregt durch Hans-Georg Gadamer, dessen grundlegendes Buch Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik im Jahr darauf herauskam. Als Szondi seinen Berliner Vortrag hielt, waren somit zwar nicht in der Literaturwissenschaft, zumindest aber in der Philosophie die entscheidenden Weichen für eine zeitgemäße Neuformulierung der Hermeneutik gestellt. Neben dem Primat der Analyse der literarischen Form, des Produziertseins auf Seiten des Objekts führt Szondi den Grundsatz von der Historizität der Erkenntnis auf Seiten des Subjekts ein. Dabei greift er auf Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte zurück: »Es solle eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herausgesprengt werden, wie auch ein bestimmtes Leben aus der Epoche, ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk.«9 Der Ertrag dieses Verfahrens besteht für Benjamin
7 Szondi 1978a (wie Anm. 5), S. 263 f. 8 Szondi 1975 (wie Anm. 6), S. 405 f. 9 Ebd., S. 407. Die von Szondi hervorgehobenen Passagen sind Benjamin-Zitate. Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2. Frankfurt/M. 1974, S. 691−704, hier S. 703. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis
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und diesem folgend auch für Szondi darin, »daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.«10 Was Szondi 1970 als programmatische Pfeiler einer literarischen Hermeneutik auf den Begriff bringt, die Seite des Objekts wie die des Subjekts, ist schon acht Jahre zuvor in seinem Traktat Über philologische Erkenntnis angelegt und wird im Wintersemester 1967/68 in einer großen Vorlesung zur Einführung in die literarische Hermeneutik11 münden. Anhand von einigen Zitaten aus Peter Szondis Traktat möchte ich versuchen, dessen Grundzüge darzustellen.
I. Die gelehrte Beschäftigung mit Werken der Literatur heißt auf englisch »literary criticism«, sie ist keine »science«. Ähnlich verhält es sich im Französischen.12
Scheinbar lapidar verweist Szondi auf einen Bedeutungsunterschied im Kontext unterschiedlicher nationaler Wissens- und Wissenschaftstraditionen und führt dabei die grundlegende Tätigkeit der Komparatistik ein, die des Vergleichs. Seine Neubewertung philologischer Erkenntnis führt wenige Jahre später zur Neubegründung des eigenen Faches ›Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft‹, das es in dieser Form bis dahin in Deutschland nicht gegeben hatte.13 Die Komparatistik sollte Szondi zufolge nicht allein unterschiedliche Nationalphilologien einschließen, sondern zugleich die Reflexion auf das Vergleichbare und die Methodik des Vergleichens. Das Bekenntnis zur Komparatistik kehrt bei Szondi immer wieder. Schon in seinen ersten Büchern, der Theorie des modernen Dramas von 1956 und dem Versuch über das Tragische von 1961 (seiner germanistischen Dissertation wie seiner Habilitationsschrift) hatte er ganz selbstverständlich die 10 Ebd. Hervorhebungen im Orig. Szondi (1975 [wie Anm. 6], S. 407) zitiert die gesamte Passage zustimmend. 11 Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. In: ders. 1975 (wie Anm. 6), S. 7–191. 12 Szondi 1978a (wie Anm. 5), S. 264. 13 Als ein Teil der Vorgeschichte der Komparatistik in Deutschland gilt gemeinhin die Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft in der Zwischenkriegszeit. Den ersten Lehrstuhl für Komparatistik in Westdeutschland gab es 1958 in Mainz; in Ostdeutschland wäre Hans Mayer zu nennen, der seit 1948 einen Lehrstuhl für Geschichte der Nationalliteraturen an der Universität Leipzig innehatte. Siehe hierzu den Beitrag von Dirk Werle in diesem Band, S. 361–381.
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französische, englische, italienische Literatur sowie die skandinavischen Literaturen und andere einbezogen. Der Begriff der Wissenschaft, den die deutsche Literaturwissenschaft so emphatisch pflegte, betont das Moment des Wissens und lässt einen positivistischen Grundzug hervortreten: Seit Dilthey braucht der prinzipielle Unterschied zwischen Naturwissenschaft, der des 19. Jahrhunderts, und Geisteswissenschaft nicht mehr erörtert zu werden, wenngleich die Literatur wissenschaft noch nicht all ihren seinerzeit den Naturwissenschaften entlehnten und den eigenen Gegenstand unangemessenen Kriterien und Methoden entsagt haben dürfte.14
Demgegenüber deutet Szondi das philologische Wissen, Stellenkommentar, Archivfund und einzelne Deutung, als »perpetuierte Erkenntnis«15. Die Beschreibung eines literarischen Textes werde nie an dessen Stelle treten können; jede erneute Lektüre setze sich direkt mit dem Text auseinander und bedeute Übereinstimmung mit und Abweichung von der vorangegangenen Deutung. Das zeige besonders deutlich der Extremfall des hermetischen Gedichts: Interpretationen sind hier Schlüssel. Aber es kann nicht ihre Aufgabe sein, dem Gedicht dessen entschlüsseltes Bild an die Seite zu stellen. Denn obwohl auch das hermetische Gedicht verstanden werden will und ohne Schlüssel oft nicht verstanden werden kann, muß es doch in der Entschlüsselung als verschlüsseltes verstanden werden, weil es nur als solches das Gedicht ist, das es ist. Es ist ein Schloß, das immer wieder zuschnappt, die Erläuterung darf es nicht aufbrechen wollen. Indem aber für den Leser eines Kommentars das Wissen des Interpreten wieder zur Erkenntnis wird, gelingt auch ihm das Verständnis des hermetischen Gedichts als eines hermetischen.16
Über das hermetische Gedicht (etwa von Stéphane Mallarmé, T. S. Eliot oder Paul Celan) hielt Szondi im Sommersemester 1967 ein eigenes Seminar ab. Er versteht es als hermeneutischen Grenzfall und gibt dabei in der Folge von Hugo Friedrichs Werk Struktur der modernen Lyrik von 1956 und den Diskussionen der ersten Treffen der Arbeitsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹ dem verketzerten Begriff des ›Hermetischen‹ eine neue Bedeutung, in der er sich von der herkömmlichen Vorstellung von ›Unverständlichkeit‹ distanziert. Seine spätere Schlüsselstudie über Paul Celan trägt deshalb auch 14 Szondi 1978a (wie Anm. 5), S. 264. 15 Ebd., S. 265. 16 Ebd., S. 266. Hervorhebung im Orig. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis
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mit Bedacht den Untertitel Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts.17 In den angelsächsischen Ländern fand Szondi zu seiner Zeit eine angesehene und etablierte Komparatistik mit Lehrstühlen in Harvard und Yale, in Cambridge oder Oxford sowie in Princeton vor, wo er im Winter 1965 ein Gasttrimester lang lehrte. Die internationale Vernetzung der deutschsprachigen Geisteswissenschaften musste damals nach Selbstisolation, Exil und Holocaust während des Nationalsozialismus erst wieder neu aufgebaut werden. Auch darin war Szondi, der ab 1965 Jacques Derrida, Hans Robert Jauß, Geoffrey Hartman, Robert Minder, Jean Bollack oder Paul Celan an das von ihm begründete Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft nach Berlin-Dahlem einlud, im deutschsprachigen Raum ein Wegbereiter.
II. Die moderne Geschichts- und Literaturwissenschaft entstand im neunzehnten Jahrhundert im Gegenzug gegen die spekulativen Systeme des Deutschen Idealismus.18
Dieser auf die Wissenschaftsgeschichte gemünzte Satz Szondis kennzeichnet auch sein eigenes Werk. Es steht zwischen der Geschichtsphilosophie Hegels, deren Impulse er in seiner Theorie des modernen Dramas aufnimmt, und der immanenten Analyse, dem, was Szondi »philologische Tatsachenforschung«19 nennt. Der junge Privatdozent spricht von der »Dankbarkeit gegenüber den Forschungen der Positivisten von einst und jetzt«20, deren sich gerade die Theoretiker – wie er selber – bewusst seien. Im Nachwort zu seiner Doktorarbeit vermerkt Szondi 1956, das Ziel seiner Theorie des modernen Dramas sei »der Aufweis neuer Formen, denn die Geschichte der Kunst wird nicht von Ideen, sondern von deren Formwerdung bestimmt.«21 Die Form zeigt den Inhalt an; Veränderungen der dramatischen Form lassen sich als ›niedergeschlagener‹ Inhalt lesen. Szondi entwickelt eine Formsemantik; die Wider17 Peter Szondi: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts. In: ders.: Schriften II. Hg. v. Jean Bollack u. a. Frankfurt/M. 1978, S. 345−389 [Szondi 1978b]. 18 Szondi 1978a (wie Anm. 5), S. 267. 19 Ebd., S. 268. 20 Ebd., S. 267. 21 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. In: ders.: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack u. a. Frankfurt/M. 1978, S. 9−148, hier S. 147.
