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German Pages 383 [397] Year 2012
PA R A DEIGM ATA 31
PA R A DEIGM ATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.
Holger Glinka, geb. 1967. Studium der Philosophie, allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft, Germanistik und Soziologie in Bochum und Bielefeld. Promotion 2008. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Klassische deutsche Philosophie und Mitglied des Forschungszentrums für Klassische deutsche Philosophie / Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum. Redakteur der Hegel-Studien.
HOLGER GLINK A
Zur Genese autonomer Moral Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und der Aufklärung
FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG
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I N H A LTS V E R Z E IC H N IS
I . T E I L : DA S E R FOR DE R N I S U N D DA S SPE Z I F I K U M MOR A LW I S SE NS C H A F T L IC H E R FOR S C H U NG
1. Kapitel: Zur Geschichte der Ethik in Rücksicht auf das Naturrecht . . . . 1.1 Die Herkunft der Problemstellung aus der griechischen Antike und die rechtstheoretischen Begriffsverschiebungen bis zum 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Aspekte der Etablierung historischer Erforschung der Moral . . . . . . . 1.3 Die Thesen und die wissenschaftlichen Ziele des Projekts der Genese autonomer Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Ein Beispiel zur Symptombeschreibung des heute verworrenen Moralbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Die Neurophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Eine naturrechtliche Lesart der Ergebnisse moderner Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Komplementarität von Leben und Begriff in der Rekonstruktion der Genese autonomer Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Methodologische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Grundriß einer Typologie philosophischer Philosophiegeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das ideenpolitische Implement der philosophischen Problemgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Problematik der philosophischen Problemgeschichte . . . . . . . . . 2.3.1 Begriff und Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Problem und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Problemgeschichte und Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Die kontrastive Explikation des revidierten Begriffs der philosophischen Problemgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Überleitung in den problemgeschichtlichen Ausgangspunkt: die Ausbildung der frühneuzeitlichen Wissenschaften und ihre Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
I I . T E I L : N AT U R – G E S E T Z – R E C H T: K E R N PROBL E M E F RÜ H N EU Z E I T L IC H E R W I S SE NS C H A F T
1. Kapitel: Die theoretische Umgebung und ihre wissenschaftsgeschichtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der ontologische Status des Rechts: naturrechtliche Hyperpositivität vs. theonome Positivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Epistemologische Interferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Theologie-politische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Theologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Ambiguität und Zerfall des dem Anspruch nach einheitlichen Gesetzesbegriffs der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die philosophischen, religiösen, juridischen und naturwissenschaftlichen Diversifi kationen des Gesetzesbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Problem der Gottesferne vor dem Hintergrund von griechischer Antike, römischem Recht und (christlicher) Theodicee . . . . . . . . . . 2.3 Die Theonomie des Alten und Neuen Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Entleerung des positiven Rechtsgesetzes und die Austreibung Gottes sowohl aus dem rechtlich-moralischen als auch aus dem physikalischen Naturgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kapitel: Das physikalische Naturgesetz in der frühen Neuzeit. . . . . . . . . 3.1 Die verhinderte Enttheologisierung des Systems der Wissenschaften in Thomas Hobbes’ De Corpore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Ablösung des göttlichen Gesetzgebergebots durch die Regelmäßigkeit beobachtbarer Phänomene: der Untergang des physikalischen Theonomieprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die religiösen Implikationen der frühneuzeitlichen Astronomie . . . . 3.4 Die Dezentrierung der Unendlichkeit und der hypothetische Kopernikanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Das theoretische Antlitz frühneuzeitlicher Physik: der Mechanismus 3.6 Die Folgen der Restituierungsbestrebungen des griechischen Atomismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Die neue Blüte der Metaphysik und der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Der experimentelle Empirismus in seinem Verhältnis zu Philosophie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 33 37 37 41 46 46 49 53
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Inhalt
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I I I . T E I L : S TA DI E N DE R G E N E S E AU TONOM E R MOR A L
1. Abschnitt: Anhaltspunkte für eine säkulare Begründung der Verbindlichkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel: Der Staat und die Idee der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Politische Voraussetzungen von Bodins Six Livres de la République . . 1.2 Diskrepanzen der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Zur Frage nach dem Gesetzestypus der Staatsphilosophie Bodins . . . 1.4 Ius divinum – ius naturale – ius gentium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Religion im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 System der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Religiöse Ernüchterung und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Kapitel: Bodins De la démonomanie des sorciers aveque la réfutation des opinions de Jean Wier (1580) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Aspekte der Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Bescheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Ex- und intrinsische Stringenz des problemgeschichtlichen Zugriffs auf die Daemonomania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Madame Jeanne Harviller († 29. April 1578). Eine Fallstudie . . . . . . 2.3 Problem- und geistesgeschichtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Geistliche Waffenrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Natur der Quinta Essentia – ›moralische‹ Natur der Geister – Rationalismus vs. Fideismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Prae- und postchristliche Hypostasierung des Bösen . . . . . . . . 2.3.4 Bodins Anti-Manichäismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kapitel: Bodins Angriff gegen Weyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zur Person Weyers; Werkgeschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Conditio melancholiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zauberinnen sollen keinen Tag leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Medicina diabola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Influxus physicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Divina distinctio: Vergebung der Sünde vs. Strafe auf Grund von Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Konsequenzen der Resultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99 99 99 102 104 107 107 108 110 110 112 112 113 115 117 121 122 124
2. Abschnitt: Das positive Recht des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Kapitel: Vorbereitende Bemerkungen zum Verhältnis von System und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
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Inhalt
1.1 System und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Werkanalytische Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Zur Bedeutung des Civil War und seiner Vorgeschichte für Hobbes’ politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Zur machtpolitischen Einordnung des Konfl ikts zwischen King Charles I. und dem Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Thron und Altar im England der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . 1.3.3 England unter Jabob I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Zur Einberufung des Court of Star Chamber unter Charles I. . . 1.3.5 Short and Long Parliament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Komparatistische Publikationsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Die anthropologischen Grundlagen der Moral und die natürliche Logik des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Naturrechtslehrer und Juristen in der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Ungeschichtlichkeit des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Wille als Grenze der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Realgeschichtliche Gefährdung empirischer Freiheit . . . . . . . . 2.3.2 Der letzte Wille als Aufhebung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Ordo stellarum et cogitationis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Staat und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Szientifischer und politischer Nominalismus . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Innere Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Ab civitate condita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Naturlogisches Bildungsgesetz des politischen Körpers . . . . . . 2.6.2 Unterwerfungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kapitel: Naturrecht und Religion im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die nominalistische Kritik der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Gesetze von Gottes Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Staat und christliche Konfessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Hexen und das Recht zu foltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Staatsgehorsam und Gehorsam im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Die staatsrechtliche Sanktionierung des heidnischen Polytheismus; ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Das Schicksal der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Die Kritik an der Illuminatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gewissen und Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Der ›kleinste gemeinsame Nenner‹ oder: die Aushöhlung der Religion im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130 134 141 141 142 143 145 148 150 154 154 158 160 160 161 162 164 164 167 170 170 173 175 175 177 177 178 179 181 182 184 185 185 188
Inhalt
3.5 Ordo juris ac formae legum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Das System des Gesetzes nach De Cive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Rechtstheoretische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Rekonstruktion des Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Konsequenzen für die Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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190 192 192 194 195
3. Abschnitt: Politische Forderungen aus der philosophischen Konfrontation mit der Gesetzesreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 1. Kapitel: Vom Talmudismus zur Freiheit in der Wissenschaft . . . . . . . . . 1.1 Das Marranentum oder: Spinozas Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Niederlande und Spanien: Kulturation in religiöser Entwurzelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Sprache des Rechts – die Sprache der Ungläubigen . . . . . . . . . . 1.4 Van den Endens Lateinschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Methodologische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Spinoza steht im Ruf, Cartesianer zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198 198 199 200 205 206 209
2. Kapitel: Isolation – Befreiung – Selbstbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Bet-Din und Cherem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 De iteratione legis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Jüdischer Messianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Mordanschlag? Konsequenzen einer Hypothese . . . . . . . . . . . 2.3 Spinozas Verbindungen zum Militär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Spinozanische Philosophie und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Geistig-moralische Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zur Divergenz von Sittlichkeit und religiösem Leben . . . . . . . . . . . . 2.7 Spinozas politische Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Spinozas wissenschaftliche Attraktivität: Leibniz’ Interesse . . . . . . .
217 217 226 227 229 231 233 237 240 242 245
3. Kapitel: Metaphysik als Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zur Funktion von Spinozas Affektenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Wertelehre und spekulativ-metaphysischer Utilitarismus . . . . . . . . . 3.3 Anti-Teleologie und Kausaldeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Weder Pantheismus noch Cartesianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247 247 250 252 255
4. Kapitel: Die Kritik an der positiven Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Ambiguität im Sprechakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Zum theologie-politischen Motiv der Differenz von »vana religio« und »fides catholica« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Simultaneität von Naturzustand und Demokratie . . . . . . . . . . . 4.4 Widerstreitet die Naturzustandstheorie dem göttlichen Recht? . . . .
259 259 263 267 268
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Inhalt
4.5 Zur Kritik an der Offenbarung: Temperamenten-Lehre und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zum Verhältnis von Natur- und Gesetzesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Zur Form des Staatsrechts; seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Die theologische Kritik an der Vertragstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Die Verbannung der Exegeten und der säkulare Staat . . . . . . . . . . . . 4.10 Das Anthropologische der Religion als Resultat der Kritik . . . . . . . 4.11 Ein praktischer Maßstab für die Regenten: die Ethica . . . . . . . . . .
271 272 275 276 280 284 286
4. Abschnitt: Die Moral der Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 1. Kapitel: Die religionspolitischen Folgen des praktischen Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die problemgeschichtliche Plazierung der physiologischen Moralphilosophie D’Holbachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Melancholisches Temperament in D’Holbachs Moralphilosophie . . . 1.3 Die Kritik an der Geistlichkeit und das System des Atheismus . . . . . 1.4 Die physikotheologische Legitimierung des Freitods . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Ökonomie des moralischen Instinkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Das Kalkül der Physiognomie; die Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Das Format theonomer Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
290 290 296 306 308 310 312 313
3. Kapitel: Die historisch-systematische Kritik einer materialistischen Fundierung der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 1.1 Logische Probleme in D’Holbachs Moralsystem . . . . . . . . . . . . . . . . 319 1.2 Die Definition und der wahre Grund der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . 320 1.3 Der Begriff des Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 David Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Natürliche Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Für Stefanie
I. TEIL Das Erfordernis und das Spezifikum moralwissenschaftlicher Forschung
1. Kapitel: Zur Geschichte der Ethik in Rücksicht auf das Naturrecht 1.1 Die Herkunft der Problemstellung aus der griechischen Antike und die rechtstheoretischen Begriffsverschiebungen bis zum 18. Jahrhundert Die unterschiedlichen Möglichkeiten, das komplexe Verhältnis von praktischer Philosophie1 und Religion zu bestimmen, stehen unter der problemgeschichtlichen Leitfrage, wie sich naturrechtliche Vorformen der späterhin reifen Konzeption einer – wie es dann bei Kant heißt – autonomen Moral aus religiös bedingten Versicherungsstrategien emanzipieren. Wenn Kant sagt, die »A v t o n o m i e [sic!] des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten: Alle H e t e r o n o m i e der Willkühr gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen«,2 dann versteht die vorliegende Untersuchung die wenig linear verlaufenden Etappen der Ausbildung des frühneuzeitlichen3 Autonomie-Konzepts als ein gemäß eigenem Anspruch vollständig realisiertes Postulat politischer Utopie, deren revolutionierte Theorien von Natur und Freiheit – besonders hinsichtlich des Mensch-Natur-Verhältnisses – als Produkt natürlicher Vernunft zu deuten sind. Mit der natürlichen Vernunft geht zunächst eine Duldung heidnischer, vom Christentum (noch) nicht erleuchteter Religionen einher (David Hume);4 gleichermaßen wird aber auch deren staatsrechtliche Sanktionierung lanciert (Thomas Hobbes). Die Aufdeckung eines natürlichen, sprich gemeinmenschSiehe: Aristoteles: Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kullmann. Reinbek bei Hamburg 1994. 1333a. 2 Siehe: Critik der practischen Vernunft von Immanuel Kant. Riga, bey Johann Friedrich Hartknoch 1788. § 8. Lehrsatz IV. 3 Derjenige Zeitraum, den Geistesgeschichtler heute »Frühe Neuzeit« nennen, ist dem Kunsthistoriker das »Zeitalter des Barock«. – Siehe: Beverly Louise Brown (Hg.): Die Geburt des Barock. Stuttgart 2001. 40, FN 3. – Für die nähere Beschreibung des Verhältnisses von Wissenschaft (hier: der Ethik bzw. Moral) und Religion wird im folgenden unter dem Begriff »frühe Neuzeit« das Zeitfenster von der Renaissance bis zum Ende der Aufklärung geöffnet, wobei streng genommen Formen neuzeitlicher Wissenschaft bereits nach Augustinus, d. h. nach Verabschiedung des Heilsgedankens des Menschen anheben und die Wissenschaft als solche den Status von Autonomie zu erlangen sucht. 4 Die kunsthistorische, insbesondere ikonographische Dimension dieses Problemkreises beleuchtet: Edgar Wind: Pagan Mysteries in the Renaissance. New Haven, Connecticut 1958. 1
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lichen Anteils der Vernunft hat die Notwendigkeit einer Begründung des Menschseins aus sich selbst heraus zur Konsequenz. Dieser subjektive Anspruch auf Selbstverwirklichung: Autonomie, bedingt darüber hinaus ein neuartiges technisch-herstellendes Verhältnis zur Welt, mit einem Wort: eine neue Form von Wissenschaft. Wie schon Ernst Cassirer und in Fortsetzung Hans Blumenberg deutlich machen, resultiert aus der Begegnung von Philosophie, Religion und frühneuzeitlicher Naturwissenschaft ein umfassend modifizierter Erkenntnisbegriff, der einen Individualismus verursacht, der mannigfache Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, politischen und nicht zuletzt religiösen resp. klerikalen Lebensverhältnisse europäischer Gesellschaften hat. Die realpolitische Gefährdung indes, die mit der Dynamik individualistischer Autonomiebestrebungen einhergeht, erfordert – wie sich bald zeigt – einen hohen Analyseaufwand besonders für diejenigen, die Einheitskonzepte für den Bereich des praktischen Lebens zu begründen suchen, wie z. B. Hobbes. Zwar vollzieht sich in Zentraleuropa die frühneuzeitliche Reformierung und Etablierung der ›Ethik‹ als einer philosophischen Wissenschaft5 unter ständigem Rekurs auf die in den gelehrten Diskussionen zentralen differenzierten Lehrbestände christlicher Moraltheologie (und nicht zuletzt der auf sie bezogenen Dogmengeschichte); dennoch darf nicht übersehen werden, daß eine Ethik in ihrem Bestreben nach Manifestierung ihres autonomen wissenschaftlichen Ressorts im Dienste geglückter Lebensführung – die sogar ein Hobbes zum Maßstab der Frage nach dem Wohl im Staate anerkennt6 – bereits seit der griechischen Antike in entscheidenden Momenten ihrer Ausdifferenzierung die Loslösung von Formen theonomer Versicherungen im Schilde führt.7 Der Ethik, die spätestens seit Aristoteles als Titel der entsprechenden philosophischen Disziplin, will sie Wissenschaft sein, fungiert,8 wohnt seit jeher die beLudwig Siep konstatiert mit Blick auf den Jenaer Hegel eine »Erneuerung der praktischen Philosophie«, die auf eine »Kritik des Naturrechts und Rehabilitierung der klassischen politischen Philosophie« in dessen Naturrechtsaufsatz (1802/03) hinauslaufe. – Siehe: Ludwig Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg/München 1979. 146 bzw. 156. – Siehe ebenso: Manfred Riedel (Hg.): Die Rehabilitierung der Praktischen Philosophie. 2 Bände. Freiburg i. Brsg. 1972 – 73. 6 Siehe: Thomas Hobbes: De Cive. – In: ders.: Elemente der Philosophie II. Vom Menschen – Elemente der Philosophie III. Vom Bürger. De homine – De cive. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick. Zweite, verbesserte Auflage Hamburg 1966. 13,4. (Sigle: C) 7 Das antike Rechtsverständnis, in welchem der Begriff Nomos im Zentrum steht, charakterisiert Rolf Grawert wie folgt: »Aus der ursprünglich theonomen Bedeutung einer Ethos, Recht, Sitte und Satzung umgreifenden Gesamtordnung der Polis schichtet sich mit den Sophisten im 5. Jahrhundert v. Chr. in einem Säkularisierungsprozeß das zeitbedingt positiv gestaltbare Gesetz von den ewigen Ordnungsprinzipien ab […].« – Siehe: Rolf Grawert: Gesetz. – In: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhardt Koselleck (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 2. Stuttgart 1975. 863 – 922; hier 864. (Sigle: GG) 8 Siehe: Aristoteles: Ethica nicomacheia. – In: Aristotelis Opera. Edidit Academia Regia Borussica. Aristoteles graece ex recognitione Immanuelis Bekkeri. Volumen posterius fragmentis Aristotelicis auctum. Darmstadt 1960. 1094 – 1181. (ND der Ausgaben Berlin 1831 bzw. 1870) – Eb5
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griffliche Diversifikation von Moral und Recht inne. Als theoretische Disziplin erhebt die Ethik die Praxis zum Objekt: Es gehe nicht mehr um willen der Theorie um die Frage, was Tugend sei, sondern um ein tugendhaftes Leben als zuon politik)n in der Polis. So erblickt Aristoteles in der Eudämonie das höchste Gut. Unter welchen Voraussetzungen und seit wann besagte Unterscheidung von Recht und Moral im Wissenschaftsgeflecht tatsächlich vernehmbar ist, wird vorliegende Untersuchung nicht zu erörtern haben, sie konzentriert sich vielmehr auf die Bedingungen der angesprochenen problemgeschichtlichen Verschiebung in der frühen Neuzeit. Auch die Rede von einer von allem positiven Recht unabhängigen moralischen Sphäre ist ihrerseits zu unterscheiden von einer innerhalb dieser Anordnung situierten, wiewohl ausschließlich problemgeschichtlich beschreibbaren Ablösungsbewegung der Moral von theologischen Formularen. Sonach hat die vorliegende Studie den Nachweis der Dringlichkeit einer Ausarbeitung dieser Entwicklung zu erbringen. Denn es liegt die Vermutung nahe, daß die philosophische Potenz des Moralbegriffs nicht aus der Alternative zu der angeblich unhintergehbaren Disjunktion von Naturrecht und positivem Recht erwächst, sondern der naturrechtlichen Gerechtigkeitsformel »Recht aus Moral«9 je schon innewohnt. Natürliches und positives Recht koinzidieren jedoch zumindest darin, daß sie Normen für die Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens bereitstellen. Daß der Rechtspositivismus dem Naturrecht den Charakter einer wahren Rechtsnorm abzusprechen und es zum einen als unverbindliche Rechtsidee, zum anderen allenfalls als ethische Norm abzuqualifizieren unternimmt mit der Begründung, daß wahres und de facto geltendes Recht sich erst per positiven staatlichen Gesetzesbeschluß realisiere, steht allerdings mit der Erfahrung des täglichen Lebens in Widerspruch. Nichtsdestoweniger sind einige der wichtigsten Disziplinen frühneuzeitlicher Wissenschaft damit befaßt, die damaligen religiösen bzw. konfessionellen Streitigkeiten durch Rückversicherung auf natürliche Vernünftigkeit, natürliches Recht – und auch natürliche Theologie! – zu unterlaufen. Im Ausklang der griechisch-römischen Antike erhält wissenschaftsgeschichtlich gesehen die Ethik erst wieder mit der Trennung von Recht (iustum), Sittlichkeit (honestum) und Sitte (decorum) bei Thomasius,10 insbesondere aber innerhalb Christian Wolffs praktischer Philosophie ein eigenständiges Ressort. Wie gesehen bersmeyer erinnert daran, daß die »›Verwissenschaftlichung‹ der Ethik […] eng mit der Rezeption der Nikomachischen Ethik […] sowie mit dem Aufstieg und der Etablierung des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs in fast allen Disziplinen im 13. Jahrhundert« zusammenhänge. – Siehe: Sabrina Ebbersmeyer: Homo agens. Studien zur Genese und Struktur frühhumanistischer Moralphilosophie. Berlin/New York 2010. 23. (Quellen und Studien zur Philosophie. Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante. Band 95) 9 Siehe z. B.: Otto Veit: Der geistesgeschichtliche Standort des Naturrechts. – In: Werner Maihofer (Hg.): Naturrecht oder Rechtspositivismus? Wege der Forschung. Bd. XVI. Darmstadt 1966. 33 – 51; hier: 40. 10 Siehe z. B.: Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Zweiter, unveränderter Nachdruck der 4. Auflage Göttingen 1990. 164 – 167.
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wird allerdings die »praktische Philosophie« nicht erst bei Kant,11 sondern bereits in der griechischen Philosophie12 systematisch verortet. Dabei weist sie seit jeher eine problematische Signatur auf, umgreift sie doch so verschiedene Begriffe wie Naturrecht (das Juristen und Theologen der frühen Neuzeit als rechtlich-moralisches Naturgesetz verstehen13), Gesetz, Recht, Tugend, Vernunftrecht oder Moral. Im alten Griechenland wird das Problem der Ethik aufgeworfen durch die Fragestellungen der Sophisten: Wie seien die Sitten (?qoi) in der Polis zu rechtfertigen? Sind sie naturgegeben oder von Göttern oder sogar Menschen eingesetzt? In der frühen Neuzeit werden Denker wie Baruch de Spinoza und Pierre Bayle die ethische Problematik insbesondere im Lichte ihrer religiösen Aspekte betrachten und nach Möglichkeiten einer autonomen Ethik, die nicht weiter als ancilla theologiae ein Schattendasein friste, suchen. Aber auch schon die Sophisten eint die Überzeugung, daß das Recht und die Moralgesetze nicht von den Göttern stammen, sondern Resultate bilden von Übereinkünften zwischen Menschen, sozusagen eine Form ethischer Verabredungen. Im Gegensatz zur Schule Platons halten sie die Begriffe ›gut‹ und ›böse‹ für relative: Wer das Gute kenne, so argumentiert schon Sokrates, strebe auch danach, es zu verwirklichen, und die im Delphischen Orakel geforderte innere Selbsterkenntnis (Gn4qi seaut)n)14 gilt als einzige Quelle wahrhaft verbindlichen Wissens. Wissen wiederum sei der Ursprung wahrer Tugend, aber auch Platon versteht Wissen (Theorie15) und Handeln (Praxis) noch als untrennbare Einheit. Auch im Deutschland, England und Frankreich des 18. JahrKant identifiziert »reine praktische Gesetze« als Produkte der reinen Vernunft mit moralischen Gesetzen: »mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft, und erlauben einen Kanon.« – Siehe: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. – In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Band III. Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787. Berlin 1968. B 828. (Sigle: AA + Bandzahl) – Kant nennt die wahre Sittlichkeit des Handelns im Gegensatz zur bloßen Gesetzlichkeit (Legalität) Moralität; insofern bedeutet seine praktische Philosophie für die Geschichte des Gesetzesbegriffs einen Endpunkt. – Siehe zum »Problemgebiet des Ethischen«: Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre. Berlin 1918. 12 Nach Diogenes Laertius unterscheidet Plato die Wissenschaften in praktische, poietische und theoretische. – Siehe: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. I. und II. Band. Übersetzt aus dem Griechischen von Otto Apelt. Berlin 1955. III, 84. – Aristoteles folgt darin Plato. – Siehe: Aristoteles: Metaphysik. In der Übersetzung von Friedrich Bassenge. Berlin 1990. Buch E. 1. 1025b 25. 13 Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. – In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Nr. 1. Stuttgart 2004. 7 – 11. – Der »Erste Teil« vorliegender Untersuchung verdankt den Resultaten dieser Abhandlung nicht wenig. 14 Zum historisch-systematischen Prius des Selbsterkenntnis- vor dem Selbstbewußtseinskonzept siehe: Joachim Ritter †/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des »Wörterbuchs der philosophischen Begriffe« von Rudolf Eisler. Basel 1995. 406 – 413. (Sigle: HWPh) 15 Es sei hier in Erinnerung gerufen, daß qeurQa oder qeureSn an seinen griechischen Wurzeln bedeutet, »einem Schauspiel beizuwohnen«. 11
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hunderts gelten die Begriffe Moralphilosophie und Ethik eingedenk des Wissens, daß Moral(-philosophie) – ihrerseits weitgehend identisch mit Moraltheologie – aus der lateinischen Ersetzung des griechischen ?qov entstanden ist, noch als Synonyme. Die deutsche Übersetzung heißt Sitten- oder Tugendlehre (z. B. bei Thomasius und Kant) und spiegelt nicht zuletzt das Interesse, das in seiner langen Geschichte durchlässig gewordene Geflecht der Naturrechtslehren noch einmal zu verdichten. Demgemäß vermag Richard Bruch den ›Modernismus‹ der damals in Deutschland aufkommenden systematischen Ausgestaltung der Naturrechtswissenschaft zu erörtern und die Folgen für die Moralphilosophie auszuloten: Das die Ethik bisher fundierende Aristotelische Tugendschema wird dem Zweifel ausgesetzt mit der Konsequenz, daß der Pflichtgedanke zunehmend in den Vordergrund der Debatten rückt. Bruch zeigt, daß sich katholische Gelehrte dieser neuen Tendenz eher zögernd anschließen; für die vorliegende Untersuchung relevante nicht-katholische Naturrechtslehrer werden allerdings nur am Rande erwähnt.16 Uneingeschränkt beizupflichten ist Bruch jedenfalls in seiner Entscheidung, unter dem späteren Einfluß Kants Stehende unbehandelt gelassen zu lassen. Ex post ließe sich dieses Vorgehen auch insofern begründen, als eine nähere Darstellung der Motive für die Wiederaufnahme des Naturrechts zum Ende des 18. Jahrhunderts spezielle Erörterungen erforderte mit Blick auf Fichte, Schelling und Hegel. 1.2 Aspekte der Etablierung historischer Erforschung der Moral Ebenso jeweils separate Untersuchungen erforderte es, das (früh-)neuzeitliche Verhältnis der Moral zur Religion näher zu bestimmen – eine Geschichte der Moral des 18. Jahrhunderts zu schreiben beispielsweise in Orientierung an den Gegensatzpaaren »psychologische Ethik gegen naturrechtliche Ethik, Motivationslehre gegen Gesetzes-Ethik, Gewissens-Ethik gegen Güter-Ethik, christlich orientierte Ethik gegen autonome Ethik«.17 Bald wird sich aber zeigen, daß sich eine einheitliche Verwendung der bisherigen Kernbegriffe verbietet auf Grund der inneren Verwobenheit der mit ihnen verbundenen Problemstellungen, die sich ihre wissenschaftliche Geltung kraft inhärenter philosophisch-theologischer Dynamik gegenseitig permanent bestreiten und sich dementsprechend in ihrer jeweiligen Geltungskraft wechselweise ablösen. In seiner nach wie vor einflußreichen, weil bis heute weithin berücksichtigten zweibändigen Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft18 zieht Friedrich 16 Siehe: Richard Bruch: Ethik und Naturrecht im deutschen Katholizismus des 18. Jahrhunderts. Von der Tugendethik zur Pflichtethik. Tübingen 1997. 24 – 47 (Grotius, Hobbes, Pufendorf, Thomasius, Wolff und Heineccius). 17 Siehe den Artikel »Ethik/Moralphilosophie« in: Werner Schneiders: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995. 112 – 114. 18 Siehe: Friedrich Jodl: Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie. 2 Bde. 1882 – 1889; 2. Aufl. unter dem Titel Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft. 2. Bde. 1906 – 1912.
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Jodl freilich weitere Kreise, wenn er auf gut 1.400 Seiten die Geschichte der gesamten abendländischen Ethik bis in ihre aus seiner Sicht letzten Gestalten (»Entwicklung der Ethik vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart«) vor dem Leser ausbreitet.19 Ein Leitgedanke vergleichbarer Stringenz, wie er die Moralphilosophie seit Ende des 17. Jahrhunderts bestimmt, steht verschiedenen heutigen Perspektiven (der metaethische Moraltheoretiker Richard Mervyn Hare [1919 – 2002]: konsequentialistisch;20 Alan Gewirth [1912 – 2004]: deontologisch/ Kantianisch;21 John Rawls [1921 – 2002]: kontraktualistisch) nicht mehr in vergleichbarer Deutlichkeit vor Augen – nichtsdestoweniger inhäriert er einer jeden noch. Insgesamt liegt diesen Theorien ein formeller Rationalitätsbegriff zugrunde, welcher im wesentlichen zwei Fragen aufwirft: 1. Warum überhaupt soll das Individuum seine Rationalität im Handeln beweisen? 2. Unterstützt die Vernunft die Moral? Angesichts der Tatsache, daß die antike Philosophie der Ethik (?qov / yqov) – d. h. nach damaligem Verständnis der Wissenschaft als solcher – einen Primat einräumt, kann heute die historisch-systematisch verfaßte Frage nach der Möglichkeit einer Ethik als Wissenschaft (z. B. Otfried Höffe22 resp. Vittorio Hösle23) nur dann zu Bewußtsein kommen, wenn der Diskurs über ein im Vergleich zu damals modifiziertes Format gegenwärtiger Wissenschaft(en) überhaupt für legitim
Bd. 1 41930; Bd. 2 31923. – Zitiert wird aus dem Nachdruck der 4. Auflage des 1. Bandes (Bis zum Schlusse des Zeitalters der Aufklärung) sowie der 3. des 2. (Von Kant bis zur Gegenwart). Essen o. J. 19 Der 1. Band behandelt im 2. Buch die sog. »christliche Ethik« (109 – 178) und im 3. die »neuere Philosophie« (181 – 687). Auffällig für die separaten Darstellungen des 3. Buchs sind die jeweils eigenen Unterkapitel zum Verhältnis der Sittlichkeit (resp. der Ethik, des Utilitarismus oder des Staates) zur Religion (resp. zur Offenbarung), die den Abschnitten zu Francis Bacon (191 ff.), Hobbes und seinen Gegnern im 17. Jahrhundert (215 – 218), Samuel Clarke (265 – 270), Shaftesbury (282 – 287), Jos. Butler (der allerdings im theologischen Moralismus verbleibe, 295 f.), David Hartley (der noch konsequenter als Butler verfahre, 302 ff.), Warburton (305 ff.), Paley (309 – 313), Richard Price (320 – 323), Hutcheson (328 ff.), Hume (345 – 348), Adam Smith (369 – 371), Malebranche (der die Ethik allerdings mit der Theologie verknüpft sehe, 383 f.), Arnold Geulincx (der Descartes’ Philosophie nach der Seite des Theismus fortführe, 385 – 390), dem gesamten Abschnitt »Die Zeitgenossen Malebranches und die philosophisch-theologischen Kontroversen« (390 – 400) sowie Bayle (402 ff.) beigegeben sind. Der hohe Stellenwert, den Jodl dem Verhältnis Ethik – Religion beimißt, mag als Beleg für die philosophische Plausibilität unserer Grundthese dienen. 20 Siehe: Richard M. Hare: Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz. Übersetzt von Christoph Fehige und Georg Meggle. Frankfurt a. M. 1992. 142 – 235. 21 Siehe: Alan Gewirth: Reason and Morality. Chicago & London 1978. 1 – 47 (insbes. »The Dialectically Necessary Method« [42 – 47]); ders.: The Community of Rights. Chicago & London 1996. 22 Siehe: Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles. 3. Aufl. Berlin 2008. 100 – 181; ders.: Lebenskunst und Moral. Oder: Macht Tugend glücklich? München 2007. 222 – 227; 340 – 355. 23 Siehe: Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997.
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erachtet wird. Vorliegende Untersuchungen verstehen sich als Beitrag zur Stützung dieser Ansicht. Eines ist es also, für die Ethik einen autonomen Bezirk innerhalb des Systems der Wissenschaft einzufordern; ein anderes ist es aber, die Entwicklung »selbständiger ethischer Forschung«24 nicht nur zu verfolgen, sondern auch zu befördern, zumal ein solches Unternehmen sensibel zu sein hat für die Aufsplitterung des ethischen Problems in philosophisch, politisch und nicht zuletzt theologisch besetzte Konzepte wie ›Recht‹ (›Moral‹) bzw. ›Staat‹ und ›Gesetz‹, welche die Signatur der Neuzeit wesentlich konstituieren. Im Sog der sich bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts ankündigenden philosophischen Moderne (Kant und seine jüngeren Zeitgenossen Fichte, Schelling und Hegel), deren theoretische Energie sich in der Folgezeit besonders auf das »Prinzip der Subjektivität«25 konzentrieren wird, vermindert sich zunächst die Konzentration auf klassisch-naturrechtliche Grundlegungsstrategien zugunsten der Frage nach dem systematischen Ort der Moral. Noch 1764 schreibt die Berliner Akademie der Wissenschaften die Preisfrage aus, ob es möglich sei, in der Moral und in der Theologie die gleiche Gewißheit zu erzielen wie in der Mathematik und auf welche Weise sie ggf. zu erreichen sei. Dies verdeutlicht, daß im Wissen der Moral eine verläßliche Gestalt der Wahrheit zu erkennen gemeint wird. Und selbst Kant ist in seiner Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764), welche hinter Moses Mendelssohns Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften (1764) den zweiten Preis erhält, noch unentschieden, ob die ersten Gründe der Moral im Gefühl oder im Erkenntnisvermögen auffindbar seien: Gottes Attribute der »Gerechtigkeit« und »Güte« können nämlich »in dieser Wissenschaft [d. h. der metaphysischen Erkenntnis Gottes, H. G.] nur eine Gewißheit durch Annäherung haben, oder eine, die moralisch ist.«26 Der Gang unserer Studien wird jedoch verdeutlichen, daß es zunächst unmöglich ist – und zwar aus guten Gründen –, gerade mit Blick auf das Europa des 18. Jahrhunderts theoretisch jeweils scharfe Diversifikationen sinnvoll vorzunehmen. Vielmehr zeigen sich seit Beginn der frühen Neuzeit nicht nur Überschneidungen innerhalb der eben genannten Kernbegriffe der praktischen Philosophie, sondern v. a. auch chronologische Diskontinuitäten mit Blick auf die Ablösungsbewegung der praktischen Philosophie von theonomen Grundlegungsversicherungen.
Siehe: Friedrich Jodl: Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie. Band 1. 200. Siehe z. B. noch: Dieter Henrich: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik. Stuttgart 1999. 26 Siehe: Immanuel Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat. – In: AA 2. 273 – 301; hier 297. 24
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1.3 Die Thesen und die wissenschaftlichen Ziele des Projekts der Genese autonomer Moral Demnach konsultiert vorliegendes Projekt auf Basis einer gemäß eigenem Anspruch selbstexplikativen, d. h. im »Gang der Sache selbst« (Hegel) sich rechtfertigenden Auswahl (staats-)philosophische, theologische und juridische Texte zwecks einer Rekonstruktion, wie sich im Zentraleuropa der frühen Neuzeit die theoretische Etablierung derjenigen Diskursmasse, die gemeinhin unter dem Obertitel neuzeitliche Ethik fungiert, vorbereitet. Hierbei läßt sich die Ausdifferenzierung von theologischem und säkularem Naturrecht beobachten, und in deren Folge – quasi als deren Effekt – schlägt die theonome in eine autonome Moral um. Demgemäß hat unser Projekt den die Problemhorizonte antiker Philosophie einschließenden Begriff Ethik akkurat zu scheiden einerseits in seine – durch das Christentum vermittelte – staats- bzw. rechtsphilosophische und andererseits in seine rein moraltheologische bzw. -philosophische Komponente, wobei es die zentrale Frage nach der Ausbildung einer autonomen, d. h. auch dem Anspruch nach rein philosophisch begründeten Moral verbunden sieht mit (geschichtlich vorausgehenden) Theorien zur säkularen Begründung des Rechts (Bodin, Hobbes). Sonach suchen vorliegende Untersuchungen im wesentlichen die folgenden Thesen philosophisch zu entwickeln und historisch zu verifizieren: A. Die Bedingung für die theoretische Ausformung einer autonomen, rein vernünftigen Moral ist in einer säkularen Begründung des Rechts zu sehen; B. diese Grundlegung ermöglicht die Etablierung logischer Vorformen der Theorie autonomer Moral, jedoch zunächst in Gestalt unterschiedlicher Konzeptionen von Theonomie, d. h. des alten Naturrechts; C. die philosophisch-politische Befehdung solcher Theonomiekonzeptionen vollzieht sich in Form komplexer Naturrechtsdebatten, die seit dem 13. Jahrhundert nachhaltig wiederkehren; D. diese Naturrechtsdebatten befördern die Ausdifferenzierung von theologischer und säkularer Naturrechtstheorie; E. erst aus einer säkularen Naturrechtstheorie kann sich eine auf das Autonomieprinzip – d. h. auf das Prinzip menschlicher Freiheit gegenüber Gott27 – gegründete Konzeption von Moral entwickeln;28 Siehe: Odo Marquard: Idealismus und Theodizee. Vortrag, gehalten auf dem II. Internationalen Kant-Kongreß 1965, 25. und 30. Juli in Bonn und Düsseldorf. – In: Philosophisches Jahrbuch. Freiburg i. Brsg. 73 (1965/66), 33 – 47. 28 Und erst nachdem dieser Boden bereitet worden ist, vermag ein Hegel in seiner Rechtsphilosophie das Recht in die Moralität überzuleiten und diese sodann in Sittlichkeit aufzuheben – und diesen Vermittlungsvorgang keineswegs als Beisetzung des kritischen Subjekts gedeutet wissen wollen. – Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Herausgegeben von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann. Band 14,1. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Grundlinien der Philosophie des Rechts. – In: Ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der 27
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F. die vorläufige Endgestalt autonomer Moral stellt ein teleologisch veranlagtes Moralkonzept dar, das von einer Theorie freier, d. h. sich selbst Zwecke setzen könnender Subjektivität getragen wird.29 Die Abfolge dieser Thesen fungiert nicht als grobe Gliederung vorliegender Untersuchung, beschreibt aber sehr wohl ihren inhärenten Entwicklungsgang. Wenn aber selbst die »natürliche Einstellung« (Edmund Husserl) geistes- oder problemgeschichtlich überlieferten Begriffen verpflichtet ist, beschreibt die Problemgeschichte der Genese autonomer Moral mehr als ein bloß philosophiehistorisches Projekt, weil sie die Etappen ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte wirklich zu verstehen beansprucht, d. h. die Entstehungsgründe ihrer andernfalls isoliert vorgestellten Gestalten gemäß ihrer jeweiligen inneren Logik zu begreifen sucht. Insofern unterläuft sie die gewöhnliche Strategie der einseitigen Beantwortung einerseits systematischer, andererseits historischer Problemfragen. Systematisch gesehen leistet sie einen Beitrag zu dem schwierigen Problem einer möglichen Begründung der Verbindlichkeit von sowohl rechtlicher als auch moralischer Norm; historisch gesehen erblickt sie einen bis heute wirksamen geistigen Umbruch in der frühneuzeitlichen Philosophie und Politik des späten 17., besonders aber des 18. Jahrhunderts. Es bleibt von entscheidender Bedeutung, das mit Blick in das überkommene Schrifttum greifbare philosophische Erbe nicht in Form immer neuer Paraphrasen lediglich zu verwalten, sondern das problematische Beziehungsgeflecht, welches in die Geschichte reicht, in seiner Entstehung – und v. a.: in seinem Fortbestand, ja seiner Unabgegoltenheit zu verstehen. Nur so sind Bemerkungen folgender Art, die sich sogar bei einem Problemgeschichtler von Rang wie Richard Hönigswald (1875 – 1947) finden, zu vermeiden: »In der Tat tritt uns bei Hobbes nicht ein in leichtfaßlichen Formeln darstellbares System entgegen. Die Motive kreuzen und verschlingen sich vielfach. Die geschichtlichen Beziehungen verbergen sich hinter einer nur schwer zu entwirrbaren Komplexion systematischer Zusammenhänge. Die Entscheidungen setzen Gesichtspunkte voraus, die die kritische Analyse nur schrittweise zu enthüllen und in ihrer sachlichen Bedeutung zu überschauen vermag. Aber nur um so reizvoller gestaltet sich hier die Aufgabe der philosophiegeschichtlichen Darstellung.«30 Wenn eine »Komplexion systematischer Zusammen-
Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Band 14 in zwei Teilbänden. Hamburg 2009. §§ 104; 141. (Sigle: GW) – Siehe hierzu auch: II. Teil, Kapitel 3.7. 29 Einerseits impliziert eine teleologische Moral natürliche Regulierung von außen und trägt so sicherlich einen Widerstreit zum Autonomieprinzip aus; gleichwohl liegt ihr Vorteil – besonders in D’Holbachs materialistisch-physiologischer Variante (siehe den vierten Abschnitt des III. Teils dieser Untersuchung) – in einem strikt areligiösen Zug. – Fragen der Moral weitgehend unberücksichtigt läßt: Stephan Schmid: Finalursachen in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung der Transformation teleologischer Erklärungen. Berlin/New York 2011. (Quellen und Studien zur Philosophie. Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante. Band 99) 30 Siehe: Richard Hönigswald: Hobbes und die Staatsphilosophie. München 1924. 10. (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Abt. V. Die Philosophie der neueren Zeit II. Band 21)
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hänge« bereits zugestanden wird: Warum wird dann der offensichtlich zugängliche Problemgehalt schließlich doch wieder »philosophiegeschichtlich« eingeebnet – und nicht besser als eine Etappe auf dem Weg zur Lösung eines Problemverbundes, der sich – die Frage ist: warum? – durchhält, begriffen? Neben der Vielzahl an Einzelaspekten, die bereits genannt worden sind, verfolgt unser Projekt folgende wissenschaftliche Ziele: A. Gezeigt werden soll, daß die vorgestellte Genese ein Herkunftswissen31 zum besseren Verständnis eines bedeutenden Aspekts gegenwärtigen Philosophierens an die Hand zu geben vermag; B. begründet werden soll, daß das Autonomie-Konzept der Moral für die Philosophie verbindlich ist, d. h. die Geltung seines theoretischen Anspruchs schwerlich bestritten werden kann. Die wichtigste Einschränkung lautet indes: Die Durchführung eines solchermaßen angekündigten Projekts kann und darf nicht den Anspruch erheben, das der Moral in ihrer Geschichte verlustig gegangene Einheitsprinzip zurückzugeben – geschweige denn es ihr unter der Voraussetzung der Bestreitung dieser historischen Symptombeschreibung hier erstmals zu verabreichen. Somit kann auch das damit verbundene Problem, ob eine ganzheitliche, d. h. theoretisch-praktische Konzeption von Philosophie zurückzugewinnen möglich sei, in vorliegender Untersuchung nicht verhandelt werden. 1.4 Ein Beispiel zur Symptombeschreibung des heute verworrenen Moralbegriffs Wenn das Moral-Problem in den letzten Jahren in erstaunlich vielfältigen Kontexten diskutiert wird, indiziert dies nicht zuletzt, daß die Grundlage jener Diskussionen ein verworrener Moral-Begriff bildet.32 Aristoteles sagt, Wissen stelle sich dann ein, wenn die Ursachen eines Gegenstandes erkannt seien. – Siehe: Aristoteles: Analytica posteriora. Übersetzung und Erläuterung von Wolfgang Detel. – In: ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach. Herausgegeben von Hellmut Flashar. Band 3. Teil II. Darmstadt 1993. I, 2. – Diese Charakterisierung oder Bedingung wissenschaftlichen Erkennens hält sich durch bis Christian Wolff, der den Nutzen der Wissenschaft wie folgt beschreibt: »Durch die Wissenschaft verstehe ich eine Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun. Welche Gründe unwidersprechlich sind, und wie man etwas auf eine unumstößliche Weise darthut, wird in gegenwärtigen Gedancken von dem Gebrauche der Kräfte des Verstandes in Erkenntniß der Wahrheit dargethan werden.« – Siehe: Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. Herausgegeben und bearbeitet von Hans Werner Arndt. – In: ders.: Gesammelte Werke. Herausgegeben und bearbeitet von J. Ecole, J. E. Hofmann, M. Thomann, H. W. Arndt. I. Abteilung. Deutsche Schriften. Band 1. Vernünftige Gedanken (1) (Deutsche Logik). Hildesheim 1965. § 2. 32 Siehe auch: Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Darmstadt 1988. Kap. 2 (19 – 40); Kap. 4 (57 – 74); Kap. 5 (75 – 88) und Kap. 6 (89 – 109). – MacIntyres Konstruktivität besteht bekanntermaßen in der Empfehlung einer Restitution des aristotelischen Tugendkonzepts. 31
1. Kapitel · Zur Geschichte der Ethik in Rücksicht auf das Naturrecht
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1.4.1 Die Neurophysiologie Das Forscherehepaar Hanna und Antonio R. Damasio vom Medical Center, Iowa, der weltweit größten Universitätsklinik, berichtet, daß Hirnschäden Verantwortungsbewußtsein und die Fähigkeit zur »Nächstenliebe« zu erschüttern vermögen: Für abnorme Entwicklungen sozialen und moralischen Verhaltens sei allein eine Läsion im präfrontalen Kortex, eine Verletzung im vorderen Stirnhirn, ursächlich. Ihre Untersuchungen beziehen sich auf ein Mädchen, das im Alter von 15 Monaten durch einen Autounfall eine Verletzung erleidet: »Mit den Neuronen im Stirnhirn gingen ihr nicht nur Gefühle wie Nächstenliebe, Empathie oder Verantwortungsbewusstein verloren, sondern auch die Fähigkeit, die Regeln des sozialen Zusammenlebens überhaupt erst wahrzunehmen. Es scheint geradeso, als ob ein anatomischer Defekt zu einer Art moralischen Blindheit führt, ähnlich wie ein Augenfehler die Wahrnehmung trübt. […] Unser moralisches Empfinden, diese hochgeschätzte Errungenschaft humaner Kultur, hängt offenbar direkt vom Funktionieren spezieller Nervenzellen ab.«33 Institutsdirektor A. R. Damasio, nicht zuletzt durch seine bahnbrechenden Studien zur Sprachgenese und mittlerweile auch hierzulande durch das in deutscher Fassung zugängliche Werk Descartes’ Irrtum34 (1997) bekannt geworden, gebietet in Iowa gemeinsam mit seiner Frau über das größte Gehirnarchiv der Welt: In ihren Computern sind digitalisierte Schädelbilder von über 2.000 Patienten gespeichert, pro Jahr konsultieren 14.000 Kranke aus der ganzen Welt ihre neurologische Klinik. Immer wieder werden die Damasios mit vergleichbaren Krankenschicksalen konfrontiert: Patienten, denen zwar nicht das Denkvermögen, wohl aber die Fähigkeit, rational zu entscheiden, abgeht. Daraus resultiert wiederum das Unvermögen, soziale Beziehungen aufzubauen, denn aufgrund anatomischer Defekte (seien es Tumore, Unfälle oder angeborene Schäden) verschwinden spezielle Gefühle: Werden diese Patienten z. B. Bildern stark emotionalen Gehalts ausgesetzt, auf die ›normale‹ Menschen mit Entsetzen oder Abscheu reagieren, bleiben sie völlig ungerührt, obgleich sie sich des schockierenden Inhalts wohl bewußt sind. Diese Patienten »wissen, ohne zu fühlen«,35 beschreibt A. R. Damasio dieses Verhalten, und er schließt: Wer seine Handlungsstrategien allein auf Rationalität (auf das »Vernunftvermögen«, wie es in Zeit der Aufklärung heißt) gründet und nicht auch auf emotionale Rückmeldungen seines Körpers, ist praktisch nicht in der Lage, vernünftig zu entscheiden.
Siehe: Ulrich Schnabel: Die Neuronen der Moral. – In: Die Zeit. Nr. 43, 21. Oktober 1999. Siehe: Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Frankfurt a. M. 1997. 35 Siehe: Ibid. 33 34
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I. Teil · Das Erfordernis und das Spezifikum moralwissenschaftlicher Forschung
1.4.2 Eine naturrechtliche Lesart der Ergebnisse moderner Hirnforschung Quasi in Ergänzung der umfangreichen Untersuchungen Johannes Messners, der betont, daß die Naturrechtsphilosophie »in ihren besten Vertretern immer an einem christlichen ›Naturalismus‹ oder, was das gleiche ist, an einem christlichen ›Humanismus‹ festgehalten«36 habe, können dagegen die Ergebnisse nachfolgender Studien ohne größere Schwierigkeiten in eine weiter gefaßte Geschichte der Moral resp. des Rechts eingebettet werden, und zwar im Speziellen in die dann doch komplexere Entwicklungsgeschichte des neueren, mithin nicht mehr christlichen, sondern rein vernünftigen, gänzlich weltlich ausgerichteten Naturrechts, das – seiner ganzheitlichen Tendenz nach – in Gestalt der Werke Samuel Pufendorfs (des umfassenden naturrechtlichen Systematikers), Christian Thomasius’ und Christian Wolffs auf uns gekommen ist – wenn auch nicht übersehen werden darf, daß sowohl Pufendorf als auch Thomasius keineswegs eine rein weltliche Rechtsethik propagieren, sondern immer noch naturrechtliche Pflichten gegen Gott, z. B. den Glauben an seine Existenz sowie sein Schöpfertum oder die Pflicht zum Gehorsam (und damit der Verehrung, so Hobbes37) ihm gegenüber kennen.38 Einschlägig ist hier insbesondere der Zweifel an der Lehre des rechtlich-moralischen Naturgesetzes, nach welcher jedem Menschen das Naturgesetz von der Geburt an »ins Herz geschrieben«39 – und somit »Offenbarungswahrheit«40 – sei. »Pufendorf und Thomasius erklären es für lächerlich und jeder Erfahrung widersprechend, daß schon kleine Kinder die Naturgesetze in sich haben sollen«,41 und auch Christian Wolff
Siehe: Johannes Messner: Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. Zweite, unveränderte Auflage. Innsbruck/Wien 1950. 57. 37 Siehe: Thomas Hobbes: Leviathan. Aus dem Englischen übertragen von Jutta Schlösser. Mit einer Einführung herausgegeben von Hermann Klenner. Hamburg 1996. 73. (Sigle: L) 38 »De officio hominis erga deum, seu de religione naturali.« – Siehe: Samuel Pufendorf: De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo (1673). – In: ders.: Gesammelte Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerald Hartung. Berlin 1997. Lib. 1, cap. 3. – Siehe ebenso: Christian Thomasius: Institutionum jurisprudentiae divinae libri tres (1688). 7. Aufl., Halle 1730. Lib. 2, cap. 1, pp. 87 ff. – Ibid.: Lib. 1, cap. 1, Nr. 28, 6 (menschliche und göttliche Gesetze). 39 Siehe: Röm 2,15; Spr 3,3. – »Auch in der Physik und der Naturwissenschaft überhaupt wird das Gesetz von einer im Herzen des Menschen von vornherein verankerten zu einer durch Vernunft und Erfahrung erst zu erforschenden Wahrheit.« – Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 21. – Gleichwohl ergeben sich hier leicht Möglichkeiten christlicher Funktionalisierung (z. B. Geschöpflichkeit, Personalität und imago Dei). Siehe hierzu den »Problemgeschichtliche[n] Überblick« von: Alexander Hollerbach: Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens. – In: Franz Böckle/Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hgg.): Naturrecht in der Kritik. Mainz 1973. 9 – 38; hier: 11 – 13. 40 Siehe: Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 65. (Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie. 11) 41 Siehe: Jan Schröder: »Gesetz« und »Naturgesetz« in der frühen Neuzeit. A.a.O. 19. – In FN 54 gibt Schröder entsprechende Stellennachweise bei Pufendorf, Christian Thomasius sowie Johann Heinrich Zedler. 36
1. Kapitel · Zur Geschichte der Ethik in Rücksicht auf das Naturrecht
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vertritt die Ansicht, das Naturgesetz42 müsse qua Vernunft (oder Beobachtung anderer) erworben werden.43 Die nötige physiologische Grundlage für diesen Erwerb (das wissen wir nicht erst seit den Zeiten Descartes’) ist das Gehirn – wenngleich (und das mag entscheidend sein) die Bedeutung dieses Wissens damals anders eingeschätzt worden ist. Jan Schröder faßt zusammen: »Das rechtlich-moralische Naturgesetz wird also von einer Art Anlage oder Ausstattung, die dem Menschen unabänderlich mitgegeben ist, zu einem erst durch Vernunft und Erfahrung zu erwerbenden Wissen. Es gibt jetzt eine Naturrechtswissenschaft, die freie Forschung betreibt und nach Maßgabe der vernünftigen Einsicht in die Dinge fortschreitet. Sie kann neue Naturgesetze entdecken, und welche Dimensionen diese Neuentdeckungen annehmen, sieht man, wenn man die schmalen Naturrechtswerke des 16. Jahrhunderts,44 die nur den Dekalog explizieren, mit dem achtbändigen Naturrecht Christian Wolffs vergleicht. Sie kann auch bisher anerkannte Naturgesetze im Lichte der besseren Vernunfterkenntnis verwerfen. So geschieht es etwa mit den Pflichten des Dekalogs gegenüber Gott, die im Laufe des 18. Jahrhunderts aus dem Naturrecht entfernt werden.«45 So bleibt bis heute das Erfordernis einer Studie übergreifender – d. h. weder einer philosophischen Schule noch gar der Verengung eines konfessionellen Bekenntnisses verpflichteter – Perspektive, welche mehr als lediglich die vertrackte Textur naturrechtlicher Deduktionen rekapitulierend die philosophische Notwendigkeit frühneuzeitlicher Herausbildung einer Moral autonomen Formats zu zeigen unternimmt, eingedenk des Umstands, daß Moralität als Sphäre der Innerlichkeit die Leerstelle, welche der Säkularisierungsprozeß des Rechts erzeugt, neu besetzt. Es wird sich zudem erweisen, daß auch der Zerfall des modernen Gesetzesbegriffs als eine Folge der Positivierung des Rechts und der Säkularisierung der Wissenschaften in der frühen Neuzeit gedeutet werden kann, ja sogar muß.46 Damit wäre auch ein neues Kapitel der Vorgeschichte der praktischen Transzendental-Philosophie Kants aufgeschlagen. Eine weiter angelegte Untersuchung, die sich dieser Pro»Der Terminus ›Naturgesetz‹ ist vermutlich eine Neubildung des 17. Jahrhunderts, und die Behauptung, er habe nach Platon und der jüdischen Schöpfungslehre sozusagen in der Luft gelegen, ist nicht sehr überzeugend. Zu seinen Elementen gehören die Notwendigkeit der Abläufe in der Natur, die Allgemeinheit ihrer Regeln und deren mathematische Darstellbarkeit. Erst anderthalb Jahrtausende nach Christus ist es im neuzeitlichen Europa gelungen, diese drei Elemente zusammenzudenken.« – Siehe: Rainer Specht: Gottesvorstellungen im Rationalismus und Empirismus. – In: Albert Franz/Wilhelm G. Jacobs (Hgg.): Religion und Gott im Denken der Neuzeit. Paderborn 2000. 24 – 38; hier 27. 43 Siehe: Christian Wolff: Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata. Pars prior et posterior. Francofurti/Lipsiae. 1738 – 39. P. I, § 261. 206 f. 44 Für Welzel setzt die Zurückdrängung des theologischen Naturrechts bereits im 16. Jahrhundert ein. Gleichwohl hat seine konzise Untersuchung ihre Stärken im Aufweis der logischen Vernetzungen der betrachteten Naturrechtsentwürfe in der Bandbreite von der Antike bis in die Gegenwart. – Siehe: Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. A.a.O. 110. 45 Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 20. 46 Siehe das 2. Kapitel dieses I. Teils. 42
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I. Teil · Das Erfordernis und das Spezifikum moralwissenschaftlicher Forschung
blemlagen angenommen hat, liegt mit Merio Scattolas Das Naturrecht vor dem Naturrecht vor.47 Der Autor thematisiert den Zusammenhang von Naturrechtsgeschichte und moderner Politologie – der leitenden Begründungsform frühneuzeitlicher Staatsgebilde –, indem er die aus seiner Sicht lediglich äußerlich divergierenden Gestalten des Naturrechts des 16. Jahrhunderts, d. h. das protestantische Naturrecht nach Philipp Melanchthon (1497 – 1560) im Unterschied zum katholischen Naturrecht der Schule von Salamanca, behandelt. Demnach sehe sich die Naturrechtslehre vor Probleme gestellt durch innerreligiöse, sprich konfessionelle Schwierigkeiten des Christentums selber. Im Vorfeld der Frage nach dem Status der Naturrechtslehren als offizielle Staatstheorien seien nicht die entsprechenden religiösen Gelöbnisse ihrer Potentaten maßgeblich, sondern zu betrachten seien vielmehr die unterschiedlichen Methodologien, unter denen das Naturrecht abgehandelt werde. Gleichwohl haben Philosophie, Theologie und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit Einigkeit erzielt, daß das Naturrecht 1. gottgegeben sei, 2. seit der Schöpfung göttliche Gebote im menschlichen Herzen versenkt und 3. Dekalog, Naturrecht und ethische Vorschriften identisch seien. Wenn aber Scattola darüber hinaus auch fragt, ob dies alles mit dem modernen Staat, mit seiner Herkunft aus dem Chaos und seiner Bestimmung zu Willensentscheidungen vereinbar sei, spricht er ein Problem an, für das schon der Religionsgeschichtler Spinoza – zugleich ein scharfer Kritiker der Vertragstheorie als solcher – eine Lösung vorschlägt: »Obgleich das Reich der Hebräer […] von ewigem Bestande hätte sein können, so ist doch eine Nachahmung desselben weder möglich noch ratsam. Denn wenn Menschen ihr Recht auf Gott übertragen wollten, so müßten sie, wie die Hebräer es getan, mit Gott einen ausdrücklichen Bund schließen; dazu gehörte aber nicht nur die Einwilligung derer, die ihr Recht übertragen, sondern auch die Einwilligung Gottes, auf den es übertragen werden soll. Gott hat aber durch die Apostel offenbart, daß der Bund Gottes nicht mehr mit Tinte und auf Tafeln von Stein, sondern durch Gottes Geist in die Herzen geschrieben werden solle.«48 Hier werden christentumsgemäße ›herzliche Eintragungen‹ gegen den Kontraktualismus ins Feld geführt – ein insbesondere vor dem talmudistischen Bildungshintergrund Spinozas bedenkenswertes Phänomen, auf das noch zurückzukommen sein wird. Von Schwierigkeiten moralischer Art, das Gute sei qua Naturrecht ins Herz geschrieben, legt allerdings bereits die Heilige Schrift selbst Zeugnis ab: »Und beim Abendessen, als schon der Teufel dem Judas, Simons Sohn, dem Iskariot, ins Herz gegeben hatte, ihn zu verraten, Jesus aber wußte, daß ihm der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und daß er von Gott gekommen war und zu Gott ging, da 47 Siehe: Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert. Stuttgart 1999. 48 Siehe: Baruch de Spinoza: Tractatus theologico-politicus. Theologisch-politischer Traktat. Herausgegeben von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner. – In: ders.: Opera. Lateinisch und deutsch. Erster Band. Darmstadt 1979. XVIII, 207. (Sigle: TTP; zitiert wird im folgenden nach der römischen Kapitelzählung und der Paginierung des lateinischen Textes.) – Das Herz gelte den Hebräern als Sitz der Seele und des Verstandes. – Siehe: Ibid. III, 36.
1. Kapitel · Zur Geschichte der Ethik in Rücksicht auf das Naturrecht
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stand er vom Mahl auf, legte sein Obergewand ab und nahm einen Schurz und umgürtete sich.«49 Hiernach sollte das Herz besser zu keiner Zeit als ein geeigneter Ort für die Wahrung moralischer Dekrete bestimmt worden sein.50 Und mit Blick auf die Geschichte der Poesie nimmt dasselbe denn auch eine bewegte Karriere, z. B. in der Deutschen Klassik i.S. einer höher temperierten Voraussetzung für charakterfestes und mutiges Handeln (heißes Herz).51 Demnach könnte, biblisch gesprochen, neben der Nachgiebigkeit des Fleisches (sündiges Stichwort: Versuchung) auch die Labilität des Herzens als das Einfallstor des Bösen52 enttarnt werden – und somit ein Schlupfloch sich auftun für richterliche Befugnisse, vom Glauben Abgefallene, ja »Besessene« inquisitorisch zu verfolgen und aus theologischen Motiven abzustrafen. Dabei versteht beispielsweise Jean Bodin unter Besessenheit eine fundamentale, d. h. seelisch-geistig-körperliche Beeinflussung, die einzig verursacht werde durch den Teufel, d. h. einen bösen Geist (noch Jean-Jacques Rousseau wird moralische Vorurteile im Herzen verorten). Ein derartiger satanischer Zugriff auf den Bereich des im weitesten Sinne Mentalen (»geheime freundschafft«) führe in der Folge zu körperlicher Gefügigmachung (»fleischliche vermischung«53), die allerdings auf medizinischem Wege nicht therapierbar sei. Doch wir greifen vor. 1.5 Die Komplementarität von Leben und Begriff in der Rekonstruktion der Genese autonomer Moral Hier zeigt sich bereits, daß unsere Themenstellung in rein philosophischer Perspektive nicht recht sichtbar wird, sondern ebenso geschichtswissenschaftliche, kultur-, kunst- und nicht zuletzt religionsgeschichtliche – mit einem Wort: transdisziplinäre Zugriffe vonnöten sind. Dem wird im folgenden, wo immer es nötig scheint, Rechnung getragen.54 Unmöglich kann dies aber lückenlos oder gar flächendeckend geschehen; Vollständigkeit wäre allein dort, wo sie wirklich werden Siehe: Joh 13,2 – 4. Siehe auch Lk 8,12: »Die aber auf dem Weg, das sind die, die es hören; danach kommt der Teufel und nimmt das Wort aus ihrem Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden.« 51 Das vielleicht schönste Zeugnis hierfür legen Goethes Lieder ab. – Siehe: Johann Wolfgang Goethe: Lieder. – In: ders.: Sämtliche Werke. Band 1. Sämtliche Gedichte. Erster Teil: Die Gedichte der Ausgabe letzter Hand. Zürich 1950. 7 – 73. – Und auch den nachfolgenden Geselligen Liedern ist vorangestellt: »Was wir in Gesellschaft singen / Wird von Herz zu Herzen dringen.« 52 Siehe: Gen 8,21; siehe auch: Jean Bodin: De Daemonomania magorum. 785 f. (Langtitel: III. Teil, 1. Abschnitt, Kapitel 2.1.1) 53 Siehe: Jean Bodin: De Daemonomania magorum. 721. 54 Cassirer weiß um die problemgeschichtliche Notwendigkeit, sich auf »Strömungen und Kräfte der allgemeinen geistigen Kultur« einzulassen. – Siehe: Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vier Bände. Hier: Erster Band. This reprint of the 3rd edition 1922 (1st edition 1906; 2nd, revised edition 1911) is published by arrangement with the Yale University Press, New Haven, Conn. (U.S.A.). Darmstadt 1974. VIII. 49
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kann, anzustreben: im Bereich positiven Wissens. So sei schließlich auch folgende Ankündigung nicht unterlassen: Vorliegende Studien beinhalten historiographische Partien, in denen biographische Mitteilungen ggf. ausführlicher ausfallen können. Das für unser Thema unbedingte Erfordernis55 solcher Ausführungen erwächst aber aus dem rein philosophischen oder ideenlogischen Entwicklungsgang der vorliegenden Problemstellung selber, denn die Frage, wie die jeweils behandelten Autoren z. B. im religiösen Spektrum ihrer Zeit zu verorten seien, betrifft konkret das (politische) Verhältnis des Rechts (der Moral) zu religiösem Erleben bzw. seiner begrifflichen Durchdringung, d. h. der Theologie. Darüber hinaus vermitteln Einordnungen der genannten Art nicht selten Einsichten in die Gründe von Form und Thematik der im folgenden herangezogenen Schriften; zusätzlich werden die oftmals mannigfaltigen Schwierigkeiten bei der Realisierung von Publikationsabsichten verdeutlicht. Dies betrifft insbesondere Wissenschaftler, die sich – teilweise zeit Lebens – Denunziationen (oftmals unterschiedlichster Natur) ausgesetzt sehen, z. B. Spinoza, aber auch Hobbes, der sich infolge eines Bürgerkriegs zu Flucht und mehrmaliger Emigration nach Verfolgung gezwungen sieht. Sonach heißt, Nachrichten gerade aus den Lebensgeschichten dieser beiden mitzuteilen, gleichermaßen Beiträge zu deren beider »politischen Biographie« (Bernard Willms) zu leisten. Im Zuge der Vergegenwärtigung solcher Geschehnisse wird schnell deutlich, daß die hier einschlägige ältere Literatur, besonders Akten- und Quellensammlungen, bis heute unverzichtbar ist. Angestrebt ist demnach eine Komplementarität zwischen der Rekonstruktion der Geschichte thematisch zentraler Probleme einerseits und – wo erforderlich – entscheidenden Aspekten der regional und institutionell bestimmten Lebensgeschichte der betreffenden Philosophen – wie seit Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie Usus – andererseits.
Dies rechtfertigt gleichermaßen: Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Mit einem Schlußkapitel Die Philosophie im 20. Jahrhundert und einer Übersicht über den Stand der philosophiegeschichtlichen Forschung herausgegeben von Heinz Heimsoeth. Fünfzehnte, durchgesehene und ergänzte Auflage Tübingen 1957. »Einleitung«, § 2. 55
2. Kapitel · Methodologische Verortung
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2. Kapitel: Methodologische Verortung 2.1 Der Grundriß einer Typologie philosophischer Philosophiegeschichtsschreibung Eine wahrhaft philosophische Abstraktion ist unabweislich realhistorischen Wissensformationen verpflichtet. Somit tritt aber das Erfordernis einer zumindest groben Typologie möglicher Weisen von Philosophiegeschichtsschreibung nur noch deutlicher in den Vordergrund, nimmt doch die neuzeitliche Philosophie das wahrhaft Geschichtliche des Historischen erst nach ihrer Einsicht in die Notwendigkeit einer Befriedigung ihres methodologischen Bedürfnisses neben das Systematische in sich auf. Sicherlich ist die Philosophie seit jeher mit methodologischen Fragestellungen befaßt, doch die eigentliche Bewußtwerdung der mit Methodenfragen als solchen konfrontierten philosophischen Forschung ist als eine wesentliche Leistung des Denkens des 16. und 17. Jahrhunderts herauszustellen und anzuerkennen. Das sonach nicht ausschließlich, aber in der Folgezeit dann doch vorwiegend im 20. Jahrhundert entwickelte reichhaltige Theoriereservoir unterschiedlicher Möglichkeiten, philosophische Texte anzueignen und die damit verbundene Frage, wie überhaupt der Weg in die Philosophie methodisch beschritten werden könne, birgt für die Philosophie selber die Gefahr, sich in Methodologie bzw. Methodenkritik zu verlieren – und in deren Folge die Sachhaltigkeit ihrer ureigensten, geschichtlich verbürgten Problemstellungen zu verkennen.56 So erwächst aber zwangsläufig auch die Frage nach der Möglichkeit einer Immunisierung vor einem mehr oder minder unfreiwilligen Oszillieren zwischen reiner Vernunftgeschichte bzw. Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Kant),57 Geschichte des Selbstbewußtseins (der frühe Schelling),58 Geschichte des sich wissenden Geistes bzw.
Im 20. Jahrhundert hat vielleicht die (sich sogar auf die »Geschichte« erstreckende) »eidetische Reduktion« der genetischen Phänomenologie Edmund Husserls die ausgeprägteste Tendenz zu einem stark durch Methodenfragen bestimmten Ansatz – den indes der späte Husserl zunehmend zurückzunehmen sucht. 57 Siehe: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A.a.O. B 880 – 884. – ders.: Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. – In: AA 7. Abhandlungen nach 1781. 15 – 32; hier 22 – 32. – Kants Konzeption von »bürgerlicher Gesellschaft« und »Geschichte der Menschengattung« weist erstaunliche Parallelen auf zu den Geschichtsvorstellungen damaliger geheimbündnerischer Logen. – Siehe z. B.: Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer. – In: ders.: Werke. Achter Band. Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften. München 1979. 451 – 488; hier 459; 461 f. – Oder: Christoph Martin Wieland: Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens. – In: ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von der »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« im Zusammenarbeit mit dem »Wieland-Archiv«, Biberach/Riß, und Dr. Hans Radspieler, Neu-Ulm. Band X. Hamburg 1984. 155 – 203; hier 167; 171; 179 ff.; 183; 186 f.; 189 – 203. 58 Siehe: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transcendentalen Idealismus. – In: ders.: Sämmtliche Werke. Herausgegeben von Karl Friedrich August Schelling. Bd. 3. Stuttgart/Augsburg 1858. 331, 587 ff. 56
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Vernunft in der (Welt-)Geschichte (Hegel),59 Theorie der Geschichtswissenschaft (Johann Gustav Droysen),60 Geistesgeschichte (Wilhelm Dilthey),61 Entwicklungsgeschichte (Kuno Fischer),62 unendlicher Interpretation bzw. organischem Prozeß (Nietzsche),63 Destruktion bzw. Seinsgeschichte (Heidegger),64 Problemgeschichte (Wilhelm Windelband, Ernst Cassirer sowie Nicolai Hartmann),65 philosophischliterarischer Ideengeschichte (Hermann August Korff bzw. Hans Mayer),66 Denkformen- oder Denkmotivforschung (Hans Leisegang),67 Entstehungsgeschichte bzw. Konstellationsforschung (Dieter Henrich),68 Modellgeschichte (Wilhelm Schmidt-Bigge59 Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. – In: ders.: GW 9. 433 f. – Bzw.: ders.: Die Vernunft in der Geschichte. Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte. Auf Grund des aufbehaltenen handschriftlichen Materials neu herausgegeben von Georg Lasson. – In: ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Vollständige neue Ausgabe von Georg Lasson. I. Band: Einleitung. Leipzig 1944. (Unveränderter Abdruck 1944 der dritten, im Jahre 1930 erschienenen Auflage.) I. 4; 7. – Siehe zu diesem Komplex: Petra Kolmer: Philosophiegeschichte als philosophisches Problem. Kritische Überlegungen namentlich zu Kant und Hegel. Freiburg/München 1998. 60 Siehe: Johann Gustav Droysen: Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Herausgegeben von Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. § 1 (1857/58), 397. 61 Siehe: Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band. – In: ders.: Gesammelte Schriften. I. Band. 7., unveränderte Auflage Göttingen 1973. 11959. – Siehe zudem: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. – In: Ibid. VII. Band. 7., unveränderte Auflage Göttingen 1979. 11958. 62 Siehe: Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. Jubiläumsausgabe. Erster bis zehnter Band. Heidelberg 1897 – 1904. 63 Siehe: Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. (»la gaya scienza«) – In: ders.: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 3. 343 – 651; hier 5, 374. – Bzw.: ders.: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. – In: ders.: Werke in drei Bänden. Dritter Band. Herausgegeben von Karl Schlechta. München 21960. 415 – 925; hier 489. 64 Siehe: Martin Heidegger: Sein und Zeit. Erste Hälfte. Unveränderte 4. Auflage. Halle a. d. S. 1935. §§ 6 und 8. – ders.: Zeit und Sein. – In: ders.: Zur Sache des Denkens. Tübingen 31988. 1 – 25; hier 9. 65 Windelband prägt den Ausdruck »Problemgeschichte«; er bezeichnet sein Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, das erstmals 1892 erscheint, als »Geschichte der Probleme und der zu ihrer Lösung erzeugten Begriffe«. – Siehe: Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. A.a.O. V bzw. III. – Siehe auch: Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band. A.a.O. – Bzw.: Nicolai Hartmann: Zur Methode der Philosophiegeschichte. – In: Kant-Studien. Berlin. 15 (1910), 459 – 485. – Zitiert wird nach dem Abdruck in: ders.: Kleinere Schriften. Band III. Vom Neukantianismus zur Ontologie. Berlin 1958. 1 – 21. – Unter Beibehaltung der Idee der Problemgeschichte weiterentwickelt in: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte. Aus den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jahrgang 1936. Phil.-hist. Klasse. Nr. 5. Berlin: Berlin 1936. 66 Siehe: Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. 5 Bände. 2. Auflage Leipzig 1949 – 64. 67 Siehe: Hans Leisegang: Denkformen. Berlin 1928. 2. Auflage 1950. 68 Siehe z. B.: Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789 – 1795). Stuttgart 1991.
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mann),69 Diskursanalyse (Michel Foucault)70 sowie nicht zuletzt Dekonstruktion (Jacques Derrida).71 Es bedarf keines Hinweises, daß vorstehende Klassifikation keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt; sie diene lediglich dazu, die Pluralität möglicher Zugriffsweisen auf Texte anzuzeigen. 2.2 Das ideenpolitische Implement der philosophischen Problemgeschichte Vorliegendes Projekt vertraut sich wieder der problemgeschichtlichen Methode an, wie sie von Ernst Cassirer (1906 ff.) – orientiert am Erkenntnisproblem – und Alois Dempf (1922)72 vorgeformt, von Nicolai Hartmann (1936) wirklich begründet wird und nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland insbesondere Walter Schulz, Wolfgang Röd (bes. 1976 ff.) und Hans Heinz Holz in vielen ihrer Werke wieder aufnehmen und bis heute fortführen. Dies aber ist keine Selbstverständlichkeit. Da – wie sich im folgenden erweisen wird – zu den ersten Vertretern der philosophischen Problemgeschichte beinahe ausnahmslos Männer mosaischen Glaubens zählen, eignet der Restitution des (systematisch dem Neukantianismus der Marburger Schule erwachsenen) problemgeschichtlichen Zugriffs gleichermaßen ein ideen-, um nicht zu sagen: religionspolitisches Charakteristikum. Ernst Cassirer (1874 – 1945), 1899 mit einer Arbeit bei Paul Gerhard Natorp (1854 – 1924) promoviert,73 scheitert an mehreren deutschen Universitäten mit dem Versuch, sich mit einer – wohlgemerkt preisgekrönten – Schrift über Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen zu habilitieren.74 Auf Grund antisemitischer Ressentiments wird Cassirer in Berlin erst im Jahre 1906 habilitiert75 – ermöglicht Siehe: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983. (Paradeigmata 1) 70 Siehe: Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970. Aus dem Französischen von Walter Seitter. München 1974. 71 Siehe z. B.: Jacques Derrida: Grammatologie. Aus dem Französischen von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1974. 72 Siehe: Alois Dempf: Der Wertgedanke in der Aristotelischen Ethik und Politik. (Diss. 1922 bei Hans Meyer und Clemens Bäumker; Neuauflage Wien 1989 herausgegeben von Michael Benedikt und W. Priglinger); Die Hauptform mittelalterlicher Weltanschauung. Eine geisteswissenschaftliche Studie über die Summa. München/Berlin 1925. 73 Siehe: Descartes’ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis. – Natorp wiederum habilitiert sich 1881 bei Hermann Cohen (1842 – 1918). Dieser, Haupt des von Friedrich Albert Lange (1828 – 1875) begründeten Marburger Neukantianismus, hat 1875 nach wiederholter Ablehnung auf Grund seiner jüdischen Religion endlich die Nachfolge Langes antreten können. Erst mit Cohens (1912) und Natorps (1922) Emeritierungen verliert der Neukantianismus an Einfluß. 74 Die über 500 Seiten starke Schrift wird 1902 bei Elwert in Marburg publiziert. Cassirers Dissertation ist Teil des Buches. 75 Siehe das letztlich vierbändige Werk: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906, 1907, 1920 und 1950 bzw. 1957), das Natorps Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum. Protagoras, Demokrit, Epikur und die Skepsis. Berlin 1884, fortführt. 69
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durch Wilhelm Diltheys (1833 – 1911) Intervention. Mit Freiheit und Form (1916) bekennt er sich – in Zeiten des Höhepunkts nationalistischer Euphorie – zu einem kosmopolitischen Kulturbegriff, welcher der Idee des deutschen »Sonderwegs« in die Moderne eine Absage erteilt. 1919 gehört Cassirer zu den ersten, die an die neugegründete Reform-Universität Hamburg berufen werden. Bis dahin ist der damals 45jährige nach seiner Habilitation ohne Ruf geblieben. Als Privatdozent an der Berliner Universität führt er ein zurückgezogenes, gleichwohl produktives Forscherleben. Die Rede, die er im Hamburger Senat im August 1928 zur Feier des zehnten Jahrestags der deutschen Verfassung hält, trägt den Titel Die Idee der republikanischen Verfassung. Noch im akademischen Jahr 1929/30 wird Cassirer in Hamburg einer der ersten jüdischen Rektoren einer deutschen Universität, emigiriert jedoch auf Grund von Repressalien gegen seine Familie nach den Wahlen im Januar 1933 noch im März desselben Jahres nach Großbritannien und lehrt fortan an der University of Oxford, später in Schweden (Göteborg) und zuletzt in den USA (Yale und New York).76 Richard Kroner (1884 – 1974), Schüler Diltheys, Georg Simmels (1858 – 1918), Kuno Fischers (1824 – 1907) und Wilhelm Windelbands (1848 – 1915), wie Martin Heidegger (1889 – 1976)77 Promovend bei Heinrich Rickert (1863 – 1936),78 wird 1935 die Lehrbefugnis an der Universität in Frankfurt a. M. entzogen. Seine Schriften werden öffentlich verbrannt. Er emigriert 1938 nach Großbritannien und siedelt 1939 in die USA (New York) über. Auch der problemgeschichtlich orientierte Leo Strauss (1899 – 1973) promoviert 1921 in Hamburg bei Cassirer mit einer Arbeit über Friedrich Heinrich Jacobi.79 Ab 1922 setzt er in Freiburg/Brsg. bei Rickerts Nachfolger Husserl und dessen Assistenten Heidegger seine Studien fort. In den Jahren 1925 bis 1932 ist er Mitarbeiter an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, wo er unter der Leitung Julius Guttmanns (1880 – 1950) v. a. über Spinoza arbeitet – ein erster Schritt in seiner grundsätzlichen Kritik am modernen Denken – und als Mitherausgeber der Moses-Mendelssohn-Jubiläumsausgabe firmiert. Eine 1931 bei dem religiösen Sozialisten und Theologen Paul Tillich (1886 – 1965) angefragte Habilitation wird von diesem abschlägig beschieden. Noch bevor die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland Einzug hält, wird Strauss auf Grundlage eines Gutachtens, das Carl Schmitt (1888 – 1985) erstellt, ein Rockefeller-Stipendium, Am 13. April 1945 stirbt Cassirer als schwedischer Staatsbürger in New York auf dem Gelände der Columbia University. 77 Siehe: Die Bedeutungs- und Kategorienlehre des Duns Scotus. (1915) 78 Angemerkt sei, daß Rickert sich etwa seit 1910 zunehmend von der Idee einer Problemgeschichte distanziert, indem er im Anschluß an die Klassische Deutsche Philosophie den Unterschied von Philosophie und Einzelwissenschaft betont. Insbesondere polemisiert er gegen jedwede Tendenzen, den Systemgedanken für die Philosophie preiszugeben. – Siehe: Heinrich Rickert: Geschichte und System der Philosophie. – In: Archiv für Geschichte der Philosophie. Berlin. 11 (1931), 7 – 46; 403 – 448. 79 Siehe: Das Erkenntnisproblem in der philosophischen Lehre Fr. H. Jacobis. 76
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das ihm einen Studienaufenthalt in Paris ermöglicht, bewilligt. In den Jahren 1934 bis 1938 ist er erneut Rockefeller-Stipendiat, diesmal im englischen Cambridge, wo er über Thomas Hobbes forscht (»ein in gewisser Weise gnädiges Schicksal«).80 1938 geht Strauss in die USA und lehrt an der New School for Social Research, New York City. 1944 wird er amerikanischer Staatsbürger. 1949 folgt Strauss einem Ruf als Professor für Politische Philosophie an die University of Chicago, wo er bis zu seiner Emeritierung 1968 lehrt. Die ihm 1950 angebotene Lehrstuhlnachfolge für Martin Buber (1878 – 1965) an der Hebräischen Universität Jerusalem lehnt er ab, lehrt dort aber als Gastprofessor 1954/55. Das besonders der Geschichte philosophischer Probleme verhaftete Werk Nicolai Hartmanns (1882 – 1950), welches wie dasjenige Heideggers – wenngleich sowohl methodisch als auch philosophisch divergierend – einen Schwerpunkt in der Ausarbeitung eines neuen Fundaments der Ontologie hat, steht bis heute in Heideggers Schatten. 1905 geht Hartmann nach Marburg und wird dort 1907 mit der Arbeit Das Seinsproblem in der griechischen Philosophie vor Plato promoviert durch die Neukantianer Cohen und Natorp; 1909 folgt mit Platos Logik des Seins seine Habilitation. Während seiner zweiten Marburger Phase (1919 – 1925) wird Hartmann 1920 zunächst außerordentlicher, 1922 als Nachfolger Natorps ordentlicher Professor für Philosophie. Die Marburger Jahre führen zu einer Begegnung mit Heidegger, der dort 1923 zum außerordentlichen Professor berufen wird. Gleichwohl bleibt eine tiefere Debatte aus, wie das beiderseitige Schrifttum zur Ontologie, das so gut wie keinerlei gegenseitige Referenzen, geschweige denn philosophische Einflüsse aufweist, bezeugt. Hartmann macht die bittere Erfahrung, durch Heideggers große akademische Anziehungskraft in der Marburger Studentenschaft zunehmend ins Abseits zu geraten. So wechselt er 1925 nach Köln, wo er Max Scheler (1874 – 1928) kennenlernt und – anders als Heidegger – eine Ethik (1926) verfaßt, die Schelers Materialer Wertethik (1913 – 1916) verpflichtet ist. 1931 folgt Hartmann der Berufung auf jenes Berliner Ordinariat, das Heidegger zuvor ablehnt. Hartmann bekleidet es mit großem Erfolg – allerdings ohne festen Schülerkreis – bis 1945. Zur Zeitgeschichte äußert sich Hartmann in den Jahren des Nationalsozialismus nicht, und an eine Emigration denkt er nicht. 1945 wechselt Hartmann auf Grund der Unsicherheiten in Berlin nach Göttingen, wo er eine weithin bekannt gewordene Einführung in die Philosophie vorträgt, die in einer autorisierten Nachschrift 1949 veröffentlicht wird.
