Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemia medica unter besonderer Berücksichtigung von Joachim Tanck 3527170111

In: Rudolf Schmitz, Gundolf Keil (Hrsg.): Humanismus und Medizin (= Deutsche Forschungsgemeinschaft: Mitteilungen der Ko

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Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemia medica unter besonderer Berücksichtigung von Joachim Tanck
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Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemia medica unter besonderer Berücksichtigung von Joachim Tanck Von JOACHIM Telle (Würzburg)

Artzney vnnd Alchimey soll allwegen bey einander stehen (Paracelsus). Kein vollkommener Medicus mag seyn / so nicht auch der Alchimey erfahren (J. Tanck).

Manche frühneuzeitliche Kontroversschrift erinnert an den einstigen Streit um Rang, „veritas” und „utilitas” der Alchemie. An diesem Streit beteiligten sich indes nicht nur naturkundige Fachleute aus den Reihen der Mediziner, Pharmazeuten oder Metallurgen. Auch der Physica fern­ stehende Zeit- und Ständesatiriker nahmen das Wort, und zahlreiche Verfasser moralisch-didaktischer Dichtungen brandmarkten den „grossen bschisß der alchemy”1. Unbekümmert um die naturkundlichen Grund­ lagen seines Tuns, zeichneten sie vom Alchemisten ein Bild, das den Por­ trätierten zuweilen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Orientiert nur an Dilettanten und Betrügern, hüllte man ihn in das Flittergewand eines Scharlatans oder in das armselige Kleid eines windigen Goldkoches und mitleiderweckenden Toren, der sich in Bürgerhaus und Fürstenhof seinen Vorteil erschwindelt oder selbstbetrügerisch um wahnhaft-süßer Träume seinen Besitz in Rauch und Asche aufgehen läßt und den man immer wieder fragte2: „Was ist die Alchimie, als eine kunst zu lügen? Was dient sie anders wohl, als menschen zu betrügen? Was bringt sie dir, mein freund, als asche, seufftzer, schweiß, Als hoffnung, leeren wind, und schände vor den fleiß?”

Im Zerrspiegel der einstigen Moral- und Sittensatire schrumpft der Alche­ mist zum abenteuerlichen Betrüger und leichtgläubigen Phantasten, der

1 Sebastian Brant, Das Narrenschiff, 1494, hrsg. v. Manfred Lemmer,Tübingen z1968 (— Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F., 5), 271. 2 ++v. L. [wohl Balthasar Friedrich von Logau], Alchimie, in: Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener... Gedichte anderer Theil, hrsg. v. Benjamin Neukirch, Leipzig (Th. Fritsch) 1697, 111.

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statt des goldzeugenden „Lapis philosophicus” allenfalls einen „Lapis spitaloficus” erlangt und dem zahlreiche Epigrammschmiede nach­ riefen34: „Was thut ein Alchimist? er sucht den Stein/ der Gauch: Was findt der Thor? die Asch? wo bleibt das Gold? im Rauch.”

Tritt neben diesem übel beleumdeten und das populäre Bild vom Alche­ misten bis in unsere Tage bestimmenden „Gauch” gelegentlich auch einmal der Alchemist als Mediziner hervor, dann lautete seine „Grabschrifft”‘’: „Ich war ein Alchimist/ ich dachte Tag und Stunden Auf eine neue Kunst/ des Todes frey zu seyn/ Diß was ich stets gesucht/das hab ich nicht gefunden/ Und was ich nicht gesucht/das stellt sich selber ein.”

Einen Träger alchemischen Wissensgutes, der an Gewicht, Einfluß, theo­ retische und praktische Verdienste frühneuzeitlicher Alchemisten auf medizinischen und pharmazeutischen Gebieten erinnern könnte, trifft man in der literarisch-öffentlichen Kritik des 16. und 17. Jahrhunderts wohl schwerlich an, und wir sehen die barocke Dichtung mit ihrer all­ gegenwärtigen Stereotypfigur vom Alchemisten als desolatem Gold­ macher Positionen vorbereiten, die dann zu den argumentativen Scheide­ münzen der aufklärerischen Kritik des 18. Jahrhunderts an der Alchemie als einer „eingebildeten Goldmacherkunst” gehören. Über die bekannten Verdikte aufklärerischer Empiristen, die im alchemischen Fachschrifttum nichts erblickten als wertlosen „Plunder” und „alte, verlegene, wurmstichige, moderigte und unnütze Waare, so von wahrer pestilenzialischer Luft durchwittert ist”, und in der Alchemie nichts als eine „natürlicher Weise ganz unmögliche Kunst, deren ange­ gebne Grundsätze blosse Misgeburthen der Einbildungskraft in der Naturkenntniß der Körper unerfahrner Menschen sind”5, setzten sich

3 John Owen, Aufden Goldmacher, in: Teutschredender Owenus. Oder; EilfBücher der Lateini­ schen Überschriften des ... Oweni, übers, u. erl. v. Valentin Löber, S. Krebs (Jena) für Z. Hertel (Hamburg) 1661, Buch II, Nr. 9. 4 Christian Hofmann von Hofmannswaldau, Eines Alchimisten, in: ders., Deutsche Übersetzungen Und Getickte, Breslau (E. Fellgiebels Witwe) 1700, 74, Nr. LV. 5 Johann Christian Wiegleb, Historisch — kritische Untersuchung der Alchemie, oder der einge­ bildeten Goldmacherkunst; von ihrem Ursprünge sowohl als Fortgänge, und was nun von ihr zu halten sey, Weimar (C. L. Hoffmann) 1777,409f; s. z.B. auchjohann Christoph Adelung,

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Wissenschaftshistoriker inzwischen hinweg. Begünstigt von Methodenund Prinzipienwandlungen in der Geschichtsschreibung6 und anderen Faktoren, büßten die aufklärerischen Bannsprüche eines Johann Christian Wiegleb oder Johann Christoph Adelung ihre Geltung zunehmend ein: Heute wird die traditionelle Alchemie zu keiner wahn­ haften Verirrung menschlichen Geistes deklassiert und tut man sie keines­ wegs mehr als ein „Hirngespinst” abergläubischer Menschen ab; ihre Geschichte schilt man kein wüstes „Sammelsurium” von törichten „Ein­ bildungen” und aus „erhitzten”, „versengten” Einbildungskräften ent­ sprungener Narrheiten; Paracelsus, Johann Baptist van Helmont, Johann Rudolph Glauber oder Johann Joachim Becher finden sich gewöhnlich nicht mehr als wider „Philosophie und gesunde Vernunft” handelnde „Thoren”, „Charlatane” und „philosophische Unholde” geäch­ tet. Justus von Liebig, der die „Idee des Steins der Weisen” als einen Gedanken zu rehabilitieren suchte, der „mächtiger und nachhaltiger” auf den Entdeckergeist und die forscherlichen Kräfte der Menschen einge­ wirkt habe als jeder andere, und der Idee vom Stein der Weisen einen „ans Wunderbare gränzenden Einfluß” auf die erkenntnismehrende Unter­ suchung und Beobachtung der Stoffeswelt zuerkannt hatte7, fand inso­ fern Nachfolge, als man die vermeintliche „Pseudoscience” Alchemie als eine Entwicklungsphase der Chemie und Pharmazie gemeinhin zu respektieren lernte. Nicht nur wurde gelegentlich ihr Anteil an dem „Ein­ bruch der ‘Physik’ in die ‘Physica’ ” vermerkt8; darüber hinaus begann man zunehmend ihrer von der Aufklärung weitgehend verschütteten Hintergründigkeit inne zu werden9. Daß man schließlich meinte, in der

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Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen— und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden, I—VII, Leipzig (Weygand) 1785-1789. Vgl. Wilhelm Ganzenmüller, Wandlungen in der geschichtlichen Betrachtung der Alchemie (1950), in: ders., Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie, Weinheim 1956, 349-360; Wolfgang Schneider, Probleme und neuere Ansichten in der Alchemiegeschichte, in: Chemiker-Zeitung 85 (1961), 643-651, u. Jost Weyer, Chemiegeschichtsschreibung von Wiegleb (1790) bis Partington (1970). Eine Untersuchung über ihre Methoden, Prinzipien und Ziele, Hildesheim 1974 (— Arbor scientiarum, Reihe A, 3). Justus von Liebig, Chemische Briefe, I, Leipzig, Heidelberg "*1859, 65 f., Brief Nr. 3. Reijer Hooykaas, Von der „Physica" zur Physik, in: Humanismus und Naturwissenschaften, hrsg. v. Rudolf Schmitz u. Fritz Krafft, Boppard 1980 (— Beiträge zur Humanismusfor­ schung, 6), 9-38, hier 25-27. Siehe z. B. Paolo Rossi, Francesco Bacone. Dalia magia alia scienza, Bari 1957 (— Biblioteca di cultura moderna, 517), u. ders., Hermeticism, Rationality and the Scientific Revolution, in: Reason, Experiment, and Mysticism in the Scientific Revolution, hrsg. v. Maria Luisa Righini Bonelli u. William R. Shea, New York 1975, 247-273.