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sprüche in der Gestaltung des Kunstwerks, etwa technische Schwierigkeiten der Form (hier kommt der hermeneutische Grundsatz der grammatischen Interpretation zum Tragen; beim frühen Schleiermacher ist ›technisch‹ sogar der Gegensatz zu ›grammatisch‹), werden als Ausdruck eines historischen Konflikts wahrnehmbar. Die Vereinzelung des Individuums, sein ›Reflektieren-Müssen‹, in dem Lukács die Melancholie des 19. Jahrhunderts, die treibende Kraft des Romans sah, der Rückzug des Einzelnen von unüberschaubar werdenden sozialen Verhältnissen lassen immer weniger Raum für Handlung und Dialog, von denen das Drama lebt. An diesem Wendepunkt zur Moderne hält der Roman, aber auch die Lyrik Einzug auf den Bühnen. Szondis Aufmerksamkeit richtet sich auf die gemischte, sich fremd werdende Gattung. Die Theorie des modernen Dramas führt drei geistesgeschichtliche Strömungen zusammen, die bis dahin strikt voneinander getrennt waren: die poetischen Grundbegriffe Emil Staigers, dessen Schüler Szondi in Zürich war und von dem er die Kunst der Interpretation22 lernte, um die Grenzen ihrer Werkimmanenz fortan zu überschreiten; Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik 23, die eine Theorie des Stilwandels entwickelt; und die Literatursoziologie von Georg Lukács, der in seinem 1912 zuerst auf ungarisch erschienenen Aufsatz Zur Soziologie des modernen Dramas24 die zeitgenössische Dramatik analysierte. Die Theorie des modernen Dramas zieht ein Resümee der maßgebenden Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts und ihres historischen Fluchtpunkts Hegel, aber sie errichtet nicht selber ein vollständiges theoretisches Gebäude, sondern relativiert die Baupläne, die sie vorfindet. Der Traktat Über philologische Erkenntnis nimmt die empirische Literaturwissenschaft in den Blick, die Anfang der 1960er Jahre in Deutschland vorherrschte.
22 Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Zürich 1955. 23 Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik. In.: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 12. Frankfurt/M. 1975. 24 Georg Lukács: Zur Soziologie des modernen Dramas. In: ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Hg. v. Heinz Maus u. a.. Neuwied 1961, S. 261−295. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis
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III. Der himmlischen, still wiederklingenden, Der ruhigwandelnden Töne voll, Und gelüftet ist der altgebaute, Seeliggewohnte Saal; um grüne Teppiche duftet Die Freudenwolk’ und weithinglänzend stehn, Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche, Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe, Zur Seite da und dort aufsteigend über dem Geebneten Boden die Tische. Denn ferne kommend haben Hieher, zur Abendstunde, Sich liebende Gäste beschieden.25
So lautet die erste Strophe von Hölderlins Hymne Friedensfeier, deren Reinschrift erst 1954 gefunden worden war. In der Auslegung dieser Strophe verweist Szondi auf den Streit der Philologen, ob eine Stelle metaphorisch gemeint sei oder nicht. In Friedrich Beißners Kommentar zu der Strophe in der Großen Stuttgarter Ausgabe heißt es: »Einige Erklärer wollen in diesem dichterisch erbauten und erhöhten Raum der Gottesbegegnung durchaus die Metapher einer Landschaft sehen […]. Wäre indes eine Metapher gemeint, so stünde sie in Hölderlins gesamtem Werk ohne Beispiel da.«26 Szondi nimmt die Auseinandersetzung mit Beißners Kommentar und dessen Methodik auf, also mit einer der einflussreichsten Strömungen der Germanistik jener Zeit, die er »philologische Tatsachenforschung« nennt. Am 28. November 1963 fragt Theodor W. Adorno bei Szondi an, ob er ihm seinen Aufsatz Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins widmen dürfe: Das ist nicht rhetorisch gemeint. Ich bin unbescheiden genug, mir einzubilden, daß die Widmung Ihnen Freude machen wird; aber ich kenne die Sitten und Gebräuche der akademischen Welt zu genau, um nicht zu wissen, daß eine Widmung von mir, und gerade die dieses Textes, und gerade zu dieser Zeit, da ja eine Berufung für Sie bald akut werden muß, Ihnen unter Umständen schaden kann. Ob das der Fall ist, vermögen nur Sie abzuwägen.27
25 Friedrich Hölderlin: Friedensfeier. In: ders.: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hg. v. Friedrich Beißner. Bd. 3. Stuttgart 1957. S. 531−538, hier S. 533. 26 Friedrich Beißner: Erläuterungen. In: ebd., S. 549. 27 Adornos Brief wird zitiert nach dem Kommentar in Szondi 1993 (wie Anm. 1), S. 141.
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Szondi antwortet eine Woche später: Verehrter, lieber Herr Professor, lassen Sie mich von Herzen danken. Sie hätten mir keine grössere Freude bereiten können. Ihre Widmung ist mir ein Zeichen von Sympathie und Anerkennung, das mir guttut, auch wenn ich weiss, dass ich seiner nicht immer würdig bin. Sehr herzlich danken möchte ich Ihnen auch dafür, dass Sie mich auf die Wirkung aufmerksam machen, welche die Widmung in der germanistischen Zunft haben könnte. Aber ich bin weder fähig noch gewillt, solche Rücksichten zu nehmen. Auch dürfte sich ja allmählich herumgesprochen haben, wie ich zu Ihnen stehe; das war mir stets lieb, und so soll es bleiben.28
Als Szondi diesen Brief schreibt, leidet er an einer schweren Depression und hat sich ins elterliche Haus in Zürich zurückgezogen. Adornos Aufsatz ist in der Druckfassung schließlich tatsächlich »Peter Szondi gewidmet«.29
IV. Vielmehr gehört gerade die Historizität zu seiner Besonderheit, so daß einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt.30
Szondi wendet sich sowohl gegen eine materialistische als auch gegen eine idealistische Literaturgeschichtsschreibung, die beide das literarische Werk als Ausdruck einer Idee oder eines sozialen Konflikts, gar eines Klassenstandpunkts, sehen. Seine eigene historische Formsemantik prägt vor allem die Theorie des modernen Dramas, wenn Szondi auch später in seiner Theorie des bürgerlichen Trauerspiels eine historische Schärfeneinstellung mit den Mitteln der Sozialgeschichtsschreibung suchte. Auch Das lyrische Drama des Fin de Siècle, eine Vorlesung über Mallarmé, Maeterlinck, Rilke und Hofmannsthal, macht eine historische Textur der gattungsmäßigen Brüche und Widersprüche aus. Zu Beginn führt Peter Szondi aus, dass die Versenkung ins einzelne Werk, die Interpretation, »nicht den Auszug aus der Historie«31 bedeute:
28 29 30 31
Ebd., S. 135. Theodor W. Adorno: Parataxis. In: ders. 1974 (wie Anm. 4), S. 447–491, hier S. 447. Szondi 1978a (wie Anm. 5), S. 275. Hervorhebung im Orig. Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 4. Hg. v. Henriette Beese. Frankfurt/M. 1975, S. 17. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis
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[…] die neunzehnfünfziger und -sechziger Jahre werden dem Wissenschaftshistoriker später vielleicht als die Zeit erscheinen, in der Interpretation und Geschichte miteinander vermittelt wurden, in der eine neue Literaturgeschichtsschreibung möglich wurde, eine im Geiste der Interpretation. Immanente Interpretation sollte heute nicht mehr bedeuten, daß von der Geschichte abstrahiert wird um eines selig in sich Scheinenden willen, sie sollte bedeuten, daß Geschichte nicht als ein Kunstwerktranszendentes begriffen wird, das sich im einzelnen Werk zu erkennen gibt, das das einzelne Werk hervorbringt oder zu dem die vielen Werke – wie Mosaiksteinchen zum Bild – sich vereinigen, sondern als etwas, das dem Kunstwerk immanent ist und von der Interpretation in dieser seiner Immanenz aufgewiesen wird.32
Hier erweist sich Szondi als vorausblickender Historiker seiner selbst. Wie sehr dieser Grundsatz der immanenten Interpretation Szondis Methodik bestimmt, zeigt sein letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Aufsatz: Lecture de Strette (Durch die Enge geführt)33, eine Auslegung von Paul Celans Engführung, der das Lesen des Textes mit dem Gang durch ein Gelände verbindet: »Verbracht ins / Gelände / mit der untrüglichen Spur«.34 Vers für Vers, Strophe für Strophe weist Szondi nach, dass der Text selber zum Gelände wird, zu einem geschichtlichen Ort, den die Analyse Schritt für Schritt freilegt. Der Leser wird mit dem ersten Wort ins Gelände ›verbracht‹, was die französische Übersetzung des Worts, die Szondi seinem auf Französisch verfassten Aufsatz zugrunde legte, in seiner ganzen Dimension offenbart: ›déporté‹. Die Historizität liegt in der poetischen Gestaltung, die nicht auf etwas eigentlich Gemeintes zielt, eine Intention hervortreten lässt, sondern den Text durch eine Vergangenheit hindurchgehen lässt, die sich als Gegenwart erweist. »Für Celan war Auschwitz kein Thema«, notiert Szondi 1964 eher beiläufig auf ein Blatt.35
V. So wertvoll die Parallelstellen für die Deutung auch sind, sie darf sich auf sie nicht als auf von ihr unabhängige Beweise stützen, denn die Beweiskraft haben sie von ihr. Diese Interdependenz gehört zu den Grundtatsachen philologischer Erkenntnis, über die kein Wissenschaftsideal sich hinwegsetzen darf.36 32 Ebd. 33 Szondi 1978b (wie Anm. 17). 34 Paul Celan: Engführung. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Beda Allemann u. a. Frankfurt/M. 1986. Bd. 1, S. 195–204, hier S. 197. 35 Szondi 1993 (wie Anm. 1), S. 165. 36 Szondi 1978a (wie Anm. 5), S. 281.