1936 erscheint in der Oxforder Clarendon Press das Buch The Political Philosophy of Hobbes. Its Basis and Its Genesis. Das Titelblatt enthält damals den zusätzlichen Hinweis »Translated from the German Manuscript«. Strauss hat von England aus zwar versucht, mit Hilfe der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) und Gerhard Krüger (1902 – 1972) einen deutschen Verlag zu finden, doch »der Verleger Klostermann Frankfurt […] scheut vor der Sache zurück, obwohl ihn das Lob Ihrer Arbeit zu locken schien«, so Krüger im Juni 1935 in einem Brief an Strauss. Der deutsche Text erscheint erst 1965 im Verlag Luchterhand unter dem Titel Hobbes’ politische Wissenschaft. 80
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I. Teil · Das Erfordernis und das Spezifikum moralwissenschaftlicher Forschung
So wird deutlich, daß mit der von den Nationalsozialisten zum Staatsziel erhobenen Enteignung, Deportation und Vernichtung der europäischen Juden notwendig auch die weitestgehende Ausblendung der philosophischen Problemgeschichte einhergeht. Das Versiegen der in Deutschland in Fluß gebrachten problemgeschichtlichen Forschung ist demnach keineswegs als bloß äußerliche Folge eines Generationenwechsels innerhalb ihrer akademischen Potentaten zu verharmlosen, sondern ist v. a. einer politisch begründeten Versprengung der meisten ihrer einstmaligen Gründerväter und der damit unterbundenen gebündelten Weitergabe an Schülerkreise geschuldet. Neben dem bereits angeführten Nicolai Hartmann ist lediglich Heinz Heimsoeth (1886 – 1975)81 nicht aus Deutschland geflohen. Eine umfassende philosophische Erörterung dieser tragischen Zusammenhänge ist bisher noch nirgends geleistet worden.82 Doch die Konsequenzen dieser philosophischen Einebnung, v. a. aber die gleichermaßen damit verbundene philosophie-politische Option Heidegger zeigen sich in ihrer gesamten Tragweite erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die deutschen Lehrstühle für das Fach Philosophie nicht selten mit (ehemaligen) Heidegger-Schülern besetzt werden,83 unter ihnen neben den direkten Schülern Gadamer84 und Ernst Tugendhat (*1930)85 – wenngleich Heimsoeth kommt aus Berlin, wo er für drei Semester bei Dilthey, Alois Riehl (1844 – 1924) und Cassirer hört, 1907 nach Marburg. Hier setzt er seine Studien bei Cohen und Natorp fort. 1911 erfolgt seine Promotion über Descartes’ Methode der klaren und deutlichen Erkenntnis. 82 Enttäuscht werden diesbezügliche Erwartungen in: Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Teil 1 und 2. Berlin 2002. – Auch die Beiträge folgenden Sammelbandes widmen sich diesem Problem nur in Ansätzen: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Das Problem der Problemgeschichte 1880 – 1932. Göttingen 2001. 83 Heidegger selber wird nach Kriegsende mit einem vorübergehenden Lehrverbot, von Karl Jaspers (1883 – 1969) in einem Gutachten befürwortet, belegt. Es endet am 26. September 1951 mit Heideggers Emeritierung. – Siehe: Martin Heidegger /Karl Jaspers: Briefwechsel 1920 – 1963. Herausgegeben von Walter Biemel und Hans Saner. München 1992. 166 ff.; 270 – 274. – Siehe zudem: Hugo Ott: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie. Frankfurt a. M./New York 1988. 289 – 327. 84 Bis zur Promotion studiert Gadamer bei Problemgeschichtlern: 1918 in Breslau bei dem Neukantianer Hönigswald (der [u.a. auf Betreiben Heideggers] 1933 an der Universität München als »Volljude« zwangspensioniert, 1938 in der sog. Reichskristallnacht – im Alter von 63 Jahren – für drei Wochen in das Konzentrationslager Dachau verschleppt wird und 1939 mit Ehefrau und Tochter über die Schweiz in die USA emigriert); ab 1919 in Marburg, wo er 1922 bei Natorp und Hartmann mit der (unveröffentlichten) Abhandlung Das Wesen der Lust in den platonischen Dialogen promoviert. Ab 1923 besucht Gadamer Vorlesungen bei Husserl und Heidegger in Freiburg/Brsg., im Sommer bei Heidegger in dessen Hütte in Todtnauberg. 1929 habilitiert sich Gadamer bei Heidegger und Paul Friedländer (1882 – 1968) und wird Privatdozent in Marburg. Zwei Jahre später wird seine Habilitationsschrift Platos dialektische Ethik veröffentlicht. Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus (siehe: Philosophische Lehrjahre. Frankfurt a. M. 1977. 51 f.) gelingt es dem Privatdozenten Gadamer, seine Berufschancen zu wahren: Er erhält 1933/34 Vertretungsprofessuren auf den Lehrstühlen der von den Nationalsozialisten ins Exil vertriebenen Kroner in Kiel und des Heidegger-Nachfolgers Erich Frank (1883 – 1949) in Marburg. Erste Ansätze seiner Theorie der Hermeneutik zeigen sich bereits in den 30er Jahren. 1937 wird er Professor in Marburg, zwei Jahre später erfolgt die Berufung nach Leipzig, wo er ordentlicher Professor und Direktor des Philosophischen Instituts der Universität Leipzig 81
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sich dieser später gegen Heideggers Denken wendet – auch Karl Löwith (1897 – 1973),86 Max Müller (1906 – 1994)87 und Karl-Heinz Volkmann-Schluck (1914 – 1981).88 Wie gesehen, sind also mit der Hochschulpolitik für das Fach Philosophie im Nachkriegsdeutschland auch methodologische Vorentscheidungen zu Gunsten einer universalen phänomenologischen Hermeneutik i.S. einer Sprachlichkeit des Seins vor dem Horizont der Zeit, wie sie in Heideggers Nachfolge besonders Gadamer in Wahrheit und Methode (1960) zusammenfaßt, getroffen. 2.3 Die Problematik der philosophischen Problemgeschichte 2.3.1 Begriff und Problem Der problemgeschichtliche Kernsatz, das Problem sei der Begriff (oder gar ein Verbund von Begriffen), ist umkehrbar: Gleichermaßen ist der Begriff das Problem. Indes zeigt sich hier mitnichten eine Diallele, gilt der Problemgeschichte doch das äußerliche Oszillieren dieses Interdependenzverhältnisses als wesentliches Indiz seiner wechselhaften Geschichte. Reine Begriffe (z. B. der Satz der Identität) sind schon aus sich heraus problematisch, das Interesse der Vernunft an ihnen muß nicht erst zu einer ›Geschichte‹ gerinnen, um als Problem Geltungskraft beanspruchen zu dürfen. Das Changieren des problematischen – gar historisch vorbestimmten – Gehalts eines Begriffs, d. h. seine Modifikationen, in das Bewußtsein der Geschichte (aber nicht als Bestandteil der Geschichte des Bewußtseins!) einzugehen, ruft aber erst dann die Problemgeschichte auf den Plan, wenn im Interesse der Statuierung des echten Begriffs von Philosophie die Besinnung auf die Wahrheit des Verhältnisses von Denken und System auf dem Spiel steht. Der funktionale Anteil dieser Erkenntnis besteht in der Inanspruchnahme des systematischen durch wird. Nach dem Krieg wird Gadamer 1945 Dekan der Philosophischen Fakultät. Bis 1947 ist er Rektor der Universität Leipzig. Es folgt im selben Jahr eine Berufung nach Frankfurt a. M. sowie 1949 ein Ruf an die Universität Heidelberg als Nachfolger Jaspers’. 85 Seit den 50er Jahren bewegt sich Tugendhat im Umfeld Heideggers. 1966 habilitiert er sich in Tübingen mit einer Arbeit über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, die bei de Gruyter ein Jahr später publiziert wird. 86 Löwith studiert ab 1919 in Freiburg/Brsg. bei Husserls Assistent Heidegger und folgt diesem – seit 1923 bei Moritz Geiger (1880 – 1937) in München promoviert – 1924 nach Marburg. Dort lernt u. a. Leo Strauss und Gadamer kennen. 1928 habilitiert er bei Heidegger mit der Studie Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Bis 1934 liest er als Privatdozent an der Universität Marburg. Auf Grund seiner jüdischen Abstammung ist Löwith nach Beginn der Nazi-Diktatur von Lehr- und Publikationsverbot betroffen. Er muß emigrieren und geht zunächst 1934 als Rockefeller-Stipendiat nach Italien. 87 Als katholischer Philosoph und Theologe ist Müller in seinem Denkweg auf Grund seiner Freiburger Studienzeit bei Heidegger stark durch die Auseinandersetzung mit dessen Fundamentalontologie und Seinsphilosophie bestimmt. 88 Volkmann-Schluck studiert in Marburg Philosophie bei Gadamer, dem er 1939 nach Leipzig folgt.
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das an Problemen orientierte Denken – jedoch lediglich in Form der schwachen Heuristik, je schon gegebene Probleme aufzugreifen.89 Nicht zuletzt auf Grund ihrer nirgends geleisteten philosophischen Fundierung kann Hartmanns wenig überzeugende Alternative von System- und Problemdenken zugunsten des Problemdenkens innerhalb der Genese autonomer Moral keine Geltung beanspruchen, haben dieser doch ohne Zweifel gerade auch die Systemdenker Hobbes und Spinoza anzugehören. Gadamers Anregung, ob der philosophische Status eines Problems sich überhaupt nur innerhalb eines Systemzusammenhangs legitimiere,90 kann hier nicht nachgegangen werden. Angemerkt sei jedoch, daß diese Einsicht problemgeschichtliches Gemeingut ist. Cassirer: »Das S y s t e m der Erkenntnis duldet keine isolierte ›formale‹ Bestimmung, die nicht im Ganzen der Erkenntnisaufgaben und Lösungen weiterwirkte.«91 2.3.2 Problem und Geschichte Beide also: sowohl der Begriff und damit notwendig auch das Problem, haben eine Geschichte. Diese Einsicht könnte die erkenntnistheoretische Großtat der methodischen Problemgeschichte (kritisch: ihre Voraussetzung) genannt werden. Dies allerdings schützt die Marburger Problemgeschichte nicht davor, in eine geschichtslogische Aporie zu geraten: Wenn sie im »Wiedererkennen der Problemgehalte«92 die vordringliche Aufgabe des Geschichtsphilosophen festschreibt, reflektiert sie nicht auf die im Hintergrund dieses Erfordernisses stehende zweifelhafte Vorstellung einer urstiftlichen Reinform des jeweils in den Blick genommenen philosophischen Problems.93 Es ist nicht plausibel, mit einer bestimmten begrifflichen Fassung eines philosophischen Problems die rückwärtige Reihe seiner Geschichte gewordenen Modifikationen enden zu lassen. So gesehen zeigte eine derartige problemgeschichtliche Konstruktion die ›chrono-logische‹ Gestalt eines regressus in finitum. Zudem wird jetzt auch deutlich, daß die alte Problemgeschichte in Wahrheit mehr zu sein beansprucht als bloße Methode: Sie will selber Philosophie sein, Siehe: Nicolai Hartmann: Zur Methode der Philosophiegeschichte. A.a.O. 13; 19. Siehe: Hans-Georg Gadamer: Zur Systemidee der Philosophie. – In: Festschrift für Paul Natorp zum siebzigsten Geburtstag. Berlin/Leipzig 1924. 55 – 75; hier: 64. 91 Siehe: Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Reprografischer Nachdruck der 1. Auflage, Berlin 1910. Darmstadt 1980. VII. 92 Siehe: Nicolai Hartmann: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte. A.a.O. 6. 93 Diesem vielerorts gegen die Problemgeschichte erhobenen Platonismus-Vorwurf mag entgegnet werden, daß die Problemgeschichte ein beträchtliches Gegengewicht zu einer bloß dogmatisch verfahrenden Begriffsgeschichte bereitstellt. Warum sich Gadamer schließlich fragt, ob die Begriffsgeschichte »nicht am Ende selber eine entdogmatisierte, d. h. aus dem systematischen Rahmen der neukantianischen Philosophie herausgelöste Problemgeschichte, sozusagen deren eigentliche Wahrheit« sei, bleibt dunkel (siehe das Folgende). – Siehe: Hans-Georg Gadamer: Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie. A.a.O. 1 – 16; hier: 13 (Nachtrag 2). 89
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weil eine Methode, die beansprucht, begriffene Geschichte zu sein, nichts anderes als Philosophie ist. Ohne also der Reichweite dieser Probleme ansichtig zu werden, beansprucht die problemgeschichtliche Methode nach Nicolai Hartmann, ein Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, die objektive Geschichte mit sich identisch bleibender, den Gedankenbewegungen der Zeiten enthobener Probleme philosophisch zu vergegenwärtigen.94 Die statische Substanz dieses Problembegriffs wird dabei nicht nur als »transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Geschichte«95 überhaupt, sondern auch als deren immanente Gesetzlichkeit begriffen. Daß damit der Untergang der Vernunftautonomie des Subjekts einhergeht, ist evident: »Die Probleme ändern Denker, der Denker kann das Problem nicht ändern. Es ist nicht durch ihn geworden und nicht von ihm zu vernichten […]. Das Problem steht als solches fest […].«96 Gleichwohl ist der methodologische Gewinn ungleich höher zu veranschlagen: Er liegt in einer Festschreibung des Fortschrittsgedankens in der Philosophie und der damit einhergehenden Abweisung einer skeptizistischen bzw. relativistischen Tendenz in der Philosophiegeschichte.97 Die Idee eines solchermaßen bestimmten Fortschritts aber äußert sich in Form einer Bewährung der Probleme im Sein der Geschichte.98 Wenn aber die Sachhaltigkeit der Probleme allein vermöge solcher historischer Bewährung garantiert wird, d. h. »nur die übernommenen Probleme in ihrer Genese zu verstehen sind, ist es unmöglich, neue Probleme zu erkennen.«99
94 Von hier aus ist gegen die Problemgeschichte der Vorwurf der Ontologisierung der Probleme erhoben worden. Und in der Tat: Die Geburt einer Vielzahl von Begriffen verdankt sich konkreter Geschichte. Beispiel: »Alle Begriffe, in denen man das Verhältnis von Staat und Kirche fassen kann, sind keine unveränderlichen Wesensbegriffe, sondern historisch geprägt. Sie sind geprägt durch ein Ereignis, das primär der Theologiegeschichte und der Kirchengeschichte angehört: nicht durch den eigentümlichen Lehrbegriff, sondern durch das bloße Faktum der Reformation.« – Siehe: Walter Jaeschke: Der Glaube als Hüter der Verfassung. – In: Evangelische Theologie. Gütersloh. 54 (1994), 2, 105 – 119; hier: 106. – Daß sämtliche Leitbegriffe moderner Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe seien, behauptet bekanntlich: Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 31979. 49. 95 Siehe: Nicolai Hartmann: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte. A.a.O. 14. 96 Siehe: Nicolai Hartmann: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte. A.a.O. 10. 97 Anders z. B. die zyklisch und dialektisch gegliederte Philosophiegeschichte nach: Vittorio Hösle: Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides und Platon. Stuttgart-Bad Cannstatt 1984. (Elea 1) – Hösle steht der Problemgeschichte nach N. Hartmann kritisch gegenüber (62 – 69). 98 Hier zeigt sich der Unterschied von philosophisch begriffenem und einzel- oder fachwissenschaftlichem Fortschritt. 99 Siehe: Jung-Min Kang: Philosophische Philosophiegeschichte. Studien zur allgemeinen Methodologie der Philosophiegeschichtsschreibung mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Philosophiegeschichte. Konstanz 1998. 82. (masch.) (Dissertation)
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2.3.3 Problemgeschichte und Begriffsgeschichte Eine der Geschichte der Methodologie der Philosophie verpflichtete methodenkritische Revision des Konzepts der Problemgeschichte scheint im Anschluß an Gadamers frühe Einwände nicht nur günstig, sondern geradezu geboten. Indes läuft für Gadamer Problemgeschichte auf Begriffsgeschichte hinaus.100 Seine – wenig überzeugende – These lautet, erst mit Heideggers Destruktion der Geschichte der Metaphysik, wie er sie in seinen Marburger Vorlesungen seit 1923 vorträgt und in seinem 1927 erschienenen Werk Sein und Zeit als fundamentalontologische Konsequenz ausgibt,101 sei erstmals die unabweisbare Notwendigkeit von Begriffsgeschichte zu Tage getreten: »Indem Heidegger die ontologischen Implikationen aufdeckte, die in dem für ihn durch Rickert und Husserl repräsentierten neukantianischen Bewußtseinsbegriff liegen, lehrte er uns, im Handwerk des philosophischen Denkens die Begrifflichkeit, in der sich das Denken ausspricht, zu kritischer Besinnung zu erheben. Die Begriffe der Philosophie erhalten ihre Sinnbestimmtheit nicht durch eine willkürliche Bezeichnungswahl, sondern aus der geschichtlichen Herkunft und der Sinngenese der Begriffe selbst, in denen sich das philosophische Denken bewegt, weil es sich immer schon in sprachlicher Gestalt vollzieht.«102 Die Frage, ob Heideggers platonische These, Begriffe seien ursprünglich motiviert und gehorchten unter dem Zugriff eines in der Nachbarschaft des Seins beheimateten Denkens ontologisierenden Etymologien (»Sprachdenken«), als notwendige Bedingung fungiere für die Geburt einer Wissenschaft der Geschichte von Begriffen, wie sie heute betrieben wird,103 ist zweifelsohne zu verneinen, denn nicht erst mit Heidegger ist das Bemühen um die Aufhellung der geschichtlichen Verfaßtheit von Begriffen zum notwendigen Bestandteil philosophischer Forschung geworden. Hier verdienen die Arbeiten des Friedrich-Adolf-Trendelenburg-Schülers Gustav Teichmüllers (1832 – 1888) in Erinnerung gerufen zu werden.104 Siehe: Hans-Georg Gadamer: Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie. – In: ders.: Kleine Schriften IV. Variationen. Tübingen 1977. 1 – 16; hier: 2 f. 101 Siehe auch jetzt wieder: Martin Heidegger: Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens (Metaphysik). Übungen im Wintersemester 1937/38. – In: ders.: Gesamtausgabe. IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen. Band 88. Herausgegeben von Alfred Denker. Frankfurt a. M. 2008. II. B. 21. f. 102 Siehe: Ibid. 2. – Siehe auch schon die »Einleitung« zu: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. – In: ders.: Gesammelte Werke. Band 1. Tübingen 1986. 1 – 5. 103 Zu denken ist hier zuerst an das von Erich Rothacker (1888 – 1965) 1955 gegründete Archiv für Begriffsgeschichte. – Das erste Wörterbuch der Begriffsgeschichte legt Rudolf Eisler (1873 – 1926) mit der ersten Auflage seines Wörterbuchs der philosophischen Begriffe (1897) vor. 104 Genannt seien hier lediglich seine Geschichte des Begriffes der Parusie (Halle 1873, erschienen als III. Band innerhalb seiner Aristotelischen Forschungen [seit 1867]) sowie die Studien zur Geschichte der Begriffe (Berlin 1874), Neue Studien zur Geschichte der Begriffe (3 Bände, Gotha 1876 – 1879) und Literarische Fehden im IV. Jahrhundert vor Christus (2 Bände, Gotha 1881 und 1884). 100
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Nun kann aber nicht in Abrede gestellt werden, daß auch Heideggers Marburger Kollege Nicolai Hartmann sehr wohl eine Wechselwirkung von Begriffs- und Problemgeschichte erkennt. Allerdings kommt Hartmann zu dem mit Blick auf Gadamers spätere Kritik umgekehrten Schluß, Begriffsgeschichte sei zur Problemgeschichte heraufzustufen: Jene sei dieser subordiniert, insofern sie die Geschichte jener ewigen und unveränderlichen Relationen – aus Begriffen gebildete Probleme – untersuche, die sich in der Geschichte der Philosophie realisierten. Wenn dagegen Gadamers Hermeneutik des Verstehens Hartmanns Axiome der Ewigkeit sowie der Unwandelbarkeit von Problemen – sc. die unverbrüchliche Identität der problemgeschichtlich reflektierten Probleme – radikal in Frage stellt und dagegen das Prinzip ihrer historischen Wandelbarkeit setzt, beruft er sich schon auf Aristoteles, der »philosophische Probleme, die als identisch sich durchhaltende Grundfragen des Denkens formuliert sind«, als nicht sinnvolle weil unlösbare abgewiesen habe. Zudem argumentiert Gadamer – sicherlich wiederum im Andenken Heideggers –, in der Wissenschaft sei »nicht der Ertrag, sondern die Fragestellung das Entscheidende«.105 So breche die eigentlich geschichtliche Dimension allererst in der philosophischen Begriffsgeschichte auf, die »aus der Eigenart philosophischer Sprache [sc. der Sprachfindung, H. G.] ihre Legitimation«106 empfange. 2.3.4 Die kontrastive Explikation des revidierten Begriffs der philosophischen Problemgeschichte Trotz der genannten Probleme mit der Problemgeschichte nimmt das Projekt der Entfaltung der Genese autonomer Moral diesen methodischen Zugriff in die Pflicht – allerdings unter der Voraussetzung seiner Kritik. Der im folgenden zur Anwendung gelangende problemgeschichtliche Zugriff ist insoweit leistungsfähiger beschaffen, als er eine Chronologie wechselseitiger Aufhellungen ermöglichen soll – aber eben nicht ausschließlich als Vorlauf, d. h. als Deutung des Späteren durch Früheres, sondern nicht weniger auch umgekehrt des Früheren durch Späteres. Wie gesehen, evoziert das Konzept der Problemgeschichte nicht zuletzt, daß der Begriff der Geschichte selber problematisch wird. Dies wiederum setzt aber voraus, daß Geschichte überhaupt Thema der Philosophie ist – was »bis hin zum frühen Schelling und zu Fichte«107 aber noch gar nicht der Fall ist. So betrifft die Genese autonomer Moral einen historischen Zeitraum, in dem der Geschichtsbegriff selber allererst Kontur gewinnt. Beispielsweise hat Jacob Bruckers (1696 – 1770) sechsbändige Philosophiegeschichte108 erst noch in einen uns heute geläufigen Begriff Siehe: Hans-Georg Gadamer: Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie. A.a.O. 3. Siehe: Hans-Georg Gadamer: Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie. A.a.O. 13. 107 Siehe: Walter Jaeschke: Die Geschichtlichkeit der Geschichte. – In: Hegel-Jahrbuch. (1995) Berlin 1996. 363 – 373; hier 363. 108 Siehe: Iacobi Bruckeri: Historia critica philosophiae. Tomi I–IV. Lipsiae 1742 – 67. 105
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von Geschichte münden müssen.109 So besteht ein Vorteil einer am Maßstab geschichtsphilosophischer Leitfragen revidierten Problemgeschichte gerade auch darin, in geistige Bezirke zu reichen, denen selber noch kein wahrhaft geschichtliches Bewußtsein zuerkannt werden kann. Schon der Projekttitel Zur Genese autonomer Moral deutet an, daß die Rekonstruktion eines Problemverbunds zur Darstellung gelangen soll.110 Die Problemgeschichte der Genese autonomer Moral kommt in einer Auseinandersetzung mit einer wohl erwogenen Auswahl (staats-)philosophischer, politischer und theologischer bzw. religionsgeschichtlich111 enschlägiger Texte in den Blick. Ein in neuer Weise sensibilisierter, nicht ausschließlich durch das metaphysische Schwergewicht ewig unwandelbarer Probleme (philosophia perennis et universalis nach Agostino Steuco [1497 – 1548] und Leibniz) belasteter problemgeschichtlicher Zugriff vermag sowohl grobe als auch feinere Verzweigungen innerhalb der Entwicklung der philosophischen Theorie autonomer Moral zu rekonstruieren. Indes verläuft diese Entwicklung keineswegs linear und zeigt bisweilen komplizierte Frakturen. Die Aufdeckung dieser Diskontinuitäten stellt ein besonderes Anliegen vorliegenden Projekts dar. Die solchermaßen problemgeschichtlich zu Bewußtsein gebrachte Genese expliziert ein Herkunftswissen von einem schon Seienden – nicht aber von Begriffen unwandelbaren Problemgehalts – und unterscheidet sich von einer metaphysischen Ursprungsspekulation sowie vom Konzept der Vorgeschichte, wenngleich gelegentlich auch diese letztere Form historischer Projektion in ihr zur Erscheinung kommt. Das bedeutet: Vorliegende Untersuchungen werden nicht der Frage nachgehen, wer wann zuerst und unter welchen Umständen die theoretische Notwendigkeit des Konzepts einer autonomen, d. h. nicht mehr theonomen Moral eingesehen hat; zudem wird sich unser Projekt kaum dafür interessieren, welche etwaigen Theorie-Vorläufer eine solche Konzeption hätte. Doch der Interpret stößt nicht selten auch auf vielerlei andere als ausschließlich textempirische Einflüsse. Grundsätzlich zu beachten bleibt indes, daß mündliche Formen der Gedankenübertragung weitaus weniger verläßliches Quellenmaterial bieten, somit schwieriger auszu109 Zum besagten Umbruch von Historie in Geschichte siehe z. B.: Ulrich J. Schröder: Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte. Frankfurt a. M. 1990. – Siehe für die Zeit vor Hegel insbesondere: Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006. (Schwabe Philosophica. Herausgegeben von Helmut Holzhey und Wolfgang Rother. VIII) 110 Windelband spricht von »Problemverschlingung« und nennt als Beispiel den Begriff der Freiheit. – Siehe: Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. A.a.O. III. 2. § 26. 1. 111 Ausdrücklich bemerkt sei hier, daß sich die Genese autonomer Moral hierin grundlegend unterscheidet von bisherigen problemgeschichtlich orientierten Untersuchungen, welche die frühneuzeitliche Verwobenheit philosophischer mit theologischen bzw. religiös bedingten, insbesondere aber religionspolitischen Problemstellungen noch kaum in den Blick genommen haben. – Eine rühmliche Ausnahme: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 2. Band: Das mythische Denken. Berlin 1925; 3. Band: Phänomenologie der Erkenntnis. Berlin 1929.
2. Kapitel · Methodologische Verortung
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werten sind und leichtfertige Mutmaßungen befördern. Zudem steht jedwede Konzeption von Rezeptionsgeschichte spätestens seit der zu Beginn des 20. Jahrhunderts endgültigen Etablierung historisch-kritischer Texteditionen vor der Schwierigkeit, welche der gebotenen Versionen, Lesarten oder Fragmente in welcher Weise zu gewichten seien. Die wohl größte Schwierigkeit des rezeptionsgeschichtlichen Zugriffs betrifft einschlägige Clandestina, d. h. lediglich privatim zirkulierende Texte wie beispielsweise Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres oder Spinozas Ethica. Georg Roellenbleck bemerkt zum Colloquium Heptaplomeres: »Seit Bodins Tod war es in immer zahlreicheren Abschriften, auch in französischer Übersetzung, umgelaufen, ängstlich vor den Augen der Zensur verborgen; zunächst als Rarität gesucht, zu Beginn des 18. Jahrhunderts allgemein bekannt. Grotius, Christine von Schweden, Leibniz, Bayle, Thomasius lasen es. Leibniz hielt es zunächst, wie viele, für ein gefährliches, abscheuliches Buch, später, im Alter, hatte er den Wunsch, es herausgegeben zu sehen.«112 Doch damit nicht genug: Denn für sich genommen verdeutlicht allein dieser Umstand (oder erst recht beispielsweise der sog. Spinozastreit), daß philosophiegeschichtliche Analysen nicht selten auch einer entstehungsgeschichtlichen Lesart verpflichtet sind, hat doch der Spinoza- oder Pantheismusstreit in Deutschland rückblickend eine bestimmte Diskursformation, hier: die Spinozarenaissance, erst auf den Weg gebracht. Die entstehungsgeschichtliche Orientierung kann jedoch Gefahr laufen, ›Bewertungsverzerrungen‹ anheimzufallen, d. h. das wirkungsgeschichtliche Kriterium gänzlich zu vernachlässigen113 – ein zumindest zweifelhaftes Vorgehen, selbst wenn der problemgeschichtliche Gehalt für sich genommen noch so beträchtlich erscheinen mag.114 Eine Einschärfung des Anliegens problemgeschichtlicher Verfahrensweise gelingt aber durch Kontrastierung mit einer in etwa zeitgleich konkurrienden Philosophiegeschichtsschreibung: der Wirkungsgeschichte. Gleichwohl zeichnet sich aber jetzt schon ab, daß den Verästelungen unserer im vorigen vorgetragenen Problemstellung eine rein wirkungsgeschichtliche Perspektive nicht gerecht wird; eine umfänglichere Erwägung dieses Umstandes hätte ein ausführlicheres MethodologieKapitel zu leisten. Betont sei hier jedoch zumindest dieses: Das wirkungsgeschichtliche Kriterium reicht prinzipiell weiter als das rezeptionsgeschichtliche, können geistige Einflüsse gleich welcher Art doch (nach-)wirken, nachdem Rezeptionsprozesse schon nicht mehr wahrnehmbar sind. Rezeptionsgeschichte impliziert demnach zwar Wirkungsgeschichte – als deren Folge nämlich; doch setzt dagegen WirSiehe: Georg Roellenbleck: Offenbarung, Natur und jüdische Überlieferung bei Jean Bodin. Eine Interpretation des Heptaplomeres. Gütersloh 1964. 13. (Studien zu Religion, Geschichte und Geschichtswissenschaft. Band 2) 113 Siehe: Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789 – 1795). A.a.O. 114 Z.B. betont die Bedeutsamkeit des problemgeschichtlichen Gehalts von Hölderlins Urtheil und Seyn: Andreas Arndt: Zur Herkunft und Funktion des Arbeitsbegriffs in Hegels Geistphilosophie. – In: Archiv für Begriffsgeschichte. 24. Bonn 1985. 99 – 115; hier 102 ff. 112
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I. Teil · Das Erfordernis und das Spezifikum moralwissenschaftlicher Forschung
kungsgeschichte Rezeptionsgeschichte – hier: deren textempirisches Kriterium – voraus.115 Oftmals jedoch bleibt diese rezeptive Verfahrensweise den überzeugenden Nachweis schuldig, der Autor A habe in Form der Niederschrift des Textes a den Einfluß seiner Lektüre des Textes b des Autors B verarbeitet. 2.4 Die Überleitung in den problemgeschichtlichen Ausgangspunkt: die Ausbildung der frühneuzeitlichen Wissenschaften und ihre Entstehungsbedingungen Die nähere Exposition unserer Problemfrage geht einerseits mit der gebotenen Isolierung weniger Grundprobleme – z. B. ›Natur‹, ›Satzung‹ bzw. ›positives Recht‹, ›Sittlichkeit‹, ›Staat‹, ›Religion‹ bzw. ›Theologie‹ – einher, ist jedoch ebenso vor die Aufgabe gestellt, deren problemgeschichtliche Nachbarschaft zu demonstrieren. Dies soll am Beispiel der Wandlungen des Begriffs des Gesetzes geschehen. Dabei wird sich ergeben, daß die Herausbildung moderner Moralkonzepte wesentlich mit tiefgreifenden Modifikationen verwoben ist, die den frühneuzeitlichen, genauer: den naturphilosophischen Gesetzesbegriff ereilen. Auf diesem Felde wären sicherlich weitere Studien vonnöten; wir haben uns im folgenden lediglich auf Grundsätzliches beschränkt. Verändert hat sich nun v. a., daß ›Ethik‹ zunehmend lediglich als Moralismus begriffen wird, d. h. als Gesetzesverbund, in dessen Verständnis eher (vormals religiös determinierte) Verbote im Vordergrund stehen. Es spricht viel dafür, die Religion (neben z. B. Kunst und Wissenschaft) als eine spezielle Kulturgestalt zu begreifen, auch wenn sie ein Verhältnis des Menschen zu etwas außerhalb seiner selbst: nämlich zum Göttlichen resp. Heiligen (oder »Numinosen«, wie es im 20. Jahrhundert genannt wird116), zum Ausdruck bringt. Im Vordergrund steht dabei stets das Vorhaben, die Beziehung auf das Göttliche für ein diesseitiges Existieren sinnvoll fruchtbar zu machen. Dabei darf nicht mißachtet werden, daß die Orientierungsleistung der Religion von alters her einen sowohl praktischen (moraltheologischen) als auch theoretischen (Dogmatik u. a.) Anteil aufweist. Dennoch ist es zu Einseitigkeiten gekommen, so z. B. im 20. Jahrhundert innerhalb des Neukantianismus zu dem Versuch, das Judentum auf das EthischPraktische zu reduzieren. So sagt Hermann Cohen: »Sittlichkeit ist ja von allen Naturwesen nur für den Menschen ein Problem. Sittlichkeit bildet theoretisch den Inhalt der Ethik und praktisch den Inhalt der Selbsterziehung des Menschen. Diese Selbsterziehung tritt als Religion in das Licht der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechtes. So scheiden sich begrifflich Sittenlehre und Religion. Wenn an115 So erhofft sich beispielsweise Hobbes eine breitere Wirkung der Rezeption seines Leviathan in seinem Mutterland, wenn er das Werk 1651 auf Englisch publizieren läßt. Die zuvor veröffentlichten Teile seines Systems der Philosophie sind lateinische Schriften. Oder Descartes: Dieser publiziert 1637 seinen Erstling auf Französisch: Discours de la méthode – um Buchgelehrsamkeit umwillen eines keinen Autoritäten verpflichteten Selbstdenkens zu unterlaufen. 116 Siehe: Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 21. und 22. Auflage. München 1932.
2. Kapitel · Methodologische Verortung
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ders aber die Religion im Geiste des Menschen, in der Entwicklung des menschlichen Kulturbewußtseins ihren eigenen Anteil an der menschlichen Vernunft hat, so treten demgemäß die Begriffe Gott und Mensch wieder zusammen. Die Korrelation tritt ein, und zwar ebenso gemäß dem Begriffe Gottes, wie gemäß dem des Menschen.«117
Siehe: Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß. Leipzig 1919. VI. 109 – 115; bes. 127. – Siehe ebenso: Ibid. VIII. 131 – 166. 117
II. TEIL Natur – Gesetz – Recht: Kernprobleme frühneuzeitlicher Wissenschaft
1. Kapitel: Die theoretische Umgebung und ihre wissenschaftsgeschichtliche Einordnung 1.1 Der ontologische Status des Rechts: naturrechtliche Hyperpositivität vs. theonome Positivität Frühneuzeitliches Wissenschaftsinteresse wird nicht selten vorgestellt als ein solches, das sich vordringlich an Problemen damaliger Metaphysik-Varianten orientiert. Dieses Urteil ist so wahr wie einseitig. Selbst ein Universalgelehrter wie Leibniz, bis heute von Philosophiehistorikern gern als der bedeutendste Metaphysiker des 18. Jahrhunderts gepriesen, ist vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. (1688 – 1701) immerhin mit der Gründung (19. März 1700) einer Brandenburgischen Sozietät, d. h. der Preußischen (oder Berliner) Akademie der Wissenschaften (deren erster Präsident er wird), beauftragt worden.1 Ulrich Im Hof bemerkt hierzu: »Endlich erhielt der Philosoph die Gelegenheit, seine so oft formulierten Akademiegedanken in Wirklichkeit umzusetzen, jenes dreifache Ziel der Ausbreitung einer offenen christlichen Weltanschauung durch die Wissenschaft, der Pflege und Beförderung der Wissenschaften und von Ruhm, Wohlfahrt und Aufnahme der deutschen Nation, Gelehrsamkeit und Sprache. Insbesondere ging es ihm um die utilitas, den Praxisbezug der Wissenschaften.«2 So ziert das Wappen der Berliner Akademie bis zum heutigen Tage der Wahlspruch »Theoria cum Praxi« (anders als beispielsweise das Pariser oder Londoner). Unsere Studien suchen insbesondere diesen Willen zur Praxis ins Licht zu rücken, vergrößert sich doch gerade deren philosophische Strahlkraft insbesondere im Deutschland dieser Zeit kontinuierlich und kommt vielleicht in der Aufklärung des praktischen Empiristen Thomasius, der zunächst als Anwalt und Dozent in Leipzig das Naturrecht i.S. von Huig de Groot (1583 – 1645) und Pufendorf vertritt, zur besten Entfaltung. In der Vergangenheit sind die Naturrechtslehren der deutschen Aufklärung zumeist recht einseitig gedeutet worden, weil sie in Verkennung ihrer in vielerlei Hinsicht problematischen Umgebung als separate Phänomene begriffen worden
Siehe: Adolf von Harnack (Hg.): Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet von Adolf Harnack. Berlin 1900. (ND Hildesheim 1970) – Der wirkungsmächtigste Philosoph des 18. Jahrhunderts ist zweifelsohne John Locke (1632 – 1704); Leibniz schreibt überwiegend ›für die Schublade‹. 2 Siehe: Ulrich Im Hof: Das Europa der Aufklärung. München 1993. 98. 1
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
sind.3 Desiderat ist immer noch eine Studie, welche den systematischen Anspruch des Naturrechtsarguments im Kontext seiner jeweiligen Aktualisierungen, die auch und gerade die deutsche Aufklärung bedingen, zu rechtfertigen vermag. Dem Rechnung tragend bemühen sich das Nachfolgende um die Lösung einer bislang noch fest verknoteten Problemkette. Das Risiko, daß ein derartiges Unternehmen einen fruchtbaren Nährboden für gelehrte Kritik von Experten für die einzelnen Forschungsgebiete der behandelten Denker bereiten wird, wird billigend in Kauf genommen in der Hoffnung, daß der – zumindest partielle – Nachweis der Voraussetzungen für die eminent praktische Signatur einer nicht mehr theonom organisierten Philosophie der Sittlichkeit in der deutschen Aufklärung einen kleinen Beitrag leisten möge sowohl zu einer Geschichte der Ethik als auch der Religion als auch der Freiheit, und d. h. nicht minder der Religionsfreiheit resp. der Freiheit von Religion. Der neuzeitliche Begriff der Freiheit setzt jedoch einen Bewährungsgrund: nämlich den Begriff des Subjekts, voraus. Dieses Konzept wird allerdings erst in den Philosophien des späten 18. Jahrhunderts herausgearbeitet. Denn die in vorliegender Untersuchung leitende Frage, wie eine von theonomen Merkmalen befreite Moralphilosophie möglich sei, steht in direktem Zusammenhang mit dem in der frühen Neuzeit gemachten Lösungsvorschlag, die Vernunft sei je schon einer naturhaft gegebenen Rechtssphäre, einer Form der Praxis, übereignet. Zwar lassen nicht wenige Darstellungen4 die sog. Geschichte des Naturrechts bereits mit der griechischen Antike anheben5 (ohne dabei die Frage zu erörtern, ob es philosophisch überhaupt sinnvoll ist, einem Begriff wie demjenigen des Naturrechts eine Geschichte zu unterstellen6); gleichwohl sollte dabei nicht aus dem Blick geraten, daß das Format des antiken Naturrechts aus religiösen sowie politischen Gründen von dem frühneuzeitlichen Naturrecht unterschieden werden muß. Das antike Naturrecht über die bisherigen Überlegungen hinaus noch näher zu betrachten, kann nicht Aufgabe vorliegender Studie sein.7 Vielmehr besteht eiSiehe z. B.: Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945. (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Band 32) – Eine Ausnahme ist: Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim/New York 1971. (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie. Band 3). – Schlaglichter auf die Naturrechtslehre des Thomasius finden sich zudem in: ders.: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg/München 1974. 14; 27; 101; 191; 215. – Sowie: ders.: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990. 112 ff. 4 Siehe z. B.: Georg Stadtmüller: Das Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung. Recklinghausen 1948. – Zudem: Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956. 5 Siehe schon: Heraklit: Fragmente. Griechisch und deutsch. Übertragen von Bruno Snell. München 1926. B 103; B 114. 6 Kurz gefaßt kann unter Naturrecht verstanden werden ein für alle Völker und Zeiten gültiges, ungeschriebenes Idealrecht, ein Urrecht, das mit Augustinus sogar Ewigkeitsstatus (»lex aeterna«) erlangt. 7 Siehe hierzu z. B.: Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. A.a.O. – Oder: Naturrecht. – In: HWPh 6. I. C. 1.; II. – Siehe auch: Karl-Heinz Ilting: Naturrecht. – In: GG 4. II. 1.–4. 3
1. Kapitel · Theoretische Umgebung und wissenschaftsgeschichtliche Einordnung
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nes ihrer wesentlichen systematischen Interessen darin, den Nachweis einer prinzipiellen Verfehltheit einer rein historisch veranlagten Betrachtung der frühneuzeitlichen Naturrechtsproblematik zu führen. Nur diese Einsicht ermöglicht schließlich ein Verständnis ihres angesteuerten Fernziels, auf Grund des Verdachts einer wesenhaften Unhintergehbarkeit des Naturrechtsgedankens den Mechanismus seiner stetigen Renaissancen auszumessen.8 Gerade frühneuzeitliches Nachdenken über Probleme des Rechts wird mit der Frage konfrontiert, wie der formale Charakter solcher Instruktion genauer zu bestimmen, ja zu gewichten sei. Ob die Philosophie die Vernunft der prinzipiellen Abhängigkeit von einer Hyperpositivität allen Rechts überlassen dürfe, geht nicht allein den Systematiker, sondern auch den Historiker der Philosophie an, da ein derartiges Kalkül keineswegs mit der bereits im 17. Jahrhundert sich immer deutlicher abzeichnenden (früh-)aufklärerischen Forderung nach vernünftiger Selbstgesetzgebung korrespondiert. Im Nachklang der besonders im England des 18. Jahrhunderts aufkommenden deistischen Theorien9 gilt zunächst noch folgende Verhältnisbestimmung: Das Vernunftrecht (dessen Kantisch-Fichtesche Variante zu dieser Zeit in Deutschland mit dem neuzeitlichen Naturrecht überhaupt identifiziert wird10) müsse jedwede Form des Naturrechts, weil es niemals Produkt vernünftiger Spontaneität sein könne, kategorisch ausschließen; der aufklärerische Gedanke hingegen, ein Naturrecht als der Vernunft überhaupt Jenseitiges, Prälogisches anzusetzen, entdeckt den hier thematischen urtümlichen ontologischen Problemverbund: nämlich die Verschränkung von theonomer Positivität und naturrechtlicher Hyperpositivität. Das besondere Folgeproblem, welche Art von Beurteilungsvermögen einer Vernunftgestalt, welche ihr onto(-theo)logisches Jen8 Siehe: Hans Dieter Schelauske: Naturrechtsdiskussion in Deutschland. Ein Überblick über zwei Jahrzehnte: 1945 – 1965. Köln 1968. – Zudem: Robert Spaemann: Die Aktualität des Naturrechts. – In: Franz Böckle/Ernst-Wolfgang Böckenförde: Naturrecht in der Kritik. Mainz 1973. 262 – 276. – Ob allerdings die »Idee eines ›von Natur Rechten‹« (ibid.: 262) die Gerechtigkeit zur Voraussetzung hat – und nicht vielmehr genauer zu ermessende Formen eines Gewohnheitsrechts, welche nicht zwangsläufig mit einer Gerechtigkeitsvorstellung (wobei Spaemann nicht sagt, welche denn) konform gehen müssen –, darf zumindest bezweifelt werden. – Siehe zu den verschiedenen abstrakten Formen der Gerechtigkeit (Jedem das Gleiche; Jedem gemäß seinen Verdiensten; Jedem gemäß seinen Werken; Jedem gemäß seinen Bedürfnissen; Jedem gemäß seinem Rang; Jedem gemäß dem ihm durch Gesetz Zugeteilten): Chaïm Perelman: Über die Gerechtigkeit. Mit einer Einleitung von Theodor Viehweg. München 1967. 22 – 44. (Beck’sche Schwarze Reihe. Band 45) – Zum Problem insgesamt siehe die vorzügliche Arbeit: Paolo Prodi: Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat. München 2003. 9 Die im Zuge der im folgenden näher inspizierten Naturrechtsdebatten aufbrechende Problematik: rein theoretisch könne erwogen werden, Gott existiere nicht und kümmere sich nicht um die Angelegenheiten der Menschen, bedeutet eine rein innerphilosophische Prolepse eines späterhin originär deistischen Themas, stehen hier doch noch keine Existenz-Aussagen über das Wesen Gottes, sondern ausschließlich begriffliche Bestimmungen (analog zu mathematischen Sätzen) zur Diskussion. 10 Vgl. z. B. Hegels gegen das Vernunftrecht gewendeten Formalismus-Vorwurf in seinem Naturrechtsaufsatz. – Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: GW 4, 430 – 449.
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
seits zu begreifen können vorgibt, zukommt, d. h. ob ein solcherart angesprochenes Naturrecht letztlich nicht notwendig als schale Projektion der Vernunft selbst zu demaskieren sei, kann hier lediglich angezeigt werden. Wenn demnach schon den grundlegenden Formen der Naturrechtslehre eine logische Fundierung vorhergeht, dann verbietet der Naturrechtsgedanke gleichermaßen einen geschichtsphilosophischen Aufschluß, wie ihn z. B. auch Leo Strauss mit Blick auf restituierte Theorien des Naturrechts zurückgewiesen hat.11 Was eine ausschließlich auf die Naturrechtskonzeption bezogene historische Perspektive dann nur noch einholen könnte, wäre die Ablösungsdynamik vereinzelter naturrechtlicher Entwürfe – wiewohl diese jedoch sehr wohl auf ihre Logizität hin befragt werden können.12 Wenn jedoch in der frühen Neuzeit die Idealität des Naturrechtskonzepts13 die praktische Vernunft zu einer spekulativ verfaßten Rechtsphilosophie verleitet in dem Interesse, die Sphäre des Moralischen von theonomischen Versicherungen zu lösen, verschärft sich die Problemlage der angekündigten Untersuchungen noch weiter: Denn so erzeugt das unterschiedliche Relief aufklärerischer Naturrechtsdebatten einen Indikator für das jeweilige theoretische Niveau einer letztlich projektierten autonomen Moral, da ein weltlicher, d. h. enttheologisierter Rechtsbegriff vorausgesetzt ist. Demgemäß kommt den Naturrechtsdebatten ein funktionaler Stellenwert zu. Zwar gerät einerseits ein nicht mehr theologisch begründetes, gleichwohl aber auch noch nicht individuiertes Recht zur natürlichen Fessel der Vernunft; andererseits jedoch wird eben diese Vernunft gleichsam in neuer Weise mit den Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens verbunden. Vorliegendes Projekt wird zu untersuchen haben, in welcher Weise die entsprechenden Einflußbereiche zu gewichten sind. Bislang ist ein reduzierter, d. h. undialektischer Begriff von Naturrecht beschrieben worden, weil nämlich die Extension seiner einerseits nationalen bzw. theologie-politischen sowie andererseits rein philosophischen, vernunftrechtlichen Signatur noch nicht dezidiert ins Blickfeld gerückt ist; gleiches gilt für das Problem der Natur.14 Strikt vernunftgeleitet mag das Naturrecht in seiner vorgeblichen Allgemeinheit von schlichter Neutralität, dessen Konkretion von der jeweils gewählten Methode abhängig ist, erscheinen15 – doch just dieses Charakteristikum führt die Siehe: Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. A.a.O. I f.; 10 – 82. Siehe: Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. A.a.O. 13 »Die schwerste Aufgabe jeder Rechtsphilosophie besteht darin, den Knotenpunkt aufzuzeigen, der die Positivität mit der Idealität verbindet, ohne daß das eine Element das andere vernichtet. Im dialektischen Spannungsfeld des Rechts zwischen Positivität und Idealität nimmt die idealistische Naturrechtslehre einseitig zugunsten der Idealität Partei. Ihr Grundgebrechen ist es, die Positivität des Rechts zu gefährden oder gar zu zerstören, ohne wirklich allgemeingültige, materiale Rechtswertstrukturen aufgefunden zu haben.« – Siehe: Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. A.a.O. 122. – Siehe ebenso: Heinz Wagner: Art. »Naturrecht«. – In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Herausgegeben von Hans Jörg Sandkühler. Band 3. Hamburg 1990. 530 f. 14 Siehe hierzu: 1.3.: Das physikalische Naturgesetz in der Frühen Neuzeit. 15 Siehe z. B.: Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert. A.a.O. 178 – 193; 205 – 214. 11
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1. Kapitel · Theoretische Umgebung und wissenschaftsgeschichtliche Einordnung
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Naturrechtskonzeptionen von der frühen Neuzeit bis zur Hochaufklärung des späten 18. Jahrhunderts dahin, die Thron- und Altarfesseln peu à peu zu lockern und schließlich zu lösen. Insofern kommt es nicht von ungefähr, daß insbesondere die französische Auflärung einen atheistischen und materialistischen Ausgang nimmt,16 ist doch die Relevanz, welche für das alte Frankreich (Ancien Régime) die rituelle Allianz von Königtum und Kirche bedeutet, im übrigen Europa beispiellos. Im Frankreich der Kapetinger garantiert diese Interdependenz von Weihe des Königtums und politischem Schutz für die Kirche den Frieden zwischen den Königen und Bistümern. Anders dagegen im Reich, wo der Investiturstreit zum Dissenz zwischen bischöflicher und kaiserlicher Gewalt führt, oder auch in England, wo der Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket (1118 – 1170), fällt. 1.2 Epistemologische Interferenzen 1.2.1 Theologie-politische Aspekte Doch welche Folgen haben die theologie-politischen Voraussetzungen des mittelalterlichen Europas für die Naturrechtsdebatten der frühen Neuzeit? Dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 48), der eingedenk der Spätphase des sog. Pantheismusstreites in Deutschland ebenso ›Streit um die göttlichen Dinge‹ genannt werden könnte, geht ein sich im Zuge der Gegenreformation verschärfender politischer Konflikt unter den Reichsständen voraus, was zur Bildung der protestantischen Union (1608) und der katholischen Liga (1609) führt. Besonders in Böhmen wächst der Widerstand gegen das deutsche Fürstenhaus Habsburg, für einige Jahrhunderte das dominierende Adelsgeschlecht Mitteleuropas, und verursacht einen Aufstand der protestantischen Stände (Zweiter Prager Fenstersturz [1618]).17 Dieses Ereignis Dies zeigt das Beispiel D’Holbachs im 4. Abschnitt des III. Teils der vorliegenden Untersuchung. 17 Nach dem Tod des Habsburgers Rudolf II. (1552 – 1612, Rudolf V., Erzherzog von Österreich), von 1576–1612 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, der vorwiegend an zeitgenössischer Kunst und Wissenschaft interessiert und in Verbindung steht mit Tycho Brahe und Johannes Kep ler (in lateinischer Sprache erscheinen die von Kepler herausgegebenen Rudolfinischen Tafeln auf Basis der Beobachtungen Brahes, die der Berechnung des Laufs der Sonne, des Mondes und der Planeten dienen), wird die Glaubensfreiheit in Böhmen von dessen Bruder Matthias (1557 – 1619, Reichskaiser von 1612–1619, der bereits seit 1608 König von Ungarn und seit 1611 auch von Böhmen ist) immer weiter eingeschränkt. Unzufriedene protestantische Adlige ziehen am 23. Mai 1618 auf die Prager Burg und werfen nach einer improvisierten Gerichtsverhandlung die in der Hofkanzlei anwesenden (katholischen) kaiserlichen Statthalter Jaroslav Borsita Graf von Martinitz (1582 – 1649; während der Zeit des »Bruderzwistes« zwischen Rudolf II. und Matthias, der von den Habsburgern eingesetzt wird, zieht sich Martinitz diplomatisch geschickt aus der aktiven Politik zurück und widmet sich ausschließlich dem Kampf gegen die protestantischen Stände Böhmens) und Vilém Slavata (1572 – 1652; konvertierte bereits in jungen Jahren zum Katholizismus) aus einem Fenster im 2. Stock aus ca. 20 m Höhe; anschließend ereilt den Schreiber Fabritius das gleiche Schicksal. Alle drei überleben, weil sie – so die (mittlerweile jedoch entkräf16
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
markiert den Beginn des Aufstands der böhmischen Protestanten gegen die katholischen Habsburger; es wird oftmals als Beginn des Dreißigjährigen Krieges bezeichnet.18 Barbara Stollberg-Rilinger differenziert jedoch: »Die Bezeichnung ›Dreißigjähriger Krieg‹ suggeriert ein gleichmäßiges Kriegsgeschehen über drei Jahrzehnte hinweg. Das ist irreführend: Vielmehr handelte es sich um ein ganzes Bündel verschiedener miteinander verflochtener militärischer Konflikte, die teils schon vorher begonnen hatten, wie der niederländisch-spanische Krieg (seit 1568), teils mit dem Westfälischen Frieden nicht aufhörten, wie der spanisch-französische Krieg (bis 1659). Dennoch nahmen schon Zeitgenossen dieses komplexe Geschehen als Einheit wahr und bezeichneten es als den ›Teutschen Krieg‹.«19 Religiöser Dissens, Widerstand der Reichsstände gegen den habsburgischen Absolutismus sowie das Eingreifen außerdeutscher Mächte machen Deutschland zum Schauplatz eines europäischen Machtkampfs, was einen kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch nach sich zieht, so daß es ca. 40 % seiner Bevölkerung und des Volksvermögens verliert.20 Andererseits beweist der in Deutschland ausgefochtene Dreißigjährige Krieg die Notwendigkeit eines staatlich geschützten Wiederaufbaus21 und führt damit zu dem Problem der Verbindung von Staat und Wirtschaft, welche für das deutsche Staatsdenken bedeutsam wird. Als letzter der europäischen Religionskriege befördert er die neuzeitliche Idee überkonfessioneller Staatsräson, wenngleich er – zumindest in seinen frühen Jahren – zum Teil als der Versuch des katholischen Reiches anzusehen ist, die protestantischen Reformen rückgängig zu machen.
tete) Legende – auf einen Misthaufen unter dem Fenster fallen. Fabritius wird später geadelt und erhält den Namenszusatz von Hohenfall. 18 Siehe z. B.: Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse · Institutionen · Personen. Von den Anfängen bis zur Kapitulation 1945. Unter Mitarbeit von Historikern und Archivaren herausgegeben von Gerhard Taddey. 3., überarbeitete Auflage Stuttgart 1998. 996. (Sigle: LdG) 19 Siehe: Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806. München 2006. 73. 20 Zu den Bevölkerungsverhältnissen des Reichs zu Beginn der Neuzeit siehe: Horst Rabe: Deutsche Geschichte 1500 – 1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung. München 1991. 42 – 48. – Über die besonders in Großstädten Gesamteuropas der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wütenden Pestherde (neben der Pest und der Ruhr müssen damals auch die bekannten Infektionskrankheiten Fleckfieber, Grippe, Pocken und Masern hinzugerechnet werden) informiert am Beispiel der deutschen Städte Augsburg und Nürnberg: Manfred Vasold: Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. München 1991. 124 ff. – Noch 1664 wütet in Spinozas Niederlanden die Pest und rafft zahlreiche Menschen hinweg. 21 »Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts ist Deutschland alles andere als ein geschlossener Bereich. Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges sind – zumindest politisch – allererst sichtbar geworden: Politische Zerstückelung in 1500 kleine, selbständige Herrschaftsgebiete mit etwa 100 Fürsten, ›Staaten‹, die zum größten Teil nur winzige Gebilde sein konnten. Politische Ohnmacht der Kaisers, dessen Versuch, die Zentralgewalt des Staates zu erlangen, im Dreißigjährigen Krieg gescheitert war.« – Siehe: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Emanzipation durch Unterwanderung. Institutionen und Personen der Deutschen »Frühaufklärung«. – In: Paul Raabe/Wilhelm SchmidtBiggemann (Hgg.): Aufklärung in Deutschland. Bonn 1979. 46.
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Stets gesondert zu betrachten ist das jüdische Leben. »Im 17. Jahrhundert war die Stellung der deutschen Juden einfach. Sie wurden als ungleiche ›Partner‹ bei einer Transaktion behandelt, in der ihnen ein Herrscher einen Platz zum Wohnen und zum Arbeiten zur Verfügung stellte und die Juden für das Privileg ihrer Duldung Schutzgeld zahlten. In jener Epoche sahen die Juden und ihre Herrscher sich als Beteiligte an einem Austausch von Dienstleistungen, ungetrübt von philosophischen Erwägungen. Noch hatten sich keine Ideen von Toleranz, Menschenrechte und wechselseitige moralische Verpflichtungen herausgebildet, die eine klar umrissene, wenn auch einseitige Geschäftsbeziehung hätten stören können.«22 Erst im Oktober 1781 scheinen Moses Mendelssohns seit langen Jahren erhobene Forderungen in die Tat umgesetzt, wie die beiden ersten auf dem europäischen Kontinent verbrieften Toleranz-Erlasse dokumentieren: 1. Das Josephinische Toleranzpatent23 (1781) im katholischen Habsburger Reich; es folgen zwei weitere Patente 1782 bzw. 1785. Die Erlasse gehen zurück auf Kaiser Joseph II. (1741 – 1790). Das Patent des Jahres 1781 ermöglicht den durch den Westfälischen Frieden anerkannten protestantischen Kirchen (Lutheranern und Reformierten) sowie den Orthodoxen in den Habsburger Kronländern erstmals seit der Gegenreformation wieder die Religionsausübung (die Böhmischen oder Mährischen Brüder bleiben allerdings weiterhin illegal); de facto bleibt die praktische Ausübung allerdings an Auflagen gebunden. Das Patent gesteht auch den Juden Böhmens größere Freiheiten in der religiösen Praxis zu; ab Januar 1782 soll auch den österreichischen Juden gesellschaftliche Gleichstellung mit Bürgern anderer Konfessionen garantiert werden. Das Patent des Jahres 1785 schließlich legalisiert die Freimaurerei. Bereits im September 1781 erscheint das Werk Über die bürgerliche Verbesserung der Juden des preußischen Kriegsrats und Historikers Christian Wilhelm Dohm (1751 – 1820), eines Mannes christlicher Konfession und Freundes Friedrich Heinrich Jacobis (1743 – 1819). Diese günstige sozio-religiöse Großwetterlage ermutigt beispielsweise Moses Mendelssohn zu einer deutschen Übersetzung der Schrift Vindiciae Judaeorum (1656) des damals weithin bekannten Amsterdamer Rabbiners Menasse ben Israel (1604 – 1657), welche eine Ausräumung der Vorurteile gegen Juden beabsichtigt und einen Widerruf der 1260 erfolgten Austreibung der Juden aus England erreichen will. Über Menasse wird im Inneren näheres mitgeteilt, wenn es um Spinoza geht.
Siehe: Ruth Gay: Geschichte der Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg. München 1993. 93. – Ein weites Panorama entwirft: Wolfgang Schmale: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma. München 1997. (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution. Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer. 30) 23 Siehe: Christoph Link: Josephinische Toleranzpatente (1781) und Wöllnersches Religionsedikt (1788). – In: Harm Klueting (Hg.): Irenik und Antikonfessionalismus im 17. und 18. Jahrhundert. Hildesheim/New York 2003. 295 – 324. 22
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
2. Das Woellnersche Religionsedikt24 (9. Juli 1788) unter König Friedrich Wilhelm II. (1744 – 1797) im protestantischen Preußen. Der Hallenser Theologe Johann Christoph von Woellner (auch: Wöllner, 1732 – 1800) ist 1788 bis 1797 Justizminister unter Friedrich Wilhelm II. 1753 wird Woellner Hofmeister bei der Familie des preußischen Adelsgeschlechts von Itzenplitz in Groß-Behnitz (Mark Brandenburg), zwei Jahre später Prediger. 1762 übernimmt er die Pacht des Itzenplitzschen Gutes und beschäftigt sich auch wissenschaftlich intensiv mit der Landwirtschaft. Seine nicht-standesgemäße Heirat mit der einzigen Tochter des Hauses vier Jahre später wird durch das Eingreifen des früheren Kurfürsten von Brandenburg, seit 1777 jedoch Preußischen Königs Friedrich II. (1712 – 1786) beinahe verhindert. 1765 tritt Woellner dem Freimaurerorden bei, den er aber nach vierzehn Jahren wieder verläßt, da ihm auch ein hohes Amt nicht den erhofften Einblick in die vermeintlichen Geheimlehren des Ordens verschafft. Nun tritt er den Rosenkreuzern bei und macht Bekanntschaft mit Johann Rudolf von Bischoffwerder (1741 – 1803). Nach 1781 gehört auch der Prinz von Preußen und spätere König Friedrich Wilhelm II. dem Orden an. Der auf die eigene politische Laufbahn bedachte Woellner gewinnt sein Vertrauen und avanciert zu seinem wichtigsten Lehrer. Freilich übt er in seinen thematisch breit gefächerten Vorträgen scharfe Kritik am friderizianischen System und macht Verbesserungsvorschläge, die nicht selten in die Richtung der zwanzig Jahre später verwirklichten Reformen weisen. So fordert er z. B. eine Lockerung der staatlichen Wirtschaftslenkung und eine Befreiung der Bauern von deren die Stärke Preußens untergrabender Doppelbelastung durch Militärdienst und Steuern. Im Zentrum aber steht die Ablehnung der Prinzipien der Aufklärung, die Woellner mit dem Kronprinzen teilt: Eine in ihren Augen die Moral untergrabende Religionskritik solle untersagt werden – eine weltanschauliche Haltung, die mit Blick auf Woellners Willen zur Durchsetzung gesellschaftspolitischer Reformen (die sich auch auf das Bauwesen, die allgemeine und die Finanzverwaltung erstrecken) dessen widersprüchliche Überzeugungen aufdeckt. 1788, zwei Jahre nach Woellners Erhebung in den Adelsstand und der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms, wird er zum Minister des »Geistlichen- und Unterrichtswesens« ernannt. In dieser Funktion setzt er das (wie es später genannt wird) Woellnersche Religionsedikt durch, das u. a. Kritik an den drei Hauptkonfessionen (römisch-katholisch, lutheranisch und reformiert) verbietet. Die Zensurmaßnahmen der Immediatexamenskammer25 des Kabinetts, welche die DurchsetSiehe: Hans-Jürgen Becker: Wöllnersches Religionsedikt. – In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG). Band V, 38. Lieferung. Berlin 1995. Sp. 1516 – 1519. 25 Die Königliche Examinations-Commission in geistlichen Sachen (IEK) wird von Friedrich Wilhelm II. durch Kabinettsorder an Minister Woellner am 14. Mai 1791 eigens zur Einhaltung und Kontrolle des von Woellner veranlaßten Religionsedikts eingeführt. Ziel ist die Reglementierung religiöser und geistiger Aktivitäten. Über das Edikt bestimmt bislang ein Oberkonsistorium, das mit dem Entschluß vom 14. Mai 1791 gleichzeitig um drei Räte erweitert wird; dazu zählen: der Breslauer Oberkonsistorialrat Hermann Daniel Hermes (1731 – 1807), Hofrat Gottlob Friedrich Hillmer (1756 – 1835) ebenfalls aus Breslau und der Prediger Theodor Carl Georg Wolters24
1. Kapitel · Theoretische Umgebung und wissenschaftsgeschichtliche Einordnung
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zung überwacht, betreffen u. a. auch Immanuel Kant, den Autor der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793, 21794). Der als deutscher Freigeist verdächtigte evangelische Theologe Carl (Karl) Friedrich Bahrdt (1741 – 1792), Schüler des Christian August Crusius (1715 – 1775), sieht sich auf Grund der neuen Reglementierungen gezwungen, sein Lehramt niederzulegen.26 Aber auch der Günstling Woellner wird nach dem Tod seines Königs 1797 abgesetzt. Drei Jahre später stirbt er auf seinem Gut Beeskow in der Mark Brandenburg. 1.2.2 Theologische Aspekte Der Bezugspunkt ethischer Reflexionen liegt zu Beginn der frühen Neuzeit nicht mehr in Gott oder den Göttern, d. h. einer jenseitigen Macht oder Größe – christlich gewendet: der Offenbarung und dem Glauben an das durch sie Verkündete –, sondern im Menschen. Eine christliche Ethik fordert vom Menschen keine eigene, auf Wissen und Erkenntnis gegründete ethische Reflexion und Entscheidung, sondern zuvörderst gläubigen – freilich auf vernünftiger Entscheidung gegründeten – Gehorsam und bedingungslose Unterwerfung.27 Zum anderen bleibt eine christliche Ethik theoretisch unfähig, ihre Grundsätze und Forderungen aus sich selbst, d. h. theoretisch zu generieren; daher kann sie diese auch nicht begründen. Das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft als solches wird nicht thematisiert, da allein das Verhältnis zwischen Gott und Mensch (religio) in den Blick genommen wird. So gesehen nimmt es nicht wunder, daß die Ethik keinen selbständigen Bereich mittelalterlicher Theologie ausmacht: Sie ist Bestandteil der Dogmatik. Eine philosophische Ethik, die das Wechselverhältnis zwischen Mensch (Individuum) und Gesellschaft behandelt, entwickelt sich – selbstverständlich in Konfrontation mit der theologischen Fundierung der Ethik – erst wieder im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus mit dem Ziel der Wiedergewinnung der geistigen und moralischen Autonomie und Freiheit der menschlichen Persönlichkeit sowie der Ablehnung der Unterwerfung der menschlichen Person unter den theologischen Totalitätsanspruch. Die Loslösung der Ethik aus den Fesseln der Theologie voll-
dorff (1727 – 1806) aus Berlin. Das IEK soll von drei Räten geleitet werden. Es hat fortan die Aufgabe, Pfarramts- und Schulamtskandidaten dahingehend zu überprüfen, ob sie »nicht von den schädlichen Irrthümern der jezzigen Neologen und sogenannten Aufklärer angesteckt«. – Siehe ausführlicher: Udo Krolzik: Das Wöllnerische Religionsedikt. – In: fachpublikation.de 26 In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Bahrdt-Literatur – auch anläßlich Bahrdts 200. Todesjahres – um einige hilfreiche Werke ergänzt worden. – Siehe: Gerhard Sauder/Christoph Weiß (Hgg.): Carl Friedrich Bahrdt (1740 – 1792). St. Ingbert 1992; Otto Jacob/Ingrid Majewski: Karl Friedrich Bahrdt, radikaler deutscher Aufklärer (25.8.1740 – 23.4.1792). (Bibliographie) Halle a. d. Saale 1992; Hans-Helmut Lößl: Karl Friedrich Bahrdt an den Philanthropinischen Anstalten zu Marschlins und Heidesheim (1775 – 1779). Berlin 1998. 27 Hobbes nennt hier: Kol 3,20; 3,22; Mt 23,2 f.; Tit 3,1. – Siehe: Thomas Hobbes: L 174 f. – Hierin unterscheidet er sich nicht von Spinoza. – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 160.
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
zieht sich insbesondere bei Thomas Morus (engl. Thomas More, englischer Staatsmann und humanistischer Autor, Heiliger der Römisch-Katholischen Kirche, 1478 – 1535), Tommaso Campanella (eigentl. Giovanni Domenico, italienischer Philosoph, Dominikaner, Dichter und Politiker, 1568 – 1639), Giordano Bruno (eigentl.: Filippo Bruno, italienischer Dichter und Philosoph, 1548 – 1600), Michel Eyquem de Montaigne (1533 – 1592) und Pierre Charron (1541 – 1603). Die mit dem 16. Jahrhundert einsetzende Schwächung des theologischen Naturrechts hat v. a. damit zu tun, daß die Theologen ihren alleinigen legitimen Zuständigkeitsbereich für das Naturrecht in Frage stellen müssen: »Die Geschichte der Naturrechtslehre ist am allerwenigsten eine diskontinuierliche Abfolge widersprechender Lehren, sondern schreitet in der Aufeinanderfolge neu auftauchender und neu zu bewältigender sachlicher Aufgaben fort. Die Zeit des theologischen Naturrechts war erfüllt und, wie es in sich selbst zu immer stärkerer Säkularisierung gedrängt wurde, so mußte es durch die erreichte sachliche Problemstellung in neue Hände übergehen.«28 Die Diskussionen um das wie gesehen durch konfessionelle Grabenkämpfe in die Krise geratene Naturrecht nehmen verschiedene Formen an. Der Zweite Reichstag zu Speyer (19. April 1529)29 ist nicht zu Unrecht »ein Meilenstein auf dem Wege zu neuzeitlicher Gewissensfreiheit« genannt worden; er ist aber auch »eine Wegmarke in der Geschichte der Intoleranz gegenüber Andersgläubigen und Nonkonformisten, sofern diese ohne politischen Schutz und Rückhalt waren.«30 Das Mandat, das in Deutschland die Todesstrafe gegen Täufer reichsrechtlich verfügt, vermag auch nicht durch den bereits erwähnten Widerstand der evangelischen Reichsstände gegen die Erneuerung des Wormser Edikts verhindert werden; insofern könnte der Speyerer Reichstag als Geburtsstunde des Protestantismus verstanden werden. Doch erst mit dem Augsburger Reichsabschied am 25. September 155531 (nicht selten, dafür jedoch um so weniger berechtigt Siehe: Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. A.a.O. 110. Sechs Fürsten (Kurfürst Johann von Sachsen, Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg, Franz, Markgraf Georg von Brandenburg, Landgraf Philipp von Hessen, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg und Fürst Wolf zu Anhalt) und vierzehn Reichsstädte (Augsburg, Heilbronn, Isny, Kempten, Konstanz, Lindau, Memmingen, Nördlingen, Reutlingen, St. Gallen, Straßburg, Ulm, Weißenburg und Windsheim) treten am 19. April 1529 in Speyer in ihrer Eigenschaft als Vertreter der protestantischen Minderheit gegen die Verhängung der Reichsacht gegen Martin Luther sowie die Ächtung seiner Schriften und Lehre ein. Ihre Forderung: die ungehinderte Ausbreitung des evangelischen Glaubens. Der Anlaß dieser Invektive ist eindeutig identifizierbar: Auf dem vormaligen Speyerer Reichstag (1526), der Einigkeit darüber erzielt, ein jeder (Fürst) solle es mit der Religion so halten, wie er es vor König und Gott rechtfertigen könne, wird das zuvor ausgesetzte Wormser Edikt (1521), das den Bann über Martin Luther verhängt, restituiert. Doch die protestantischen Fürsten halten es für sakrosankt, per Mehrheitsbeschluß verfügen zu wollen, welche Religion zu wählen sei. – Kaiser Karl V. hat die religiöse Uneinigkeit zwischen katholischer Mehrheit und evangelischer Minderheit auf dem 2. Reichstag zu Speyer beenden wollen. Die »lutherische Ketzerei« und der daraus entstandene Religionsstreit widersprechen seinen politischen Plänen. 30 Siehe: Hans-Jürgen Goertz: Die Täufer. Geschichte und Deutung. München 1988. 121. 31 Inwieweit dieses Datum eine wichtige Zäsur für das nahende Ende des deutschen Univer28
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1. Kapitel · Theoretische Umgebung und wissenschaftsgeschichtliche Einordnung
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salreichs Karls V. darstellt, zeigt Alfred Kohler in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hgg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519 – 1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990. 50 – 54. – Die für unser Thema zentralen Paragraphen des Augsburger Reichsabschieds lauten: »§ 9. Als sich aber gleich alsbald in der Berathschlagung eräugt, daß nach Grösse und Weitläufftigkeit dieser Tractation über die Hauptarticul und Sachen Unsers Heiligen Christlichen Glaubens, Ceremonien und Kirchen-Gebräuchen die endliche Vergleichung dieses trefflichen Articuls in weniger Zeit nicht wol zu finden, und dann alle Gelegenheiten sich dermassen ansehen lassen, daß noch wol allerhand Unruhe und Kriegs-Empörungen, dadurch gemeine Sicherheit gestöhret werden, im H. Reich Teutscher Nation entstehen, dadurch auch, wo nicht zuvor ein beständiger Fried, Execution und Handhabung desselben im H. Reich aufgericht, die Stände und Bottschafften von solcher fürgenommener heilsamer Tractation und Berathschlagung wol abgehalten oder verhindert werden mögen. § 10. So ist durch die Stände, Bottschafften und Gesandten aus jetzterzehlten Bedencken und erheischender Noth für rathsam, fürträglich und nothwendig angesehen, auch Uns in Unterthänigkeit vermeldet, daß die Tractation dieses Articuls der Religion auf andere gelegene Zeit einzustellen. […] § 15. […] so sollen die Kayserl. Maj., Wir, auch Churfürsten, Fürsten und Stände des H. Reichs keinen Stand des Reichs von wegen der Augspurgischen Confession und derselbigen Lehr, Religion und Glaubens halb mit der That gewaltiger Weiß überziehen, beschädigen, vergewaltigen oder in andere Wege wider sein Conscientz, Gewissen und Willen von dieser Augspurgischen Confessions-Religion, Glauben, Kirchengebräuchen, Ordnungen und Ceremonien, so sie aufgericht oder nochmals aufrichten möchten, in ihren Fürstenthumen, Landen und Herrschafften tringen oder durch Mandat oder in einiger anderer Gestalt beschweren oder verachten, sondern bey solcher Religion, Glauben, Kirchengebräuchen, Ordnungen und Ceremonien, auch ihren Haab, Gütern, liegend und fahrend, Land, Leuthen, Herrschafften, Obrigkeiten, Herrlichkeiten und Gerechtigkeiten ruhiglich und friedlich bleiben lassen, und soll die streitige Religion nicht anders dann durch Christliche, freundliche, friedliche Mittel und Wege zu einhelligem, Christlichem Verstand und Vergleichung gebracht werden, […]. […] § 18. […] Wo ein Ertzbischoff, Bischoff, Prälat oder ein anderer Geistliches Stands von Unser alten Religion abtretten würde, daß derselbig sein Ertzbistumb, Bistumbe, Prälatur und andere Beneficia, auch damit alle Frucht und Einkommen, so er davon gehabt, alsbald ohn einige Verwiderung und Verzug, jedoch seinen Ehren ohnnachtheilig, verlassen, auch den Capituln, und denen es von gemeinen Rechten oder der Kirchen und Stifft Gewohnheiten zugehört, ein Person, der alten Religion verwandt, zu wehlen und zu ordnen zugelassen seyn, […]. […] § 20. Damit auch obberührte beederseits Religions-Verwandte so viel mehr in beständigem Frieden und guter Sicherheit gegen und bey einander sitzen und bleiben mögen, so soll die geistliche Jurisdiction […] wider der Augspurgischen Confessions-Verwanten Religion, Glauben, Bestellunge der Ministerien, Kirchengebräuchen, Ordnungen und Ceremonien, so sie uffgericht oder uffrichten möchten, biß zu endlicher Vergleichung der Religion nicht exercirt, gebraucht oder geübt werden, sondern derselbigen Religion, Glauben, Kirchengebräuchen, Ordnungen, Ceremonien und Bestellung der Ministerien […] ihren Gang lassen, und kein Hindernus oder Eintrag dardurch beschehen, und also hierauf, wie obgemeldt, biß zu endlicher Christlicher Vergleichung der Religion die geistliche Jurisdiction ruhen, eingestellt und suspendirt seyn und bleiben […]. […] § 24. Wo aber Unsere, auch der Churfürsten, Fürsten und Stände Unterthanen der alten Religion oder Augspurgischen Confession anhängig, von solcher ihrer Religion wegen aus Unsern, auch der Churfürsten, Fürsten und Ständen des H. Reichs Landen, Fürstenthumen, Städten oder Flecken mit ihren Weib und Kindern an andere Orte ziehen und sich nieder thun wolten, denen soll solcher Ab- und Zuzug, auch Verkauffung ihrer Haab und Güter gegen zimlichen, billigen Abtrag der Leibeigenschafft und Nachsteuer, wie es jedes Orts von Alters anhero üblichen, herbracht und gehalten worden ist, unverhindert männiglichs zugelassen und bewilligt, auch an ihren Ehren und Pflichten allerding unentgolten seyn. Doch soll den Oberkeiten an ihren Gerechtigkeiten und Herkommen der Leibeigenen halben, dieselbigen ledig zu zehlen oder nicht, hiedurch nichts ab-
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
auch Religionsfrieden32 genannt) wird in Deutschland Mehrkonfessionalität rechtlich abgesichert (»cuius regio, eius religio«33): Die reichsrechtliche Anerkennung der evangelischen Kirchen und v. a. auch der Schutz des Landfriedens für die beiden großen Bekenntnisse im Reich sollen garantiert sein – wenngleich dieser Beschluß effektiv sicherlich nicht gerade einheitsstiftend gewirkt haben mag.34 Eine Besinnung auf diese Verflechtungen mag die komplizierte Textur jedweder theonom veranlagten Rechtsfundierung ermessen können, welcher Dogmenkatalog der zu Gebote stehenden sowohl christlichen (Katholizismus, reformierter Protestantismus, Calvinismus [bzw. die fundamentalistische Form des Protestantismus: der englische Puritanismus], Pietismus etc.) als auch jüdischen Religionsgestalten denn zum gültigen Maßstab zu erheben sei. Der erste seriöse Biograph Spinozas, Jacob Freudenthal, gibt beispielsweise zu bedenken: »Es gab zu Spinozas Zeit in Holland gar viele christliche Sekten. Da waren zunächst die Calvinisten oder Anhänger des orthodoxen reformierten Bekenntnisses, das zum herrschenden in den nördlichen Staaten der Niederlande geworden war. Da waren Lutheraner, Remonstranten, Quäker, Sozinianer, Mennoniten, Kollegianten. Mit Mitgliedern der zuletzt genannten Sekte verkehrte er [Spinoza, H. G.] besonders gern, und ihren religiösen Uebungen wohnte er bei, noch bevor er sich vom Judentum angelöst gebrochen oder benommen seyn. […] § 25. […] so haben Wir […] diese löbliche Nation vor endlichem, vorstehendem Untergang zu verhüten, und damit man desto ehe zu Christlicher, freundlicher und endlicher Vergleichung der spaltigen Religion kommen möge, bewilligt, solchen Frieden in allen obgeschriebenen Articuln biß zu Christlicher, freundlicher und endlicher Vergleichung der Religion und Glaubens-Sachen stät, fest und unverbrüchlich zu halten und demselben treulich nachzukommen. Wo dann solche Vergleichung durch die Wege des General-Conciliums, National-Versammlung, Colloquien oder Reichs-Handlungen nicht erfolgen würde, soll alsdann nicht destoweniger dieser Friedstand in allen oberzehlten Puncten und Articuln bey Kräfften biß zu endlicher Vergleichung der Religion und Glaubens-Sachen bestehen und bleiben und soll also hiemit obberührter Gestalt und sonst in alle andere Wege ein beständiger, beharrlicher, unbedingter, für und für ewig währender Fried aufgericht und beschlossen seyn und bleiben.« – Siehe: Arno Buschmann: Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten. Teil I: Vom Wormser Konkordat 1122 bis zum Augsburger Reichsabschied von 1555. Baden-Baden 21994. 221 – 227. – Zur Vorgeschichte des 1555er Reichsabschieds siehe Johannes Brosseders Bemerkungen zum »ökumenischen« Augsburger Reichstag (1530) in: Johannes Brosseder: Martin Luther. – In: Klassiker der Theologie. Band I. Von Irenäus bis Martin Luther. Herausgegeben von Heinrich Fries und Georg Kretschmar. München 1981. 299 – 302. 32 Über Kompromisse und Reichweite dieses Beschlusses informiert: Horst Rabe: Deutsche Geschichte 1500 – 1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung. A.a.O. 454 – 458. 33 Die genannte Formel gehört allerdings noch nicht zum Vertragstext; der Greifswalder Kanonist Joachim Stephani (1544 – 1623) prägt sie später. – Siehe: LdG, 72. 34 Bereits die erste von insgesamt drei Tagungsperioden des bereits in der Vorbereitung heftig umstrittenen Tridentinischen Konzils (1545 – 48), welche zunächst die für die Abgrenzung gegenüber dem Protestantismus essentiellsten dogmatischen Entscheidungen fällt (die zu bezeugen bemerkenswerter Weise kein Evangelischer hinzugezogen wird), vermag wenig – gar Innerkatholisches! – zur politisch-theologischen Union Deutschlands beizutragen. – Siehe: 3RGG VI, Art. »Tridentinum«. 3. a). Sp. 1014. – Siehe ebenso: Martin Greschat: Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit 1491 – 1551. München 1990. 214 – 218.