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Alchemie eine jener „hermetischen” Hauptkräfte gefunden zu haben, die auf das Denken führend-wandlungstreibender Naturwissenschaftler ein­ schließlich Isaac Newtons10 stärksten Einfluß genommen und das Aufkommen der Wissenschaftlichen Revolution” in maßgeblichster Weise befördert hätten11, ist symptomatisch für einen im Fluß befindli­ chen Neu- und Umwertungsprozeß der Alchemie. An die einstigen Beziehungen zwischen Medizin und Alchemie erinnern heute wohl hauptsächlich das Werk Hohenheims und ein mehr­ gesichtiger Paracelsismus. Geraten der zutiefst alchemisch tingierte Paracelsus12 oder meist nicht minder der Alchemie verhaftete Paracelsisten13 ins historiographische Blickfeld, so erweist sich eine Berücksichti­ gung des alchemischen Erbes als unumgänglich. Allein die Aufgabe, Eigenarten der neuplatonisch-alchemischen Mitgift im Werk Hohen­

10 Bettyjo Teeter Dobbs, The Foundations ofNewtons Alchemy or „The Hunting ofthe Greene Lyon ", Cambridge, London, New York, Melbourne 1975; dies., Newton’s Alchemy and His Theory ofMatter, in: Isis 73 (1982), 511-529; Karin Figala, Newton as Alchemist, in: History ofScience 15 (1977), 102-137; dies., Newtons rationales System der Alchemie, in: Chemie in unserer Zeit 12 (1978), 101-110, u. dies., Isaac Newton als Alchemist. Seine rationale Theorie und Interpretation der Alchemie [in Vorbereitung]. 11 Frances Amelia Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964; dies., The Hermetic Tradition in Renaissance Science, in: Art, Science, and History in the Renaissance, hrsg. v. Charles S. Singleton, Baltimore 1967, 255-274; dies., The Rosicrucian Enlighten­ ment, London, Boston 1972. - Fundierte Einsprüche erhoben u.a. Robert S. Westman u. James Eugene McGuire, Hermeticism and the Scientific Revolution, Los Angeles 1974; Fritz Krafft, Renaissance der Naturwissenschaften - Näturwissenschaften der Renaissance. Ein Über­ blick über die Nachkriegsliteratur, in: Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdis­ ziplinärer Sicht, Boppard 1975 (— Kommission für Humanismusforschung der DFG, Mitteilung 2), 111-183, hier 135-138, u. Brian Vickers, Frances Yates and the Writing of History, in: The Journal of Modern History 51 (1979), 287-316. 12 Ernst Darmstaedter, Arznei und Alchemie. Paracelsus-Studien, Leipzig 1931 (-Studien zur Geschichte der Medizin, 20); Wilhelm Ganzenmüller, Paracelsus und die Alchemie des Mittelalters (1941), in: ders. [wie Anm. 6] (1956), 300-314; Johann Daniel Achelis, Die Überwindung der Alchemie in der paracelsischen Medizin, Heidelberg 1943 (— Sitzungs­ berichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-naturwissen­ schaftliche Klasse, Jg. 1941, 3. Abh.); T. P. Sherlock, The chemical work of Paracelsus, in: Ambix 3 (1948), 33-63, u. Wolfgang Schneider, Mein Umgang mit Paracelsus und Paracelsisten. Beiträge zur Paracelsus-Forschung, besonders auf arzneimittelgeschichtlichem Gebiet, Frankfurt a.M. 1982. 13 Rudolph Zaunick, Der sächsische Paracelsist G eorg Forberger. Mit bibliographischen Beiträgen zu Paracelsus, Alexander von Suchten, Denys Zacaire, Bernardus Trevirensis, Paolo Giovio, Francesco Guicciardini und Natale Conti, Wiesbaden 1977 (— Kosmosophie, 4), u. Peter Morys, Medizin und Pharmazie in der Kosmologie Leonhard Thurneissers zum Thurn (1531-1596) [nat. Diss. Marburg a.d.L. 1981], Husum 1982 (— Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, 43).

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oder van Helmonts14 und in der sogenannten „chemical philosophy” weiterer namhafter Vertreter der frühneuzeitlichen Medizin15 noch kenntlicher zu machen, sollte zu forscherlichen Vorstößen in den Alchemica-Bereich ermutigen. Obwohl die paracelsische Verknüpfung von Medizin und Alchemie keinen Einzelfall darstellt, sondern das Werk zahlreicher, heute oft nur unzureichend bekannter oder vergessener Urheber von Fachschriften alchemischen Inhalts prägt, spielen Erschließung und Untersuchung der quantitativ bedrückend umfänglichen Hinterlassenschaft spätmittelalter­ licher und frühneuzeitlicher Alchemisten im Rahmen der medizinge­ schichtlichen Forschung der Bundesrepublik Deutschland derzeit kaum eine Rolle. Wenn man jüngst von medizinhistorischer Seite unter Berufung auf Stefan George vernehmen konnte, die Alchemie sei kein „altgewordener Aberglaube, sondern frühreife (vorlaute) Erkenntnis”, sie gehöre „nicht zum absterbenden Mittelalter, sondern zur erwachenden Neuzeit” und habe nur übertrieben ausgeformt, „was auch die moderne Wissenschaft glaubt und sucht”; wenn man ferner mit Novalis in der Alchemie aktuelle „Schemata der Zukunft” entdeckte, und mehr noch: wenn man die Alchimia medica als das „Modell einer universellen Heil­ technik und Heilkunde” beurteilte, bei dessen Ausbildung man sich der alchemischen Vorstellung von der Wandlung und Heilung der Metalle lediglich als einer Analogie bedient habe16, so handelt es sich hierbei um einzelgängerische Neu- und Umwertungen der alchemischen Tradition. Vielleicht darf man an sie die Hoffnung knüpfen, daß man sich auch im Kreis deutscher Medizinhistoriker vom Banne der ohnehin weitgehend heims

14 Walter Pagel, Das medizinische Weltbild des Paracelsus. Seine Zusammenhänge mit Neuplato­ nismus und Gnosis, Wiesbaden 1962 (— Kosmosophie, 1); ders., Paracelsus. An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance, Basel 21982; ders., Paracelsus als „Naturmystiker”, in: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt, hrsg. v. Antoine Faivre u. Rolf Christian Zimmermann, Berlin 1979, 52-104, u. dm., Johannes Baptista van Helmont als Naturmystiker, in: a.a.O., 169-211. 15 Allen G. Debus, The Chemical Philosophy. Paracelsian Science and Medicine in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, I—II, New York 1977, u. Walter Pagel, The Smiling Spleen. Paracelsiamsm in Storm and Stress, Basel 1984. 16 Heinrich Schipperges, Alchimia. Aufder Suche nach vergessenen Wissenschaften, in: Eleusis 34 (1979), 104-119; ders., Dar alchymische Denken und Handeln bei Alexander von Bemus, in: Heidelberger Jahrbücher 24 (1980), 107-124; ders., Handschriftliche Funde zu den „ver­ drängten Wissenschaften" in derfrühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 4 (1981), 31-40, u. ders., Historische Konzepte einer Theoretischen Pathologie. Handschriften­ studien zur Medizin des späten Mittelalters und derfrühen Neuzeit, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1983 (— Veröffentlichungen aus der Forschungsstelle für Theoretische Pathologie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften).