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Dieser Satz gehört mittlerweile zum Standardrepertoire eines jeden germanistischen Proseminars. Bevor dieser Satz eine solche Geltung erhielt, war die Parallelstellenmethode gängige philologische Praxis, ein hermeneutischer Zirkelschluss, der Verschiedenheiten zugunsten des vermeintlich Gleichen auflöste. Was die Philologie seiner Zeit Szondi zufolge zu wenig beachtete und achtete, waren Mehrdeutigkeiten, Ambiguitäten, die man nicht aufheben dürfe, sondern zum Zentrum der Deutung machen müsse, wie Szondi in seinem Kommentar zu Kleists Amphitryon37 zeigt. Jedem Kunstwerk sei ein monarchischer Zug eigen, eine Singularität und ein Grundzug des Unvergleichlichen. In Durch die Enge geführt heißt es: Man fragt sich zwangsläufig, doch zu Unrecht bei diesen ersten Versen von Engführung, was mit dem Gelände / mit der untrüglichen Spur gemeint sei. Gewiß ist man zunächst versucht, wie üblich Parallelstellen heranzuziehen, ein Verfahren, nach dem man die Verse Gelände / mit der untrüglichen Spur, deren Sinn man nicht kennt, mit anderen Versen aus Celans Werk vergleicht, die man schon zu verstehen glaubt und in denen eben einer dieser Ausdrücke vorkommt. Spräche selbst, was an sich fragwürdig ist, etwas für die Annahme, daß dieselbe Wendung an verschiedenen Stellen auch dieselbe Bedeutung hat, ja schiene selbst das Verständnis, das an der einen Stelle gesichert scheint, den Sinn des Verses, den man zu verstehen sucht, zu erläutern, so wird dieser doch klar, ohne daß man ihn verstanden hätte, denn was die Worte bedeuten, ergibt sich gerade durch den besonderen Gebrauch, der sich zunächst dem Verständnis entzieht.38
Es ist für das Verständnis des Gedichts von Celan zentral, dass man die Unverständlichkeit festhält.
VI. Die Literaturwissenschaft darf nicht vergessen, daß sie eine Kunstwissenschaft ist; sie sollte ihre Methodik aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs gewinnen; sie kann wirkliche Erkenntnis nur von der Versenkung in die Werke, in »die Logik ihres Produziertseins« erhoffen.39
Am Ende seiner Ausführungen kehrt Szondi zum anfänglichen Impuls zurück, der »apriorität des Individuellen«, um ein Wort von Hölderlin zu verwenden, das die philologische Erkenntnis zu ihrer Prämisse machen soll37 Peter Szondi: Amphitryon. Kleists »Lustspiel nach Molière«. In: ders.: Schriften II. Hg. v. Jean Bollack u. a. Frankfurt/M. 1978, S. 155−169. 38 Szondi 1978b (wie Anm. 17), S. 345. 39 Szondi 1978a (wie Anm. 5), S. 286. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis
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te.40 Die Wendung »Logik ihres Produziertseins« geht auf einen Aufsatz von Theodor W. Adorno zurück, in dem es heißt: Die Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins zu sehen – eine Einheit von Vollzug und Reflexion, die sich weder hinter Naivetät verschanzt, noch ihre konkreten Bestimmungen eilfertig in den allgemeinen Begriff verflüchtigt, ist wohl die allein mögliche Gestalt von Ästhetik heute.41
Valérys Abweichungen heißt der Essay Adornos, der 1960 zuerst in der Neuen Rundschau gedruckt wurde42, dort also, wo zwei Jahre später auch Szondis Traktat Über philologische Erkenntnis erschien. Die im Titel genannten ›Abweichungen‹ beziehen sich auf die deutsche Ausgabe von Valérys Rhumbs43, die Peter Szondi 1959 zusammen mit Bernhard Böschenstein und Hans Staub ins Deutsche übertragen hatte, eine Auswahl aus den Merkbüchern, deren Titel Windstriche das Rhumbs des Originals wiedergibt. Szondi erweist Adorno am Ende seines Vortrags die Reverenz, so wie er sich zuvor, verschlüsselter, auf Walter Benjamin, Emil Staiger und Georg Lukács bezogen hatte. Einen »Médiateur« hat Gert Mattenklott seinen akademischen Lehrer genannt.44 Peter Szondi war ein Vermittler bis dahin getrennter Theorien, ein Vermittler aber auch seiner Fächer, der Germanistik, der Romanistik und der Philosophie. Keiner dieser Disziplinen gehörte Szondi ganz zu, und umso mehr suchte er nach einer sie verbindenden Perspektive. Sein Entwurf einer literarischen Hermeneutik ist heute philologisches Allgemeingut geworden; die verborgene, starke, doch im Ganzen sachliche Polemik von Szondis Vortrag lässt sich daher kaum noch ermessen. Vermutlich am 18. Oktober 1971 schied Peter Szondi in Berlin aus dem Leben. In den Jahren danach erschienen die fünfbändige Studienausgabe seiner Vorlesungen und die zweibändige Ausgabe seiner Schriften. Beide zeigen das ganze Spektrum seiner Forschungen, die Konstanz von Motiven seiner Werke, die nirgendwo so dichten Ausdruck fanden wie in Über philologische Erkenntnis. Dem schmalen Text hat der junge Gelehrte ein Wort von Hölderlin als Motto vorangestellt: »Unterschiedenes ist / gut.«45 40 Friedrich Hölderlin: Bruchstück 81. In: ders.: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hg. v. Friedrich Beißner. Bd. 2.1. Stuttgart 1951, S. 339. Hervorhebung im Orig. 41 Theodor W. Adorno: Valérys Abweichungen. In: ders. 1974 (wie Anm. 4), S. 158–202, hier S. 159. 42 Theodor W. Adorno: Valérys Abweichungen. In: Neue Rundschau 71 (1960), H. 1, S. 1−28. 43 Paul Valéry: Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Übertragen v. Peter Szondi; Bernhard Böschenstein; Hans Staub. Wiesbaden 1959. 44 Gesprächsweise Äußerung von Gert Mattenklott, Berlin im Juli 1988. 45 Szondi 1978 (wie Anm. 3), S. 262. Vgl. Friedrich Hölderlin: Bruchstück 44. In: ders. 1951 (wie Anm. 40), S. 327.