1. Kapitel · Theoretische Umgebung und wissenschaftsgeschichtliche Einordnung
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hatte.«35 Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang zudem spezielle Ausschlußstrategien. So unterstellt z. B. Pierre Bayle Mohammedanern sowie Deisten Dummheit oder gar Wahnsinn – gemäß der Naturrechtslehre Spinozas ein Unding.36 Andere wiederum, wie beispielsweise Heinrich Oldenburg, ein wichtiger Briefpartner Spinozas, denkt um 1675 daran, die Bibel ins Türkische übersetzen zu lassen: Die Mohammedaner sollen bekehrt werden. Ein gegen diese Vielfalt religiösen Praktizierens in Anschlag gebrachter säkularer Naturrechtsgedanke kann jedoch ob eines allzu differenzierten Anforderungsprofils seiner theoretisch-praktischen Bündelung verlustig gehen. Zudem scheint gerade solcher Facettenreichtum religiösen Erlebens zu indizieren, daß die frühaufklärerische Berufung auf eine substantielle Anonymität des Naturrechts im Gegensatz zur individualistischen Retraktion theonomer Beanspruchung benachteiligt ist. So gesehen steht das Naturrechtsargument, will es eine ›lebendige‹ Alternative sein, in der Pflicht, sich seiner drohenden Sprödigkeit zu erwehren. Auch Werner Schneiders hat (quasi mit Hegel) darauf hingewiesen, »vor allem im deutschen Luthertum« sei eine religiöse Vorgeschichte der begrenzten Freisetzung des Individuums zu suchen.37 Im Kern dieses Problemverbunds (Stichwort: Gewissen) verbirgt sich tatsächlich eine besonders fruchtbare Keimzelle für die spätere Philosophie der Subjektivität der Klassischen Deutschen Philosophie, die in Hegels Wissenschaft der Logik ihren spekulativen Höhepunkt erreicht.38
Siehe: Jacob Freudenthal: Spinoza. Sein Leben und seine Lehre. Erster Band. Das Leben Spinozas. Stuttgart 1904. 64. (Sigle: SL) 36 »Dabei erkenne ich keinen Unterschied an zwischen Menschen und anderen natürlichen Individuen, auch nicht zwischen vernunftbegabten Menschen und anderen, die die wahre Vernunft nicht kennen, noch zwischen Blödsinnigen oder Geisteskranken und geistig Gesunden [»inter fatuos, delirantes et santos«]. Denn was jedes Ding nach den Gesetzen seiner Natur tut, das tut es mit höchstem Recht, weil es nämlich handelt, wie es von der Natur bestimmt ist, und nicht anders kann.« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 175 f. 37 Siehe: Werner Schneiders: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. »Einleitung«. A.a.O. 17. – »Der reformatorische Grundsatz der religiösen Gewissensfreiheit, der letztlich im Spruch des individuellen Gewissens die Stimme Gottes erblickt, wurde säkularisiert. Dem Sprechen Gottes im individuellen Gewissen wurde die individuelle Vernunft gleichgesetzt und so die absolute Autonomie des Individuums in rechtlicher und politischer Hinsicht verkündet.« – Siehe: Adolf Süsterhenn: Das Naturrecht. – In: Werner Maihofer (Hg.): Naturrecht oder Rechtspositivismus? Wege der Forschung. Bd. XVI. Darmstadt 1966. 9 – 26; hier 14. 38 Siehe z. B.: Klaus Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. – In: Hegel-Studien. Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. Beiheft 15. 3. erweiterte Auflage Bonn 1995. 35
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
2. Kapitel: Ambiguität und Zerfall des dem Anspruch nach einheitlichen Gesetzesbegriffs der frühen Neuzeit 2.1 Die philosophischen, religiösen, juridischen und naturwissenschaftlichen Diversifikationen des Gesetzesbegriffs Neben den bislang verfolgten Verästelungen, welche die frühneuzeitliche praktische Philosophie ausbildet, wird es also wichtig sein, unsere Problemfrage in Orientierung an den geschichtlichen Wandlungen des Gesetzesbegriffs näher zu explizieren. Ein solches Vorgehen scheint besonders mit Rücksicht auf Kant geboten, bildet dessen Moralphilosophie doch den theoriegeschichtlichen Horizont vorliegender Studie. Kant selbst bezieht sich des öfteren nicht nur auf vielerlei Formen des »Gesetzes«, sondern spricht sogar vom »inneren Richterstuhl«39 der Vernunft – auch noch in den kritischen Überlegungen zum »Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht« seiner Spätphilosophie.40 Im modernen Sprachgebrauch bezeichnet das Wort »Gesetz« einen »im Sakralbereich zu verortenden Ursprung als einer Explikation der göttlichen und Weltordnung bis zu der Bedeutung einer falsifizierbaren Hypothese in den modernen Naturwissenschaften«.41 Diese zwei strikt voneinander zu unterscheidenden Phänomene: das Gebot eines Gesetzgebers (Rechtsgesetz) bzw. eine beobachtbare Regelmäßigkeit in der (vernunftlosen) Natur (Naturgesetz), verweisen auf einen Dualismus innerhalb des Gesetzesbegriffs, ja mehr noch: Die Spannweite solcher begrifflichen Extension dokumentiert die Ambiguität des Gesetzesbegriffs. Diese Zweideutigkeit ist das Ergebnis einer komplizierten problemgeschichtlichen Entwicklung in der frühen Neuzeit. Im folgenden beschränken sich die diesbezüglichen Erörterungen bewußt auf Siehe: Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. – In: AA 5. 149 – 163; hier 152. – Zudem: ders.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. – In: AA 7. 117 – 333; hier 145 (»Richterstuhl des Verstandes«). – Sodann: ders.: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. – In: AA 8. 341 – 389; hier 371 (»Richterstuhl« der Staaten). – Schließlich: Immanuel Kant über Pädagogik. – In: AA 9. 437 – 499; hier 495 (das Gewissen als Repräsentant Gottes, »der seinen erhabenen Stuhl über uns, aber auch in uns einen Richterstuhl aufgeschlagen hat«). – Weiterhin: ders.: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl.). – In: AA 4. »Vorrede«. A XI (»Gerichtshof« der Kritik der reinen Vernunft). – Sowie bes.: ders.: Kritik der reinen Vernunft. – In: AA 3. B 697 (der »oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation«: die »Natur unserer Vernunft«); zudem: B 768 (die reine Vernunft, »die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt«). – Darüber hinaus: ders.: Anthropologie. – In: AA 15, II. Hälfte. Reflexion 1553 (der ethische »Richterstuhl seiner eigenen Vernunft« im Gegensatz zum kodifizierten Gesetz eines Herrschers). 40 »Da heißt es dann: wer einmal die Gewalt in Händen hat, wird sich vom Volk nicht Gesetze vorschreiben lassen. Ein Staat, der einmal im Besitz ist, unter keinen äußeren Gesetzen zu stehen, wird sich in Ansehung der Art, wie er gegen andere Staaten sein Recht suchen soll, nicht von ihrem Richterstuhl abhängig machen […].« – Siehe: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant. Anhang. I. Ueber die Mishelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden. Königsberg 1795. 66 – 91; hier 70. 41 Siehe: Rolf Grawert: Gesetz. – In: GG 2. 863 – 922; hier 863. 39
2. Kapitel · Ambiguität und Zerfall des einheitlichen Gesetzesbegriffs
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die Zeitspanne von der frühen Neuzeit bis zur deutschen Hochaufklärung, d. h. bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, um von weiteren Exkursionen über die so ausufernde wie komplexe Geschichte des Rechtsbegriffs von der Antike über die Lex im Römischen Recht, die Germanisch-fränkische Periode bis hin zu dem Alten Recht sowie dem neueren Gesetz im Mittelalter absehen zu können. Auf Perioden dieser Kodifikationspraktiken wird allerdings, so es nötig ist, kursorisch Bezug genommen werden. Noch im 16. Jahrhundert und bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts kann von einem einheitlichen Gesetzesbegriff für das positive Rechtsgesetz und das rechtlichmoralische Naturgesetz gesprochen werden. Jan Schröder führt hierzu aus: »Bis in das frühe 17. Jahrhundert hinein ist der Gesetzesbegriff eine Einheit. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts fällt er auseinander […]. Am Ende dieses Entwicklungsprozesses, um 1800, stehen sich zwei ganz unterschiedliche Begriffe gegenüber: der des positiven Gesetzes einerseits, und der des rechtlich-moralischen und des physikalischen Naturgesetzes andererseits. Die beiden letzten entwickeln sich […] zwischen 1600 und 1800 in vieler Hinsicht parallel.«42 Problemgeschichtlich löst der Begriff des Naturrechts denjenigen des rechtlichmoralischen Naturgesetzes ab. Im Umkreis dieses umgreifenden Naturrechtsbegriffs formieren sich in der Folge eine Vielzahl neuartiger Problemkonstellationen für Theologie, Philosophie und Politik. Insofern erscheint das Urteil, die neuzeitliche Naturrechtslehre setze vielfach die großen Themen der abendländischen Metaphysik fort, irreführend. Theologen und Juristen der frühen Neuzeit setzen das bloße Naturrecht mit dem rechtlich-moralischen Naturgesetz gleich.43 Nach damaligem Verständnis ist aber auch eine zweite Rechtsquelle maßgeblich: das positive Gesetz. Dieses wiederum zerfällt in ein menschliches und ein geoffenbartes göttliches. Beachtenswert ist die spezifische Differenz von ›Recht Gottes‹ und ›göttliches Recht‹: Letzteres läßt sich auch als (ge)heilig(t)es – und damit unantastbares – menschliches Recht begreifen, wohingegen ersteres zumindest in seinen religionsgeschichtlichen Variationen von alters her theologisch-politische Konsequenzen zeitigt. Das Studium der konkreten Entfaltung des Naturgesetzbegriffs lehrt v. a., daß diesem im Gegensatz zum Naturrecht eine naturwissenschaftliche Komponente eignet, in deren Folge das Prinzip der Quantität zu Ungunsten der Spekulation in den Vordergrund tritt.44 Während unter Rückgriff auf den Naturrechtsbegriff posiSiehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 4. »Auch eine umfassende Begriffsgeschichte von ›Naturgesetz‹ (›lex naturae‹, ›lex naturalis‹) vom 16. bis 18. Jahrhundert existiert aus juristischer Sicht bisher […] nicht. Verstreute Hinweise finden sich in der Literatur zum Naturrecht.« – Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 7. FN 14. 44 »Durch die planmäßige Erforschung verändern, vermehren und spezifizieren sich die Gesetze. Die Autoren des 16. Jahrhunderts hatten, soweit ich sehe, nur selten oder nie konkrete Naturgesetze benannt. Fast durchweg sprechen sie nur ganz allgemein z. B. von den ewigen Gesetzen der Welt, der Bewegung, der Fortpflanzung, des menschlichen Lebens usw. Es gab also offen42
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tive politische (d. h. fürstlich-klerikale) Ordnungszusammenhänge theoretisch legitimiert werden sollen, fällt besonders im Deutschland der Hochaufklärung – insbesondere z. B. in den einschlägigen Systemteilen Christian Wolffs – ein permanentes Anwachsen der Summe geltender Naturgesetze auf. Und auch der stark an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Hobbes beklagt schon in De Cive die traditionelle Vieldeutigkeit des Naturgesetzbegriffs45 – was ihn selbst freilich nicht davon abbringt, nicht weniger als zwanzig Naturgesetze aufzulisten (von denen in seinem späteren Leviathan immerhin noch neunzehn Geltungskraft beanspruchen46). Dazu später mehr. Der Ausdruck Naturgesetz (lex naturae) – oder häufiger: natürliches Gesetz (lex naturalis) – für das Naturrecht verliert sich erst um 1800. Auch für diese Entwicklung spielt das Denken Kants bzw. der Kantianer eine bedeutsame Rolle, identifizieren diese doch das materiale (mithin nicht das formale, sondern das moralische bzw. juridische) Gesetz nicht mehr mit dem Gesetz der Natur (einem Sein), sondern begreifen es als eines der Freiheit (eines Sollens).47 Sonach besteht in der frühen Neuzeit ein Zusammenhang zwischen Naturgesetz und positivem Gesetz. Wenn Schröder jedoch eher beiläufig anmerkt: »Zwischen beidem besteht im Grunde gar kein strenger Unterschied, abgesehen davon, daß das eine von Gott und das andere von den Menschen gegeben wird«,48 dann soll anders hier und im weiteren die entscheidende Differenz dieser beiden Rechtsgründe herausgearbeitet werden. Wenn unter einem Gesetz für gewöhnlich das Gebot eines Gesetzgebers verstanden wird, stellt sich die Frage, ob diese Verhältnisbestimmung auch auf das Naturgesetz zutreffe. Genügen seine semantische Extension und seine Form den Anforderungen des Gesetzesbegriffs? Problemgeschichtlich entpuppt sich das Gesetz der Natur schließlich als ein in Geltung gesetztes Prinzip der Regelmäßigkeit.49
bar noch um 1600 nur sehr wenige und meistens nur sehr pauschal apostrophierte physikalische Regelmäßigkeiten, die man als Naturgesetze anerkannte. Dagegen hat man beobachtet, daß in England nach Gründung der Royal Society (1660) das Wort ›Naturgesetz‹ geradezu inflationiert und […] diese Entwicklung vor dem Ende des 17. Jahrhunderts auch auf den Kontinent übergreift. Es verändert sich auch die Zuordnung des Gesetzesbegriffs zu bestimmten Erkenntnissen. Jetzt heißen eben nicht mehr die ins Herz geschriebenen, sondern die durch Vernunft und Erfahrung sicher festgestellten Regelmäßigkeiten Gesetze. Phänomene, die vorher als ›Gesetze‹ bezeichnet wurden, können diesen Status verlieren. Umgekehrt können Prinzipien, die früher nicht als Gesetze bezeichnet wurden, nun in den Rang von Gesetzen aufrücken.« – Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 22. 45 Siehe: Thomas Hobbes: C I, Kap. 2, 1. 46 Siehe: Thomas Hobbes: L 107 – 132. 47 »Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder der Freiheit.« – Siehe: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. – In: AA 4. 385 – 463; hier: »Vorrede«. 387. 48 Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 11. 49 »Das Wort Gesetz an und für sich genommen (»Legis nomen absolute sumptum«) bedeutet etwas, wonach jedes Individuum, sei es jedes überhaupt oder nur eine bestimmt Anzahl von derselben Gattung, auf eine und dieselbe gewisse und bestimmte Weise handelt. Diese Weise aber
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So schlüsselt sich der Begriff des Gesetzes auf in das Rechtsgesetz einerseits und das Naturgesetz andererseits. Dieser Disjunktion indes unterliegt eine Genese. Schröder konstatiert auch hinsichtlich dieser Problementwicklung, daß der Frage, »wann, wie und warum sich die Begriffe von Rechtsgesetz und Naturgesetz auseinanderentwickelt haben«, noch nicht nachgegangen worden sei.50 Die Beantwortung dieser Frage steht in direkter Abhängigkeit von einem adäquaten Verständnis des Verhältnisses von Recht und Religion. Diese Verhältnisbestimmung soll im folgenden detailliert untersucht werden. 2.2 Das Problem der Gottesferne vor dem Hintergrund von griechischer Antike, römischem Recht und (christlicher) Theodicee Schon im alten Griechenland treten mit den Sophisten Männer auf, die den Glauben an die alten Götter offenbar verloren haben bzw. mit Sokrates jemand, der das Phänomen des Glaubens an sich befragt.51 Walter Bröcker ordnet den Vorwurf des Religionsfrevels ((s:beia) gegen Sokrates in seinem Kommentar zu Platons Dialog Apologie wie folgt ein: »Ein solcher Religionsprozeß ist mehrfach vorgekommen. Schon vor Sokrates war der Philosoph Anaxagoras wegen Gotteslästerung angeklagt worden, weil er gelehrt hatte, die Sonne sei ein glühender Stein. Er hatte die Stadt verlassen und sich einer Verurteilung entzogen. Ebenso hat nach Sokrates der alte Aristoteles die Stadt verlassen, um sich einem drohenden Asebie-Prozeß zu entziehen. Es gab damals zwar keine religiösen Dogmen, die festlegten, was gelehrt werden durfte und was nicht, wie später im Fall Galilei, der von der Kirche verurteilt wurde, weil er lehrte, daß die Erde sich bewege. Es gab auch keine Kirche, und die von der Stadt verehrten Götter waren keine geschlossene Gesellschaft. Bekanntlich predigte Paulus in Athen vor einem Denkmal mit der Inschrift: Dem unbekannten Gott. Es gab mancherlei Sonderkult, von der Stadt zugelassen oder geduldet. Aber niemals durfte sich solche Sonderverehrung gegen die in der Öffentlichkeit allgemein anerkannten und verehrten Götter, also etwa gegen Zeus
hängt entweder von der Notwendigkeit der Natur oder vom Belieben der Menschen ab.« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 44. 50 Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 4. 51 Hegel rechnet die Sophisten zu der griechischen Aufklärung und versteht Sokrates’ Philosophieren als Zuspitzung dieser Tendenz. – Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 2. Griechische Philosophie. I. Thales bis Kyniker. Herausgegeben von Pierre Garniron und Walter Jaeschke. – In: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 7. Hamburg 1989. 136. – Mit diesem Verständnis steht er in einer Tradition, der bereits Descartes angehört, der in Sokrates das historisch erste ›empirische Ich‹ begreift, welches bewußt gezweifelt habe. – Siehe: René Descartes: Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Kritisch revidiert, übersetzt und herausgegeben von Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe, Hans Günter Zekl. Lateinisch-Deutsch. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1973. Hamburg 1993. XII. 421; XIII. 432.
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und Athene richten. Die Geltung dieser Götter gehörte zum Staatswesen selbst.«52 Und auch für das Griechenland der Zeit unmittelbar nach Jesus von Nazareth ist der Zweifel an der Existenz der Götter überliefert. Mit dem zwar schleichenden, letztlich jedoch unaufhaltsamen Verlust des alten Götterglaubens schwindet auch die Legitimation überkommener Rechtsformen.53 Die komplexe Lösung des Problems, warum die Philosophie der Alten den Orientierungsbedürfnissen damaliger Gesellschaftsformen im heutigen Zentraleuropa nicht mehr hat genügen können, ist nicht hier zu leisten; nichtsdestoweniger stellen andernorts gegebenen Antworten wichtige Voraussetzungen dar für die vorliegende Darstellung dieser Problemkonstellationen.54 Aussagen zum allgemeinen Gesetzesbegriff im 16. und 17. Jahrhundert finden sich sowohl in der juristischen als auch theologischen Literatur, wobei die juristische »in dieser Zeit ganz überwiegend in Bearbeitungen des rezipierten römischen Rechts« besteht.55 Dabei werden immer noch »meistens die Gesetzesdefinitionen des Corpus iuris civilis kritiklos«56 übernommen, doch schon recht disparat. Vor Augen zu führen ist, daß es sich hier um ein 1.000-jähriges Kodifikationssystem handelt, dessen juridische Maßgeblichkeit innerhalb der europäischen Gesellschaften trotz der zuvor skizzierten theologie-politischen Divergenzen unwidersprochen in Geltung ist. Zwecks Verdeutlichung des Kontrastes zwischen der Herkunft aus einer (relativ homogenen) geistigen Einheit und der unmittelbaren Gegenwart dieser Rechtsgestalt sei eine Bemerkung Friedrich Gerkes angeführt: »Wer den Geist [der] großen ersten byzantinischen Klassik verstehen will, muß die künstlerischen Unternehmungen Justinians wie die seines Vorbildes Konstantin [dem Erbauer der Siehe: Walter Bröcker: Platos Gespräche. Frankfurt a. M. 1964. 11. In den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten sind bekennende Christen noch schärfsten Verfolgungen im Römischen Reich ausgesetzt. Erst unter Kaiser Konstantin d. Gr. (Gaius Flavius Valerius Constantinus, * an einem 27. Februar zwischen 270 und 288 in Naissus [Moesien], † 22. Mai 337 in Ankyrona bei Nicomedia; Kaiser vom 25. Juli 306 bis zum 22. Mai 337, seit 324 Alleinherrscher) wird das Christentum 313 n. Chr. als gleichberechtigte Religion im Staat anerkannt. Kaiser Theodosius I. d. Gr. (Flavius Theodosius, * 11. Januar 347 in Cauca, Spanien, † 17. Januar 395 in Mailand; von 379–394 Kaiser im Osten des Römischen Reiches, ab Ende 394 letzter Kaiser des Gesamtreiches) schließlich erhebt es zur alleinigen Religion im Imperium Romanum und erläßt Gesetze gegen das Heidentum und die christliche Häresie. Abweichende Glaubenslehren werden nun nicht mehr ausschließlich durch die Kirche (Exkommunikation) geahndet, sondern auch durch den »weltlichen Arm«, sprich die kaiserliche Gesetzgebung sanktioniert. 54 Siehe z. B.: Sextus Empiricus. Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Eingeleitet und übersetzt von Malte Hossenfelder. »Einleitung«. Frankfurt a. M. 1968. 9 – 88. – Des weiteren: Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 21988. – Sowie (besonders mit Blick auf die nachfolgenden Kapitel 3.3 – 3.8 des I. Teils dieser Untersuchung): ders.: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a. M. 21985. 55 Zur Restitution des römischen Rechts in den neu entstandenen Monarchien im Europa der Renaissance siehe auch: Perry Anderson: Die Entstehung des absolutistischen Staates. Übersetzt von Gerhard Fehn. Titel der Originalausgabe: Lineages of the Absolutist State, London 1974. Die deutsche Ausgabe ist um den Anhang gekürzt. Frankfurt a. M. 1979. 27 – 35. 56 Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 5. 52
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ersten christlichen Kirchen, H. G.] weltweit und damit vor allem auch städtebaulich sehen. Justinian erhob seine Metropole [Konstantinopel, H. G.], die die allerchristlichste Hauptstadt des ersten christlichen Kaisers war, durch seine gigantische Bautätigkeit zu einer Weltstadt, in der 519 durch die regula fidei die Einheit der Gesamtkirche wiederhergestellt wurde und wo 546 und 553 die Entscheidungen über die Orthodoxie fielen, 534 die Codifikation des römischen Rechts in lateinischer und griechischer Sprache erfolgte und wo nach der Schließung der Universität von Athen (529) die Wissenschaften und die Künste so erstarkten, daß sie in die ganze damalige Welt auszustrahlen vermochten. Gerade weil diese Weltstadt keinerlei heidnische Vergangenheit hatte, vollzog sich nun in ihrem Kulturleben die Synthese von Antike und Christentum, Orient und Okzident.«57 Athens Platonische Akademie zu schließen, geschieht demnach auf Justinians Geheiß. Als zweites wichtiges Ereignis des Jahres 529 ist die Gründung des Klosters Monte Cassino durch den heiligen Benedikt nennen – und damit des ersten Benediktinerklosters, das sich zwischen Rom und Neapel, hoch über einer Heerstraße der Völkerwanderung, ansiedelt. Doch die Vergewisserung solcher oder anderer historischer Eckdaten kann immer nur einen ersten Schritt bedeuten auf dem langen Weg hin zum eigentlichen Beginn ihrer (religions-)philosophischen Ausdeutung. Denn diese wird erst spät vernehmbar, frühestens an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Im Blick durch das Zeitfenster vorliegender Studien sind vier Problemfelder der vorkantischen philosophischen Theologie, aus der die autonome Disziplin der Religionsphilosophie allererst entsteht, anzusprechen: das Lehrstück von der Persönlichkeit Gottes (wie noch zu sehen sein wird mit der einen, deshalb auch berüchtigten Ausnahme Spinozas); der kosmologische Gottesbeweis; der physikotheologische Gottesbeweis; die Theodizee.58 Als weitere wichtige – wenn auch nicht sonderlich langlebige – Gestalt ist die natürliche Religion anzuführen.59 Von diesen vier bzw. fünf Formen scheint unseren Problembereich – abgesehen von der These der natürlichen Religion – in erster Linie die sog. Theodizee-Problematik60 zu betreffen, die – wiewohl im Kern und der Mehrzahl ihrer Argumente antiker Provenienz – werkgeschichtlich allererst verursacht wird durch Pierre Bayles zwei Kritiken an
Siehe: Friedrich Gerke: Spätantike und frühes Christentum. – In: Kunst der Welt. Ihre geschichtlichen, soziologischen und religiösen Grundlagen. Zweite Serie: Die Kulturen des Abendlandes. Baden-Baden 1967. 202 f. 58 Siehe: Walter Jaeschke: Philosophische Theologie nach Kant. Die Vernunft in der Religion. – In: Christian Danz/Jörg Dierken/Michael Murrmann-Kahl (Hgg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie. Frankfurt am Main 2005. 15 – 30; hier 16. 59 Siehe hierzu das Resümee der vorliegenden Arbeit. 60 Erstmalig 1710 werden in Amsterdam Gottfried Wilhelm Leibniz’ Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal anonym publiziert. Gleichwohl bringt den Problemgehalt der Theodizee: wie sich die Güte Gottes mit den Übeln in der Welt vereinbaren lasse, bereits Epikurs Philosophie auf. 57
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Leibniz’ System der prästabilierten Harmonie,61 die er vorträgt in seinem Dictionnaire historique et critique (Rotterdam 1696).62 Auch Nicolas Malebranche (1638 – 1715) ist ein für diesen Problemkreis wichtiger Vorläufer. Hans Blumenberg allerdings betont zurecht nicht nur die Ahistorizität der Leibnizschen Théodicée, sondern konstatiert mit Blick auf den Pelagianismus, sprich der paulinisch-augustinischen Gnadenlehre: »Ein wesentlicher Zug der Argumentation von Leibniz, durch den er sich von Augustin unterscheidet, ist die Integration der Übel an der Welt in den Schöpfungszweck. Auch der durch sein Werk zu rechtfertigende Gott darf die physischen Übel in dem Maße selbst mit hervorbringen, in welchem sie zur Erreichung des optimalen Gesamtzwecks unvermeidlich sind. Ein Zusammenhang zwischen diesen Übeln und dem menschlichen Handeln, auf das sie sich als Vergeltungen beziehen, besteht nicht mehr. Die ›Theodizee‹ von Leibniz qualifiziert das Übel in der Welt nicht mehr moralisch, sondern instrumental.«63 Die Gründe für eine problemgeschichtliche Verkettung Bayles mit der Théodicée (Bayle stirbt 1706, Leibniz’ Werk erscheint wie gesagt vier Jahre später) sind in Aufschlüssen über die Abstoßungsbestrebung der Moral gegen theonome Garantieverheißungen zu sehen. So schreibt Georges Minois: »Bis Bayle und über ihn hinaus ist ein Mensch ohne Gott ein Mensch ohne Moral, folglich eine Gefahr für die Gesellschaft. Die Geschichte des Atheismus ist auch die Geschichte dieser Kämpfe um eine rein menschliche Moral.«64 Bedauerlicherweise hat Minois Die von Forschern seit jeher beklagte dürftige philosophische Unterfütterung der Theodicée kompensiert Leibniz andernorts. Schon früher arbeitet er zum System der prästabilierten Harmonie, wobei folgende, 1695 konzipierte Schrift die philosophisch ertragreichste ist: Gottfried Wilhelm Leibniz: Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele. [Système nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l’union qu’il y a entre l’âme et le corps.] – In: ders.: Philosophische Werke in vier Bänden in der Zusammenstellung von Ernst Cassirer. Übersetzt von Arthur Buchenau mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Ernst Cassirer. Band 2. Teil II. Hamburg 1996. 447 – 458. – Von den insgesamt vier Anhängen zur Theodicée ist hier insbesondere der IV. einschlägig: ders.: Die Sache Gottes sichergestellt durch die Versöhnung seiner Gerechtigkeit mit seinen übrigen Vollkommenheiten und allen seinen Handlungen. [Causa Dei asserta per justitiam ejus, cum caeteris ejus perfectionibus, cunctisque actionibus conciliatam.] – In: ders.: Philosophische Schriften. Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Band II. Zweite Hälfte. Herausgegeben und übersetzt von Heribert Herring. Frankfurt a. M. 21985. 314 – 383. 62 Siehe: Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl. Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Hamburg 2003. Artikel Rorarius. Anmerkung (L). 329 – 342. 63 Siehe: Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. A.a.O. 65. – Da Augustins Auseinandersetzung mit den Pelagianern, die anders als er selbst die absolute (d. h. sowohl vor als auch nach dem Sündenfall wirksame) Freiheit des Menschen zum Guten predigen, in ihren unterschiedlichen Formen sehr wohl berücksichtigt wird, findet seine Lehre vom Sündenfall und der Gnade insbesondere Widerhall bei: Albert Stöckl: Geschichte der Christlichen Philosophie zur Zeit der Kirchenväter. Mainz 1891. 355 – 364. – Siehe zudem: Friedrich Jodl: Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft. A.a.O. 1, 141 – 150. 64 Siehe: Georges Minois: Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus 61
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Winfried Schröders im selben Jahr (1998) publizierte Untersuchung Ursprünge des Atheismus noch nicht zur Kenntnis nehmen können.65 Schröder rekonstruiert, daß die philosophische Erhärtung des Atheismus weder eine nationale noch auch allein zentraleuropäische Erscheinung ausmacht, die allerdings in Britannien erst im späten 18. Jahrhundert offen zu Tage tritt. Ein exoterischer Atheismus sei vor 1700 so gut wie unbekannt; ein agnostischer, skeptischer Atheismus zeige sich erst im 18. Jahrhundert.66 Dementsprechend polemisiert W. Schröder gegen eine rein kulturgeschichtliche Perspektive des Problems67 und plädiert für die Historiographie der Philosophie: »Denn der kulturgeschichtliche Zugriff hat eine Nivellierung markanter theoretischer Unterschiede – wie etwa zwischen der Bestreitung des Daseins Gottes und der Ablehnung bestimmter Offenbarungsreligionen – und die Unübersichtlichkeit der Heterogenität des Gegenstands zur Folge. Das heterodoxe Pandämonium wird präsentiert, ohne daß die Theoriebildung des Atheismus in ihrem eigenen Verlaufsprofil verfolgt würde. Deshalb bleibt es eine Aufgabe der Philosophiegeschichtsschreibung, die Entstehung des Atheismus zu rekonstruieren und seine Frühgeschichte darzustellen.«68 So kann Schröders Untersuchung als Meilenstein auf dem Weg, die frühneuzeitlichen Irritationen im Verhältnis Mensch – Gott auch in ihren feineren Verästelungen zu durchlaufen, dem an der Thematik Interessierten besten Gewissens zum Studium anempfohlen werden.69 2.3 Die Theonomie des Alten und Neuen Bundes Ein im christlichen Sinne theonomes Gesetzesformular wäre wie folgt auszubuchstabieren: Die Schrift preist Gott als Herrn,70 dem unbedingt Gefolgschaft zu leisten ist. Die von Gott selbst erlassenen Gesetze sind wahr,71 weil sie von Gott
dem Französischen von Eva Moldenhauer. Weimar 2000. 8. (Titel der französischen Originalausgabe: Histoire de l’athéisme. Les incroyants dans le monde occidental des origens à nos jours. Paris 1998.) 65 Minois konstatiert: »Seit dem unauffindbaren Buch von Spitzel, Scrutinium atheismi historico-aetiologicum, das vor fast dreieinhalb Jahrhunderten, 1663, erschienen ist, sind historische Werke über den Atheismus eine Seltenheit, und das vollständigste bleibt bis heute das von 1920 bis 1923 veröffentlichte vierbändige Werk von Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande.« – Siehe: Georges Minois: Geschichte des Atheismus. A.a.O. 3. – Abgesehen von Schröder fehlt bei Minois erstaunlicherweise zudem jedweder Bezug auf Hermann Leys neunbändige Untersuchung Geschichte der Aufklärung und des Atheismus (1966 ff.). 66 Siehe: Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. A.a.O. 394. 67 So z. B. bei: Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Stuttgart/ Berlin 1920 – 23. 68 Siehe: Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. A.a.O. 16. 69 Auf Grundlage seiner Untersuchungsergebnisse sollte beispielsweise auch Hans-Walter Schüttes Artikel »Atheismus« im Historischen Wörterbuch der Philosophie eine Revision erfahren. – Siehe: HWPh. 595,1 – 599,1. 70 Siehe: Ex 14,1.
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stammen, und mehr noch: Die Gesamtheit des auf die Menschen gekommenen Bibelwortes heißt »Gottes Gebot«.72 Der Herr selbst erläßt die Gesetze, seine Gesetze, und durch Jesus von Nazareth, den Christus,73 hat Gott im letzten zu den Menschen geredet.74 Jesus Christus hat den Menschen Gottes ewig unwandelbares75 Wort gebracht.76 Irrtümer menschlichen Denkens werden auf Unkenntnis und Mißachtung des biblischen Zeugnisses zurückgeführt.77 Auch wenn die Unterscheidung von Naturgesetz und positivem Gesetz keinesfalls als Promulgation zu entlarven, sondern vielmehr den Menschen ins Herz geschrieben ist, soll es dennoch 1. das Kennzeichen der Vernünftigkeit und Gerechtigkeit und 2. den Charakter eines qua Gesetzgeber: nämlich Gottes, erlassenen Gebotes aufweisen. Auch intellektualistische Naturrechtler wie Thomas von Aquin (* um 1225 – 1274)78 und noch Grotius79 verzichten nicht auf Gott als Gesetzgeber – obgleich sich letzterer in De jure belli ac pacis libri tres (1625) bereits veranlaßt sieht, die Versicherung auszusprechen, das Recht besitze auch dann Gültigkeit, »etsi Deus non daretur«: »wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, daß es keinen Gott gäbe«.80 Der Pharisäer und spätere Apostel Paulus spricht von Jesus Christus als der Erfüllung81 – nicht aber dem Ende – des Gesetzes, d. h. des in Israel als Gesetz verstandenen, wenngleich verlorenen82 Dekalogs. Hat das erwählte Volk, indem es Gott folgt, seine Gottesliebe zunächst unter Beweis gestellt, kann das weitere Siehe: Ps 93,5; Ps 119,160. – Zur absoluten Unumstößlichkeit auch partikularer Gebote siehe: Lk 16,17. 72 Siehe: Mk 7,8. – Zu den Zehn Geboten vom Berge Sinai siehe: Ex 20, 2 – 17. 73 Siehe: Mt 17,5. 74 Siehe: Hebr 1,1 – 2. 75 Siehe: Mt 24,35. 76 Siehe: Jo 17,14. 77 Siehe: Mk 12,24. 78 Siehe: Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe. Band 13. Heidelberg/Graz/Wien/Köln 1977. I. Teil des II. Buches. Das Gesetz. Quaest. 90. Art. I. Ad tertium. 79 Siehe: Hugo Grotius: De iure belli ac pacis libri III in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicantur. Curavit B. J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp. Editionis anni 1939 quae Lugduni Bat. emissa est exemplar photomechanice iteratum. Annotationes novas addiderunt R. Feenstra et C. E. Persenaire adiuvante E. Arps-de Wilde. Aalen 1993. Lib. 1. Cap. 1. § 10. 34. 80 Siehe: Hugo Grotius: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Neuer deutscher Text und Einleitung von Dr. Walter Schätzel. Tübingen 1950. »Vorrede«. 33. – Zu Grotius’ Absage »an ein voluntaristisches Gottesbild« siehe: Christoph Link: Herrschaftsbegründung und Kirchenhoheit bei Hugo Grotius. – In: Christoph Strohm/Heinrich de Wall (Hgg.): Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit. Berlin 2009. 346 – 364. – Seit Grotius’ Verdiensten um das Kriegs- und Friedensrecht kann schlichtweg von keinem rechtsfreien Raum in Europa mehr gesprochen werden. – Eine ausgewogene Erörterung naturrechtlicher Kriegslehre gibt: Ernst-Wolfgang Böckenförde: Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln. – In: Franz Böckle/Ernst-Wolfgang Böckenförde: Naturrecht in der Kritik. Mainz 1973. 96 – 125; hier 112 – 116. 81 Siehe: Röm 7,6. 82 Siehe: Ex 32,19. 71
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Schicksal Israels nun in dem Sinne gedeutet werden, daß es fortan die Strafe empfange dafür, das Gesetz mißachtet zu haben (der Tanz um das goldene Kalb83). Mit dem Gesetz aber hat Israel Gott selbst empfangen, womit auch den Gesetzen Heiligkeit gegeben ist als Zeichen des Bundes: ohne Gesetz keine Seligkeit im Reich Gottes. So wird es möglich, das Gesetz als Segen und nicht als Last auf sich zu nehmen. Seine Satzungen markieren lediglich den Weg (obschon gilt: je komplexer das Gesetz, desto schwieriger seine Befolgung), und geglaubt wird: Halte sich ganz Israel an das Gesetz, komme der Messias. Doch dieser hat sodann selbst den Weg des Gesetzes anzutreten. In ihrer Gesamtheit erfordert die Heilsgeschichte die Geltungskraft des alten Gesetzes. Dem Einwand: Daß der lebendige Jesus zwar wirke, aber am Kreuze sterbe, zeige, daß auch ihn Gottes Fluch treffe, entgegnet schon der Prophet Jesaja, Jesus werde um der Menschen Übertretungen willen hingegeben. Dies beweise einerseits die Ankunft des Messias, und andererseits sei durch ihn allein zu Gott zu gelangen. Rettung ist ausschließlich durch Jesu Sterben und Auferstehung garantiert: Jesus hat das Gesetz letztgültig erfüllt – aber damit keineswegs das Ende desselben bedeuten wollen. Zwar ist das Gesetz zum Instrument der Zucht herabgesunken, und das Volk hat es in Besitz genommen, sich hinter ihm verschanzt und Gott so nicht mehr erkannt; doch Gottes Gesetz ist nach wie vor in Geltung, es hat aber für die neuen »Kinder Gottes« einen veränderten Sinn erlangt. Hieraus folgt die Missionierung der Heiden. Aber nach paulinischem Verständnis ist Adam der erste – gleichwohl gefallene – irdische Mensch, welcher der Verführung erliegt, Gott gleichen zu wollen, d. h. über den Unterschied von ›gut‹ und ›böse‹ in Kenntnis gesetzt zu werden.84 ›Gut‹ und ›böse‹ aber sind entia rationis und finden, wie auch Spinoza lehren wird,85 keinerlei naturhafte Korrelata. Aus moralphilosophischer Perspektive vermag allein materialiter argumentiert zu werden: daß allein eine Rede über ›gute‹ und ›böse‹ Handlungen eines empirischen Individuums (im Staat: einer objektiven Rechtsperson) sinnvoll erscheint. Eine Rekonstruktion des Vorgangs der Enttheologisierung des natürlichen Rechtsgesetzes »fehlt offenbar in der rechtsgeschichtlichen Literatur.«86 Die hier leitende Rechtsgestalt ließe sich am ehesten mit der Formel ›Gesetz ohne Gesetzgeber‹ auf den Begriff bringen.
Siehe: Ex 32,1 – 4 Siehe: Gen 3,5. – Sonach ist Jesus von Nazareth der exemplarische Mensch, d. h. der letzte Adam. – Siehe: Joseph Ratzinger: Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. 4. Auflage München 1968. 189 – 197; 215. 85 Zu Spinozas Adam-Deutung siehe: Baruch de Spinoza: TTP II, 23 f. 86 Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 26. 83
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
2.4 Die Entleerung des positiven Rechtsgesetzes und die Austreibung Gottes sowohl aus dem rechtlich-moralischen als auch aus dem physikalischen Naturgesetz Mit Blick auf das positive Gesetz ist seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Wertentleerung zu verzeichnen: Das positive Rechtsgesetz reduziert sich zu einer (wertfreien) Anordnung eines Gesetzgebers; das Merkmal der Vernünftigkeit bzw. Gerechtigkeit tritt zunehmend in den Hintergrund, ja es verschwindet schließlich vollständig. Und auch das Naturgesetz ist nicht mehr mit dem Gebot eines Gesetzgebers zu identifizieren. »Dieser Prozeß ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abgeschlossen, so daß sich von nun an kein überzeugender allgemeiner Gesetzesbegriff mehr bilden läßt.«87 Das Begriffsmerkmal ›gesetzgeberisches Gebot‹ als Verbindungsglied zwischen natürlichem und positivem Gesetz (d. h. physikalischem Naturgesetz und Rechtsgesetz) bleibt im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts erhalten. Als Beleg diene Samuel Pufendorf: Das Gesetz im allgemeinen ließe sich am leichtesten definieren als Dekret, durch das ein Oberer einen Untergebenen verpflichte, nach seiner Vorschrift zu handeln.88 Dieser neue Begriff des positiven Gesetzes i.S. eines Rechtsgesetzes findet sich in Andeutungen bereits bei Jean Bodin, der das Gesetz lediglich noch als Befehl des Souveräns faßt.89 Über die animistischen Grundlagen insbesondere dieses Rechtsdenkens und deren verhängnisvolle Konsequenzen wird der 1. Abschnitt Anhaltspunkte für eine säkulare Begründung der Verbindlichkeit des Rechts des III. Teils vorliegender Untersuchung nähere Auskunft erteilen. Dennoch setzt sich der Zerfall des Gesetzesbegriffs unaufhaltsam fort. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts verschwindet der (göttliche) Gesetzgeber sowohl aus dem rechtlich-moralischen als auch physikalischen Naturgesetz. Soweit wir sehen propa-
Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 16. Siehe: Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium libri octo. (1672) – In: ders.: Gesammelte Werke. Band 4. Herausgegeben von Frank Böhling. Berlin 1998. Lib. 1, cap. 6, § 4, 71. – Ebenso Christian Thomasius: »Lex est jussus imperantis obligans subjectos, ut secundum istum jussum actiones suas instituant […].« – Siehe: Christian Thomasius: Institutionum jurisprudentiae divinae libri tres. (1688) A.a.O. Lib. 1, cap. 6, § 4, 71. – So auch Heineccius: Das Gesetz sei »der Wille eines übergeordneten Wesens, das gewisse Handlungen unter der Androhung von Strafe verbietet oder vorschreibt«. – Siehe: Johann Gottlieb Heineccius: Grundlagen des Natur- und Völkerrechts. – In: Michael Stolleis/Christoph Bergfeld/Hans Maier (Hgg.): Bibliothek des deutschen Staatsdenkens. Band 2. Übersetzt von Peter Mortzfeld. Frankfurt a. M. 1994. Buch 1, Kap. 1, § 9. (Lat.: Gesetz sei »voluntas entis superioris, actiones quasdam sub comminatione poenae prohibentis praecipientisve«. – Siehe: Ausgabe Halle 1738.) 89 Siehe: Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer. Eingeleitet und herausgegeben von Peter Cornelius Mayer-Tasch. München 1981 – 1986. Band 1: Buch I–III. Band 2: Buch IV–VI; hier: 1. 213. (Sigle: S + Bandnr.) – Siehe zudem: Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M. 1998. 3. Buch, Kap. 13. (Die andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger) – Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts setzt sich der neue wertfreie Begriff des Gesetzes weiter durch. – Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 6, 9. 87
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2. Kapitel · Ambiguität und Zerfall des einheitlichen Gesetzesbegriffs
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giert aber erst Christian Wolff ein Naturgesetz ohne göttlichen Gesetzgeber.90 Wenngleich das schöpfungstheologische Moment unangetastet bleibt, seien jedoch die Naturgesetze nicht offenbart. Die natürliche Vernunft des Menschen erkenne sie. Daß Gott als Schöpfer der Natur dem Menschen die Gesetze gegeben habe, könne lediglich vermutet, nicht aber bewiesen werden. Als Schlußpunkt dieser Entwicklungslinie erscheint Kant, der davon ausgeht, die praktische Vernunft selbst sei autonomes Prinzip der Gesetzgebung.91 Jedwede heteronome Gesetzgebung in der Rechts- und Sittenlehre wird verworfen, auch die göttliche. Konsequent – auch wenn dies nicht unmittelbar den bisher verfolgten Entwicklungsgang des Gesetzesbegriffs betrifft – wird das »Daseyn Gottes« nur noch »als ein Postulat der reinen practischen Vernunft« gefaßt.92 Das chrono-logische Verhältnis, das die Herausbildung des besonderen Naturgesetzes aus dem allgemeinen Naturrecht charakterisiert, führt aber auch zu der methodologischen Differenz von Induktion und Deduktion: Während zunächst ausgehend von der faktischen Geltung des Prinzips des Naturrechts die konkrete Ausgestaltung desselben in Form immer ausdifferenzierterer Systeme des Naturgesetzes betrieben wird, verkehrt sich dieses deduktive Vorgehen im 18. Jahrhundert zunehmend in eine induktive Methode, deren Ziel darin besteht, aus der Fülle der entdeckten Naturgesetze wieder Rückschlüsse auf das (ins Hintertreffen geratene) Prinzip des Naturrechts zu gewinnen. Die Probleme, die im Zuge besagten theoretischen Rücklaufs entstehen, erzeugen in der Folgezeit die Motivationen für neue Systeme der praktischen Philosophie, wie sie – darauf ist bereits hingewiesen worden – Fichte,93 Schelling94 und Hegel95 konzipieren werden. Spätestens mit Beginn dieser Unternehmungen werden die alten Naturrechtslehren lediglich noch histo90 Siehe: Christian Wolff: Philosophia practica universalis. A.a.O. P. 1. § 135, 117. (Dt.: »das Naturgesetz habe seinen hinreichenden Grund im Wesen und der Natur des Menschen und der Dinge«.) – Zu beachten bleibt allerdings, daß auch Wolff noch kein umgreifendes NaturgesetzKonzept entwickelt, »seine kontextabhängigen Definitionen erfassen jeweils nur einen Teil des Begriffsumfangs«. – Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. FN 111. 91 Siehe: Critik der practischen Vernunft von Immanuel Kant. A.a.O. § 7, 54 ff. 92 Siehe: Ibid. Zweytes Hauptstück, V. 223 – 237. 93 Siehe: Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. (1796) – In: ders.: Gesamtausgabe. Herausgegeben von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Richard Schottky. Band I, 3. Werke 1794 – 1796. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. 291 – 460. – Zudem: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweiter Theil oder Angewandtes Naturrecht. (1797) – In: Ibid. Herausgegeben von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Richard Schottky. Band I, 4. Werke 1797 – 1798. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. 1 – 165. 94 Siehe: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Neue Deduktion des Naturrechts. (1795) – In: ders.: Schriften von 1794 – 1798. Unveränd. reprogr. Nachdr. [d. Ausg.] Stuttgart u. Augsburg, Cotta 1856 u. 1857. Darmstadt 1980. 125 – 160; hier: §§ 1.–75. 95 Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften. – In: ders.: GW 4. 415 – 464.
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
risch ›besichtigt‹, hält mit ihnen doch ein neues Projekt namens Vernunftrecht unaufhaltsam Einzug. Adolf Süsterhenn, der die Entwicklung des Naturrechts in »eine mehr objektiv-seinsorientierte und eine mehr subjektiv-rationalistische Richtung« unterteilt, schreibt: »Der im Zeitalter der Renaissance und Reformation zu neuem Leben erwachende Individualismus führte […] zum modernen Naturrecht des Rationalismus und der Aufklärung. Während beim scholastischen Naturrecht die menschliche Vernunft lediglich Erkenntnismittel ist und die Natur die Erkenntnisquelle bildet, übernimmt beim modernen Naturrecht die Vernunft die Funktion der Erkenntnisquelle. Das Naturrecht wird Vernunftrecht individualistischer Prägung.«96 Mit der Zerklüftung des Gesetzesbegriffs und in deren Folge auch des theologisch manifestierten Rechtsbegriffs, sc. des Theonomieprinzips, gehen tiefgreifende Modifikationen des Mensch-Gott-Verhältnisses einher. Die uralte Frage, was der (gläubige) Mensch über Gott wisse, verdichtet sich zu dem Problem, wie – den Fortschritten moderner Wissenschaften Rechnung tragend – Gott fortan gedacht werden könne. So liegen die näheren Gründe für diese bis heute anhaltenden Irritationen nicht zuletzt auch in dem veränderten Bezug von theologia naturalis und philosophia naturalis beschlossen. Es sei in Erinnerung gerufen, daß die bedeutendste astronomische Schrift des Physikers Isaac Newton (1643 – 1727) zur Naturphilosophie gerechnet wird: Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica (Cambridge 1687). Im folgenden sollen einige der wichtigsten Aspekte der Etappen besagter Modifikationen, die aus einem veränderten Naturverständnis erwachsen, erörtert werden. Denn nicht zuletzt ein revolutionierter Naturbegriff ist als Grund dafür anzusehen, daß die Fundamente des alten Naturrechts ins Wanken geraten. Die Bedingung hierfür wiederum liegt in den rasanten Entwicklungen, die sich auf sämtlichen Gebieten der frühneuzeitlichen Naturwissenschaften zunehmend deutlicher abzeichnen. Die nähere Rekonstruktion der Konsequenzen, die diesen Ausbildungen geschuldet sind, erfordert nachfolgend – selbstverständlich thematisch gebundene – Ausgriffe auf die naturwissenschaftliche Wissenschaftsgeschichte.
Siehe: Adolf Süsterhenn: Das Naturrecht. – In: Werner Maihofer (Hg.): Naturrecht oder Rechtspositivismus? A.a.O. 9 – 26; hier 14. 96
3. Kapitel · Das physikalische Naturgesetz in der frühen Neuzeit
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3. Kapitel: Das physikalische Naturgesetz in der frühen Neuzeit 3.1 Die verhinderte Enttheologisierung des Systems der Wissenschaften in Thomas Hobbes’ De Corpore Wie gesehen, ändert sich auch im Anschluß an die Modifikationen des Gesetzesbegriffs im Zuge der aufkommenden exakten Erfahrungs- resp. Naturwissenschaften zunächst nichts daran, daß das Naturgesetz als Gebot Gottes verstanden wird.97 Und auch Naturphilosophen (sprich Physiker) vertreten die Überzeugung, Gott sei Urheber der physikalischen Gesetze und Gesetzgeber der Naturgesetze. In ihrem Kernbestand bleibt diese Lehre noch bis weit in das 18. Jahrhundert in Geltung. Hier bildet auch Thomas Hobbes keine Ausnahme: Seine erstmals 1655 in London bei Andrew Crooke publizierte Schrift Elementorum philosophiae sectio prima: De corpore,98 die der modernen Naturwissenschaft in der Nachfolge Galileo Galileis verpflichtet ist, nimmt zunächst eine Gliederung des Systems der Wissenschaften vor, gemäß derer die Theologie ausgesondert wird. Der erste Teil »Berechnung oder Logik« in Kapitel I »Die Philosophie«99 schließt sie aus dem Kanon des philosophisch Wißbaren aus: »Wo es also keine Erzeugungsweise oder keine Eigenschaft gibt, da ist auch keine Philosophie denkbar. Daher schließt die Philosophie die Theologie aus sich aus, ich meine die Lehre von der Natur und den Attributen Gottes, des Ewigen, keiner Entstehung Fähigen, Unbegreiflichen, an dem überdies keine Zusammensetzung und Teilung vornehmbar und keine Erzeugungsweise vorstellbar ist.«100 Siehe z. B.: Thomas Hobbes: C I, Kap. 3, 33. – Dergleichen findet sich später auch bei Pufendorf: Aus dem Gebot der Vernunft erkenne man nicht nur, daß die Befolgung der Naturgesetze dem menschlichen Geschlecht nützlich sei, sondern auch, daß Gott wolle und den Sterblichen befehle, ihre Handlungen danach zu richten. – Siehe: Samuel Pufendorf: Ius Naturae. Lib. 1, cap. 6, § 4. – Ebenso denken Thomasius (siehe Jurisprudentia divina), Heineccius, Nicolaus Hieronymus Gundling und Adam Friedrich Glafey: Das Naturgesetz sei eine gottgewollte Anordnung. »Die einzige namhafte Gegenstimme bis in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts kommt später (1705) von Thomasius selbst« – nämlich in seinen Fundamenta juris naturae et gentium (4. Ausg. Halle/Leipzig 1718. Lib. 1, cap. 5, § 34. 152) –, der erklärt, das Naturgesetz gehöre mehr zu den Ratschlägen als zu den Befehlen, im strengen Sinne sei ein Gesetz aber immer ein Befehl. – Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 23. – Das letztgenannte Bestimmungsverhältnis: der Befehlscharakter des Gesetzes, bezeichnet recht präzise Hobbes’ Konzeption im Leviathan. 98 Bereits ein Jahr später erscheint (erneut in London) die erweiterte englische Fassung. 99 Hobbes definiert die Philosophie wie folgt: »Philosophie ist die durch richtiges Schlußfolgern gewonnene Erkenntnis der Wirkungen bzw. Phänomene im Ausgang vom Begriff ihrer Ursachen bzw. Erzeugungsweisen, und umgekehrt von möglichen Erzeugungsweisen im Ausgang von der Kenntnis der Wirkungen.« – Siehe: Thomas Hobbes: Elemente der Philosophie. Erste Abteilung. Der Körper. Übersetzt, mit einer Einleitung und mit textkritischen Annotationen versehen und herausgegeben von Karl Schuhmann. Hamburg 1997. I, Art. 2. (Sigle: Co) – Andernorts reformuliert er diese Definition, wenn auch nicht unwesentlich modiziert. – Siehe: Ibid. XXV, Art. 1. 100 Siehe: Thomas Hobbes: Co I, Art. 8. – Hobbes präzisiert: »Sie [die Philosophie, H. G.] schließt jedes Wissen aus, das aus göttlicher Eingebung oder Offenbarung stammt, da es nicht 97
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
Hobbes’ den genannten Bedingungen unterworfenes Ausschlußverfahren betrifft darüber hinaus die Naturgeschichte sowie die politische Geschichte, ja überhaupt »nicht nur jede verkehrte, sondern auch jede schlecht begründete Lehre«101, wozu auch die Astrologie102 gerechnet wird. Entscheidend ist hier aber Hobbes’ strikte Unterscheidung zwischen Theologie und praktizierter Religiosität, d. h. Formen der Liturgie: »Schließlich ist von der Philosophie die Lehre von der Verehrung Gottes ausgeschlossen, da man das diesbezügliche Wissen nicht aus der natürlichen Vernunft, sondern der Autorität der Kirche zu entnehmen hat, und sie nicht Sache der Wissenschaft, sondern des Glaubens ist.«103 Doch was die Ausgangsfrage nach der Herkunft der physikalischen Naturgesetze angeht, ist zu sagen, daß Hobbes hier aus seinen dem Interesse einer Enttheologisierung des Systems der Wissenschaften eigentlich zuträglichen Vorarbeiten nicht die erforderliche – oder zumindest mögliche – Konsequenz zu ziehen bereit ist, steht für ihn doch unverrückbar fest, das Sosein der Natur sei zur Gänze dem praktischen Wesen Gottes unterworfen.104 Der Physiker, der die Phänomene der Natur beobachte: jedwedes Seiende, das erscheine bzw. dem Betrachter »von der Natur dargeboten«105 werde, habe sonach die Erkenntnis anzustreben, »was vom Urheber der Natur in die Dinge selbst gesetzt wurde«.106 An anderer Stelle entschleiert Hobbes den Grund des Seins in Gestalt des »allmächtige[n] Schöpfer[s] des Weltalls«,107 der beispielsweise jedwedes Ding zu teilen vermöge. Des weiteren, so Hobbes, liege es »im Vermögen ein und derselben unendlichen Macht, ins Unendliche zu steigern und unendlich zu verringern. Es liegt im Vermögen ein und desselben Urhebers der Natur zu bewirken, daß die große Kreisbahn, deren Radius sich von der Erde bis zur Sonne erstreckt, sich zur Entfernung der Sonne zu den Fixsternen verhält wie ein Punkt, und umgekehrt so kleine Körper herzustellen, daß sie im gleichen Verhältnis kleiner sind als jeder sichtbare.«108 Mit Blick auf die Unermeßlichkeit und damit gleichermaßen prinzipielle Uner-
mittels Vernunftgebrauch gewonnen, sondern durch göttliche Gnade und als Werk des Augenblicks (gewissermaßen als eine Art übernatürlicher Sinneswahrnehmung) gewährt wird.« – Siehe: Ibid. 101 Siehe: Ibid. 102 Der Weg zur Position der Astrologie im System der Wissensgebiete verläuft wie folgt: Sie ist zunächst Wissenschaft, d. h. Wissen von den Folgen (Philosophie); sodann betrifft sie Folgen aus den Akzidenzien von natürlichen Körpern (Naturphilosophie); sie gehört zur Physik, die Folgen aus Qualitäten erforscht; genauer: Folgen aus den Qualitäten beständiger Körper, d. h. hier: der Sterne, genauer: den Folgen aus deren Einfluß. – Siehe: Thomas Hobbes: L 70 f. 103 Siehe: Thomas Hobbes: Co I, Art. 8. 104 Siehe z. B.: Ibid. VII, Art. 12. 105 Siehe: Ibid. XXV, Art. 1. 106 Siehe: Ibid. 107 Siehe: Ibid. XXXVII, Art. 1. – Hier denkt Hobbes auch über die ontische Konstanz der »göttliche[n] Majestät« nach. 108 Siehe: Ibid. XXVII, Art. 1.
3. Kapitel · Das physikalische Naturgesetz in der frühen Neuzeit
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forschbarkeit der Größe und Dauer des Weltalls109 räumt Hobbes eine zusätzliche Möglichkeit ein, die Herrlichkeit Gottes zu preisen. Er kritisiert das tradierte Lehrstück von der Ewigkeit Gottes als eines ersten unbewegten Bewegers110 zugunsten eines Ersten als ewig Bewegten. Dies sei hier ausführlich belegt: »[…] ein auf Unendliches bezogenes Wissen bleibt einem endlichen Fragesteller verschlossen.111 Alles, was wir Menschen wissen, kommt uns zur Erkenntnis durch unsere Erscheinungsbilder. Ein Erscheinungsbild von etwas Unendlichem, gleich ob in bezug auf Größe oder Zeit, gibt es aber nicht. Denn weder ein Mensch noch sonst ein Ding, sei es denn, es wäre selber unendlich, kann sich vom Unendlichen überhaupt einen Begriff machen. Und wenn auch jemand von irgendeiner Wirkung zu ihrer unmittelbaren Ursache und von da aus zu einer entfernteren und so immer weiter in ganz und gar unanfechtbarer Schlußfolgerung hinaufstiege, kann er doch nicht in alle Ewigkeit so fortfahren, sondern wird irgendwann erschöpft aufhören ohne zu wissen, ob man noch weiter hätte fortgehen können oder nicht. Auch wird, gleich ob man die Welt als endlich oder unendlich bestimmt, nichts Ungereimtes daraus folgen. Denn was von beiden der Urheber der Welt auch festgelegt hätte, man bekäme doch genau all das zu Gesicht, was man jetzt zu Gesicht bekommt. Obwohl man ferner aus der Tatsache, daß nichts sich selber in Bewegung setzen kann, ganz zutreffend ableitet, daß es irgendein erstes Bewegendes gibt, das ewig sein muß, kann man doch nicht das daraus ableiten, was man daraus abzuleiten pflegt, nämlich ein Ewiges, das unbeweglich ist, sondern im Gegenteil ein ewiges Bewegtes. Denn so wahr es ist, daß nichts sich selber bewegt, so wahr ist auch, daß nichts sich bewegt außer durch etwas Bewegtes.112 Die Fragen nach der Größe und dem Ursprung der Welt sind also nicht von den Philosophen zu entscheiden, sondern von denjenigen, die von Rechts wegen zur Regelung der Gottesverehrung eingesetzt sind. Denn wie Gott der Allmächtige, als er sein Volk nach Judäa geführt hatte, die ihm vorbehaltenen Erstlinge der Früchte den Priestern zugestand, so wollte er doch auch, als er die von ihm gemachte Welt den Menschen zur Erörterung überließ,113 daß die Meinungen über die ihm allein bekannte Natur des Unendlichen und Ewigen gleichsam als die Erstlinge der Weisheit von denen beurteilt würden, deren Dienstleistung er sich bei der Regelung der Religion bedienen wollte. Ich kann daher jene Leute nicht loben, die sich damit brüsten, sie hätten im Ausgang von den Dingen der Natur durch ihre Beweisgründe dargetan, daß die Welt einmal einen Anfang genommen habe. Von den Laien werden sie verachtet, weil sie, was sie sagen, nicht verstehen; von den Gelehrten, weil sie es verstehen –
Siehe: Ibid. XXVI, Art. 1. Siehe: Aristoteles: Metaphysik. A.a.O. 982b. – Diese aristotelische Lehre unterwirft Hobbes nochmals der Kritik im Zusammenhang mit der Wissenschaftsferne heidnischer Religionen. – Siehe: Thomas Hobbes: L 90. 111 Siehe auch: Thomas Hobbes: L 22. 112 Siehe: Thomas Hobbes: Co IX, Art. 7. 113 Siehe: Koh 3,11. 109
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
und von beiden zu Recht.«114 Endlich gibt Hobbes’ vielsagender Beschluß dann auch Auskunft über seine Strategie, wie in Glaubensdingen zu verfahren sei: »Ich übergehe also bewußt die Fragen nach dem Unendlichen und Ewigen und gebe mich zufrieden mit der Lehre von der Größe und dem Ursprung der Welt, welche die Heilige Schrift empfiehlt sowie der Ruf der sie bestätigenden Wunder und die Sitte meines Vaterlands und die den Gesetzen geschuldete Ehrerbietung. Ich gehe nun über zu anderen Dingen, die zu erörtern kein Frevel ist.«115 3.2 Die Ablösung des göttlichen Gesetzgebergebots durch die Regelmäßigkeit beobachtbarer Phänomene: der Untergang des physikalischen Theonomieprinzips Nicht nur die deutsche Naturrechtslehre bleibt insgesamt noch stärker theologisch geprägt. Bei Pufendorf und auch Thomasius findet sich noch keine weltliche Rechtsethik, sondern (naturrechtliche) Pflichten gegen Gott (z. B. den Glauben an Gottes Existenz und sein Schöpfertum, die Pflicht zum Gehorsam ihm gegenüber usw.).116 Auch Christian Wolff trägt noch ausführlich zum Lehrstück der theologia naturalis bei, deren Wirkungsgeschichte erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu versiegen beginnt. In seiner Deutschen Metaphysik, die erstmalig 1720 in Halle erscheint, erklärt Wolff, Gott schreibe der Natur Regeln vor, »da sie auch gar wohl hätten anders seyn können.«117 Daß auch für das physikalische Naturgesetz dieselbe Entwicklung, d. h. die Eliminierung des göttlichen Gesetzgebers zu konstatieren ist, ist bereits angedeutet worden, kann hier aber nicht im einzelnen erörtert werden.118 Voraussetzung für diesen Prozeß scheint zu sein, »daß wir die innere Wirkungsweise der Naturkräfte nicht verstehen und uns nur an das halten, was wir beobachten.«119 Demnach verwandeln sich physikalische Gesetze im späten 18. Jahrhundert von göttlichen Geboten in das Prinzip der Regelmäßigkeit, welches in unterschiedlichen Beobachtungspraktiken (insbesondere technischen: Mikroskop und Teleskop) bis heute einen unverzichtbaren Bestandteil menschlichen Wissens ausmacht. ErkenntnisSiehe: Thomas Hobbes: Co XXVI, Art. 1. Siehe: Ibid. 116 Siehe: Samuel Pufendorf: De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo (1673). A.a.O. Lib. 1, cap. 3. – Christian Thomasius: Institutionum jurisprudentiae divinae libri tres (1688). A.a.O. Lib. 1, cap. 1, Nr. 28, 6. – Christian Wolff: Institutiones juris naturae et gentium, in quibus ex ipsa hominis natura continuo nexu omnes obligationes et jura omnia deducuntur. Halae Magdeburciae 1750. Pars 1, cap. 6, §§ 160 ff., 87 ff. 117 Siehe: Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen. Neue Auflage Halle 1751. § 1008, 622. 118 »Wie dieser Prozeß im einzelnen verlaufen ist, scheint bisher nirgends detalliert dargestellt worden zu sein. Es ist unzweifelhaft, daß er stattgefunden hat, er kommt aber in Deutschland wohl erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Abschluß.« – Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 29. 119 Siehe: Ibid. 114
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3. Kapitel · Das physikalische Naturgesetz in der frühen Neuzeit
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theoretisch ist hiermit die sog. »kopernikanische Wende« Kants angesprochen, daß nun der Verstand der Natur die Gesetze vorschreibe.120 Jan Schröder faßt die Situation der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie folgt zusammen: »Es gibt jetzt zwei ganz disparate Gattungen des Gesetzes. Auf der einen Seite das positive Gesetz als Gebot eines Gesetzgebers, auf der anderen das juristisch-moralische und das physikalische Naturgesetz als beobachtete oder durch die Vernunft erschlossene allgemeine Regelmäßigkeit. Das eine ist nicht notwendig gerecht oder vernünftig, das andere hat keinen Gesetzgeber.«121 Diese problemgeschichtliche Beurteilung Schröders hat zwar ihr Recht, doch wird sich bald zeigen, daß deren impliziter Behauptung, der Tradition gelte Gott nicht auch als Gesetzgeber der lex naturalis, mit Skepsis begegnet werden sollte. Doch unbeschadet solcher problemgeschichtlicher Turbulenzen bleibt die Notwendigkeit, einen einheitlichen Gesetzesbegriff zu restituieren. Diesem Interesse kann und soll hier nicht Rechnung getragen werden;122 vielmehr sind im weiteren die religiösen Folgen der Austreibung des Theonomieprinzips aus dem Wissenschaftsverbund zu untersuchen. 3.3 Die religiösen Implikationen der frühneuzeitlichen Astronomie Heute ermöglicht das System der Wissenschaften dem Menschen zwei grundsätzlich verschiedene Perspektiven, die einerseits eine verzauberte und andererseits eine »entzauberte Welt«123 zum Vorschein bringen.124 Die Voraussetzung hierfür besteht in einer Interferenz von Wissenschafts- und Religionsgeschichte, wobei aus nicht unplausiblen Gründen nicht selten das besagte »kopernikanische Weltbild«, also der Übergang vom Geozentrismus zum Heliozentrismus, als ›Beginn der Neuzeit‹ verstanden wird. Die vormalige Geltung des antiken Weltbildes: die Erde im Zentrum umgeben von einem Fixsternhimmel, in welchem die Mondbahn die Welt in eine superlunarische und sublunarische Sphäre teilt, wird im Zuge des anschwellenden Entdeckungsreichtums der modernen Naturwissenschaften einer zunehmend ernsthaften Gefährdung ausgesetzt: Beobachtet wird erstmals die Tagesrotati120 Siehe: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. – In: AA 3. Vorrede zur zweiten Auflage. X–XXII. – Kant degradiert die Frage nach der Existenz Gottes zu einem von drei moralischen Postulaten: » D a s D a s e i n G o t t e s , a l s e i n Po s t u l a t d e r r e i n e n p r a k t i s c h e n Ve r n u n f t « . – Siehe: Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. – In: AA 5. 1 – 163; hier 124 ff. 121 Siehe: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 31. 122 Siehe hierzu: Jan Schröder: Gesetz und Naturgesetz in der frühen Neuzeit. A.a.O. 31 – 34. 123 Siehe: Max Weber: Rationalisierung und entzauberte Welt. – In: Schriften zu Geschichte und Soziologie. Herausgegeben von Friedrich Hauer und Wolfgang Küttler. Leipzig 1979. – Siehe auch: Heinz Dieter Kittsteiner: Romantisches Denken in der entzauberten Welt. – In: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. München 1996. 486 – 507. 124 Die bis heute konservierte Ambivalenz von Animismus und wissenschaftlichem Weltbild erörtert: Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 2009. 58 – 78.
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on der Erde, ihre Drehung um die eigene Achse sowie ihr Sonnenumlauf innerhalb eines Jahres. Wenig treffend wird später Sigmund Freud eine astronomische, eigentlich: kosmologische Kränkung des Menschen diagnostizieren125 und will damit anspielen auf die Zerstörung der angeblichen narzißtischen Illusion des Menschen durch Kopernikus. Doch diese Analyse verfehlt Gefühl und Weltverständnis des frühneuzeitlichen Menschen.126 Im Bereich der Physik, genauer: der damaligen mechanistischen Naturphilosophie als System,127 bleibt Kopernikus noch einer Planetengeometrie mit Kreisbahnen, also einem antikisierenden Modell, verhaftet. Ein kurzer Abriß seiner Entdeckungen über die Himmelsbewegungen, die Kopernikus in gebotener Ausführlichkeit in seinem Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium (1543) darlegt, existiert in Form einer frühen Niederschrift, in der Forschung unter dem Kurztitel Commentariolus bekannt.128 Johannes Kepler dagegen definiert elliptische Gestirnumläufe in ihrer Dynamik129 – eingedenk »der Ansätze zu einem heliozentrischen Weltbild im Altertum«.130 Siehe: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 12. Werke aus den Jahren 1917 – 1920. Frankfurt a. M. 1947. 6 f. – Siehe ebenso: Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. – In: ders.: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 3. III. Buch. Aphorismus 125. »Der tolle Mensch«. 126 Siehe hierzu das – zeitgleich mit Martin Heideggers Sein und Zeit erscheinende – Werk Ernst Cassirers Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig 1927. – Cassirer wirbt auf der Basis eingehender Studien in der legendären Privatbibliothek des Kunsthistorikers Aby Warburg (1866 – 1929) für die These, die Moderne setze bereits mit den Denkern und Künstlern der italienischen Renaissance – und nicht erst mit Descartes – ein. 127 Wie gesagt sind neben der Optik (Opticks or a Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light [1704]) die Philosophiæ naturalis principia mathematica (1687) Isaac Newtons bedeutsamste Schrift. Newton wählt diesen Titel wohl in Anlehnung an Descartes’ bereits 1644 veröffentlichte Principia philosophiae – getrieben davon, ex post die Grundlagen der Naturphilosophie, aus welcher das Welt-System gefolgert werden könne, anzugeben. – Die auf der Basis der Principia im 18. Jahrhundert entstandene Denk- und Forschungsrichtung des Newtonianismus, zu deren Verbreitung v. a. Robert Boyle (1627 – 1691) beiträgt, bleibt der Existenz und dem Wirken Gottes in der erkennbaren natürlichen Ordnung unterstellt. 128 Siehe: Nikolaus Kopernikus: Erster Entwurf seines Weltsystems sowie eine Auseinandersetzung Johannes Keplers mit Aristoteles über die Bewegung der Erde. Nach den Handschriften herausgegeben, übersetzt und erläutert von Fritz Rossmann. Sonderausgabe. Darmstadt 1966. 9 f.; bes. 12; 15. (»Libelli«. Band CXLI) – Zur Relativierung des wissenschaftlichen Stellenwerts der Astronomie Kopernikus’, der die Welt noch als für die Menschen geschaffen betrachtet und die kosmische Dezentrierung der Erde lediglich um willen der Erhaltung der Idee vollkommener Ordnung und somit des Schöpfungsgedankens theoretisch rekapituliert, siehe: Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. A.a.O. 164 (mit Bezug auf Ptolemäus); 167 (bezogen auf den mittelalterlichen Gottesbeweis und ein heilsgeschichtliches Weltverständnis); bes. 170: »Im Rückblick auf Kopernikus bemerkt man, daß dieser zwar den Aufbau des Sonnensystems, nicht aber dessen inneren Zusammenhang neu dargestellt hatte; ihm war es genug gewesen, die bloße Möglichkeit der Erdbewegung aus ihrer Kugelgestalt abzuleiten, sie im übrigen aber als isolierten Sachverhalt zu betrachten. Der Wahrheitsanspruch Keplers beruht auf einem erhöhten Niveau der Erklärungsleistung und läßt die Aufgabe erkennen, die Newton sich stellen wird, um das kopernikanische System aus seinen Kausalverhältnissen zu bestätigen.« 129 Zu der zentralen Einsicht in Keplers Harmonice Mundi (1619) schreibt Max Caspar: 125
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Doch bleiben wir noch einen Moment bei Kopernikus. In Kopernikus’ Zeit ist das Weltverständnis in extremer Weise von einem religiösen Erleben durchdrungen. So erscheint es erst heute überraschend, daß Kopernikus selbst der Überzeugung ist, sein Weltbild ziehe überhaupt keine ›religiöse Revolution‹ nach sich, garantiere doch gerade der Gottesgedanke im Zentrum seiner Lehre einen rationalen Zugriff auf die Welt. Er glaubt fest daran, seine Theorie bemächtige sich allein der Welt des Menschen, nicht des Inneren der Schöpfung selbst (und deshalb kann besagte Interpretation Freuds schwerlich gestützt werden). Der Zugang zur Welt müsse jederzeit philosophisch-theologisch garantiert bleiben, und dieser Forderung trage die Entdeckung Rechnung, der Ingenieur Gott habe eine »Weltmaschine« konstruiert. Und am wichtigsten: Die Möglichkeit des Menschen, in die Funktionsweise dieser ›Apparatur‹ Einblick zu gewinnen, gebe ihm das Recht auf eine technisch-rationale Perspektive auf die Welt. Hierin zeigt sich das veränderte Verständnis der Ganzheit der Welt im Vergleich zum nominalistischen Gottesbegriff des Spätmittelalters, dessen Nachwirkungen noch in Descartes’ Philosophie vernehmbar sind. Die Herkunft dieser Vorstellung eines Gottes als Werkmeister liegt nicht im Buch Genesis beschlossen;131 auch die christliche creatio ex nihilo132 scheidet als Urmotiv aus; vielmehr scheint hier der Demiurg aus Platons Timaios im Hintergrund zu stehen,133 mithin ein Weltbaumeister, der die Welt aus vorgegebener Materie formt. Die religiöse Zuversicht, die Kopernikus’ Werk durchdringt, verdeutlicht noch am ehesten seine Ansicht, die Weltmaschine sei um der Menschen willen gebaut und bewußt in der Weise konzipiert worden, daß der Mensch gut in ihr leben könne. Dieser Aspekt verdeutlicht das Theodizee-Moment dieses Weltverständnisses: die Rechtfertigung des Konstrukteurs der Weltmaschine, die keinerlei Mängel leide. In der Folgezeit wird die eigentlich religiöse Relevanz der Theorien des Kopernikus allerdings wieder in ein anderes Licht gerückt. Das hierbei herangezogene Kriterium ist der Schriftbeweis. Im Zuge der Reformation, sc. dem Niedergang der religiös-kirchlichen Einheitskultur des Mittelalters, schwindet das Prinzip der Priesterautorität, in dessen Folge der Rekurs auf die Heilige Schrift selbst, der Biblizismus, seine Herrschaft antritt. Die Konsequenz indes besteht in nichts weniger als »Schon Ende 1616 sehen wir ihn auch bei seinen astronomischen Rechnungen auf der Suche nach dem Gesetz, das die Umlaufzeiten der Planeten mit ihren Abständen von der Sonne verbindet […].« – Siehe: Max Caspar: Johannes Kepler. Stuttgart/Zürich/Salzburg 1948. 315. – Zu Keplers »Verwerfung der Unendlichkeit« siehe: Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Übersetzt von Rolf Dornbacher. Frankfurt a. M. 1980. 63 – 86. 130 Siehe: Ibid. 92. 131 Siehe: Gen 1,3; 1,6; 1,14; 21,12; bes.: Ex 3,14. 132 Siehe konträr: Epikur: »Brief an Herodot«. – In: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. A.a.O. X, 38. 133 Siehe: Platon: Timaios. – In: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Herausgegeben von Gunther Eigler. Siebter Band. Darmstadt 1972. 29a.
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dem schrittweisen Versiegen der exegetischen Deutungshoheit des Klerus, mithin also eine Individualisierung, ja Subjektivierung der Theologie als solcher. In den Mittelpunkt der Diskussionen rücken nun Bibelstellen, die geozentrisch ausgelegt werden können;134 Melanchthon beispielsweise führt sie an mit dem Argument, die Schrift selbst widerlege das System Kopernikus’.135 Die hieraus resultierende Verunsicherung betrifft beide Lager, sowohl das wissenschaftliche als auch das theologische. Ein anderer Vorwurf an die Kopernikanische Lehre lautet, sie sei contra sensum communem. Und auch wenn Osiander in seinem anonymen Vorwort, das Kopernikus’ Schriften beigegeben ist,136 betont, der Autor habe sein neues Weltbild als Hypothese vorgetragen (was freilich um willen der Sicherung der Ergebnisse Kopernikus’ für die Offenbarung geschieht), bleibt der Wahrheitsanspruch, den Kopernikus für die superlunarische Welt insgesamt erhebt, im Kern unangetastet, dürfen doch nach damaliger Theorie über den superlunarischen Bereich überhaupt nur Hypothesen angesetzt werden. So können aus dem Kopernikanismus zwei Lehren gezogen werden: Zum einen ist die Erkenntnis von Welt nicht an die Geozentrik gebunden; und zum anderen garantiert die Geozentrik noch keine humane Relevanz der Welt. Dem ptolemäischen Weltbild zufolge befindet sich der Mensch zwar im universalen Zentrum, doch impliziert diese ›Stelle im Raum‹ noch keineswegs eine rationale Welterschließung des Menschen. Wenn die mit der Lehre des Kopernikus einhergehende Dezentrierung des Menschen zu einer Verbannung in einen entlegenen Winkel des Weltalls führt – und eben nicht zu seiner Erhebung an einen ›Platz an der Sonne‹ –, folgt daraus, daß die Rationalität von Erkenntnis nicht standort- oder perspektivenabhängig ist. Dieser Transformation des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses kann jedoch noch keine religiöse Relevanz zuerkannt werden.