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kraftlos gewordenen Goldmacher-Schelte des Barock und der unter Gebildeten noch gelegentlich verhalten wirksamen Verdikte der Aufklä­ rung vollends löst, auch die Auffassung mancher Chemiehistoriker, die in der frühneuzeitlichen Alchemie nichts als abstoßende Bilder des Nieder­ ganges und Zerfalls oder einen „Zeitvertreib verschrobener Phantasten”17 zu erblicken vermögen, hintanstellt, in der Alchemie ein einst hauptsäch­ lich von Ärzten bestelltes Feld der Medizingeschichte wiederentdeckt und sich an der Sichtung, Bestandserfassung und Auswertung des „alche­ mistischen Plunders” tatkräftiger beteiligt, als dies bislang der Fall ist18. Ein einst eng gespanntes Beziehungsnetz zwischen Alchemie und Medizin ergab sich geradezu notwendig aus einer gemeinsamen Zielset­ zung alchemischen und ärztlichen Denkens und Handelns. Dieses gemeinsame Ziel lautete durch die Jahrhunderte, zur Heilung führende Wege zu finden, „nam ars [alchimiae] imitatur naturam et in quodam corrigit et superat eam, sicut mutatur natura infirma medicorum indu­ stria”19. Nicht wenige spätmittelalterliche Lehrschriften über die „kran-

17 Julius Ruska, Pseudepigraphe Rasis-Schriften, in: Osiris 7 (1939), 31-94, hier 92. Siehe z.B. auch Robert P. Multhauf, The Origins of Chemistry, London 1966, 315: „By 1500 Latin alchemy was increasingly turning to occultism or charlatanry.” 18 Die Ausmaße noch zu leistender Arbeit im Riesenbergwerk der Alchemieliteratur nehmen sich erschreckend aus, vergegenwärtigt man sich, daß vieles und vielleicht das meiste noch einer Sichtung harrt, Wertvolles vom Minderen oft noch ungeschieden ist, philologisch-editorische Vorstöße etwa einesjunus Ruska vereinzelt blieben und noch nicht einmal die alchemie- und pharmaziegeschichtlich außerordentlich bedeutsame Schrift‘De quinta essentia’Johanns von Rupescissa, das eigentümliche‘Buch der Heili­ gen Dreifaltigkeit’ Bruder Ullmanns und andere Hauptwerke der spätmittelalterlichen Alchemie in hinlänglichen Ausgaben zur Verfügung stehen, zu schweigen von einer ungewöhnlichen Fülle noch unbeantworteter biobibliographischer Fragen und anderen ungelösten Problemen, von denen die mit dem Paracelsus-, Hollandus- oder BASiLius-VALENTiNUS-Corpus und einer stattlichen Reihe weiterer frühneuzeitlicher Alchemica verknüpften Verfasser-, Echtheits- und Quellenfragen nichts als einen verschwindenden Bruchteil darstellen. Weiterhin und nicht nur für die lateinische Alchemieliteratur des Mittelalters kann gelten, was 1939 ein Meister der Alchemie­ geschichtsschreibung, J. Ruska, beiläufig festhielt ([wie Anm. 17], 92 f): „Unermeß­ licher Stoff liegt unbenützt in den Bibliotheken und harrt der kritischen Bearbeitung. (Viele Texte müssen erst noch bearbeitet werden), ehe man daran denken kann, sie zum Aufbau einer auch nur halbwegs gesicherten Geschichte der Alchemie zu verwenden.” 19 John Dastin,E/>nro/a(14.Jh.), zit. nach C.H. Josten, The Text ofJohn Dastin's ‘Letter to Pope John XXIP, in: Ambix 4 (1949), 34-51, hier 39. Dieselbe Wendung auch im ‘Rosarium philosophorum’, in: Ars aurifera, Basel 1572, II, 228. - Vgl. z.B. auch (Ps.-)Albertus Magnus (14.Jh.): „Sed periti artifices ita facere possuntaurum et argentum sicut medicus sanitatem” (hier wohl vorgetragen aus Kenntnis einer Analogie zwischen dem Physicus, der durch Purgation menschliche Gesundheit herbeiführt, und dem Alchemisten, der „gesundes” Gold und Silber durch Reinigung der Metallkonstituenten Sulphur und

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ken” Metalle und ihre Heilung verraten, daß sie mit Hilfe humoralpatho­ logischer Anschauungen ausgebildet worden sind20 und man die Wand­ lung minderer Metalle in „gesundes” Gold als ein Dyskrasie in Eukrasie wendendes Geschehen verstand, bei dem es galt, durch Herbeiführung eines bestimmten Mischungsverhältnisses ein ausgewogenes und im Golde am optimalsten verwirklichtes „temperamentum ” zu erzielen. Die Metalle von aller „Unreinheit” und „Krankheit” befreien und in „reines”, aller „Gebrechen” bares Gold wandeln sollte bekanntlich eine fermentartig-katalysatorisch wirkende Tinktur (Elixier, Stein der Weisen). Auf ihren mannigfachen Erkundungszügen in der Stoffeswelt, diese Tinktur zu gewinnen, beflügelte die Alchemisten immer auch die aus Analogieschluß geborene und von der Elementenlehre begünstigte Hoffnung, man könne mit derMedicina metallorum einer panazeenartigen Arznei habhaft werden, die verjüngend-präservierende Tugenden besitze, menschliche Krankheiten heile und der man im ‘Hortus divitiarum’ (15. Jh.) nachrühmte, daß sie alle Medizin eines Hippokrates, Galen, Constantinus, Plinius, Rasis und Avicenna überträfe21. Da heißt es vielerorts im alchemischen Fachschrifttum über die Tinctura alba, die königliche „Tochter der Philosophen”22: „Dy kunigin, dy hasset den tot vnd dy armut, Sy gibt gesundthait, reichtumb vnd gueten muet; Sy vbertryfft silber, golt vnd edel gestein, Alle ertzenney, gros vnd dein.”

Mercurius zu erlangen sucht, wie sie Albertus Magnus in „De mineralibus” formulierte); zit. nach Pearl Kibre, An Alchemical Tract Attributed to Albertus Magnus, in: Isis 35 (1944), 303-316, hier 309. 20 Ein Beispiel bieten die Ausführungen von Petrus Bonus (14. Jh.) über die Lepra der Metalle; vgl. Pietro Bono da Ferrara, Preziosa Margarita Novella, hrsg. v. Chiara Crisciani, Florenz 1976 (— Pubblicazioni del „Centro di studi del pensiero filosofico del Cinque­ cento e del Seicento in relazione ai problemi della scienza” del Consiglio Nazionale delle Ricerche, III, 1), 173f. 21 De effectu et virtute lapidisphilosophici henedicti, in: Hortus divitiarum, teilweise abgedruckt bei William Jerome Wilson, Catalogue ofLatin and Vernacular Alchemical Manuscripts in the United States and Canada, Brügge 1939 (— Osiris, 6), 361f.; eine deutschsprachige ‘Hortus’-Fassung gelangte im mehrfach erschienenen Traktat IV des Aureum vellus,Basel 0. Exertier) 1604, in Druck. - Derselbe Abschnitt über die Tugenden der „Tinctur” bzw. „Medicin” auch in: Splendor solis (Faksimile von Cod. germ. fol. 42, Berlin, Staatsbiblio­ thek), eingel. v. Gisela Höhle, Wiesbaden 1972, Bl. 66r-67'. 22 [Anonymus], ‘Sol und Luna’ (um 1400), in: Joachim Telle, Sol und Luna. Literat- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht, Hürtgenwald 1980 (— Schriften zur Wissenschaftsgeschichte, 2), 42.

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Und von der roten Tinctura, dem kaiserlichen „Sohn der Philosophen” kann man in den Virtutes-Katalogen immer und immer wieder lesen23: „Er gibet gesuntheit mit starcker frist, Golt, silber vnd edel gestein, Starckheit, jugent, schon vnd rein; Zeren, trawer, armut, kranckheit er vorzert, Selig ist der mensch, dem es got weschert.”