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Autorinnen und Autoren
Bernd Auerochs, Professor für Neuere deutsche Literatur/Literaturwissenschaft am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der ChristianAlbrechts-Universität, Kiel Nicolas Berg, Historiker, Leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am SimonDubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Leipzig Dieter Burdorf, Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie am Institut für Germanistik der Universität Leipzig Detlev Claussen, Professor em. am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover Ottfried Fraisse, Judaist und Theologe, Wissenschaftlicher Koordinator des Graduiertenkollegs »Theologie als Wissenschaft – Formierungsprozesse der Reflexivität von Glaubenstraditionen in Judentum, Christentum und Islam« an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main Elisabeth Gallas, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Research Fellow am Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien, Wien Natasha Gordinsky, Komparatistin, Dozentin in der Abteilung für Hebräische und Vergleichende Literaturwisschenschaft der Universität Haifa Hans-Joachim Hahn, Literaturwissenschaftler, Assoziiertes Mitglied im Forschungsverbund »Imitation – Assimilation – Transformation« der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Silke Horstkotte, Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Leipzig Andreas Isenschmid, Journalist und Kritiker, Berlin; arbeitet für Zeitungen, Radio und Fernsehen, u. a. für die Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit, den Deutschlandfunk und 3Sat; Mitglied der Jury des deutschen Buchpreises Autorinnen und Autoren
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Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft und Mitglied des »Zentrums für die Geschichte des Wissens« an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Dorothee Kimmich, Professorin für Literaturwissenschaftliche Kulturwissenschaft und Kulturtheorie am Deutschen Seminar der Eberhard Karls Universität, Tübingen Irmela von der Lühe, Professorin em. für Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin Anna Lux, Historikerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Gesellschaftliche Innovation durch ›nichthegemoniale‹ Wissensproduktion« an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau Elisabetta Mengaldo, Literaturwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Dirk Oschmann, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Leipzig Gerhard Scheit, Sozial- und Literaturwissenschaftler, u. a. Mitherausgeber der Werkausgabe von Jean Améry; freier Autor, Wien Galili Shahar, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Leiter des Minerva Instituts für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv Thomas Sparr, Literaturwissenschaftler, Mitgeschäftsführer des SuhrkampVerlags, Berlin; Mitglied der Jury Geisteswissenschaften International im Börsenverein des deutschen Buchhandels Jan Süselbeck, Literaturwissenschaftler, Redaktionsleiter der Zeitschrift literaturkritik.de, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg und Projektmitarbeiter an der Universität Siegen
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Toni Tholen, Professor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik mit dem Schwerpunkt Literaturwissenschaft am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Hildesheim Daniel Weidner, Germanist und Komparatist, Stellvertretender Direktor des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin Sigrid Weigel, Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung und Vorsitzende der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin, Professorin am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin Mirjam Wenzel, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin, Leiterin der Medienabteilung am Jüdischen Museum Berlin Dirk Werle, Privatdozent für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Leipzig Markus Wiegandt, Literaturwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Leipzig Philipp von Wussow, Philosoph, Redakteur der »Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur«, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-DubnowInstitut für jüdische Geschichte und Kultur, Leipzig Susanne Zepp, Professorin für Literaturwissenschaft (Spanisch, Portugiesisch, Französisch) am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin und Stellvertreterin des Direktors am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Leipzig
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Personenregister Abromeit, John 253 Abusch, Alexander 385 Adorno, Gretel (geb. Margarete Karplus) 81 Adorno, Theodor W. (Theodor Wiesengrund-Adorno) 14 f., 17–29, 32, 40, 47, 52 f., 56, 59, 62, 65–67, 72–74, 76, 79, 81, 91 f., 96, 101, 113, 118 f., 126, 137, 140, 145 f., 148 f., 159–183, 185–193, 195–213, 215–219, 227, 234, 240, 250 f., 303, 323, 338, 363–368, 373–375, 377–381, 383 f., 386, 389, 403–407, 409 f., 412–414, 418, 421 f., 427, 433–435, 438 Agamben, Giorgio 136 Ahmadinedschad, Mahmud 231 Akiba ben Josef: siehe Rabbi Akiba Albrecht, Clemens 9, 161, 367 Albrecht, Gerhard 93 Alcan, Félix 82 Allemann, Beda 143, 436 Almgren, Birgitta 367 Alter, Robert 143 Althaus, Claudia 321 Althaus, Thomas 67, 70 Améry, Jean 16 Ammon, Frieder von 369 Anders, Günther (Pseudonym für Günther Stern) 402, 413 Apel, Friedmar 419, 424 Apollinaire, Guillaume (Wilhelm Albert Włodzimierz Apolinary de Wąż-Kostrowicki) 405–407, 416 Apter, Emily 353 Arendt, Hannah 16, 18, 21 f., 29–31, 60, 161, 237, 289–307, 309–320, 321–327, 343, 396, 413 Aristoteles 243 Arnheim, Rudolf 104 f.
Arnim, Bettina von 254 Arnold, Gunter 74 Arnold, Heinz Ludwig 66, 73, 75 f. Aschheim, Steven Edward 322 Asholt, Wolfgang 253 Assmann, Aleida 10, 264 Assmann, Jan 10, 264 Auden, Wystan Hugh 309, 320 Auerbach, Erich 15, 22, 30–32, 329–358, 376 Auerochs, Bernd 25 f., 139 f., 439 Aufhäuser, Siegfried 92 Augé, Marc 110, 114 Augustinus 306 Bachmann, Ingeborg 310, 314 Bachmann-Medick, Doris 26 Bachofen, Johann Jakob 126, 153, 156 Bachtin, Michail Michailowitsch (auch Mikhail M. Bakhtin) 337 Baeck, Leo 188 Balázs, Béla 25, 46, 48, 103 f. Balke, Friedrich 149, 153 Balzac, Honoré de 169, 332, 336 Barck, Karlheinz 330–332, 341, 354, 356 Barnard, Malcolm 103 Barnouw, Dagmar 118 Barthes, Roland 253 f. Baudelaire, Charles 15, 134, 171, 207, 250, 386 Baum, Gerhard Rudolf 226 Baum, Oskar 144 Becher, Johannes Robert 372 f., 385 Beckett, Samuel 160, 169, 177, 395, 408 Beer-Hofmann, Richard 365 Beese, Henriette 419, 435 Beethoven, Ludwig van 247, 421 f. Béguin, Albert 396 Behler, Ernst 41 Personenregister
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Beiküfer, Anja 105 Beißner, Friedrich 421, 434, 438 Belke, Ingrid 52, 58, 93, 95, 105 f., 109 f., 112, 114, 118 Belting, Hans 103 Benhabib, Seyla 316, 321, 325 f., Benjamin, Walter 14 f., 17–23, 25 f., 29–32, 35, 44, 52, 55–59, 62, 65–72, 75 f., 78 f., 81, 91, 95, 97, 101, 104–106, 109 f., 117, 121, 125–137, 139–141, 143–157, 162, 176 f., 181, 186, 188 f., 192 f., 196, 199 f., 208, 212, 217 f., 222, 224, 229, 234, 236 f., 259–261, 263–271, 274, 277–279, 289–307, 309, 312, 314, 317, 320, 331, 338–341, 349, 356, 363, 366, 373, 391, 402, 413, 415 f., 429 f., 438 Benseler, Frank 40, 43, 45, 61, 390, 412 Berdjajew, Nikolai Alexandrowitsch 404 Berg, Nicolas 16, 192, 439 Bergh, Gerhard van den 160 Berghahn, Klaus L. 73 Bergmann, Hugo 279 Bernard, Andreas 196, 206 Bernfeld, Siegfried 266 Bernstein, Richard 322 Bhatti, Anil 115 Biale, David 274 Bialik, Chaim Nachman 147, 259–261, 263, 277 Biebl, Sabine 93, 97, 100 Biemel, Walter 162 Birus, Hendrik 392 Blixen, Tanja 309, 320 Bloch, Ernst 13 f., 16, 22–24, 32, 42, 47, 65–79, 96, 117, 147, 218, 373, 385, 409, 413 Bloch, Jan Robert 66, 75 Bloch, Karola 67, 96 Bloom, Harold 274 Blücher, Heinrich 317 Blumenberg, Hans 113, 164, 295, 297, 303 Blumenthal, Herbert 140 f.