Z.B.: Jos 10,12 f. Siehe: Brief Melanchthons vom 16. Oktober 1551. – Siehe zum Problemkreis insgesamt: Konrad Müller: Ph. Melanchthon und das kopernikanische Weltsystem. – In: Centaurus. London. 9 (1963), 1, 16 – 28; hier insb. 27 f. 136 Kopernikus schließt De revolutionibus orbium coelestium bereits 1530 weitgehend ab, es wird allerdings erst kurz vor seinem Tod (1543) in Nürnberg veröffentlicht. Dies ist aller Wahrscheinlichkeit nach seinem Schüler Georg Joachim von Lauchen (genannt Rheticus; 1514–um 1575), einem österreichischen Astronom und Professor für Mathematik in Wittenberg, zu verdanken. 1539 – 1541 ist er Kopernikus’ Mitarbeiter, kommentiert dessen Schriften. Auch die Anfänge der Berechnung 10-stelliger trigonometrischer Tafeln, die 1596 erscheinen, gehen auf ihn zurück. Von Lauchen drängt den unentschlossenen Kopernikus dazu, sein Werk endlich drucken zu lassen. Das bewußt doppeldeutig gehaltene Vorwort verfaßt der lutherische Pfarrer Andreas Osiander (1498 – 1552) – allerdings ohne Kopernikus’ Wissen. Es verfolgt v. a. die Strategie, die Bedeutung des Werkes insgesamt zu relativieren, d. h. ihm einen Hypothesencharakter zu unterstellen. Vermutlich will Osiander einem Konflikt mit der Kirche aus dem Weg gehen. Erst Kepler bemerkt später, daß das Vorwort nicht aus Kopernikus’ Feder stammt. Selbst den Titel des Werks hatte Osiander eigenmächtig abgeändert: Kopernikus hat ihm die Bezeichnung De revolutionibus orbium mundi geben wollen. 134
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3.4 Die Dezentrierung der Unendlichkeit und der hypothetische Kopernikanismus Eine solche tritt erst zu Tage mit dem Renaissancephilosophen Giordano Bruno (1548 – 1600) und mit Galileo Galilei (1564 – 1642). Der Antiaristoteliker und Dominikaner Bruno greift zurück hinter die christliche Tradition auf antike, besonders neoplatonische Motive. Erst mit Bruno wird der Kopernikanismus zu einem wahrhaft theologischen Problem, was bei Kopernikus selbst, wie gesehen, so noch nicht der Fall ist (es sei denn, es wird mit dem ›Schriftbeweis‹ argumentiert). So gesehen sollten die Einsichten Brunos der Bewußtseins-, und nicht der Wissenschaftsgeschichte des Kopernikanismus zugesprochen werden. Der Kopernikaner Bruno, dessen Werke in Paris, London, Wittenberg, Prag, Helmstedt, Frankfurt und Zürich publiziert werden – die meisten Druckorte sind fingiert –, begreift den Kopernikanismus als eine Befreiung aus metaphysischer Gefangenschaft eingedenk der damaligen Überzeugung, für Himmelsbewegungen seien Intelligenzen wirksam.137 Er zieht aus dem Kopernikanismus die Konsequenz einer ersten Dezentrierung des heliozentrischen Weltbildes. Lauten die Kernpunkte des Kopernikanischen Modells: 1. Die Planeten umkreisen den Mittelpunkt Sonne; 2. die äußerste Planetenbahn besetzt der Saturn, der 30 Jahre benötigt, die Sonne zu umrunden; 3. die einzigen unbeweglichen Himmelskörper sind die Fixsterne, entsteht Bruno das Problem, daß gerade die vorgeblich unendlich weit entfernten Fixsterne trotz der Bewegung der Erde um die Sonne unter dem gleichen Winkel, an der gleichen Stelle des Himmels, quasi als stellae immotae erscheinen (Fixsternparallaxe138). Daraus folgt aber auch, daß das All in seiner Gesamtheit unHier sind mitnichten Mittlerwesen (Engel) zwischen Himmel (Gott) und Erde (Mensch) angesprochen, die von Augustinus über Thomas von Aquin bis Hildegard von Bingen und auch noch bei dem Mathematiker Blaise Pascal (1632 – 1662) mit reinen, d. h. körperlosen Geistern identifiziert werden. – Siehe: Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. De civitate Dei. Zwei Bände. In deutscher Sprache von Carl Johann Perl. Paderborn/München/Wien/Zürich 1979. V, 9; XXII, 1. – Siehe: Thomas von Aquin: Summa Theologica. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe. Band 4. Salzburg/Leipzig 1936. I. Buch. Schöpfung du Engelwelt. Quaest. 50. Art. I. Resp.; zudem: Quaest. 51. Art I. Resp.; daß Engel »bisweilen Körper annehmen«: Quaest. 51. Art II. Resp. – nämlich »um unsertwillen«: Ibid. Ad primum. – Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit (Quaestiones disputatae de veritate). In deutscher Übertragung von Dr. Edith Stein. Unbeschuhte Karmelitin. Band I (Quaestio 1 – 13). Louvain/Freiburg i. Brsg. 1952. VIII. und IX. Quaestio. 175 – 221; 223 – 237. – Hildegard von Bingen: Wisse die Wege. Scivias. Nach dem Originaltext des illuminierten Rupertsberger Kodex des Wiesbadener Landesbibliothek ins Deutsche übertragen und bearbeitet von Maura Böckeler, Chorfrau der Benediktiner-Abtei St. Hildegard zu Eibingen. Salzburg 31955. 140 – 144. – Siehe: Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände. (Pensées) Übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth. Fünfte, vollständig neu bearbeitete und textlich erweiterte Auflage. Heidelberg 1954. VI. 358. 138 Die Fixsternparallaxe ermöglicht die Bestimmung der Entfernung von Sternen. Kopernikus kann seine Hypothese von der Mittelpunktstellung der Sonne noch nicht beweisen. Der wichtigste Beweis hätte darin bestanden, daß die Fixsterne in Folge der Jahresbewegung der Erde um die Sonne eine wenn auch geringfügige, aber doch periodische Ortsveränderung zeigen, die sog. Fixsternparallaxe, die erst Friedrich Wilhelm Bessel (1784 – 1846) in einer Publikation des Jahres 1838 erstmals nachweist. – Zur Fixsternparallaxe siehe: Harald Siebert: Die große kosmologi137
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ermeßlich groß, ja unendlich sei. Letztlich resultiert daraus ein fundamental modifizierter Gottesbegriff, welchem das Charakteristikum der Unendlichkeit notwendig zukommt.139 Wenn aber bereits der Welt Unendlichkeit zukomme, komme Kopernikus’ Metaphorologie, die Welt sei mit einer Maschine vergleichbar, keinerlei Überzeugungskraft mehr zu. Hier zeigt sich in aller Klarheit, daß Bruno die Dezentrierung – und daraus folgend – die Unbegrenztheit denkt. So sieht er in Wahrheit in Union mit der Kirche, die für die Tragik seines persönlichen Schicksals eine schreckliche (Mit-)Verantwortung trägt, die Konsequenzen für die Zukunft des Bundes (sc. der Heilsgeschichte, wie es später heißen wird). Der deistische Naturphilosoph Lucilio Vanini (* 1585 in Taurisano bei Lecce, Apulien), der sich selbst die Vornamen Giulio Cesare gibt, wirkt als katholischer Priester und Mönch des Karmeliterordens, lehrt in Paris und Toulouse Medizin, Astronomie und Rechte. Vanini ereilt am 19. Februar 1619 in Toulouse – wie auch 1600 Bruno in Rom – das Schicksal des Scheiterhaufens. Die Anklagepunkte gegen ihn lauten Gotteslästerung und sogar Atheismus. Eine prominente Begebenheit aus dem Prozeß gegen Vanini schildert Gottfried Arnold: »Nun bekennen seine ankläger selbsten, daß er bey der inquisition sich allezeit wol und orthodox erkläret, auch sonderlich vor dem Richter weitläufftige discurse von der existenz Gottes geführet, da er unter andern im Gerichte einen stroh-halmen von der Erde aufgehoben und gesaget: Au c h d i e s e r h a l m e n n ö t h i g e t m i c h z u g l a u b e n , d a ß e i n G o t t s e y, welches er nach der länge deducirt gehabt, auch die zum schein gemachten einwürffe derer Richter ernstlich widerleget. […] Dieses alles aber hat bey seinen anklägern und Richtern nichts geholffen, ohne zweiffel weil sein todt einmal beschlossen gewesen, wozu man etliche zeugen leichtlich finden können. […] Der hencker mußte ihm die zunge mit gewalt aus dem halse ziehen und abschneiden,140 dabey sie schreiben: E r h ä t t e g e b r ü l l t w i e e i n o c h s e : hernach wurde er nicht dem urtheil gemäß erst gehencket, sondern seine qvaal zu vermehren am feuer geschmeuchet und verbrannt, die asche zuletzt in die lufft gesprenget.«141 sche Kontroverse. Rekonstruktionsversuche anhand des Itinerarium exstaticum von Athanasius Kircher SJ (1602 – 1680). Stuttgart 2006. 155 – 293. 139 Siehe den zweiten, dritten und fünften Dialog in: Giordano Bruno: Über die Ursache, das Prinzip und das Eine. De la causa, principio et uno. Italienisch–deutsch. Übersetzung, Einleitung und Kommentar von Thomas Leinkauf. – In: Giordano Bruno Werke (GBW). Band 3. Hamburg 2007. 85 – 181; 227 – 267. 140 Bereits mit dem 1224 von Kaiser Friedrich II. erlassenen Edikt Cum ad conservandum sieht sich die höchste weltliche Gewalt in der Pflicht gegenüber Gott, zum Schutz des Glaubens gegen Häretiker vorzugehen, indem überführte Häretiker dem Feuer zu übergeben oder auf andere Weise (Herausschneiden der Zunge) zu bestrafen seien. – Siehe: Constitutio contra haereticos Lombardiae. (März 1224) – In: Monumenta Germaniae Historica (MGH). Leges IV, Tomus II. Hannover 1896. 126 – 127, Nr. 100. 141 Siehe: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr 1688. Franckfurt am Mayn 1729. 1076. – Arnolds Quelle für dieses
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Problemgeschichtlich heißt dies, daß hier seit den antiken Systemen der Philosophie die früheste Form einer Erneuerung des Pantheismus (Gott und Welt[en] seien unendlich und hierin identisch) zu Tage tritt. In Deutschland regt bekanntlich erst Friedrich Heinrich Jacobi mit seinen Spinoza-Briefen142 wieder eine pantheistische Diskussion an. Jacobi erkennt in Bruno, aus dessen Werken er ausführlich zitiert,143 einen Vorläufer des angeblichen Pantheisten Spinoza und spitzt die Zeugnis ist das dritte Buch der Historiarum Galliae ab excessu Henrici IV. Libri VIII. Quibus rerum per Gallos totâ Europâ gestarum accurata narrartio continetur. Avtore Gabr. Bartholomæo Gramondo. In sacro Regis Consistorio Senatore, & in Parlamento Tolosano Præside. Amsteldami 1653. – Eine kürzere erste Ausgabe erscheint bereits 1643 in Toulouse. Ihr Autor, eigentlich Gabriel de Barthélmy, Seigneur de Grammont (ca. 1590 – 1654), ist, wie dem Buchtitel zu entnehmen ist, Präsident des ersten Parlaments der Stadt Toulouse. De Barthélmy betreibt die Verhaftung Vaninis erfolgreich; es gelingt ihm, den Angeklagten dem Inquisitionstribunal zu übergeben. Diesem steht er selbst vor. Er verhängt schließlich das Todurteil über Vanini: Das Urteil rechtfertige sich aus Vaninis Leugung Gottes. Im genannten Werk Liber Tertius, 210 – 212, findet sich die früheste Darstellung des Prozesses gegen Vanini, in der ein Zeuge namens Franconus i. S. der Anklage auftritt: »[…] cum Franconus (vir prosapia illustris, vel uno hoc indicio vita probissimus) negatum sibi à Lucilio per saepe Deum; dataque objicit in ludibrium fidei arcana Christianæ: comittur reo testis & sustinet, sistitur Senatui audiendus de more reus; in sella sedet rogatusque de Deo quid sentiat, respondet; ›Coli sibi in Trinitate Vnum qualem adorat Ecclesia Orthodoxa. Deum plane convincere naturam ipsam‹. Hæc cum diceret fortuitam è terra paleum legit, manuque ad iudices protensa, ›Hæc‹ (inquit) ›jubet ut credam Deum esse‹: dein ad / providentiam prolabi ›ut jactum in terram semen, ut elanguisse visum & mori, ut ex putrefacto albescit, ut viret & nascitur, ut sensim crescit, ut adolescitrore matutino, ut luxuriat infusa largius desuper aqua, ut in aristas armatur prohibendis per spicul avibus, ut in stipulam erigitur & frondescit, ut flavescit provectius, demissoque ut supercilio languet, donec moritur: ut postmodum trituratur, separatoque ut à palea fructu, grano homines, palea vivunt animantes usui hominum debitæ‹; unde concludebat Deum esse naturæ autorem. Quod si id totum fieri à natura objicitur, regrediebatur ad hoc grano ad proxime antecedens? donec antecedens in hunc modu: ›si id seminis natura produit, quis immediate proximum? & illi debita ex natura processio, quis antecedens? Donec ad primum veniret, quod necessarium est fuisse creatum, cum nonesset à quo produceretur; naturam creationis incapacem esse probabat multis; Ergo Deus est Creator omnium‹.« – Für diese bibliographischen Nachweise danke ich Peter Kriegel, Bochum. – Siehe zu Vanini auch: Winfried Schröder: Die Ursprünge des Atheismus. A.a.O. Bes. 324 – 330. – Heute findet Vanini kaum Beachtung – anders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So widmet Hegel Vanini in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie im Anschluß an den Teil über Giordano Bruno einen längeren Abschnitt; auch die Vorlesungen über die Philosophie der Religion haben ihn zum Gegenstand. Hegels Ausführungen gründen auf: Johann Gottlieb Buhle: Geschichte der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften. 6 Bde. Göttingen 1800 – 1804. Hier: Bd. 2, Abt. 2. 866 – 869. – Auch Schopenhauer lobt Vaninis anti-theistische Position und erwähnt neben Brunos ausdrücklich auch dessen Martyrium. 142 Siehe: Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Neue vermehrte Ausgabe. Breslau 1789. – Die Erstausgabe erscheint 1785. – Neben den Originalausgaben sind einzusehen: Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Spinozastreit. Herausgegeben von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske. – In: Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe herausgegeben von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Band 1,1. Hamburg 1998. 1 – 268. (Sigle: JWA + Bandnr.) 143 Brunos Schriften hat meistenteils das Schicksal des Scheiterhaufens ereilt, dementsprechend selten sind sie auch im 18. Jahrhundert greifbar. Insofern kommt Jacobis Interesse für den
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Debatte zu auf die Alternative theistischer (persönlicher) vs. pantheistischer Gottesbegriff.144 Doch dies sei nur am Rande erwähnt. Für die Astronomie haben sich Galileis Forschungen als weniger relevant erwiesen; beispielsweise macht er Beobachtungen über die Mondoberfläche, die sich später als nicht haltbar erweisen. Auch versucht er, die Bewegung der Gezeiten durch die Erdrotation zu erklären, was ebenso widerlegt worden ist (lunarische Anziehungskraft). Bedeutsam ist er dagegen sowohl für die Entwicklung der Mechanik als auch für die Methodologie der Naturwissenschaften. Im Vergleich zu Bruno erscheint sein Anliegen heute aber eher der Zeit verhaftet. In einem Brief an Kepler vom 4. Oktober 1595 gibt er sich als Kopernikaner zu erkennen. Die erste Befragung durch die Inquisition ereilt ihn 1616. Darin gibt er zu Protokoll, der Kopernikanismus sei philosophisch töricht sowie theologisch ketzerisch. Diese Ansicht entspricht allerdings weniger der ambivalenten Strategie der Folgezeit, die einerseits darauf abzielt, Kopernikus’ Theorie mit dem Hinweis darauf, sie sei lediglich mathematische Hypothese145 und dürfe so auch öffentlich gemacht werden, zu stärken, andererseits jedoch ebenso die ›Allmachtsklausel‹ Gottes,146 die durch wissenschaftliche Ergebnisse keinesfalls in Frage gestellt werden dürfe, betont. Diese Versteifung auf die göttliche Allmächtigkeit kollidiert allerdings mit dem Prinzip der Eigengesetzlichkeit der Natur – und damit der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt: Wie sollen (gerade regelmäßig) beobachtbare Naturerscheinungen wisPantheismus auch eine editorische Relevanz zu, wenn er in der genannten 2. Auflage seines Spinoza-Buchs Auszüge aus Brunos Dialog De la causa, principio e uno (Venedig 1584; dt. Sulzbach 1824) erstmals übersetzt und veröffentlicht. 144 Siehe: Stepahn Otto: Spinoza ante Spinozam. Jacobis Lektüre des Giordano Bruno im Kontext einer Begründung von Metaphysik. – In: Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hgg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004. 107 – 125. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Band 29) 145 Der Anklagepunkt im Galilei-Prozeß lautet denn auch nicht, Galilei sei angeblich Kopernikaner, sondern vielmehr, er habe gegen die Auflagen bei der Publikation seines neuen Buches verstoßen: nämlich nicht am besagten Hypothesencharakter des Kopernikanismus (siehe: II. Teil, Kapitel 3.3) festgehalten zu haben. 146 Zwar kommt diesem Gedanken zur damaligen Zeit noch Plausibilität (insbesondere rationale!) zu; davon unbenommen bleibt aber das (in Wahrheit spätmittelalterliche) Profil dieser Projektion unversehrt. Unerwähnt bleiben kann, daß der antiken Welt eine solche theologische Ansicht unbekannt gewesen ist. – Siehe zu diesem gesamten Komplex die nach wie vor einschlägige problemgeschichtliche Studie: Richard Hönigswald: Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen. Im Auftrag des Hönigswald-Archivs. Herausgegeben von Dr. Gerd Wolandt. – In: ders.: Schriften aus dem Nachlaß. Band 1. Veröffentlichung durch das Hönigwald-Archiv am Philosophischen Seminar I der Universität Würzburg unter Leitung von Prof. Dr. Hans Wagner. Stuttgart 1957. 13 – 48; bes. 127 – 184. – Des weiteren: Claude Tresmontant: Biblisches Denken und hellenische Überlieferung. Ein Versuch. Düsseldorf 1956. (Das Original ist erschienen unter dem Titel Essai sur la pensée hébraique als Band 12 der Sammlung Lectio Divina im Verlag Les Éditions du Cerf, Paris 1953. Für die Übertragung ins Deutsche zeichnet Fridolin Stier.) – Siehe auch: ders.: Paulus. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg o. J. 117 – 122.
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senschaftlich eingeordnet werden können, wenn die Aktualität des freien Willens Gottes jederzeit eine alternative Form von Welt ermögliche? Wenn Gottes vorgebliche Omnipotenz keinerlei logische Stringenz impliziert, verstärkt sich stattdessen das soteriologische (oder erlösungstaktische) Moment umso mehr. Die Möglichkeit einer durch Gott selbst prinzipiell gefährdeten natürlichen Ordnung führt gleichursprünglich die geweissagte Erlösung, sprich die Auferstehung der Leiber, wieder ein: Die Natur selbst gerät zum Ausdruck eines Heilsplans, deren Einlösung mit der in der Apokalypse erscheinenden Himmelsstadt, dem »Himmlischen Jerusalem«,147 vollbracht ist. In der Konsequenz bedeutet dies: Allein Gottes Allmacht wohnt Erlösung inne. 3.5 Das theoretische Antlitz frühneuzeitlicher Physik: der Mechanismus Von Kopernikus bis Newton wird die Ausbildung des wissenschaftlichen Weltbildes gefördert. Wie gesehen, stehen dabei Offenbarungswahrheit und wissenschaftliche Wahrheit nicht notwendigerweise in Konflikt miteinander, was in besonderer Weise das damalige Erstarken des Mechanismus, der in direkter Verbindung mit dem Allmachtsattribut Gottes steht, erhellt. Die damit verbundenen Revisionen der Bewegungslehre (von denen noch die Rede sein wird) sowie des Kraftbegriffs führen in erster Linie zu einer Überwindung des Aristotelismus. Doch die mechanistische Weltdeutung ist seinerzeit derart stark etabliert, daß sie bis zur mechanistischen Deutung von Empfindungsqualitäten, z. B. des Geschmacks, reicht. Seit Kopernikus gehen die Gelehrten nicht mehr von Himmels-, sondern Weltkörpern aus.148 Noch bis in die Zeit nach Kopernikus wird angenommen, die Bewegung von Himmelskörpern sei auf Intelligenzen (Sphärengeister) zurückzuführen.149 Zur Erklärung geordneter, vollkommener Kreisbahnen (die bereits Platon insinuiert150) reicht jedoch ein reiner Kraftbegriff nicht aus; und auch das Gravitationskonzept ist nicht hinreichend. Johannes Keplers Astronomia nova (1609)151 ersetzt »anima«
Siehe: Off 21,1 – 2; 21,11 – 15; 22. Vgl. schon den ursprünglichen Kopernikus-Titel De revolutionibus orbium mundi. 149 Schon Aristoteles sieht in Sternen ungeschaffene Gottheiten und »abgesonderte Substanzen«, ewig und dem Werden entzogen. Damit zählt die Astronomie nicht zur physikalischen Wissenschaft, sondern ist Theologie. 150 Siehe: Platon: Timaios. A.a.O. 38b–39e. 151 Die Astronomia nova enthält die beiden ersten, später so genannten Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung: die Ellipse – mit der Sonne in einem Brennpunkt – als Bahn des Planeten und die konstante Flächengeschwindigkeit des Fahrstrahls Sonne–Planet als Maß für den zeitlichen Verlauf. – Siehe: ASTRONOMIA NOVA AITIOLOGJTOS, SEV PHYSICA COELESTIS, tradita commentariis DE MOTIBVS STELLÆ MARTIS, Ex observationibus G. V. TYCHONIS BRAHE: Jussu & sumptibus RVDOLPHI II. ROMANORVM IMPERATORIS & c: Plurimum annorum pertinaci studio elaborata Pragæ, A Sc. Ca. M.tis Sc. Mathematico JOANNE KEPLERO, Cum ejusdem Ca. M.tis privilegio speciali ANNO æræ Dionysiæ [Praha, H. G.] 147
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durch »vis« und spricht sich damit gegen sog. Sternengeister aus; doch in Wahrheit bedeutet diese konzeptuelle »Umbesetzung«152 weitaus mehr: nämlich die Absage an ein Verständnis der Welt i.S. eines göttlich beseelten Wesens zugunsten einer mechanistischen Betrachtungsweise. Kepler dagegen bedient sich der Metapher des Uhrwerks (die wiederum Kopernikus’ ›Maschine‹ verpflichtet ist). Aus zwei Gründen indes begünstigt diese Theorie die Wahrheit der christlichen Religion: 1. »Anima« ist kein biblischer Grundbegriff,153 sondern aristotelischer Provenienz. Christen haben das antike Weltbild relativ zügig in toto adaptiert – aber dessen Geisterpopulationen nicht angebetet. 2. Wenn der Ingenieur die Welt nicht nur entwirft, sondern sie auch in Bewegung versetzt und hält,154 ist das neuartige wissenschaftliche Weltbild auf die Vorstellung eines Hyperkonstrukteurs (der sich auch bei Kepler und Newton [»Pantokrator«155] findet) angewiesen: Naturphilosophie und Gottsuche sind nicht mehr zu unterscheiden. Dies impliziert zudem, daß die mathematischen Gesetze zurückführen seien auf die Wesensart des Schöpfers, dessen natürlicher Ausdruck, wie gesehen, nicht in Kreis-, sondern in Ellipsenbahnen besteht. Die Weltseele Gott schließt sonach Intelligenz und Willen in sich – d. h. sie weist Personenstatus auf. Die wissenschaftliche Welterklärung führt so gesehen streng religiöse Annahmen mit sich, obgleich die biblische Verkündung von der Erschaffung der Welt sich jedwedem Sternenkult widersetzt. Wenn die aristotelische Naturphilosophie eine natürliche Bewegung natürlich fixierter Körper zu erklären sucht,156 so widerstreitet die Theorie des frühneuzeitli1609. – Siehe hierzu insgesamt: Eduard J. Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes. Ins Deutsche übertragen von Helga Habicht. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956. 337 – 348. 152 Siehe: Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. A.a.O. 75. 153 Hier gibt es keine spezifischen, auf den Text der Bibel gestützten Einwände (Schriftbeweis) wie zuvor bei der Erdrotation. 154 Zu den spätesten Theoretikern eines so verstandenen »ingenium« zählt Giambattista Vico. – Siehe: Giambattista Vico: Liber metaphysicus. (De antiquissima Italorum sapientia liber primus) Aus dem Italienischen ins Deutsche übertragen von Stephan Otto und Helmut Viechtbauer mit einer Einleitung von Stephan Otto. München 1979. I, 2 – 3; VII, 1 – 4. 155 Siehe: Isaac Newton: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Ausgewählt, übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Ed Dellian. Hamburg 1988. Scholium Generale. 225 – 231. – Eine schöne Anekdote, die Kant überliefert, läßt auf Newton als Protektor eines philosophischen Gottes schließen: »Man sagt, daß Ne w t o n immer, wenn er den Namen Gottes ausgesprochen, eine Weile inne gehalten und nachgedacht hat.« – Siehe: Immanuel Kant über Pädagogik. A.a.O. 495. 156 Aristoteles unterscheidet zwei irdische Bewegungsformen: eine »erzwungene« oder »künstliche« Bewegung und eine (natürliche) Selbstbewegung. – Siehe: Aristoteles: Physikvorlesung. Übersetzt von Hans Wagner. – In: ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Herausgegeben von Ernst Grumach. Band 11. Darmstadt 1967. Buch II, Kapitel 1. 192 b. – Jedem (kosmischen) Körper wohne außerdem die Tendenz inne, sich in natürlicher Bewegung dem ihm zukommenden Ort zu nähern: Das Leichte strebe in die Höhe, das Schwere in die Tiefe. Im Gegensatz zu den natürlichen Bewegungen erforderten erzwungene Bewegungen einen aktiven äußeren Beweger bzw. eine permanent wirkende »Kraft«. Nur so könne sich ein Körper von seinem natürlichen Ort entfernen oder von seiner natürlichen Bewegung abweichen. Kraft steht in zwei miteinander ver-
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chen Mechanismus der Theorie von der natürlichen Bewegung der Körper. So auch Höffe: »Die frühneuzeitliche Naturphilosophie spricht ihren Gegenstand als ›matter in motion‹, als Materie in Bewegung, an. Damit verbleibt sie in der Tradition des Aristoteles, derzufolge Naturgegenstände stets irgendwelchen Bewegungen unterliegen.«157 Diese Ansicht verdient eine Präzisierung: Wenn nach Kepler die Mechanik das Naturgesetz betrifft, dann kann der Mechanik nichts Unnatürliches anhaften. Diese religiöse Inanspruchnahme des Mechanismus und seiner Naturdeutung umfaßt im wesentlichen zwei Aspekte: a) Schöpfungstheoretisch: Der Mensch bedient sich dieser Mechanik und handelt dem Ersten Mechaniker analog, er übt quasi eine göttliche Tätigkeit aus, was dazu Anlaß gibt, die Ausbildung der frühneuzeitlichen Mechanik vor dem Hintergrund religiöser Motive zu deuten. b) Soteriologisch: Wenn die Mechanik dem Menschen die Herrschaft über die Natur ermöglicht, kann dies als restituierte ›paradiesische‹ Herrschaft interpretiert werden. Eine derartige Revidierung des Sündenfalls: die Sühne der Schuld, welche die Menschen durch die Verletzung der Ehre Gottes auf sich geladen haben, führt eine Analogie zur Heilstat Christi (Kreuzestod) mit sich, wird doch der Mensch
wobenen Bedeutungen für eine Bewegungsfähigkeit, die von einem speziellen Beweger dispensiere: 1. Kraft sei das ›Vermögen‹, einen Körper in einer bestimmten Zeit über eine Strecke zu bewegen (Arbeits-/Leistungsfähigkeit vs. Reibungskräfte); 2. Kraft benenne die Fähigkeit, einen Körper aus dem »natürlichen« Ruhestand in Bewegung zu setzen (Kompensation der Haftreibungskraft). Auf Alltagssituationen ist die Aristotelische Kraft-Theorie gut anwendbar; hinsichtlich Bewegungen unter dem Einfluß starker Reibungskräfte liegt ihre Verwendung näher als das Newtonische Konzept (»Kraft« als dynamische Ursache zeitlicher Änderungen des Bewegungszustands eines Körpers, d. h. »Kraft« wird nicht mehr – wie noch bei Aristoteles oder in der [nach Pierre Duhem] sog. Impetustheorie – zur Erklärung der Bewegung selbst, sondern zum Zwecke der Beschreibung der Änderung eines Bewegungszustands eingeführt; im Vordergrund steht hier eine distinkte Trennung der Konzepte »Kraft« und »Energie«). – Die Aristotelische Bewegungslehre sieht sich in der Folgezeit v. a. bei der Erklärung der Wurfbewegung vor große Probleme gestellt: Die Geltung des Prinzips »Alles-Bewegte-wird-seinerseits-von-etwas-bewegt« (siehe: Ibid. Buch VII, Kapitel 1 [Zweite Fassung]. 241b 24; ähnlich: Platon: Timaios. A.a.O. 57e) kann nicht aufrechterhalten werden, wenn ein Stein die Hand seines Werfers verlassen hat, kann doch als Beweger allein das Medium, die Luft, in Frage kommen – was wiederum das Problem aufwirft, wodurch die Luft ihrerseits bewegt werde. Für das Verständnis der Wurfbewegung, eines zentralen Problems antiker und mittelalterlicher Mechanik, führt erst besagte Impetustheorie (eine Gruppe von Bewegungslehren, die im 13. und 14. Jahrhundert als Kritik an Aristoteles vorgebracht werden und in deren Folge das Prinzip eines externen Bewegers fällt) zu einem wesentlichen Erkenntnisfortschritt. – Siehe zu diesem Problemkreis: Michael Wolff: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik. Frankfurt a. M. 1978. 21 – 28; 223, FN 16: »Der Anfang einer Bewegung kann nach Aristoteles immer nur als beliebig kleiner Teil der Bewegung angesehen werden, muß also schon zur Bewegung hinzugerechnet werden.« – Siehe auch: Ingrid Craemer-Ruegenberg: Die Naturphilosophie des Aristoteles. Freiburg/München 1980. 9 – 17; 107 – 133. 157 Siehe: Otfried Höffe: Aristoteles. München 1996. 104.
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wieder mit der Natur vereinigt und seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt.158 3.6 Die Folgen der Restituierungsbestrebungen des griechischen Atomismus Die Ausbildung der frühneuzeitlichen Mechanik zeigt zudem Einflüsse des antiken Atomismus,159 der heute gerne als religionsfeindlich, zumindest aber theologieindifferent angesehen wird. Diese Einschätzung ist sicherlich nicht völlig abwegig, wendet sich doch jene mit den Namen Leukipp, Demokrit, Epikur oder Lukrez verbundene Weltdeutung bereits in ihrer Zeit gegen die alte Götterlehre und die darauf fußenden Volksreligionen.160 Und in der Rückschau kann auch die griechisch-römische Stoa als ›Hort des Aberglaubens‹ als recht weltfromm, zumindest aber als Versuch einer religiösen Neuorientierung, die sich gegen die Annahme einer göttlichen Weltregierung und -gestaltung wendet, gedeutet werden.161 Auch das dem antiken Atomismus inhärierende Zufallsprinzip in Form der These, Atome bewegten sich regellos im leeren Raum, wird bereits in der Antike als antitheologische und unsittliche Strömung verketzert. Allerdings hält sich diese Auffassung bis in das 17. Jahrhundert: So wird beispielsweise in Descartes’ Umkreis, in dessen Zentrum der Theologe, Naturwissenschaftler und Philosoph Pierre (Petrus) Gassendi (1592 – 1655) agiert, der Versuch unternommen, den Atomismus zu erneuern. Die Idee ist folgende: Um den Atomismus wirklich zu verstehen, müsse die Existenz eines Gottes, der die Atome geschaffen, angeordnet und ihnen Bewegung verliehen habe, vorausgesetzt werden. Einflüsse auch dieser Problematik lassen sich wiederum nachweisen bei Descartes selber, der in Erklärungsnot gerät, wie die beiden Substanzen »res cogitans« und »res extensa« eine Verbindung eingehen können. Seine vorgeschlagene Lösung: die Lehre des commercium,162 steht im Dienste theologischer Interessen, bedarf sie doch (der – notwendig – vollkommenen moralischen Integrität) eines Gottes, der das Verfahren des methodischen Zweifels – von Siehe hierzu vor allem: Francis Bacon: Neues Organon der Wissenschaften. Übersetzt und herausgegeben von Anton Theobald Brück. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1830. Darmstadt 1981. II. Buch, § 52. 159 Siehe: Andreas Gerardus Maria van Melsen: Atom gestern und heute. Die Geschichte des Atombegriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Deutsche Ausgabe, mit Quellentexten erweitert von Heimo Dolch. Freiburg i. Brsg./München 1957. (Orbis Academicus. Problemgeschichten der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen) 160 Siehe: Malte Hossenfelder: Antike Glückslehren. Kynismus und Kyreanismus. Stoa, Epikureismus und Skepsis. A.a.O. 161 Zur Konfrontation mit dem Christentum: Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bände. 3., unveränderte Auflage Göttingen 1964. 400 – 461. – Siehe auch: Paul Barth/Albert Goedeckemeyer: Die Stoa. 5. Auflage. Völlig neu bearbeitet von Albert Goedeckemeyer. Stuttgart 1941. 253 – 274. (Frommanns Klassiker der Philosophie. 16) 162 Siehe hierzu nach wie vor: Rainer Specht: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. 158
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diesem selber nicht ernsthaft betroffen – allererst gewährleistet, um einen systematischen Widerspruch zu vermeiden:163 Der »deus malignus« muß sich in den »deus verus«164 verwandeln. Ein damals gewichtiges (antiskeptisches) Gegenargument hat wiederum einen theologischen Hintergrund: Malebranche165 argumentiert, per occasionem (assistentia supernaturalis als causa occasionalis) greife Gott in das Naturgeschehen ein.166 Leibniz’ von diesem Okkasionalismus profitierende, gleichwohl aber gegen ihn in Anschlag gebrachte Philosophie der prästabilierten Harmonie wird sich bis in die deutsche Hochaufklärung eines Christian Wolff halten. Leibniz’ Lehre, nicht weniger als Malebranche auch Descartes verpflichtet, konfrontiert jedoch die cartesianische Methodologie letztlich wiederum mit dem Problem religiöser Transzendenz. Leibniz selber bemüht sich als Mathematiker, Naturforscher, Historiker und Politiker lange um einen Ausgleich der Konfessionen. Die Konsequenz dieser komplizierten Symbiose von Wissenschaft und Theologie ist in erster Linie darin zu sehen, daß dem Naturbegriff fortan Konzepte wie ›Konstanz‹, ›Zuverlässigkeit‹ oder ›Berechenbarkeit‹ inhärieren – mit der Folge, daß diese Attribute nun auch für ihren Schöpfer: deus ipse, zutreffen müssen. In der Folgezeit läßt die Spezifik dieses Gottesgedankens die Geschichte der Wissenschaft in wachsendem Maße als religionsgeschichtliches Ereignis erscheinen.167 Dem damit einhergehenden Naturbegriff inhäriert weiterhin das Gott zugeschlagene Allmachtsprinzip; zugleich bleibt unverändert, daß die Welt als gottgeschaffen gilt – jedoch als eine solche, die zukünftig keiner weiteren Eingriffe Gottes mehr bedürfe, ja deren Organisationsprinzip eine Einflußnahme Gottes von vornherein ausschließe. Ob hiermit letztlich – wie auf der Hand zu liegen scheint – eine Beschränkung der Allmacht Gottes zugunsten eines ihm nun zugesprochenen Willens einhergeht, bildet den Hauptstreitpunkt des (letztlich nicht vollständig ausgetrageDescartes denkt Gott in seiner Unendlichkeit und Omnipotenz als eingeborene Idee; gleiches gilt für die Vorstellung meiner selbst (»idea mei ipsius«). – Siehe: René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Aufgrund der Ausgaben von Arthur Buchenau neu herausgegeben von Lüder Gäbe. Durchgesehen von Hans Günter Zekl. Hamburg 21977. III, 26 – 43 bzw. III, 37. 164 Siehe: René Descartes: Meditationes de prima philosophia. A.a.O. IV, 1; bereits in I, 12 bringt Descartes einen genius malignus ins Spiel. 165 Zunächst Mönch ohne Ordensgelübde, schließt er sich 1640 dem von den Jesuiten bekämpften Pariser Oratorianer-Orden an und empfängt vier Jahre später die Priesterweihe. 166 Zur wirkungsmächtigsten Weiterführung – nicht Kritik! – des interaktionistischen Dualismus Descartes’ (denn der Occasionalismus ist bei Descartes durchaus angelegt) siehe: DE LA RECHERCHE DE LA VÉRITÉ, Par N. Malebranche, Prête de l’Oratoire de Jesus. Tome Premiere–Quatrieme. A PARIS, Chez les Libraires associés. M. DCC. LXXII. Avec Approbation, & Privilège du Rois. – Die Erstausgabe erscheint 1675; Malebranche erlebt noch die sechste Auflage. – Der Kernsatz seiner Lehre lautet, daß wir alle Dinge in Gott schauen (»Que nous voyons toutes choses en Dieu.«) – Siehe: Ibid. Livre troisième. Seconde partie. Chap. VI. 75 – 89. 167 Siehe: Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie in Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Gütersloh 1949. Bd. 1. 158. – Und insbesondere: Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. A.a.O. 163
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nen) Disputs, den Leibniz und der englische Anti-Spinozist, Anti-Hobbesianer und Theologe Samuel Clarke (1675 – 1729), der u. a. Isaac Newtons Opticks (1704)168 ins Lateinische übersetzt, in ihrer Korrespondenz der Jahre 1715/16 führen.169 Das Naturgeschehen als solches ist nun als quantitativ bestimmbarer Bewegungsablauf beschreibbar, was in der Folge Galilei, Newton und ihren Nachfolgern ermöglicht, diese grundlegenden Einsichten zu einer umfassenden Theorie in Form mathematisch abgesicherter Naturgesetze zu erweitern. Doch das Weltverstehen des 17. Jahrhunderts changiert weiterhin zwischen der rein wissenschaftlichen Anerkennung der Wahrheit jener neu entdeckten Naturgesetze und dem nach wie vor verbindlichen Glauben an die Wahrheit der Offenbarung. Verändert hat sich allerdings, daß die Deutung der Wirklichkeit nicht mehr aus dem Konflikt, sondern aus einer übergreifenden Schau dieser gegensätzlichen Perspektiven gewonnen wird. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung als Grundgerüst für den Aufbau des Weltbildes soll mit seiner Ableitung aus einem höchsten Zweck abgeglichen werden. Unter Wissenschaft wird nun nicht mehr begriffliche Deduktion aus feststehenden Lehrformeln antiken oder christlichen Traditionsguts, sondern in einem ersten Schritt zunächst einmal Methodenlehre verstanden. Die wissenschaftliche Darbietungsform, diesem Bedürfnis zu genügen, ist der Traktat (resp. Tractatus, Traité): die Abhandlung von der Methode.170 Aber auch hier gilt: Die Einpassung in ein metaphysisches Gesamtbild soll gewährleistet bleiben. Doch je stärker das Interesse an einer diesseitigen Naturbeherrschung in das Zentrum wissenschaftlichen Interesses rückt, um so weniger überzeugend fallen die Erklärungen der Mißverhältnisse im göttlichen Weltplan aus, die früher noch als sinnvolle Bestandteile des Heilsplans Gottes verstanden worden sind. Damit einher geht eine Krise einer theologisch verfaßten Teleologie: Ist das Ziel des Weltlaufs wirklich die geweissagte Erfüllung? So können beispielsweise auch die sich bis in das 17. Jahrhundert erstreckenden Hexenverfolgungen, die bei nächster Gelegenheit eigens ausgeleuchtet werden, als Krise der Moral verstanden werden, wenn für Leib und Leben im Namen Gottes Verfolgter nicht mehr garantiert werden kann.171 Das Titelblatt der maßgeblichen Auflage des Werkes lautet: OPTICKS: OR, A TREATISE OF THE Reflections, Refractions, Inflections and Colours OF LIGHT. The Fourth Edition, corrected. By Sir ISAAC NEWTON, Knt. LONDON: Printed for William Innys at the WestEnd of St. Paul’s. MDCCXXX. 169 Siehe: Samuel Clarke: Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/16. A Collection of Papers which passed between the late learned Mr. Leibniz and Dr. Clarke in the years 1715 and 1716 relating the principles of natural philosophy and religion. Übersetzt und herausgegeben von Ed Dellian. Hamburg 1990. 170 Siehe z. B. die Arbeit des zu Unrecht ins wirkungsgeschichtliche Abseits geratenen: Helmut Kuhn: Traktat über die Methode der Philosophie. München 1966. – Siehe zudem: Hans Werner Arndt: Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1971. 171 »Analog der Tatsache, daß vor allem die Naturerkenntnis stärker praxis- und zweckbezo168
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3.7 Die neue Blüte der Metaphysik und der Politik Wie gesehen, sind die Fortschritte innerhalb der empirischen (oder exakten) Wissenschaften zu Beginn des 17. Jahrhunderts allenthalben greifbar. Die Erkenntnis, daß es im Bereich der Natur, d. h. der sinnlich erfahrbaren und damit meßbaren Welt, offensichtlich unumstößliche Gesetzmäßigkeiten, sprich regelmäßig beobachtbare Phänomene gibt, führt zu einem ›Entwicklungsschub‹ ebenso in der Metaphysik, die sich nun hoffnungsvoll auf die Suche nach ebenso für den Geist wirksamen Gesetzmäßigkeiten begibt. Diese Bestrebungen verweisen auf die damals noch ungebrochene Überzeugung von der Einheit der Vernunft und ihrer Kenntnisse insgesamt.172 Die frühneuzeitliche Erforschung vorgeblicher metaphysischer Einheitsprinzipien wird forciert. Descartes beispielsweise, der die Welt mechanisch und Gott als deren Beweger versteht, entreißt nach Isolierung eines unbezweifelbaren Fundaments allen Wissens die materielle Welt nachträglich dem Strudel des methodischen Zweifels.173 Dieses Verfahren unterscheidet sich fundamental von der späteren Stoßrichtung der Wissenschaftslehre Johann Gottlieb Fichtes, gemäß derer die Setzung des Nicht-Ich der Spontaneität des Ich überantwortet bleibt.174 gen, das heißt: auf die konkreten Bedürfnisse und Ziele von Menschen ausgerichtet wurde und weniger, wie im Mittelalter, Suche nach ewigen, unveränderlichen Wahrheiten war, wurde auch die Suche nach den Defekten der Weltkonstitution konkreter. Es genügte jetzt nicht mehr, ein allgemeines Prinzip wie den Teufel, und mochte er noch so real vorgestellt sein, für alles haftbar zu machen. Der Teufel mußte irdisch konkretisiert werden, mußte in seinen irdischen Realisationen real erscheinen. In dieser Situation wird in der Gestalt der Hexe ein Feindbild entwickelt, das wesentliche Schwierigkeiten zu lösen schien: Zum einen ließ sich dadurch die Schuld an der allgemeinen Krisensituation oder an speziellen Katastrophen personalisieren; zum anderen wurde eine Gruppe betroffen, auf die sich traditionellerweise bereits Anti-Affekte richteten; schließlich handelte es sich um eine Gruppe von Menschen, die als Heilkundige, Kräuterfrauen, Hebammen, Mütter zum (als magisch empfundenen) Naturbereich seit alters eine größere Affinität besaßen als die Männer, mit denen sich daher die Vorstellung größerer Naturbeherrschung relativ leicht verbinden ließ. So wurde im tradierten Hexenschema eine Erklärung für die vielfältigen Störungen der Weltordnung angeboten: für Impotenz, Wetterschäden, Krankheitsfälle, Unfruchtbarkeit und manches andere.« – Siehe: Helmut Brackert: »Unglückliche, was hast du gehofft?« Zu den Hexenbüchern des 15. bis 17. Jahrhunderts. – In: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt a. M. 21978. 131 – 187; hier 178 f. 172 Es wird allerdings noch einige Zeit verstreichen bis zur Konzeption einer wahrhaft philosophischen Enzyklopädie (zumindest in Form eines Vorlesungs-Kompendiums), deren erstmalige Ausführung – eingedenk der Wörterbuchprojekte von Louis Moreri (1643 – 1680) über Pierre Bayle bis Denis Diderot (1713 – 1784) und Jean-Baptiste le Rond, genannt D’Alembert (1717 – 1783) – Hegel vorbehalten bleiben wird. – Siehe: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Heidelberg 1817; Heidelberg 21827 (verändert und erweitert); Berlin 31830 (verändert). 173 Siehe: René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. A.a.O. V, 2 ff. 174 »Durch diese absolute Handlung nun, und schlechthin durch sie, wird das entgegengesezte, insofern es ein entgegengeseztes ist (als bloßes Gegentheil überhaupt) gesezt. Iedes Gegentheil, insofern es das ist, ist schlechthin, kraft einer Handlung des Ich, und aus keinem andern Grunde. Das Entgegengeseztseyn überhaupt ist schlechthin durch das Ich gesezt.« – Siehe: Johann
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Doch nicht allein die theoretische Philosophie begibt sich auf die Suche nach natürlichen Regeln, das Wirken der Vernunft epistemologisch zu legitimieren, auch das Nachdenken über den Aufbau des Staates, der Gesellschaft insgesamt, Konzepte von Politik, Wirtschaft und Kultur sind von der neuen Einsicht bestimmt, das Leben müsse als Mechanismus, Gesetzen gehorchende Bewegung begriffen werden. Eine solchermaßen beabsichtigte Übersichtlichkeit menschlicher Gemeinwesen führt allerdings auch das Charakteristikum der Kontrollierbarkeit mit sich. Unter diesen Bedingungen kommt es zur denkbar konsequentesten Integration von Staat und Gesellschaft in der Monarchie Ludwigs XIV. (Louis le Grand, 1638 – 1715), die bald zum Inbegriff eines barocken Herrschaftssystems avanciert. Mit einer 72-jährigen Regentschaft ist er der am längsten regierende Herrscher der Neuzeit. Das Souveränitätsprinzip seines höfischen Absolutismus ist als göttliche Vollmacht in seiner Person realisiert und wird dementsprechend praktiziert. Im politischen Bereich wird sein Wille – à la Descartes – mit den Forderungen der Vernunft selbst identifiziert. Der König regiert nicht nur den Staat, er ist der Staat. In ihm verkörpert sich Frankreich. Sein Amt ist von Gott selbst übertragen, und so ist das Königreich durch ihn mit Gott verbunden: der vollständige Ausdruck theonomisch garantierter Regierungsgewalt. Die schrittweise Einschränkung des Theonomiegrundsatzes innerhalb des rechtlich-moralischen Gesetzesbegriffs betrifft als Teilproblem vorliegender Untersuchung aber zugleich den Problemverbund der politischen Union von Religion, Recht und Staat. Hierbei steht besonders die Entstehungsgeschichte europäischer Staatsgebilde in Wechselwirkung mit der neuzeitlichen Geschichte von Religion und Freiheit im Vordergrund. Es wird sich noch zeigen, daß mit den teils sich ablösenden, teils auseinander hervorgehenden Staatstheorien von Denkern wie Bodin, insbesondere aber Hobbes und Spinoza schon früh triftige Argumente gegen ein derartiges praktisches Identitätssystem von Religion und Politik ins Feld geführt werden. An dem in unserer Perspektive vorläufigen problemgeschichtlichen Ende steht die Statuierung des französischen Nationalstaates samt seiner aggressiven Außenpolitik. Selbst noch Hegel, der die Französische Revolution begrüßt und sich zeit Lebens u. a. durch regelmäßiges Studium sowohl deutscher als auch französischer Zeitungen auf dem aktuellsten Stand ihrer Verlaufsform hält, ist und bleibt ein Theoretiker des Staates, nicht der Nation (wenngleich er das Entstehen und Werden europäischer Staaten in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte durchaus reflektiert). Das politische Konzept des Staates ist ein vergleichsweise junges: Griechische polis (Stadtstaat), römische civitas (Bürgerschaft), mittelalterliche res publica (christiana) (öffentliche Angelegenheit), regimen (KönigsGottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer. (1794/95) – In: J. G. Fichte – Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Herausgegeben von Reinhard Lauth und Hans Jacob. Abt. I, Bd. 2. Werke 1793 – 1795. Herausgegeben von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Manfred Zahn. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965. 173 – 451; hier 265 f.
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herrschaft), regnum (Königreich) oder imperium (durch territoriale Eroberung unterworfenes, einheitlich regiertes Herrschaftsgebiet) bzw. Reich verzeichnen eine ältere Geschichte. So darf denn auch die wenig linear verlaufende Problemgeschichte des enttheologisierten Staates keineswegs geglättet werden, gilt doch selbst für Thomasius’ auf den Begriff (christlicher) Liebe gegründete Naturrechtskonzeption noch: »Die grundlegenden Gebote, die die staatliche Herrschaft begründen sollen, ergeben sich aber vor seiner Einrichtung, also bevor es ein gesetzliches Zwangsrecht gibt. Somit bleibt erneut nur göttliche Herrschaftsgewalt oder Selbstbindung, um die Grundlagen der Staatstheorie zu gewährleisten.«175 Insofern beträfe eine Thematisierung der Naturrechtsdebatten im Deutschland des 18. Jahrhunderts das Grundproblem, inwieweit das Naturrecht seit Niccolò Machiavellis (1469 – 1527) in seinem (allererst 1532 veröffentlichten) Il Principe ausgesprochene Empfehlung, aus Gründen negativer Erfahrung von genuin theologischen resp. sakralen Versicherungen abzusehen,176 bewahrt werden könne. So erheben die bisherigen Untersuchungen den Anspruch, Beiträge geleistet zu haben zur Aufhellung eines nicht unwesentlichen Kapitels der Geschichte sowohl der Ethik – im speziellen: der Auslotung der theoretischen Verschiebungen innerhalb der in der frühen Neuzeit in besonderer Weise aufeinander bezogenen Begriffe Natur, Recht und Gesetz – als auch der Religion – hier: des Verhältnisses von Religion und Politik. 3.8 Der experimentelle Empirismus in seinem Verhältnis zu Philosophie und Theologie In der frühen Neuzeit konkurrieren zwei Konzepte von Empirie: zum einen die Naturforschung in der bewährten Form von Beobachtung und exkursivem Studium; zum anderen die Praxis, bestimmte als zur Natur des Verstandes gehörig begriffene Erkenntnisformen mit reiner Theorie entlehnten Problemstellungen zu konfrontieren177 und Antworten durch Laborexperimente zu finden.178 Zu den Siehe: Peter Schröder: Thomasius zur Einführung. Hamburg 1999. 70. Siehe: Niccolò Machiavelli: Il Principe. Der Fürst. Italienisch/deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel. Stuttgart 1986. 29; 59; bes. 87 – 93 (»XI. De principatibus ecclesiasticis«). 177 Kant verleiht dieser These, daß der Verstand der Natur – und nicht umgekehrt – die Gesetze vorschreibe, in seiner Kritik der reinen Vernunft die entscheidenden Akzente; im Laufe der folgenden zwei Jahrhunderte radikalisiert sich diese Lehre. Noch Georg Simmel (1858 – 1918) bezieht die Philosophie seiner Gegenwart auf diese Einsicht Kants: »Dennoch ist auch der jetzige Standpunkt nur auf Grund des seinigen [Kants, H. G.] möglich, für den er den gesammeltsten, freilich auch parodoxesten Ausdruck damit findet: daß der Verstand der Natur ihre Gesetze vorschreibt; das Grundmotiv ist, daß die Erkenntnisvorstellungen der Dinge nicht in uns hineingeschüttet werden, wie Nüsse in einen Sack, daß wir als Erkennende nicht die passiv Aufnehmenden gegenüber den Sinnesempfindungen sind, wie die indifferente Wachsplatte durch den Eindruck des Stempels von außen her geformt wird. Sondern alles Erkennen ist eine Aktivität des Geistes, die Sinneseindrücke, denen gegenüber wir uns rezeptiv verhalten, sind noch nicht Er175
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Vertretern des zweiten Weges ist vorzugsweise der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon (1561 – 1626) zu zählen, wenngleich ihm als Widersacher der Renaissance-Logik in seinem Bestreben, der Forschung jedwedes imaginative Moment zu entziehen, gerade die tragende Bedeutung bestimmter Leitideen, welche Experimenten für gewöhnlich vorgeschaltet sind, entgeht. Seine Schrift New Atlantis, die wahrscheinlich um 1624 in englischer Sprache verfaßt, jedoch erst 1627 in einer lateinischen Übersetzung des Autors publiziert wird, beschreibt, wie in einer utopischen Gesellschaft eine ausgewählte Gruppe von sechsunddreißig (christlichen), mit unterschiedlichen Ämtern versehenen Naturforschern damit betraut ist, in »Werkstätten« und »Laboratorien« optische und akustische Experimente auf dem Gebiet der angewandten Wissenschaften durchzuführen. Sogar die olfaktorische Wahrnehmung wird erforscht: »Wir haben auch Räucherwerk- und Geruchshäuser, wo wir außerdem Versuche mit Geschmäcken anstellen. Dort vervielfältigen wir die Gerüche, eine Tatsache, die vielleicht sonderbar anmutet, und verstärken sie. Wir ahmen die natürlichen Gerüche nach, indem wir es zuwege bringen, daß aller Art Gerüche aus anderen als den natürlichen Mischungen strömen. Auf gleiche Weise ahmen wir auch die Geschmäcke nach, so daß sie den Geschmackssinn, auch den noch so geschärften, einfach täuschen.«179 Ein beigekenntnis, und der Komplex ihrer Inhalte ist nicht ›die Natur‹. Vielmehr müssen diese Eindrücke Formen und Verbindungen erhalten, die in ihnen selbst nicht liegen, sondern die eben von dem erkennenden Geist an ihnen ausgeübt werden. Dadurch wird aus dem Chaos oder dem bloßen Nebeneinander und Nacheinander von sinnlichen Erscheinungen erst das, was wir Natur nennen: ein sinnvoller, verständlicher Zusammenhang, in dem alle Mannigfaltigkeit als prinzipielle, durch Gesetze verbundene Einheit erscheint. Sobald diese Gesetze sich auf einzelne, gegebene Dinge beziehen, geben sie sich uns freilich nur durch Erfahrung, d. h. durch ein Zusammenwirken der sinnlichen Empfänglichkeit mit dem ausgestaltenden Verstande. Die allgemeinsten Regeln aber, die überhaupt die Vielheit der Erscheinungen zu der einheitlichen Natur formen (z. B. das Kausalgesetz), stammen nicht aus den Erscheinungen, sondern aus der dem Geiste eignen Fähigkeit, zu verbinden, zu vereinheitlichen. Diese Fähigkeit nennt Kant den Verstand, und dieser also ist es, der der Natur ihre Gesetze vorschreibt, da ja diese Gesetze – die Verbindungsformen des Geistes selbst für die gegebenen Weltinhalte – aus den letzteren erst ›die Natur‹ zustandebringen.« – Siehe: Georg Simmel: Vom Wesen der Philosophie. – In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt. Nr. 36, 54. Jg. Sonntag, 6. Februar 1910. I. Morgenblatt. Frankfurt a. M. 1 – 2; hier 1. – Auch der Scholastik-Forscher Heidegger (man denke insbesondere an seine frühen Arbeiten) ergänzt später: »Das Experiment ist jenes Verfahren, das in seiner Anlage und Durchführung vom zugrundegelegten Gesetz her getragen und begleitet wird, um die Tatsachen beizubringen, die das Gesetz bewähren oder ihm die Bewährung versagen. Je exakter der Grundriß der Natur entworfen ist, umso exakter wird die Möglichkeit des Experiments. Roger Bacon kann daher niemals der Vorläufer des neuzeitlichen experimentierenden Forschers sein, sondern er bleibt lediglich der Nachläufer des Aristoteles.« – Siehe: Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. – In: Holzwege. Frankfurt a. M. 1950. 69 – 104; hier 75. 178 Zu Funktion und gesellschaftlichem Stellenwert des ›tätigen Experimentierens‹ siehe: Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. – In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr. Band 6. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Notizen 1949 – 1969. Frankfurt a. M. 1991. 67 f. 179 Siehe: Francis Bacon: Neu-Atlantis. – In: Der utopische Staat. Morus · Utopia. Campanella · Sonnenstaat. Bacon · Neu-Atlantis. Übersetzt und mit einem Essay »Zum Verständnis der Wer-
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ordnetes Gremium (»divisores«) hält die Resultate in Form von Lehrsätzen und Tabellen systematisch fest, während eine weitere Gruppe die einzelnen Maßnahmen und Experimente, welche die für die Versuchsdurchführung bestimmenden Wirkursachen ermitteln, überwacht und v. a. die Ergebnisse auf ihre praktische Nutzanwendung hin überprüft. Und Bacon verfolgt ein wahrlich radikales Unternehmen: »Der Zweck […] ist die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen.«180 Im ganzen erläutert Bacon die Arbeitsweise seiner Forschergruppe wie folgt: »For the several employments and offices of our fellows, we have twelve that sail into foreign countries under the names of other nations (for our own we conceal), who bring us the books and abstracts, and patterns of experiments of all other parts. These we call merchants of light [»mercatores Lucis«, H. G.]. We have three that collect the experiments which are in all books. These we call depredators [»depraedatores«]. We have three that collect the experiments of all mechanical arts, and also of liberal sciences, and also of practices which are not brought into arts. These we call mystery-men [»venatores«]. We have three that try new experiments, such as themselves think good. These we call pioneers or miners [»fossores sive operatores in Mineris«]. We have three that draw the experiments of the former four into titles and tables, to give the better light for the drawing of observations and axioms out of them. These we call compilers [»divisores«]. We have three that bend themselves, looking into the experiments of their fellows, and cast about how to draw out of them things of use and practice for man’s life and knowledge, as well for works as for plain demonstration of causes, means of natural divinations, and the easy and clear discovery of the virtues and parts of bodies. These we call dowry-men or benefactors [»euergetas«]. Then after divers meetings and consults of our whole number, to consider of the former labors and collections, we have three that take care out of them to direct new experiments, of a higher light, more penetrating into nature than the former. These we call lamps [»lampadas«]. We have three others that do execute the experiments so directed, and report them. These we call inoculators [»insitores«]. Lastly, we have three that raise the former discoveries by experiments into greater observations, axioms, and aphorisms. These we call interpreters of nature [»interpretes Naturae«].«181 Dergestalt, so Bacon, sei der Stufengang der auf Erfahrung gegründeten Induktion vorzustellen. Einschlägig für das Anliegen vorliegender Untersuchung ist aber gleichfalls Bacons Entschleierung des Wunder-Begriffs: Das noch unverstandene Wesen der Natur gelte Menke«, Bibliographie und Kommentar herausgegeben von Klaus J. Heinisch. Reinbek 1960. 171 – 215; hier 211 f. – Siehe auch: ders.: Neu-Atlantis. Herausgegeben von Jürgen Klein. Stuttgart 1970; 21992. 180 Siehe: Francis Bacon: Neu-Atlantis. A.a.O. 205. 181 Siehe: New Atlantis (1626) by Francis Bacon. Edited by Gerard B. Wegemer. Center for Thomas More Studies 2003. 39 f.
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
schen schlicht als Wunder: »Man wird leicht begreifen, daß wir, die wir so viele Naturerzeugnisse besitzen, die Verwunderung hervorrufen, auch den Sinnen der Menschen unendlich viel vortäuschen könnten, wenn wir sie zu Wundern herausputzen und zurichten wollten.«182 Nach Bacon haben sich die enormen Vorteile eines philosophisch abgesicherten Erfahrungsbegriffs auf das System der Wissenschaften bislang noch nicht auswirken können. Folgerichtig hat sich der II., zumindest weitgehend ausgearbeitete Teil seiner ursprünglich auf sechs Teile angelegten Instauratio magna (1620 – 1658),183 das Novum Organon, zum Ziel gesetzt, methodisch gesichert die gesamte Fülle menschlichen Wissens zu ordnen, ja zu erweitern: Die Wissenschaften seien bislang so verfahren, lediglich akzidentiell (»sine fundamento«) gewonnene Einzelkenntnisse zu akkumulieren. Das Novum Organon entwickelt die theoretische Form dieser Zugriffsweise: die neuartige Forschungsmethode der Induktion – derer sich Bacon selbst zeit seines langwährenden Forscherlebens allerdings niemals konsequent bedient – als Teilgebiet der Logik insgesamt. Auch hier erweist er sich – mit Descartes – als Anti-Aristoteliker, der vorschlägt, an Stelle des v. a. von Scholastikern in seiner wissenschaftlichen Tauglichkeit überbewerteten syllogistisch fundierten Beweisverfahrens die Induktion als leistungsfähigeres Verfahren zu etablieren.184 Dabei wird das Verhältnis der Philosophie zur Theologie wie folgt gefaßt: Die Philosophie als dritte Gestalt des Geistes (das ist die Vernunft) sei als »erste Philosophie« – ein bezeichnender Weise Aristotelischer Term (pr2tj filosofQa185)! – in enger Verbindung mit der Erfahrung u. a. für die Ermittlung derjenigen Axiome zuständig, welche den Einzelwissenschaften gemeinsam sind.186 SoSiehe: Francis Bacon: Neu-Atlantis. A.a.O. 213. Zum (religiösen) Doppelsinn des Wortes instauratio (Wiederherstellung/Neubeginn) siehe: Charles Whitney: Francis Bacon. Die Begründung der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Hans Voges. Frankfurt a. M. 1989. 33 – 67. 184 Hierzu gibt Helmut Winter eine interessante Zusatzinformation: »Als Zwölfjähriger bezog er das Trinity College der Universität Cambridge; er verließ es ohne Abschlußexamen – offiziell wegen eines Pestausbruchs, in Wirklichkeit, weil er vom aristotelisch-scholastisch orientierten Studienbetrieb angewidert war.« – Siehe: Francis Bacon. Essays. In der überarbeiteten Fassung der Übertragung von Paul Melchers. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Helmut Winter. Frankfurt a. M. 1993. 129. 185 Siehe: Aristoteles: Problemata physica. – In: ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Übersetzt von Hellmut Flashar. Band 19. Berlin 1975. I 9, II 2. – Der pr4tov fil)sofov (siehe: ders.: Über die Seele. – In: ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Übersetzt von Willy Theiler. Band 13. Berlin 1966. 403 b 16) ist derjenige, »der allgemein über den Begriff Existenz im primären Sinn forscht.« – Siehe: Aristoteles: Metaphysik. A.a.O. 1005a 35. – Siehe zudem: Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens. Heidelberg 1966. 264 ff.; 597 ff. (Bibliothek der Klassischen Altertumswissenschaften. Neue Folge. 1. Reihe) 186 Wie schon Descartes erachtet Bacon hierbei die Logik für untauglich: »Denn es ist nicht ihre Sache, Principien und Axiome a u f z u f i n d e n , worauf es gerade ankommt, sondern sie verhält sich nur b e i s t i m m e n d . Zudringliche aber, welche sich die vergebliche Mühe machen, mehr von ihr zu verlangen und ihr die Begründung und Aufstellung der Principien abdringen zu wollen, verweiset sie zum G l a u b e n und nöthigt sie, jeder besondern Wissenschaft gleichsam einen Eid der Treue zu schwören.« – Siehe: Franz Bacon: Neues Organon der Wissenschaften. 182
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3. Kapitel · Das physikalische Naturgesetz in der frühen Neuzeit
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nach gliedere sie sich in die Lehre von der Natur, vom Menschen und von Gott. Freilich gelte die Theologie nur insofern als Wissenschaft, als sie aus der natürlichen Vernunft die Existenz Gottes beweisen könne (theologia naturalis), wohingegen die theologia inspirata als ausschließlich im Glauben gründend von Philosophie und Wissenschaft strikt zu trennen sei.187 Für Bacons Konzeption einer solchen progressiven, ja neuartigen wissenschaftlichen Kultur spielt die Theologie als solche keine Rolle mehr. Gleichwohl versteht Bacon die Mathematik als bloßes Beiwerk der Physik – mit der Konsequenz, daß ihm die eigentliche wissenschaftliche Tragweite der bahnbrechenden Entdeckungen eines Kopernikus und Kepler, der bereits das Für und Wider der Theorie einer bewegten Erdkugel erörtert, entgehen. Wenn wie gesehen am Beispiel des frühneuzeitlichen Gesetzesbegriffs einige wichtige religionsgeschichtliche und naturphilosophische Voraussetzungen für die Ablösung einer theologisch zugunsten einer philosophisch begründeten Moral namhaft gemacht werden können, soll mit der nachfolgenden Genese autonomer Moral, deren Gesamtverlauf hier selbstverständlich nicht vollständig rekonstruiert werden kann, ein Unternehmen vorgestellt werden, dessen nicht linear verlaufende Problemgeschichte insofern ein Primat des Rechts zukommt, als sich die Moral erst allmählich aus theonomen Formularen des alten Naturrechts herauslöst. Vier »Stadien« dieses Prozesses werden durchschritten: A.a.O. I. 82. – Der Anti-Scholastiker Descartes verwirft nicht nur die lullische Kunst (»l’art de Lulle«), sondern die Logik überhaupt auf Grund ihrer rein technischen Natur und kritisiert sie als eine Art ›Mechanik des Geistes‹, deren unbewegliche Scharniere die Entdeckung des Neuen (»inventio«) verhindere, der ja die Freilegung des absolut-ersten Prinzips der Philosophie (»ego cogito, ego existo«) zu verdanken sei. – Bereits früher gibt Descartes zu bedenken, daß Regeln, werden sie in Form unübersichtlicher Zeichensysteme transkribiert, eher Verwirrung stifteten und den Geist hemmten – eine Diagnose, welche wohl kaum als treffende Prognose für die weitere Entwicklung der Logik gelten darf, denkt man an deren Fortschreibung in der Folgezeit (Leibniz!). – Siehe: René Descartes: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la verité dans les sciences. A.a.O. II. 6. – Siehe hierzu: Helmut Schnelle: Zeichensysteme zur wissenschaftlichen Darstellung. Ein Beitrag zur Entfaltung der Ars characteristica im Sinne von G. W. Leibniz. StuttgartBad Cannstatt 1962. 11 f. 187 Es sei angemerkt, daß die in ihrer Wirkungsmächtigkeit kaum zu überschätzende physikotheologische Tradition die zeitgleiche Entwicklung der Naturwissenschaften keinesfalls behindert. Eine nützliche Taxonomie der zwischen ca. 1670 und 1750 ausgebildeten physikotheologischen Disziplinen von »Akridotheologie« bis »Theobotanologia« findet sich bei: Paul Michel: Physikotheologie. Ursprünge, Leistung und Niedergang einer Denkform. Zürich 2008. 4 f. (Neujahrsblatt auf das Jahr 2008. Herausgegeben von der Gelehrten Gesellschaft in Zürich) – Vor dem Hintergrund der aufkommenden frühneuzeitlichen Naturphilosophie erlangt größere Bekanntheit: William Derham: Astro-theology, or a Demonstration of the Being and Attributes of God from a Survey of the Heaven. London 1714, 61731. – Johann Albert Fabricius (1668 – 1736; Pseudonyme: Veridicus, Sincerus) besorgt eine deutsche Übersetzung folgenden Titels: Astrotheologie, oder Himmlisches Vergnügen in Gott, bey aufmercksamen Anschauen des Himmels und genauerer Betrachtung der Himmlischen Cörper zum augenscheinlichen Beweis, dass ein Gott, und derselbige ein allergütigstes, allweises, allmächtiges Wesen sey. Aus der fünfften vollständigeren Engl. Ausgabe in die Deutsche Sprache übersetzet […]. Hamburg 1728, 21732.
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II. Teil · Natur – Gesetz – Recht
1. Dem Herzstück der Staatslehre Jean Bodins: ein gemäß eigenem Anspruch säkulares Souveränitätskonzept, wohnt ein Animismus inne, welcher kompromißlose Hexenjagden nicht nur zu befürworten, sondern sogar zu befördern ermöglicht. 2. Aus Thomas Hobbes’ vertragstheoretisch legitimierter Staatsphilosophie resultiert eine naturlogische Begründung des inneren Staats- resp. Bürgerrechts. Ein solcher Kontraktualismus ist einem theologischen Reduktionismus verpflichtet, der auf die Formel: ›Der historische Jesus ist der verheißene Christus‹, gebracht werden kann. 3. Baruch de Spinozas auf Basis einer Kongruenz von Vernunft- und Naturrecht vorgenommene Diskreditierung von Religiosität als defizientem Modus des Vernunftverhältnisses zur Natur ermöglicht eine Emanzipation von talmudistisch verbürgtem Recht um willen einer neuartigen metaphysischen, ethischen und theologie-politischen Konzeption im Zeichen der Freiheit des Individuums. 4. Paul Thiry D’Holbachs Projekt einer areligiösen und physiologischen Konzipierung des Moralsystems zieht die Konsequenz aus der radikalen Religionskritik der französischen Aufklärung. Diese vier Stadien bilden zwar eine chronologische – und mit Hobbes und Spinoza sogar eine synchrone – Sequenz, werden hier jedoch keineswegs vergegenwärtigt in dem Anspruch, ihre diskursive Beständigkeit zu behaupten; zum Vorschein kommen soll vielmehr ihre intern brüchige Verlaufsform. Methodische Evidenz möge besagte Abfolge kraft ihrer problemgeschichtlichen Vergegenwärtigung erlangen. So macht der nachfolgende III. Teil das Hauptstück des Ganzen aus. Der Verf. nimmt sich bei dieser Gelegenheit die Freiheit, seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, sein Projekt möge zu einer Fortsetzung anregen. Es bleibt noch viel zu tun.
III. TEIL Stadien der Genese autonomer Moral
1. Abschnitt Anhaltspunkte für eine säkulare Begründung der Verbindlichkeit des Rechts 1. Kapitel: Der Staat und die Idee der Souveränität 1.1 Politische Voraussetzungen von Bodins Six Livres de la République Die französischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts sind eine Folge der Reformation und werden ausgelöst durch die Auseinandersetzung zwischen calvinistischen Hugenotten und der katholischen Adelspartei. Ähnlich wie der anschließende Dreißigjährige Krieg sind die sog. Hugenottenkriege jedoch keine ›reinen‹ Religionskriege (wenn es solche überhaupt je gegeben hat). Ziel der Katholischen Liga (La Sainte Ligue, 1576/77 bzw. 1584 – 1593) ist es, den Protestanten zumindest die staatlichen und kirchlichen Pfründen streitig zu machen und zugleich das Königtum zu kontrollieren. In den Wirren des Krieges entkommt auch der in der westfranzösischen Universitäts- und Bischofsstadt Angers geborene Jurist, Ökonom,1 Staatsrechtler und Naturphilosoph Jean Bodin (1529/1530 – 1596) einem Mordanschlag nur knapp (wahrscheinlich im Zuge der Hugenottenverfolgung in der Bartholomäusnacht vom 24. August 1572): Öffentlich fordert er für Hugen otten Toleranz ein. Bodins wissenschaftliche Ausbildung und intellektueller Werdegang stellen ein geeignetes Beispiel dar für die vormals angesprochene naturrechtliche Begegnung von Theologie und Jurisprudenz. Bodin tritt nach einer philosophisch-theologischen Ausbildung bereits im Alter von 16 Jahren in den Karmeliterorden ein. Mit 19 Jahren verläßt er ihn wieder – wahrscheinlich auf Grund einer Verwicklung in ein Häresieverfahren (1547/48) –, um sich als Jurist ausbilden zu lassen.2 Diese Entscheidung kann als Zäsur in Bodins Vita gewertet werden – nun entzieht er sich klerikalen Einflußbereichen zunehmend. Georg Roellenbleck widerspricht der These, Bodins besonders in seinen letzten Lebensjahren vollzogene Hinwendung zum Judentum hänge mit seiner jüdischen Mutter zusammen, und meint, »daß Bodins Réponse aux paradoxes de M. de Malestroit, touchant le fait des monnaies et l’eneherissement de toutes choses (1568) entwickelt seine Gedanken über die Notwendigkeit des freien Handels sowie seine Ansicht zu inflationären Tendenzen des Silber- und Goldpreises in der »Neuen Welt«, die Europa zu beeinflussen drohen. 2 Zur Bedeutung der Jurisprudenz in der frühen Neuzeit siehe den Sammelband: Roman Schnur (Hg.): Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986. 1
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
Bodins Bekenntnis zum Judentum allein Ergebnis seines Denkens und seiner Entscheidung gewesen ist.«3 Als die jungen Könige, die den Thron Henri II. (1519 – 1559) erben, sich auf die Seite der Katholischen Partei stellen, setzen sie sich selbst außer Stande, zwischen Katholiken und Protestanten zu vermitteln. Bodin möchte als Deputierter des Dritten Stands auf der Generalversammlung der Stände in Blois (1576) schlichten, indem er mäßigend auf die Katholische Partei einzuwirken sucht, fällt so aber in Ungnade Henri III. (1551 – 1589, ab 1574 König von Frankreich), weil er sich gegen dessen Steuerforderungen ausspricht. 1589 nimmt Bodin auf seiten der Katholischen Liga am Krieg gegen den (noch) protestantischen Thronfolger Henri IV. (»Henri le Grand«, 1553 – 1610) teil. Die Berücksichtigung dieser Umstände ist nicht unwichtig für das Verständnis der Entstehungsbedingungen der Six Livres de la République (1576),4 die Bodin nicht zuletzt in dem Interesse verfaßt, an der Verbesserung der vielfach beklagenswerten politischen, ja beinahe anarchischen Zustände des damaligen Frankreich mitzuwirken. Insbesondere die Absenz einer einigenden, von einem Souverän getragenen Ordnung entlarvt Bodin – wie später ähnlich auch Hobbes – als entscheidendes Auslösungsmoment der Konfessionskriege. Im Versagen der Politik erkennt Bodin denn auch die Wurzel der Problematik des religiösen Pluralismus. In problemgeschichtlicher Perspektive zeichnet Bodins Staatstraktat dafür verantwortlich, daß sein Autor zum Begründer der Bewegung der pragmatisch eingestellten ›Politiker‹ (»politiques«) wird, die in den Folgejahren an Einfluß gewinnen und schließlich den Frieden erwirken.5 Diese beabsichtigen nicht nur eine Aussöhnung zwischen Hugenotten und militanten Katholiken, sondern haben die staatli3 Siehe: Georg Roellenbleck: Offenbarung, Natur und jüdische Überlieferung bei Jean Bodin. A.a.O. 4 Les Six livres de la république gelten als erste französischsprachige Publikation auf dem Gebiet der Staatslehre; Bodin selbst übersetzt 1586 das Werk ins Lateinische, um ihm eine größere Verbreitung zu ermöglichen. Das mutmaßlich erste philosophische Werk französischer Sprache indes hat Bodins Lehrer Petrus Ramus (eigentlich Pierre de la Rameé [geb. 1515 in Cuth bei Soissons, ermordet in Paris in der Nacht zum 24. August 1572, der Bartholomäusnacht]) verfaßt, nämlich die 1553 zuerst in Paris erschienene Dialecticae institutiones (zweite Auflage als Institutionum dialecticarum libri III; im selben Jahr erscheinen zudem seine Dialecticae partiones; 1555 schließlich seine französische Dialectique [1556 in lateinischer Übersetzung: Dialecticae libri II]). Ramus wirkt ab 1568 in Deutschland. 5 Zu Fragen der Sicherheit und Selbstbehauptung neuzeitlicher Staaten siehe: Roman Schnur (Hg.): Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975. – Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsräson in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1987. – ders.: Staatsräson und politische Klugheitslehre. – In: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hgg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Band 3. München/Zürich 1985. 23 – 72. – Maurizio Viroli: From Politics to Reason of State. The Acquisition and Transformation of the Language of Politics. Cambridge 1992. – Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der Neueren Geschichte. München 1957. – Carl-Joachim Friedrich: Die Staatsraison im Verfassungsstaat. Freiburg i. Brsg. 1961. – Peter Nitschke: Staatsräson kontra Utopie? Von Thomas Müntzer bis Friedrich II. von Preußen. Stuttgart/Weimar 1995.