Im lateinischen Westen fand die Vorstellung, die Medicina metallorum könne menschliche „infirmitas” in Gesundheit wandeln und die Lebens­ zeit beträchtlich verlängern, schon frühzeitig literarischen Niederschlag. Man stößt auf sie im Werk Roger Bacons (13. Jh.), John Dastins (14. Jh.) oder im pseudoarnaldischen ‘Rosarius’ (14. Jh.), wo es über die Medicina metallorum heißt24: „[Das Elixier hat] auch die Tugend / Krafft und Wirckung an sich/daß es/ über alle andere der Aertzte Medicinen und Artzneynen / alle Kranckheiten und Gebrechen/ sie werden gleich hitzig oder kalt befunden / heilen kan / darum daß es einer gantz subtilen verborgenen Natur ist: Es erhält bey guter Gesundheit / stärcket alleKräfften / und machet aus einem Alten einen Jungen/ indem es alle Gebrechen abwendet und außtreibet. ... Diese Medicin ist billich vor und über alle andere Artzneyen/ja über alle Reichthum dieser Welt / mit unnachläßlichem Ernst und Fleiße zu suchen / denn wer sie findet / der hat einen Schatz/welchem nichts zu vergleichen ist.”

Diese Vorstellung stieg zu einem die alchemische Speculatio stark beein­ flussenden Gedanken auf, und bis weit in die Neuzeit galt, dem Universal­ besitzer sei „gwalt gegeben,/Das er alle kranckheyt thüt vertryben/Vß metallen vnd mönschen lyben”25. Wenn wir beispielsweise in einem pseudoparacelsischen Brief einen „alten Weisen” geschildert finden, der probiert, ob seine metallwandelnde Arkansubstanz „Roter Löwe” auch „Menschen leiden möchte”, und der schließlich einen Podagrakranken mit einem „Haar” des „Roten Löwen” heilt26, so gibt sich hier einmal mehr die transmutatorische Alchemie im Dienste einer humanmedizi­ nisch orientierten Pharmazie zu erkennen.

23 a.a.O., 43. 24 (Ps.-)Arnaldus von Villanova, Rosarius philosophorum, in: ders., Chymische Schafften, übers, v. Johann Hippodamus, Frankfurt a.M., Hamburg (G. Wolf) 1683, 98f. 25 [Anonymus], Vers-Bild-Allegorie vom Mercurius philosophorum (15.)h.), in: Telle [wie A nm. 22], 130. 26 (Ps.-)Paracelsus, Von dem Wunderstein (16. Jh.), in: Ms. Q_456, Weimar, Zentralbibliothek der deutschen Klassik, Bl. 361-368.

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Das alchemische Streben nach einer Universalarznei verband sich häufig mit einer zähen Suche nach wirksameren Arzneimitteln, als sie der von Paracelsus einen „Suppenwust” gescholtene Arzneischatz der Galenisten und „Sudelköche” in den Apotheken bot. Niederschlag fand dieser seit dem Spätmittelalter beobachtbare Pharmazeutisierungsprozeß innerhalb der Alchemieentwicklung 27 nicht zuletzt in der systematisch­ enzyklopädischen Darstellung aller Wissenschaften und Künste eines Johann Heinrich Alsted, in der man die „alchymia” (auch „chemica scientia”) als „pars medicinae” des „physica”-Bereiches betrachtet und diese „medicina ex mente chymicorum” als eine nützlich-honeste „chymia medica” (auch „chymiatria” „medicina chymica”) behandelt wie auch von einer auf die „medicina universalis” gerichteten und deshalb den „höheren scientiae” Theologia, Magia naturalis, Kabbala zur Seite gestell­ ten „chymia sublimior” abgegrenzt findet. Gemeinhin galt: „Alchymia [chemia] est ars bene praeparandi medicinam purissimam, ad perficiendum corpora hominis et metallorum imperfectorum.”28 Häufig wird das Aufkommen der pharmazeutisch akzentuierten Alchemie noch immer auf das Wirken Hohenheims zurückgeführt, der bekanntlich die Grundhaltung auf Metalltransmutation ausgehender Alchemisten aufgegeben und dem Alchemisten zugerufen hatte: „Nicht als die sagen/ Alchimia mache Gold/mache Silber: Hie ist das fürnemmen/Mach Arcana/vnd richte dieselbigen gegen den kranckheiten: Da muß er hinauß / also ist der grundt”29, und im alchemieunkundigen Arzt keinen rechten Physicus gelten ließ. Ohne Zweifel wurde der Alchimia als einer Hauptsäule seiner ‘Medicina reformata’ von Paracelsus ein sehr hoher Rang eingeräumt und verdankt die frühneuzeitliche Chymia medica Hohenheim und seinen Anhängern bedeutende Impulse, doch wurde die Alchemie keineswegs erst durch einen „Neuerer” Paracelsus in die Arme der Humanmedizin geführt. Vielmehr sehen wir Paracelsus mit seiner Forderung, „Artzney vnnd Alchimey soll allwegen bey einander stehen”30, im Lichte unserer spärlichen Kenntnisse über die Beschaffen­ heit des vorparacelsischen Schrifttums alchemico-pharmazeutischen

27 Vgl. Multhauf [wie Anm. 17], 201-236: „Medical chemistry”; Wolfgang Schneider, Geschichte der pharmazeutischen Chemie, Weinheim 1972. 28 Johann Heinrich Alsted, Encyclopaedia, Herborn 1630, 1803-1815, 2274-2277. 29 Paracelsus, Paragranum, in: ders., Bücher vnd Schrifften, hrsg. v. Johann Huser, II, Basel (C. Waldkirch) 1589, 65. 30 Paracelsus, Große Wundarznei, in: ders., Chirurgische Bücher vndSchrifften, hrsg. v. Johann Huser, Straßburg (L. Zetzner) 1605, 33.

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Inhalts - einer heute weitgehend vom Aschenregen der Zeit bedeckten Literaturlandschaft - in den Bahnen einer seit längerem geübten Praxis, über die bereits Bernhard von Gordon in seinem therapeutischen Hauptwerk ‘Lilium medicinae’ (1303) geurteilt hatte: „Modus chimicus in multis est utilis in medicina, in aliis vero est ita tristabilis, quod in eius via infmitissimi perierunt.”31 Für wirksamer als galenistischen „Suppenwust” hielten spätmittelalter­ liche Alchemisten „reine” Heilmittel wie beispielsweise die „Quinta essentia” von der ein von Paracelsus zwar „Nichtsnutz” gescholtener, gleichwohl von ihm fortgeführter Autor, Johann von Rupescissa (14. Jh.), lehrte, sie sei aus allen Stoffen des Naturreiches destillierbar und besäße die subtile, lebenserzeugende und lebenserhaltende Kraft des unvergäng­ lichen, das Universum vor seiner Zerstörung bewahrenden „Himmels” bzw. fünften Elements des Aristoteles. Allein die bis in die Neuzeit andauernde Geltung der Lehre Johanns von Rupescissa32 zeigt, daß sich neben dem Gedanken von der Universalarznei die Vorstellung von der Scheidung des „Reinen” vom „Unreinen” zu einem Zentralgedanken der Alchemia medica entwickelte. Dieser wider das galenistische Mischen der Simplizien gerichtete Gedanke, man dürfe Drogen für keine fertigen Heilmittel nehmen, sondern müsse durch Destillation und andere alchemische Verfahren das stofflich „Reine” und medizinisch „Hochwirk­ same” vom „Unreinen” und Wertlosen” trennen, damit die heilenden Kräfte und Tugenden der Natur (arcana) auf das wirksamste in Erschei­ nung treten könnten, hat die Heilmittellehre der Alchemisten entschei­ dend geprägt und sollte die frühneuzeitliche Arzneikunde von Grund auf wandeln. Bevor Hohenheim gefordert hatte, die „Schlacken von der Arznei zu tun” und diese Forderung von allen am Aufschwung der humanmedizinischen Chemiatrie beteiligten Kreisen aufgegriffen worden ist, hatte die „separatio puri ab impuro” im deutschen Kultur­

31 Zit. nach Heinrich Schipperges, Strukturen und Prozesse alchimistischer Überlieferungen, in: Emil Ernst Ploß, Heinz Roosen-Runge, Heinrich Schipperges u. Herwig Buntz, Alchimia. Ideologie und Technologie, München 1970, 67-118, hier 100. 32 Vgl. Robert Halleux, Les ouvrages alchimiques dejean de Rupescissa, in : L’histoire littéraire de la France, XLI, Paris 1981, 241-284; Hubert Herkommer, Johannes de Rupescissa, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl. hrsg. von Kurt Ruh zus. mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger u. Franz Josef Worstbrock, IV, Berlin, New York 1982, Sp. 724-729. Siehe ferner F. Sherwood Taylor, The Idea of the Quintessence, in: Science, Medicine and History. Essays on the Evolution of Scientific Thought and Medical Practice written in honour of Charles Singer, hrsg. v. E. Ashworth Underwood, I, London, New York, Toronto 1953, 247-265; Robert P. Multhauf,/o/>« of Rupescissa and the Origin of Medical Chemistry, in: Isis 45 (1954), 359-364.