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Boccaccio, Giovanni 332, 335 Boden, Petra 384 Boehm, Gottfried 103 Böhm, Elisabeth 196 Bohrer, Karl Heinz 252, 414 Boll, Monika 16, 186, 215, 363, 411 Bollack, Jean 53, 391, 394, 400, 410, 414 f., 418 f., 423, 427 f., 432, 437 Bollack, Mayotte 417–419 Borchardt, Rudolf 375 Born, Jürgen 144 Börnchen, Stefan 376 Böschenstein, Bernhard 206, 405, 416 f., 438 Bousset, Wilhelm 272 Boyarin, Daniel 347 Braese, Stephan 16 Brahms, Johannes 206, 211 f. Brecht, Bertolt 29, 65, 134–136, 140, 145, 193, 309, 314, 320, 339, 371, 385 Bredekamp, Horst 103 Bredel, Willi 385 Breidecker, Volker 113 Brentano, Clemens 401 Broch, Hermann 309, 314, 317, 320 Brocke, Michael 157 Brod, Max 144–146, 148 Brunkhorst, Hauke 241, 322 Buber, Martin 127, 237, 267 Büchner, Georg 371, 417 Buck-Morss, Susan 199 Buguet, Henry 94 Burchhardt, Escha 30, 269, 283 Burckhardt, Jacob 247 Burdorf, Dieter 34, 206, 420, 439 Bürger, Christa 254 Bürger, Peter 242, 254, 414 Burger, Heinz Otto 410 Burschel, Peter 15 Butler, Judith 95 Buttlar, Horst von 229 Calin, William 339 Camus, Albert 400, 416
Personenregister
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Cardoso, Abraham 273 Cartwright, Lisa 103 Cassirer, Ernst 117, 160 Celan, Paul (Pseudonym für Paul Antschel) 34, 169, 188, 208, 391, 399, 407, 409, 415, 417–420, 423–425, 431 f., 436 f. Celan-Lestrange, Gisèle 418 Cervantes Saavedra, Miguel de 53, 216, 331 f., 335 f. Cézanne, Paul 253, 421 Chaplin, Charlie (Charles Spencer Chaplin Jr.) 96 Char, René 30, 289, 291 Christophersen, Claudia 317 Claussen, Detlev 27, 186, 439 Cobb, Mark 253 Cohen, Hermann 141, 147, 239, 267 Colli, Giorgio 153, 203, 372 Crary, Jonathan 112 Croner, Fritz 93 Curtius, Ernst Robert 339, 376 Dahm, Volker 144 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 201 Damrosch, David 356 Danneberg, Lutz 367 Dannemann, Rüdiger 42 f. Dante Alighieri 331 f., 334, 341 Danuser, Hermann 206 Danzel, Theodor Wilhelm 370 Darwin, Charles Robert 153 f. Deborin, Abram Moissejewitsch 59 Debussy, Achille-Claude 395 Defert, Daniel 162, 253 Deleuze, Gilles 201, 337 Demirović, Alex 161 Demuth, Fritz 92 Derrida, Jacques 95, 305, 346, 348 f., 357, 405, 423, 425, 432 Descartes, René 84 Desperes, Dov (Pseudonym für Bernd Auerochs) 125 Dessoir, Max 39
Detering, Heinrich 400 Deuber-Mankowsky, Astrid 141 Deutscher, Isaac 237 Diderot, Denis 201 Dieckmann, Herbert 425 Dilthey, Wilhelm 53, 419 f., 431 Diner, Dan 9, 12, 15, 316, 321 f., 358 Diogenes Laertios 83 Doflein, Erich 365 Domin, Hilde 310, 393, 423 f. Dostojewski, Fjodor Michailowitsch (auch Dostojewskij, Dostoevsky) 28, 39, 42, 44–51, 55–59, 216, 224, 225 f., 235, 337 Dreyfus, Alfred 325 Dubiel, Helmut 28, 41, 215, 217, 219, 221–223, 230 f., 233–238, 240, 368 Duchamp, Marcel 253 Dürrenmatt, Friedrich 408 Durzak, Manfred 416 Eddon, Raluca 325 Eggebrecht, Hans Heinrich 206 Eibl, Karl 392 Eichendorff, Joseph von 401–404, 406, 416 Eichmann, Otto Adolf 320 Eichner, Hans 41 Eimermacher, Karl 115 Eisenstein, Sergej Michailowitsch 100 Eisler, Hanns 18 Elberfeld, Rolf 254 Eliot, Thomas Stearns 431 Elkins, James 104 Engelberg, Ernst 363 Engelmann, Peter 95 Engels, Friedrich 42, 54, 189 Enzensberger, Hans Magnus 310 Eörsi, István 50 Erasmus von Rotterdam 118 Ernst, Paul 41 f., 47 f. Eßbach, Wolfgang 116 Ette, Ottmar 253 Ette, Wolfram 160 Personenregister
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Euripides 348 Ewald, François 162, 253 Falke, Eberhard 31, 309 Fasold, Regina 372 Faulkner, William 315 Fehér, Ferenc 42, 45, 48 f., 61 f. Feilchenfeldt, Konrad 319 Feldman, Ron H. 324 f. Feuchtwanger, Ludwig 236 Feuerbach, Ludwig Andreas 189 f. Fichte, Immanuel Hermann 45 Fichte, Johann Gottlieb 45, 52, 55 Fietkau, Wolfgang 41 Fischer, Joachim 116 Flaubert, Gustave 168 f., 332, 336 Fontane, Heinrich Theodor 342 Forel, Oscar 396 Foucault, Michel 110, 162, 201, 253 Fraisse, Ottfried 30, 439 Franco, Francisco 89 Frank, Jakob 277 Frank, Manfred 88 Frank, Walter 92 Franz Joseph I. (Franz Joseph Karl von Habsburg), Kaiser von Österreich 60 Freud, Sigmund 162, 200, 236 f., 246, 305, 330, 346 f., 355, 392 Freund, Gisèle 21 Frey, Hans-Jost 206 Freytag, Gustav 216 f., 342 Freytag, Tatjana 228 Fricke, Gerhard 79 Fricke, Harald 368 Friedrich, Hugo 376, 431 Frings, Theodor 33, 372, 384 Frisch, Max 314, 415 Fromm, Erich 233, 237 f. Frühwald, Wolfgang 401, 403 Frye, Northrop 339 Funk, Rainer 238 Fürstenberg, Max 92 Gadamer, Hans Georg 424, 429
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Gallagher, Catherine 338 Gallas, Elisabeth 31, 439 Garber, Klaus 143 García-Düttmann, Alexander 199, 211 Gaus, Günter 21, 293, 309, 324 Gawoll, Hans-Jürgen 78 Geertz, Clifford 126 Gehlen, Arnold 191 Geiger, Abraham 283 Geller, Jay 347 Gellrich, Jesse M. 341 Genette, Gérard 126 George, Stefan 41 f., 204–207, 299 f., 369, 386 Gerstenmaier, Eugen 400 Gide, André 168 Gilman, Sander L. 347 Ginsburg, Golde 238 Ginzburg, Carlo 112 Gladigow, Burkhard 264 Gödde, Christoph 58, 68, 81, 125, 140, 271, 364 Goebel, Eckart 176, 293 Goethe, Johann Wolfgang (von) 14, 29, 41, 46, 130, 132, 170, 204, 208, 225, 229 f., 241, 244, 248, 299 f., 317, 319, 331 f., 340–342, 367–370, 372, 378, 386, 392–394, 401, 413, 415, 417, 421 Goldberg, Arnold 264 Goldberg, Lea (Leah) 410 Goldschmidt, Georges-Arthur 305 Goldwyn, Samuel (Schmuel Gelbfisz) 97 Goll, Yvan 409 Göpfert, Herbert G. 79 Gordinsky, Natasha 32, 439 Gorki, Maxim 41, 59 Göttlich, Udo 218, 222, 224, 230 f., 233 f. Göttsche, Dirk 67 Grabenko, Jelena Adrejewna 49 Green, William Scott 127, 264 Greenblatt, Stephen 126, 137, 338 Greffrath, Mathias 215, 231