1. Abschnitt · Säkulare Begründung der Verbindlichkeit des Rechts
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che Unabhängigkeit von der Kirche zum Ziel – ein für moderne Staatswesen heute wesentliches Charakteristikum. Innere Sicherheit des Staates bedeutet für Bodin sowohl äußere als auch innere Befriedung, d. h. einerseits Vertragsabkommen gemäß dem Kriegs- resp. Friedensrecht (das allerdings erst Grotius ausführlich ausarbeitet) und andererseits religiöse Toleranz. Bodin sichert hier einen Bereich unveräußerlicher Rechte des Fürsten: »[…] das Recht über Krieg und Frieden zu entscheiden, die Entscheidung in letzter Instanz über die Urteile aller Magistrate, das Recht zur Ernennung und Absetzung der höchsten Beamten, das Recht den Untertanen Steuern und Abgaben aufzuerlegen oder sie davon zu befreien, das Recht von der Härte des Gesetzes durch Gnadenakte oder Dispense abzuweichen, die Befugnis über die Bezeichnung der Währung, Anhebung und Senkung des Geldwertes und des Münzfußes zu bestimmen und das Recht, von Untertanen und ligischen Vasallen verlangen zu können, daß sie demjenigen, dem sie den Treueid zu leisten haben, uneingeschränkte Treue halten.«6 Bodin, profunder Kenner der politischen Philosophie der Alten, unterscheidet nicht wie Aristoteles drei positive und drei mißratene Staatsformen (Königtum [basileQa], Aristokratie und Politie bzw. Tyrannis, Oligarchie und Demokratie),7 sondern drei insgesamt: Monarchie, Aristokratie und Demokratie.8 In Aristokratien kommt die Souveränität – deren Begriff in den nachfolgenden Kapiteln 1.2 – 1.4 entwickelt wird – den Optimaten, in Demokratien der Gesamtheit des Volkes zu. Bodin wird auf Grund der zunehmenden politischen Instabilität europäischer Staatswesen infolge der Religionskriege zum Theoretiker der absolutistischen Staatsform,9 die er als ›legale‹ Monarchie von einer ›despotischen‹ oder ›tyrannischen‹ Monarchie unterscheidet. 1.2 Diskrepanzen der Souveränität Zwar versteht Bodin den Staat i.S. der traditionellen, auf Marcus Tullius Cicero10 zurückgehenden Definition11 als Menge von Familien12 und der ihnen gehörenden Gütern, d. h. als feudale Ordnung, wie sie in der überkommenen HauswirtschaftsSiehe: Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. A.a.O. Band 1. Buch I. 294. (Sigle: S + Bandnr.) 7 Siehe: Aristoteles: Politik. A.a.O. 1279a–1280a. 8 Zu beachten ist, daß die Staatsformen von den Regierungsformen zu trennen sind: Jede der drei Staatsformen kann ihrerseits königlich, aristokratisch oder demokratisch regiert werden. – Die Bücher II und VI der Sechs Bücher über den Staat enthalten Bodins Überlegungen zur Staatsform. 9 Siehe: Jean Bodin: S 2. Buch VI. 4. Kap. 10 Günter Gawlick zeigt, daß Cicero für Bodin »ein entscheidender Faktor seiner Bildung als Mensch und als Gelehrter« (21) war. Gawlicks Beitrag zeigt exemplarisch Aufgaben einer künftigen historisch-kritischen Bodin-Ausgabe auf, deren Bearbeiter »um die Mühe detaillierter philologischer Ermittlungen, insbesondere um die Aufschlüsselung der Marginalien in alten Drucken, nicht herumkommen werden, wobei die Schwierigkeiten bei der historischen und juristischen Li6
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
lehre abgebildet wird; doch er nimmt bei seiner Begriffsbestimmung des Staates die entscheidende Erweiterung vor, ein (zukünftig staatswirtschaftliches) Gemeinwesen habe einer obersten (Vernunft-)Gewalt zu unterstehen (»summa potestate ac ratione moderata«). Zum Zentrum der Staatslehre Bodins wird somit für gewöhnlich die Souveränitätslehre, genauer: der Gedanke der Herrschersouveränität, erklärt.13 Der Begriff einer solchen Souveränität (»la puissance absolue et perpétuelle«) impliziert absolute Zustimmungsunabhängigkeit hinsichtlich gefällter und aufgehobener Beschlüsse. Er steht für die höchste, ungeteilte,14 zeitlich unbegrenzte (»majestas«),15 sich selbst zugewiesene (Voluntarismus) sowie – gemäß eigenem Anspruch – von äußeren Gesetzen entbundene Gewalt über die Untertanen (d. h. insbesondere Beamte und Bürger). Absolute Souveränität16 komme nach Bodin demteratur seiner Zeit mindestens so groß sein werden wie bei den antiken Quellen, die Bodin benutzt.« – In: Günter Gawlick: Ciceros Bedeutung für Bodin. – In: Ralph Häfner (Hg.): Bodinus Polymeres. Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk. Wiesbaden 1999. (Wolfenbütteler Forschungen. Bd. 87) 9 – 22; hier 22. 11 »Eine Definition ist aber nichts anderes als das Ziel eines Vorhabens. Wird sie nicht auf eine sichere Grundlage gestellt, bricht alles, was man darauf baut, kurz danach wieder zusammen. Es mag wohl sein, daß jemand, obwohl er sein Ziel kennt, nicht die Mittel findet, es zu erreichen. Ihm geht es wie dem schlechten Bogenschützen, der das Zentrum der Schießscheibe sieht, aber nicht zielen kann. Mit Aufmerksamkeit und Mühe aber könnte er treffen oder dem Ziel nahe kommen. Und auch wenn er nicht ins Ziel trifft, wird man ihn achten, vorausgesetzt er bemüht sich nach besten Kräften.« – In: Jean Bodin: S 1. 1. 12 Siehe: Jean Bodin: S 1. 98 – 106. – Der Aufbau eines rechtmäßigen Staates gleiche der Ordnung einer Familie: Das souveräne Familienoberhaupt (pater familias) gebietet über die Gattin (als Gatte), die Kinder (als Vater), das Gesinde (als Meister) und die Sklaven (als Herr). Bodin fordert die Garantie zweier Faktoren für ein funktionstüchtiges Staatsgebilde: den Schutz der Familie sowie des persönlichen Eigentums. Hierin sieht er den eigentlichen Zweck des Staates. – Diese Momente kehren bei Autoren der Folgezeit wieder, beispielsweise bei Hobbes. – Noch Hegel sieht in der Familie das göttliche Gesetz realisiert. – Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. – In: ders.: GW 9, 246. 13 Siehe: Jean Bodin: S 1. 27 f. – Zur Vorgeschichte von »Souverän« siehe: Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität. Die Grundlagen. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1970. 249. – ders: Probleme der Selbstdarstellung des Staates. Tübingen 1977. (Recht und Staat. Heft 478/479) – Auch wenn in den Darstellungen einiger Beiträger öfters auf Bodins Staatslehre verwiesen wird, verwundert es doch, daß sie nicht eigens behandelt wird in: Michael Stolleis (Hg.): Staatsdenker in der frühen Neuzeit. München 1995. 14 Bodin lehnt die Konzeption einer Mischverfassung, d. h. ein (konkretes oder fiktives) Arrangement separater Verfassungen bzw. aus für die jeweiligen Verfassungen charakteristischen Institutionen, auf Grund der Unteilbarkeit der Souveränität ab (wenngleich er auch die Auseinandersetzung mit den berühmten Beispielen gemischter Verfassungen: Sparta, Rom und dem vorher wie nachher einzigartigen Venedig, in seinem Staatstraktat führt.) – Siehe: Wilfried Nippel: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stuttgart 1980. 18; 280. (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien. Band 21) – Siehe ebenso: Horst Hegmann: Politischer Individualismus. Die Rekonstruktion einer Sozialtheorie unter Bezugnahme auf Machiavelli, Bodin und Hobbes. Berlin 1994. – Wie sich noch zeigen wird, halten auch Hobbes und Spinoza die Unteilbarkeit der Herrschaft für schlechterdings nicht verhandelbar. 15 Siehe: Jean Bodin: S 1. 209. 16 Das Verhältnis von »souveraineté« (bzw. »maiestas«) und »absolutus« analysiert erhellend:
1. Abschnitt · Säkulare Begründung der Verbindlichkeit des Rechts
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jenigen zu, der »die souveräne, zeitlich unbegrenzte Gewalt schlicht und einfach einem anderen […] übertragen […] und […] schließlich anderen […] überlassen«17 kann. Der Satz formuliert den höchsten Ausdruck der souveränen Macht des Herrschers: die Möglichkeit der Schenkung, d. h. Übertragung seiner Macht. Dieses Recht habe allerdings niemand außer der Fürst selbst. So dürfe die souveräne Macht des Fürsten von keinerlei weltlichen Bedingungen eingeschränkt werden: »Wer also souverän sein soll, darf in keiner Weise dem Befehl anderer unterworfen und muß in der Lage sein, den Untertanen das Gesetz vorzuschreiben, unzweckmäßige Gesetze aufzuheben oder für ungültig zu erklären und durch neue zu ersetzen.«18 Der Fürst vereinigt Legislative, Exekutive und Judikative in sich. Er ist höchste Gewalt und Vernunft im weltlichen Staat. Dieser fürstlichen Souveränität ist der Bürger zunächst ohne jede Widerspruchsmöglichkeit unterworfen. Vernachlässige der Monarch allerdings seine (moralischen) Pflichten, seien Bürger und Beamte zum passiven Ungehorsam berechtigt, ja sogar angehalten. So riskieren Bodins Sechs Bücher über den Staat den Spagat zwischen der Begründung (nahezu uneingeschränkter) Herrschaftsgewalt einerseits und (ungeachtet dieser Forderung) moralischer Anforderungen an den Souverän andererseits. 1.3 Zur Frage nach dem Gesetzestypus der Staatsphilosophie Bodins Mit Blick auf den Gesetzesbegriff stellt Bodins Staatsphilosophie einen frühen Vermittlungsversuch zweier konträrer Konzeptionen dar: derjenigen einer Gesetzesform i. S. eines bloßen Willensaktes einerseits und i. S. des lumen naturale andererseits. Diese Verschränkung erhellt aus Bodins sauberer Unterscheidung von Gesetz und Vertrag: »Denn ein Gesetz hängt vom Willen dessen ab, der die Souveränität innehat und damit zwar alle seine Untertanen, nicht aber sich selbst binden kann. Ein Vertrag dagegen begründet wechselseitige Beziehungen zwischen dem Fürst und den Untertanen und bindet beide Parteien gegenseitig.«19 Somit ist auch der Fürst an ein Vertragsabkommen gebunden; diese Verpflichtung, so Bodin, leite sich aus der natürlichen Gerechtigkeit ab. Allerdings erteilt Bodin dem Fürsten den Ratschlag, sich nur dann an Verträge zu binden, wenn es unvermeidlich ist.20 Wie weiter oben jedoch gezeigt dürfe der Fürst selbst niemals den Gesetzen unterworfen sein, denn jemand, der einem Gesetz – lt. Bodin eine Form von Restrik-
Thomas Maissen: Souveräner Gesetzgeber und absolute Macht. Calvin, Bodin und die mittelalterliche Tradition. – In: Christoph Strohm/Heinrich de Wall (Hgg.): Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit. Berlin 2009. 91 – 113; insb. 92 ff. (Historische Forschungen. Band 89) 17 Siehe: Jean Bodin: S 1. 210. 18 Siehe: Jean Bodin: S 1. 213. 19 Siehe: Jean Bodin: S 1. 216. 20 Siehe: Jean Bodin: S 1. 216.
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
tion – unterstehe, könne nicht die absolute Gewalt auf sich vereinen. Auch wenn der Fürst den Eid ablege, seine selbst erlassenen Gesetze als bindend zu respektieren – und sei es lediglich im Interesse seiner Untertanen –, sei er letztendlich nicht an diesen gebunden. Anders verhalte es sich freilich, wenn er gegenüber anderen Souveränen eine solche Verpflichtung eingehe: Dann nämlich sei diese (in der Regel) unwiderruflich.21 Das Kodifikationsrecht gilt Bodin als Hauptmerkmal der Souveränität. Da nach Bodin die Souveränität dem Monarchen von Gott gegeben und nicht vom Volk delegiert ist, unterliegt sie keiner demokratischen Kontrolle. Um Übergriffe des Souveräns auf das Volk oder einzelne Mitglieder auszuschließen, werden Grenzen der Souveränität festgeschrieben, z. B. die Unantastbarkeit des Erbfolgerechts sowie des Eigentums der Bürger. 1.4 Ius divinum – ius naturale – ius gentium Die Machtfülle des Souveräns, die in der Vielzahl seiner Befugnisse zum Ausdruck kommt, unterliegt aber auch Restriktionen, »weil alle Fürsten der Erde den Gesetzen Gottes, dem Naturrecht und verschiedenen von den Menschen gemachten Gesetzen unterstehen, die allen Völkern gemeinsam sind.«22 In der Summe ist der Souverän dreierlei Rechtsgestalten verpflichtet: dem göttlichen Gesetz (ius divinum), dem Naturrecht (ius naturale) sowie dem bei den Völkern geltenden Recht (ius gentium). Dabei gehen ius divinum und ius naturale eine enge Verbindung ein. Ersteres basiert keinesfalls auf einer bestimmten Religion, sondern beinhaltet vielmehr Maximen, auf die sich jede der großen Religionen verständigen kann; bezogen auf das Christentum dürfte der Dekalog das Richtmaß geben.23 So widerspreche es dem ius divinum, Unschuldige und Kinder zu töten24 oder aber verarmte Leute zu überSiehe: Jean Bodin: S 1. 215. Siehe: Jean Bodin: S 1. 213. 23 Siehe: Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität. Die Grundlagen. Bd. 1. A.a.O. 384. 24 Werden Hartwig Webers Archivstudien hinzugezogen, erweist sich diese Forderung im positiven Sinne als unzeitgemäß: »Die Kirchen und christlichen Obrigkeiten reagierten [auf die Revolte hexenbeschuldigter Kinder gegen religiösen und moralischen Zwang, H. G.] mit noch intensiverer religiöser Fürsorge, mit verstärktem moralischen Druck und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln indirekter und direkter Gewalt. In aller Deutlichkeit geben die Kinderhexenprozeßakten darüber Aufschluß; sie stellen vor Augen, was Theologen, Lehrer und christliche Obrigkeiten über die aufbegehrenden Kinder, über Kindheit überhaupt und über rechte Kinderaufzucht dachten und mit welchen Mitteln sie letztere zu fördern trachteten. In den sie begleitenden Reflexionen und Maßnahmen erweisen sich die Kinderhexenprozesse als gigantische Anstrengung, um aufmüpfige und gegen den zeitgenössischen christlich-moralischen Konsens rebellierende Kinder und Jugendliche zu disziplinieren, damit sie entweder auf den rechten Weg gebracht oder aber vernichtet würden. […] Die Kirchen ›entdeckten‹ die Kinderhexen ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sie mit intensivsten Reform- und Erziehungsbemühungen befaßt waren und mittels eines alle Lebensbereiche umfassenden repressiven Kontroll- und Leitungssystems die gan21
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1. Abschnitt · Säkulare Begründung der Verbindlichkeit des Rechts
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fallen.25 Gleiches gebietet das ius naturale, es ist jedoch weiter gefaßt und vereint in sich die Grundsätze von Vernunft und Gerechtigkeit, an die auch der Souverän gebunden bleibe. Faktizität und Geltung beider Gesetzesformen seien unantastbar: »Den Gesetzen Gottes und der Natur […] sind alle Fürsten der Erde unterworfen und es steht nicht in ihrer Macht, sich über sie hinwegzusetzen, ohne sich eines Majestätsverbrechens an Gott schuldig zu machen und damit offen Gott den Krieg zu erklären, unter dessen Größe alle Monarchen gleichsam wie durch das Joch zu gehen und in aller Demut und Ehrfurcht ihr Haupt zu beugen haben.«26 Begehe der Monarch hier Rechtsbruch, habe er sich allein vor Gott zu verantworten, büße dabei jedoch keinesfalls seinen Status als Souverän ein. Zwar habe er sich dann in einen Tyrannen verwandelt, dürfe aber nicht gestürzt werden. Dem Volk wird so ein aktives Widerstandsrecht untersagt. Eine tyrannische Herrschaft dürfe nur durch einen konkurrierenden, unbedingt souveränen Fürsten befehdet werden.27 Bodins Bestimmung des ius gentium ist ungleich schwieriger zu fassen, da es mehr oder minder mit dem Gewohnheitsrecht kongruiert. Gemeint sind Bräuche, deren »Geltungskraft erst ganz allmählich und nach langen Jahren dank einer von allen oder der Mehrheit geteilten Überzeugung«28 entstehen. Solche Gesetzesformen entsprechen in Teilen dem Naturrecht, müssen es aber nicht. Und auch hinsichtlich der Frage, ob das Gewohnheitsrecht für den Souverän verbindlich sei, äußert sich Bodin nicht eindeutig.29 Der Fürst ist an das von Gott gegebene Naturrecht, das in den scholastischen Disputationen des Mittelalters definiert worden ist, gebunden. Als souveräner Monarch ist er vergleichbar mit einem irdischen Abbild Gottes; dennoch oder gerade aus diesem Grund sollte er die natürliche Gerechtigkeit – auf sich selbst bezogen: die Realisierung einer durch Klugheit und Umsicht redlichen und rechtschaffenden Regierungspraxis – stets befördern wollen. Freilich betont Bodin, das Kriterium persönlichen Glücks sei für die praktische Bestimmung des Staates unerheblich: »Ein Staat kann nämlich gut regiert sein und dennoch Armut leiden, von den Freunden verlassen, von Feinden belagert und von allem möglichen Elend heimgesucht sein.«30 Das wahre Kennzeichen menschlicher Gemeinschaft sei vielmehr eine rechtmäßig eingesetzte Regierung gemäß dem Wil-
ze Gesellschaft gemäß den Prinzipien rechtgläubigen und verantwortlichen Christentums umformen wollten. Unter diesen Bedingungen mußten die kleinen Hexen als Modell christlicher Kinderaufzucht herhalten: An ihrem Exempel konnte demonstriert werden, wie ein Kind eben nicht sein durfte. Die Behandlung der Kinderhexen führte einem jeden drohend und beispielhaft vor Augen, wo die Abweichung von dem, was religiös und moralisch geboten war, schließlich enden mußte.« – Siehe: Hartwig Weber: Kinderhexenprozesse. Frankfurt a. M. 1991. 22 – 28. 25 Siehe: Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität. Die Grundlagen. Bd. 1. A.a.O. 385. 26 Siehe: Jean Bodin: S 1. 214. 27 Siehe: Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität. Die Grundlagen. Bd. 1. A.a.O. 387 ff. 28 Siehe: Jean Bodin: S 1. 293. 29 Siehe: Jean Bodin: S 1. 293. 30 Siehe: Jean Bodin: S 1. 100.
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
len Gottes incl. der Gesetze der Natur, sprich des Naturrechts. Die politische Philosophie des Machttheoretikers Bodin distanziert sich von antiken Glücksprogrammen, sie ist vielmehr Ausdruck eines religiös determinierten Naturrechts31 – und damit in gewisser Weise auch berechtigter Nachfahre der natürlichen Macht des biblischen Herrn.32 Nur gegenüber Gott habe der Fürst Pflichten – und steht damit über den konfessionellen Parteien. 1.5 Religion im Staat Zwar reflektieren die Bücher IV–VI des Bodinschen Staatstraktats die Probleme, welche die wahre Religion und wie ihr Verhältnis untereinander zu bestimmen sei; doch Bodins Souveränitätskonzept – die Autonomie staatlicher Gewalt – enthält v. a. auch das Erfordernis, von jedweder inneren wie äußeren Bindung (also auch konfessioneller) zu dispensieren. Konsequent favorisiert Bodin einen monarchischen Zentralismus als die beste aller Staatsformen und verspricht sich gerade von diesem, daß der Souverän den Staat nach außen gegen (ein mögliches Bündnis von) Kaiser und Papst33 sowie gegen einzelne Stände zu stützen vermag und infolgedessen nicht (wie in mittelalterlicher Zeit) an ein System von Bindungen und Freiheiten einzelner gebunden sei. Religiöse Anklänge finden sich vornehmlich im »Vorwort« der Sechs Bücher über den Staat. Hier macht Bodin den Fortbestand von Kaiser- und Königreichen sowie ganzer Volksgruppen zunächst von (einem richtenden) Gott abhängig;34 das Wirken eines guten und weisen Fürsten dagegen hält Bodin nimmt noch keine scharfe Diversifikation der Begriffe Naturrecht und Naturgesetz vor, wenngleich sich aus seiner Philosophie ergibt, daß sich das Erkennen der Naturgesetze per rationem einstellt und unter (selbstevidente) Gesetze der Natur beispielsweise das Recht auf (Privat-)Eigentum und eine Art Hausfriedensrecht fallen. – Siehe auch: Hans Fenske/Dieter Mertens/ Wolfgang Reinhard/Klaus Rosen (Hgg.): Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 1994. 296. 32 Siehe zum Verhältnis Absolutismus – Theonomie auch: Perry Anderson: Die Entstehung des absolutistischen Staates. A.a.O. 61 – 64. 33 Allein in Bodins Lebenszeit fallen zehn Pontificalii, nämlich diejenigen Clemens VII., Paulus III., Julius III., Marcellus II. (dessen Pontifikat lediglich drei Wochen währt), Paulus IV., Pius IV., Pius V., Gregorius XIII., Sixtus V. und Urbanus VII. – Um das religiöse Leben dieser Zeit anzudeuten, sei hier nur einmal auf die Chronik für das Jahr 1534 hingewiesen, in welchem beispielsweise Jean Cauvin, genannt Calvin, aus Paris vertrieben wird und nach Basel flüchtet; der baskische Ritter Ignatius von Loyola am 15. August den streng militärisch geführten Jesuitenorden gründet und damit die Basis der sog. Gegenreformation (die bis zum Jahr 1648 andauern sollte) schafft; Martin Luther die Übersetzung auch des Alten Testaments vorlegt, welche bei Hans Luft in Wittenberg in Druck gegeben wird. 34 »Denn wo […] die Triebe der Vernunft, die Privatpersonen den Amtspersonen, die Magistrate den Fürsten und diese Gott den Gehorsam verweigern, zeigt sich, daß Gott das ihm getane Unrecht rächt, sein ewiges Gesetz vollstrecken läßt und König- und Kaiserreiche den klügsten und tüchtigsten Fürsten, zumindest aber denen übergibt, die am wenigsten ungerecht sind und am meisten von Staatsgeschäften und der Führung des Volkes verstehen, und die er mitunter zum 31
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er alles in allem für unerheblich. Vielmehr sei ein jedwedes Ereignis von Gott verursacht, und zwar unter der Mitwirkung guter und böser Geister35 – wie bereits die Schrift lehre36 –, was Bodin nicht nur, jedoch insbesondere in seinem erstmals 1580 erschienenen Handbuch des Hexenwesens De la démonomanie des sorciers37 aufzeigt, sondern auch im II. Buch seines Colloquium Heptaplomeres als Geisterwerke zwischen Gott und Welt beschreibt. Auch die »Vorrede« der Sechs Bücher über den Staat beschreibt die Ordnung einer sinnlichen und übersinnlichen Welt. Wichtig ist hier, daß Bodin als Richter an Hexenprozessen teilgenommen hat;38
Staunen der Sieger und Besiegten von einem Ende der Welt an das andere herbeiruft.« – Siehe: Jean Bodin: S 1. 96. 35 Peter Cornelius Mayer-Tasch sieht in diesem Zusammenhang die Vernunft blamiert: »Inwieweit man Bodins Erörterung des Wirkens guter und böser Geister als einen an der Schwelle zur Neuzeit erfolgenden Rückfall in längst überwunden geglaubte Finsternisse und damit bestenfalls als peinlichen Seitensprung eines Frühaufklärers oder aber als legitime Nutzung des jedem Menschen zuzuerkennenden Glaubensreservates betrachten will, ist eine ihrerseits mit den dürftigen Mitteln der menschlichen Logik kaum hinlänglich zu beantwortende, quasi-metaphysische Frage.« – Siehe: Peter Cornelius Mayer-Tasch: Jean Bodin. Eine Einführung in sein Leben, sein Werk und seine Wirkung. Mit einer Bibliographie zum geistes- und sozialwissenschaftlichen Schrifttum über Bodin zwischen dem Jahr 1800 und dem Jahr 2000. Düsseldorf 2000. 18. – Georg Roellenbleck nimmt Bodin schon mehr in die Verantwortung. – Siehe: Georg Roellenbleck: Offenbarung, Natur und jüdische Überlieferung bei Jean Bodin. Eine Interpretation des Heptaplomeres. A.a.O. 11. – Siehe auch: Ralph Häfner: Die Geisterlehre Jean Bodins und der literarische Stil des Colloquium Heptaplomeres. 179 – 196. – In: ders. (Hg.): Bodinus Polymeres. Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk. A.a.O. 36 In der Tat setzt das Neue Testament die Existenz von Dämonen voraus. – Siehe: Eph 6,12. 37 Siehe: Jean Bodin: De la démonomanie des sorciers aveque la réfutation des opinions de Jean Wier. Hildesheim 1988. (Nachdruck der Ausgabe Paris 1580) – 1581 erscheinen sowohl in Basel die lateinische Übersetzung De Magorum Daemonomania libri IV als auch in Straßburg Johann Baptist Fischarts sprachgewaltige deutsche Übersetzung, über die im nachfolgenden 2. Kapitel ausführlich zu sprechen und deren vollständiger Titel nachzureichen ist. Die unterschiedlichen Auflagen und Übersetzungen des Werks erreichen hohe Auflagen. 38 Gesichert scheint, daß Bodin ab 1551 an der Universität zu Toulouse, der damaligen Hochburg der Studien zum römischen Recht, immatrikuliert ist und dort später als akademischer Lehrer tätig wird. Seit 1561 fungiert er als Rechtsberater im Dienste der königlichen Familie, zudem als Advokat am Pariser Parlament. Hier kommt er mit der damals allseits verbreiteten Hexenfeindlichkeit konfrontiert. In der Folgezeit betätigt er sich als Berater König Karls IX. von Frankreich und nimmt verschiedene öffentliche Aufgaben (etwa die Funktion eines königlichen Ratgebers bei den 1569 versammelten Generalständen Narbonnes) wahr. Nachdem er sich zeitweilig im Dienst des Herzogs von Alencon-Anjou und des französischen Königs Heinrich III. befindet, übersiedelt er nach Laon und wird dort 1577 Staatsanwalt am dortigen Präsidialgericht. In dieser Zeit veröffentlicht er eine Reihe von Werken, u. a. den besagten Hexentraktat De la démonomanie des sorciers aveque la réfutation des opinions de Jean Wier. 1590, also zehn Jahre nach dessen erster Veröffentlichung, hat er sich selbst auf Grund verschiedener umlaufender Gerüchte wegen Magieverdachts vor Gericht zu verantworten. Darüber hinaus verbietet Rom die Démonomanie zunächst; 1628 schließlich werden sämtliche Werke Bodins auf den Index gesetzt. – Siehe hierzu auch das Kapitel 2.2 des vorliegenden Abschnitts.
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daß er »der Hexerei Verdächtige – selbst Kinder darunter – eigenhändig gefoltert«39 habe, ist indes nicht gesichert. 1.6 System der Wissenschaften Bodin ist der Überzeugung, die Menschen sollten um willen eines friedlichen Miteinanders Konsequenzen ziehen aus den Erfahrungen, die sie jeweils machen. Die objektive Perspektive der Wissenschaft sodann ermögliche praktische Realisierungsformen politisch gewonnener Erkenntnisse. Somit weist Bodin entgegen der Hierarchie des zu seiner Zeit gültigen Wissenschaftssystems nicht der Theologie, sondern einer praktisch disponierten Politologie den ersten Rang unter den Wissenschaften zu.40 Entsprechend unergiebig gestaltete es sich, Bodins Staatslehre hinsichtlich möglicher Spannungen innerhalb des Verhältnisses von Religion und Moral zu untersuchen; wie gesehen kann hier nur das moralische Anforderungsprofil des Staatssouveräns in den Blick kommen. Bei Lichte besehen begegnet der Problemverbund Religion – Moral denn auch in Bodins Colloquium heptaplomeres sowie weltanschaulich (animistisch) und juristisch (strafrechtlich) in seinem ›System der Hexe‹, sprich dem besagten Pamphlet De la démonomanie des sorciers aveque la réfutation des opinions de Jean Wier. Die Lektüre der voluminösen Sechs Bücher über den Staat wird erschwert durch den Dokumentationscharakter großer Teile des Werks. Im Unterschied zu alten Schriften über das Staatsrecht liegt der Schwerpunkt der Analysen Bodins jedoch nicht auf der Welt der alten Griechen und Römer, sondern auf der zeitgenössischen Geschichte vorzugsweise Deutschlands, Englands, Spaniens und Italiens. Dahinter steht Bodins Überzeugung, es gebe einen notwendigen Verweisungszusammenhang von Politik und gegenwärtiger Praxis, gemäß welchem abstrakte Begriffsbildung konkreter Anschauung und Erfahrung zu subordinieren sei.41 Zu Recht wertet die Literatur daher Bodins frühen, dezidiert rechtsgeschichtlich ausgerichteten Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566)42 als Vorläufer der Sechs Bücher über den Staat. Und anders als später beispielsweise Pierre Bayle, dessen Historiographie sich einem Interesse an erkenntnistheoretischer Evidenz verdankt, weiß Bodin schon um die gegenwartsbezogene Relevanz von Geschichte.
39 Siehe: Gunnar Heinsohn/Otto Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen. Beiträge zur Theorie und Geschichte von Bevölkerung und Kindheit. Herbstein 41985. 88. 40 Siehe: Jean Bodin: S 1. 94. 41 Siehe: Jean Bodin: S 1. 101. 42 Siehe hier die Ausgabe: Io. Bodini Methodvs ad facilem historiarum cognitionem: Accvrate denuo recusus. Subiecto rerum Indice. M. D. LXXXIII. Apud Ioann. Mareschallum Lugdunensem. Cap. 4: De recto historiarum iudicio. 78 – 149.
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1.7 Religiöse Ernüchterung und Toleranz Das zentrale Thema des 1593 abgeschlossen Colloquium heptaplomeres,43 d. h. der sechs Gespräche zwischen sieben gelehrten Freunden unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse,44 besteht in einer Erneuerung und Stärkung des Begriffs der Toleranz (wobei Atheisten wohl ausgenommen sind),45 d. h. der Forderung nach konfessioneller Gleichwertigkeit. Darüber hinaus plädiert Bodin aber auch für eine Unabhängigkeit religiöser Bekenntnisse von der positiven Religion im allgemeinen und im besonderen für eine staatsrechtliche Gleichberechtigung der Konfessionen.46 Freilich bleibt die Beantwortung der Frage nach der wahren Religion im Streit der Sieben letztlich noch unentschieden. Einigkeit herrscht am Ende der Diskussion lediglich darüber, daß der Mensch in eine religiöse Gemeinschaft involviert sein müsse; zudem erweise es sich von größtem Vorteil, den Fortbestand bereits existierender Glaubensgemeinschaften zu dulden, sofern die Bereitschaft erkennbar sei, widerstreitende Glaubensformen zu tolerieren.47 Der Dialog verrät in Form und Thema Parallelen zu Nicolaus von Cues’ De pace fidei;48 was Ort und Teilnehmer betrifft, zeigt er Erasmische Züge.49 Eingedenk seines brisanten Grundanliegens: der Suche nach Prinzipien einer universalen, sprich überkonfessionellen Religionsgestalt, bleibt das Manuskript lange Zeit geheim und kursiert lediglich in handschriftlichen Kopien. Eine vollständige Publikation bietet erst: Jean Bodin: Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis. E codicibus manuscriptis curavit Ludwig Noack. Reprint der Ausgabe Schwerin 1857. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. (Diese Edition weist allerdings eine Reihe von Druckfehlern sowie einen unbrauchbaren Apparat auf.) – Zudem gibt es eine frühere deutsche Übersetzung von Auszügen aus dem Werk: Das Heptaplomeres des Jean Bodin. Zur Geschichte der Cultur und Literatur im Jahrhundert der Reformation. Von Dr. G. E. Guhrauer. Mit einem Schreiben an den Herausgeber von A. Neander. Berlin, 1841. Verlag von G. Eichler. – Zur Zweifelhaftigkeit der Siebenergespräch-Autorschaft Bodins siehe: Karl Friedrich Faltenbacher: Magie, Religion und Wissenschaften im Colloquium Heptaplomeres. Ergebnisse der Tagungen in Paris 1994 und in der Villa Vigoni 1999. Darmstadt 2002. (Beiträge zur Romanistik. Bd. 6) 44 Fridericus Podamicus ist Lutheraner, Antonius Curtius Calvinist, Salomo Barcassius Jude, Octavius Fagnola vom Christentum zum Islam übergetreten, Hieronymus Senamus (rationalistischer) Vertreter eines religiösen Universalismus, Diego Toralba Anhänger der natürlichen Religion. Diese sechs sind zu Gast im Hause des venezianischen Katholiken Paulus Coronaeus. 45 Siehe: Marion Leathers Kuntz: Nature, Law and Music in the Colloquium heptaplomeres. – In: Ralph Häfner (Hg.): Bodinus Polymeres. Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk. A.a.O. 145 – 163. 46 Siehe: Frank Griffel: Toleranzkonzepte im Islam und ihr Einfluß auf Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres. – In: Ralph Häfner (Hg.): Bodinus Polymeres. Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk. A.a.O. 119 – 144. 47 Siehe: Jean Bodin: Colloquium of the Seven about Secrets of the Sublime. Colloquium Heptaplomeres de Rerum Sublimium Arcanis Abditis. Princeton 1975. 473. 48 Siehe: Nicolaus de Cusa: Vom Frieden zwischen den Religionen. Lateinisch – deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Klaus Berger. Frankfurt a. M. 2002. 49 Als erste Anti-Kriegsschrift gilt: Erasmus von Rotterdam: »Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen«. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Brigitte Hannemann. München 1987. (Kaiser Traktate) – Der Titel des Buches geht zurück auf die Sentenz »Dulce bellum inexpertis«. – 43
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Das Studium der Schriften Bodins bietet kaum Anhaltspunkte dafür, religiöse Toleranz anhand der Differenz von unaussprechlicher Wahrheit und symbolischem Ausdruck der Religion zu begründen. Zwar taucht im Siebenergespräch einmal der Vorschlag auf, auf die natürliche als die ursprüngliche Religion zurückzugehen, doch dieser Vorschlag wird als nicht praktikabel verworfen.50 Dabei identifiziert Bodin den alt-israelitischen Glauben mit der natürlichen Religion: Diesem seien die unterschiedlichen monotheistischen Glaubensrichtungen entsprungen, die Bodin gleichwohl ihrerseits als autonom begreift. So spricht Bodin auch nicht von einem mystischen Wahrheitskern als Grundlage der Religionen.51 Die Frage nach der wahren Religion hält Bodin für abwegig,52 vielmehr zählten das Toleranzgebot und Warnungen vor den Folgen von Bürgerkriegen. Zwar bleibt gemäß Bodins keineswegs theonomer, sondern vielmehr anthropologisch orientierter Denkweise die Ethik noch theologisch begründet, weil Gott dem Menschen höchstes Gut und Ziel ist; aber das weltliche Handeln des Menschen reguliere sich kraft freien Willens und natürlicher Erkenntnis des Rechten nach dem Prinzip der ›Eigenverantwortung‹ – wenngleich zu beachten ist, wem der Mensch die Freiheit des Willens letztlich zu verdanken habe: nämlich Gott, wie insbesondere auch die nachfolgende Interpretation der Daemonomania verdeutlichen wird. Sonach ließe sich mit Voeglin und Winfried Schröder in der Tat von einer Vorform eines ethischen Deismus sprechen.53 Daraus resultiert, daß die Glückseligkeit des Menschen nicht auf Gnade, sondern auf menschlicher Tugend beruht. Bodins Appell für Toleranz scheint weit eher einer Einsicht in notwendige politische Erfordernisse als einer tiefen persönlichen Überzeugung geschuldet. Dies zeigt sich v. a. darin, daß er lediglich die bestehenden Konfessionen in seine ÜberSiehe: Erasmi Opera Omnia. Leiden 1703 – 1706. Bd. 2. 951b–970e. – Siehe hierzu auch die Kongreßakten in: Hans Peterse (Hg.): Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen. Das Bild vom Krieg und die Utopie des Friedens in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2006. 50 Siehe: Jean Bodin: Heptaplomeres. A.a.O. 462 f. 51 Wollte man Bodins Hinweis auf die ursprüngliche Religion weiterdenken, käme man eher zu einer deistischen Begründung der Toleranz, wie sie im Denken der Aufklärung (z. B. in Lessings Nathan der Weise) zu finden ist. – Siehe Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik. München 1966. 380, FN 19. 52 Der Dämonologe Bodin wird später eher die Gefahr der Areligiosität heraufziehen sehen: »Dann der Sathan gehet nicht allein darauff vmb / das er seine Zugethane zur verachtung vnd verlaugnung GOttes / sondern auch aller Religion vnd alles dessen / so ein jeder jhm für ein Gott haltet vnd einbildet / vnnd jhn in forchten böses zuthun zämen möchte / bewege vnd bringe / vnd sie also hiemit gäntzlich an sich hencke. [Abs.] Darumb stimmen die Zauberer vberein / daß das erste / so der Sathan die angehenden Zauberer lehret / sey nemlich / sie zur verlaugnung GOttes vnnd aller Religion zu bringen / als dem wol wissend / das der / so keine Religion nicht hat / sich ohn scheuw in aller hand Gottlosigkeit vnnd schandtstück erniete vnnd verliere.« – Siehe: Jean Bodin: De Daemonomania magorum. 781. (Sigle: D; Langtitel: III. Teil, 1. Abschnitt, Kapitel 2.1.1) 53 Schröder versteht Bodin als »Protodeisten«. – Siehe: Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. A.a.O. 230, FN 71.
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legungen mit einbezieht; überhaupt sollten Bodins Ansichten zu diesem Problemfeld nicht am Maßstab heutiger Formen von Glaubens- und Gewissensfreiheit gemessen werden.54 Nichtsdestoweniger zählt Bodin in seiner Zeit sicherlich zu den ersten, die die Irreversibilität der religiösen Pluralität als Resultat der Reformation nüchtern eingestehen. Daher begründet er religiöse Toleranz beinahe ausschließlich mit politischen und pragmatischen Argumenten. Es wird sich aber noch zeigen, wie in Gestalt der Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts ein unrühmlicher Einklang religiöser Interessen entsteht, insofern nämlich Katholiken, Lutheraner sowie Calvinisten Hexenprozesse gleichermaßen befürworten.55 Hier verdient das Jahr 1669 Erwähnung, als Ludwig XIV. die zumindest eingeschränkte religiöse Toleranz schrittweise wieder aufkündigt. Dies geschieht dreiundsiebzig Jahre nach Bodins Tod. Aber auch die Sechs Bücher über den Staat raten von der gewaltsamen Unterdrückung etablierter Religionen und Sekten ab, da andernfalls kriegerische Auseinandersetzungen heraufbeschworen werden könnten. Allenfalls durch das Vorbild des Herrschers oder durch entsprechende Anreize sollen die Untertanen zur Konversion zur wahren Religion bewegt werden. Welche Religionsform Bodin dabei konkret vor Augen steht, läßt er zwar unbeantwortet;56 religiöse Elemente indes – beispielsweise in seiner »Vorrede« zu den Sechs Büchern über den Staat – bleiben deutlich vernehmbar. Hier betont er, daß die Sicherheit und der Fortbestand von Kaiser- und Königreichen, ja völkische Existenzgrundlagen überhaupt allererst von Gott – und erst in zweiter Linie von einem guten und weisen Fürsten abhänge. Bodin, der die Gnosis als Teufelswerk brandmarkt57 und Gott prinzipiell für unerkennbar hält, vertraut als Wissenschaftler zunächst auf die Erkenntniskraft na54 Siehe: Georg Roellenbleck: Der Schluß des »Heptaplomeres« und die Begründung der Toleranz bei Bodin. – In: Horst Denzer (Hg.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung in München. München 1973. 53 – 67, hier 66. – Lt. Roellenbleck ist die Begründung der Toleranz des Heptaplomeres nicht nur als Ausdruck eines politischen Kalküls zu verstehen, sondern stehe in Zusammenhang mit einem tieferen Harmoniegedanken. Dennoch fällt es sowohl angesichts der Grenzen von Bodins Toleranzbegriff als auch hinsichtlich des ausschließlich politisch begründeten Toleranzkonzepts der Six Livres de la République schwer, in ihnen mehr als nur eine nachträgliche ideologische Beschönigung zu sehen. 55 Siehe das nachfolgende Zweite Kapitel vorliegender Untersuchung. – »Nachdem während der Jahre, die unmittelbar auf die Reformation folgten, die Hexenprozesse vorübergehend nachgelassen hatten, hob um die Zeit nach 1560 eine neue Verfolgungswelle an. Ausgerechnet in den protestantischen Territorien des Reiches und Europas – in Dänemark und Südschweden, in Württemberg und Mecklenburg – begannen nun die ersten Prozesse. […] In lutherischen Territorien dauerten die letzten größeren Hexenverfolgungen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts; aber bis weit ins 18., ja bis ins 19. Jahrhundert hinein verfochten protestantische Theologen den Hexenglauben und die Notwendigkeit der Hexenverfolgung mit Vehemenz.« – Siehe: Hartwig Weber: Kinderhexenprozesse. A.a.O. 10. 56 Siehe: Jean Bodin: S 2. 150 f. 57 »Also hat auch in der vralten ersten Kirchen (in massen Epiphanius anzeigt) der Sathan eine verdamliche Sect der Gnostischen Zauberer eingeschoben / welche vnterm schein der Religion / die auß jhrer Blutschandt gezeugte Kinder opfferten / vnd sie in Mörssern mit Mäl vnd
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türlicher Vernunft, unterscheidet von dieser jedoch einen persönlichen, allein durch die Gnade zugänglichen Gott, der sich in der Schöpfung offenbare. Bis zu F. H. Jacobi und Schelling steht diese Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube zur Diskussion, danach jedoch nicht mehr.58 Einem in solcher Weise verstandenen Schöpfergott dienen unterschiedliche Religionsbekenntnisse, welche ihrerseits weltliche Ordnungen nach sich ziehen. Bodins personale religio, d. h. die kontemplative Erhebung zu Gott, macht so auch den Mittelpunkt seiner politischen Wissenschaft aus. Denn seine animistische ›Politik kosmischer Harmonie‹ avisiert ja eine Garantie der Pluralität geschichtlicher Ausdrucksformen von religio (die verschiedenen sectae) unter der friedensstiftenden Obhut des Souveräns, der absoluten und unantastbaren republikanischen Macht. So werden einerseits Tendenzen, unter Zwang eine christliche Denomination zur religio des Staatswesens zu erheben, abgewiesen; gleichermaßen jedoch hat die souveräne Macht die Pflege solcher religio (die Verehrung des einzigen, ewigen Gottes) in besonderer Weise zu kultivieren. Das folgende zweite Kapitel bezeugt in prägnanter Weise die Mühseligkeit, mit der sich die hier verfolgte Problemgeschichte einer Abnabelung der Moral von der Religion vollzieht.
Honig stiessen / darauß sie alsdann Kuchen von Fladen / die sie jhren Sectgenossen zuessen gaben / machten / vnnd solchs jhr Nachtmal nannten. Dieses waren rechte Zauberer / auff die weiß vom leydigen Sathan abgericht: dessen fürnembster zweck ist / alle Religion auß der Menschen Hertzen zureissen / damit nur sein Gottloß Reich einen fortgang habe / oder auff daß er vnterm Deckmäntelein abergläubischer Religion alle schelmereyen vnd vbelthaten / die man entweder Gott / oder dem / welchen jeder vermeint Gott sein / jmmer zu schmach thun mag / verdecke vnd verstelle.« – Siehe: Jean Bodin: De daemonomania magorum. [Langtitel folgt] 782. (Sigle: D) 58 Siehe: Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung. – In: ders: JWA 3. – Siehe auch: Walter Jaeschke (Hg.): Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die göttlichen Dinge (1799 – 1812). Philosophisch-literarische Streitsachen. Bde. 3 und 3.1. Hamburg 1993.
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2. Kapitel: Bodins De la démonomanie des sorciers aveque la réfutation des opinions de Jean Wier (1580) 2.1 Aspekte der Gliederung 2.1.1 Bescheidung Für die deutsche Rezeptionsgeschichte der Démonomanie hat Johann Baptist Friedrich Fischarts59 (1546/1547 – 1590) frühe Übersetzung eine entscheidende Rolle gespielt, daher sei hier der vollständige Titel des Werks mitgeteilt: DE DAEMONOMANIA MAGORUM. Vom Außgelaßnen Wütigen Teuffelsheer der Besessenen Unsinnigen Hexen vnd Hexenmeyster / Unholden / Teuffelsbeschwerer / Warsager / Schwartzkünstler / Vergiffter / Nestelverknipffer / Veruntreuer / Nachtschädiger / Augenverblender / ec. vnd aller anderer Zauberer geschlecht / sampt ihrn vngeheurn händeln : Wie sie vermög der Recht erkant / eingetrieben / gehardert / erkundigt / erforscht / Peinlich ersucht vnd gestrafft sollen werden. [Abs.] Alles nicht alleyn auß H. Schrifft / vnd nach der hierüber außgangenen Determination der Theologen zu Pariß / sondern auch auß gründlicher Philosophi / Historien / vnd gemeynen Rechten gezogen / vnd wider Doctoris J. Wier Buch hievon geschriben / durch den Edeln / Hochgelehrten vnd Fernberummten H. Johan Bodin / der Rechten Doctorn / vnd des Parlements Raths inn Franckreich / ec. [Abs.] Nun erstmals durch den auch Ehrnvesten vnd Hochgelehrten H. Johann Fischart / der Rechten Doctorn / auß Französischer Sprach / treulich inn Teutsche gebracht / vnd an etlichen enben [sic!] gemehret vnd erkläret. [Abs.] HeutigsTags / bei nun zumal zweiffelhafftiger Nachfrag von der Hexen verdienst vnd Straff / den Theologen / Rechtsgelehrten / Medicis / Amptleuten / Richtern / Rhäten / Rhatspersonen / vnd jeder Oberkeyt notwendig zuwissen vnd sich darnach zu richten. [Abs.] Mit Röm: Key: May: Freiheyt auff zehen Jar. [Abs.] Straßburg bei B. Jobin. 1581.60 Johann Baptist Friedrich Fischart, genannt Mentzer, wird 1546 oder 1547 in Straßburg geboren. Nach dem Besuch der Lateinschule in Worms immatrikuliert er sich an der Universität Tübingen. Ab 1566 unternimmt er Studienreisen nach Flandern, nach Paris, wohl auch nach England und Italien. 1570 kehrt er nach Straßburg zurück. In Basel promoviert er 1574 zum Doktor beider Rechte. 1583 wird er zum Amtmann im lothringischen Forbach ernannt. Dort stirbt er 1590, vermutlich an einer Infektionskrankheit. Zunächst Lutheraner, dann Calvinist kämpft der streitbare Republikaner Fischart gegen Modetorheit und Sittenverfall, gegen Papsttum und Jesuiten. Er verfaßt den ersten deutschsprachigen Sonett-Zyklus, und sein Hauptwerk, die Affentheurlich Naupengeheuerliche Geschichtsklitterung (1575/1590), d.i. seine Übersetzung von François Rabelais’ fünfbändigem Romanzyklus Gargantua et Pantagruel (1532, 1534, 1545, 1552 und 1564), wird heute als »Finnegans Wake des 16. Jahrhunderts« gefeiert. Fischart selbst nennt es »ein verwirretes vngestaltes Muster der heut verwirrten vngestalten Welt«. 60 Unsere Studien basieren auf dem Démonomanie-Exemplar der Paul-Ernst-Sammlung aus dem Bestand der Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum (Signatur: Ern 2419). – Der Verlag frommann-holzboog bereitet in Band IX eine Edition von De Daemonomania Magorum (1581) vor. – Siehe: Johann Fischart: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Her59
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Eine Auswertung dieses Werks hat sich dem Prinzip der Bescheidung zu beugen. Die umfangreiche Schrift umfaßt im wesentlichen vier Bücher;61 angefügt ist mit »Das Fünffte Buch. Inhaltend Die Widerlegung der Meynungen vnd Opinionen des Herrn Doctoris Johannis Weir.«62 zudem ein fünftes, das – neben dem ersten63 – hier von besonderem Interesse ist. In den ersten drei Büchern64 entfaltet Bodin eine juristische Bestimmung des Hexen- und Zauberbegriffs. Dabei bildet nachfolgend genannter Passus eine folgenreiche Bedingung der weiteren Ausführungen Bodins: »Eyn Zauberer / Hex oder Hexenmeyster ist / der vorsätzlich vnd wissentlich durch Teuffelische Mittel sich bemühet vnd vndersteht sein fürnemmen hinauß zutringen / oder zu etwas dardurch zukommen vnd zugelangen.«65 Die verheerenden Konsequenzen dieser Begriffsbestimmung sollen im weiteren ermittelt werden. Das vierte Buch, das Probleme des von Staats wegen – gemäß römischem Recht66 – veranlaßten Inquisitionsverfahrens (von dem das Akkusations- bzw. das ausgegeben von Hans-Gert Roloff, Ulrich Seelbach und W. Eckehart Spengler. Stuttgart-Bad Cannstatt 1993 ff. 61 »Das Erst Buch der Demonomany / oder Wütigkeyt der bösen Geyster / vnd dieser / so von jhnen getriben und geführt werden.« (44 – 201); »Das Ander Buch / Von der Magy oder Zauberei inn gemeyn / vnd jhren mancherley weisen / geschlechten und Arten.« (202 – 406); »Das Dritte Buch. Von der Teuffelischen Hexenwüterei und Zaubereirasigkeyt.« (407 – 545); »Das Vierte Buch. Von Rechtmässiger Außkundschafftung / Erforschung / Inquisition / vnd Straffung gegen den Hechsen vnd Zauberern / fürzunemmen.« (546 – 694) 62 Siehe: Jean Bodin: D 695 – 801. 63 Das erste Buch handelt »von den Naturen der Geyster / vnd wie dieselbigen sich mit den Menschen vereynigen oder gesellen […]«. – Siehe: Jean Bodin: D 42. – Da es das tiefere, sprich theologisch auszulotende Wesen und die weltlichen Eigenschaften von »Hexen« abhandelt, bildet es einen Schwerpunkt der nachfolgenden Analysen. 64 Über die Praxis inquisitorischer Rechtsprechung unterrichtet das zweite Buch: »Im zweyten Buch / werden Summarisch auffs kürtzest / so möglich gewesen / die Künstlein / vnd unzimliche mittel der Zauberer vnd Hexen angerürt: Doch also / das keyner darauß gelegenheit schöpfen mag / das böß zu seim vortheyl zu ziehen. Sondern allein vmm vorspigelung der Hetz vnd Strick / darvor sich jeder zuhuten hat. vnd zu behülff der Richter / die nicht stäts der weil vnd muß haben / dergleichen ding zuersuchen vnd nachzuforschen / vnd gleichwol gern bericht hetten / das urtheyl recht zufällen.« – Siehe: Jean Bodin: D 42 f. 65 Siehe: Jean Bodin: D 44. 66 Allerdings sind das Verständnis sowie die praktische Auslegung des römischen Rechts in Bodins Zeit grundlegenden Wandlungen unterworfen: »Während in der Scholastik die römischen Rechtsquellen möglichst wortgetreu ausgelegt werden sollten, wenden die Humanisten dagegen ein, diese Texte seien nur aus ihrer Entstehungszeit zu interpretieren, aus der realen politischen Situation und gemäß den damaligen Sprachgewohnheiten. […] Die Anwendung dieser Methoden auch auf den ›Codex Justinianus‹ weisen diesen als nicht homogenes Werk aus, sondern als aus verschiedenen Perioden der römischen Judikatur stammend. Damit wird der bisher als ratio scripta (›niedergeschriebene Vernunft‹) hochgehaltene Codex relativiert; die verschiedenen Textteile werden als historische Dokumente entschlüsselt und interpretiert. Eine solche veränderte Auffassung öffnet den Weg zur Analyse auch anderer Rechtssysteme. Vor allem das Gewohnheitsrecht, die Tradition, wird immer mehr zum Forschungsbereich der Humanisten. Damit nimmt die vergleichende, universelle Rechtslehre ihren Anfang, wie sie Jean Bodin dann zum Forschungsanliegen erhebt.« – Siehe: Leonhard Bauer/Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom Feudal-
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Cognitionalverfahren zu unterscheiden sind67) und der Strafregelung behandelt, hat zahlreichen Richtern in Hexen-Prozessen als Handbuch und Nachschlagewerk gedient.68 Bodin expliziert darin ausführlich die Verfahrensregeln für einen Hexenprozeß, der im Unterschied zu gewöhnlichen Strafprozessen eigenen Bedingungen unterliegt und einen außerordentlichen Verlauf nimmt (crimen exceptum). So sei beispielsweise für Angeklagte keinerlei juristischer Beistand durch einen Anwalt vonnöten; zudem habe der Richter das Recht zu lügen, um Angeklagte zu einem Geständnis zu bringen. Um jemanden der Hexerei zu überführen, reiche es aus, einen Zeugen (statt der üblichen zwei) zu hören. Darüber hinaus seien umlaufende Gerüchte (»öffentliches Geschrei«) bereits aussagekräftig genug, d. h. Denuntiationen können als vorweggenommene Zeugenaussagen gewertet werden. Ausschlaggebend für die Urteilsfindung des Prozesses sei die Aussage der/des Angeklagten. Eine Verweigerung der Aussage der/des Angeklagten könne bereits als Geständnis gewertet werden. Hexen seien u. a. erkennbar an Malen oder ihrer familiären Herkunft, an der Unfähigkeit zu weinen oder dem Richter während des Prozeßverlaufs in die Augen zu blicken. Gleichwohl ist zu betonen, daß die weit verbreitete Annahme, die v. a. im 15.–18. Jahrhundert stattfindenden Pogrome habe vorrangig die kirchliche Inquisition zu verantworten, historisch nicht haltbar ist. Die weit überwiegende Anzahl der Hexenprozesse wird vor weltlichen Gerichten verhandelt – freilich meistens im Interesse der Kirche. Ähnlichkeiten in der Verhandlungsführung bestehen jedoch insofern, als sich auch weltliche Gerichtstribunale zur Hexenverfolgung des juridischen Instruments des Inquisitionsverfahrens samt Folter bedienen.
system zur Marktgesellschaft. München 21989. 173. – Hermann Conring (1606 – 1681) schließlich zieht die Summe aus dieser Entwicklung und zeigt, daß (auch) dem Codex Justinianus eine Geschichte inhäriere, es mitnichten auf einem kaiserlichen Gesetzgebungsakt gründe. – Siehe: Hermann Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. De origine iuris germanici. – In: Michael Stolleis (Hg.): Die Bibliothek des deutschen Staatsdenkens. Band 3. Frankfurt a. M. 1994. Kap. II, XXIII f., XXXI ff. 67 Siehe: Hubertus Zilkens: Entwicklung und Verfahren der Inquisition. – In: Die neue Ordnung. 53 (1999), 6, 447 – 459; hier 447 f. – Bereits Soldan (in der 1843 erschienenen Erstausgabe seines Werkes) bzw. Heppe rekonstruieren den Übergang vom Inquisitionsprozeß zum Akkusationsprozeß. – Siehe: Georg Soldan/Henriette Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. Nachdruck der 3. (letzten) Auflage (des Jahres 1911). Neu bearbeitet und herausgegeben von Max Bauer. Band I. Hanau/M. o. J. 311 – 405. 68 »Zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert versuchte die Kirche noch mit Nachdruck einzelne Bestandteile des Hexenglaubens als Überreste des Heidentums zu bekämpfen. Im Spätmittelalter aber entfaltete die kirchliche Theologie auf der Grundlage dieses Glaubens eine systematische Dämonologie und Hexenlehre. Dabei bezog man die im 13. Jahrhundert formulierten Charakteristika der Ketzer – Anbetung des Teufels und orgiastische Ausschweifung – auf das neue Bild der Hexe. Als sich das 15. Jahrhundert seinem Ende zuneigte, lag die endgültige, von Theologie und Kirche sanktionierte Lehre der Hexerei als Gemisch aus volkstümlicher Magie, Dämonenfurcht und doktrinärer kirchlicher Hexenvorstellung vor.« – Siehe: Hartwig Weber: Kinderhexenprozesse. A.a.O. 7 f.
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2.1.2 Ex- und intrinsische Stringenz des problemgeschichtlichen Zugriffs auf die Daemonomania Unerläßlich ist eine nicht nur problem-, sondern auch geistesgeschichtliche Auseinandersetzung mit Bodins Daemonomania schon deshalb, weil diese Schrift nichts weniger als Bodins Anthropologie des Menschen als eines Mischwesens expliziert, welches – spätestens – von Geburt an sowohl irdischen (affektiven) als auch himmlischen (supranaturalen) Einflüssen ausgesetzt sei. Auch seine Sechs Bücher über den Staat durchwirkt eine animistisch hierarchisierte Affektenlehre: »So wie nämlich der große, überaus weise gerechte Gott der Natur den Engeln befiehlt, befehlen die Engel den Menschen, diese den Tieren, die Seele dem Leib, der Himmel der Erde und die Vernunft den Begierden, damit was sich weniger zum Befehlen eignet, als Lohn für geleisteten Gehorsam von dem geleitet und geführt werde, das ihm Schutz zu gewähren vermag.«69 So erklärt auch die Daemonomania die Lehre vom Menschen und seiner Vergesellschaftungsformen zu einem Bestandteil einer komplexen Ordnung einer sämtliche Formen des Seins durchwirkenden Geisterwelt,70 einer Sphären-Kosmologie oder Astralmagie, für deren wissenschaftliche Begründung er eine gelehrte Ahnengalerie ausgehend von der Kultur der alten Ägypter71 über die christliche und jüdische Mystik (Kabbala),72 die Magie, die griechische und römische Antike, die Alte Kirche bis hin zu den in seiner Zeit diskutierten wissenschaftlichen Autoritäten73 Siehe: Jean Bodin: S 1. 96. Bodins wissenschaftliches Werk insgesamt wird bis zuletzt von der Überzeugung getragen, daß »die vnterst Welt mit der Obersten vereyniget seie.« – Siehe: Jean Bodin: D 64. – Diese Verbindung zwischen Erde und Himmel gewährleiste der Kosmos chthonischer und lunarischer Geister. 71 Erst der deutsche Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602 – 1680) darf als Begründer der Ägyptologie gelten. 72 Thomas Hobbes nennt mit den Sadduzäern (zu denen beispielsweise der Hohepriester Kaiphas zählt) eine Ausnahme: Diese irrten so weit, »daß sie glaubten, es gäbe überhaupt keine Geister (was dem offenen Atheismus sehr nahe kommt)«. – Siehe: Thomas Hobbes: L 65. – Flavius Josephus unterscheidet drei altjüdische Glaubensgemeinschaften (»Sekten«) mit jeweils kontrastierenden Auffassungen, wie die Menschen leben sollen: Pharisäer (die auch den jungen Paulus unterweisen), Essener sowie Sadduzäer, die neben der Auferstehung auch die Existenz von Engeln leugnen. 73 »Bodins Daemonomanie kann als Resultat exemplarischer Bastelarbeit an einem schon etablierten Problemlösungs- und Deutungsmodell [Störungen der Weltordnung seien unter Rückgriff auf Teufelspakt und Maleficium erklärbar, H. G.] verstanden werden, das in dieser Gestalt in seine ›klassische Epoche‹ eintritt. Unter expliziter Bezugnahme auf die paradigmatische Kodifizierung versuchte er, das überlieferte Muster den veränderten Umständen anzupassen und auf den wissenschaftlichen Stand seiner Zeit zu heben. Die bald in viele Sprachen übersetzte Daemonomanie begründete als eine Art Malleus renovatus eine neue literarische Gattung und trieb mit ihren juristischen Argumentationen und Verfolgungsanweisungen die Institutionalisierung entscheidend voran. In der Folgezeit kamen, abgesehen von moraltheologischen Argumenten und biblischen Fundamentalismen, keine wesentlich über Bodin hinausgehenden historischen und philosophischen Erwägungen oder rechtlichen Beweisketten mehr hinzu. […] Sie war so gut belegt und 69
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als Zeugen anruft. Dieser Synkretismus ähnelt einem animistisch angereicherten Neoplatonismus. Auch Bodins Politologie – im Unterschied beispielsweise zu derjenigen Machiavellis – speist sich aus einer neoplatonischen Interpretation antiker, christlicher und jüdischer Traditionsbestände. Die Frage nach einem unterschwelligen Hebraismus Bodins hat vorliegende Untersuchung bereits früher angeschnitten, und auch Fischart ordnet Bodin dem jüdischen Ritus zu,74 was nicht verwundert angesichts seiner Rezeption ausschließlich jüdischer Quellen. Die Daemonomania läßt ein Panoptikum dämonischer Engel bzw. engelsähnlicher Wesenheiten vor dem Leser erstehen, deren Einfluß und Macht das menschliche Schicksal bestimmen. Z.B. beherrsche der Teufel die Fähigkeit des Wettermachens.75 Der Religionswissenschaftler Alfonso di Nola interpretiert eine solche Weltanschauung wie folgt: »Geht man dieses Phänomen [Dämonenbesessenheit und die uneingeschränkte Gegenwart des Bösen, H.G.] auf eine nichtreligiöse, rationale Weise an, so muß man es unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten betrachten, das heißt, man muß die Glaubwürdigkeit des dämonologischen Systems insgesamt anzweifeln und seinen grundsätzlich entfremdeten und unhistorischen Charakter sehen. Mittels bewußt erzeugter Ängste, Mystifizierungen und gewalttätiger Machtausübung hat sich der Un-Sinn einer deterministischen Suche nach Kausalketten, die in Wirklichkeit überhaupt nicht existieren, zunehmend verdichtet. Anstatt die natürlichen Wechselfälle des Lebens zu akzeptieren, wo Augenblicke der Fülle abgelöst werden von Zeiten der Krise, hat sich der Mensch angesichts des unausweichlichen Todes und Leides auf die quälende Frage nach der ›Ursache‹ des Bösen eingelassen. So haben die Menschen aller Kulturen die Wirklichkeit, die stets von Widersprüchen gekennzeichnet ist, indem sie segensreiche und störende Faktoren aufweist, in die beiden Gegensätze von Gut und Böse aufgespalten und diese auf Gott und die Epiphanie des Bösen projiziert.«76
dokumentiert, daß es lange Zeit niemand wagte, gegen Bodin auch nur ein einziges historisches Argument zu setzen.« – Siehe: Claudia Honegger (Hg.): Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1978. 94 f. – Honegger folgt hier offensichtlich der These Robert Mandrous und Hugh Trevor-Ropers, nach der sich die Vorstellung verbreitet hat, Bodins Werk habe im gesamten Europa entscheidende Anreize gesetzt, Hexenverfolgungen und -prozesse zu forcieren. Jonathan L. Pearl dagegen, der die Démonomanie intensiv erforscht hat, bezweifelt jedoch diesen starken Einfluß u. a. mit dem Hinweis auf Bodins juristische Argumentationsweise. 74 Siehe Fischarts »Vorwarnung von Lesung vnd Vrtheylung folgender Bücher.« – Siehe: Jean Bodin: D 2 f. [unpag.]. 75 Siehe: Jean Bodin: D 751 bzw. 756. 76 Siehe: Alfonso di Nola: Der Teufel. Wesen Wirkung Geschichte. Mit einem Vorwort von Felix Karlinger. Aus dem Italienischen von Dagmar Türck-Wagner. Erftstadt 2004. 14. (Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Il diavolo. Le forme, la storia, le vicende di Satana e la sua universale e malefica presenza presso tutti i populi, dall’antichità ai nostri giorni bei Newton Compton editori s. r. l., Roma.) – Dieses Werk hat beispielsweise in Umberto Eco einen prominenten Befürworter gefunden.
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Der Leser der Daemonomania gewinnt tatsächlich den Eindruck, sämtliche Kapitel des Werks durchwirkten die Visionen der Johanneischen Offenbarung.77 Auch wenn, wie bereits erwähnt, Bodin die Tradition des Gnostizismus des 2. und 3. Jahrhunderts strikt ablehnt, ja sie insgesamt für eine Gefahr hält insbesondere für das katholische Dogma der Einheit des dreifaltigen Gottes, weist seine Daemonomania doch gewisse Wesenszüge dieser frühchristlichen Religionsgestalt auf. Der quasi-gnoseologische Charakter betrifft die in dieser Schrift behauptete bipolare Natur des menschlichen Wesenskerns: Einerseits erscheint die Seele als göttlicher Lichtfunke, andererseits wiederum erstrahlt sie im Exil der Materie, die der Herrschaft ihr äußerlicher, finsterer Mächte unterstellt ist. Gefangen im Kerker des Leibes wird der göttliche Teil des Menschen von äußeren Sinnen betrogen, Dämone attackieren, ja verhexen ihn letztlich, um seine Rückkehr zu seinem göttlichen Ursprung zu verhindern. 2.2 Madame Jeanne Harviller († 29. April 1578). Eine Fallstudie Bodin nennt zu Beginn seines Werks das Beispiel des Falles der »Johanna Harwilerin / bürtig von Verberich bei Compiegne: Die ward verklagt / das sie vil Leut vnd Vieh getödet hat«,78 die von ihrer Mutter nach ihrer Geburt dem Teufel in Gestalt eines großen schwarzen Mannes79 (»Beelzebub«80 und auch das Hebräische »Sa»Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel, und sie siegten nicht und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel. Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen. Und ich hörte eine große Stimme, die sprach im Himmel: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus; denn der Verkläger unserer Brüder ist verworfen, der sie verklagte Tag und Nacht vor unserem Gott. Und sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Leben nicht geliebt bis hin zum Tod. Darum freut euch, ihr Himmel und die darin wohnen! Weh aber der Erde und dem Meer! Denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn und weiß, daß er wenig Zeit hat.« – Siehe: Offb 12,7 – 12. 78 Siehe: Jean Bodin: D 2. – Auf Frau Harwilerin (in der französischen Erstausgabe 1580 Jeanne Harviller) kommt Bodin mehrfach zu sprechen, beispielsweise in Zusammenhang mit der später zum Tode verurteilten zweifachen Kindsmörderin Catharin Darea (1578 bezeugt) oder hinsichtlich ihres juristisch aktenkundigen, verdächtig ausgedehnten Hexenflugs. – Siehe: Jean Bodin: D 28 bzw. 780. – Siehe auch: Stefan Janson: Jean Bodin, Johann Fischart: De la démonomanie des sorciers (1580). Vom aussgelassnen wütigen Teuffelsheer (1581) und ihre Fallberichte. Frankfurt a. M./Bern 1980. 79 »[…] das dise Hexen aussagen / vnd gleichsam eyns Munds bekennen / das wann die bösen Geyster in Mansgestalt sich erzeygen / gewonlich Schwartz seien / vnd die andern vberlängen / oder wie kleyne Zwerge erscheinen […].« – Siehe: Jean Bodin: D 27. 80 In der Schrift heißt es »Beelzebul«. – Siehe: Mt 10,25, Mt 12,24, Mt 12,27, Mk 3,22, Lk 11,15, Lk 11,18, Lk 11,19. – Zum Bericht der Pharisäer über Jesu Gleichnis »Wie kann der Satan den Satan austreiben?« siehe: Mk 3,22 – 30. 77
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than«, wie es später heißt) übergeben worden sei. Ob es sich hierbei um die – zweifelsohne verwerfliche – Tat einer notleidenden Mutter handelt, die zu Geld für sich und ihr Kind kommen möchte81 (aus ihren späteren Jahren wird von vergewaltigungsähnlichen Übergriffen berichtet), kann mit letzter Sicherheit heute nicht mehr beurteilt werden. Zumindest jedoch wird Frau Harviller beschuldigt, mit dem Teufel regelmäßigen Verkehr unterhalten zu haben;82 daß sie – teils nicht aus eigenem Verschulden – den Tod mehrerer Menschen zu verantworten habe, führt letztlich dazu, daß sie, als Hexe beschuldigt und vor Gericht überführt, am 29. April 157883 bei lebendigem Leibe verbrannt wird »durch außführung des M. Claudij Dofay / Königlichem Procurator zu Ribemont«.84 Ihr vorheriges Diktat, der Teufel solle »sie kurtzumm nit mehr besuchen«,85 hat sie vor diesem Schicksal nicht bewahren können. Bevor das Urteil vollstreckt wird, legt Frau Harwilerin ein umfassendes Geständnis ab von der Zusammenkunft vieler Hexen mit dem erwähnten, ca. 30-jährigen schwarzen Mann, der seinen Gefolgsfrauen Schutz und Glückseligkeit versprochen habe. Dabei pikant: Eine pekuniäre Vergütung habe er für die Einlösung seines Versprechens nicht verlangt. Diese Mitteilung eröffnet zumindest die Möglichkeit für eine kirchenkritische Interpretation, bildet doch die Kollekte (während eines oder nach einem Gottesdienst) für kirchliche oder karitative Zwecke einen Schon die Kirchenväter beziehen sich auf Dämonenbesessenheit; seit frühester Zeit gehört dabei die Kindesverstoßung angeblicher Hexenmütter zu den grundlegenden Charakteristika der Dämonologie. Bodin kommt später sogar zurück auf das vorsätzliche Sieden und Braten von Kindern, »damit sie [die Zauberer, H. G.] die Fette mögen darvon gehaben […].« – Siehe: Jean Bodin: D 735; ähnlich 736; 738 f. – Bodin scheint hier einem Wahnglauben anheimgefallen zu sein, der noch Johannes Praetorius (eigentlich: Hans Schulz; seine Pseudonyme: Petrus Hilarius, Steffen Läusepeltz, Johannes Petrus de Memel, Brandanus Merlinus, Janeser Potorianus, Johann Richter, Wigandus Sechswochius, Servius, Hoffmeister Spinn-Stuben, Lustigerus Wortlibius, 22. Oktober 1630 – 25. Oktober 1680) in seiner Blockes-Berges Verrichtung (Leipzig 1688), die Goethe für die Walpurgisnacht-Szene seines Faust Pate steht, mitteilt: »Paracelsus berichtet, daß eine Salbe von den Hexen gemacht werde aus dem Fleisch der jungen neugebornen Kinder, welches sie wie einen Brei kochen mit denen Kräutern, die einen Schlaf verursachen, als da sind Mohn, Nachtschatten, Sonnenwendel, Schierling und dergleichen. Wann nun die Hexen sich mit der Salbe schmieren und folgende Wort sprechen: ›Oben aus und nirgends an!‹, so sollen sie, seiner Meinung nach, durch die Feuermauer, durch die Fenster und andere enge Löcher durch Hilf des Teufels davonfahren.« – Zit. nach: Goethe: Walpurgisnacht. Bühnenfassung mit den unterdrückten Passagen und Quellentexte zur Geschichte der Ketzer- und Hexenverfolgung. Zum 150. Todestag Goethes am 22. März 1982. München 1982. 24. (Der Text der »Walpurgisnacht« und die Quellentexte zur Geschichte der Hexenverfolgung wurden entnommen aus: Albrecht Schöne: Götterzeichen · Liebeszauber · Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte. München 1982.) – Siehe zudem: Hartwig Weber: Kinderhexenprozesse. A.a.O. 14 – 17. 82 Zur Verweigerung ›funktioneller‹ Kohabitation siehe: Ines Brenner/Gisela Morgenthal: Sinnlicher Widerstand während der Ketzer- und Hexenverfolgungen. Materialien und Interpretationen. – In: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt a. M. 2 1978. 188 – 239; hier 226 – 237. 83 Siehe: Jean Bodin: D 720. 84 Siehe: Jean Bodin: D 5. 85 Siehe: Jean Bodin: D 5. 81
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bereits seit den urchristlichen Gemeinden festen Bestandteil des Christentums.86 Offensichtlich aber erhebt der Teufel auf Entgelte besagter Art keinerlei Anspruch – aus Gründen weitgehender Autonomie seiner Gefolgschaft gegenüber? Bodin teilt im weiteren mit, Vorfälle der genannten Art seien in der Folgezeit zunehmend bestritten worden, so daß er sich entschlossen habe, die Daemonomania zu Papier zu bringen. Zudem wolle er dazu beitragen, die gegenwärtige »Teuffelssucht« zu bekämpfen, daß die Menschen »wie Höllenbrünstig […] dem leydigen Teuffel nachhencken vnd lauffen«.87 Tieferer Sinn und Zweck seines Unternehmens sei jedoch: »Auff das es jedermann / dem es fürkompt / zu eyner Warnung / Fürsichtigkeyt vnd Vorleuchtung möge dienen / vnd die Leut gründlich berichten / das kaum abscheulicher laster vnd vbelthat / als dises Hechssen vnd Zauberwerck zufinden / und deßhalben keyns so schwere Straf als dises verschulde.«88 Grundsätzlich ist es aber so, daß die Inquisitionsbehörden der frühen Neuzeit insgesamt recht zurückhaltend bis ablehnend gegenüber der damals allenthalben beklagten Hexerei-Panik agieren. Die Spanische Inquisition beispielsweise, die beinahe vollständig in der Hand der Monarchen liegt, verfolgt im 16. Jahrhundert im Unterschied zu den zeitgleich agierenden königlichen Gerichten Hexen und Hexer nur in Ausnahmefällen; auch von der Römischen Inquisition sind diesbezüglich nur Einzelfälle bekannt.89 Bodin jedenfalls führt besagten Prozeß des Jahres 1578 gegen Jeanne Harviller als auslösendes Moment für die Abfassung seines unter Hexentheoretikern in der Folgezeit hochgeschätzten Werkes an: Dies »hat mir Anlaß vnd vrsach geben / die Feder inn die Hand zunemmen / vnd die Matery von den Hechssen / welche heutigs tags jedermann so verwunderlich frembd fürkommet / auch bei vilen kleinen glauben gewinnet / nunmals außführlich zuerklären.«90 Bereits 1549 wohnt Bodin einem Hexenprozeß bei, bei dem sieben Menschen der Zauberei angeklagt werden; Siehe: Röm 15,25 – 29; II. Kor, 8 – 9; Gal 2,10; I. Kor 16,1 – 3 gibt genaue Anweisungen für die Kollektenpraxis. 87 Siehe: Jean Bodin: D 7. – Bodin nennt eine nicht geringe Anzahl von Hexen(-meistern) sowie Zentren von Schulen und Zauberern, so z. B. das spanische Toledo (das tatsächlich in dieser Weise aktenkundig wird). – Auch Institoris’ Hexenhammer versucht eine Deutung der offenkundigen Zunahme der Hexerei. – Siehe: Jakob Sprenger/Heinrich Institoris: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). Übersetzt von Johann W. R. Schmidt. München 21974. II. 63. – Siehe auch: Helmut Brackert: »Unglückliche, was hast du gehofft?« Zu den Hexenbüchern des 15. bis 17. Jahrhunderts. – In: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. A.a.O. 131 – 187; hier 139. – Brackerts Zitat im Titel seiner Untersuchung stammt aus: Friedrich von Spee: Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse. Aus dem Lateinischen übertragen und eingeleitet von Joachim-Friedrich Ritter. Darmstadt 21967. 286. – Die maßgebliche Ausgabe der Cautio Criminalis liegt vor mit: Friedrich von Spee: Sämtliche Schriften. Band 3. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Theo G. M. van Oorschot. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen/ Basel 2005. 88 Siehe: Jean Bodin: D 7. 89 Siehe: Gerd Schwerhoff: Die Inquisition. Ketzerverfolgung in Mittelalter und Neuzeit. München 2004. 110 – 120. 90 Siehe: Jean Bodin: D 1 f. (»Die Vorred / oder Veranlasung zu folgender Handlung«) 86
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darüber hinaus kommt er v. a. durch seine juristische Tätigkeit als Anwalt am Pariser Parlament und am Präsidialgericht zu Laon mit Zaubereidelikten in Berührung. Diese Indizien sprechen dafür, daß der Harviller-Prozeß lediglich einer Summe auslösender Momente zugeschlagen werden sollte. 2.3 Problem- und geistesgeschichtliche Einordnung 2.3.1 Geistliche Waffenrüstung Die in theologiegeschichtlicher Perspektive zunächst zurückhaltend anempfohlene91 geistliche Waffenrüstung92 verwandelt sich mit dem Aufkommen des Inquisitionsgerichtsverfahrens im späten Mittelalter zu einem Prinzip der Abschreckung, wenn über Fragen des Glaubens resp. der Magie zu befinden ist. Gleichwohl spielt die Inquisition bei der v. a. von weltlichen Herrschern begünstigten Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit eine untergeordnete Rolle. Nicht so bei Bodin: Wie andere zeitgenössische Dämonologen kritisiert auch er die Laxheit der Richter, die seiner Auffassung nach nicht genügend hartnäckig gegen das Hexenwesen zu Werke gingen. Zurückzuführen ist diese Nachlässigkeit in seinen Augen zum einen auf damals uneinheitliche Prozeßregeln in Frankreich, zum anderen auf den grundsätzlichen Zweifel vieler Richter an der Existenz von Hexen und Zauberei. So berichtet Bodin auch von dem Doktor der Theologie M. Wilhelm von Line, der Hexerei angeklagt und am 12. Dezember 1457 verurteilt, er sei von Satan selbst dazu angewiesen worden, öffentlich zu verkünden, daß die Rede von der Existenz und den Umtrieben von Hexen »Fabelwerck vnd vnmöglich ding seie / vnd deßhalben keyn glauben darauf zusetzen.«93 Die raffinierte Logik dieser Beschuldigung, die als Entlarvung auftreten möchte, schlägt die übliche Agitation des sog. Hexenwahns mit ihren eigenen Waffen und führt darüber hinaus auf die Frage nach dem wahrhaftigen Dienst an Gott.94 Dieses Prinzip der argumentationsstrate»Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; laßt die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen und gebt nicht Raum dem Teufel.« – Siehe: Eph 4,22 – 27. 92 »Zieht an die Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.« – Siehe: Eph 6,11 – 12. 93 Siehe: Jean Bodin: D 8. 94 Dieses motivationale Moment: die Gottgefälligkeit, mag unter den Gegnern von Hexenprozessen insbesondere für praktizierende Christen von entscheidender Bedeutung sein: Als Seelsorger können sie Folterstrafe nicht mit ihrem Glauben (Gewissen, Nächstenliebe) vereinbaren. Doch ein Ausweg ist vorgesehen: Seit dem päpstlichen Erlaß Ad Extirpanda (1252) kann während 91
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gischen Verkehrung findet sich in der Schrift selbst, die von der teuflischen Versuchung Jesu Zeugnis ablegt.95 Die geschilderten Dispute zwischen dem vom Heiligen Geist beseelten Jesus und dem Teufel, dem »Vater der Lüge,«96 betreffen nicht allein die Widerständigkeit angesichts vielgestaltiger Modi sündiger Versuchung, sie ranken sich vielmehr im Kern um die wahre Auslegung der göttlichen Gebote, wobei der Teufel schließlich »für eine Zeit lang«97 unterlegen ist. Freilich reicht die weltliche Macht des Teufels nicht aus, sich vor Gott gegen diesen zu behaupten, wenn darüber hinaus der Herr Jesus immerdar die rechte Auslegung der mosaischen Gebote zu geben vermag. Gottes Wort wiegt schwerer. 2.3.2 Natur der Quinta Essentia – ›moralische‹ Natur der Geister – Rationalismus vs. Fideismus Bodin versucht zwar, sich von Aristoteles’ Naturphilosophie zu emanzipieren; zugleich jedoch beruft er sich wiederholt auf dessen Lehre von den Wirkursachen. Aber gerade Bodins Adaption dieses das damalige scholastische Wissenschaftsgeflecht in besonderer Weise bestimmenden Moments, welches sowohl in die naturhafte als auch in die geistige Sphäre reicht, führt ihn – insbesondere hinsichtlich der naturphilosophischen Tradition – in mancherlei Widersprüche, wenn er beispielsweise mit »Philo de[m] Hebreer« (gemeint ist Philo Judaeus) das lichthafte Wesen von Geistern anspricht, ja wenn er sich sogar der Hypothese bedient, »daß sie [die Geister, H. G.] auß eyner Quinta Essentia seien / gleich wie man von dem Himmel redet.«98 Der tiefere strategische Sinn dieser Verbannung von Geistern in eine außer- oder supranaturale, sprich göttliche Sphäre dient letztlich dem zu Bodins Zeit noch ungefährdeten Residuum des nicht-elementarischen Übergehens der menschlichen Seele in die Ewigkeit ihres zweiten Lebens im Anschluß an den weltlichen Untergang ihrer materiellen Leibhaftigkeit: »Damit man die Absurditet oder vngeschicklichkeyt von Abgang der Geyster verhüte / wann man sagen wolt, daß sie Elementarisch seien / oder auß den Elementen bestanden. Welcher der ey-
des kirchlichen Inquisitionsverfahrens die Peinliche Befragung zur Wahrheitsfindung eingesetzt werden – jedoch unter der Auflage, daß dem Inquirierten keine bleibenden körperlichen Schäden zugefügt werden. 1254 wird unter Papst Alexander IV. den Inquisitoren die Aufsichtsführung bei Folterverhören gestattet. In diesem Zusammenhang ist es legitim, daß Inquisitoren sich gegenseitig die Absolution erteilen. 95 Siehe: Mt 4,1 – 11; Lk 4,1 – 13. 96 »Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er Lügen redet, so spricht er aus dem Eigenen; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge.« – Siehe: Joh 8,44. 97 Siehe: Lk 4,13. – Dieser Nachweis bedeutet eine im Kontext einer theologischen Rechtfertigung des Bösen folgenreiche Besonderheit im Vergleich zum Matthäus-Evangelium. 98 Siehe: Jean Bodin: D 59.