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gebiet längst festen Fuß gefaßt und war hier dem Destillieren - der wohl wichtigsten Methode der alchemischen Arzneimittelgewinnung33 nach Ausweis des bislang bekannt gewordenen Aqua-vitae-Schrifttums (Taddeo Alderotti, Gabriel von Lebenstein, Michael Puff) breite Bahn gebrochen. Auch die bekannten Destillierbücher Hieronymus Brunschwigs, Philipp Ulstads und Konrad Gesners, die der Neuzeit das reiche Gedanken- und Erfahrungsgut der an Ausbildung und Fort­ entwicklung der Destillierkunst maßgeblichst beteiligten Alchemisten vermittelten, machen kenntlich, daß die Alchemia medica in noch unzu­ reichend bekannten Ausmaßen vor und neben ihrem vermeintlichen Ahnvater Paracelsus gepflegt worden ist34. Brunschwigs Vermerk, er biete in seiner Summa über die Destillier­ kunst und deren Produkte nicht nur „von manchem gelerten” sondern auch von „leyen/man vnd frawen” stammendes Wissensgut35, oder K. Gesners Beobachtung, die „ungelehrten Artzet” (lateinunkundigen Laienärzte) hätten sich der Herstellung und dem Gebrauch der destillier­ ten Wässer weit weniger versperrt als die „gelehrten” Mediziner36, ver­ deutlichen, daß sich der Sitz der Destillierkunst weitgehend abseits von Schulmedizin und professioneller Pharmazie befand. Hauptträger der Alchemia medica waren auch im 16. Jahrhundert Alchemisten, die eine sozial und bildungsmäßig sehr uneinheitliche Gruppe bildeten und an den Höfen weltlicher und geistlicher Großer und in Bürgerhäusern wirk­ ten, ferner Laienmediziner, wie sie uns in Gestalt tüchtiger Brennerinnen (Gräfin Dorothea von Mansfeld, Kurfürstin Anna von Sachsen) und des auf medizinische Selbsthilfe bedachten „gemeinen Mannes” ent­ gegentreten37. Seit sich mit Hohenheims Wirken merklicher noch als

3J Vgl. Robert P. Multhauf, The Significance of Distillation in Renaissance Medical Chemistry, in: Bulletin of the History of Medicine 30 (1956), 329-346. 34 Zur Rolle Hohenheims siehe auch Robert P. Multhauf, Medical Chemistry and „the Para­ celsians", in: Bulletin of the History of Medicine 28 (1954), 101-126. Anders Schneider ([wie Anm. 12], 85-94), der Hohenheim in der Geschichte der pharmazeutischen Chemie eine „Schlüsselstellung” und stärkste Wirkungen auf die Ausgestaltung des Arzneischatzes zuerkennt. 35 Hieronymus Brunschwig, Das neüwe Distilier buoch, Straßburg (J. Grüninger) 1531, Vorrede, S. VI'. 36 Konrad Gesner, Des Schatzs Euonymi/Von allerhand künstlichen vnd bewerten Oelen/ Was­ seren / vnd heimlichen Artzneyen, hrsg. v. Caspar Wolff, übers, v. Johann Jakob Nüscheler, L. Straub (St. Gallen) für J. Geßner (Zürich) 1583, 6. 37 Zum Problemkreis vgl. Joachim Telle [Hrsg.], Pharmazie und der gemeine Mann. Haus­ arznei und Apotheke in deutschen Schriften derfrühen Neuzeit, Wolfenbüttel 1982 (— Aus­ stellungskataloge der Herzog August Bibliothek, 36).

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in spätmittelalterlicher Zeit Alchemie zu einem „modus praeparandi rerum medicinalium” entwickelte, ohne indes von transmutatorischen Zielsetzungen abzulassen, und eine vornehmlich von Paracelsisten ver­ fochtene „Medicina hermetica” mit dergalenistischen „Medicina dogmatica” konkurrierte, finden sich jedoch unter den Chymisten, die sich anheischig machten, „der Natur arcana durch Kolen vnnd Fewr aus dem innersten herfür zu suchen” und ohne Scheu vor Handarbeiten zum Behufe der Arzneimittelherstellung das „purum ab impuro” separierten38, zunehmend akademisch ausgebildete Ärzte. In professionell geführte Apotheken aber zog die Chemiatrie nur sehr zögerlich ein. Und die Tore zu den Hohen Schulen des deutschen Kulturgebietes blieben der Alchemia medica zunächst verschlossen: Wer uns auch immer an frühen Paracelsisten (Alexander von Suchten, Michael Toxites, Gerhard Dorn, Adam von Bodenstein, Leonhard Thurneisser) oder Wortfüh­ rern der Alchemisten-Internationale um 1600 ins Gesichtsfeld tritt - ob Joseph Duchesne (Quercetanus), Bernard G. Penot oder Nicolas Barnaud, Heinrich Khunrath, Oswald Croll, Martin Ruland oder Michael Maier -, fast ausnahmslos sind es Ärzte, die abseits der Hohen Schulen zumeist in Diensten von weltlichen Großen standen, an deren Höfen das Verlangen nach wirksamen Arzneien und Streben nach wirt­ schaftlichem Gewinst, aber auch naturkundliche Neugierde, Liebhaberei und Vergnügen an merkwürdigen Naturspektakula der überdies von der frühkapitalistischen Gewerbe-, Warenproduktions- und Geldwirtschafts­ entwicklung begünstigten Alchemie zu einem mächtigen Aufschwung verhalfen. In die Hohen Schulen sollte sie erst allmählich während des 17. Jahrhunderts hinter dem Schilde der Medizin ihren Einzug halten. Um so auffälliger nimmt sich vor diesem Hintergrund ein Professor der Medizin an der Universität Leipzig aus, dem Benedictus Figulus, B.G. Penot und Hans Christoph Reinhart alchemico-medizinische Schriften widmeten39 und der in Verteidigungen der Medicina hermetica

38 Bernardus G. Penotus, Theophrastisch Vade mecum, übers, v. Johann Hippodamus, Magdeburg (J. Francke) 1597, 8. 39 Benedictus Figulus, Paradisus aureolus hermeticus, Frankfurt a.M. (W. Richter für N. Stein) 1608,3-6; Bernardus Penotus, Tractatus ...de vera materia lapidis philosophorum, in: ders., De denario medico, quo decem medicaminibus, omnibus morbis internis medendi via docetur, Bern (J. Le Preux) 1608,79-81, u. Hans Christoph Rheinhart, Das Valete: Vberden Tractat der Arcanorum Basilij Valentine zusammen gesetzten Hauptschluß Puncten deß Liechts der Natur, Halle (E. Hynitzsch fürj. Krusecke) 1608.