Personenregister
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Greiner, Martin 384 Grimm, Gunter E. 74 Grimm, Jacob 331 Grimm, Wilhelm 331 Gross, Raphael 16, 186, 215, 363, 411 Grossmann, Henryk 363 Grözinger, Karl Erich 143 Gruenter, Rainer 417 Gründer, Karlfried 125, 266, 281 Grunert, Frank 76, 118 Guattari, Félix 201 Gumbrecht, Hans-Ulrich 330 f., 339, 422 Gundolf, Friedrich 299, 369 Haas, Gerhard 17 Haas, Willy 144 Habermas, Jürgen 187, 409 f., 413 f. Habsburg, Franz Joseph Karl von: siehe Franz Joseph I. Hager, Kurt 384 f. Hahn, Barbara 309, 319 Hahn, Hans-Joachim 28 f., 439 Hähnel, Klaus-Dieter 362, 378 Hamacher, Werner 143 Hamburger, Käte 319 Hamsun, Knut 28, 216, 219, 228, 235 Hansen, Horst 73 Hardenberg, Friedrich von: siehe Novalis Hardmeier, Christof 264 Harig, Gerhard 385 Harig, Katharina 385 Harms, Rudolf 104 Hartke, Werner 384 Hartman, Geoffrey 415 f., 432 Hass, Hans-Egon 417 Hauptmann, Gerhart 41, 365, 416 Hausmann, Frank-Rutger 164 Haverkamp, Anselm 88, 165, 303 Haym, Rudolf 130 Hebbel, Friedrich 49 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 47, 59 f., 62, 84, 87, 129, 162 f., 190 f.,
196 f., 199–202, 212, 376, 378 f., 401, 404–406, 432 f. Heidegger, Martin 47, 173, 297, 303, 306, 309, 405 f., 416 Heine, Heinrich 57, 127, 170–173, 187–191, 216 f., 236 f., 309, 314, 319 f., 338 f., 343, 402 Heinse, Johann Jakob Wilhelm 241 Heller, Agnes 42, 61 f. Helms, Hans G. 177 Henseler, Anton 94 Herder, Johann Gottfried (von) 29, 74, 244, 248 Herminghouse, Patricia 384 Hernandez, Eloy J. 103 Hesse, Hermann 144, 365 Heuberger, Rachel 237 f. Heuer, Wolfgang 309, 314, 317 Hilfrich-Kunjappu, Carola 304 Hillach, Ansgar 69 Hirsch, Michael 181 Hirsch, Rudolf 139, 404, 417 f. Hirsch, Samson Raphael 233, 265 f. Hirschfeld, Carl Louis 14 Hitler, Adolf 31, 59, 233, 309 Hochhuth, Rolf 314, 320 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 101, 331 Hofmannsthal, Hugo von 139, 365, 373, 435 Hohendahl, Peter Uwe 384 Hölderlin, Friedrich 34, 128–130, 141, 160, 200, 204–206, 208, 211, 391, 393 f., 400–402, 405, 407, 415, 417–423, 427, 434, 437 f. Holly, Michael Ann 103 Holthusen, Hans Egon 409 Holz, Hans Heinz 376, 378, 387 Homer 43, 46, 169, 252, 329, 332, 344 f., 347 f., 351, 354, 356 Hönicke, Fritz 92 Honneth, Axel 160 Honold, Alexander 71, 139 f. Höppner, Wolfgang 367, 369 Personenregister
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Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 135 Hörisch, Jochen 75 Horkheimer, Max 12, 14, 17, 20–22, 24 f., 65, 81–90, 164, 166 f., 178, 180, 188, 191, 210, 215 f., 242, 250 f., 363, 368, 377 f., 413 Horst, Karl August 365 Horstkotte, Silke 25, 361, 439 Hossenfelder, Malte 83 Huchel, Peter 373 Hume, David 84 Hunziker, Fritz 396 Husserl, Edmund 110, 114, 162, 197, 364 Ibsen, Henrik 41, 216, 223 f., 408, 417 Idel, Moshe 286 Isenschmid, Andreas 33 f., 390, 393, 410–413, 415–417, 423 f., 439 Isselstein, Ursula 319 Jaeckle, Erwin 415 Jäger, Lorenz 410 Jakobson, Roman Ossipowitsch 405, 423 Jansen, Peter-Erwin 234, 237 f. Janz, Marlies 424 Jaspers, Karl 57, 326, 396, 400 Jauß, Hans Robert 432 Jay, Martin 9, 236 Jens, Inge 368, 376 Jessen, Ralph 385 Jochanan bar Nappacha: siehe Rabbi Jochanan Johnson, Uwe 31, 309 f., 314, 316 Jolles, André (Johannes Andreas Jolles) 76 Jonas, Hans 272 Joyce, James 219, 332, 336, 340, 404 Jünger, Ernst 229, 247, 249 Jurgensen, Manfred 160 Jürß, Fritz 83 Jung, Werner 45 Jungnickel, Ludwig Heinrich 173 Just, Gustav 373
448
Kadir, Djelal 353, 356 Kafka, Franz 26, 53, 61, 126 f., 143–157, 160, 163, 169 f., 175–177, 192 f., 219, 259–261, 263, 277 f., 289–291, 298, 309, 314, 320, 331, 339, 349, 365 f., 402 Kahn, Robert 341, 356 Kant, Immanuel 84, 163, 191, 239, 245, 247, 266, 296 Karádi, Éva 45 Karplus, Margarete: siehe Gretel Adorno Kassner, Rudolf 373 Kasztner, Rudolf 396 Kaufmann, Hans 189 Kaul, Susanne 419 Keats, John 339 Keller, Gottfried 241, 342, 401 Kenko, Yoshida 254 Kerr, Alfred 339 Kessler, Achim 73 Kessler, Michael 111, 117 Kiedaisch, Petra 186 Kierkegaard, Søren 41, 165, 330, 347–349, 355 Kiesel, Helmuth 249 Kilcher, Andreas B. 26, 145, 149, 156, 176, 259, 298, 363, 394, 440 Killy, Walter 417 Kimmerle, Heinz 428 f. Kimmich, Dorothee 25, 76, 116–118, 440 Kinkel, Walter 239 Kirsch, Frank-Michael 367 Kittler, Wolf 149, 278 Klausnitzer, Ralf 21, 369 Klein, Alfred 372, 377 Klein, Michael 419 Kleist, Heinrich von 404, 437 Klettenhammer, Sieglinde 419 Knott, Marie Luise 309, 314 Köbányai, János 61 Koch, Gertrud 241 Kohl, Helmut 230 Köhler, Lotte 396 Kohn, Jerome 324
Personenregister