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nig Punct ist / darumm Cicero erhalten hat / die Seelen seien nicht Elementisch / oder auß den Elementen her geschaffen.«99 Das in diesem Zusammenhang aufgeworfene Problem, »ob die Dæmones böß oder gut seien«, entpuppt sich jedoch letztlich als bloßer Schein: »Wiewol die alten darfür gehalten / daß es eyns theyls gute / eyns theyls böse / vnd folgends auch Neutralen, das ist weder eyner / noch der anderen art gantz theylhafftige sonder mittelmäßige habe. [Abs.] Vnd Psellus vnder den Christlichen / Plotinus vnder den Academischen / Iamblicus vnder den Egyptischen Philosophis, setzen jrer dreierley vnderscheyd / und ordenen inn gemeyn alle die Dæmones in sechs örter: Nämlich inn Himmel / inn die hohe gegene des luffts / inn die mittele Region oder gegene / inn die Wasser / auff die Erd / vnd vnder die Erd. [Abs.] Jedoch wollen wir der Resolution der Theologen folgen / als nämlich / daß alle Demonien böß seien.«100 Abseits solcherlei Einsichten betreffs des Wesens und Wirkens innerhalb der chthonischen und lunaren Geisterwelt betont Bodin freilich unermüdlich die Schwäche der Vernunft und die Gottgefälligkeit dieser Grundeinsicht zum Zwecke der Stützung des Fideismus.101 Dieser Ansatz, nämlich ein vorgeblicher Beweis der Grenzen der Vernunft um willen einer Demonstration der Notwendigkeit der Beförderung des Glaubens zwecks Sicherung des Seelenheils, findet sich später auch bei Bayle. Zumindest rät auch Bodin zur Skepsis gegenüber den Erkenntnissen der Alten; vielmehr sollte die Beschränktheit des eigenen Verstandes anerkannt werden.102
99 Siehe: Jean Bodin: D 59. – Siehe zum sterblichen (Leib) und unsterblichen (Seele) Anteil im Mischwesen Mensch (halb Tier, halb Engel) auch: Ibid. 63. – Daß die menschliche Seele permanent widerstreitenden Passionen ausgesetzt ist (und vor diesem Hintergrund somit die Frage nach der prinzipiellen Vorherrschaft des Guten oder Bösen im Menschen letztlich unbeantwortet bleiben muß), beweise zudem die Mittelstellung des Menschen zwischen Engel und Teufel. – Siehe: Ibid. 61. 100 Siehe: Jean Bodin: D 59 f. 101 »Nun aber kan man Gott keyn grössere ehr anthun / dann so man eigene angeborne unwissenheit bekennet / vnd hingegen thut man Gott groß unrecht / wan man die blödigkeyt eygenes verstands nit will erkennen.« – Siehe: Jean Bodin: D 16. – »Vnd so die fürnemsten Schätz der Naturen vns verborgen sein: wie wollen wir dann zu den vbernatürlichen vnd Intelligibilibus gereychen? Da rumb pflegt Heraclitus am ersten (wie Plutarchus schreibt) vnd nach jhm Theophrastus zusagen / das die allerschönsten sachen der Welt verborgen blieben / vonwegen vermessenheyt der Menschen: welche nichts deren sachen glauben wollen / da jhre vernunfft derselbigen vrsachen nicht kan ergreiffen.« – Siehe: Ibid. 22 f. – »Vnd Paulus Grillandus daß er zu seiner zeit zu Rom eine Zauberin mit namen Francisca von Senis / hab verbrennen gesehen / welche vor eim hellen hauffen des Volcks einen Hund hab reden gemacht. Alle diese vnd andere dergleichen fremmde [sic!] händel / welcher Weir gestendig / begeben sich wider die Natur. So muß man nun hie vor Gott das Haupt sincken lassen / vnd die blödigkeit vnsers verstands bekennen […].« – Siehe: Ibid. 776. 102 Siehe: Jean Bodin: D 47.
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2.3.3 Prae- und postchristliche Hypostasierung des Bösen Zu Recht nennt Bodin mit Platon, Plutarch, Porphyrius, Iamblicus und Plotin eine (vor-)christliche Tradition, für die eine mit der in der Heiligen Schrift vergleichbare Unterscheidung von guten und bösen Geistern bereits ausschlaggebend gewesen sei.103 Den Ursprung des metaphysisch hypostasierten Bösen überhaupt erkennt Bodin aber – erneut in Übereinstimmung mit der griechischen Antike – in der Aktivität der Geister selbst, die »sich wider jhren Schöpffer aufflänen wollen«,104 was letztlich dazu geführt habe, aus der anfänglichen Gnade gefallen zu sein. Hier eröffnet sich also die Möglichkeit, von Sünde im christlichen Sinne zu sprechen. Größere Konkretion hinsichtlich der Bestimmung von Herkunft und Erhaltungskraft des Bösen im Menschen lasse sich lt. Bodin erneut ausgehend von der wissenschaftlichen Tradition gewinnen: »Aber S. Augustinus, Thomas von Aquin / vnd vil Jüdische und Latinische Theologi haben darfür gehalten / daß von der vermischung der Geyster mit den Weiberen (welchs sie sagen / inn der Heil. Schrifft im ersten Buch Mosis am 6. Cap. seinen grund haben / vnd von den Zauberern stäts bekant sein) Teuffelische Menschen herkommen […] Gleich wie auch die Hexen / welche jre Kinder / so bald sie geboren werden / dem Teufel beeygenen vnd versprechen / vnd in jrer Eltern scheutzlichen leben fortfahren / gleichsfalls Teufelischer Natur sein.«105 Das elterliche Kindsopfer, wie es bereits die antike Mythologie kennt, wird dementsprechend als Hexentat gewertet (beispielsweise Medea106). 2.3.4 Bodins Anti-Manichäismus Bodin spricht sich hinsichtlich der theologischen Frage nach dem Ursprung des Bösen in gebotener Klarheit gegen die Zweiprinzipienlehre des iranischen Manichäismus (civitas Dei vs civitas Diaboli) aus: »Wann […] / die Geyster / von jhrer anfänglichen Genade / darinnen sie erschaffen geweßt / abgefallen / vnd / inmassen wir halten / vnsterblich seind : Auch daß sie durch dergleichen fortpflantzung / wie die Hebreer fürgeben / sich vermehret haben : Vnd daß Gott den Sathan zum verterben vnd verwüsten blöß gestaltet vnd gemacht habe / damit die auff eynander folgende Generirung zur Verderbung inn diser Elementarischen Welt fortan vollzogen werde. So muß man doch dahin nicht kommen / daß ihm eyn Mensch einbildete / als ob eyne Vngerechtigkeyt inn Gott seie. [Abs.] Gleich wie der Persier Manes, aller Manicheer vrsächer gethan · Welcher damit er / wie er sagt / die 103 104 105 106
Siehe: Jean Bodin: D 46. Siehe: Jean Bodin: D 47. – Bodin beruft sich hier auf Apk, 12. Siehe: Jean Bodin: D 52. Siehe: Jean Bodin: D 52; 705 f.; 735.
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Absurditet […] / als ob das böse von Gott käm / wan er bekente / daß er den Satan von Natur böß geschaffen hette: noch dargegen zuliese / daß Gott den Sathan inn vollkommenheyt geschaffen habe · Dann alsdann / wie er sagt / müßt notwendiglich folgen / daß er nicht sündigen könte / noch inn eyne böse Natur oder verkehrte art schlagen vnd mißrhaten : So hat er zwen gleichmächtige Anfäng und Vrsprüng gesetzt: Den eynen anfang von Gütem / den anderen von Bösem. Welches die größt Ketzerei ist / so je gewesen / vnd deren auch S. Augustin sich zuletzt hat entschlagen / vnd gelehrt / daß das böse alleyn eyn Priuatio der Entäusserung vnd Abgang des guten seie. […] Aber alle die Argument der Manicheer / wann man wol darauff acht gibt / seind mit disem gründlich zuerlegen / das nichts inn diser Welt seie / das nicht gut sei / gleich wie Dionysius im Buch De Diuinis Nominibus, von den göttlichen Namen / anzeyget. Vnd geschicht nichts / das nicht entweder für sich selber / oder durch Relation / das ist durch Gegensatz vnd vergleichung gut sei : Inmassen der Magister der Sententien sehr wol gelehrt hat. Gleich wie auch Gott Kräuter geschaffen hat / die eynem Gifft / dem anderen Artzenei pringen.«107 Heute erstaunt diese dem manichäischen Monismus entgegengesetzte Aufhebungsbewegung sowohl spekulativer als auch weltlicher Gegensätze in einer Einheit höherer Beziehung ob ihrer modern anmutenden Gedankenfigur. Die Grundstruktur des Prinzips der später bei Gottfried Wilhelm Leibniz konzipierten Theodizee faßt bereits Bodin in der Gnome »Gott preßt gutes aus bösem« zusammen.108 Am Ende des ersten Kapitels des ersten Buchs seiner Daemonomania gelangt Bodin sogar zu einer Augustinus entlehnten philosophischen Definition von Geistern (»Beschreibung der Geyster auff Philosophisch«): »Dæmones sunt genere animalia, ingenio rationabilia, animo passiua, corpore aërea, tempore æterna […]«109 – und dies erneut unter reichhaltigster Adaption der gelehrten Tradition (freilich in despektierlicher Absicht110).
Siehe: Jean Bodin: D 52 ff. Der entsprechende Passus des die Fassungskraft der menschlichen Vernunft erneut desavouierenden Haupttextes lautet wie folgt: »Vnd hierinn wird fürnemlich die Gerechtigkeit vnd Weißheyt des vnbegreiflichen Gotes erkent / der sein lob auch auß den abscheulichsten Menschen kan schöpffen vnd pressen / vnd der bösen Menschen Greulichkeyt auff seine Ehr verwenden / seine Raach dardurch zuüben.« – Siehe: Jean Bodin: D 55. 109 Siehe: Jean Bodin: D 58. 110 Siehe: Jean Bodin: D 59 f. 107
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3. Kapitel: Bodins Angriff gegen Weyer 3.1 Zur Person Weyers; Werkgeschichtliches Die Vehemenz der Attacken111 Bodins gegen die Ansicht des »Herrn Doctoris Johannis Weir«112 verdient eine ausführliche Erläuterung. Johannes (Johann) Weyer (Weier, Wier, Wierus, Piscinarius, 1515 – 1588), aus Brabant stammender Leibarzt des Herzogs Wilhelm von Cleve, zählt zu den frühesten deutschen Gegnern der Hexenverfolgung. Weyer ist bis zu seinem Tod u. a. Leibarzt der Gräfin Anna von Bentheim-Tecklenburg (um 1530 – 1580), die selbst in der Heilkräuterkunde erfahren ist. Der vollständige deutsche Titel des für das Thema der Hexenverfolgung einschlägigen Werks von Weyer lautet: Von verzeuberungen, verblendungen, auch sonst viel und mancherley gepler des Teuffels vnnd seines gantzen Heeres: Deßgleichen von versegnungen vnd gifftwercken, fünff bücher zum andern mal widerumb übersehen / gemehrt und gebessert. Erstlich durch den ehrwirdigen / hoch vnd wolgelehrten Herrn D. Johan Wier / deß durchleuchtigsten / hoch vnd wolgebornen Fürsten vnd Herrn / Wilhelm von Gottes gnaden Herzogen zu Cleve vnnd Gülch / etc. Leybartzet / mit grosser müh / arbeit vnd sonderbarem fleiß zusamen getragen / vnd in Latinischer zungen in Truck verfertigt. Nachmols aber / gemeiner Teutscher Nation zu gut durch Johannem Füglinum Basiliensem / nach seinem besten vermögen in Teutsche sprach gebracht vnnd an tag gegeben. Basel 1565. Bodin bezieht sich auf De Lamiis liber (Basel 1577), d. h. Weyers eigens verfaßte Kurzversion des zuvor genannten Werks, auf das ihn sein Verleger erst kurz vor der Drucklegung seiner De Daemonomania magorum hingewiesen und dessen Studium die Publikation seines eigenen Buchs entsprechend verzögert habe.113 »Da bitt ich nunmals zum beschluß jeden guthertzigen Leser / mir zuverziehen / im fall ich villeicht etwas schärpffer im schreiben vnd widerlegen wer gewesen. Dann es einem / der nur mit etwas eiffers vmb die Ehr Gottes entzündet ist / kaum möglich fällt / wann er so vil vnd grosse Gottslästerungen sihet vnd liset / daß er nicht in etwas befugten zorns gegen den Schuldigen vnd Handhabern der Vngerechtigkeit fasse: Wie dann auch dises den allerheiligsten Leuten vnd den Propheten ist widerfahren / wann sie dergleichen greuwel vnd abscheulichkeit gedacht haben. [Abs.] Vnd gewißlich / wann ich nochmals daran gedencke / gehen mir die Haar gen berg […].« – Siehe: Jean Bodin: D 800 f. 112 Siehe: Jean Bodin: D 695 – 801. – Zu Weyer im allgemeinen siehe auch heute noch: Carl Binz: Doctor Johann Weyer ein rheinischer Arzt der erste Bekämpfer des Hexenwahns. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung und der Heilkunde. Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Mit dem Bildnisse Johann Weyers. Heidelberg 1896. – Siehe zudem: BBKL. Bd. XX. Spalten 1537 – 1544. – Siehe des weiteren die Weyerbibliographie des Online-Portals Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, die laufend aktualisiert wird. 113 Der Titel der späteren deutschen Fassung lautet: De Lamiis. Das ist: Von Teuffelsgespenst Zauberern und Gifftbereytern / kurtzer doch gründtlicher Bericht, was für Unterscheidt unter den Hexen und Unholden / und den Gifftbereytern / im straffen zuhalten / darmit beydes die Richter im Urtheil fällen und verdammen nicht zu viel thun / jhr Gewissen beschweren / und das unschuldiges Blut zuvergiessen / verhütet werde. Sampt einem angehängten kleinen Tractätlein von dem falschen und erdichten Fasten. In Teutsche Sprach gebracht durch H. P. Rebenstock. Frankfurt, N. Basse, 1586. 111
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Schon in der Antike heißen Lamien gespensterhaft schöne Frauen, die Kinder und Jünglinge anlocken, ihnen das Blut aussaugen und ihr Fleisch verspeisen; seit dem Mittelalter heißen solche Wesen Hexen. Die zuerst genannte lateinische Fassung De Lamiis findet nach Weyers Tod Eingang in die erste und einzige Gesamtausgabe seiner Schriften.114 In ihr trägt der Amsterdamer Humanist und Buchdrucker Petrus Montanus (Petrus van den Berg, 1594/95 – 1638) Weyers Werke fast ein Jahrhundert nach ihrem ersten Erscheinen zusammen. Montanus ergänzt die Texte durch Vorworte, eine Biographie Weyers und einen Aufsatz über die Werke des Autors aus der Feder des Universalgelehrten Martinus Schoock (1614 – 1669). Zudem hat Montanus Indices hinzugefügt. Die Ausgabe enthält De Praestigiis Daemonum nach der lateinischen 6. Auflage des Jahres 1583,115 Liber apologeticus, Pseudomonarchia daemonum, De Lamiis (mit eigenem Titelblatt), De irae morbo (mit eigenem Titelblatt) sowie die Observationes medicae rariores (mit eigenem Titelblatt). Die Holzschnitte zeigen medizinische Apparaturen und Destillationsgeräte. 3.2 Conditio melancholiae Weyer rechnet als Hexen angeklagte Frauen kurzerhand zu den Melancholikerinnen:116 »[…] es plag sie allein eine Melancholische Sucht / die sie so vnrichtig macht.« Derartige Delinquentinnen seien unzurechnungsfähig, schuldunfähig –
Siehe: [Johannes Weyer:] Opera omnia. Quorum contenta versa pagina exhibet. Editio nova & hactenus desiderata. Accedunt indices rerum & verborum copiosissimi. Amsterdam 1660. – Diese Gesamtausgabe könnte Spinoza vorgelegen haben. – Siehe: Baruch de Spinoza: B 53. Von Hugo Boxel. O.O., am 21. September 1674. – In: Baruch de Spinoza: Briefwechsel. Übersetzung und Anmerkungen von Carl Gebhardt. Dritte Auflage. Herausgegeben, mit Einleitung, Anhang und erweiterter Bibliographie von Manfred Walther. – In: ders: Sämtliche Werke in sieben Bänden und einem Ergänzungsband. In Verbindung mit Otto Baensch und Arthur Buchenau herausgegeben und mit Einleitungen, Anmerkungen und Registern versehen von Carl Gebhardt. Hamburg 1986. (Sigle: B + Nr. des Briefes) 115 Bodin bezieht sich offensichtlich auf eine frühere Ausgabe, die Erstausgabe erscheint 1563 in Basel bei Joh. Oporin. 116 Siehe: Jean Bodin: D 717. – Siehe ebenso: Ibid. 734; 741. – Weyer stützt seine Ansicht auf das römische Recht (»mos italicus«), genauer die justinianischen Digesten. – Siehe: H. C. Erik Midelfort: Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht. – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. Wiesbaden 1992. 53 – 64; hier 60. (Wolfenbütteler Forschungen. Herausgegeben von der Herzog August Bibliothek. Band 55) – Um 1970 kann von einer neuen Phase der Hexenforschung gesprochen werden, die sich auch in Deutschland durch die Forschungen des US-Amerikaners Midelfort bemerkbar macht. 1972 erscheint sein Werk Witch Hunting in Southwestern Germany 1562 – 1684. Midelfort bietet erstmals eine territorial übergreifende, sozialgeschichtliche Untersuchung auf quantifizierender Grundlage. – Di Nola scheint Weyers Ausweg, den er durch seine Melancholie-These ermöglicht sieht, nicht bemerkt zu haben: »Es ist kein Zufall, daß in der christlichen Dämonologie der Teufel sich in der Trägheit 114
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und folglich vor Gericht auch nicht verurteilbar. Möglich wird eine solche Auffassung erst auf Grundlage der im zweiten Buch der Daemonomania konstatierten Zuschreibung der – freilich problematischen, weil von Gott selbst ›verhängten‹ – menschlichen Willensfreiheit: »So dann nun die Engel gut seind / vnd die Teuffel böß / so haben auch die Menschen eynen freien willen gut oder böß zusein. Innmassen Gott inn seinem Gesatz sagt. […] [Abs.] Vnd darmit erscheine / das nach dem fall Adams / der Mensch den freien Willen nicht verloren habe […].«117 Daß Bodin satanische Besessenheit einem eigenen Verantwortungsbereich zuschreibt, dokumentiert unmißverständlich seine bereits angeführte Hexen-Definition;118 später präzisiert und beteuert er diese Ansicht sogar: »[…]: sintetemal [sic] alle Zauberer hierinnen zustimmen / daß keiner vom Sathan gezwungen werd / Gott zu verlaugnen / oder dem Teuffel sich zuergeben : sondern erfordert von allen einen gantz auffrechten vngezwungenen freyen Willen von seinen Vnderthanen / vnd kompt mit jnen durch freye Contract vnd Conventionen vberein. Also daß der Stoicorum fatalische Notwendigkeit nicht kan statt haben […].«119 Die in Weyers Melancholie-These beschlossene Möglichkeit, daß tatsächlich unter der ›Schwermut‹ leidende Hexenbeschuldigte, will sagen DelinquentInnen, denen die ›Saturnische Krankheit‹ nicht als Folge des teuflischen Paktes bescheinigt würde, im Vorfeld einer ›Aspiration‹ von Besessenheit als hilfsbedürftig angesehen werden müssen, zieht Bodin erst gar nicht in Betracht. Für Bodin jedenfalls gehört unzweifelhaft Weyer selbst zu dem engeren Kreis der dringend Verdächtigen,120 sei er doch ein Schüler des Okkultisten Agrippa von Nettesheim121 und streite selbst »so hefftig für die Zauberer vnd Vnholden […]. Also daß er auch die Obrigkeyten greuliche Hencker vnd Menschen metziger schilt.«122
und in der Melancholie verkörpert, im Leiden des Selbst, das sich der Vitalität verweigert.« – Siehe: Alfonso di Nola: Der Teufel. Wesen Wirkung Geschichte. A.a.O. 21. 117 Siehe: Jean Bodin: D 65. 118 Siehe: Jean Bodin: D 44. 119 Siehe: Jean Bodin: D 753. – Siehe ebenso: Ibid. 777. 120 Mögliche Referenz: Lk 11,15. 121 »Demnach ist auch diß wol zumercken / das Wier bekent er seie des Agrippæ Schuler gewesen: So doch derselbig der aller größte Zauberer war / der zu seiner zeit gelebt : Ja nicht allein sein Schuler: Sonder auch sein Knecht und Diener : Der mit jhme täglich gessen / getruncken / vnd geschlaffen / nach dem er sein Weib / wie er selbs bekannt : von sich gestossen gehabt.« – Siehe: Jean Bodin: D 700; siehe auch 736. – Später hält Bodin Weyer sogar für einen noch gefährlicheren Zauberer als seinen Lehrmeister Agrippa. – Siehe: Jean Bodin: D 758. 122 Siehe: Jean Bodin: D 701; ebenso 797.
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3.3 Zauberinnen sollen keinen Tag leben »Wenn ein Mann oder eine Frau Geister beschwören oder Zeichen deuten kann, so sollen sie des Todes sterben; man soll sie steinigen; ihre Blutschuld komme über sie.«123 Bodin beruft sich – freilich ohne es für nötig zu befinden, einen Nachweis aus der Schrift anzuführen – auf Philo von Alexandrien und Flavius Josephus: »Dem Gesatz Gottes seind die Zäuberer / Vergiffter vnd Zäuberin ein greuel (die Wort MagoR kaR farmakewtaR brauchend) welche durch verdammliche böse Mittel vnd Künstlein allerley arges anstifften / welche man gleich deß tags / wann sie gefangen worden / vom Leben sol zum Tod richten.«124 Des weiteren unterscheide Philo »zwischen der Natürlichen Magy / welche er Physicisch nennet / vnnd deren sich die Beschwerer / Teuffelsaußtreiber / Schwartzkünstler / vnnd sonst Zaubergesindt mißbrauchet / vnd offtmals durch jhr beschweren vnd besegenen zwischen Freunden eine vnversöhnliche tödtliche Feindschafft erwecken / oder sonst vngläubliche Schelmereyen vnnd Laster begehen.«125 Weyers, so Bodin, exegetisch gewonnene Differenz von »Zäuberer« und »Vergiffter« samt dessen Forderung nach Verschonung ersterer vor dem göttlichen Strafgesetz, »welches verbietet, / die Zauberer auch nicht einen tag leben zu lassen,«126 sei nicht haltbar; und dieses sei nicht das einzige Mißverständnis, dem Weyer erliege. Midelfort weiß Weyer zumindest partiell zu rehabilitieren: »Weyer meinte, daß die Bibel, richtig verstanden, alle Argumente und jede Unterstützung für die Hexenjagd zerstöre. Mit philologischen Kenntnissen, die für seine Zeit bemerkenswert waren, führte Weyer die griechischen und hebräischen Wörter für Zauberei, Hexerei und Magie vor, wie sie in der Bibel gebraucht wurden und stellte fest, daß die Bibel gar nichts vom Teufelspakt gewußt hat und, m. E. fraglich, daß der Hexenbegriff der Antike radikal anders war als der des 16. Jahrhunderts.«127 Überdies sieht Bodin seine Kritik in Diensten der Protektion einer bemerkenswerten ›Geschlechterdifferenz‹, für deren theologische Validität er allerdings nicht Siehe: Lev 20,27. Siehe: Jean Bodin: D 708. – Wie folgt sieht sich Bodin in seiner Ansicht zur Zauberei bestätigt: »Auch schreibt selber Plutarchus in Apophtegmatis / daß die Perser pflegen die Zäuberin mit der aller grewlichsten straff zu peinigen / nemlich jhnen den Kopff zwischen zween steinen zu zerknitschen.« – Siehe: Jean Bodin: D 757. 125 Siehe: Jean Bodin: D 708 f. 126 Siehe: Jean Bodin: D 709. – Bodin spielt hier insbesondere an auf Ex 22,17. – Die dortige Rede von »Zauberinnen« erläutert Bodin wie folgt: »[…] das Gesatz Gottes hat darmit wollen zuverstehen geben / daß die Manns personen mehrtheils weniger mit dieser Sucht behafft seyen / vnd daß an statt eines Manns fünfftzig Weiber darmit beschleppt zufinden. Gleich wie das Hebraisch Sprichwort lautet / Je mehr Weiber / je mehr Hechssen.« – Siehe: Jean Bodin: D 714. – Siehe zudem: Lev 19,26; Dtn 18,10; I Sam 15,23; II Chr 33,6; Mi 5,11; Mal 3,5. – Bodin selbst listet biblische Referenzstellen auf, welche die Unverträglichkeit von Zauberern und Gott bzw. Menschen bezeugten. – Siehe: Jean Bodin: D 723 – 726. 127 Siehe: H. C. Erik Midelfort: Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht. – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. A.a.O. 53 – 64; hier 59. 123 124
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selbst verantwortlich zeichnet, sondern die namentlich auf Heinrich Kramers (1430 – 1505; latinisiert Institoris, Dominikanerprior und Inquisitor aus Schlettstadt) Malleus maleficarum (Köln 1487) zurückgeht. Das Buch erlebt bis 1669 nicht weniger als neunundzwanzig Auflagen und zählt damit zu den meistgedruckten Schriften der Frühzeit des Buchdrucks.128 Die Co-Autorschaft des Inquisitors Jakob Sprenger (1436 – 1495; Prior des Kölner Dominikanerkonvents und Professor der Universität zu Köln) wird mittlerweile in der neueren Forschung relativ einträchtig bestritten, nur allzu augenfällig ist beispielsweise Institoris’ Taktik, sein Werk mit dem Anschein größerer Dignität auszustatten. So mißbraucht er den makellosen Leumund Sprengers. Der Hexenhammer beinhaltet die von Institoris eigens verfaßte und sodann von Papst Innozenz VIII. am 5. Dezember 1484 erlassene Bulle Bulla Apostolica adversus haeresim maleficarum (Summis desiderantes affectibus) – kurz das autoritative Papstwort zur Hexenjagd. Damit bestätigt Innozenz VIII. als einziger Papst überhaupt – in einem innerkirchlich vergleichsweise unbedeutenden Dokument – die Existenz der Hexerei.129 Im Anschluß an die frühmittelalterliche Ketzerverfolgung nimmt Institoris’ Werk mit den Hexen eine neue Gruppe ins Visier; insofern ist der Werktitel in bewußter Absetzung zum Malleus haereticorum (ca. 400 n. Chr.) des Heiligen Hieronymus oder des Malleus iudaeorum (1420) des Inquisitors Johann von Frankfurt gewählt.130 Daß der Hexenhammer recht eigentlich Frauen projektiert, erhellt bereits der Titel: nicht maleficorum, sondern maleficarum. Möglicherweise muß dieses: daß hier erstmals die traditionellen Zauber- und Hexenvorstellungen konsequent auf das weibliche Geschlecht bezogen werden, als fatalster Aspekt des Werks gewertet werden. Wie gesehen affirmiert Bodin diese Spezifikation vorbehaltlos – und trägt damit fraglos zu der dramatischen Eskalation der Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit bei.131 Jedoch stellt Bodins Wertschätzung lediglich eine Konsequenz aus Siehe: Joseph Hansen: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter und die Entstehung der großen Hexenverfolgung. München 1900. 473. (Nachdruck Aalen 1983) 129 Siehe: Jakob Sprenger/Heinrich Institoris: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). A.a.O. XXXII–XLI. 130 Siehe zum Hexenhammer: Peter Segl (Hg.): Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficarum von 1487. Weimar 1988. (Bayreuther Historische Kolloquien. Band 2) – Als Quellensammlung zur Historiographie des Hexenwesens nach wie vor unverzichtbar: Joseph Hansen (Hg.): Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter. Mit einer Untersuchung der Geschichte des Wortes Hexe von Johannes Frank. Bonn 1901. Zur Hexen-Bulle siehe: 24 – 27 Nr. 36. (Faksimile-Neudruck: Hildesheim 2003.) – Siehe auch: Heinrich Kramer (Institoris): Der Hexenhammer. Malleus Maleficarum. Neu aus dem Lateinischen übertragen von Wolfgang Behringer, Günter Jerouschek und Werner Tschacher. Herausgegeben von Günter Jerouschek und Wolfgang Behringer. Mit einer Einleitung von Wolfgang Behringer und Günter Jerouschek. München 2000. 101 – 107; zudem: Wolfgang Behringer (Hg.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland. 4. Aufl. München 2000. 88 – 91. 131 »Auch die calvinistischen und lutheranischen Theoretiker beriefen sich auf die Autorität der beiden überspannten Dominikaner. Und mehr oder weniger exakt in der vom Hexenhammer entwickelten Gestalt wurde das Muster durch Inquisition, weltliche Gerichtsbarkeit und Spezialliteratur über ganz Europa verbreitet; in dieser stereotypen Form zerfaserte und überdeckte es die 128
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seiner eigenen Ansicht zum Thema dar; so orientiert sich seine Daemonomania beispielsweise in Aufbau und Gliederung am Malleus maleficarum. Die Hartnäckigkeit der seit dem Malleus maleficarum etablierten Interdependenz von Femininum und Teufelspakt kommt v. a. in den Argumenten gegen die Verfechter der Melancholie-These zum Vorschein: »Der Behauptung der Gegner der Hexenverfolgung, daß es sich bei der Hexerei nur um Einbildungen und Phantasien der Frauen handele, wurde entgegengehalten, daß doch nicht alle Frauen melancholisch oder sonst geistig verwirrt sein könnten.«132 Daß aber sicherlich nicht jede Frau per se von Vorstellungen oder Eindrücken besetzt sei, die sie aus Sicht der Protektoren von Hexenverfolgungen der Apostasie schuldig mache, wird erst gar nicht in Erwägung gezogen. Bedingung der verhängnisvollen Möglichkeit, in den inquisitorischen Hexen-Fokus zu geraten, ist nach Institoris das – durch die Jahrhunderte nachweislich jedoch nicht zum Maßstab erhobene – christliche Sakrament der Taufe. Zwar existieren keine heidnischen Hexen – doch es gibt ein Recht auf Folter, so die unselige Argumentation. Der Frauenanteil an den Opfern der neuzeitlichen Hexenverfolgungen beträgt nach heutigen Schätzungen gut 80 %. 3.4 Medicina diabola Zwar ist »Die Widerlegung«, sprich besagtes fünftes Buch der Daemonomania, von tradierten frauenfeindlichen Urteilen und Wertungen durchsetzt,133 wie sie die Geistlichkeit bereits seit Jahrhunderten verbreitet (und Bodin wirft Weyer mehrlokal unterschiedlichen heidnischen Relikte der Volkstradition.« – Siehe: Claudia Honegger (Hg.): Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters. A.a.O. 76. 132 Siehe: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht: Motive und Argumente von Gegnern der Hexenverfolgung von Weyer bis Spee. – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des HexenProcesses. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. A.a.O. 1 – 14; hier 11. 133 Siehe: Jean Bodin: D 714 – 717. – Zum Frauenbild der mittelalterlichen Kirche und Theologie, in der Geschichtsschreibung, der Literatur, zur rechtlichen Stellung der Frau im Mittelalter und realen Situation (d. h. auf dem Land, in Städten, in Versorgungsanstalten wie z. B. Klöstern, als fahrende Frauen oder Dirnen, [berufsmäßige] Hebammen, weise Frauen, [»studierte«] Ärztinnen) siehe: Gabriele Becker/Helmut Brackert/Sigrid Brauner/Angelika Tümmler: Zum kulturellen Bild und zur realen Situation der Frau im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. – In: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. A.a.O. 11 – 128. – Eine bevölkerungspolitische Begründung (Stichwort: Menschenproduktion, d. h. das Faktum der Kinderscharen des 18. und 19. Jahrhunderts, deren Aufkommen sich der postmediävistischen Eindämmung des Empfängnisverhütungswissens verdankt) für die Erklärung des Phänomens der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen lautet: »Im Gefolge der gegen Ende des 15. Jahrhunderts auf ganz Europa sich ausweitenden Menschenproduktion durch Hexenverfolgung entsteht nun auch eine Wissenschaft von der Bevölkerung, die sich in ihrer ersten – merkantilistischen – Pionierphase noch ganz mit dem Kalkül der klerikalen und weltlichen Herrscher, daß mehr Menschen auch mehr
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fach vor, er unterschlage die theologisch bedeutsame Differenz von Zauberinnen und Zauberern134) – doch versteht Bodin des Teufels erfolgreiche Verführungskünste135 des in seiner Zeit theologisch massiv desavouierten136 weiblichen Geschlechts, ja überhaupt den Einfluß Satans auf »Schlangen / Mücken / Fliegen vnd andere Thier / welche das Ge[s]atz Gottes Vnrein nennet«,137 als göttliche List, die satanische Machtfülle zu limitieren. Bodin folgert: »Derowegen so bleibt nochmals die Reichtum erbringen, identifiziert. […] Über Kinderwelten bzw. Kindheiten wird ja erst geforscht, seitdem über eine von Beginn an brutale Gestaltung der neuzeitlichen Nachwuchsaufzucht endlich offen gesprochen werden darf: Nach der durch Hexenverfolgung ausgerotteten und schärfste Gesetze dauerhaft kriminalisierten Geburtenkontrolle müssen verwahrloste Kinderscharen nämlich als unhinterfragbarer Segen Gottes hingenommen werden, und alle Überlegungen, solchem Segen entgegenzutreten, sind mit Strafen bedroht.« – Siehe: Gunnar Heinsohn/Otto Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen. Beiträge zur Theorie und Geschichte von Bevölkerung und Kindheit. A.a.O. 16 ff. – Siehe auch: Bruno Gloger/Walter Zöllner: Teufelsglaube und Hexenwahn. Wien/ Köln/Graz 1984. – Bereits in der altrömischen Schriftensammlung Die Apostolischen Väter, welche die wachsende Autorität der Geistlichkeit einheitlich betont und die Befolgung detaillierter praktischer Sittengesetze vorschreibt, findet sich u. a. ein christliches Handbuch eines unbekannt gebliebenen Verfassers mit dem Titel Didache, das die Elementarlehre Jesu paraphrasiert. »Die Didache übernimmt und erweitert einige der Zehn Gebote, indem sie etwa erklärt: ›Das zweite Gebot der Lehre aber [ist]: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen‹ und spezifiziert, daß dies in der Praxis bedeute: ›du sollst nicht Knaben schänden, du sollst nicht huren, du sollst nicht stehlen, […] du sollst nicht dein Kind durch Abtreibung morden, und du sollst das Geborene nicht töten‹.« – Siehe: Didache 2.2. – In: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker. Mit Übersetzungen von Martin Dibelius und Dieter-Alex Koch. Neu übersetzt und herausgegeben von Andreas Lindemann und Henning Paulsen. Tübingen 1992. – Zit. nach: Elaine Pagels: Satans Ursprung. Aus dem Amerikanischen von Jens Hagestedt. Titel der 1995 bei Random House, New York und Toronto, erschienenen Originalausgabe: The Origin of Satan. Frankfurt a. M. 1998. 217. 134 Siehe z. B.: Jean Bodin: D 731. – Daß eine solche Perspektive auf das Ganze der Gesellschaft bei näherem Zusehen sowohl Gegnern als auch Befürwortern der Hexenprozesse Vorschub leistet, gefährdet keineswegs das Postulat der Verfolgung: Der gezielten Verfolgung von Frauen widersprechen die Prozeßgegner mit dem angeblich gefährlichen Unwesen männlicher Zauberer. – Siehe: Johann Weyer: De praestigiis daemonum. Von Teuffelsgespenst Zauberern vnd Gifftbereytern / Schwartzkünstlern / Hexen vnd Unholden / darzu jrer Straff / auch von den Bezauberten / vnd wie ihnen zuhelffen sey. Übersetzt von Johann Fuglinus. Frankfurt 1586. »Vorrede«. 12. (Neudruck Darmstadt 1968) 135 Mit der durch das Prinzip Weib verkörperten Verführung, die besonders dem christlichen Mittelalter ein schwerwiegendes Vergehen bedeutet, ist die zentrale moralische Verhaltensgestalt bezeichnet, von der ausgehend das Phänomen der europäischen Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit interpretiert werden kann. Diese Verbindung von Weib und Verführung erklärt sich letztlich aus dem Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern, d. h. aus einer Fokussierung kirchlicher Gemeinschaft auf einen reinen Männerbund, welchen die bischöfliche Gemeinschaft der römisch-katholischen Kirche bis heute ausmacht. 136 Beispielsweise findet sich im Hexenhammer eine pseudo-etymologische Ableitung von femina: fe (Abk. f. fides) + minus = femina: die weniger Glauben hat, leichter vom Glauben abfällt. – Siehe: Jakob Sprenger/Heinrich Institoris: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). A.a.O. I. 99 f. 137 Siehe: Jean Bodin: D 717.
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erkantnuß Gottes / von schleuniger hinrichtung der Hechssen gäntzlich bey kräfften […].«138 Zudem gebe Weyer widersprüchliche139 Auskünfte (»flattert herumb«140) hinsichtlich der grundsätzlichen Frage, ob überhaupt jemals ein Teufelspakt geschlossen worden sei. Mit dem Vorwurf, den wissenschaftlichen Stand der Melancholie-Forschung (Bodin nennt Plinius!) nicht zur Kenntnis genommen zu haben – und überhaupt »alle Historien in zweiffel ziehen[d]«141 –, vermag Bodin sogar sowohl Weyers Religiosität142 als auch dessen spiritualistische Weltsicht als widersprüchlich, ja letztlich vorgeschoben in Zweifel zu ziehen.143 Aber Bodin argumentiert auch faktisch, d. h. naturwissenschaftlich-medizinisch, und möchte in dieser Weise Weyer als Arzt begegnen: Der Vier-Säfte-Lehre widerspreche es, »daß die Feuchtigkeiten vnd Humores der Weiber«144 zu einer melancholischen Grundstimmung führen könnten: »In massen die Artzneygelehrten hierinn vberein stimmen.«145 Siehe: Jean Bodin: D 717. – Im Blick auf gewaltsam erpreßte Geständnisse gibt es für Bodin bei Frauen und Männern aber fundamentale Unterschiede: »Seitemal bey jhnen mehrtheils ein vnerhatlsame [sic] Widerspenstigkeit vnd Halßstarrigkeit gespürt wirdt / vnnd daß sie in außstehung der Folter offt standhaffter dann die Männer seyn.« – Siehe: Jean Bodin: D 715. 139 Wenn Bodin sich nicht (wie meistens) auf die theologisch-philosophische Tradition zwecks Versicherung seiner eigenen Behauptungen bezieht, dann verfolgt er gegen Weyer die Strategie intrinsischer Widerlegung: »Aber es begnügt mich / daß ich den Weier durch sein eigene Bücher vnd fürbringen kan vberweisen.« – Siehe: Jean Bodin: D 743. 140 Siehe: Jean Bodin: D 717. 141 Siehe: Jean Bodin: D 767. 142 Nach Lage der Quellen kann zu Weyers Religiosität keine Aussage getroffen werden; auch sein Bekenntnis ist nicht dokumentiert; gleichwohl gibt es einige Anhaltspunkte, ihn als (allerdings innerlich) frommen erasmisch gesinnten Lutheraner zu verstehen. – Siehe: H. C. Erik Midelfort: Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht. – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. A.a.O. 57 – 60. 143 »Alle die / so vor der zeit sagten / es gieng durch Melancholey zu / die gläubten nicht / daß Geister / oder Engel / oder auch ein Gott were: Aber Doctor Weyer bekennt / es sey ein Gott (gleich wie es die Teuffel auch bekennen / vnnd vnter seiner Macht erzittern / in massen die heilige Schrifft bezeugt) bekennet auch durch all sein Schriften / es seyen beydes gute vnd böse Geister / welche mit den Menschen zuhalten / vnnd bißweilen mit jnen Vergleichungen auffrichten vnnd geheime Gemeinschafft haben. Warumb darff er dann das Gabel / Bäsen oder Bockfahren der Hexen vnd Zauberer / deßgleichen jhre Verhexungen vnd Verzauberungen / vnd sonst vngeheure frembde Händel / der Melancholey zuschreiben: Ja noch darzu vngläublicher weiß die Weiber vberauß Melancholisch machen? So doch die Alten dises für ein Wunder wargenommen vnd in Verzeichnussen hinderlassen / daß nie kein Weib von Melancholey oder Vnmuth / vnd nie kein Mann vor Freuden gestorben sey: Sondern im widerspil / vil Weiber vor vnmässiger Freud offt sterben.« – Siehe: Jean Bodin: D 718. 144 Siehe: Jean Bodin: D 718. 145 Siehe: Jean Bodin: D 719. – »Der dämonologische Streit um Johann Weyers De praestigiis daemonum hatte zur Folge, daß deutsche Juristen sich seit dem späten 16. Jahrhundert gezwungen fühlten, immer häufiger Ärzte zu den Prozessen zuzulassen, um herauszubekommen, ob ein Angeklagter bei Sinnen […] oder […] derart melancholisch war, daß man ihn gar nicht oder nur in gemilderter Form bestrafen durfte. […] Das hatte zur Folge, daß sich die Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts über die Leichtigkeit beklagten, mit der man in Prozessen eine falsche, betrügerische 138
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Für Bodin entspricht Weyers juridisch-medizinisch unterbaute Unzurechnungsfähigkeitsthese denn auch einer verschärften Variante satanischer Besessenheit: »[…] er vermeynt den Zauberern die straff vom Halß zubringen: fürgebend / der Teuffel verführe die Hechssen / vnd bild jhnen eyn / sie thun vnnd schaffen diß vnd jens / welches er selber thut.«146 Hier zeigt sich, daß beide, sowohl Bodin als auch Weyer, zunächst einmal von dem Phänomen satanischer Inbesitznahme ausgehen147 – nur werden jeweils unterschiedliche Schlußfolgerungen gezogen.148 Auch wenn Bodin genau weiß, »daß die Obrigkeit vber die Teuffel keine Iurisdiction hat / sie zuhämmen / oder den Stab vber sie zubrechen«149, vermöge Weyer nicht zu unterscheiden zwischen Zauberern bzw. Hexen und sonstigen Kriminellen. Bodin befürchtet also, daß – folge man Weyer – diese sich dem Zugriff von Recht und Gesetz entziehen können.150 Letztlich glaubt Bodin in Weyer keinen Melancholiediagnose bekommen konnte. Das ist ein […] interessanter und noch nicht untersuchter Aspekt.« – Siehe: H. C. Erik Midelfort: Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht. – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. A.a.O. 63 f. 146 Siehe: Jean Bodin: D 722. – »[…] es gehe mit jhnen nur eynbildungsweiß zu […].« – Siehe: Ibid. 728 f. 147 Daß Weyer in De praestigiis daemonum »nichts weniger als die Realität der Hexerei selbst zur Diskussion« stellt, behauptet dagegen: Stuart Clark: Glaube und Skepsis in der deutschen Hexenliteratur von Johann Weyer bis Friedrich von Spee. (Übersetzung des englischen Originals durch Hartmut Lehmann und Otto Ulbricht.) – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. A.a.O. 15 – 33; hier 21. 148 »Kein Dämonologe oder Hexenjäger durfte zugeben, daß die Hexen von Sinnen waren, oder, daß sie von Mächten getrieben wurden, die sie gar nicht kontrollieren konnten. Deshalb war es ganz selten, daß eine Hexe als Teufelsbesessene betrachtet wurde. Dieser Punkt war so grundlegend, daß der Rechtsgelehrte Jean Bodin verzweifelt versucht hat, zu beweisen, daß Frauen nicht an Melancholie leiden können, eine Stellungnahme, die im 16. Jahrhundert keinen medizinischen Sinn machte, die aber zeigt was für einen empfindlichen und heiklen Punkt dieser Weyersche Verteidigungsversuch getroffen hatte.« – Siehe: H. C. Erik Midelfort: Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht. – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. A.a.O. 61. – Freilich wird hierdurch die Möglichkeit eines tatsächlichen Verbrechens nicht ausgeschlossen. 149 Siehe: Jean Bodin: D 722. – Für Bodin weitet sich diese Problematik später zu einer Gefahr sowohl für das sakrale als auch für das weltliche Recht aus: »Kurtz davon zureden / wann die Sophisterey deß Weirs / vnd seiner schöner Doctorn / auß denen er diese Argument gezogen / gelten solte / würden die Räuber vnnd Mörder allzeit eine außflucht haben / vnd die Teuffel zu vertrettern suchen / vber welche die Richter weder Iurisdiction noch Gerechtigkeit der hämmung haben. Also mit der weiß / müßt man alle / beyde Göttliche vnnd Menschliche Gesatz / so von straffung der Laster geordnet / auffheben / vernichtigen vnnd cancellieren.« – Siehe: Jean Bodin: D 752. 150 Und Bodin geht sogar noch einen Schritt weiter: »Das […] Argument […] die Vnholden seien vnstraffwürdig / ist diß / weil der Sathan jres dienstes mißbraucht: Welchs nicht allein voller Sophisterey / sonder eusserster Gott losigkeit steckt. Angesehen daß im fall diß Argument platz solt finden / die größten bubenstück vnd viel Gottloses wäsens vngestrafft würden durchgehen.« – Siehe: Jean Bodin: D 751 f.
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Verstandes-Denker, sondern nichts weiter als einen Dialektiker entlarvt zu haben – und das bedeutet in seinem Verständnis: einen Wort- und Rechtsverdreher,151 wobei ihm Weyers Zauberinnen-Definition152 aus De Praestigiis Daemonum und De Lamiis als Beweis dient. Wenn demnach Zauberinnen mit bösen Geistern im Bündnis stehen, werden sie zu Handlungen verleitet, die ursprünglich nicht in ihrer Absicht gelegen haben. Außerdem, so Bodin, gebe Weyer andernorts in De Lamiis und De Praestigiis Daemonum mit der Bezeichnung Magum infamem eine im Vergleich mit vormals getroffenen Erklärungen widersprüchliche Zauberer-Definition.153 3.5 Influxus physicus Im Zusammenhang mit Institoris’ Malleus maleficarum, dem Bodin entnommen haben will, daß eine »vnzahl Vnholden […] mit gegebener Handtreuw sich mit dem Sathan verknüpfft haben«,154 begegnet auch das der Scholastik noch unproblematische Influxus-physicus-Philosophem, d. h. die Frage nach dem commercium substantiarum. In Bodins Version entgegnet Weyer hierauf, es sei unmöglich, dem Satan die Hand zu reichen, da Geister fleischlose Wesen seien: »Dæmones non carnea, sed spirituali concretione constare.«155 In diesem Zusammenhang führt Bodin gegen Weyers Verwendung des Begriffs der »Concretion« Ciceros Tusculanae disputationes (47 v. Chr., unter dem Militärdiktator C. Iulius Caesar) ins Feld, woraus bereits hervorgehe, eine »Concretion« sei »gantz vnd gar der Natur der Geister zu wider. Nihil est […] in animis concretum, nihil mistum«;156 so auch in Aristoteles’ De Anima.157 Zudem wirft Bodin Weyer vor, er leugne die »Vermischung der Zauberer mit den vnreinen Geistern: von welcher doch bey den Alten vnd allen
Siehe: Jean Bodin: D 727. »Lamia est, quæ ob fœdus præstigiosum aut imaginarium, cum Dæmone initum, propria ex suo delectu, vel maligno Dæmonis instinctu impulsúve [sic], illiusque ope qualiacunque mala, vel cogitatione, vel imprecatione, vel re ludicra, atque ad institutum opus inepta, designare putatur.« – Siehe: Johann Weyer: De Praestigiis Daemonum. A.a.O. Lib. 7, cap. 1. – Sowie: ders: De Lamiis. A.a.O. Cap. 5. 153 Siehe: Jean Bodin: D 723. 154 Siehe: Jean Bodin: D 729; siehe bes. 749. – Das Problem kommt nochmals auf im Kontext mit Bodins Erörterung des strittigen Punkts, ob sich Menschen (»da die vernunfft noch bey kräfften bleib«) tatsächlich in Wölfe verwandeln können – »oder ob es ein Geplerr vnd augenverblendung der jenigen sey / die es sehen / da doch der Leib vnnd die Seel in jhrem wesen vnverruckt bleiben.« – Siehe: Ibid. 767. 155 Siehe: Jean Bodin: D 729. 156 Siehe: Jean Bodin: D 729. 157 Ein verständiges Aristoteles-Studium, ja einen lichtvollen Umgang mit der philosophischen Tradition insgesamt spricht Bodin Weyer ebenso ab wie eine verläßliche Vertrautheit mit der Mathematik. – Siehe bes.: Jean Bodin: D 775 bzw. 777 ff. 151
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Völckern nie kein zweiffel gewesen / vnd solche auch die Theologi bestätigt haben […].«158 Problemgeschichtlich bezeichnend ist, daß noch Christian Thomasius in seiner Untersuchung De Crimine Magiae, Kurtze Lehrsätze von dem Laster der Zauberey (lat. editio princeps 1701; ins Deutsche übersetzt von Johann Reichen, Halle 1704) Bodins Argument aufgreift: Dort heißt es, daß »zwar ein Teufel ausser dem Menschen sey, und daß derselbe gleichsam voii [sic!] aussen, jedoch auf eine innerliche und unsichtbare Weise in den Gottlösen sein Werck treibe; ich leugne aber hinwiederum, daß Hexen und Zauberer gewisse Verträge mit dem Satan aufrichten selten […].« Denn Thomasius begreift den Teufel als »ein geistliches oder unsichtbares Wesen […], welches auff eine geistliche oder unsichtbare Weise vermittelst der Lufft oder auch wässeriger und erdener Cörperchen in den gottlosen Menschen seine Wirkung hat.«159 Thomasius sieht somit ein Herzstück des Hexenwesens: den Teufelspakt, außer Kraft gesetzt: Als körperloser Geist könne der Teufel weder leibliche Gestalt annehmen noch körperliche Verbindungen (z. B. Bündnisse) mit Hexen eingehen. 3.6 Divina distinctio: Vergebung der Sünde vs. Strafe auf Grund von Sünde Grundsätzlich sind beide: sowohl Bodin als auch Weyer, überzeugt von der zweifelsfreien Existenz von Hexen samt deren Umtrieben (und sei es auch nur hinsichtlich deren ›liturgischer‹ Praxis: »dem Hersagen von Zauberformeln und Beschwörungen«160). So verbürge eine Paraphrase Bodins aus Weyers De Praestigiis Daemonum dessen Hexenglaube: »Ja Weier erzehlt […] selber / er hab in Teutschland einen Zäuberischen Gauckler gesehen / der bey hellem tag vor allem Volck gegen Himmel sey geflogen / vnd als jn sein Weib bey den Füssen gehebt / ist sie auch auffgehebt worden / vnd da hat die Magd sich an jhre Frauw gehalten / vnd ist gleichsfals auffgefahren / seyen auch solcher gestalt eine zimliche gute weil im lufft also geblieben / darob das Volck erstaunt gewesen / vnd sich als ab [sic] eim Mirackel verwundert.«161 Ein tieferes Verständnis dieser Hexen-Begebenheit: die Einsicht nämlich, daß es sich dabei tatsächlich um übernatürliche Vorgänge handele, spricht Bodin Weyer jedoch ab.162 Jedenfalls erwächst aus Weyers Hexenglaube das Erfordernis, sich vor dem polemischen Stereotyp ›Hexenjäger oder Hexenfreund‹ zu hüten. Midelfort faßt die komplizierte Sachlage wie folgt zusammen: »Die merkwürdigsten Fälle von katholischen Wundern sowie die Bekenntnise [sic!] der angeblichen Hexen, sie seien durch die Luft geflogen, hätten einen Pakt mit Bodin verweist auf das XV. Buch von Augustinus’ Civitas dei. – Siehe: Jean Bodin: D 732. Siehe: Christian Thomasius: Über die Hexenprozesse. Überarbeitet und herausgegeben von Rolf Lieberwirth. Weimar 1967. § 6. 45 ff. (Thomasiana 5) 160 So auch noch: Thomas Hobbes: L 92. 161 Siehe: Jean Bodin: D 742. Ebenso 764. 162 Siehe: Jean Bodin: D 768; 770. 158
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dem Teufel geschlossen, geschlechtlichen Verkehr mit ihm gehabt, Unwetter gestiftet, usw., ließen sich nach Weyer als Täuschung oder Geisteskrankheit, Melancholie und durch Drogen erzeugte Visionen erklären. Sein Meisterwerk, De praestigiis daemonum, ist voll von solchen Geschichten, in denen er seine eigenen Heldentaten auf dem Feld des medizinischen Scharfsinns erzählt. Lustig sind sie immer noch zu lesen. Grundsätzlich konnte er den Teufel aber nicht ausschließen, und er gab des öfteren freiwillig zu, daß wahre Teufelsbesessenheit durchaus möglich sei, was seinen modernen Lesern als eine ärgerliche Enttäuschung oder als krasser innerer Widerspruch vorkommen mag, wenn sie erwarten, bei Weyer eine völlige Verwerfung aller dämonischen Handlungen in dieser Welt zu finden. [Abs.] Was Weyer grundsätzlich verworfen hat, ist die Idee, daß teuflische oder dämonische Angriffe und Besessenheitsfälle von menschlichen Agenten verursacht werden können. Es mochte seiner Ansicht nach sein, daß die Welt voller Teufel war, aber es war nicht möglich, daß Menschen ihnen befehlen oder sie kontrollieren konnten.«163 Weyers i. S. des Katholizismus getroffene Unterscheidung von Buße und Strafgericht zwecks Aussicht auf Milde für der Hexerei Beschuldigte findet bei Bodin keinerlei Widerhall: »In betrachtung / daß die vollziehung deß Rechtens vnd der Gerechtigkeit / vnnd die straff der Laster / mit der Schuld vnd Buß nichts gemeins haben / sondern verscheiden sachen seynd. […] Die Buß aber oder Reuw machet / daß die Schuld oder Culpa vergeben wird: Welche Schuld der Weier von der Straff nit hat wissen zu vnterscheiden.«164 Gottes strikte Unterscheidung zwischen Vergebung der Sünde und Strafe auf Grund von Sünde tilge indes keineswegs die interne Verwobenheit von Sünde und Strafe, wie Bodin einschärft. Und dieses göttliche Gesetz solle selbstverständlich auch für den Zauberer Weyer zur Anwendung gelangen: »Mit der weiß macht er sich schüldig der straff der Zauberer: […] Welcher macht daß ein Zauberer vngestrafft entkommet / der soll des Zauberers straff ausstehen.«165 Bodin fordert für Weyer Folter und Scheiterhaufen;166 diese Ächtung stützt er mit weiteren Vorwürfen, Weyers (»dem Jünger vnnd Discipel deß aller größten Zauberers«) Schriften (»die größte Absurditet«; »dem Kindischen Gesüch und Läppischen Sophisterien deß Weiers«) widersprächen den göttlichen Gesetzen: »[…] was verdient dann er?«167
Siehe: H. C. Erik Midelfort: Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht. – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. A.a.O. 56 f. 164 Siehe: Jean Bodin: D 794 f. 165 Siehe: Jean Bodin: D 796. 166 Auch Jesus warnt vom Glauben Abgefallene in einem Gleichnis: »Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen.« – Siehe: Joh 15,6. 167 Siehe: Jean Bodin: D 797 – 800. 163
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3.7 Konsequenzen der Resultate Bodin befindet sich anders als sein Widerpart Weyer in der vorteilhaften Lage, mehr oder minder ungefährdet theologische Vorwürfe resp. juridische Beschuldigungen erheben zu können. Dabei muß seine Dämonologie im Blick auf seine Staatsphilosophie als durchaus anschlußfähig bezeichnet werden. Heinsohn / Steiger argumentieren: »Das Hexenbuch liest sich als konsequente, wenn auch zweifellos entsetzliche Fortsetzung seiner ökonomischen Konzeption, in der die Bereitstellung von Arbeitskräften für die staatliche Wirtschaftsaktivität den unverzichtbaren Eckpfeiler bildet.« Und weiter: Die »Hexenverfolgung [läßt sich] als Brechung der Geburtenkontrolle zum Zwecke der Arbeitskräftegewinnung dechiffrieren […] und auch die Initiativfunktion der Kirche [erwächst] nicht aus ihren religiösen, sondern aus ihren Interessen als größter Landbesitzer Europas, der am meisten Arbeitskräfte verloren hat […].«168 Bodins Konzeption der Geltung absoluter Herrschersouveränität legitimiert die konsequente Realisierung jedweder Rechtsansprüche incl. ihrer theonomen Formen; allerdings bleibt hier die schon vormals erörterte Problematik (inner-)religiöser Pluralität ungelöst. Andererseits führt das Inquisitionsverfahren als objektiver Ausdruck klerikaler Forderung nach Observanz und Denunziation des Hexenwesens das Faktum weitgehend erbarmungsloser Gewalt in das Innere des Staatskörpers selbst ein. Unter der Voraussetzung der Hypostase eines vorgeblich radikalen Bösen vermag die Realität solcherart staatlich sanktionierter Rechtsprechung den Untertanen einerseits zwar den Eindruck garantierter Sicherheit zu vermitteln (wenngleich das Trügerische darin liegt, daß jede[r] dem Zugriff der Hexenjäger ausgesetzt sein kann); ob eine solche »terrible Realität« (Karlheinz Deschner) allerdings eine Identifikation mit dem Staat (oder, mit Hegel zu sprechen, dem Allgemeinen169) erzeugen kann, erscheint besonders dann fraglich, wenn davon auszugehen ist, daß die Alltagssorgen der Landbevölkerung, die in der frühen Neuzeit den weitaus größten Anteil der Gesamtbevölkerung ausmacht, von anderer Natur sind, nämlich z. B. die Hoffnung auf eine einträchtige Ernte betreffen, die ja gerade von kaum zu überschätzender Bedeutung ist für die Vermeidung erhöhter Bringschuld für Klerus und Adel im Falle einer Verfehlung des Solls.170 Siehe: Gunnar Heinsohn/Otto Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen. Beiträge zur Theorie und Geschichte von Bevölkerung und Kindheit. A.a.O. 91 bzw. 114. – Für Deschner wird der Hexenhammer gar zum »Geburtenkontrollhammer«. – Siehe: Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums. Band 8. Das 15. und 16. Jahrhundert. Vom Exil der Päpste in Avignon bis zum Augsburger Religionsfrieden. Reinbek bei Hamburg 2004. 317. 169 Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P. Wannemann. Herausgegeben von C. Becker et alii. – In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 1. Hamburg 1983. 173. 170 Spinoza erklärt in Anlehnung an Flavius Josephus (37/38–ca. 100) den beschleunigten Untergang der jüdischen Theokratie damit, daß die Priester – die Gesetzeskenner (Leviten) – keiner Arbeit nachgingen, sondern ihre Existenzgrundlage aus dem Zehnten der Bevölkerung bezögen. Die Einführung des Königtums unter Samuel tue dann ihr Übriges. 168
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Dagegen versucht der religiös inspirierte Philanthropinismus eines Weyer die Differenz von Hexenglauben und Hexengericht auszutragen. Die Folge ist eine in Gestalt der Verhältnisbestimmung von theonomem Recht und weltlicher Medizin eintretende Auflösung des theologisch fundierten Gegensatzes von Gott und Welt. Eine derartige Entwicklung vermag der Rechtsgelehrte Bodin nicht zu goutieren – ein angesichts der Tatsache, daß die Hexe eintausend Jahre hindurch der einzige Arzt des Volkes ist, besonders folgenreiches Defizit. So schreibt Roland Barthes einmal, Hexerei sei nichts anderes als die erste Medizin in einer Gesellschaft, deren Beziehungsformen insgesamt zu verarmen drohten; nachdem sie vollends aufgekündigt seien, triumphiere die Hexe. In der Forschung werden die europäischen Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit nicht selten unter dem Obertitel »Hexenwahn« verhandelt.171 Dieses wenig überzeugende Wahnsinnsargument172 impliziert jedoch zumindest, das fragliche Phänomen als ein bedeutsames Kapitel der frühneuzeitlichen – und zwar: sowohl römisch-katholischen als auch protestantischen – Bewußtseinsgeschichte zu deuten, dessen aufkeimendes Entwicklungsbedürfnis jedoch schon bald ein nicht mehr nur mythisch-religiöses, sondern zunehmend wissenschaftliches Verständnis eines von der scholastisch vorgebildeten Vernunftnorm Abweichenden impliziert. Damit einhergehenden Freiheitskonzeptionen werden freilich asymmetrische Wachstumschancen zuteil (siehe die breite Diskussion zum Voluntarismus). Beispielsweise muß mit Blick auf einen familienpolitischen Aspekt konstatiert werden, daß in der frühen Neuzeit die Fortpflanzung der Entscheidung einzelner entzogen und zu einem zentralen Bestandteil staatlicher Politik wird. Leonhard Bauer und Herbert Matis sprechen unter Rückversicherung bei Heinsohn/ Steiger von einer naturrechtlich verbürgten, »jedem Individuum gleichsam inhärenten Familiensehnsucht (Sentimentalisierung der Familie)«,173 die v. a. auch auf die Zulassung breiter, vormals unterminierter Schichten zur Eheschließung zurückzuführen sei. Doch dieser Deutungsrahmen ist zu eng gesteckt. Brackert interpretiert die Hexenverfolgungen vor dem Hintergrund der Säkularisierungsthese: »Es war ein verzweifelter Versuch, der zunehmenden Verweltlichung, der Diesseitsorientierung des menschlichen Lebens, den Gefahren der Sinnlichkeit dadurch zu begegnen, daß man gegen die Hexen, die durch und durch verworfenen und alle moralischen Anstrengungen durchkreuzenden Hörigen des Teufels mit Feuer und Schwert zu Felde zog.«174 Dieser Ansatz bietet allerdings keine Erklärung dafür, warum – gemesSiehe z. B. noch: Herbert Langer: Hortus Bellicus. Der Dreißigjährige Krieg. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt a. M./Wien/Zürich 1978. 56 – 60. – Ebenso: Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums. Band 8. A.a.O. 297 – 317. 172 Siehe: Gunnar Heinsohn/Otto Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen. Beiträge zur Theorie und Geschichte von Bevölkerung und Kindheit. A.a.O. 23 – 33. 173 Siehe: Leonhard Bauer/Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft. A.a.O. 305. 174 Siehe: Helmut Brackert: »Unglückliche, was hast du gehofft?« Zu den Hexenbüchern des 15. bis 17. Jahrhunderts. A.a.O. 178. 171
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sen an einem moraltheologischen Maßstab – die Hexenjagden der frühen Neuzeit als rechtlich integer gelten, liegen doch deren Voraussetzungen nicht zuletzt in einer Radikalisierung der christlichen Kirche im Blick auf Häresien insgesamt beschlossen.175 Die daraus resultierende (sexual-)moralische Perfidie der Kirche gibt ein weiteres Indiz dafür an die Hand, daß die Geschichte der Moral sich weder einem linearen Fortschrittsgesetz beugt noch ihren eigenen Entwicklungsgang auszutarieren vermag. Zu konstatieren ist jedenfalls der allmähliche Niedergang der theologischen Hypostasie des Bösen um willen einer Personalisierung des Bösen qua Hexe. Heute erscheinen die Motive, welche die Abfassung einer Schrift wie Bodins De Magorum Daemonomania auslösen, unbedingt verurteilenswürdig. Indes schildert Bodins Hexen-Traktat über weite Strecken auch nichts weiter als die allgemein verbreitete Haltung zum Phänomen der Hexe, wie sie in den damaligen europäischen Gesellschaften nun einmal verbreitet sind. So gesehen – und darin bestünde der rationale ›Wert‹ – demonstriert Bodin in der Nachfolge Thomas von Aquins176 erstmals ein ›System der Hexe‹. Wie gesehen, beschreibt er zunächst lediglich das Wirken böser (seltener guter) Geister und die Folgen von Zauberei. Daß ein solches publizistisches Unternehmen politisch-weltanschauliche Interessen birgt, steht nach dem bis hierhin Ausgeführten außer Frage. Wenn nunmehr erwiesen ist, daß Bodins Daemonomania ebenso wie seine Sechs Bücher über den Staat einem praktischen Bedürfnis zu genügen suchen, lassen sie sich jeweils als konstitutive Bestandteile des Bodinschen Gesamtwerks verstehen. So könnte der advocatus iudicii Bodin die staatsrechtliche Praxis als solche z. B. auch damit rechtfertigen, daß der Staat bei der Verbrechensbekämpfung von großem Nutzen sei, er folglich der Gefahr einer Lynchjustiz des gemeinen Mannes Einhalt gebieten könne. In summa kennt Bodin sieben Vorwände, einer Hexe den Prozeß zu machen: 1. Um Gottes Zorn zu besänftigen; 2. um Gottes Gnade (seinen Segen) zu erlangen; 3. um andere Übeltäter (durch Strafe) abzuschrecken; 4. um diejenigen, die bislang nicht mit Zauberei in Verbindung gekommen sind, zu schützen; 5. um die Zahl vermeintlicher Übeltäter zu vermindern; 6. um Anständigen ein sicheres Leben zu garantieren (was Punkt 4 gewissermaßen ergänzt); 7. um das Böse, sprich die ketzerische Tat zu richten.177 Aus seiner Überzeugung, daß Hexerei das schwerste aller »Nun wissen wir, daß die vielleicht wichtigste Entwicklung in der Geschichte des europäischen Hexenbegriffs die spätmittelalterliche kirchenrechtliche und theologische Neuinterpretation des Hexenbegriffs in Richtung Ketzerei und Glaubensabfall ist mit einem neuen Akzent auf dem mangelnden oder verkehrten Glauben der Hexen, statt auf dem maleficium wie in früheren Jahrhunderten.« – Siehe: H. C. Erik Midelfort: Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht. – In: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hgg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee. A.a.O. 59. 176 Siehe: Lexikon des Mittelalters. Band IV. München 2003. Sp. 2203. 177 Siehe: Jean Bodin: Vom aussgelasnen wütigen Teuffelsheer. In der Übersetzung Johann Baptist Fischarts. Straßburg 31591. 235. 175
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Verbrechen darstelle,178 resultiert für Bodin die Forderung, daß eine Hexe härter zu bestrafen sei als z. B. ein Mörder. Als Jurist nimmt er um willen der Einlösung dieser Forderung mancherlei Rechtsbeugungen in Kauf. Wenngleich der deutsche Bodin-Übersetzer Fischart – wie vor ihm Bodin selbst in seiner französischen Vorrede – den Leser warnt, »nicht gleich bald inn allem / so hierin fürgetragen wird / eynsmals vnd vberall beifall und glauben zugeben«,179 sollte dennoch Bodins unzweideutige Haltung in puncto Hexenverfolgung hinreichend deutlich geworden worden sein. Der verbreitetste Vorwurf, dem sich Hexenbeschuldigte ausgesetzt sehen, lautet, sie begingen Gedankenverbrechen. Gerade der sog. Schaden-Zauber (Malefizium an Mensch, Tier und Ernte), der seit jeher kontrovers diskutiert wird, bekundet den in der frühen Neuzeit noch getrübten Blick auf wissenschaftlich eindeutig, beispielsweise metereologisch erklärbare Zusammenhänge. So weiß man heute, daß sich ab dem Ende des 14. Jahrhunderts in Folge einer kleinen Eiszeit180 Klimaverschlechterungen, Mißernten, Hungersnöte sowie Epidemien einstellen. Wenn z. B. schlechte Ernten damals luziferische Erklärungsmuster erzeugen, mag dem Problemgeschichtler das unheilvolle Kausalverhältnis von Frühphasen szientifischer Entwicklung und rechtlich-moralischer Verfehlung: mithin Verfolgung, Inquisitionsprozeß, Gefährdung von Leib und Leben etc.pp. deutlich werden – wenngleich die »Dialektik der Aufklärung« heute den Optimismus wissenschaftsgeschichtlichen Fortschritts irreversibel erschüttert hat. Indes zeigt die Kehrseite der Medaille ein utopisches Moment innerhalb der Geschichte der Wissenschaften in dem Sinne, daß vorgeblich magische, alchemistische o. ä. Praktiken je schon die ehrwürdigsten wissenschaftlichen Projekte (man denke an Menschheitsträume wie die Luftfahrt oder die Herstellung von Gold usw.) in allegorische Deutungsmuster übersetzt haben. In der Hauptsache aber bedeutet Weyers Impuls einen beachtlichen Vorstoß in Richtung einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Annäherung an vermeintliche Formen dämonologischer Besessenheit. Gleichwohl können sich Theologen darauf berufen, daß bereits die Schrift Besessene von Geisteskranken, d. h. dämonische von nicht dämonischen Krankheiten unterscheide.181 Auch der Katechismus der katholischen Kirche macht nunmehr einen Unterschied zwischen Geisteskrankheit und Besessenheit. Gegen Besessenheit kann nach wie vor der amtskirchliche Große Exorxismus der katholischen Kirche zur Ausübung kommen. In klinischer Psychologie und Psychiatrie werden Verhaltensweisen von Besessenen als Symptom einer psychischen Störung behandelt. Siehe: Jean Bodin: D 7. »Vorwarnung von Lesung vnd Vrtheylung folgender Bücher.« – Siehe: Jean Bodin: D 1 [unpag.]. 180 Siehe: Josiah Cox Russell: Population in Europe 500 – 1500. – In: Carlo M. Cipolla (Ed.): The Fontana Economic History of Europe. Vol. I. The Middle Ages. London 1972. 51 f. 181 Siehe: Mt 4,24; Mk 1,34; Jak 5,14; Mt 9,20 – 22; Mk 5,25 – 34; Lk 8,43 – 48. 178
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Im folgenden 2. Abschnitt tritt die bis hierher verfolgte Genese autonomer Moral in ein Stadium ein, das der kontraktualistischen Souveränitätstheorie der politischen Philosophie Thomas Hobbes’ gewidmet ist. Während sich aus Bodins Animismus noch relativ unproblematisch die unbeschränkte Macht des klerikalen Anteils im Staatswesen ergibt, sieht sich anders Hobbes nach den Erfahrungen der nicht zuletzt konfessionellen Kontroversen zwischen Königtum und englischem Parlament vor die Aufgabe gestellt, ein staatstheoretisch verträgliches Nebeneinander von irdischer Souveränität und Geistlichkeit zu rechtfertigen – und d. h. nichts weniger, als eine Neubegründung der Politologie anzustreben. Sonach indiziert Hobbes keinesfalls die Perhorreszierung kirchlicher Religiosität, sondern vielmehr deren staatsrechtliche Implementierung – eine »letzte Zuflucht«,182 demaskiert Leo Strauss treffend. Die dem Erhalt ungeteilter Souveränität unterworfene Balance von Himmlischem und Weltlichem im Gemeinwesen werde erst möglich auf Basis einer staatsrechtlich legitimierten Unterscheidung von wahrer und heidnischer Religion; so sei auch Heiden sowie Dämonologien antiker Dichter der Kampf zu erklären. Da es, so Hobbes, im vorstaatlichen Naturzustand lediglich Keime von Religion, aber noch nicht sie selbst gebe, könne Religion nur im Rahmen menschlicher oder göttlicher Politik, sc. im Staate, existieren. Statt also Widerstand gegen die vertragsrechtlich legitimierte Macht des Souveräns zu leisten, müsse der Untertan ihm und damit einer staatsrechtlich kodifizierten, zugleich wahren, obschon reduktionistischen Religion Gefolgschaft leisten bis hin zu der Bereitschaft für das Martyrium: »Es ist nur ein Glaubensartikel, für den zu sterben zu einem so ehrenvollen Namen berechtigt; und dieser Artikel besteht darin, daß Jesus der Christus ist, das heißt der, welcher uns erlöst hat und wiederkommen wird, um uns das Heil und das ewige Leben in seinem herrlichen Königreich zu bringen. Für jederlei Dogma zu sterben, das den [sic!] Ehrgeiz oder Vorteil des Klerus dient, wird nicht gefordert; auch macht nicht der Tod des Zeugen, sondern das Zeugnis selbst den Märtyrer, denn das Wort bezeichnet nichts anderes als den Menschen, der das Zeugnis ablegt, gleichviel, ob er für sein Zeugnis getötet wird oder nicht.«183 Hobbes’ Politologie zeugt von einem ungetrübten Blick auf die mit der protestantischen Revolution und den aus ihr erwachsenen Religionskriegen erlittene Einbuße des kirchlichen Monopolismus, nicht zuletzt auch in exegetischen Fragen. Im Zuge der Religionskriege beginnt der moderne Staat, nicht nur ein SelbstverSiehe: Leo Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft. Neuwied am Rhein/Berlin 1965. 75. Siehe: Thomas Hobbes: L 422. – Siehe auch: ders: C III, Kap. 18. – Sobald mutige Christen aus dem Schatten der geduldeten jüdischen Religion treten, setzen Verfolgungen ein. Kaiser Diokletian (zwischen 236 und 245 – 3. Dezember 313 oder 316) regt letztmalig 303 und 304 den Versuch an, das Christentum gänzlich zu vernichten, um den für das zerfallende Reich notwendigen Kaiserkult zu bewahren. Die Märtyrerkirche vermacht der europäischen Freiheitsgeschichte mit der institutionellen Diskrepanz von geistlicher und weltlicher Gewalt, sc. Kirche und Staat, eine wesentliche christliche Mitgift. In kirchengeschichtlicher Perspektive optiert Hobbes für eine Reorganisation (Reparatur) von Märtyrer- und Staatskirche für das kirchenrechtliche Staatsdenken. 182
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1. Abschnitt · Säkulare Begründung der Verbindlichkeit des Rechts
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hältnis auszubilden, sondern auch außenpolitische Legitimationsformen seiner selbst zu suchen. So kann in staatsrechtlicher Perspektive nicht mehr die Frage, welche die wahre Religion sei, den Primat beanspruchen, sondern vielmehr, wie friedliches Zusammenleben unter den Menschen (wieder) möglich sei. Zu der sich hieraus entwickelnden (früh-)neuzeitlichen Unterscheidung von Legalität und Moralität trägt Hobbes’ politische Wissenschaft Entscheidendes bei. So bildet auch Hobbes’ Reformulierung der Politologie einen konstitutiven Bestandteil der Genese autonomer Moral. Anders als im Europa nach der Französischen Revolution, in dem der säkulare Staat seine Legitimation aus freier Vernunft, übergeordneten Interessen der Nation, dem Volkswillen oder ähnlichen religionsfernen Motiven zu erlangen sucht, kann in der frühen Neuzeit von einer gut entwickelten nicht-religiösen Legitimationsquelle noch nicht die Rede sein, so daß auch der Staat nach Hobbes auf die (katholische, reformatorische, anglikanische oder calvinistische) Religion angewiesen bleibt. Wie gesehen erstrebt Bodin einen Kompromiß zwischen einem ›katholischen‹ Machiavellismus (ein Herrscher habe die Pflicht und damit das Recht, ohne moralische Rücksichten zum Vorteil seines Staates zu handeln) und dem ›protestantischen‹ Modell einer Volksherrschaft (oder zumindest einer Wahlmonarchie). Es wird sich zeigen, daß auch Hobbes’ politische Wissenschaft sowohl dem Bedürfnis an der (protestantischen) ›Subordination‹ der Kirche unter den Staat im landesherrlichen Kirchenregiment als auch dem (katholischen) Interesse zu genügen sucht, die protomoderne Einheit von Thron und Altar – oder zumindest deren Überbleibsel – zu konservieren.