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eines Figulus und Georg Graman als eine namhafte Autorität figuriert40. Dieser von paracelsistischen Alchemisten zu den ihren gezählte Universi­ tätsmediziner heißt Joachim Tanck (1557/1609). Historiographen des 20. Jahrhunderts wissen über Tanck wenig mehr als der ‘Zedier’ zu berichten41, doch im Unterschied zu vielen anderen Trägern alchemischen Wissensgutes fiel er keiner gänzlichen Vergessen­ heit anheim: Johann Thöldes Bekundung vomjahre 1602, nach Erschei­ nen der ‘Zwölf Schlüssel’ (1599) habe ihn Tanck neben Johannes Hartmann brieflich zur Fortsetzung seiner Edition von BasiliusVÄLENTiNUS-Schriften aufgefordert42, wie auch Tancks Vorrede in einem der bedeutendsten Werke der frühneuzeitlichen Alchemieliteratur, dem von Thölde 1604 herausgegebenen ‘TriumphWagen Antimonii’ des Basilius Valentinus43, hielten seinen Namen unter Alchemica-Kennern wach, und es wurde angesichts dieser Beziehungen zwischen Tanck und Thölde die Frage erörtert, ob sich hinter dem umrätselten Basilius Valenti­ nus vielleicht Tanck verberge44. Ferner ist Biographen Johannes Keplers bekannt, daß Tanck 1607/08 in Leipzig den Druck Keplerscher Schriften überwachte. Nicht nur sein Briefaustausch mit Kepler in Prag45, auch

40 Benedictus Figulus, Thesaurinella Olympica aurea tripartita. Das ist: Ein himmlisch güldenes Schatzkämmerlein ... darinn der ... Carfunckelstein vnd Tincturschatz verborgen, Frankfurt a. M. (W. Richter für N. Stein) 1608,4, u. Georg Graman, Ein sonderliche Chymische Reise vnd HaußApoteca/ Sampl außführlichem Bericht/ was für Vnterscheid zwischen der Galenischen vnd Paracelsischen Medicin sey, Erfurt 0. Mechlers Erben für J. Birckner) 1618, Vorrede. 41 Universal-Lexicon, XLI, Leipzig, Halle (Johann Heinrich Zedier) 1744, Sp. 1658 f., s.v. Tancke,Joachim (Tanckius): „ein gecrönter Poete, der Medicin und Philosophie Doctor, gebürtig von Perleberg in der Marek, wurde zu Leipzig 1591 Licentiat und 1592 Doctor in der Medicin, hierauf der Anatomie und Chirurgie Professor zu Leipzig, und des grossen Fürsten — Collegii Collegiat. Er war ein grosser Liebhaber der Chymie ... und starb den 17 November 1609 im 52 Jahre”. 42 Johann Thölde, Vorrede an J. Tanck und J. Hartmann (Leipzig 1602), in: Basilius Valen­ tinus, VondenNatürlichenvnndvbernatürlichenDingen. Auch von der ersten Tinctur, Wurtzel vnd Geiste der Metallen und Mineralien, hrsg. v.Johann Thölde, J.Gaubisch (Eisleben) für J. Apel (Leipzig) 1603, S. Aij-Av. 43 Joachim Tanck, Vorrede (Leipzig 1604), in: Basilius Valentinus, TriumphWagen Antimonii, hrsg. v.Johann Thölde, Leipzig (J. Popporeich fürj. Apel) 1604. 44 Sten Lindroth, Tillfrägan om Basilius Valentinus, in: Lychnos (1940), 325-327. 45 Johannes Kepler, Gesammelte Werke, XVI: Briefe 1607-1611, hrsg. v. Max Caspar, München 1954, Nr. 468, 472, 474, 479, 483, 484, 491, 492, 514, 526 (10 Briefe Tancks an Kepler aus den Jahren 1607-1609), Nr. 493 (Brief Keplers an Tanck vomjahre 1608).

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Korrespondenzen mit J. Duchesne46, Jakob Zwinger in Basel47 oder mit dem Prager Arztalchemisten Martin Ruland48 zeigen Tanck in Verbin­ dung mit bedeutenden Naturforschern seiner Zeit. Verschattet von den Großen der frühneuzeitlichen Physica, will sich Tanck gleichwohl einer näheren Kenntnis entziehen. Unsere Bemerkungen zu einigen Aspekten der Beziehungen zwischen Alchemie und Medizin mit einem Blick auf die fachliche Stellung dieses in graues Halbdunkel zurückgetretenen „großen Liebhabers der Chymie” unter den Universitätsmedizinern um 1600 zu beschließen, scheint um so mehr geboten, als Lynn Thorndikes vereinzelt gebliebene Würdigung Tancks49 auf der irrigen Annahme beruht, die der Würdigung zugrunde gelegte ‘Instructio’ stamme aus der Feder Tancks50. Eine Musterung der mit Tancks Namen verknüpften Alchemica ergibt, daß ihre Anzahl und auch die Zahl der bis ins 18. Jahrhundert erfolgten Neuausgaben von Tanck herausgegebener Texte51 höher ist, als man nach Einsicht in übliche Nachschlagewerke annehmen muß, daß aber entgegen mancher Angabe Thorndikes, James R. Partingtons52 und 46 Vgl. Nilüfer Krüger, Supellex epistolica Uffenbachu et Wolßorum. Katalog der UffenbachWolfschen Briefsammlung, Hamburg 1978 (— Katalog der Handschriften der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, 8), 1015 (ein BriefTancks, Leipzig 1604, an Duchesne). 47 Theodor Zwinger [Hrsg.], De Chrysopoeia Variae Literatorum Epistolae, in: Appendix ad Annum Vür VI. Decuriae III. Ephemeridum medico-physicarum Academiae Caesareo-Leopoldinae naturae curiosorum in Germania, Nürnberg (Ch. S. Froberg) 1700,16-41, hier 35-37 (Nr. 11: ein Brief Jakob Zwingers, Basel 1606, an Tanck). 48 Martin Ruland, Propugnaculum chymiatriae: Das ist/Beantwortung vnd beschützung der Alchymistischen Artzneyen /Etlicher Spuriogalenisten verleumbdungen /vnd der Vortrefflichen hochnutzbarlichen Chymiatriae, vnchristlichem vnd vnbillichem verdammen entgegen gesalzt, Leipzig Q. Apel) 1608 (im Anschluß an Rulands Vorrede Auszüge aus zwei Briefen Tancks vom Jahre 1607 an Ruland [S. dv-d2v] und ein Brief Rulands an Tanck). 49 Lynn Thorndike, A History ofMagic and Experimental Science, VIII, New York 1958,105f.; s. auch VII, New York 1958, 154, 160f. 50 Dies ist umso erstaunlicher, als sich Tanck als Herausgeber zu erkennen gab; vgl. Joachim Tanck: Vorrede an den Leser(1605), in: Succinctaür brevisartischemiaeinstructio. Das ist: Volkommner gründlicher Bericht der rechten vnd waren Alchimey / aus wahrhafftigem Fundament vnd Schrifften der Philosophen beydes Particulariter vnd Universaliter Philosophi­ scher weise erkleret, hrsg. von Joachim Tanck, Leipzig 0. Rose) 1605. - Verfasser der erst­ mals im Anhang zu J. Thöldes ‘TriumphWagen’-Ausgabe (1604, S. 297-397) unter dem Titel'Von den Particular- und Universaltincturen’ von Tanck herausgegebenen Tnstructio’ (1589) ist Christoph von Hirschenberg; vgl. dazu vorläufig Joachim Telle, Der Alchemist im Rosengarten. Ein Gedicht von Christoph von Hirschenbergfür Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und Graf Wilhelm von Zimmern, in: Euphorion 71 (1977), 283-305, hier 284, 305. 51 Über Näheres wird eine von Herrn Dr. U. Benzenhöfer (Heidelberg) vorbereitete Bio­ bibliographie informieren. 52 James Riddick Partington, A history of chemistry, II, London, New York 1961, 188f.