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König, Christoph 362, 369, 399, 409–416, 418, 423–425, 427 Konuk, Kader 354 Kopernikus, Nikolaus 73 Kopperschmidt, Josef 198 Korff, Hermann August 370, 384 Koziol, Klaus 117 Kracauer, Lili (geb. Elisabeth Ehrenreich) 113 f. Kracauer, Siegfried 14 f., 18–20, 22–25, 52, 56–58, 60, 65–68, 72, 76, 91–101, 103–122, 159, 190, 238, 317, 373, 413 Kraft, Werner 144–146 Krämer, Jörg 366 Kramer, Sven 143 Kramme, Rüdiger 116 Kraus, Karl 135, 188, 301–304, 338 f., 373, 385 Krauss, Werner 332, 339 Krech, Volkhard 268 Kreutzer, Leo 229 Krois, John Michael 160 Kudszus, Hans 18 Künzli, Arnold 411 Kurtz, Rudolf 104 Kuttenkeuler, Wolfgang 65 Kutzbach, Karl August 47 Laak, Lothar van 419 Lacan, Jacques 346 Lachenal, Francois 395 f. Lämmert, Eberhard 369, 410, 419 Landauer, Gustav 343 Lasker-Schüler, Else 339 Lassalle, Ferdinand (Ferdinand Johann Gottlieb Lassal) 239 Lederer, Emil 93 Lehmstedt, Mark 362, 364 f., 368, 384 f., 387 Lehr, Andreas 200 Leibniz, Gottfried Wilhelm 84 Leistner, Bernd 369 Lengyel, József 49 f. Lepper, Marcel 369
Lerer, Seth 330, 339, 341 Leslie, Esther 139 f. Lessing, Gotthold Ephraim 31, 41, 63, 79, 285, 309, 314–316, 320, 362, 367 f., 379 Lesskow, Nikolai 58, 192 Lethen, Helmuth 111, 116 Leuenberger, Stefanie 329 Levin, Thomas Y. 117 Levinas, Emmanuel 348 f. Leyda, Jay 100 Lichtenberg, Georg Christoph 186 f. Liebknecht, Karl 423 Liebrand, Claudia 376 Lindner, Burkhardt 69 Loewy, Hanno Lonitz, Henri 58, 68, 81, 125, 140, 176, 271 Lorenz, Otto 206 Lotman, Jurij Michailowitsch 25, 114 f. Löwenthal, Leo 15–18, 22 f., 25, 28 f., 41, 52 f., 57, 190, 215–231, 233–240, 368 Löwith, Karl 113 Löwy, Michael 42 Luban, David 321 Ludz, Ursula 289, 292 f., 309, 314, 322, 324 Lühe, Irmela von der 16, 31, 309, 314, 317, 321, 440 Lukács, Georg (von) 13, 15, 22 f., 32, 35, 39–63, 190–193, 370, 373, 384, 386, 389 f., 400, 406, 409, 412, 433, 438 Lütkehaus, Ludger 306 Lützeler, Paul Michael 317 Luria, Isaak 273, 278 Luther, Martin 11, 235, 245, 263, 266 Lux, Anna 33, 384, 440 Luxemburg, Rosa 237, 423 Mäder, Ueli 411 Maeterlinck, Maurice Polydore Marie Bernard 408, 417, 435 Mahler, Gustav 366 Mahrdt, Helgardt 314 Personenregister
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Maimon, Moshe Ben 345 Maimonides, Moses 29, 236, 238–240, Mallarmé, Stéphane 386, 431, 435 Mann, Klaus 144 Mann, Thomas 168, 229, 241, 363–371, 374, 376, 378, 383, 400, 404, 407, 418 Marcus Pacuvius 344 Marcuse, Herbert 15–17, 21–23, 25, 29, 57, 180, 191, 218, 234, 241–255, 368, 413 Markov, Walter 385 Márkus, György 61 Marquard, Odo 24, 81, 88–90 Marschak, Jakob 93 Marty, Éric 253 Marx, Karl 13 f., 23, 33, 47, 50–52, 54–56, 58, 61, 84, 89, 92, 117, 139, 162, 189–191, 199, 202, 221 f., 234–237, 239, 243 f., 254, 361 f., 367, 371, 377–380, 384–386, 413 Marx, Ursula 20 Matala de Mazza, Ethel 96 Mattenklott, Gert 373–375, 410, 417, 423, 438 Maus, Heinz 433 May, Karl 398 Mayer, Hans 16, 19, 22 f., 32 f., 361–381, 383–387, 430 Mayer, Louis Burt 97 Mehring, Franz 370 Mendelssohn, Moses 187, 239, 338 Mengaldo, Elisabetta 27 f., 196, 440 Menke, Bettine 208 Menninghaus, Winfried 208 Meyer, Arthur 94 Meyer, Martin 415 Minder, Robert 432 Minor, Jakob 52 Mirzoeff, Nicholas 103 Moeller van den Bruck, Arthur 225 Molière (Pseudonym für Jean-Baptiste Poquelin) 396, 404, 437 Montaigne, Michel Eyquem de 17, 24, 81–88, 90, 251, 254, 332, 376 Montinari, Mazzino 153, 203, 372
450
Morgenstern, Soma 101 Mörike, Eduard 174, 379 Moritz, Karl Philipp 241 Mortier, Arnold 94 Mosès, Stéphane 143, 145, 304 Moxey, Keith 103 Mozart, Wolfgang Amadeus 247 Mülder-Bach, Inka 52, 56, 58, 91 f., 95, 97, 100, 105–107, 109 f., 112, 114, 118 Müller, Bernd 143 Müller, Jan-Dirk 218 Müller, Reinhard 60 Müller-Doohm, Stefan 161, 367 Müller Farguell, Roger W. 69 Münchhausen, Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von 28, 196 f., 207, 210 Müritz, Thomas 396 f. Murrmann-Kahl, Michael 273 Musil, Robert 117, 168 Mussolini, Benito 89 Naeher, Jürgen 200 Nagel, Ivan 400, 412, 415 Nägele, Rainer 419 Nagy, Imre 190 Neusner, Jacob 127, 264 Niether, Hendrik 362 Nietzsche, Friedrich 68, 73, 149, 153–156, 162, 187, 195, 202–204, 249, 313, 372 Niewöhner, Friedrich Nobel, Nehemias Anton 228, 237, 239 Nordmann, Ingeborg 292, 309 Novalis (Pseudonym für Friedrich von Hardenberg) 41 f., 48, 57 Nyíri, János Kristóf 45 f., 48 Oexle, Otto Gerhard 164 Offenbach, Jacques 24, 93–101, 104 Øhrgaard, Per 244 Olbrechts–Tyteca, Lucie 198 Opitz, Michael 69, 133 Oschmann, Dirk 23 f., 70, 72, 76, 440 Osterkamp, Ernst 369
Personenregister
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Panofsky, Erwin 113 Parmenides aus Elea 173 Paulus von Tarsus 333 f., 348, 350 Pasley, Malcom 148 Peitsch, Helmut 379 Perelman, Chaïm 198 Pezold, Klaus 362 f. Picasso, Pablo Ruiz 404 Pindar (Pindaros) 252 Platon 72, 74, 153, 204, 243, 389 Plessner, Helmuth 116 Politzer, Heinz 410 Popper, Leo 373 Porter, James Ivan 330, 352, 354–356 Pöschl, Viktor 376 Posen, Carl 317 Proust, Marcel 25, 113, 168, 179–182, 189, 192, 219, 336, 340, 357, 404 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 147 Puttnies, Hans 101 Rabbi Akiba (Akiba ben Josef) 259 Rabbi Jochanan (Jochanan bar Nappacha) 259 Rabelais, François 332, 335 Racine, Jean 332, 340 Rajewsky, Xenia 185 Rajk, Lázló 61 Rammstedt, Otthein 116 Ranke, Leopold von 303 Raulff, Ulrich 196, 206 Reemtsma, Jan Philipp 160, 170, 226 Rehm, Ludger 143 Reichert, Klaus 410 Reichmann, Frieda 238 Reich-Ranicki, Marcel 362, 374 Reif, Adalbert 321 Reinicke, Helmut 66 Reitter, Paul 353 Reitzenstein, Richard 272 Richter, Gerhard 66 f., 70, 74 Richter, Helmut 372 Rickert, Heinrich 163 f.