2. Abschnit t Das positive Recht des Vertrags
1. Kapitel: Vorbereitende Bemerkungen zum Verhältnis von System und Geschichte 1.1 System und Praxis Der in ihrer Geschichte häufig vertretene Anspruch der Philosophie, systematische Wissenschaft zu sein, führt auch bei dem Predigerssohn Thomas Hobbes (1588 – 1679) dazu, die seinerzeit etablierten Wissensgebiete ausführlich zu bearbeiten:184 »Die wahre Weisheit ist […] das Wissen der Wahrheit in allen Dingen«,185 so seine Überzeugung. Gleichwohl formieren sich Hobbes’ drei systembildende Schriften De corpore, De homine und De cive (Elementorum philosophiae, sectio tertia, die er spätestens ab 1637 entwickelt) zu einer theoretischen Gesamtanschauung, deren ideenpolitischer Grundgedanke in einem zeitgeschichtlichen Umfeld mannigfaltiger Veränderungen entsteht.186 Überraschende Aspekte von Hobbes’ politischer Philosophie zeigen sich insbesondere dann, wenn neben dem Leviathan187 auch The Elements of Law Natural and Politic188 herangezogen werden. Eine Synopse – nicht aber ein Abgleich auf Basis isolierter Betrachtungen189 – von The Elements of Law, De Cive und Leviathan, wie sie im folgenden vorgenommen wird, ermöglicht die Rekapitulation der zunehmend komplexen Ausarbeitung thematischer Kongruenzen, die Hobbes schrittweise vornimmt. Doch die bedeutsamste Modifikation Das Verhältnis von umfassendem Wissensanspruch und englischer Sprache im akademischen Leben der Zeit Hobbes’ behandelt: Richard Tuck: Hobbes. Aus dem Englischen von Skadi Krause und Karsten Malowitz. Wiesbaden 2004. 7. 185 Siehe: Thomas Hobbes: De Cive. A.a.O. Widmung, 60. (Sigle: C) 186 Stellvertretend für jene, die bezweifeln, daß Hobbes’ politische Philosophie ein eigenständiges, mit den anderen Teilen seiner Philosophie nur äußerlich und zufällig verbundenes Gebilde sei, sei hier genannt: John W. N. Watkins: Hobbes’s System of Ideas. A study in the philosophical significance of philosophical theories. London 1965. 187 Zum Titel vgl.: Ijob, 41,25. 188 Im Vergleich zur 1640 lediglich handschriftlich verbreiteten Urfassung erscheint das Werk erstmals erst 1650 in London als veränderter Raubdruck ohne Wissen des Autors in zwei Teilen unter dem Titel Human Nature; or the Fundamental Elements of Policy bzw. De Corpore Politico; or the Elements of Law, Moral and Politic, die erste legale Ausgabe erst 1889 in London unter dem Titel The Elements of Law, Natural and Politic, nach den ursprünglichen Handschriften herausgegeben von Ferdinand Tönnies. – Unter dem Titel The Elements of Law wird hier zitiert nach: Thomas Hobbes: Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen. Mit einer Einführung von Ferdinand Tönnies. Mit einem Vorwort zum Neudruck 1976 von Arthur Kaufmann. Darmstadt 1983. (Sigle: N) 189 Vorgeführt bei: Leo Strauss: Leo Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft. A.a.O. 75 – 81. 184
2. Abschnitt · Das positive Recht des Vertrags
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innerhalb seiner Staatsphilosophie in toto: der sich vergrößernde Anteil religionshistorischer und -politischer Reflexionen,190 verdankt sich v. a. den politischen Verhältnissen, die Hobbes’ persönliche Lage beeinflussen, nimmt er doch in seinem langen Leben unterschiedliche Haltungen zu Krone (und damit auch dem alten Adel) und (jungem) Parlament191 ein. So sind beispielsweise The Elements of Law nicht dem House of Commons, sondern der Seite King Charles’ I. (1600 – 1649) zuzuordnen, für dessen Rechte sich Hobbes anonym einsetzt. Viel spricht dafür, The Elements of Law als einen »Beitrag zur Schiffsgelddebatte« (Ship Money), die Charles I. ab 1635 zwecks Kostenerhebung für eine neue, gegen Holland gerichtete Flotte anstößt, zu verstehen.192 1636 weigert sich John Hampden (1594 – 1643), ein zentraler Wortführer der späteren bürgerlichen Revolution, dem königlichen Steuereintreiber das Schiffsgeld zu entrichten – eine Steuer, die vom Unterhaus nicht bestätigt wird. Der anschließende Prozeß vor dem obersten Gerichtshof, in dem auch Hobbes verurteilt wird, trägt ihm große Popularität ein. Gleichzeitig erhält die bürgerliche Opposition gegen den Absolutismus Auftrieb. Diese Vorkommnisse führen letztlich dazu, daß Hobbes’ erste Reise nach Paris unausweichlich wird, ja zur Exilflucht gerät. Auch der später abgefaßte Leviathan – die Grundgedanken der Elements of Law vor dem Hintergrund der Philosophie Descartes’, die Hobbes im katholischen Paris kennenlernt, rekapitulierend – beschwört einen Konflikt mit dem Parlament herauf. In dessen Folge kehrt Hobbes wieder nach England zurück. Seither konfrontiert mit einem Anglikanismus193 als nationalkatholische Version der christlichen Kirche, optiert er für die dortige Republik und paktiert schließlich. So geben die politischen Einlassungen Hobbes’ ein geeignetes Beispiel dafür, in welcher Weise Philosophie und gesellschaftliche Wirklichkeit miteinander verwoben sind: nämlich nicht allein als Reaktion auf konkrete gesellschaftliche Verhältnisse, sondern als Versuch, dieselben eigenmächtig zu gestalten. In Hobbes’ theoretischer Philosophie firmieren Religion bzw. Theologie als Teilgebiete einer materialistischen Ontologie: Von Gott könne lediglich gewußt werden, daß er erste Bewegungsursache ist. 191 London setzt bereits 1367 ein Parlament ein. Es gliedert sich in zwei Kammern: das Unterhaus (House of Commons), dem Sitz der Bürgervertreter, und das Oberhaus (House of Lords), das sich aus Adligen zusammensetzt. Ursprünglich dient das Parlament nur der zentralisierten Erfassung der Steuerzahlungen. Erst im Laufe der Zeit, als zunehmend Juristen und Verwaltungsbeamte Parlamentsmitglieder werden, entwickelt es sich zu einer selbstbewußten Volksvertretung, die auch auf die politischen Geschicke Englands Einfluß nehmen kann. Neue Steuern müssen grundsätzlich als parlamentarische Vorlage Zustimmung finden, selbst Gesetzesvorschläge kommen aus den Reihen der Volksvertretung. 192 Siehe: Richard Tuck: Hobbes. A.a.O. 43 f. – Vgl. hierzu: Thomas Hobbes: B 130 – 136. 193 Der vorreformatorische Anglikanismus betrifft die nationalkirchlichen Bestrebungen in England (ähnlich dem Gallikanismus in Frankreich); zwar wird kein Separatismus von Rom, wohl aber eine größere landeskirchliche Autonomie anstrebt. Heute bezieht sich der Begriff auf die Gesamtheit des Glaubens und des religiösen Lebens der Kirche von England (Church of England) und ihrer Tochterkirchen. Diese zählen meistens zur anglikanischen Gemeinschaft, einige haben sich aber von ihr getrennt. 190
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
Trotz des expandierenden Anteils an Theologica zeigt Hobbes’ Sozialphilosophie insgesamt die Tendenz zur Verweltlichung des Rechts. Sie begreift das Naturgesetz als System vernünftiger Regeln,194 »die zur Erhaltung des Menschenlebens auf Erden beitragen«, nicht aber »zur Erlangung einer ewigen Glückseligkeit nach dem Tode«.195 Damit einher geht eine zunehmende Positivierung des Freiheitsbegriffs. Hobbes setzt einen Konnex von Rechts- und Freiheitsbegriff an: »Recht besteht in der Freiheit, etwas zu tun oder zu lassen, während Gesetz eines davon festlegt, so daß sich Gesetz und Recht so weit unterscheiden wie Verpflichtung und Freiheit, die bei ein und derselben Sache unvereinbar sind.«196 Für den zweiten, mit »Staatsgewalt« überschriebenen Teil seines De Cive kündigt Hobbes weitere Begriffsunterscheidungen an: »des Gesetzes vom bloßen Rat, vom Vertrag und vom Recht.«197 So läßt Hobbes’ Begründung einer neuen Wissenschaft von der Politik grundsätzlich zwei rechtsphilosophische Interpretationen zu: Einerseits dokumentiert seine Politologie das praktische Erfordernis eines durch die weltliche souveräne Macht (genauer: eines politischen Körpers) in neuer Weise: nämlich kontraktualistisch fundierten Rechts, wird dieses doch durch das Monopol des Staates sowohl gesetzt als auch erlassen (Kodifikation). Recht ist also nicht mehr eine Sammlung bloßer Naturgesetze.198 Eine folgenreiche Konsequenz dieser Rechtsfigur besteht darin, den über Jahrhunderte herrschenden naturrechtlich verbürgten Autoritätsglauben feudaler Gesellschaftsordnungen (Herrschaft durch Geburtsvorrang) zu erschüttern. Hören wir wieder Hobbes selbst: Die »Vernunft legt geeignete Friedensartikel nahe, auf deren Grundlage die Menschen zu einem Vertrag gebracht werden können. Diese Artikel sind das, was man sonst Naturgesetze nennt […].«199 Der Staat ist die Quelle weltlicher Macht: »Die größte menschliche Macht ist jene, die, aus der Macht der meisten Menschen zusammengesetzt, durch Übereinstimmung in einer natürlichen oder staatlichen Person vereinigt ist, der deren gesamte von ihrem Willen abhängige Macht zur Verfügung steht, wie die Macht eines GemeinErinnert sei hier an den frühneuzeitlichen Charakter der Regel im Verhältnis zum Naturbzw. Rechtsgesetz und dem positiven Gesetz, wie er bereits im II. Teil, Kapitel 2.1 und 3.2 vorliegender Untersuchung dargestellt worden ist. – In dem Bewußtsein, die meisten Menschen seien »zu sehr mit dem Erwerb ihres Unterhalts beschäftigt und die übrigen zu gleichgültig«, um die »Ableitung der Naturgesetze« zu verstehen, reduziert der Realist Hobbes das System des Naturgesetze auf nur eine Regel (»zu einer einfachen Summe«): »Tue keinem andern, was du nicht willst, das dir getan werde«. Das ist die Goldene Regel. – Siehe: Thomas Hobbes: L 132. – Ein möglicher Schrift-Beweis: Lev, 19,18. – Ebenso geben nach Hobbes bürgerliche Gesetze »Regeln über das Gute und Böse, Rechte und Unrechte, Sittliche und Unsittliche«. – Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 12, 1. 195 Siehe: Thomas Hobbes: L 123. 196 Siehe: Thomas Hobbes: L 108. 197 Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 70. – Hobbes löst diese Ankündigung im 14. Kapitel (»Von den Gesetzen und den Vergehen«) ein. 198 Siehe: Thomas Hobbes: L XXVI, 8. – Dieser Kontext kehrt wieder, wenn Hobbes erklärt, der Souverän sei Gesetzgeber und dem staatlichen Gesetz nicht unterworfen. 199 Siehe: Thomas Hobbes: L 107. 194
2. Abschnitt · Das positive Recht des Vertrags
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wesens; oder die vom Willen jedes einzelnen abhängige Macht, wie die Macht einer Partei oder verschiedener verbündeter Parteien. Deshalb ist es Macht, Diener zu haben, ist es Macht, Freunde zu haben: denn sie sind vereinte Kräfte.«200 Am Ende zeigt sich, daß der Staat zudem die Legitimationsinstanz jedweder geistlicher Machtansprüche darstellt. Andererseits ist der Hobbes des Leviathan (und auch des De Cive) bestrebt, kodifiziertes Recht noch aus dem System des Naturrechts (als Summe der Naturgesetze nämlich) heraus zu verstehen. So findet sich im Leviathan gegen Ende des ersten Buches folgende Definition des Naturrechts: »Das Naturrecht, welche Autoren gewöhnlich jus naturale nennen, ist die Freiheit, die jeder Mensch besitzt, seine eigene Macht nach Belieben zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, zu gebrauchen und folglich alles zu tun, was er nach seiner eigenen Urteilskraft und Vernunft als das hierfür geeignetste Mittel ansieht.«201 Wenn die Transponierung des Rechts qua kontraktualistischer Fundierung jedoch menschlicher Spontaneität obliegt (der Grund des Rechts also keineswegs naturrechtlich gefaßt werden kann), bleibt zunächst unklar, warum Hobbes dann einer christlichen Variante von Rechtgläubigkeit das Wort redet. Hobbes’ politische Philosophie zeigt hier eine Diskrepanz, die sich zwischen den Begriffen Recht und Gesetz aufspannt: Das Recht (seine Setzung im Staat) widersteht zwar der Theonomie, seine Realisierung (Kodifizierung), d. h. das System der (mechanistischen202 Natur-) Gesetze bleibt jedoch religiösen Bedürfnissen verpflichtet. Dies erhellt beispielsweise aus Hobbes’ Analysen der ungeteilten Macht souveräner Herrschaft: »So ergibt sich meiner Meinung nach aus der Vernunft wie aus der Heiligen Schrift deutlich, daß die souveräne Macht, ob sie nun bei einem einzelnen Menschen liegt wie in der Monarchie oder bei einer Versammlung wie in demokratischen oder aristokratischen Gemeinwesen, so groß ist, wie sie nach aller Vorstellung die Menschen nur machen können.«203 Es wird sich zeigen, daß im problemgeschichtlichen Fokus der zweite große Systemphilosoph seiner Zeit: nämlich Spinoza, hier einen Schritt weiSiehe: Thomas Hobbes: L 69. Siehe: Thomas Hobbes: L 107. – In dieser Definition verlangt der Freiheitsbegriff, den Hobbes, wie gesehen, lediglich ex negativo als »Abwesenheit äußerer Hindernisse« (siehe: Ibid.) bestimmt, nach Aufklärung. 202 Die Ablösung des teleologischen (Platon, Aristoteles) zu Gunsten eines mechanistischen Weltverständnisses in Hobbes’ Philosophie rekonstruiert: Michael Esfeld: Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes. A.a.O. 18; 50 – 75. 203 Siehe: Thomas Hobbes: L 176. – Zu diesem auch schon in den Elements of Law (siehe: I, Kap. XIX, 6; II, Kap. V, 2.) und De Cive (siehe: II, Kap. 14, 1) vertretenen Konzept bemerkt Willms mit Blick auf die Reaktion der Veröffentlichung von De Cive: »Vor allem die royalistischen Reaktionäre am Exilhof meinten, allen Grund zu haben, einem Mann zu mißtrauen, der das Recht der Souveränität auf den Vertrag der Bürger gründete und für den der Souverän auch ,eine Versammlung‹ sein konnte.« – Siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. München 1987. 43. – Zudem hat Hobbes’ Definition von Kirche den Charakter einer obrigkeitsstaatlichen Restriktion: »[…] Kirche als eine Gemeinschaft von Menschen, die sich zur christlichen Religion bekennen, vereint in der Person eines Souveräns, auf dessen Befehl sie sich versammeln und ohne dessen Ermächtigung sie sich nicht versammeln sollten.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 394. 200
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
ter gegangen ist – auch wenn er (und dieser Gesichtspunkt wird in seiner tieferen Bedeutung genau zu erwägen sein) erklärt, es sei gewiß, »daß die Natur an sich betrachtet das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag, d. h. daß sich das Recht der Natur so weit erstreckt, wie sich ihre Macht erstreckt. Denn die Macht der Natur ist Gottes Macht selber, der das höchste Recht zu allem hat.«204 1.2 Werkanalytische Rechtfertigung Bevor der 52-jährige Hobbes The Elements of Law veröffentlicht, ist er ein wissenschaftlich Unbekannter. Der für die politische Philosophie bis heute exponierte Rang von Hobbes’ Leviathan wird gerne mit dessen beiden ersten Teilen »Vom Menschen« bzw. »Vom Gemeinwesen« in Verbindung gebracht; im Gegensatz dazu sind die vorwiegend religionspolitischen Angelegenheiten gewidmeten Teile III. (»Von einem christlichen Gemeinwesen«) und IV. (»Vom Königreich der Finsternis«205) eher selten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Zu Hobbes’ Lebzeiten indes sind es nicht zuletzt diese Teile III und IV, die in erheblichem Maße zu den Anfeindungen gegenüber dem Autor beigetragen haben. Der erste gegen ihn erhobene Vorwurf lautet, er sei in das Anti-Royalistische Lager gewechselt, mit der Konsequenz der weiteren Anschuldigungen des Atheismus, der Häresie und des Landesverrats. Diese Teile III und IV – und damit rund die Hälfte des gesamten Werks – suchen die neue monarchische Regierung auf Grund ihrer faktischen Macht zu rechtfertigen (vgl. »Rückblick und Schlußbetrachtung«206). Willms betont zudem, in Hobbes’ Zeit werde erst gelernt, »daß es nicht genügt, Macht zu 204 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 175; XVI, 184, Adn. XXXIV; I, 9 f.; III, 31. – Siehe auch: Baruch de Spinoza: Tractatus politicus. – In: ders.: Sämtliche Werke. Band 5. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Carl Gebhardt. Einleitung von Klaus Hammacher. Hamburg 1977. II, § 2 f. (Sigle: TP) 205 »Wo eine Suprematie und eine Souveränität gleichzeitig bestehen sollen, müssen offenbar auch zwei Staaten existieren«: ein legitimer Staat und gleichermaßen ein anderes unsichtbares »Königreich im Dunkeln«, das fälschlicherweise die Identität von Reich Gottes und gegenwärtiger weltlicher Kirche beansprucht. – Aus Gregors VII. (* 1020, im Amt 1073 – 1080) Dictatus Papae (März 1075) entwickelt sich die Lehre der potestas ecclesiae indirecta in temporalibus, also die kuriale Zweischwerterlehre, die indes einen von der Kirche unabhängigen, vollständig souveränen Staat ansetzt. Noch der Kardinal Robert Bellarmin (sc. Roberto Francesco Romolo Bellarmino, 1542 – 1621) vertritt diese Staatslehre, auf die Hobbes im Leviathan repliziert (Kapitel XLII). – Siehe hierzu: Michael Großheim: Religion und Politik. Die Teile III und IV des Leviathan. – In: Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Herausgegeben von Wolfgang Kersting. Berlin 1996. 283 – 316; hier: 302 bzw. 296 f. (Klassiker Auslegen. Herausgegeben von Otfried Höffe. Band 5) – Die klassische Untersuchung hat verfaßt: Franz Xaver Arnold: Die Staatslehre des Kardinals Bellarmin. Ein Beitrag zur Rechts- und Staatsphilosophie des konfessionellen Zeitalters. München 1934. – Siehe auch: Wilhelm Kölmel: Regimen christianum. Weg und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8. bis 14. Jahrhundert). Berlin 1970. 340 – 354. 206 Siehe: Thomas Hobbes: L 589 – 600.
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erlangen, sondern daß man auch wissen mußte, wie sie zu behaupten ist.«207 Hobbes’ Motivation, sich überhaupt an die Niederschrift des Leviathan zu begeben, besteht jedoch insbesondere darin, gegen den anglikanischen Klerus, mit dem er während seines langjährigen Pariser Exils nicht konform geht, zu polemisieren. Interpreten, die dagegen eine Betonung der weltlichen Anteile des Leviathan beabsichtigen, beziehen sich nicht selten auf Ausgaben des Textes, welche die genannten beiden letzten Teile gar nicht enthalten.208 So aber wird verkannt, daß Hobbes sich erst im Zuge einer philosophischen Auseinandersetzung mit den für das politische Leben des Englands seiner Zeit in zunehmendem Maße wichtigen religionspolitischen Umständen der Fundamente seiner eigenen Staatskonzeption versichert. Denn wie sich noch zeigen wird, identifiziert Hobbes das Bürgerrecht de facto mit dem inneren Staatsrecht. Das umfassende Anliegen seiner politischen Philosophie erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß er seinen De Cive als die erste wissenschaftliche Darstellung der Staatsphilosophie überhaupt betrachtet, vernehme er doch »überaus deutliche Zeichen, daß die bisherigen Schriften der Moralphilosophen zur Erkenntnis der Wahrheit nichts beigetragen haben«.209 V.a. das Studium des dreiteiligen De Cive (»Freiheit«, »Staatsgewalt«, »Religion«) ermöglicht eine Erforschung des zentralen Themas seiner politischen Philosophie: einer kontraktualistisch fundierten Staatslehre, deren theologisches Zugeständnis sowohl den jüdischen Vertrag (Circumcision)210 als auch den christlichen (Taufe) inkludiert.211 Definiert Hobbes das Gemeinwesen im Leviathan als »eine Person […], für deren Handlungen sich eine große Menge durch gegenseitigen Vertrag zum Urheber gemacht hat, zu dem Zweck, daß es ihrer aller Stärke und Mittel, wie es ihm vorteilhaft erscheint, für ihren Frieden und ihre gemeinsame Verteidigung gebraucht«,212 argumentiert er auch in De Cive, Gebot des recht verstandenen Selbsterhaltungstriebs (der
Siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 95. – Diesem Interesse genügt Hobbes noch einmal mit seinem Behemoth, der nicht zuletzt die Zerfallsgründe von Souveränität analysiert. 208 Stellvertretend seien hier genannt: Herbert W. Schneider (Ed.): Thomas Hobbes: Leviathan – Parts One and Two. With an Introduction by Thomas W. Schneider. Indianapolis, Ind. 1958. – Thomas Hobbes: Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates. I. Der Mensch. II. Der Staat. Übersetzung von Dorothee Tidow mit einem Essay »Zum Verständnis des Werkes«, einem biographischen Grundriß und einer Bibliographie. Reinbek bei Hamburg 1965. (Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft. Philosophie der Neuzeit. Band 6) – Thomas Hobbes: Leviathan. Erster und zweiter Teil. Übersetzung von Jacob Peter Mayer. Nachwort von Malte Diesselhorst. Stuttgart 1970. – Neulich erst erschienen: Thomas Hobbes: Leviathan. Erster und zweiter Teil. München 2006. (CAPITAL – Bibliothek der Wirtschaftsklassiker) 209 Siehe: Thomas Hobbes: C Widmung, 61; Vorwort an die Leser, 66. – Auch Spinoza erklärt kurzerhand jedwede bisherige Staatsphilosophie für unnütz. – Siehe: Baruch de Spinoza: TP Kap. I, § 1. 210 Siehe: Gen 17,10 – 14. 211 Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 70 f. 212 Siehe: Thomas Hobbes: L 145. – Unter den Gemeinwesen unterscheidet Hobbes drei Grundformen: Monarchie, Demokratie und Aristokratie. – Siehe: Ibid. 156 f. 207
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»Liebe zum Ich«, wie es später auch heißt213) sei es, daß die Menschen aus Vernunftgründen übereinkommen, sich Gesetze zu geben und der Macht eines frei gewählten Staates zu beugen.214 Während der erste Teil des De Cive den Begriff des Naturzustands (als eines Kriegszustands215) sowie die Naturgesetze mit Blick auf die Grenzen des Staatsvertrags, aus denen die Rechte des Bürgers erwachsen, abhandelt, soll im zweiten Teil der Absolutheitscharakter des Souveräns legitimiert sowie der Vorzug der monarchistischen Staatsform erwiesen werden: Wenn der Bürger zu absolutem Gehorsam gegenüber den staatlichen Gesetzen verpflichtet ist, erweist sich das Staatsgesetz selbst als integratives Rechtsmoment – eine Konsequenz, die Hobbes aus dem ersten Teil, der bereits die Kongruenz von Natur- und Sittengesetz behauptet, ziehen kann. Besonders aber der dritte Teil der Schrift ist für die vorliegende Problemgeschichte von vordringlichem Interesse: Hier nämlich wird eine theonome Rechtsbegründung abgewiesen zugunsten einer Engführung von vernünftigem Naturgesetz und natürlichem Wort Gottes, dessen Auslegung freilich der allgemeinen Staatsvernunft obliege. Die Kirche fungiert als legitime Rechtsperson der Gläubigen, d. h. christlicher Staat und Kirche betreffen fortan sinnverwandte Institutionen.216 Die Untertanen bilden das Gemeinwesen als natürliches Reich von (Staats-)Gläubigen – obgleich Hobbes unmißverständlich hervorhebt, religiöse Praxis sei Privatsache. Wenn im folgenden also nicht nur eine Auseinandersetzung mit De Cive, sondern auch mit den zuvor publizierten Elements of Law sowie dem reifen Leviathan geführt wird, bedarf dieses Vorgehen einer weiteren Rechtfertigung. Denn es ergibt sich keinesfalls aus dem rein äußerlichen Vorsatz, nicht erneut den Leviathan in einer rechtsphilosophisch ausgerichteten Hobbes-Studie zum thematischen Mittelpunkt zu erklären, sondern ist vielmehr der hier verfolgten problemgeschichtlichen Ausrichtung verpflichtet, Entwicklungsschritte säkularer Begründungsstrategien des Rechts aufzudecken und zu rekonstruieren. Zwar bilden The Elements of Law, De Cive und Leviathan zusammen genommen Hobbes’ Politologie; doch im Vergleich zu De Cive und erst recht dem Leviathan räumt Hobbes in The Elements of Law einer theologischen Absicherung der Staatslehre relativ wenig Raum ein. Im Blick auf den Leviathan wäre dann mitnichten von einem staatsreligiösen Rückfall zu sprechen, sondern vielmehr von Hobbes’ Einsicht in die Notwendigkeit, in seiner politischen Philosophie verstärkt theologie-politische Problembereiche zu verhanSiehe: Thomas Hobbes: L 132. – Zu den Gefahren der »Eigenliebe« siehe: ders.: C Widmung, 63. – Ausschließlich Gott benötige nichts zu seiner Selbsterhaltung. 214 Selbsterhaltung ist, weil sie Naturgesetz ist, darum auch ein Grundrecht (wie es heute genannt wird), welches sich allerdings, wie sich bald zeigen wird, bezogen auf den Staat in einen Appell verwandelt: Der Souverän darf den Staat nicht gefährden oder gar aufgeben (was z. B. nach Hegel die Grenze des Völkerrechts darstellt). 215 Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 69. – Hier zeigt sich einmal mehr der Einfluß Grotius’, der auch schon eine Naturzustandsprojektion (wobei der Begriff des Naturrechts bei ihm kaum je auftaucht) entwickelt, auf Hobbes’ politische Philosophie. 216 Siehe auch: Thomas Hobbes: L 394. 213
2. Abschnitt · Das positive Recht des Vertrags
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deln. Zu beachten ist hier der Unterschied von Staatsreligion und Theokratie: Der Theokratismus erstrebt eine Verwirklichung des Reiches Gottes »auf Erden« und die Durchsetzung der Theokratie als politisches Gestaltungsbild; so wird er zur politischen Religion. Die absolutistische Vorstellung des Gottesgnadentums kommt einer Theokratie recht nahe. Zwar ist Hobbes’ politische Philosophie in der Vergangenheit nicht selten zu einer Lehre von der Monarchie simplifiziert worden, doch steht Hobbes in Wahrheit nichts ferner als eine kritiklose Rechtfertigung eines dynastisch verbürgten Divine Right. Im Gegenteil nämlich wird Hobbes seit De Cive sogar als Ahasit (oder Antiochianer) gehandelt: als Anhänger des Prinzips, daß die Kirche vollständig der weltlichen Gewalt unterzuordnen und dem Landesfürsten oder der sonstigen Obrigkeit die unumschränkte Gewalt über kirchliche Angelegenheiten (jus territoriale circa sacra) einzuräumen sei.217 Eine nachfolgende Behandlung besagter Einlassungen Hobbes’ erübrigt freilich keineswegs eine plausible Rechtfertigung, rücksichtlich der leitenden Problemstellung vorliegender Untersuchung einen Schwerpunkt auf die Interpretation der frühesten unter den genannten drei politischen Schriften: der Elements of Law, zu legen – sie untermauert sie im Gegenteil. Denn mit Hobbes’ politischer Philosophie rückt eine besonders interessante problemgeschichtliche Etappe in den Blick, ist sie doch – anders als vorangegangene und auch, wie sich noch zeigen wird, nachfolgende – durch eine auf den ersten Blick contrafaktische Verlaufsgeschichte charakterisiert, die auf die Formel ›Enttheologisierung kraft theonomer Problembewußtwerdung‹ gebracht werden kann.218 Denn zweifelsohne hätte Hobbes, wäre er sich schon um 1640 des unabweisbaren Erfordernisses tiefergehender Analysen theologie-politisch motivierter Interessenslagen bewußt gewesen, sich dieser stärker als tatsächlich geschehen angenommen. Ein retrospektives Bewußtsein dieser Konstellationen in Rechnung stellend, hätten den Elements of Law – erheben sie denn ihren zeitdiagnostischen Anspruch zurecht – sozialphilosophische Analysen insbesondere theologie-politischer Problemstellungen sicherlich nicht zum Schaden gereicht. Insofern ist es wichtig, die im Vergleich zu De Cive und dem Leviathan noch nicht enttheologisierte und daher problemgeschichtlich hier einschlägige Tendenz der Elements of Law hervorzukehren, wobei aber auch klar ist, daß sich Hobbes’ Einsicht in die gesellschaftliche Relevanz theologie-politisch motivierten Konfliktpotentials erst mit den Jahren seines Exils einstellt. Die Schärfung seines Bewußtseins für diese Problemlage hat Folgen für die Konzeption seines Systems
Diese Anschauung ist von den Königen Ahas und Antiochus in extremer Weise geltend gemacht worden. – Siehe: 2 Kön, 16. 218 Auch Strauss orientiert sich nicht an Äußerlichkeiten und bemerkt, daß sich Hobbes auf dem Weg von den Elements of Law über De Cive zum Leviathan »immer weiter von der religiösen Tradition« entferne. – Siehe: Leo Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft. A.a.O. 77. – Dies heißt aber nur, daß Hobbes’ Verständnis von Religion in dieser Zeit eine Entwicklung durchmacht – und d. h., daß, mit Hegel zu sprechen, der Begriff der Religion für seine politische Wissenschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. 217
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der Philosophie: Hobbes’ De Cive erscheint anonym219 1642 – in wenigen Exemplaren für einen kleinen Kreis ausgesuchter Gelehrter bestimmt – nicht wie vorgesehen als dritter und letzter, sondern als erster Teil seines Systems, d. h. deutlich früher als De Corpore (1655) und De Homine (1658). In De Cive blickt Hobbes zurück, »daß mein Vaterland, einige Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges, durch Erörterungen über die Rechte der Herrscher und den schuldigen Gehorsam der Bürger, die Vorläufer des nahenden Krieges, heftig aufgeregt wurde. Dies veranlaßte mich, den dritten Teil mit Zurückstellung der vorangehenden zunächst zur Reife und zum Abschluß zu bringen. So ist es gekommen, daß der der Anordnung nach letzte Teil zuerst fertig geworden ist, zumal da ich sah, daß er sich auf seine eigenen, durch Erfahrung bekannten Grundsätze stützte und deshalb der vorangehenden Teile nicht bedurfte.«220 Vor diesem Szenario ließe sich – freilich etwas überspitzt – die These wagen, Hobbes hole, als er mit der politischen Philosophie längst abgeschlossen hat, mit seiner späteren, King Charles I. verteidigenden Streitschrift Behemoth, or the long Parliament221 (1668222), die in engem thematischen Kontext mit dem heute ungleich bekannteren Leviathan steht, die theoretische – und d. h. für ihn: politologische – Aneignung desjenigen Ereignisses nach, dessen tieferes Verständnis ihm auf Grund seiner ›theologie-politischen tabula rasa‹ der Zeit vor seinem ersten Exil (und damit auch hinsichtlich der Elements of Law) hat verwehrt bleiben müssen: nämlich ein philosophisches, d. h. staatstheoretisches Verständnis für die Gründe der kurze Zeit später aufbrechenden bürgerlichen Revolution, die Hobbes erst 1660 enden sieht.223 Wird im Leviathan zunächst lediglich konstatiert, das englische KöIm liberalen Holland dagegen erscheint das Werk mit voller Namensnennung. Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 71 f. 221 Siehe: Julius Lips: Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution. Mit erstmaliger Übersetzung des »Behemoth oder Das Lange Parlament«. Mit einer Einführung von Ferdinand Tönnies. Darmstadt 1970. (Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1927) (Sigle: B) – Nach Ijob, 40,19 wird Behemoth – wie auch sein Gegenstück Leviathan (siehe: Ijob, 3,8; 40,25; Psa, 74,14; Jes, 27,1) – »als erstes der Werke Gottes« geschaffen. Dieser habe ihm auch »sein Schwert« gegeben. Eine ausführliche Beschreibung findet sich in Ijob, 40,15 – 24, der einzigen expliziten biblischen Erwähnung des Ungeheuers. Seine Macht und Stärke dienen dort als Sinnbild für die Vergeblichkeit von Hiobs Aufbegehren gegen sein Schicksal. Auch in den Apokryphen, hier dem 1948 in den Höhlen Qumrans fast vollständig erhalten gefundenen äthiopischen Buch Henoch, wird Behemoth erwähnt. – Siehe: 1 Hen, 59,7 ff.; 60,7. – Siehe: Emil Kautzsch: Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. In Verbindung mit Georg Beer, Friedrich Blaß, Carl Clemen u.v.a. übersetzt und herausgegeben von Emil Kautzsch. Bd. 1: Die Apokryphen des AT. Bd. 2: Die Pseudepigraphen des AT. Tübingen/Freiburg i. Brsg./Leipzig 1900. – Siehe auch: Bernard Willms: Staatsräson und das Problem der politischen Definition. Bemerkungen zum Nominalismus in Hobbes’ »Behemoth«. – In: Roman Schnur (Hg.): Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975. 275 – 300. 222 Auf Grund eines Druckverbots durch Charles II., Sohn Charles’ I., kann die Schrift erst nach dem Tod des Autors, nämlich 1682, erscheinen. Den Text erheblich entstellende Raubdrucke erscheinen allerdings schon ab 1679. 223 Siehe: Thomas Hobbes: B 102. 219
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nigreich sei mit sich selbst uneins geworden, d. h. im Volk (Hobbes kann noch nicht Nation sagen) habe sich die fatale Meinung gebildet, die souveräne Gewalt dividiere224 sich in monarchische und parlamentarische – was die Aufstellung feindlicher Armeen zur Folge gehabt habe, die sodann einen sowohl politischen als auch Fragen der Religionsfreiheit betreffenden Konflikt ausgetragen hätten225 –, handelt es sich beim Behemoth vordergründig um eine historische Darstellung besagten ersten Civil War. Eingedenk der Schrecken dieses für Hobbes aus der Ferne226 wahrgenommenen zeitgeschichtlichen Ereignisses bietet das Werk jedoch in Wahrheit eine exemplarische Analyse der Naturzustandslehre, deren Grundthemen Willkür, Gesetzlosigkeit und Chaos ausmachen: Menschen seien untereinander aggressiv, führten einen »bellum omnium contra omnes«227 und lebten so in ständiger Furcht228 vor Tod und Enteignung; hier, so Hobbes, könne »nichts ungerecht sein«.229 Symbolisch dafür steht Behemoth, das in jüdischer Mythologie als Flußpferd oder Elefant vorgestellte Land-Ungeheuer, vor dessen Stärke der Mensch nur kapitulieren könne. Das vielerorts anzutreffende – und beinahe schon zum Gemeinplatz avancierte – Diktum, Hobbes’ Thesen zum sog. Naturzustand basierten auf einer so ahistorischen wie rein-rationalen Projektion, steht so zur Disposition. Sonach diene das Folgende zur Stützung der These, Hobbes gehe nicht nur von
Zur prinzipiellen Unteilbarkeit der höchsten Staatsgewalt siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 6, 20; II, Kap. 7, 16; II, Kap. 12, 5. – Diese These ist zu unterscheiden von Hobbes’ Argumenten gegen die Mischverfassung; hierzu später mehr. 225 Siehe: Thomas Hobbes: L 154. 226 Vom »Berge der Versuchung aus« (eine Metapher für das sündige Paris?), wie Hobbes rückblickend schreibt. – Siehe: Thomas Hobbes: B 103. 227 Diese wohl bekannteste Sequenz, mit der nicht selten Hobbes’ Philosophie im ganzen identifiziert wird, sei hier im Original angeführt: »Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that Condition which is called Warre; and such warre, as is of every man, against every man. […] In such a condition there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of the Earth; no Navigation, nor use of the commodities that may be imported by Sea; no commodious Building; no Instruments of moving, and removing as require much force; no Knowledge of the face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters; no Society, and which is worst of all, continuall feare, and danger of violent death; And the life of Man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.« – In: Thomas Hobbes: Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth […]. By Thomas Hobbes. London: A. Crooke, 1651. Part. 1. Chapter XIII: »Of the Natural Condition of Mankind as Concerning Their Felicity and Misery.« – Siehe auch: ders.: De Cive. Vorwort an die Leser. 69. (Im Lateinischen der editio princeps: »Ostendo primo conditionem hominum extra societatem civilem [quam conditionem appellare liceat statum naturae] aliam non esse quam bellum omnium contra omnes; atque in eo bello jus esse omnibus in omnia.« – Siehe: Praefatio. Sectio 14.) 228 Aus Furcht geschlossene Verträge seien lediglich im Naturzustand bindend. – Siehe: Thomas Hobbes: L 116. – Hier entsteht allerdings das logische Problem, wie – sei im Naturzustand ein Leben in Furcht doch unausweichlich – der Staatsvertrag überhaupt friedvoll aufgesetzt werden könne. Da auch die Religion ein Klima der Furcht bereite, sei es für die Menschen umso dringlicher, die Sicherheit des Gemeinwesens zu anstreben. 229 Siehe: Thomas Hobbes: L 106. 224
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dem historischen Faktum von Vergesellschaftung,230 sondern mehr noch von der (natur-)logischen Notwendigkeit des (freilich günstigstenfalls nach monarchischen Prinzipien verfaßten) Staates231 aus und verfolge mit der Projektion resp. Konstruktion des durch postfeudale Verhältnisse charakterisierten Naturzustands ein ideenpolitisches Kalkül: nämlich die sozialphilosophische Erklärung der prinzipiellen Illegitimität eines Aufbegehrens gegen den Machtanspruch der höchsten Herrschergewalt.232 Das Generalthema der politischen Philosophie Hobbes’ besteht sonach darin, politisch überzeugende Motive für das Erfordernis zur Statuierung des Gemeinwesens (»Common-wealth«) zu kommunizieren. Indes verdanke sich ein solcher Staat einer sozialhistorischen Entwicklung, die Hobbes selber (wie auch Spinoza233) zutiefst beargwöhnt: nämlich der bürgerlichen Revolution, des »gegenwärtigen Unglück[s]« seines »Vaterlandes«.234 Hobbes’ Idee eines »Common-wealth« verdankt sich, wie sich bald zeigen wird, der zweiten und entscheidenden Phase des ersten Civil War: Oliver Cromwells (1599 – 1658) letztendlichem Sieg über die Schotten bei Preston 1648. Im Behemoth erörtert Hobbes die wichtigsten politischen Ereignisse dieser Zeit; insofern darf das folgende Kapitel sie nicht einfach rekapitulieren, sondern muß versuchen, ein neues Licht auf Hobbes’ ›Sitz im Leben‹ zu werfen, betrifft es doch »keinesfalls nur die Andeutung von geschichtlichem ›Hintergrund‹: Die Probleme des Bürgerkrieges sind die Probleme von Thomas Hobbes’ Philosophie.«235 Oder wie Hermann Klenner sagt: Hobbes’ »geschlossene, auf hunderten definierter Grundbegriffe beruhende Gesellschaftskonzeption versteht sich […] als rationeller Gegenentwurf zur Bellum-omnium-contra-omnes-Wirklichkeit seines Land[s] und seiner Zeit, und zwar als ein Entwurf, der mit den grundlegend glei-
Siehe: Thomas Hobbes: C I, Kap. 1, 1, FN. »Ich will nicht geltend machen, daß schon das Weltall von einem Gott regiert wird; daß die Alten den monarchischen Staat allen andern vorgezogen haben, indem sie die Herrschaft über die Götter dem einen Jupiter zuteilten; daß im Beginn der Dinge und Völker der Wille der Fürsten als Gesetz gegolten hat; daß die väterliche Herrschaft, die von Gott bei der Schöpfung eingesetzt worden ist, eine monarchische ist; daß die andern Staatsformen aus den Trümmern der durch Aufstände aufgelösten Monarchie von den Menschen später künstlich zusammengefügt worden sind; und daß das Volk Gottes unter Königen gestanden hat: denn wenn diese Umstände auch die Monarchie empfehlen, so wollen wir doch von ihnen absehen, da es nur durch Beispiele und Zeugnisse, aber nicht durch Vernunftgründe geschieht.« – Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 10, 3. 232 Diesen Weg geht auch: Daniel Eggers: Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes. Eine vergleichende Analyse von The Elements of Law, De Cive und den englischen und lateinischen Fassungen des Leviathan. Berlin/New York 2008. 27 ff. (Quellen und Studien zur Philosophie. Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante. Band 84) 233 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVIII, 213 f. – Siehe auch: Stanislaus von Dunin Borkowski S. J.: Spinoza. A.a.O. Band III. 28 – 30. 234 Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 74. 235 Siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 91; siehe auch: 113. 230
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chen Interessen aller Individuen übereinzustimmen beansprucht.«236 Noch in einer seiner letzten Schriften: A Dialogue between a Philosopher and a Student of the Common Laws of England, arbeitet Hobbes nochmals die Geschichte des Civil War auf. Das Werk entsteht vermutlich 1666, wird aber erst 1681 publiziert. Formalgeschichtlich bedeutet der Dialogue einen Rückgriff auf die humanistische Darstellungstechnik. Allgemeines Thema der Schrift ist die Häresie, wobei Hobbes im Speziellen den Nachweis zu erbringen sucht, die Bestrafung von Häretikern sei nach den Quellen englischen Rechts nicht möglich.237 Mit seiner Warnung, die Religion dürfe keinen Staat im Staat bilden, handelt sich Hobbes insbesondere die Feindschaft der Geistlichkeit – und zwar sowohl der katholischen als auch der anglikanischen – ein. Darüber hinaus wird wegen Hobbes’ angeblicher Gottlosigkeit eine Anklageschrift im Parlament eingereicht, gegen die er sich mit An Historical narration concerning heresy … verteidigt. Auch Behemoth setzt ein mit einem historischen Abriß der Ketzerverfolgungen. So ist es eine traurige Ironie der Geschichte, daß die Oxforder Universität De Cive und den Leviathan selbst noch nach Hobbes’ Tod dem Feuer übergibt. Die Hauptursachen für die sozialen Unruhen der Zeit Hobbes’ sind indes in religiös motivierten Zerwürfnissen zu sehen. 1.3 Zur Bedeutung des Civil War und seiner Vorgeschichte für Hobbes’ politische Philosophie 1.3.1 Zur machtpolitischen Einordnung des Konflikts zwischen King Charles I. und dem Parlament Hobbes verfaßt The Elements of Law offensichtlich in großer Eile unter dem Eindruck des Jahres 1640, als das Parlament dem angestammten Souverän Charles I. die Exekutivfunktion erstmals abspricht. Indes liegt die Vorgeschichte der Elements of Law in den – freilich bis heute kontrovers diskutierten238 – Gründen für den späteren Ausbruch des Civil War (1642 – 1649), der – so der Allgemeinplatz – zwischen King Charles I. und seinen Anhängern (Cavaliers) auf der einen und puritanischen Parlamentariern (den kurzgeschorenen Round Heads) auf der anderen Seite ausgetragen wird. Allerdings steht die Mehrheit des Oberhauses und etwa ein DritSiehe: Hermann Klenner: Des Thomas Hobbes bellum omnium contra omnes. Berlin 1989. 4. (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Gesellschaftswissenschaften. Jahrgang 1989. Nr. 6 G) 237 Siehe: Thomas Hobbes: An Historical narration concerning heresy, and the punishment thereof. (1668) Stanford, CA. 1954. 238 Siehe z. B.: Ann Hughes: The Causes of the English Civil War. New York 1991; 21998. – Zudem: Roger Charles Richardson: The debate on the English Revolution. 3. ed. Manchester [u.a.] 1998. – Sowie: Lawrence Stone: The causes of the English Revolution. 1529 – 1642. London/Henley 1972. 236
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tel des Unterhauses auf seiten des Königs – weshalb es nicht zutrifft, den Civil War als einseitigen Konflikt zwischen König und Parlament zu begreifen, zumal die Ursachen für dieses bürgerliche Aufbegehren zunächst einmal in sozialen, wirtschaftlichen, verfassungsrechtlichen bzw. nicht zuletzt auch in religiösen Entwicklungen des vorherigen Jahrhunderts zu suchen sind. Unter King Charles I. betrifft der Konflikt allerdings vorwiegend politische sowie religiöse Fragen, nämlich einerseits das Problem der Oberhoheit im englischen Staat – also die Befugnisse von König und Parlament – und andererseits die Frage, ob die amtierende Kirchenverfassung einer presbyterianischen oder anglikanischen Ausrichtung der Bischofskirche stattgibt.239 Hobbes teilt die Ansichten vieler Zeitgenossen nicht, wenn er später schreibt, Charles »war ein Mann, dem es an keiner Tugend, weder des Körpers noch des Geistes, gebrach, der nichts mehr anstrebte, als seine Pflichten gegen Gott zu erfüllen, indem er seine Untertanen gut regierte.«240 1.3.2 Thron und Altar im England der frühen Neuzeit Doch angekündigt worden ist eine Aufhellung der Entstehungsgründe des Civil War – und damit desjenigen Ereignisses, welches auf Hobbes in persönlicher und philosophischer Hinsicht einen kaum zu überschätzenden Einfluß ausübt, sieht er sich doch 1640 zum einen gezwungen, in das französische Exil zu gehen, und zum anderen, in seinen nachfolgend verfaßten staatsphilosophischen Schriften v. a. die politischen und religiösen Folgen besagten Umsturzes philosophisch zu verarbeiten, d. h. die entstandenen Probleme einer für die Praxis tauglichen Lösung zuzuführen. Als sich King Henry VIII. (1491 – 1547) mit dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche überwirft (des Königs persönliche Gründe tun hier nichts zur Sache), erklärt er sich daraufhin zum obersten Kirchenherrn. So wird 1534 das Suprematsgesetz erlassen, das mit Gründung der anglikanischen Staatskirche die Trennung Englands von der katholischen Kirche besiegelt.241 Nachdem Henrys Tochter Maria Tudor I. (1516 – 1558), Königin von England und Irland, mit dem Versuch einer Rekatholisierung des Landes scheitert (»Bloody Mary« läßt beinahe dreihundert Protestanten hinrichten), macht ihre Nachfolgerin, ihre protestantische Halbschwester Königin Elisabeth I. (1533 – 1603), diese religionspolitische »Die presbyterianischen Schotten empörten sich über eine neue Gottesdienstordnung, die […] Karl I. für das ganze Land verbindlich machen wollte. Presbyterianismus bedeutete vor allem geistliche Selbstverwaltung der Gemeinden, und das heißt die Ablehnung der Autorität der Bischöfe. Der Anglikanismus des Königs war jedoch zentralistisch. Er kämpfte um Stärkung und Erhaltung einer engen Verbindung von Thron und Altar, von König und Bischöfen.« – Siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 41 f. 240 Siehe: Thomas Hobbes: B 103. 241 Auch Hobbes weiß um dieses historische Ereignis, erwähnt es jedoch nur beiläufig. – Siehe: Thomas Hobbes: L 101. 239
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Maßnahme wieder rückgängig, indem sie die Restitution der anglikanischen Staatskirche absegnet (Suprematsgesetz des Jahres 1559).242 Da sich deren Lehre in den Augen vieler Engländer jedoch kaum vom Katholizismus unterscheidet, erfreuen sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts radikale calvinistische Puritaner eines verstärkten Zulaufs. Hobbes’ De Cive bemerkt zu Tendenzen dieser Art, »daß keine Kriege heftiger geführt werden als die zwischen den verschiedenen Sekten einer Religion und zwischen den verschiedenen Parteien eines Staates, wo nur über Glaubenssätze oder Fragen politischer Klugheit gestritten wird.«243 Besagte staatsreligiöse Irritationen stehen jedoch zu keiner Zeit der Wiederbelebung der brachliegenden Wirtschaft unter Elisabeth im Wege.244 1.3.3 England unter Jabob I. 1567 fällt die englische Krone durch Erbschaft245 nach der Ermordung seines Vaters Henry Stewart (Herzog von Albany, seit 1565 König von Schottland, besser bekannt als Lord Darnley [1545 – 1567]) und der erzwungenen Abdankung seiner Mutter Maria Stuart ein Jahr nach seiner Geburt246 an König Jakob VI. von Auf die Reinheitsverdikte angesichts konfessionsabweichlerischer Tendenzen sowohl unter King Henry VIII. als auch Elisabeth nimmt Hobbes Bezug (»Exorzismus«). – Siehe: Thomas Hobbes: L 588. – Eingedenk der divergierenden Religionspolitik der Stuarts und Tudors scheint hier Hobbes’ universelles religionspolitisches Problembewußtsein auf. – Siehe z. B. auch: Ibid. 54. 243 Siehe: Thomas Hobbes: C I, Kap. 1, 5. 244 1568 wird die schottische Katholikin Maria Stuart (Maria I. von Schottland, 1542 – 1587) wegen der Ermordung ihres Gatten aus dem Land vertrieben, flieht nach England und hofft auf den Schutz Elisabeths. Diese indes nimmt sie gefangen – erhebt Maria doch ihrerseits Anspruch auf den englischen Thron – und läßt sie internieren. Unter politischen Druck gerät Elisabeth, als der erzkatholische Philipp II. von Spanien (1527 – 1598) einen Angriff auf England, den er durch die Enthauptung (1587) Marias gerechtfertigt sieht, vorbereitet. Aber unter der Führung von Charles Howard von Effingham, 1. Earl of Nottingham, seit 1585 Lord High Admiral (1536 – 1624), und dem Freibeuter, Entdecker und Vizeadmiral Sir Francis Drake (um 1540 – 1596) erringt die englische Flotte im August 1588 (am 5. April wird Hobbes geboren) einen triumphalen Sieg über die übermächtige Spanische Armada. Effingham ist 1586 auch am Prozeß gegen Maria Stuart beteiligt. 1587 steigt er zum Commander-in-Chief der englischen Flotte auf, obwohl er nicht direkt am Kampf gegen die Spanische Armada beteiligt ist. England steigt nun zur Seemacht auf. Seit 1558 regiert Elisabeth als englische und irische Königin. Als sie kinderlos stirbt (wodurch sie zur »jungfräulichen Königin« verklärt wird), endet die »goldene Zeit« der elisabethanischen Epoche. In Elisabeths Zeit entstehen die Werke William Shakespeares (1564 – 1616), begründet Francis Bacon die moderne Wissenschaft; mit Francis Drake umsegelt erstmals ein Engländer die Welt; die erste englische Kolonie wird gegründet und zu Elisabeths Ehren »Virginia« benannt. Ihre Regentschaft erstreckt sich über 45 Jahre– damit hält sie das Zepter länger als King Henry VIII. in Händen. 245 Die Übertragung des Majestätstitels gemäß Erbfolge separiert den Monarchen vom parlamentarischen Repräsentationalismus. – Siehe: Thomas Hobbes: L 158. 246 Es sei »eine Mißlichkeit bei der Monarchie, daß die Souveränität auf ein Kind vererbt werden kann […].« – Thomas Hobbes: L 160. – Hobbes erörtert auch das Problem der Vormundschaft über minderjährige Thronfolger. – Siehe: Ibid. 161. – So ist Strauss zu widersprechen, der 242
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Schottland (englisch James, 1566 – 1625). Als Jakob I. vereint er in Personalunion 1603 die Kronen Englands und Schottlands – eine höchst weise Tat, so Hobbes247 – und bezeichnet sich seit 1604 als König Großbritanniens. Anders als seine katholische Mutter, die von Elisabeth als angebliche Verschwörerin hingerichtet wird (trotz Jakobs nominellen Protests gegen diese Exekution), agiert Jakob als ein stark vom schottischen Calvinismus geprägter Protestant. Zugleich zählt er zu den überzeugten Anhängern der Idee des Divine Right of Kings, solitär zu herrschen.248 Diese Überzeugung führt das Stuart-Königtum von Beginn an in einen Konflikt mit dem englischen Regierungssystem, das bereits seit rund 300 Jahren eine begrenzte Mitwirkung des Parlaments an den Staatsgeschäften gestattet. Jakob dagegen stützt sich auf die anglikanische Staatskirche, deren Bischöfe mehrheitlich ebenfalls zum Gottesgnadentum der Könige stehen. Zugleich versagen sie der puritanischen Lehre, die dem König das Recht abspricht, seine Untertanen in Gewissensfragen249 einem Zwang auszusetzen, die Unterstützung. Als die anglikanische Bischofskonferenz 1604 sowohl den katholischen als auch den puritanischen Glauben verbietet, verschärfen sich die religiösen Spannungen in England: Für den 5. November 1605 planen katholische Edelleute um den englischen Offizier und katholischen Konvertiten Guy Fawkes (1570 – 1606) Jakobs Ermordung (Gun Powder Plot250) – und damit nach Hobbes eine »despotische Herrschaft«.251 Der Anschlag wird nur durch einen Zufall vereitelt und führt für kurze Hobbes »auf allen Stufen seiner Entwicklung die absolute erbliche Monarchie als die beste Staatsform« preisen sieht. – Siehe: Leo Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft. A.a.O. 1965. 64. 247 Siehe: Thomas Hobbes: L 167. 248 Hobbes unterscheidet das Theonomie-Prinzip des himmlischen Königreichs Gottes, in dem »Politik und staatliche Gesetze ein Teil der Religion« bilden (d. h. weltliche und geistliche Herrschaft nicht unterschieden werden), von der Religionspolitik des alten Rom, die jedwede heidnische Religion zu tolerieren bereit gewesen sei; eine Ausnahme bedeuteten die Juden (als auserwähltes Volk Gottes), insofern sie »es für ungesetzlich hielten, die Unterwerfung unter irgendeinen König oder Staat von Sterblichen anzuerkennen«. Dieses in der Heiligen Schrift als »Reich der Herrlichkeit« oder Gnade bezeichnete Königreich gelte Theologen jedoch nicht als Monarchie, in der Gottes souveräne Macht über seine Untertanen durch deren eigene Zustimmung verliehen werde. Hobbes widerspricht dieser metaphorischen Exegese mit dem Hinweis auf Kanaan. – Siehe: Thomas Hobbes: L 97 f.; bes. 344 – 352. – Siehe: Gen 17,7 f. – Spinoza bemerkt rücksichtlich der hebräischen Theokratie, »daß es dem Reiche Gottes nicht widerstreitet, eine höchste Majestät zu wählen, die das höchste Recht der Regierung innehat hat.« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVIII, 208. 249 Diese episkopale Forderung wäre auch durch Hobbes’ Leviathan nicht abgedeckt: Naturgesetze verpflichteten stets vor dem Gewissen (in foro interno), in der Praxis (in foro externo) jedoch nur, wenn Sicherheit gewährleistet sei. – Siehe: Thomas Hobbes: L 132. – Siehe auch die Kapitel 2.2, 2.6.2 und 3.2 – 3.4 dieses 2. Abschnitts. 250 Zu Hobbes’ Bewertung vgl. B 120. 251 Siehe: Thomas Hobbes: L 171 ff. – »[…] wenn jemand, der versucht, seinen Souverän abzusetzen, von ihm für solchen Versuch getötet oder bestraft wird, ist er der Urheber seiner eigenen Strafe, da er durch die Einsetzung Urheber alles dessen ist, was sein Souverän tun wird.« – Siehe: Ibid. 147; 149 f. – Siehe auch: ders.: C Vorwort an die Leser, 65 f.; siehe ebenso: Ibid. 14,22 (das Delikt der Majestätsverletzung begingen Staatsfeinde, die nach dem Kriegsrecht, also auf natur-
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Zeit zu einer Annäherung zwischen König und Parlament; langfristig erweisen sich jedoch Jakobs absolutistische Tendenzen als machtvoller. Gleichwohl bleibt die Stigmatisierung des Katholizismus bestehen – und damit gleichermaßen seine politische Bedeutungslosigkeit. Jakobs theokratische252 Politik legitimiert den Kauf von Titeln,253 was die Schwächung des niederen Adels zum Ziel hat. Auch die friedliche Haltung Jakobs gegenüber Spanien läßt sein Ansehen weiter sinken.254 Schon formiert sich eine parlamentarische Opposition gegen den König, die sich v. a. aus Angehörigen der breiten Schicht des mittleren Landadels (Gentry) und des Bürgertums zusammensetzt und auf die Wahrung der parlamentarischen Rechte pocht. Als folgenschwer erweist sich zudem die massive Migration englischer und schottischer Siedler in das irische Ulster. Obwohl Irland seit dem späten 12. Jahrhundert unter englischer Oberhoheit steht und seit 1542 offiziell der englischen Krone unterstellt ist, hält sich dort der katholische Glaube. Ein 1602 niedergeschlagener irischer Aufstand zeigt, daß auch in diesem Teil des englischen Machtbereichs ein großes Konfliktpotential herrscht. 1.3.4 Zur Einberufung des Court of Star Chamber unter Charles I. Als Jakob 1625 stirbt, tritt sein zweitältester Sohn als Charles I. die Erbfolge des englisch-schottischen Throns an. Charles’ noch im selben Jahr erfolgte Vermählung mit Henrietta-Marie de Bourbon (1609 – 1669) bringt ihn insbesondere bei den Puritanern in Mißkredit, handelt es sich bei ihr doch um die katholische rechtlicher Grundlage, zu bestrafen seien). – Fawkes Plan ist ungeheuerlich: Am Tage der Parlamentseröffnung im House of Lords sollen Jakob und seine Familie, sämtliche Parlamentsmitglieder sowie Bischöfe des Landes und auch der Großteil des Hochadels getötet werden; anschließend sollen politische Gefangene aus dem Londoner Tower befreit werden. Die Gründe für dieses geplante Attentat dürften in der Verfolgung liegen, der sich Fawkes und seine Mitverschwörer als Angehörige der katholischen Minderheit ausgesetzt sehen, nimmt sich doch die Politik der englischen Regierung zu dieser Zeit weitgehend antikatholisch aus. – Man sieht: Die Debatten um einen politisch motivierten Terrorismus, der auf Sprengstoffattentate setzt, steht in einer Tradition, die bis in das 17. Jahrhundert reicht. 252 »Einen Vertrag mit Gott zu schließen ist unmöglich, es sei denn durch Vermittlung derer, zu denen Gott entweder durch übernatürliche Offenbarung spricht, oder durch seine Stellvertreter, die unter ihm und in seinem Namen regieren; denn sonst wissen wir nicht, ob unsere Verträge akzeptiert werden oder nicht.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 115. 253 D.h. der zweckdienliche Einsatz einer »mitwirkenden Macht« (hier: Reichtum) befördert ihre Transformation in eine »natürliche Macht« (hier: adlige Abkunft). – Siehe: Thomas Hobbes: L 69. – Zu den politischen Motiven, der Machtausübung unzuträgliche Ehrentitel zu verleihen, siehe: Ibid. 79. – Aus Hobbes’ unmittelbarer Umgebung sei mit Baron William Cavendish (1552 – 1626), von dem noch die Rede sein wird, ein Beispiel für einen Titelkauf genannt: Für den Titel eines Earl of Devonshire (und damit eines »Peer of England«) entrichtet er 10.000 Pfund an den stets in Geldnöten befindlichen König. 254 Zu den Gründen siehe das nachfolgende Kapitel.
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Tochter des französischen Königs Henri IV.255 Stärker als sein Vater noch ist Charles von der Legitimität göttlicher Königsrechte überzeugt und strebt eine Aussöhnung mit der Kirche Roms an, obgleich der Katholizismus rund ein Jahrhundert zuvor auf Bestreben King Henrys VIII. vom Anglikanismus verdrängt worden ist. Im Zuge seiner Restaurationspolitik setzt sich Charles wiederholt über das Parlament hinweg, indem er ohne dessen Zustimmung Steuern erhebt – ein Umstand, den Hobbes offensichtlich nicht zur Kenntnis zu nehmen gewillt ist.256 Charles’ absolutistischer Herrschaftsstil provoziert den energischen Widerstand des Parlaments, in dem zahlreiche Puritaner vertreten sind. 1628 wird Cromwell in das Unterhaus des Parlaments gewählt, ein glühender Puritaner der radikalen Strömung der Independents, »die freie und voneinander unabhängige Gemeinden haben wollten.«257 Er gehört der Gentry an. Im selben Jahr legt das Parlament dem König die Petition of Right vor, die Charles unter finanziellem Druck durchwinkt. 1629 ordnet Charles die Auflösung des Parlaments an. Die Petition of Right fordert u.a den Schutz vor willkürlichen Verhaftungen sowie den Verzicht des Königs auf Steuererhebungen. Letztere Forderung erklärt sich aus Charles’ Regierungszeit vor Einberufung des Short Parliament 1640, als er die legitimen Rechte des Parlaments zwar nicht antastet – insofern trifft der Vorwurf der Tyrannei nicht wirklich –, aber doch versucht, seine Amtsgeschäfte so auszuführen, daß sie der Zustimmung des Parlaments, namentlich bei der Erhebung neuer Steuern, nicht mehr bedürfen. Charles regiert bis 1640 de facto als absolutistischer Herrscher, d. h. ohne parlamentarische Volksvertretung. Es ist v. a. auch die Beteiligung Englands am Dreißigjährigen Krieg (der freilich nicht auf die Insel übergreift), welche den Haushalt der Krone stark belastet,258 so daß sich Charles’ zu einer rigorosen Steuerpolitik gezwungen sieht. Als weltliche Gerichtsbarkeit zur Verfolgung seiner politischen und religiösen Gegner – oftmals Puritaner259 – dient Charles zwischen 1629 und 1640 anstelle des von ihm aufgelösten Parlaments der Court of Star Chamber (Camera stellata).260 Das englische Volk deutet die Schließung dieser Ehe als außenpolitische Bedrohung, gründet doch die Ablehnung des Katholizismus (»popery«) nicht zuletzt in der Furcht vor der katholischen Großmacht Spanien. 256 Siehe: Thomas Hobbes: B 103. 257 Siehe: Thomas Hobbes: B 104. 258 Hobbes stellt klar, mit der Souveränität sei »das Recht verknüpft, mit anderen Nationen und Gemeinwesen Krieg zu führen und Frieden zu schließen, das heißt zu entscheiden, wann es dem öffentlichen Wohl dient und wie große Streitkräfte zu diesem Zweck zusammengezogen, bewaffnet und besoldet werden müssen, und von den Untertanen Geld zu erheben, um die Kosten dafür zu decken.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 152; siehe auch: ders.: C II, Kap. 12, 5. 259 Nicht wenige schiffen sich in die Neue Welt ein und werden als Pilgerväter bekannt. 260 Ein klerikales Gericht übernimmt die kirchliche Rechtsprechung; absolutistische Willkür bildet dabei keine Ausnahme. – Den englischen Gerichtshof Court of Star Chamber setzt bereits King Eduard II. (1284 – 1327) ein. Seine erste Erwähnung findet sich 1398 als »Sterred chambre«. – Siehe: Art. »Star-chamber, starred chamber«. – In: Oxford English Dictionary. Second Edition. Oxford 1989. (www.oed.com) – Der Gerichtsname rührt von einem Raum, der als Treffpunkt der Curia Regis (Versammlung von Kronvasallen und Klerikern, die den König bei 255
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Dabei stützt er sich auf Berater wie Thomas Wentworth (1593 – 1641), des späteren Earl of Strafford (der ein straffes Verwaltungssystem etabliert), und den Erzbischof von Canterbury, William Laud (1573 – 1645), der die anglikanische wieder der katholischen Kirche anzunähern sucht. De facto erfüllt dieses Gericht die Funktion eines Obersten Gerichtshofs, etwa wenn ein prominenter Angeklagter so viel Macht besitzt, daß ein Schuldspruch untergeordneter Gerichte wenig wahrscheinlich ist.261 Zusätzlich kommen Fälle vor das Gericht, die durch das Common Law nicht abgedeckt sind (Recht der Equity [»æquitas«,262 Billigkeit]), d. h. keine Rechtsverletzung im strengen Sinne darstellen.263 Dies ermöglicht dem Court of Star Chamber allerdings auch, willkürlich zu entscheiden, was z. B. Heinrich VII. von England (1457 – 1509) als Mittel zur Kontrolle des Hochadels nach den Wars of the Roses (des mit Unterbrechungen von 1455 bis 1485 geführten Bürgerkriegs der Tudors um die englische Thronherrschaft) nutzt. 1641 schließlich schafft das gesetzgeberischen Fragen berät) dient und dessen Decke – so die Legende – vergoldete Sterne dekorieren. Urteile des Court of Star Chamber sind unanfechtbar, die Verhandlungen geheim. Mitglieder des Star Chamber sind königliche Räte (Mitglieder im königlichen Beratungsgremium His Majesty’s Most Honourable Privy Council, kurz: Privy Council) sowie Richter. An das Common Law (das keine Gesetze umfaßt, sondern ein auf maßgeblichen richterlichen Urteilen der Vergangenheit [»precedents«, also Präzedenzfälle] basierendes und entsprechend ausdifferenziertes Recht ist) ist der Court of Star Chamber nicht gebunden, da er seine Befugnisse direkt aus der uneingeschränkten Macht des Königs bezieht. Hobbes spricht sich ausdrücklich gegen die Dokumentation von Präzedenzfällen für die Urteilsfindung aus. – Siehe: Thomas Hobbes: B 105. – Hobbes spricht sich im Kontext seiner Kritik am Gewohnheitsrecht gegen die Rechtssprechungspraxis der Sternenkammer aus, die sich grundsätzlich von der kontinentaleuropäischen unterscheidet: »Unkenntnis der Ursachen und der ursprünglichen Beschaffenheit von Recht […] veranlaßt einen Menschen, Gewohnheit und Beispiel zur Richtigkeit seiner Handlungen zu machen«; es werde als ungerecht angesehen, »was gewohnheitsmäßig bestraft worden ist, und als gerecht das, für dessen Straflosigkeit und Billigung sich ein Beispiel oder (wie es die Juristen, die nur dieses falsche Maß anlegen, barbarischerweise nennen) ein Präzedenzfall anführen läßt […].« – Siehe: Thomas Hobbes: L 86. 261 Hobbes gibt zu bedenken, »Anklagen erfordert weniger Beredsamkeit als Rechtfertigen (so ist die menschliche Natur); und Verurteilung hat mehr den Anschein von Gerechtigkeit als Freispruch.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 160. 262 Auch Spinoza fordert, Streitigkeiten mögen »ohne Ansehen der Person« (»nullum respectum personam«) geschlichtet werden. – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 182; siehe auch: Ibid. XIX, 215 f. 263 Bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts entsteht infolge der Unflexibilität der Common Law Courts (d. h. eines streng formalisierten Prozeßverlaufs auf Basis des »Systems der Writs«), die ihre Urteile kaum nach den Grundsätzen von »fairness and reasonableness« fällen, ein neuer Gerichtshof: der Court of Chancery, in dem vom König selbst eingesetzte Kanzler als Richter fungieren. Dieser urteilt hier ohne Writs, d. h. nur kraft königlicher Vollmacht, aber nach seinem ›Gefühl‹ für Billigkeit. – Solche rechtshistorischen Mitteilungen befördern die Interpretation des Leviathan, führt dieser doch unter den »anderen Naturgesetzen« als elftes die »Billigkeit« an, i. e. die Gleichheit vor dem Recht. So erschließt sich Hobbes’ liberale Haltung in der Rechtssprechungspraxis. – Siehe: Thomas Hobbes: L 130. – Siehe auch schon: ders.: C I, Kap. 3, 14 f.; I, Kap. 3, 24. – Ob hier allerdings tatsächlich zur Etablierung des Gleichheitsprinzips beigetragen wird, scheint eher fraglich: »Gleiches Gleichen zusprechen ist dasselbe, als jedem nach Verhältnis das Verhältnismäßige zuteilen.« – Siehe: Ibid. 3,14; siehe auch: 14,14.
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
Long Parliament den Court of Star Chamber ab. Die Exzesse der Sternkammer unter Charles belasten diesen auch im Prozeß, der ihn 1649 des Hochverrats schuldig spricht (»Tyrann, Verräter, Mörder, Volksfeind«) und zur Hinrichtung verurteilt.264 1.3.5 Short and Long Parliament Bereits die Titelei von Hobbes’ Behemoth, or the long parliament spricht Bände hinsichtlich der Frage, warum Charles keine andere Wahl bleibt, als zwei Parlamente einzuberufen. Die damit zusammenhängenden Probleme sollen im folgenden näher in Augenschein genommen werden. Wentworth, ehemaliger Abgeordneter des Unterhauses, wird 1632 zum Lord Deputy in Irland ernannt, wo es ihm gelingt, mit einer rigorosen, zugleich pro-katholischen Politik für religiöse Entspannung zu sorgen. 1637 erstrebt Erzbischof Laud die Durchsetzung des anglikanischen Glaubens im überwiegend presbyterianischen Schottland,265 was den heftigen Widerstand der Schotten zur Folge hat: Schottland reagiert mit einem Aufstand und bildet im Februar 1638 den religiös-politischen Bund National Covenant, um gemeinsam seine presbyterianische Kirche gegen einen anglikanischen Übergriff zu verteidigen. Eine schottische Armee wird aufgestellt, die sich im 1. und 2. Bishops’ War (1639/40) erfolgreich gegen die englischen Truppen zur Wehr setzt, 1640 die nördlichen Grafschaften Englands besetzt und den König zu Zugeständnissen in Kirchenfragen zwingt.266 Für Charles indes haben sich die Kriegskosten stark erhöht; der finanzielle Engpaß hat eine erfolgreiche militärische Verteidigung gegen die feindlichen Truppen aus dem Norden verhindert. Die Zurückbeorderung Wentworths aus Irland nach England (1639) mit dem Auftrag, gegen die Aufständischen vorzugehen, ist gescheitert. Klenner merkt zu Recht an, genau dies sei nach Hobbes’ Leviathan vertragswidrig: »Und daher können Untertanen eines Monarchen sich nicht ohne dessen Erlaubnis der Monarchie entledigen und zur Wirrnis einer ungeeinten Menge zurückkehren und auch nicht ihre Person von dem, der sie vertritt, auf einen anderen Menschen oder eine andere Versammlung von Menschen übertragen.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 147 incl. Anm. 265 Die presbyterianischen Schotten sehen sich im »Bund mit Gott« (»Covenant with God«), wenngleich sicherlich auch die große Mehrheit des englischen Volkes »der göttlichen Hilfe in ihrer Arbeit, ihrem Streben nicht entraten mochten […], während ein radikales Freidenkertum kaum sich hervorwagt und nur langsam durch fortschreitende Naturerkenntnis, später auch geschichtliche Erkenntnis, entwickeln wird.« – Siehe: Ferdinand Tönnies: Zur Einführung. – In: Julius Lips: Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution. A.a.O. 3. – Nicht selten wird der Versuch, Schottland die anglikanische Liturgie zu oktroyieren, als eigentlicher Auslöser des Civil War gewertet. 266 Hierbei geht es um Kontroversen über die Kirchenverfassung (Root and Branch Petition), also darum, ob die Episkopalkirche erhalten bleibt oder sämtliche Titel und Ränge abgeschafft werden sollen. – Die militante Ausrichtung dieser beispiellosen Erscheinung englischer Religionsgeschichte betont: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 93 f. – Hobbes’ Behemoth spart eine Erörterung der Gründe für das Eingreifen der Schotten in den zweiten Bürgerkrieg aus. 264
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So sieht sich Charles genötigt, dem Parlament entgegenzukommen – ein Erfordernis, das Hobbes später als Anfang vom Ende seiner Königsherrschaft deutet.267 Doch das Short Parliament tagt im Zeitraum von April bis Mai 1640 lediglich drei Wochen. Mit seiner Einberufung endet eine elfjährige Periode, in der Charles versucht hat, ohne Parlament zu regieren. Die sich in Schottland – eigentlich dem Stammland der Stuart-Herrscher – ereignenden presbyterianischen Aufstände haben derart drastische Beschränkungen der königlichen Finanzmittel verursacht, daß der König wieder den Versuch wagen muß, durch Parlamentsbeschluß die Erhöhung seiner Subsidien bewilligen zu lassen. Im April 1640 kommen die gewählten Abgeordneten in Westminster Abbey zusammen, sind aber nicht dazu zu bewegen, Charles’ Wünschen nach zügiger Aufstockung zu entsprechen. Vielmehr drängen die Abgeordneten des Unterhauses zunächst darauf, religionspolitische Fragen und auswärtige Angelegenheiten auf die Tagesordnung zu setzen – freilich konträr zu Charles’ politischem Selbstverständnis. Unter dem Eindruck, eine Verständigung sei unmöglich, löst Charles das Parlament bereits am 5. Mai 1640 wieder auf. Aber bereits am 3. November 1640 beruft er das (allerdings von Anfang an anti-royalistisch gestimmte) Long Parliament ein.268 Dieses wird, unter der Führung des Juristen John Pym (1584 – 1643), von Puritanern dominiert. Charles’ Vorhaben indes, der Volksvertretung die Zustimmung zu einer neuerlichen Steuererhöhung abzupressen, scheitert. Immerhin jedoch kann Charles diesmal eine militärische Aufrüstung ohne Schwierigkeiten durchsetzen; später wird Hobbes die Charles hierfür eingeräumten finanziellen Mittel allerdings als zu gering veranschlagen.269 Aber die puritanischen Abgeordneten sind sich Charles’ mißlicher Lage bewußt und verhalten sich insgesamt undiplomatisch, wollen sie doch den König zu Zugeständnissen zwingen. 1641 wird Charles aufgefordert, die Auflösbarkeit des Parlaments zu garantieren und das parlamentarische Prinzip no taxation without representation anzuerkennen. Zudem erweitern die puritanischen Parlamentarier die Liste ihrer Forderungen – und veranlassen in dieser Situation die Hinrichtung Thomas Wentworths wegen angeblichen Hochverrats.270 Charles läßt die ExekutiSiehe: Thomas Hobbes: B 105. Der Name rührt daher, daß das Long Parliament aus Sicht der Royalisten nie per Gesetzesbeschluß aufgelöst wird, vielmehr über 20 Jahre legal intakt bleibt (also über die gesamte Periode des Civil War und der Englischen Republik hinaus). Tatsächlich wird das Long Parliament 1660 noch einmal einberufen: um der Restauration der Monarchie unter Charles II. (»The Merry Monarch«) eine rechtliche Grundlage zu verleihen. 269 Siehe: Thomas Hobbes: B 103 f. 270 Noch in den Jahren 1640/41 bringt das Unterhaus Charles’ führende Minister vor dem Oberhaus zur Anklage. Auf Betreiben John Pyms führt das Unterhaus vornehmlich die Prozesse gegen William Laud und Charles’ führenden Minister, Thomas Wentworth. Pym steht gleichfalls hinter der Verabschiedung der Grand Remonstrance with the Petition accompanying im November 1641, einer Beschwerdeschrift gegen Charles’ Regierung, in der erstmals eine parlamentarische Kontrolle der Exekutive gefordert wird. Charles lehnt die Eingabe ab. Zudem fordern die Parlamentarier um Pym, der König habe spätestens nach drei Jahren das Parlament einzuberufen und 267
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on seines engsten Gefolgsmanns – in Königstreue von diesem selber angeboten – geschehen.271 Als er jedoch am 4. Januar 1642 versucht, den Führer der aufmüpfigen Abgeordneten, John Pym, und seine Getreuen verhaften zu lassen,272 kommt es zum Aufstand.273 Der König flieht aus London und rüstet zum Kampf. Das Parlament ruft eine eigene Regierung aus und wiegelt das Volk zum Ungehorsam gegen Charles auf. In dem Wissen, die Machtübernahme durch die Volksvertretung werde nicht kampflos verwirklicht, verbünden sich die Parlamentarier mit den Schotten und machen sich daran, eine eigene anti-royalistische Armee aufzustellen. 1642 bricht der Civil War aus. Eine nähere Kenntnis dessen Verlaufs erfordert die hier verfolgte Problemgeschichte nicht mehr. Bevor nun detaillierte Untersuchungen im Blick auf Hobbes’ politische Philosophie folgen, soll eine zusätzliche Perspektive eröffnet werden, indem Hobbes’ intellektuelle Bildungsgeschichte im Zusammenhang der chronologischen Entstehungsfolge einiger hier bislang noch ungenannter wissenschaftlicher bzw. künstlerischer Werke aufgerollt wird. Dies ermöglicht nicht zuletzt eine nähere Einordnung der objektiven Bedeutung seiner politologischen Hauptschriften. 1.4 Komparatistische Publikationsgeschichte Die Skizzierung der intellektuellen Biographie eines Philosophen hat sich nicht zuletzt an seiner Werkgeschichte zu orientieren. In den Jahren 1603 bis 1608 absolviert Hobbes in Oxford am College Magdalen Hall ein theologisch vom Puritanismus und philosophisch vom Aristotelismus274 (besonders Logik und Physik) geprägtes Universitätsstudium. Seine erste Arbeit – Hobbes ist vierzig Jahre alt – besteht in einer originellen Thukydides-Übersetzung.275 Bereits 1611 fertigt er eine dürfe Steuern nur noch mit dessen Zustimmung erheben. – Hobbes weiß um diese Zusammenhänge. – Siehe z. B.: Thomas Hobbes: B 102. 271 Neun Jahre später auf seinem eigenen Schafott bereut sie jedoch. – Siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 89 f. 272 Dies ist das erste und letzte Mal, daß ein englischer Monarch den Sitzungssaal des Unterhauses betritt. Daß Charles zudem in Begleitung einer bewaffneten Leibgarde aufläuft, wird als versuchter Staatsstreich gegen das Long Parliament verstanden. 273 Dieser Aufstand hat folgenden Hintergrund: In Irland befürchtet man nach der dem irischen Katholizismus gefälligen Politik Wentworths eine gewaltsame Anglikanisierung. Die Folge ist eine offene Rebellion (1641), die das Leben zahlreicher englischer und schottischer Siedler fordert. In parlamentarischen Kreisen hält sich hartnäckig das Gerücht, Charles sei in diese Vorfälle verwickelt. Dieser beabsichtigt jedoch, einen Feldzug gegen die rebellischen Iren anzustiften, wofür er aber im Parlament keine Mehrheit findet. Als Reaktion hierauf formiert sich aus gemäßigten Abgeordneten eine königstreue Partei. Im Januar 1642 ordnet Charles die Verhaftung mehrerer oppositioneller Parlamentarier an, zu denen John Pym, John Hampden und Arthur Haselrig (1601 – 1661) gehören; allesamt können sie jedoch unter Begleitschutz fliehen. 274 Siehe hierzu insbesondere: Leo Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft. A.a.O. 38 – 50. 275 Der Titel der Arbeit lautet: Eight Books of the Peloponnesian Warre Written by Thucydides … Interpreted. – Der Leser von Hobbes’ Elements bemerkt unschwer einen Duktus, der die rheto-
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autorisierte Bibelübersetzung ins Englische (King-James-Version)276 an und schreibt noch 1659 (lt. Tuck noch später) eine in 2.242 Versen gehaltene Historia ecclesiastica.277 Ab 1629, also bereits 41-jährig, studiert er die deduktiv und quasi-axiomatisch konzipierten Elemente (Stoicheia)278 des Eukleides von Alexandria (365 – 300 v. Chr.) und geht dazu über, sich mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Fragen zu beschäftigen. Hobbes’ Wertschätzung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Methodenideals leitet auch die Abfassung seines De Cive: »Die Geometer haben […] ihr Gebiet vortrefflich verwaltet; denn alles, was dem menschlichen Leben an Nutzen zufällt, sei es aus der Beobachtung der Gestirne oder der Beschreibung der Länder oder der Einteilung der Zeit oder weiten Seereisen, ebenso alles Schöne an den Gebäuden, alles Feste an den Schutzwehren, alles Wunderbare an den Maschinen, alles endlich, was die heutige Zeit von der Barbarei vergangener Jahrhunderte unterscheidet, ist beinahe nur der Geometrie zu verdanken; denn selbst das, was wir der Physik verdanken, verdankt diese erst der Geometrie.« Und dann verleiht Hobbes einem Wunsch, ja vielleicht sogar einer Hoffnung, mit deren Realisierung einige Jahre später Spinoza befaßt sein wird, einen freilich allzu optimistischen Ausdruck: »Wenn die Moralphilosophen ihre Aufgabe mit gleichem Geschick gelöst hätten, so wüßte ich nicht, was der menschliche Fleiß darüber hinaus noch zum Glück der Menschen in diesem Leben beitragen könnte.«279 Im weiteren Verlauf vorliegender Arbeit, wenn nämlich die Spinozanische Affektenlehre Thema wird, wird diese Parallele zu Spinoza deutlicher zu Tage treten. 1641 veröffentlicht Descartes seine Meditationes de prima Philosophia, deren Methodenideal sich auch für Hobbes als maßgeblich erweisen wird: »Denn man kann bei der Wissenschaft nicht wie bei einem Kreise den Anfang nach Belieben nehmen; in dem Dunkel des Zweifels selbst beginnt ein Faden der Vernunft, von rische und poetische Vergangenheit seines Autors verrät. Hobbes’ Interesse an Übersetzungen hält sich: Beinahe jede seiner späteren Schriften wird letztlich (mindestens) zweisprachig publiziert, und noch 1674, fünf Jahre vor seinem Tod, schließt er englische Übersetzungen der Ilias und der Odyssee ab. – Zur für Hobbes’ späteres Demokratieverständnis konstitutiven Bedeutung seiner Thukydides-Übersetzung siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. München 1987. 36 – 39. 276 Jakob I., König von England und Schottland, beauftragt die Anfertigung einer englischen Bibel-Übersetzung, die erstmals 1611 erscheint und nachhaltigen Einfluß auf die englische Literatur ausübt. Als King-James-Bibel ist sie unter englischsprachigen Christen bis heute in Gebrauch. 277 Zu Hobbes’ bereits in jungen Jahren ausgeprägtem Sprachtalent und seinen frühen Übersetzungsprojekten siehe: Richard Tuck: Hobbes. A.a.O. 13 f. 278 Zur Erläuterung des Titels siehe: Euklid: Die Elemente. Buch I–XIII. Nach Heibergs Text aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Clemens Thaer. 8., unveränderte Auflage Darmstadt 1991. 416. (Bibliothek klassischer Texte) – Siehe: Wolfgang Franz: Euklid aus der Sicht der mathematischen und naturwissenschaftlichen Welt der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1965 (Frankfurter Universitätsreden. Heft 38.); Peter Schreiber: Euklid. Unter Mitwirkung von Sonja Brentjes. Leipzig 1987 (Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner. Band. 87); Christoph J. Scriba/Peter Schreiber: 5000 Jahre Geometrie. Geschichte Kulturen Menschen. Mit 220 Abbildungen, davon 44 in Farbe. 2. Auflage Berlin/Heidelberg 2005. 49 – 61. 279 Siehe: Thomas Hobbes: C Widmung, 60 f.