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anderer Historiker eine von Tanck eigenständig verfaßte Schrift alchemischen Inhalts im Druck nicht greifbar ist. Nähere Aufschlüsse über seine fachliche Stellung erlauben derzeit nur Dedikationen und Vorworte, die Tanck seinen in denjahren 1604-1610 erschienenen Alchemica-Ausgaben beigab53, sowie Tancks Vorreden in Werken des chemiatrisch tätigen Arztes Michael Reuden (1605)54 und des Apothekers Fidejustus Reinneccerus (1609)55. Erwartungsgemäß bergen sie polemische Sturm­ läufe wider die aristotelische Physica und die galenistische Medizin, und bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, daß man Tanck künftig dem Paracelsisten-Lager zurechnen muß. Hauptsäule der allerorten gegenwärtigen Aristoteles-Kritik Tancks ist die Auffassung, daß man die ersten Ursachen bestimmter ^Vunderwirkungen” der Natur weder „ex Aristotelis Philosophia, noch Galeni Medicina” erklären könne, und schlimmer noch: daß die Aristoteliker in diesen „Geheimnissen” keine erforschungsbedürftigen Gegenstände erblickten. Gezielt auf Zeitgenossen, die meinten, sie hätten „alles gefres­ sen/vnd die Natur verschlucket/wenn in den Aristotelem gekucket” und wider einen steril-selbstzufriedenen Aristotelismus ge­ richtet, der jede weiterführende Naturforschung hemme, hören wir Tanck vorbringen:

53 Vgl. vorab Joachim Tanck, Von der Alchimey würden vnd nutz (Leipzig 1609), in: Promptuarium Alchemiae, Das ist: Vornehmer geladen Philosophen vnd Alchimisten Schnffte vnd Tractat/von dem Stein der Weisen / sammt künstlichen Alchimistischen Handgriffen / vnd bewerten scheinen bereittungen allerley Artzneyen, hrsg. v.J. Tanck, Leipzig (J. Popporeich für H. Grosse d.Ä.) 1610, S. (l)vjv - (5)v. Es handelt sich um die Zweitfassung einer Vorrede Tancks (Leipzig 1605) in: Alchimistisch Waitzenbäumlein/Das ist: Vom Stain der Weisen, hrsg. v.J. Tanck, Leipzig (J. Rose) 1605; sie bietet auch die Hauptabschnitte der Vorrede Tancks zur Bacon-Ausgabe (1608). - Siehe z.B. auch: Vorrede an Z. Brendel (1605), in: Instructio [wie Anm. 50]; Vorrede (Leipzig 1608), in: Roger Bacon, Medvlla alchimiae... Das ist: Vom Stein der Weisen / vnd von den vornembsten Tincturen des Goldes/Vitriols vnd Antymonij, hrsg. v.J. Tanck,J. Gaubisch (Eisleben) fürj. Apel (Leipzig) 1608, [auch in:] Deutsches Theatrum chemicum, hrsg. v. Friedrich Roth-Scholtz, III, Nürnberg (A.J. Felßecker) 1732, 76-102. 54 Joachim Tanck, Vorrede von dem vnterschied der Hermetischen vnd Galenischen Medicin (Leipzig 1605), in: Michael Reuden, Bedencken Ob vnd wie die Artzneyen/so durch die Alchimistische Kunst bereitet werden / sonderlich vom Vitriol/Schwefel/ Antimonio Mercurio, vnd dergleichen fruchtbarlich zugebrauchen sein, Leipzig (J. Rose) 1605, S. Av-Biiij. 55 Joachim Tanck, Praefatio, in: Fidejustus Reinneccerus, Thesaurus chymicus experimentorum certissimorum collectorum usuque probatorum, hrsg. von Janus Baccerus, Leipzig (Th. Schürer) 1609, S. a8v-c7v.

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„Es ist der Sachen nicht gnug gethan/wenn man vermeynt außm Aristotele nicht zu kommen/alß dürffen wir nicht weiter nachforschen/vnd in der Natur studiren... Thomas Aquinas, Arnoldus de villa nova, Albertus Magnus, vnd andere Philosophi mehr/ seyn in diesem fall viel fleissiger denn wir gewesen/so insonderheit eins jedem dings Natur/ob gleich im Aristotele davon nichts beschrieben/mit grossem fleiß erkundiget vnd nachgeforschet”56.

Naturforscherlich vorbildliches Wirken heißt bei Tanck, „eins jedem dings Natur” erklären, im Dienste der Naturerkenntnis keine Fesseln tragen und aus Kenntnis „verborgener Naturkräfte” Aristotelikern unerklärliche Runder” vollbringen. Zur Sprache gelangt hier ein Programm der „Magi” Vor allen anderen Meistern feiert Tanck in den „Magi” die allerrühmlichsten Naturforscher, und zugunsten deren Wissenschaft - der „Magia naturalis” samt der Alchemie - wird die griechisch-römische Naturkunde pauschal abgewertet. Tancks Abwertung der Antike spürbar begünstigt hat die Geschichtsauffassung der Renaissance-Hermetik, nach der Platon, Demokrit und Pythagoras in die Schule der ägyptischen „Magi” gegan­ gen seien, doch deren naturkundliche Weisheit nur noch unzureichend bewahrt hätten. Daß im Zuge des humanistischen Rückgriffes auf antike Texte mit Ausnahme der Demokrit-, Synesios- und PELAGius-Übersetzung von Domenico Pizzimenti keine griechisch-römischen Alchemica in Druck gelangt waren57, konnte einen publizistisch tatkräftigen Anwalt der Alchemie in seiner Geringschätzung der antiken Erbschaft nur bestär­ ken. Insbesondere aber war es der „Stückwerck”-Charakter der aristoteli­ schen Physica, der in Tancks Sicht die Antike deklassierte. Die „Magt "-Legende flankiert die ebenfalls gegen die einstige Wert- und Überschätzung der antiken Naturkunde gerichtete Vorstellung, daß das „Heidentum” der Alten einer tieferen Naturerkenntnis im Wege gestan­ den habe. Wie schon ein glühender Paracelsist das „heidnische” Fach­ schrifttum der alchemischen Arzneien abholden Ärzte verdammte jener „naristotelischen Lehrjünger”, „beschißnen Galenisten” und „vnkundigen Avicennisten” - und nur die ‘Heilige Schrift’ als Quelle einer „wahren Physic” hatte gelten lassen58, ähnlich wurde auch von 56 Tanck [wie Anm. 53] (1610), S. (2)ijf. 57 Vgl. dazu Günther Goldschmidt, Vorwort, in: Catalogue des manuscrits alchimiques grecs, IV: Manuscrits d'Allemagne, d'Autriche, de Danemark, de Hollande et de Suisse, hrsg. v. G. Goldschmidt, Brüssel 1932; s. auch Lynn Thorndike, Alchemy during thefirst halfofthe sixteenth century, in: Ambix 2 (1938), 26-37. 58 [Anonymus:] Cyclopaedia Paracelsica Christiana. Drey Biicher von dem waren vrsprung vnd herkommen derfreyen Künsten/auch der Physiognomia, hrsg. v. Samuel Siderocrates, o.O. 1585, passim.