Rickes, Joachim 390, 415 Riffaterre, Michael 276 Rilke, Rainer Maria 309, 311 f., 314, 435 Rimbaud, Arthur 190 Ritter, Joachim 78 Rohner, Ludwig 18 Roland, Markgraf der Bretagne 332 Rolland, Romain 398, 401 Rosenberg, Rainer 384 Rosenzweig, Franz 147, 237 Rousseau, Jean-Jacques 319 Rüdiger, Horst 366 Ruge, Arnold 15 Rychner, Max 369, 413 Saadhoff, Jens 368, 372, 377 Sabel, Johannes 240 Sachs-Hombach, Klaus 103 Sahler, Bernd 238 Saint-Saëns, Charles Camille 100 Saner, Hans 396, 411 Sarraute, Nathalie 309 Sartre, Jean-Paul 416 Schäfer, Armin 206 Schäfer, Peter 264, 275, 283 Schärf, Christian 17 Scheit, Gerhard 16, 23, 190, 440 Scheler, Max 417 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (von) 41, 129, 401, 417 Scherer, Wilhelm 370 Scherpe, Klaus Rüdiger 368, 375 Schestag, Thomas 417 Schillemeit, Jost 149, 152 Schiller, Friedrich (von) 29, 79, 117, 150, 196, 244–246, 248, 311, 332, 341, 394, 415, 418 Šklovskij, Viktor Borrissowitsch (auch Šklowskij, Schklowski) 112 Schlaffer, Heinz 65–67 Schlegel, Friedrich 41, 52, 130 f., 418 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 419, 428 f., 433 Schmid Noerr, Gunzelin 180 Personenregister
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Schmidt, Alfred 164, 368 Schmidt-Grépaly, Rüdiger 298 Schmitt, Ludwig Erich 384 Schneider, Frank 206 Schnitzler, Arthur 365 Schocken, Salman 144, 275 Schoeller, Bernd 139, Schoen, Ernst 131, 413 Schoeps, Hans-Joachim 145, 274 Scholem, Gershom (Gerhard Scholem) 18, 21–23, 29 f., 32, 44 f., 58, 101, 125–127, 129 f., 140, 143–147, 157, 188, 259–279, 281–287, 326, 349, 402, 410, 413 Scholl, Aurélien 94 Scholochow, Michail Alexandrowitsch 59 Schönberg, Arnold 206 f., 211, 386, 404, 406 Schöne, Albrecht 399 Schönert, Jörg 218 Schopenhauer, Arthur 120 Schopf, Wolfgang 20, 92, 159 Schöttker, Detlev 69, 107, 117, 199, 391, 413 Schröder, Jürgen 93 Schröter, Michael 117 f. Schultz, Hartwig 403 Schulz, Gerhard 42 Schulz, Martin 103 Schumann, Robert 393 Schütt, Hans-Dieter 21 Schwartz, Yossef 286 Schweppenhäuser, Gerhard 253 Schweppenhäuser, Hermann 44, 67, 97, 105, 126, 140. 143 f., 157, 162, 176, 192 f., 207, 259, 292, 341, 429 Scott, Calvin 206 f. Sedlmayr, Hans 404, 406 See, Klaus von 410 Seel, Martin 111, 120 f. Seeßlen, Georg 219–221 Sennett, Richard 116 Sextus Empiricus 83
452
Shahar, Galili 31 f., 353–358, 440 Shakespeare, William 46, 216, 305, 332, 335 f., 340, 342, 418, 423 Shedletzky, Itta 30, 45, 266, 283 Siebenpfeiffer, Hania 379 Sieber-Rilke, Ruth 311 Sieß, Jürgen 410 Simmel, Georg 23, 25, 40–42, 53, 55, 61, 68, 114–116, 121, 177, 373 Simmons, J. Aaron 349 Simon, Claude 395 Simon, Ernst 237 Smith, Adam 312 Smith, Gary 101 Sokrates 301 Söllner, Alfons 21, 323, 325 Sophokles 417 Sonder, Ines 21 Sparr, Thomas 34, 391, 399, 409, 411–413, 417 f., 427, 440 Spengler, Oswald 245, 249 Spinnen, Burkhard 71 Spinoza, Baruch 40, 237 Spitzer, Leo 339 Spoerhase, Carlos 369 Spoerri, Theophil 401, 405, 408, 411 Sprecher, Thomas 364 Staiger, Emil 32, 390, 401, 411, 415, 421, 433, 438 Stalin, Josef Wissarionowitsch 59 Staub, Hans 416, 438 Steiner, Uwe 133 Stendhal (Pseudonym für Marie-Henri Beyle) 332, 336, 404 Stephan, Alexander 353 Stephens, Susan 356 Stern, David 264 Stern, Günther: siehe Günther Anders Stiening, Gideon 371 Stierlin, Helen 394, 419, 428 Stifter, Adalbert 168, 170 Stockinger, Ludwig 361, 367, 377 Stöcklein, Paul 410 Straka, Barbara 117
Personenregister
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Strauss, Leo 178 Strindberg, August 41, 417 Sturken, Marita 103 Suhr, Otto 92 f. Suhrkamp, Peter 186 f., 218, 389, 413–415, 440 Süselbeck, Jan 28, 233, 235 f., 440 Susman, Margarete 144, 319 Szczesny, Gerhard 367 Szilasi, Wilhelm 412 Szondi, Leopold 392, 396 Szondi, Peter 19 f., 22 f., 29, 32–35, 41, 52 f., 56, 208, 389–425, 427–438 Szondi-Radványi, Lili 400, 415 Taylor, Mark C. 349 Tholen, Toni 29, 252, 254, 441 Tieck, Ludwig 404 Tiedemann, Rolf 17, 27 f., 40, 44, 47, 67, 95, 97, 105, 113, 126, 140, 143, 157, 159, 162, 176, 185–189, 191–193, 196, 207, 251, 259–261, 292, 341, 368, 405, 422, 427, 429, 433 Tishby, Jesahjah 279 Toller, Ernst 339 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 46, 54 Toscanini, Arturo 217 Trakl, Georg 205 Treml, Martin 330 f., 341, 354–356 Triebenecker, Gerd Franz 153 Troeltsch, Ernst 272, 284 Trotzki, Leo 237 Tschechow, Anton Pawlowitsch 41, 408, 417 Tynjanov, Jurij Nikolajewitsch 114 Ueding, Gert 78 Uhle, Reinhard 200 Ulbricht, Walter 385 Unseld, Siegfried 413, 415 Vajda, Mihalji 61 Valéry, Paul 113, 183, 386, 400, 416, 438 Varnhagen von Ense, Karl August 318
Varnhagen von Ense, Rahel (geb. Levin) 309, 312, 314, 317–319, 324 Vasunia, Phiroze 356 Vercors (Pseudonym für Jean Marcel Bruller) 395–403, 416 Vico, Giambattista 331 Virgil (Vergil, Publius Vergilius Maro) 376 Voegelin, Eric 316, 326 Vogl, Joseph 196 Volkov, Shulamit 338 Vollhardt, Friedrich 362, 367, 372, 377 Voltaire (eigentlich François Marie Arouet) 332 Vossler, Karl 339, 369 Wagner, Richard 155, 187, 366, 395 Waldenfels, Bernhard 76 Walser, Robert 117 Walter, Friedrich 97 Warburg, Aby 104, 107, 305 Weber, Alfred 238 Weber, Max 40–42, 53, 55, 284 Weber, Regina 410 Wehle, Jonas 277 Wehrli, Max 390 f., 404, 411 Weidner, Daniel 30, 127, 147, 259 f., 266, 271 f., 276, 281 f., 356, 441 Weigel, Sigrid 30 f., 67, 69, 136, 145, 293, 298, 305, 441 Weinrich, Harald 10 Weissberg, Liliane 317 Wellhausen, Julius 285 Wellmer, Albrecht 160 Weltsch, Robert 144 Wendt, Adolf 92 Wenzel, Mirjam 24, 65, 91, 95, 104, 441 Werle, Dirk 33, 367, 369, 376, 383–387, 430, 441 Westphal, Merold 349 White, Hayden 339 Wiechert, Ernst 397 Wiegandt, Markus 26, 441 Personenregister
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Wiese, Leopold von 186 Wiesengrund, Theodor (Teddie): siehe Theodor W. Adorno Wiesengrund, Oscar Alexander 188 Wiggershaus, Rolf 242, 366 Wild, Thomas 31, 309 f., 320 Wilder, Thornton 395 Wilhelm, Walter 364, 366 Willems, Gottfried 69 Williams, Raymond 233 Winston, Clara 317 Winston, Richard 317 Witte, Bernd 127 Witte, Karsten 93, 96 Wizisla, Erdmut 69, 133 Wolf, Burkhardt 196
454
Wölfel, Ute 379 Wolff, Eberhard 92 Wood, David 349 Woolf, Virginia 332, 336, 340, 357 Wussow, Philipp von 26 f., 165, 185 f., 189, 197, 441 Young-Bruehl, Elisabeth 321 Zerlang, Martin 75 f. Zepp, Susanne 24, 411 Zinn, Ernst 311 Zollschan, Ruth 97 Zunz, Leopold (Jom Tob Lippmann Zunz) 283 Zweig, Stefan 227
Personenregister
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