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Tanck nicht versäumt, jene im frühen Luthertum wohl toposhafte Vor­ stellung einer prinzipiellen Antinomie zwischen der wiederbelebten heidnischen Antike, repräsentiert vom im Finstern tappenden Aristote­ les, und dem Christentum, repräsentiert vom neuen Heiligen, dem im hel­ len Lichte der ‘Heiligen Schrift’ und im ‘Lichte der Natuf wandelnden Luther, aufzugreifen und sie in den Dienst seiner Alchemieapologie zu stellen59. Die wohl maßgeblichste Voraussetzung für Tancks Geringschätzung der Antike bildete ein entschiedener Paracelsismus: Seine Feier der „Magia naturalis” entspringt der Auffassung, man könne die Fernheilwir­ kungen der Waffensalbe Paracelsi und andere Wunderwerke” der Natur mit Hilfe der Sympathien- und Inßuenzien-Le\ire überzeugend erklären. Leistungskraft und Überlegenheit der Alchemie garantiert Hohenheims Drei-Prinzipien-Lehre, von der aus paracelsistischer Grundüberzeugung gilt, daß sie Vorstöße bis in den „Kern der Natur” ermögliche, während man mit galenistischem Instrumentarium „in corticibus rerum naturalium” steckenbleibe: Wer nach Galenistenart alles nur „mit den Händen ertappen” wolle und am Irdisch-Äußerlichen hafte, so erklärte Tanck, dem seien tiefere Naturerkenntnisse verwehrt. Vorstöße ins Innerst-Unsichtbare der Natur hin zu den in der „groben Materie” aller Dinge verborge­ nen „Geistern” und „Kräften” könnten nur Forschern gelingen, die die Natur mit „geistlichen” und „himmlischen” Augen erkundeten: den von Alexander von Suchten „imaginierende Menschen” genannten Alchemisten60. Die Hauptwucht der Angriffe Tancks trifft die Heilmittellehre der galenistischen Medizin, deren Grundlage - die Lehre von den vier Humores und die mit ihr verknüpfte Elementen- und Qualitätenlehre aus dem Geiste der paracelsischen Medizin verworfen wird.Tancks ätiolo­ gische Überlegungen bauen ausschließlich auf Hohenheims DreiPrinzipien-Lehre auf und münden in der Feststellung: „In welchen Menschen nun diese drey principia zum reinesten vnd saubersten sein/derselbige ist der gesündeste/der vngesündeste aber/in dem sie zum vnreinesten sind.”61 Will nun der Arzt 59 So besonders im Vorwort zur Bacon-Ausgabe, ed. Roth-Scholtz [wie Anm. 53], 91f. Dieselbe Auffassung vertrat beispielsweise auch der Pfarrer Henrich Vogel, in: Offen­ barung der Geheymnussen der Alchimy, Straßburg (A. Bertram) 1605, Vorrede. 60 Alexander von Suchten, Liber vnus De secretis Antimonij. Das ist /Von der grossen heymligkeit/des Antimonij die Artzney belangent, hrsg. von Michael Toxites, Straßburg (Ch. Müllers Erben) 1570, 52: Alchemia „lest keinen hominem rationalem zu jr/ sie will hominem mentalem haben”. 61 Tanck, in: Reuden [wie Anm. 54], S. Aviijv.

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gesundheitsbewahrend wirken, so fällt ihm die Aufgabe zu, den Rein­ heitszustand der drei Prinzipien zu erhalten; gilt es einen erkrankten Menschen zu heilen, so hat er die Drei Prinzipien mit Hilfe „reiner” und nach dem Similia-similibus-Prinzip wirkender Arzneien von den „impuritates elementorum” zu reinigen. Das Vorbild dieses Arztes, der im Krank­ heitsfälle für eine Reinigung der „unsauberen” Prinzipien-Trias zu sorgen hat, ist unverkennbar: Es ist ein transmutationskundiger Alchemist aus dem Paracelsisten-Lager, der die Drei Prinzipien der „unsauber-kranken” Metalle so lange Reinigungsprozessen unterwirft, bis sie eine im allerrein­ sten Zustand befindliche „mixtio” bilden. Denselben Weg der Heilung beschreitend, haben Arzt und Alchemist im Paracelsismus Tancks eine ununterscheidbare Gestalt angenommen. Inhalte und Methoden dertransmutatorischen Alchemie wurden von Tanck auffällig selten zur Sprache gebracht. Zwar erinnert an ihre heraus­ fordernden Züge, wenn sie Tanck unter Aufgriff der Alchemistenmaxime „natura iuxta propria principia” gegen den auch um 1600 nicht verstumm­ ten Vorwurf naturkundlichen Frevels wider die göttliche Ordnung62 verteidigt. Insgesamt gesehen aber erscheint die stolze Jungfrau Alchimia, die kühn einsetzt, wo die Natur aufhört, und sich anheischig macht, die Natur zu übertreffen, als eine tüchtige Magd der Pharmazie und verbergen sich hinter den alchemisch bewirkten Verbesserungen” und „Erhöhungen der Natur” bei Tanck immer nur Resultate von Arznei­ bereitern: die den „groben” Substanzen abgewonnenen subtil-reinen „Geister” Alchemie, das ist fast ausschließlich eine Kunst der Arzneizube­ reitung, die der galenistisch geprägten Apothekerkunst weit überlegen ist. Merklich wird in dieser zutiefst arzneikundlich bestimmten Position die immense Strahlkraft der aus neuplatonischen Quellen gespeisten und vorab unter Paracelsisten heimischen Vorstellung, man könne ein aller Materie innewohnendes geistiges Prinzip von allem unnütz-„corporalischen” Ballast befreien, anreichern und dieses Trägers medizinisch günstig wirkender Virtutes in materialisierter Gestalt habhaft werden. Wieder ist offenkundig, daß Tanck auf dem Boden einer Alchimia reformata Hohenheims stand, die ihre ärztlich tätigen Anhänger hauptsäch­ lich dem Versprechen verdankte, ein alchemisches Produkt, das die Eigenschaften der Grundstoffe in geläuterter und verstärkter Form enthalte, sei aller Arznei der Galenisten überlegen. Die Masse der von

62 Siehe z. B. Bartholomäus Keckermann, Opera, I, o.O. (P. Aubert) 1614, Systema physicum, Lib. 5, Kap. 4, Sp. 1642 (recte 1652): „Alchymia est species quaedam tentationis divinae”.

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Tanck herausgegebenen Alchemica spiegelt diese fachliche Position Tancks indes nicht oder macht sie allenfalls schemenhaft kenntlich. Tanck schlüpfte nicht ins Gewand eines von Gott auserwählten Alchemisten, der den „Söhnen der Weisheit” feierlich-priesterhaften Tones tiefste und nur auserwählten Jüngern vorbehaltene Naturgeheim­ nisse offenbart. Eine der alchemischen Naturkunde ansonsten oft eigene Metaphysica, die auf eine religiös geprägte Welterschließung und alles umfassende Sinndeutung ausging und auf Fragen nach dem letzten Grund und dem letzten Ziel der Dinge antwortete, macht sich in seinem Paracelsismus nicht vernehmlich. Ähnlich seinem „günstigen Herrn vnd guten Freunde” Johannes Hartmann63 trägt .Joachimus Tanckius Med. art. Doctor. Anatomes et Cheirurgiae Professor Publ. /upiarpöi in Academia Lipsica” das schlichte Habit eines emsigen Laboranten aus der Officina des Vulcanus64, und man wird ihn künftig den frühen akademi­ schen Vertretern der Chemiatrie (Johannes Hartmann, Daniel Sennert, Andreas Libavius) zur Seite stellen dürfen: Ungerührt von jenen Schalen der Verachtung und des Spottes, die Buchgelehrte über Alchemisten ausgossen, weil Alchemisten eine „theorica” ohne „Handgriffe” für blind hielten, weil sie den Bücherphilosophen mit dem „Feuerphilosophen ” verbanden und ihre „Hände in die Kohlen steckten”, sehen wir Tanck die experimentell-arzneikundliche Tradition der Alchemie fortführen, deren Träger vorab auf den Nutzen alchemischer Produkte für die medizinische Praxis schauten und den Hauptschlüssel zu einer erfolgreichen Therapeu­ tik oft nur noch im Modus der Arzneipräparation zu erblicken ver­ mochten. Der alte Gedanke, daß sich viele Krankheiten durch eine Verhaltens­ änderung des erkrankten Menschen lindern und heilen ließen, spielte im medizinischen Denken Tancks keine Rolle. Seine Alchemia medica bestimmte vor allen anderen therapeutischen Methoden die Pharmako­ therapie. Da seine Apologien alchemisch zubereiteter Arzneien sympto­ matisch sind für den mächtigen Aufschwung, den die pharmazeutische Alchemie unter Akademikerärzten des 17. Jahrhunderts nehmen sollte, wird man in der Annahme kaum weit fehlen, daß der Gedanke der Gesundheitserhaltung und Krankheitsvorbeugung von der kurativen Medizin zunehmend bedroht und die klassisch-mittelalterliche Diätetik seit der frühen Neuzeit nicht zuletzt durch den Siegeszug der Alchemia medica weitgehend zurückgedrängt worden ist. Tanck [wie Anm. 53] (1610), S. (3)vv. 64 Tanck, Brief vom 3.1.1608 an Kepler, ed. Caspar [wie Anm. 45], Nr. 474; vgl. ebd.: „olim tarnen grauiter tractaui Mathemata: nunc frequentius sum in officina Vulcani, Chimica opera Naturae arcana investigans”.

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