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dem geführt man zu dem hellsten Licht hindurchdringt. Und hier ist der Ausgangspunkt der Lehre; von hier ist rückwärts das Licht zur Lösung der Zweifel herbeizubringen.«280 Zeitgleich verkehrt Hobbes in Paris im Kreis des Paters Marin Mersenne (1588 – 1648),281 den er dort bereits 1635 trifft, verfaßt Einwände (Objectiones tertiae ad Cartesii Meditationes) gegen Descartes und führt mit ihrem Autor eine Kontroverse über Probleme der Optik.282 1644 integriert Mersenne in seinen Schriften Ballistica et Acontismologia283 und Cogitata physico-mathematica Teile von Hobbes’ Untersuchungen zur Optik und Wahrnehmung. Wie Descartes agiert Hobbes als Antiaristoteliker, sprich in Gegnerschaft zu (christlich-)scholastischem Philosophieren284 – wenngleich er noch 1637, im Publikationsjahr des Discours Descartes’, das Ergebnis seiner mehrjährigen humanistischen Studien präsentiert, indem er eine Kurzfassung der Rhetorik des Aristoteles anonym herausgibt (A Briefe of the Art of Rhetorique). Hobbes’ persönliches Verhältnis zum Christentum erklärt sich ohne Frage aus dem wissenschaftlichen Funktionswert, welchem er diesem beimißt, wie bereits das »Vorwort an die Leser« in De Cive bezeugt: »Ich handle in dieser Schrift von den Pflichten der Menschen, zuerst als Menschen, dann als Bürger, dann als Christen. In diesen Pflichten sind sowohl die Elemente Siehe: Ibid. 62. Siehe: Holger Glinka: Marin Mersenne. – In: Stefan Jordan/Burkhard Mojsisch (Hgg.): Philosophenlexikon. Stuttgart 2009. 366 – 369. – Der wissenschaftliche Austausch mit dem Minimiten (Franziskanermönch) Mersenne ist für Hobbes auch insofern relevant, als dieser der einzige Korrespondenz-Partner des seit 1628 in Holland lebenden Descartes ist. In dessen zwischen 1629 und 1633 abgefaßter Schrift Le monde (siehe: René Descartes: Briefe. 1629 – 1650. A.a.O. Deventer, Ende November 1633. 63 ff.) optiert ihr Autor für die von Galilei in dessen Schrift Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (Firenze 1632; dt. 1891) vertretene Theorie der Erdrotation. Die Nachricht von Galileis Verurteilung durch das Heilige Römische Inquisitionstribunal (1633) läßt Descartes zunächst von einer Publikation seines Werkes absehen; weite Teile von Le monde finden später Eingang in seinen Discours de la méthode. – Siehe: Galileo Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische. Aus dem Italienischen übersetzt und erläutert von Emil Strauss. Mit einem Beitrag von Albert Einstein sowie einem Vorwort zur Neuausgabe und weiteren Erläuterungen von Stillman Drake. Herausgegeben von Roman Sexl und Karl Meyen. Darmstadt 1982. 282 Hobbes tritt als scharfer Kritiker Cartesianischer Optik auf. – Siehe: Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick. Hamburg 1959. VIII ff. – Es ist bekannt, »daß Hobbes während des Jahres 1634 mit zahlreichen befreundeten Adligen und Gelehrten aus dem intellektuellen Umfeld des in Welbeck ansässigen Zweigs der Familie Cavendish intensiv über Fragen der Optik und der Physik diskutierte.« – Siehe Richard Tuck: Hobbes. A.a.O. 29. – Es handelt sich hierbei um den späteren Earl of Devonshire, dem Hobbes 1646 seine Schrift De Cive widmet (vier Jahre nach deren erster Publikation). 1608 tritt Hobbes in den Dienst des Barons William Cavendish von Hardwick und wird Tutor seines Sohnes. Bei den Cavendishs begegnet er wichtigen Gelehrten seiner Zeit, wie etwa Francis Bacon oder dem britischen Soldaten, Diplomaten, Historiker, Dichter und Religionsphilosophen Herbert Cherbury (1583 – 1648). 283 Der vollständige Titel des 1644 in Paris publizierten Werkes lautet: Ballistica et Acontismologia In qua Sagittarum, Iaculorum, et aliorum Missilium Iactus, et Robur Arcuum explicantur, apud, Cogitata physico-mathematica. 284 Siehe: Thomas Hobbes: L I, 10. 280 281
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des Natur- und Völkerrechts und der Ursprung und die Macht der Gerechtigkeit, als auch das Wesen der christlichen Religion (soweit es der Plan dieser Schrift verstattet) enthalten.«285 Erneut erwähnt sei, daß Hobbes seine Schrift Elementorum Philosophiae Sectio Secunda De Homine im Anschluß an De Cive, nämlich erst 1658, in London publizieren läßt, obgleich sie De Cive systematisch vorangeht. So erscheint das Werk – mit großzügiger Unterstützung von Sir Kenelm Digby (1603 – 1665) – erstmals bereits 1642, im Jahr des Ausbruchs des schließlich sieben Jahre währenden Englischen Bürgerkriegs, unter dem Titel Elementorum philosophiae sectio tertia: De cive als halbanonymer Privatdruck in Paris, die letztgültige Fassung und eigentliche Erstausgabe Elementa philosophica de Cive jedoch erst 1647 in Amsterdam. Diese Version erreicht sogar zwei Auflagen. 1649 erscheint die französische Ausgabe: Elements philosophiques du citoyen, sowie 1651 in London eine von Hobbes autorisierte Übersetzung ins Englische: Philosophicall Rudiments concerning Gouvernment and Society; an der öffentlichen Wirkung von De Cive scheint Hobbes also zu liegen. 1649 beginnt Hobbes auch mit der Niederschrift des 1651 bei Andrew Crooke (1605 – 1674) in London publizierten Leviathan, Or The Matter, Forme, & Power of A Common-Wealth Eccelesiasticall and Civill. Bereits zwei Jahre später kann er das Werk in seinem Pariser Exil vollenden, wohin er schon 1640 auf Grund einer vom Grafen von Newcastle veranlaßten Publikation seiner Elements of Law, mit denen Hobbes auf die politische Entwicklung in England reagiert, flieht und aus dem er erst 1652 (lt. Tuck 1651286) wieder nach London zurückkehrt. 1667 erscheint in Amsterdam eine vollständige Übersetzung ins Niederländische, die der dortige Buchhändler und Remonstrant Frans Kuyper (1629 – 1691) besorgt; 1668 fertigt Hobbes selbst eine Teilübersetzung ins Lateinische an.287 Im selben Jahr erscheint – wieder in Amsterdam – die lateinische, allerdings stark gekürzte und umgearbeitete Fassung. Allein ein Blick auf die Grobgliederung des Leviathan verdeutlicht den im Vergleich zu den Vorgängerwerken hohen Intensitätsgrad der Auseinandersetzung mit der Religion – doch ändert dies nichts daran, daß Hobbes, der King Charles II. (1630 – 1685) eine prächtig gebundene Leviathan-Ausgabe übereignet, ab Oktober 1651 nicht mehr bei Hofe empfangen wird: »Alle ehrlichen Vertreter der Monarchie freuen sich sehr, daß der König endlich jenen Vater der Atheisten, Mr. Hobbes, von seinem Hofe verbannt hat.«288 Ein weiterer Vorwurf gegen Hobbes lautet Verrat.289
Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 64. Siehe: Richard Tuck: Hobbes. A.a.O. 55. 287 »In Amsterdam erscheinen in zwei Bänden seine ›Opera philosophica quae Latine scripsit omnia‹, deren dritter Teil die von ihm selbst gefertigte Übertragung des von ihm verschiedentlich geänderten ›Leviathan‹ ins Lateinische enthält.« – Siehe: Thomas Hobbes: L LI. 288 Worauf diese Behauptung gestützt sein mag, wird sich noch zeigen. – Zit. nach: Thomas Hobbes: L XLVIII f.; das Zitat ist nicht ausgewiesen. – Siehe auch: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 267. 285
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2. Kapitel: Die anthropologischen Grundlagen der Moral und die natürliche Logik des Vertrags 2.1 Naturrechtslehrer und Juristen in der frühen Neuzeit Die umfassenden Ansprüche, die mit den unterschiedlichen Konzeptionen praktischer Philosophien verbunden sind, treten vielleicht nirgends offener ans Licht als in den Naturrechtsdebatten der frühen Neuzeit. Aber nicht allein aus diesem Grunde sollte der unentwegten Hervorhebung der historisch-systematischen Bedeutsamkeit Hobbistischer Naturrechtslehre mit Vorsicht begegnet werden. KarlHeinz Ilting etwa verfehlt das Kausalitätsverhältnis der für die Folgezeit maßgeblichen epistemologischen Umbesetzung: »Der epochale Übergang vom spätscholastischen zum neuzeitlichen Naturrecht, der sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vollzog, ist erst sekundär als ein Wandel in den naturrechtlichen Lehren zu beschreiben. Primär ist er ein sozialgeschichtliches Ereignis, das durch den Wechsel der führend mit der Anwendung und dem Ausbau der Naturrechtslehren befaßten Personengruppe charakterisiert ist: An die Stelle von Theologen treten sehr schnell Juristen und Philosophen. Damit verlagert sich der Schwerpunkt der Naturrechtslehren alsbald teils in den Ausbau eines Rechtssystems, das zur Normierung der durch Wirtschaftswachstum, Entdeckungen und Erfindungen, durch die Entstehung souveräner Staaten und selbständiger Konfessionen und Kirchen revolutionierten Lebensverhältnisse in Europa tauglich sein sollte, teils in die Sicherung und Enttheologisierung der Grundlagen des Naturrechts.«290 Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen: Die Frage, warum Theologen von Juristen und Philosophen in der beschriebenen Weise abgelöst werden, ist vielmehr so zu beantworten, daß der »Schwerpunkt« sich nicht verlagert, weil Philosophen und Juristen die
1653 fordert Hobbes in den Diskussionen über die Reform der englischen Universitäten deren kirchliche Ausgliederung. Ein Jahr später setzt die römisch-katholische Kirche De Cive und kurz darauf Hobbes’ Opera Omnia auf den Index. Seine Elementorum philosophiae sectio prima De corpore wird in London 1655 (dem Geburtsjahr Christian Thomasius’) veröffentlicht. Bereits im folgenden Jahr erscheint in London die englische Übersetzung Elements of Philosophy, the First Section, concerning Body. 1670 kommt in Amsterdam neben Spinozas Tractatus theologico-politicus (dessen Verbreitung in Holland 1674 untersagt wird) auch Hobbes’ Leviathan, Sive de Materia, Forma et Potestate Civitatis Ecclesiasticae et Civilis in den Buchhandel, bevor 1674 der holländische Statthalter Wilhelm III. von Oranien-Nassau (1650 – 1702) für die Niederlande Druck und Verkauf des Leviathan verbietet. Noch 1666 fordert die Geistlichkeit nach einer schlimmen Pest- und Brandkatastrophe in London eine Untersuchung gegen mutmaßlich atheistische Schriften, »vor allem gegen den Leviathan. Hobbes befürchtet eine Haussuchung und verbrennt einen Teil seiner Papiere. Das Verfahren wird jedoch niedergeschlagen.« – Siehe: Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. A.a.O. X. 290 Siehe: Naturrecht. – In: GG 4. 245 – 313; hier 278. 289
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Theologen ersetzen, sondern umgekehrt ersetzen Philosophen resp. Juristen die Theologen, weil sich der Schwerpunkt verlagert.291 Daß die wissenschaftliche Reflexion besagter Periodisierung zumeist unentschieden läßt, ob Rückbindungsstrategien auf ein wie auch immer beschaffenes Naturrecht theologische Implikationen mit sich führen, macht dabei noch gar nicht das primäre Problem aus; vielmehr ist zu konstatieren, daß der frühneuzeitliche Naturrechtsgedanke die gesellschaftlich etablierte Ständehierarchie zunächst einmal juristisch – und nicht schon moralisch – befestigt. Michael Stolleis untersucht diese Ablösungsbewegung des Politisch-Rechtlichen vom Moralischen: Die Gesetzeskodifikationen der frühen Neuzeit seien darauf aus, faktische Rechtsfälle vor moralischen, d. h. persönlich motivierten Urteilsfindungen – beispielsweise im Höfischen, d. h. Majestätischen, oder Klerikalen – zu bewahren. Daß sich hierbei juristische mit theologischen Interessen vermengen, ist nur allzu klar, doch gerade das Augenfällige bedarf nicht selten gesonderter Erläuterungen.292 Als Beleg für besagtes Phänomen taugt sicherlich auch Hobbes’ politische Philosophie, zeigen doch die dortigen Analysen mit Blick auf die Anforderungen für ein funktionstüchtiges Gemeinwesen, daß das alte Naturrecht sich in ein auch das positive Recht der Religion (Gebote) inkludierendes Bürgerrecht verwandeln muß,293 d. h. in auf politischem Weg erreichte Formen des Gesetzes. Und hierbei kommen dann sehr wohl Direktiven, denen moralphilosophische Anteile zuerkannt werden können, entscheidende Bedeutungen zu. So bildet neben Niccolò Machiavellis Il Principe (1532) der mit Bodins Staatsphilosophie vollzogene Vorstoß wie gesehen eine wichtige Voraussetzung für die Verhältnisbestimmung von Herrscher und Beherrschten – und zwar (was entscheidend ist) basierend auf dem Prinzip der Herrscher-, nicht aber der Volkssouveränität. Tuck beschreibt Bezug nehmend auf eine Venedig-Reise des jungen Hobbes das sich wandelnde Verhältnis von Politik und Moral. Venedig bildet damals die letzte Bastion aus der großen Zeit des italienischen Republikanismus, und verständlicherweise treibt die venezianischen Regenten besonders die Frage um, was den Niedergang der anderen italienischen Republiken bewirkt haben mochte, »die nun, wie etwa Florenz, als Fürstentümer unter der Kontrolle Spaniens standen; nach ihrem Sieg in den sogenannten ›Italienischen Kriegen‹ zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten die Spanier ein System imperialer Vorherrschaft über die Halbinsel errichtet und die Stadtstaaten mit einer Mischung aus Bestechung, militärischer Wesentliche Gründe für diese Schwerpunktsverlagerung sucht der II. Teil dieser Untersuchung aufzufinden. 292 Siehe: Michael Stolleis: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a. M. 1990. – Stolleis’ Beobachtung bestätigen beispielsweise auch Niklas Luhmanns Untersuchungen zum System des Rechts. 293 Klenner merkt an: »Da Hobbes unter civil law das gesamte für Staatsbürger geltende Recht und nicht etwa nur das bürgerliche (= Zivil-)Recht versteht, wird civil law im allgemeinen mit ›staatlichem Recht‹, und civil laws mit ›staatlichen Gesetzen‹ übersetzt.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 612. 291
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Einschüchterung und gezielt gestreuter Propaganda über die vom Osmanischen Reich ausgehende Bedrohung politisch am Gängelband geführt.«294 Diese Sichtweise der Potentaten Venedigs und auch derjenigen anderer exponierter Zentren Europas – z. B. dem Bemühen des spanischen Königs, die Niederlande zu unterwerfen295 – verdeutlicht das Wesen neuzeitlicher Politik. Das Bedürfnis, diese neue Variante politischer Praxis auch zu begreifen, bringt binnen kurzer Zeit ein stark verändertes Genre gelehrten Schrifttums hervor, das auch Hobbes in seiner Jugendzeit ausgiebig studiert.296 Die hier vollzogenen Anleihen bei klassischen Themen und antiken Autoren üben auf Hobbes eine starke Anziehungskraft aus und belegen zudem, daß auch einige der bedeutendsten Altphilologen ihrer Zeit zu den Begründern einer neuen politischen Wissenschaft zählen. Das Kennzeichen dieser neuen politischen Literatur ist ihr hartnäckiger Zweifel an der Geltung vieler jener moralischer Prinzipien, die vorangegangenen Generationen als Orientierung gedient haben.297 Die Schriften des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts stellen noch eine von ehrbaren Männern gestaltete Öffentlichkeit dar und erblicken in der Einflußnahme dieser intellektuellen Archetypen eine reale Möglichkeit politischen Handelns. »Ob sie nun Bürger einer Republik wie Florenz vor der Herrschaft der Medici oder Ratgeber eines Fürsten, wie des Herzogs von Mailand, des Königs von Frankreich oder Kaiser Karls V. waren: Sie alle fanden ihre Vorbilder in den Werken antiker Schriftsteller, die von demselben Ideal politischer Tugend inspiriert gewesen waren – allen voran Cicero und Seneca. Viele Gelehrte waren Anfang des 16. Jahrhunderts beseelt von dem Glauben an die Möglichkeit, in Europa einen Staat nach dem Modell von Ciceros De re publica errichten zu können. […] Aber dieses ciceronische Ideal, so lebendig es in der Kunst und Literatur Italiens zur Zeit der Renaissance auch zum Ausdruck kam, hatte am Ende des Jahrhunderts jede Glaubwürdigkeit verloren. Die Realität neuzeitlicher Politik war eine andere. Manipulation, Betrug und Einschüchterung waren in ihr an der Tagesordnung, und der klassische Autor, der sein Augenmerk auf diese dunkle Seite des politischen gerichtet hatte, war nicht Cicero, sondern Tacitus. […] Die vorherrschende Meinung, daß Ehre und Moralität aus der Welt gewichen waren, hatte jedoch auch Konsequenzen außerhalb der Politik. Die gewandelten Lebensumstände der Neuzeit setzten nicht nur die Gebote der traditionellen Ethik außer Kraft, sondern ließen auch die Gültigkeit moralischer Verpflichtungen Siehe: Richard Tuck: Hobbes. A.a.O. 18. Später beklagt Hobbes, es »blickten London und andere große Handelsstädte mit Bewunderung auf das starke Aufblühen der Niederlande nach ihrem Abfall von ihrem Herrscher, dem König von Spanien, und neigten zu der Ansicht, daß der gleiche Wechsel in der Regierung hier auch ihnen das gleiche Aufblühen bringen würde.« – Siehe: Thomas Hobbes: B 105. 296 Siehe: Thomas Hobbes: B 104 f. – Später sieht Hobbes dieses Schrifttum deutlich kritischer. 297 Deren Voraussetzungen sowie die aus ihnen entstehenden Problemverbünde werden weiter unten diskutiert. 294
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grundsätzlich fraglich erscheinen. Die nach der Reformation einsetzenden Religionskriege waren in ganz Europa bis zur völligen Erschöpfung geführt worden, ohne daß eine Seite in der Lage gewesen wäre, einen vollständigen Sieg zu erringen. Die Folge war, daß nahezu alle europäischen Staaten lernen mußten, fortan mit unversöhnlichen weltanschaulichen Konflikten in ihrem Inneren zu leben.«298 Wir haben schon gesehen, daß Bodin dies als einer der ersten begriffen hat, und wir werden noch sehen, es ist nicht erst – wie Tobias Blanke neulich konstatiert – von Hegel »zu lernen, dass eine Krise in der Politik nicht mit einer Anrufung der Moral zu beheben ist, denn die Politik ist bereits die Antwort auf die Krise der Moral«,299 sondern schon Hobbes, der ein einseitiges Machtverhältnis als moralisch fragliche: nämlich dem austarierten System der Naturgesetze widerstreitende Rechtsform beschreibt,300 diese Problematik exklusiv im Rahmen einer politischen Philosophie für lösbar hält. Freilich darf nicht vergessen werden, daß mit den kontinentaleuropäischen Juristen die damalige naturrechtliche Exekutive im Streit um die wahre Religion schon bald kapituliert. Steht der Augsburger Religionsfrieden (1555) noch im Zeichen der ›Naherwartung‹ der konfessionellen Wiedervereinigung, reduziert der Westfälische Frieden (1648)301 das Gebot zur Reunion zu einer Floskel ohne praktische Relevanz. Für die Rechtsgelehrten bleibt die konfessionelle Spaltung Zentraleuropas seit 1648 irrelevant, solange an der Oberfläche jene Glaubenseinheit gewahrt bleibt, die Basis des alten Reichsrechts ist. Denn die vordringliche Aufgabe der Juristen besteht darin, Frieden zu stiften – also nach Hobbes dem ersten und grundlegenden Gesetz der Natur Genüge zu tun –, und nicht darin, die Christenheit zu einen. Solange sich sämtliche Konfessionen auf dasselbe kontinentale Reichsrecht verständigen (können), interessiert der theologische Streit nur diejenigen religiös Gebildeten, deren wahre Motivationen spätestens Gotthold Ephraim Lessing in seiner Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor und orthodoxen Lutheraner Johann Melchior Goeze (1717 – 1786) entlarvt. In diesem Zusammenhang ließe sich noch zeigen, daß Lessing in diesem Disput auch bei Hobbes Hilfe hätten finden können: Zwar sind Religion und Staat zunächst noch untrennbar miteinander verbunden – und damit bleibt Religion ein fester Bestandteil der öffentlichen Ordnung –, diese untersteht aber der Macht weltlicher Potentaten. Erst wenn sich der politische Wille als religiöse Toleranz zu bestimmen sucht, wird diese im konfessionellen Zeitalter tatsächlich praktikabel.
Siehe Richard Tuck: Hobbes. A.a.O. 19 f. Siehe: Tobias Blanke: Das Böse in der politischen Theorie. Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen. Bielefeld 2006. 194. 300 Siehe: Thomas Hobbes: L 133. 301 Der Westfälische Friede bringt auch die Souveränität der Niederlande mit sich und bedeutet somit ein wichtiges Datum, um die Voraussetzungen ihrer in der Folgezeit über die Grenzen Europas hinaus vielgepriesenen politischen Liberalität zu verstehen. 298 299
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2.2 Die Ungeschichtlichkeit des Naturrechts Beide Rechtsgestalten: sowohl das Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts als auch der Rechtspositivismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, mißdeuten das Recht, weil sie dessen geschichtlichen Wesenskern verkennen oder gar verleugnen. Auch Hobbes’ Naturrechtslehre führt das Signum des Ahistorischen mit sich, obschon – oder gerade weil – Hobbes selber in politisch bewegten Zeiten Zeuge mannigfacher Außerkraftsetzungen geistlicher sowie weltlicher Rechtsgesetze wird und sich schließlich zu theologie-politischen Reflexionen genötigt sieht. »Die Summe der Tugend ist, denen Freund zu sein, die freundschaftlichen Verkehr wollen, und furchtbar denen, die es nicht wollen. Und das gleiche ist die Summe des Naturrechts […].«302 Eine einfache Gleichung: hier die Tugend, dort das Naturrecht, die Hobbes philosophisch miteinander verklammert sieht. In der Tat faßt dieser Verweisungskontext Hobbes’ Verständnis des Naturrechts zusammen. Führe die Dialektik des Naturgesetzes – »furchtbar zu sein ist das Naturgesetz im Krieg, wo gefürchtet zu werden ein Schutz ist«303 – auch zum »Inbegriff aller Tugenden«, als da sind: Billigkeit (man denke an das Recht der Equity), Gerechtigkeit und Ehre,304 der sich allererst herausbilde in der Zusammenschau von Friedens- und Kriegszustand, fordert Hobbes in letzter Konsequenz ein Wissen um die Implikation von vernünftiger Einsicht in das Naturgesetz einerseits und Einschärfung seiner überzeitlichen Geltung andererseits. Doch nicht allein die Ewigkeitsgeltung305 der Naturgesetze – und damit auch deren Unwandelbarkeit306 – kulminiere in und legitimiere sich durch Gottes Wort. Hobbes kennt nicht nur Naturgesetze, die mit Vorschriften (Geboten), die sich der natürlichen Vernunft selbst verdanken, in Einklang stehen, sondern betont darüber hinaus, sie seien zudem »Moralgesetze, weil sie sich auf die Sitten und den Verkehr der Menschen untereinander beziehen; ebenso sind sie auch göttliche Gesetze mit Rücksicht auf ihren Urheber, den allmächtigen Gott, und deshalb müssen sie auch mit dem Worte Gottes, wie es uns in der Heiligen Schrift geoffenbart ist, übereinstimmen oder demselben wenigstens nicht widersprechen. [Ich werde] daher solche Bibelstellen anführen, welche am meisten mit den genannten Gesetzen im Einklang sind.«307 Hier wird deutlich, wieviel Spielraum sich Hobbes genehmigt, die projektierte Fusion, d. h. den politischen Kompromiß zwischen Theologie und
Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XVII, 15. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XVII, 15. 304 Ehrhaftigkeit trage nicht zur Gerechtigkeit bei: »Es ändert auch nicht die Frage der Ehre, ob eine Handlung (wenn sie nur groß und schwierig und infolgedessen ein Zeichen von viel Macht ist) gerecht oder ungerecht ist; denn Ehre besteht nur in der Überzeugung von Macht.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 77. 305 Siehe: Thomas Hobbes: L 133. 306 Hobbes bezieht sich auf Mat 5,18. 307 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XVIII, 1. 302
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Philosophie zu erreichen. Warum ihm daran so viel liegt – und auch liegen muß –, wird im folgenden zu größerer Klarheit gelangen. Das Verhältnis Naturrecht – ewiges Wohl (womit die den Einzelnen überdauernden Prinzipien geglückter Staatsleitung gemeint sein dürften) erörtert Hobbes im Zusammenhang mit der Frage, auf welche Weise sich die (Staats-)Kunst, das Volk auf für allseits vorteilhafte Art zu regieren, wahrhaft realisieren lasse: »Und da das ewige Wohl dem zeitlichen vorzuziehen ist, so ist es klar, daß diejenigen, welche die herrschende Gewalt ausüben, durch das Naturgesetz verpflichtet sind, die Verbreitung aller solcher Lehren und Vorschriften und die Ausübung aller solcher Handlungen zu fördern, die sie in ihrem Gewissen für den richtigen Weg dazu halten. Denn wenn sie dies nicht tun, so kann man nicht in Wahrheit von ihnen sagen, daß sie sich nach äußerstem Vermögen bemüht haben.«308 Das zeitliche (endliche) Wohl des Volkes sieht Hobbes gewährleistet in: Volksmenge (d. h. familiärer Vermehrung), Bequemlichkeit des Lebens (Freiheit und Wohlstand), Ruhe im Innern sowie Verteidigungsfähigkeit nach außen (woraus für Hobbes wesentlich auch Friedensfähigkeit resultiert). Indes fungiert das Gewissen bzw. die moralische Integrität als Gradmesser für gesellschaftspolitisch verantwortungsbewußtes Handeln.309 So besteht Hobbes letztlich auf der Divergenz von natürlicher Freiheit und Kodifikation: Keinem Menschen dürfe von Gesetzes wegen untersagt sein, was das Naturgesetz erlaube – es sei denn, das Wohl des Gemeinwesens stehe auf dem Spiel. Hieraus erhellt Hobbes’ Vorhaben der Etablierung einer wirklichen – und keineswegs nur idealen – Rechtsordnung. Schaffe der Staat diese reale Ordnung, garantiere er damit gleichermaßen Rechtssicherheit. Ob Hobbes allerdings sein Hohelied auf die Union von äußerer Ordnung und dem Ideellen, Werthaften (den gerechten Rechtsinhalten) des Staats theoretisch überzeugend darzustellen vermag, bleibt zumindest zweifelhaft; auf der Präskriptionsebene jedenfalls verbleibt Hobbes in der Sphäre des Ideellen.
Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. IX, 2. – Fetscher wendet zu Recht ein, daß die Pflichten des Souveräns bei Hobbes kaum von praktischer Bedeutung sind, »da es keine Instanz gibt, die ihre Befolgung erzwingen kann.« – Siehe: Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976. XXXII. 309 Siehe hierzu insbesondere Kapitel 3.3 des vorliegenden 2. Abschnitts. 308
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2.3 Der Wille als Grenze der Freiheit 2.3.1 Realgeschichtliche Gefährdung empirischer Freiheit Hobbes’ systematische Philosophie zeichnet ein Primat des bewegten, von der denkenden Substanz nicht unterschiedenen Körpers aus.310 So gilt auch das (christliche) Gemeinwesen als Körper, und zwar als ein künstlicher. Zu denken ist hier nicht zuletzt an die unausgesprochene Retraktion von Corpus Christi mysticum311 und Corpus Christianum. So wohnt Hobbes’ Staatslehre zwar kein dezidiert materialistisches Prinzip inne, gleichwohl zeigt ein materialistischer Schwerpunkt Wirkung, beispielsweise nach der anthropologischen Seite der Konstituierung von Selbsterkenntnis: Diese werde begleitet vom ehrenvollen Affekt312 des Schamgefühls, deren äußeres Zeichen das Erröten sei313 – ein Aspekt empirischer Psychologie, der auf diese Weise schwerlich in den Fokus beispielsweise der Meditationes des Descartes hätte rücken können.314 Hobbes führt weiter aus, kraft »Überlegung« generierten Affekte menschliche – mitunter moralisch verfehlte315 – Handlungen: »Diese wechselnde Folge von Verlangen und Furcht während der ganzen Zeit, wo es in unserer Macht steht, zu handeln oder nicht zu handeln, nennen wir Ü b e r l e g u n g ; […] Überlegung bedeutet Aufhebung unserer eigenen Freiheit.«316 Das Resultat einer Überlegung besteht in einer gefällten Entscheidung, welche die Möglichkeit, sich so oder anders zu verhalten, ausschließt. Im Leviathan findet sich im Kontext des naturrechtlich zementierten Appells zur Friedenssicherung folgender Passus, der dies erläutert: »[…] daß ein Mensch bereit sein soll, wenn andere es auch sind, soweit er es im Interesse des Friedens und seiner Verteidigung für notwendig Siehe hierzu: Michael Esfeld: Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. 86 ff. (Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 9.) 311 »Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.« – Siehe: Mt 18,20. 312 Affekte als solche werden nach Hobbes nicht durch Wahrheit, sondern durch ein Bild bewirkt. – Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIII, 7. 313 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. IX, 3. – Das Thema der »Connaissance de soi« ist zentral in dieser Zeit, mit hunderten von Monographien, z. T. unter Rückgriff auf antike Themen. Es scheint auch bei Hobbes durch, wenn er fordert, daß, wer »eine ganze Nation regieren soll, […] in sich selbst lesen [müsse], nicht in diesem oder jenem einzelnen Menschen, sondern in der Menschheit; was zwar schwierig ist, schwieriger, als irgendeine Sprache oder Wissenschaft zu erlernen; doch wenn ich das Ergebnis meiner Selbstlektüre wohlgeordnet und verständlich dargelegt habe, wird die einem anderen überlassene Mühe nur darin bestehen zu erwägen, ob er nicht auch das gleiche in sich selbst findet.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 7. – Im VI. Kapitel des ersten Buches des Leviathan, das Bezeichnungen der »Passions« auflistet, fehlt unter »Scham«, »Erröten« bzw. »Schamlosigkeit« der Bezug auf die kontemplative Selbstreferenzialität dann wieder. – Siehe: Ibid. 48. 314 Descartes’ These der in vorgeblich vollständiger Unabhängigkeit von der Körperwelt sich einstellenden Selbstgewißheit des ego cogito, ego existo ist beispiellos. 315 Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 69. 316 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XII, 1. 310
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hält, [dem] Recht auf alle Dinge zu entsagen und mit so viel Freiheit gegen andere zufrieden zu sein, wie er anderen gegen sich selbst zugestehen würde.«317 Die (apriorische) Geltung dieses offensichtlich nicht selbstgenügsamen, sondern von vornherein relationalistisch konzipierten Freiheitsbegriffs sieht Hobbes sonach von realgeschichtlichen – und d. h. in der Ausrichtung seines Problemhorizonts: politischen resp. kontroversen, kurz: empirischen Konstellationen überlagert. Dies hat jedoch nichts weniger zur Konsequenz als die grundsätzliche Verbindlichkeitsgefährdung dieses dualistischen Prinzips der Freiheit selber, hat es seinerseits doch die unbedingte Geltungskraft eines umgreifenden Naturrechtssystems zu seiner Bedingung. So kann Hobbes folgern: »Denn solange jeder an diesem Recht festhält, alles zu tun, was ihm beliebt [was Hobbes zuvörderst der Allmacht Gottes zuerkennt, H. G.], solange befinden sich alle Menschen im Kriegszustand«318 – und zwar auf Grund individualistischer Motive.319 Esfeld bemerkt: »Der Krieg aller gegen alle bedeutet, daß jeder danach strebt, Macht über jeden anderen zu gewinnen. Der größte Machtzuwachs besteht nicht darin, sich den Besitz des Konkurrenten anzueignen und ihn zu töten, sondern darin, Herrschaft über den Konkurrenten zu gewinnen. Auf diese Weise kann nicht nur dessen Besitz, sondern auch dessen Person zur weiteren Vermehrung der eigenen Macht eingesetzt werden […]. Ein Kampf einzelner Personen endet in der Regel mit dem Sieg eines der Beteiligten. Der Krieg führt daher zu Herrschaftsverhältnissen.«320 Bereits in seiner Analyse des Naturzustandes gibt Hobbes zu bedenken, der Mensch würde zweifelsohne, wenn die Furcht ihn nicht hinderte, stärker zur Herrschaft als zur Gesellschaft getrieben. 2.3.2 Der letzte Wille als Aufhebung der Freiheit Wir haben gesehen: Unter Freiheit versteht Hobbes die prinzipielle Möglichkeit der Wahl, sich praktisch zu verhalten; die Frage, inwieweit hier eine Sphäre kodifizierten Rechts Voraussetzung ist, sei zunächst noch zurückgestellt. Indes spare dieser womöglich wechselseitige Anspruch notwendige Determinationsformen aus (Hobbes denkt hier wohl an formallogische Gesetzmäßigkeiten): Diese führten keinerlei Überlegungsakt (Reflexion) mit sich. Sonach verwirklicht sich lt. Hobbes das Prinzip des Willens nur dann, wenn das Prinzip der Freiheit durch Herbeiführung einer Entscheidung geltungstheoretisch ausgeschöpft ist: »Es kommt daher Siehe: Thomas Hobbes: L 108. – Dieser Appell korrespondiert mit dem lt. Hobbes fünften Naturgesetz, dem »Entgegenkommen, das heißt, daß jeder Mensch danach streben soll, sich den übrigen anzupassen.« – Siehe: Ibid. 127. – Die Voraussetzung für den Frieden bildet nicht zuletzt das Recht des Souveräns, den religiösen Kultus zu regulieren. 318 Siehe: Thomas Hobbes: L 108 f. – Hobbes hat hier erneut den Vorteil auf seiner Seite, dieses Naturrechtsverhältnis biblizistisch abgleichen zu können. – Siehe: Mt 7,12; Lk 6,31. 319 Siehe: Thomas Hobbes: L 142 f. 320 Siehe: Michael Esfeld: Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes. A.a.O. 253. 317
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auf dasselbe hinaus, ob man Wille oder letzter Wille sagt: denn so ein Mensch seine augenblickliche Neigung und sein Verlangen bezüglich der Verfügung über seine Güter in Wort oder Schrift äußert, so darf es nicht als sein Wille angesprochen werden, weil er noch die Freiheit hat, anders darüber zu verfügen; aber wenn der Tod ihm diese Freiheit nimmt, dann ist es sein Wille.«321 Dieser Zusammenhang gilt auch für einen speziellen vertragstheoretischen Gesichtspunkt, nämlich hinsichtlich des möglichen Abschlusses von Verträgen. Hobbes erklärt hier, Inhalt oder Gegenstand eines Vertrags sei stets etwas, »das der Überlegung unterliegt (denn der Abschluß eines Vertrages ist ein Willensakt; das heißt ein Akt und zwar der letzte Akt einer Überlegung), und gilt daher immer als etwas Künftiges und etwas, dessen Erfüllung für den, der den Vertrag schließt, als möglich angesehen wird.«322 Die Synonymie von Vertrag und Rechtsübertragung betrifft in erster Linie das Zukünftige des mit dem Vertragsabschluß Gesetzten: nämlich die Geltung des Vertrags bis auf weiteres, d. h. »die Definition der Ungerechtigkeit ist nichts anderes als die Nichterfüllung von Verträgen. Und was nicht ungerecht ist, ist gerecht.«323 Wenn aber im Vertragsschluß der Ursprung des Gerechtigkeitsprinzips liege, geht damit auch die Schaffung des Gleichheitsprinzips einher, wie auch Perelman sagt: »Die Gerechtigkeitsidee steckt also in einer gewissen Anwendung der Gleichheitsidee.«324 2.4 Ordo stellarum et cogitationis Hobbes’ Bestimmung des Begriffs der Einbildung als »nachbleibende und bei kleinem abnehmende Vorstellung von und nach dem Akt der sinnlichen Empfindung«325 sowie seine Versicherung, daß eine Sinnesempfindung – unabhängig von jedweder ontischer Konkretion! – in Form nachwirkender Bilder »wie in Träumen, nicht dunkel, sondern stark und klar, wie in der Empfindung selber«,326 wirksam sei, führt zu einer die sog. rationalistische Philosophie327 als Ganze betreffenden Irritation: »[…] daß unsere Gedanken erscheinen wie die Sterne zwischen den fliegenden Wolken: nicht in der Ordnung, in welcher man wünschen möchte sie zu beobachten, sondern wie die ungewisse Flucht der gebrochenen Wolken es gestat-
Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XII, 2. Siehe: Thomas Hobbes: L 115 f. – Siehe auch: ders.: C I, Kap. 2, 14. 323 Siehe: Thomas Hobbes: L 120. – Hobbes kündigt an, die »Regel« zu befolgen, »nichts über die Gerechtigkeit einzelner Handlungen auszumachen, sondern das der Bestimmung durch die Gesetze zu überlassen […].« – Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 73. 324 Siehe: Chaïm Perelman: Über die Gerechtigkeit. A.a.O. 22. 325 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. III, 1. 326 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. III, 2. 327 Zum Epochen-Begriff des Rationalismus siehe: Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus. Kritik eines philosophiehistorischen Schemas. Paderborn. 1996. 22; 432. 321
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tet.«328 Andernorts greift Hobbes diesen Gedanken wieder auf und konzidiert, Vorstellungsreihen unterlägen nicht unserer »Wahl«, sondern dem »Zufall«.329 Hier zeigt sich die epistemologische Reichweite, die Hobbes seiner systematischen Philosophie zutraut: die Etablierung eines geordneten Ausdrucks des grundsätzlich Ungeordneten. Wenn allerdings im Denken und seinen unterschiedlichen Realisierungsformen kein Regel-Prinzip fixierbar sei, sollte jedoch – so Hobbes – zumindest der Bezirk des Gemeinwesens transparenten: sprich rechtskonformen Gesetzen, unterstellt sein. Ein tieferes Verständnis von Hobbes’ (staats-)philosophisch fundierter Rechtslehre gewährleitstet eine an den Problemen der modernen Naturwissenschaften (insbesondere Galilei) orientierte Kommentierung. Hobbes selber bestärkt seinen Leser in einem solchen Zugriff, sind doch die Werke seiner Elementa philosophiae in dieser Weise abgefaßt. Die Beantwortung der Frage, ob sich nach Hobbes das Faktum des Rechts einem weltlichen, sprich menschlichen, mithin nicht durch einen religionsgeschichtlich legitimierten kontraktualistischen Setzungsakt oder einer nach mechanistischen Gesetzen eingerichteten Natur verdankt, führt zwangsläufig zu dem Problem, ob es sich hierbei um eine konstruktiv bzw. deduktiv, also logisch verfaßte Anwendung handelt. Daß sich zusätzlich eine anthropologische330 Dimension eröffnet, bedeutet indes keinen Widerspruch zum Vorigen, sondern befördert vielmehr die Aufhellung gesellschaftspolitischer Motive Hobbistischer Politologie. Zwar ist Hobbes nicht unmittelbar an der seit dem 16. Jahrhundert fortschreitenden Etablierung der Anthropologie als einer Wissenschaft beteiligt;331 »allein für die Menschen, wie sie einmal sind, bedarf es einer zwingenden Gewalt (worunter ich sowohl das Recht wie die Macht dazu verstehe).«332 Hobbes’ nach den Voraussetzungen seiner Theorie zwingend gültige Generalthese scheint sonach dennoch anthropologisch unterfüttert, was unweigerlich dazu führt, in Gestalt der Bedingung einer solchen Projektion wie derjenigen des Leviathan: Alle schließen einen Vertrag mit allen, aber der Souverän selber mit niemandem, eine (zumindest) quasi-anthropologische Projektion zu erkennen: In seiner natürlichen Gesamtheit äußere sich der Mensch als Körperkraft, Erfahrung, Vernunft333 – wobei letztere nicht angeboren sei, »sondern durch Fleiß«334 sowie Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. III, 3. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. V, 1. 330 Hobbes begreift auch die Religion als anthropologische Konstante. 331 Siehe hierzu: Wilhelm Dilthey: Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. – In: Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. II. Band. Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. 5., unveränderte Auflage. Stuttgart 1957. 416 – 492. – Diese ›schwache‹ These wird auch durch Werner Krauss’ Studien belegt, die Hobbes’ politische Philosophie nicht als konstitutiv für die nachfolgende Entwicklung der Anthropologie ansehen. – Siehe: Werner Krauss: Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung. Herausgegeben von Hans Kortum und Christa Gohrisch. Frankfurt a. M./Berlin 1987. 76. 332 Siehe: Thomas Hobbes: C III, Kap. 16, 15. 333 Vormals gehört auch Leidenschaft noch in diese Reihe. – Siehe: Thomas Hobbes: C I, Kap. 1, 1. 328
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»Gefühl«335 erworben werde. An »erster Stelle« rangierend und von insgesamt weitaus größerer Reichweite erweist sich allerdings der »allen durch Erfahrung bekannte und von jedermann anerkannte [anthropologische, H. G.] Grundsatz, daß der Sinn der Menschen von Natur so beschaffen ist, daß, wenn die Furcht vor einer über alle bestehenden Macht sie nicht zurückhielte, sie einander mißtrauen und einander fürchten würden und daß jeder durch seine Kräfte sich mit Recht schützen könne und notwendigerweise auch wolle.«336 2.5 Staat und Erfahrung 2.5.1 Szientifischer und politischer Nominalismus In seinen Oxforder Lehrjahren eignet sich Hobbes durch das Studium der Schriften Johannes Duns Scotus’ (um 1266 – 1308) und Wilhelms von Ockham (1285 – 1349/1350) Kenntnisse der nominalistische Philosophie an und entdeckt Ansatzpunkte, das Naturrecht »rationalistisch-absolutistisch zu begründen.«337 Im Anschluß an das II. Kapitel von De Corpore (»Von den Namen«) und das IV. Kapitel des Leviathan (»Von der Sprache«) ließe sich eine nominalistisch verfaßte Sprachund Begriffsanalyse entwickeln, die »die wichtigsten Folgen für die politische Theorie hat. Das war schon bei Ockham der Fall, den sein wirklichkeitsbezogener Nominalismus […] in seinen politischen Theorien zum Vorläufer der modernen Staatstheorie machte. Für Hobbes […] ist die Einsicht grundlegend, daß es ›von Natur aus‹ überhaupt keine Beurteilungsmöglichkeiten für menschliches Handeln […] gibt. Solche Kategorien durchzusetzen und praktisch handhabbar zu machen ist Sache einer fundamentalen politischen Begründungsleistung; erst im Staat kann autoritativ festgesetzt werden, was unter solchen Namen zu verstehen ist, der ›Leviathan‹ ist der ›große Definierer‹ – er muß die Verständnisbreite vor allem für politische [sowie für theologische, H. G.] Begriffe festlegen.«338 Ausdrücklich betont sei, daß Hobbes mit diesem politischen Nominalismus keinesfalls die Freiheit des Denkens zu unterminieren sucht: Wie für die Sphäre des Religiösen bleibt auch für den Bereich des Politischen die subjektive Innenwelt des Geistes unangetastet. Auch Hobbes sieht sich der in seiner Zeit weithin verfolgten Epistemologie verpflichtet, den Gewißheitsanspruch der erfolgreichen neueren Naturwissenschaften gleichermaßen für das Naturrecht zu bestätigen. Anschauung solle durch mathematische Analyse ersetzt, Finalität durch Kausalität und Geist mit Körper gleichgeSiehe: Thomas Hobbes: L 37. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIV, 1. 336 Siehe: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 68. 337 Siehe: Thomas Hobbes: N Einführung Tönnies, VI. 338 Siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 66 f.; mit Blick auf den Civil War: 116. 334
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setzt werden. Hobbes zählt so zu der erlauchten Reihe der Prinzipienforscher rationalistischer Philosophie. Seine Suche nach einem epistemologisch verläßlichen Bildungsgesetz wahren Wissens endet bei in per inductionem gewonnenen Sätzen, die deduktiv gesichert und sodann dem Gesetz der Natur eingeschrieben werden sollen.339 Dieser bis auf Aristoteles zurückgehenden resolutiv-kompositiven Methode340 unterliegt auch Hobbes’ Bildungstheorie des »künstlichen Körpers« oder des Staates: »Gegenstand der Philosophie und Materie, mit der sie sich befaßt, ist ein jeder Körper, bei dem sich irgendeine Erzeugungsweise begreifen und mit dem sich, wenn man ihn unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, eine Vergleichung vornehmen läßt; oder alles, bei dem Zusammensetzung und Zergliederung statthat […].«341 Willms sagt es so: »Das begreifende Nachkonstruieren der Wissenschaft bedeutet methodisch ein begriffliches Auflösen und Zusammensetzen, oder Analyse und Synthese […]. ›Generatio‹ ist also die produktiv konstruierende Vernunft, die in je aufeinanderfolgenden Schritten, also in sicherer Methode, jede gegebene, zusammengesetzte Wirklichkeit auf ihre Elemente reduziert, dieselben dann so bestimmt oder festlegt, daß diese Festlegung für jedermann einsichtig, weil nachvollziehbar wird, und die dann die Wirklichkeit als zusammengesetzte, als komplexe, wieder rekonstruiert und jetzt weiß – das heißt begriffen hat.«342 Allerdings entgeht Willms, daß Hobbes’ Gedankenexperiment einer umfassenden Weltvernichtung (Privation) gerade, was den systematischen Rang betrifft, eine bemerkenswerte Parallele zur Cartesianischen Metaphysik aufweist, unterscheiden sich doch im Resultat: der tabula rasa, Hobbes’ Verfahren und Descartes’ methodische Skepsis nicht wirklich. Beiden eignet allerdings das signum hominis: Gedanklich ›macht‹ nicht Gott, sondern vielmehr der Mensch die Welt, d. h. exklusiv der Leviathan ist per rationem abgeleitet, eine göttliche Macht dagegen kann es niemals sein.343 Wie gesehen anerkennt Hobbes zwar die Berechtigung der uralten – und auch in der modernen Wissenschaft à la Descartes herausgehobenen – Forderung ›Nosce te ipsum‹, doch gründet seine eigene Theorie instrumenteller Erkenntnis in zweierlei Vermögen: zum einen in Sinnesempfindungen344 incl. der Erinnerung derselben,345 zum anderen in der Wissenschaft346 selbst, d. h. in der Erkenntnis der
Siehe: Thomas Hobbes: C Widmung, 60. Siehe: Thomas Hobbes: Co VI, 1. 341 Siehe: Thomas Hobbes: Co I, 8. – Siehe zudem das Kapitel 2.6 des vorliegenden 2. Abschnitts. 342 Siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 70. – Siehe auch die Maschinenmetapher des Staates in: Thomas Hobbes: C Vorwort an die Leser, 67. 343 So auch: Richard Hönigswald: Hobbes und die Staatsphilosophie. A.a.O. 176. 344 Diese nennt Hobbes »ursprüngliches Wissen«. – Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. VI, 1. 345 Siehe auch: Thomas Hobbes: Co I, 2. 346 Die Wissenschaften bedeuten Hobbes das Wahrzeichen der modernen Welt: Mißachte man die wissenschaftlichen Errungenschaften des gegenwärtigen Menschen, unterschiede ihn nichts »von dem wildesten Indianer«. – Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIII, 3. 339
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Wahrheit von Urteilen347 orientiert an der Frage, auf welche Weise Gegenstände benannt werden. Diesen gesamten Komplex nennt Hobbes Verstand.348 Die anamnetische349 Signatur menschlicher Erkenntnisgewinnung (unterschieden von seinem Erkenntnisvollzug!) sieht Hobbes im Begriff der Erfahrung zusammengefaßt: »[…] die Erfahrung des Wirkens der Dinge auf uns von außen, […] die Erfahrung, welche die Menschen von dem richtigen Gebrauch der Wörter in der Sprache haben. Und da […] die Erfahrung nur Erinnerung ist, so ist alles Wissen Erinnerung; und das in Büchern geführte Verzeichnis unserer Erfahrungen der ersten Art nennen wir G e s c h i c h t e , aber die Aufzeichnungen unserer Erinnerungen von den Namen der Dinge heißen W i s s e n s c h a f t e n .«350 Für die Wissenschaft reserviert Hobbes sieht nicht den Begriff: das Erkennen des Wesens einer Sache, wie sie in sich selbst ist, sondern den Namen: dasjenige, was bei einer Sache aufrufbar ist, zu dem eine Beziehung hergestellt werden kann. Basierend auf der schon in der Klassischen Griechischen Philosophie geläufigen Unterscheidung von Wissen und Meinung (>pistqmj/d)xa) versteht Hobbes unter Bewußtsein das »Zusammenstimmen der Vorstellung eines Menschen mit den Wörtern, die im Akte des vernünftigen Schließens solche Vorstellung bezeichnen.«351 Vorstellung und gesprochenes Wort müssen also in Einklang stehen. Bewußtsein bedeute, daß wir einen »Sinn mit unsern Wörtern verbinden«: Dies »ist das Leben der Wahrheit; ohne es ist die Wahrheit nichts wert.«352 So kommt HobUrteilen identifiziert Hobbes mit »absondern oder unterscheiden«. – Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. X, 4. 348 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. VI, 1. 349 Hobbes anerkennt zwar Descartes’ Prämisse »ego cogito, ego existo«, nicht aber die wissenschaftlicher Erforschung angeblich zugängliche Objektivität des Bewußtseins desjenigen, der gegenwärtig (Descartes: »quamdiu«) denke. Statt dessen behauptet Hobbes eine Art solipsistischen Wahrnehmungsstrom: »Nicht aber schließe ich, daß ich denke aus einem andern Gedanken; denn wenngleich jemand denken kann, daß er gedacht habe (dieser Gedanke ist nichts anderes als die Erinnerung), so ist es doch ganz unmöglich, daß jemand denkt, er denke, wie auch, daß er weiß, er wisse. Die Frage würde ja ins Unendliche gehen: woher weißt du, daß du weißt, du weißt!« – Siehe Hobbes’ »objectiones« zu: René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und herausgegeben von Arthur Buchenau. Unveränderter Nachdruck der ersten Ausgabe von 1915, mit neuer Vorbemerkung. Hamburg 1994. 157. – »In diesem Sinne war das Selbst für Hobbes also lediglich ein imaginäres Konstrukt, das seine vermeintliche Existenz allein unserer Unfähigkeit verdankte, uns die Tätigkeit des Denkens ohne einen Denkenden vorzustellen, der sie ausübt.« – Siehe: Richard Tuck: Hobbes. A.a.O. 73. 350 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. VI, 1. – Wie schon gesehen, bilden in Hobbes’ De Corpore nomina den veritativen Horizont sämtlicher Weisen des Wissens. »Es ist bis jetzt noch nicht hinreichend geklärt, auf welchem Wege Hobbes zu seiner Auffassung gekommen ist, die der Ockhams sehr ähnlich ist; er erwähnt Ockham nicht ein einziges Mal in seinen Werken. Jedoch läßt sich sagen, daß sein Nominalismus – als Ergebnis einer radikalen Wendung zum Diesseitigen – gewissermaßen unausweichlich ist.« – Siehe: Bernard Willms: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan. A.a.O. 65. 351 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. VI, 3. 352 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. VI, 3. 347
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bes schließlich zu folgender Bestimmung: »Das Wissen, welches wir Wissenschaft nennen, definiere ich daher als Bewußtsein der Wahrheit, hervorgehend aus irgendeinem Anfangsgrund oder Prinzip der Empfindung.«353 Wörter oder Begriffe gehörten stets den Vorstellungen des Geistes an; Vorstellungen ihrerseits wiederum könnten ohne Gegenstände, die sinnlich gegeben werden, nicht erinnert werden. Demnach umfaßt Hobbes’ bereits erwähnte Prinzipientheorie vier Stufen: 1. Bestimmte Vorstellungen sind da; 2. Dinge, von denen die Vorstellungen herrühren, werden benannt; 3. Namen oder Wörter werden so verbunden, daß logisch korrekte Sätze entstehen; 4. Sätze werden so verbunden, daß berechnende Deduktionen möglich werden.354 Hobbes meint, der Beginn der Sprache (d. h. nicht linguistische Kompetenz als solche, also Sprachvermögen, sondern Performanz) entstehe durch Zungenbewegung. Dabei entstehe jedoch das Problem, daß die ratio zur oratio verkümmere – was Hobbes als Gefahr für die Philosophie als solche ansieht355 –, wenn Gewohnheit statthat (z. B. bei Bettlern, die das Vaterunser gedankenlos repetieren). 2.5.2 Innere Sicherheit Hobbes unterscheidet im ersten Teil seiner Elements of Law Körperliches von Geistigem. Zu den körperlichen Anlagen zählt er das Erfordernis von Ernährung, Bewegung, Fortpflanzung im Unterschied zu den geistigen Erkenntnis- und Triebvermögen. »Das Erkenntnisvermögen, so argumentierte er, vermittle die Erfahrungen aus der Umwelt an das Triebvermögen, wodurch entweder Lust und Begierde oder Unlust und Furcht entstünden. Von dieser Anthropologie aus entwickelt Hobbes dann im Zweiten Teil seine Staatslehre.«356 Im Naturzustand ist eine Übertragung oder Abtretung von Recht des einen auf einen anderen schon rein logisch ausgeschlossen.357 Die Verhängung von Strafen sieht Hobbes mit der alttestamentarischen Rache (dem gemäß seinem Katalog siebenten Naturgesetz) verknüpft, verlangt aber für das Strafmaß eine Orientierung am zukünftig Guten: »[…] daß die Menschen bei der Rache […] nicht die Größe des vergangenen Bösen betrachten, sondern die Größe des zukünftigen Guten.«358 Das eigentliche rechtsphilosophische Problem, das aus Hobbes’ Naturzustandsprojektion für dessen eigene Staatsrechtslehre Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. VI, 4. Hobbes versteht unter einer Schlußfolgerung eine strikt mathematische Kalkulation: »Berechnung aber meint die Summe mehrerer zugleich hinzugefügter Dinge ziehen oder nach Abzug des einen vom andern den Rest erkennen.« – Siehe: Thomas Hobbes: Co I, 2. 355 Siehe: Thomas Hobbes: Co I, 1. 356 Siehe: Arthur Kaufmann: Vorwort zum Neudruck. – In: Thomas Hobbes: N VI. 357 Siehe: Thomas Hobbes: L 109. 358 Siehe: Thomas Hobbes: L 128. 353
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erwächst, liegt indes gerade in deren Logik beschlossen: So wie Hobbes das Recht an sich als ein Unbedingtes begreift, seine Setzung sonach aus der Natur des Seins selbst mit Notwendigkeit folge, fänden sich jedoch ebenso vorstaatliche, will sagen naturzustandliche Rechtsformen, denen Unveräußerlichkeit beigemessen werden müßten, d. h. die der Mensch weder aufgeben noch übertragen könne, wie etwa das Widerstandsrecht.359 Sowohl gesetztes als auch gegebenes Recht steht also für Hobbes – obschon, wie gesehen, aus jeweils unterschiedlichen Gründen – im Modus der Notwendigkeit. Und Hobbes geht noch weiter: Ein Mensch erachte nichts für ungesetzlich, »was zu seiner eigenen Sicherheit und Wohlfahrt dient«: Inter arma silent leges.360 Der Naturzustand, in dem ausschließlich Selbsterhaltungsstreben361 herrsche, werde durch einen Akt der Vernunft aufgehoben, da der Mensch »zu seinem eigenen Besten den Frieden«362 suche. Der Friedensschluß – den Hobbes vielfach mit dem Wesen des Naturgesetzes identifiziert363 – ziehe eine vertragliche Bindung an einen »politischen Körper« nach sich: das Staatsgebilde und somit gleichermaßen den »Eintritt in den Friedenszustand«.364 Wenn Hobbes vom corpus politicum handelt, ist zu beachten, daß sein streng naturalistisches Verständnis von Organismus davon unberührt bleibt; die geistige Komponente der Freiheit kommt dabei allerdings nicht zur Geltung. »Der Staat beende den Naturzustand und verwirkliche den inneren Frieden durch seine ›Souveränität‹«.365 Unter der beträchtlichen Anzahl von Naturgesetzen, die Hobbes kennt, besagt eines, Friedensboten, sprich politische Siehe: Thomas Hobbes: L 110 f. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 2. – Siehe auch: ders.: C II, Kap. 5, 2. 361 Hobbes setzt wie Spinoza einen natürlichen Selbsterhaltungstrieb an. – Vgl. Thomas Hobbes: N I, Kap. XVII, 14 mit: Baruch de Spinoza: E III. Prop.es VI–X. – Siehe zudem: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 176. – Am Ende des 16. Jahrhunderts erleben die Texte der antiken Stoiker und Skeptiker eine Renaissance. So verdanken die zwischen 1580 und 1588 entstandenen Essais Montaignes ihre erfolgreiche Verbreitung in erster Linie ihrer ansprechenden Kontamination skeptischer, stoischer und tacitistischer Elemente. Das Beispiel der Essais als Ausdruck der damals vielleicht bekanntesten, weil umstrittensten Spielart einer gelehrten Skepsis verdeutlicht aber auch, wie sich das Prinzip der Selbsterhaltung als universales Movens menschlichen Handelns der Sogwirkung des Strudels des Zweifels zu entziehen vermag. Mit Blick auf Hobbes: Er hält an dieser Verhältnisbestimmung unbedingt fest und verabreicht dem Selbsterhaltungsprinzip den Status eines grundlegenden (Natur-)Rechts: »Jedes Mittel zur Selbsterhaltung gilt als Recht.« So gelte im Naturzustand jeder selber als Richter. – Siehe: Thomas Hobbes: C I, Kap. 1, 8. – Hieraus leitet sich Hobbes’ Forderung nach einer neu zu konzipierenden Politologie als Teil der ›Neuen Wissenschaft‹ überhaupt (siehe auch Bacon) ab. 362 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIV, 14. – Das – allerdings selbstsüchtige, d. h. lediglich auf eigenen Machterhalt ausgerichtete – Motiv der Friedenssicherung gesteht Hobbes auch Urhebern heidnischer Religionen zu. – Siehe: Thomas Hobbes: L 96 ff. – Siehe hierzu auch: Daniel Eggers: Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes. Eine vergleichende Analyse von The Elements of Law, De Cive und den englischen und lateinischen Fassungen des Leviathan. A.a.O. 131 – 147. 363 Siehe: Thomas Hobbes: N 101; siehe auch 112 f. 364 Siehe: Thomas Hobbes: L 129. 365 Siehe: Arthur Kaufmann: Vorwort zum Neudruck. – In: Thomas Hobbes: N VII. – Siehe auch: Thomas Hobbes: L 145 f. 359
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Abgesandte, sollten ein Recht auf körperliche Unversehrtheit genießen.366 Allerdings hätten Frieden und Schutz auch ihren Preis: nämlich Steuern367 – womit Hobbes auch sagen will, eine friedenstüchtige, d. h. schlagkräftige Armee möge aus dem Staatshaushalt finanziert werden. Gerate die Staatsmacht hier in Schwierigkeiten, drohe ihr Ungemach – was der Ausbruch des Civil War bewiesen habe, möchte man i.S. Hobbes’ ergänzen. Hobbes ist sich jedoch der zweifachen Notwendigkeit zum Zwecke der Friedenssicherung bewußt:368 nämlich der gegenseitigen Hilfe sowohl für die Verteidigung (»zeitige Warnung und Wappnung im voraus«369) als auch der gegenseitigen Furcht der Staaten voreinander – ein nach Hobbes naturzustandliches Verhältnis.370 Doch kein Zusammenschluß wie vieler Menschen auch immer garantiere dauerhafte Sicherheit; auch gemeinsame Ziele müßten durch »Einmütigkeit«, d. h. durch »Zusammenwirken des Willens vieler zu einem gemeinsamen Handeln,«371 verfolgt werden. Die natürliche Eintracht unter Geschöpfen sei zwar Gottes Werk, »vermittelt durch die Natur; aber die Eintracht unter den Menschen ist künstlich und wird durch Verträge vermittelt.«372 Der Zusammenschluß zu einem Willen »eines Mannes oder einer R a t s v e r s a m m l u n g «373 bedeute die Einsetzung eines Herrschers mit herrschender Gewalt.374 Die Vereinigung »zu einer Person«375 entspreche dem Gründungsakt eines politischen Körpers, sprich einer bürgerlichen Gesellschaft oder einer p|kir, um mit den Alten zu sprechen. Wenn Aristoteles eingangs seiner unter dem späteren (bibliographischen) Titel t± let± t± vusij\ (Metaphysik) versammelten Schriften konstatiert, alle Menschen strebten von Natur nach Wissen,376 hätte Hobbes dem gewiß nicht widersprochen; aber Hobbes kennt – wie auch Aristoteles377 – einen weiteren humanoiden Wesenskern: das Bedürfnis nach Gemeinschaft.378 Daß »es in der Eignung der Menschen zur GesellSiehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XVII, 13. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. V, 2. 368 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 3. – Siehe auch: ders.: C II, Kap. 5, 3. 369 Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 13, 7. 370 Siehe: Ibid. 371 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 6. 372 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 5. 373 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 6. 374 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 10. 375 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 8. – Zur Unterscheidung von natürlicher und juristischer Person siehe: ders.: L 134 f.; wie eine Vielzahl von Menschen zu einer Person wird: Ibid. 138. – Zu diesem Komplex siehe auch die Kapitel 1.1, 1.2 und 1.3.4 des vorliegenden Abschnitts. 376 »Pamter amhqopoi tou eidemai oqecomtai pgxsei.« – Siehe: Aristoteles: Metaphysik. A.a.O. I 1, 980a 21. 377 Siehe: Aristoteles: Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kullmann. Reinbek bei Hamburg 1994. 2353a; 1278b. (f`om pokitij|m) 378 Wenn übersetzt wird: »daß die Menschen von Natur gesellig sind« (siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. IX, 16; siehe auch: ders.: L 127; C I, Kap. 1, 2), zollt der Rückgang auf die Geselligkeit 366
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schaft eine Verschiedenheit der Natur gibt, die aus der Verschiedenheit ihrer Eigenschaften entspringt«,379 besagtes Gemeinschaftsbedürfnis also emotiven Schwankungen, d. h. teils stärker, teils schwächer ausgeprägten Neigungen ausgesetzt ist, steht dem Realisten Hobbes gleichwohl deutlich vor Augen. Eine Gruppe von Menschen finde sich zwecks Friedensschluß sowie seiner Sicherung und werde eine Person, von der Hobbes indes »Korporationen«, d. h. untergeordnete politische Gemeinschaften, unterscheidet.380 »Und jedes Mitglied der politischen Gemeinschaft heißt ein U n t e r t a n , nämlich des H e r r s c h e r s .«381 Hobbes diagnostiziert aber nicht nur ein subjektives Bedürfnis nach Gemeinschaft, sondern erkennt auch den objektiven Zwang, dem Anspruch auf Bewahrung ihrer selbst zu genügen. Hierfür findet er einen metaphorischen Vergleich, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen läßt: »Denn wie jeder Stein, der wegen seiner rauhen und unregelmäßigen Form anderen mehr Raum nimmt, als er selbst ausfüllt, und wegen seiner Härte nicht leicht geglättet werden kann und den Bau behindert, von den Bauleuten als unnütz und störend weggeworfen wird, so muß auch ein Mensch, der durch die Rauheit seiner Natur danach strebt, Dinge zu behalten, die für ihn selbst überflüssig und für andere notwendig sind, und der wegen der Hartnäckigkeit seiner Gemütsbewegungen nicht zu bessern ist, aufgegeben oder aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, weil er ihr lästig ist.«382 2.6 Ab civitate condita 2.6.1 Naturlogisches Bildungsgesetz des politischen Körpers Wie schon in De Cive unterscheidet Hobbes auch im Leviathan eine Gründung des politischen Gemeinwesens einerseits durch »Einsetzung«: kontraktualistisch mit vergleichbaren Rechten und Pflichten gleichermaßen für die väterliche wie für die despotische Herrschaft,383 andererseits durch »Aneignung«, kraft der die souveräne Macht durch Gewaltanwendung erworben wird.384 Im folgenden sei ein verborgeder deutschen Aufklärung Tribut. – Siehe: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Herausgegeben von Werner Schneiders. München 1995. Art. »Geselligkeit«. 152 ff. 379 Siehe: Thomas Hobbes: L 127. – Hier kommt Hobbes’ individualistisches Prinzip der gemeinhin altruistisch begriffenen Moral zum Vorschein. Gänzlich unbestechlich konstatiert er z. B., lediglich Ehre und Vorteilsstreben ließen die Menschen die Gesellschaft suchen. – Siehe: Thomas Hobbes: C I, Kap. 1, 1. 380 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 9. – Zur Korporationslehre siehe das nachfolgende Kapitel. 381 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 10. 382 Siehe: Thomas Hobbes: L 127. 383 Siehe: Thomas Hobbes: L 172. 384 Siehe: Thomas Hobbes: L 146. – »Und diese Art Herrschaft […] unterscheidet sich von der Souveränität durch Einsetzung nur darin, daß Menschen, die ihren Souverän wählen, es aus Furcht voreinander tun und nicht aus Furcht vor dem, den sie einsetzen […].« – Siehe: Ibid. 168.
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ner, in Hobbes’ politischer Philosophie gleichwohl angelegter Aspekt im Gründungsakt des Staates ans Licht gefördert, der in erster Linie durch Begriffe Natur, Logik und Recht (bzw. Gesetz) betrifft. Hobbes ist der Überzeugung, jedwedem Seienden inhäriere eine »natürliche Logik«.385 Dies erlaubt den Schluß, auch das Recht sei mit einer natürlichen Grundlage versehen: Es sei Naturrecht. Wenn aber die Natur als solche, d. h. die Gesamtheit des naturhaft begegnenden Phänomenbestands, logisch zugänglich ist, vermag sie auch vernünftig, d. h. mit den Mitteln und im Rahmen menschlicher Erkenntnis begriffen zu werden. Dieser Naturbegriff, der somit gleichermaßen von einer Erkenntniskritik getragen wird, bildet die Voraussetzung für Hobbes’ weitergehende Behauptung, die Entstehung auch des politischen Körpers, sprich der bürgerlichen Gesellschaft, gehöre dem Naturprozeß insgesamt an.386 Sonach vollzieht sich die Gründung des Staatskörpers gemäß strikter naturlogischer Implikation: Sein Bildungsgesetz folgt der natürlichen Logik. Das ist ein starkes Argument, das sich erstens aus Hobbes’ eigenen Voraussetzungen ergibt und das zweitens auf Basis dieser Voraussetzungen schwerlich sinnvoll bestritten werden kann. Der politische Körper erscheint so als ein in doppelter Hinsicht notwendiges Gebilde: zum einen nach naturgesetzlicher, zum anderen nach anthropologischer Maßgabe (conatus).387 Im folgenden wird sich allerdings zeigen, daß die Symptomatik dieses natürlichen Bildungsgesetzes die Einsicht in die Notwendigkeit persönlicher Unterwerfung generiert: Da nämlich »die Erhaltung des Lebens der Zweck ist, zu dem ein Mensch einem anderen Untertan wird, nimmt man von jedem an, daß er dem Gehorsam verspricht, in dessen Macht es steht, ihn zu retten oder zu vernichten.«388 Und nicht zuletzt hierin liegt die Brisanz der Staatsphilosophie Hobbes’ – wird doch diese Form der Rechtfertigung bereits von römischen Caesaren »und später dann erneut von den absolutistisch regierenden Herrschern der Neuzeit zur Legitimation ihrer despotischen Gewalt bemüht«.389 Das konstatierte naturlogische Bildungsgesetz des Staates behauptet ein autonomes Format innerhalb der politischen Philosophie Hobbes’, bezeichnet es doch exakt den Übergang; oder besser: die philosophische Demarkationslinie zwischen Naturzustand und Vergesellschaftung. Dieser theoretisch blinde Fleck: nicht mehr Naturzustand, noch nicht Staat, ist daher im Interesse einer sinnvollen Interpretation genau zu unterscheiden von Hobbes’ Analysen kontraktualistisch fundierter Macht bzw. staatlicher Gewalt und stellt daher mitnichten ein einziges komplexes Argument dar, wie nur allzu oft behauptet. Bezeichnenderweise sieht Hobbes die Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. VI, 11. Siehe: Thomas Hobbes. N I, Kap. XIX, 11. 387 Diese Disjunktion durchwirkt auch den Leviathan: »Denn die Naturgesetze […] sind an sich, ohne den Schrecken einer Macht, die ihre Einhaltung bewirkt, unseren natürlichen Gemütsbewegungen entgegengesetzt, welche uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachedurst und dergleichen fortreißen.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 141. (Hervorh. H. G.) 388 Siehe: Thomas Hobbes: L 170. 389 Siehe: Richard Tuck: Hobbes. A.a.O. 42 f. 385
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internen Verflechtungen des Gewalt- oder Machtverhältnisses im Rahmen seiner (schmal gehaltenen) Erörterungen zu den Korporationen – genannt werden Unterrubriken für die Regierung, für Rechtspflege, Handel und Gewerbe390 –, d. h. auch unter der Voraussetzung eines bereits existierenden Staatswesens, prinzipiell restituiert. Unverzichtbare Stützung erfährt Hobbes’ Theorie zur Staatsbildung durch die These vom persönlichen Selbsterhaltungswillen (conatus), mithin eines Affektes – und somit gleichfalls vermöge eines realontologisch unabweisbaren Naturgesetzes, d. h. eines natürlichen Rechts des Menschen. Hier tritt das Novum in Hobbes’ Begriff des Naturrechts am deutlichsten zu Tage: seine Individualisierung. Die Faktizität besagten Naturgesetzes der Selbsterhaltung ergibt sich, wie Hobbes einschärft, v. a. aus der Unmöglichkeit, »in Wirklichkeit seine eigene Stärke einem andern zu übertragen, oder für jenen andern, sie zu empfangen«,391 d. h. im Gegenschluß aus der naturlogischen Rückbindung an den je eigenen Möglichkeitsspielraum, sich zwangsläufig praktisch zu verhalten – und zwar in steter Vorteilsrücksicht. Denn mit der Übertragung eigener Macht (Tönnies übersetzt in den Elements of Law: Gewalt) und Fähigkeiten (Tönnies: Stärke) auf einen anderen geht für Hobbes insbesondere auch die freiwillige Preisgabe individuellen Widerstandsrechts einher, also ein zusätzliches, wiederum naturrechtlich verbürgtes Rechtsverhältnis. Hobbes entwickelt hier ein neues Argument für die ontische Unabweisbarkeit des objektiven Rechtsstatus: Entsagung des eigenen Rechtsanspruchs (die Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen) bedeutete in der Konsequenz den Untergang des (Natur-) Rechts an sich. So heißt Hobbes’ politischer Grundsatz: Stärke und Machterhalt, ja höchster Lustgewinn durch Machtvergrößerung392 vermöge Unterwerfung zum Zwecke eigener Sicherheitsgarantie. Die Wurzel der urtümlichen Furcht vor der Tilgung individuellen Seins liege daher in der Furcht vor einem Stärkeren und führe zur Anerkennung einer neu konstituierten väterlichen oder despotischen Gewalt.393 Hobbes vergleicht einmal die Eigenschaften von Bienen, die er quasi-aristotelisch394 den animalia politica zuordnet, mit denen von Menschen.395 Von den fünf Gruppen, die Hobbes hier unterscheidet, steht der letzte Komplex im Zentrum: Bienen hätten anders als Menschen »keine Vorstellung von Recht und Unrecht, sondern nur von Lust und Schmerz, und rügen deshalb auch nicht einander oder ihren Anführer, solange als es ihnen selber gut geht, während die Menschen, welche sich selbst zu Richtern über Recht und Unrecht machen,[396] dann am wenigSiehe: Thomas Hobbes. N I, Kap. XIX, 9. Siehe: Thomas Hobbes. N I, Kap. XIX, 10. 392 Also bezeichnet der Begriff der Macht für Hobbes eine relative Größe. 393 Siehe: Thomas Hobbes. N I, Kap. XIX, 11. – Siehe zudem: ders.: C I, Kap. 1, 8 f. 394 Siehe: Aristoteles: Politik. A.a.O. 1253a–1278b. 395 Siehe auch: Thomas Hobbes: L 143 f. – Siehe auch: ders.: C II, Kap. 5, 5. 396 Das siebzehnte Naturgesetz lautet, niemand sei sein eigener Richter; das achtzehnte, niemand dürfe Richter sein, »der einen natürlichen Grund zur Parteilichkeit« habe. – Siehe: Thomas Hobbes: L 131. 390
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sten ruhig sind, wenn es ihnen am behaglichsten geht. Endlich, die natürliche Eintracht, wie sie unter jenen Geschöpfen besteht, ist Gottes Werk, vermittelt durch die Natur; aber die Eintracht unter den Menschen ist künstlich und wird durch Verträge vermittelt. Es ist daher kein Wunder, daß jene unvernünftigen Tiere, welche große Völker bilden und sich regieren, dies mit weit größerer Beständigkeit tun als die Menschen, die es kraft willkürlicher Einrichtung tun.«397 Dieser Nachweis bezeugt nicht nur, daß Hobbes sicherlich nicht zu den Vorläufern sozialstaatlicher Theorien zu zählen ist, sondern auch, daß sich seine kontraktualistische Grundthese – unbesehen ihrer fortschrittlichen Errungenschaften – noch entschieden schöpfungstheologischen Projektionen verpflichtet weiß, heißt es bei ihm doch »Gottes Werk, vermittelt durch die Natur« (wobei allerdings ein Vertragsabschluß mit Gott ausgeschlossen ist398). Die Funktion dieser Engführung von Offenbarungstheologie und Rechtslehre besteht aber in der Umbesetzung eines theologischen in einen staatslogischen ›Kreationismus‹, d. h. in ein strikt säkulares Kalkül im Dienste politologischer Usurpation. 2.6.2 Unterwerfungsvertrag Unter erneutem Rückgriff auf den Naturbegriff ließe sich das Pferd aber auch von der gewohnten Seite aufzäumen: Ein politischer Körper entstehe auf natürliche Weise: nämlich aus natürlicher Furcht vor dem Stärkeren, der Leben und Besitz (noch nicht Eigentum!) des Individuums gefährdet. Aus diesem Grund vertraue sich dieses einer übergeordneten Instanz an,399 werde demnach Untertan. Hieraus entwickelten sich »väterliche« oder »despotische« Gewalt (durch militärische Okkupation).400 Corpus politicum werde »ins Dasein gerufen […] für die Beherrschung und Regierung von Privatleuten«; und Hobbes gesteht die beiden aus Staatenbildung verursachten Konsequenzen unumwunden ein: »Nutzen oder Schaden des Regiertwerdens.«401 Denn Herrscher und Untertanen unterhielten ein beiderseitiges Nutzungsverhältnis; doch der Vertragsabschluß402 führe für den Untertanen zu einem letztlich vorteilhaften Freiheitsverlust im Staat (Unterwerfungsvertrag): Die Einbuße von Freiheit zeige sich darin, »daß ein Untertan nicht länger seine eigenen Handlungen nach seinem eigenen Ermessen und Urteil oder (was dasselbe ist) seinem Gewissen lenken kann, wie die bestehenden Umstände ihm das von Zeit zu Zeit nahelegen werden, sondern verpflichtet sein muß, nur jenem Willen entsprechend zu handeln, den er vor langer Zeit, ein für alle Male, niedergelegt und einSiehe: Thomas Hobbes. N 128. Siehe: Thomas Hobbes: L 147. – Siehe ebenso: ders.: C I, Kap. 2, 12. 399 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIX, 11. 400 Siehe: Thomas Hobbes: L 169 – 173. 401 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. V, 1. 402 »Die gegenseitige Übertragung von Rechten nennen die Menschen Vertrag.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 111. 397
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gegliedert hat in dem Willen der Majorität einer Versammlung oder in dem Willen eines einzigen Menschen. Aber dies ist in Wirklichkeit kein Nachteil. Denn es ist […] das einzige Mittel, wodurch es uns möglich wird, uns selbst zu erhalten; denn wenn jeder Mann die Freiheit hätte, seinem Gewissen zu folgen, so würden die Leute, bei der großen Verschiedenheit ihrer Gewissen, keine Stunde miteinander in Frieden leben. Aber es erscheint jedem einzelnen Menschen als ein großer Nachteil, an dieser Freiheit gehindert zu sein, weil jeder, als einzelner, es so ansieht, als ob sie (die Freiheit) nur in ihm und nicht in dem andern sei, wodurch die Freiheit unter dem Bilde der Herrschaft und der Regierung über andere erscheint. Denn wo ein Mann freien Willen hat und die andern gebunden sind, da hat jener eine die Regierung.«403 So identifiziert Hobbes das Staatsrecht im wesentlichen – repressiv – mit der Berechtigung zur Einschränkung von Freiheit zwecks Friedenserhalts – dies allerdings mit der Auflage, solange es für die herrschende Macht im Staate möglich sei. Betont sei zudem ein formales Charakteristikum: Der Bedingungszusatz nach Möglichkeit bildet ein durchgängiges Integral Hobbistischer Staatsphilosophie. Seine Funktion besteht einerseits darin, jederzeit die rechtliche Unantastbarkeit der höchsten Staatsgewalt objektiv zu garantieren und andererseits, deren potentiellen Agitationsrahmen abzustecken. So gebiete z. B. die »Pflicht« den Inhaber der höchsten Gewalt, »der rechten Vernunft, welche das natürliche, moralische und göttliche Gesetz ist, nach Möglichkeit in allem zu gehorchen.« Das Weitere spricht für sich: »Der Staat ist nämlich nicht seinetwegen [um seiner selbst willen, H. G.], sondern der Bürger wegen eingerichtet worden; aber man kann dabei nicht auf diesen oder jenen Rücksicht nehmen. Denn der Herrscher als solcher sorgt nur durch Gesetze, die allgemein sind, für das Wohl der Bürger; deshalb hat er seine Pflicht erfüllt, wenn er mit ganzer Anstrengung dafür gesorgt hat, daß es durch heilsame Einrichtungen so vielen wie möglich und so lange wie möglich gut gehe und daß es niemandem schlecht gehe, ausgenommen durch seine eigene Schuld oder durch einen Zufall, dem man nicht vorbeugen konnte. Mitunter erfordert es aber das Wohl der meisten, daß es denen, die schlecht sind, auch schlecht gehe.«404
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Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. V, 2. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 13, 2 bzw. 3.
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3. Kapitel: Naturrecht und Religion im Staat 3.1 Die nominalistische Kritik der Religion Hobbes behauptet einen Konnex zwischen der vorgeblichen Anlage des Menschen, Wissenschaft zu treiben,405 und dem biblischen Buch Genesis,406 das insbesondere über Gottes schöpferischen Akt der Namensgebung Auskunft erteilt.407 Somit wird der menschlichen Initiative der Initiierung von Wissenschaft ein quasi-schöpfungstheologisches Gepräge verliehen: Nicht das Faktum der Wissenschaft, sondern erst der Akt der Namensgebung versetzt den Menschen in eine Nähe zur Wissenschaft, wobei besagter Akt – orientiert an Hobbes’ dezidiert naturwissenschaftlicher Ausrichtung – phonetisch verstanden wird, nämlich als Verlautbarung der menschlichen Stimme: Der Begriff der Wissenschaft wird bestimmt als »die Erinnerung von Namen und Benennungen der Dinge und wie jedes Ding heißt, was im gewöhnlichen gesellschaftlichen Verkehr eine Erinnerung an Übereinkünfte und Verständigungen ist, welche die Menschen unter sich darüber geschaffen haben, wie sie sich gegenseitig verstehen wollen.«408 Folgerungen aus dieser »Art des Wissens« nennt Hobbes »Wahrheit«.409 Im XI. Kapitel der Elements of Law, das betitelt ist: Welche Vorstellungen und Affekte die Menschen haben bei den Namen von übernatürlichen Dingen, suggeriert Hobbes die Unbegreiflichkeit eines allmächtigen Gottes und folgert daraus die Unmöglichkeit, sich eine »Vorstellung und [ein] Bild der Gottheit«410 zu machen. Wohlgemerkt: die Unmöglichkeit, nicht das Verbot. Sämtliche Eigenschaften, die Gott zugeschrieben würden, drückten lediglich die menschliche Ohnmacht aus, die Ordnung der Natur zu erkennen. Im Kontext der rechtsphilosophischen Ausgangsfragen vorliegender Untersuchungen kommt Hobbes’ vorbehaltlose Anerkennung des Satzes vom Grund eine zentrale Bedeutung zu: Jedwedes Seiende sei von bestimmter Ursache. Das XI. Kapitel der Elements of Law führt in vier Schritten einen Gottesbeweis vor, in dessen Zentrum der Chiasmus von causa efficiens und prima et ultima causa (erste Ursache Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. V, 4. Siehe: Gen 2,20; Gen 5,2. 407 Siehe auch: Thomas Hobbes: L 23 f. 408 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VIII, 13. 409 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VIII, 13. – Dies erinnert an Spinozas »perceptio ex auditu«, der am weitesten vom Wahrheitswissen entfernten Erkenntnisweise. – Siehe: Baruch de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione. Abhandlung über die Berichtigung des Verstandes. Herausgegeben von Konrad Blumenstock. – In: Baruch de Spinoza: Opera. Werke. Lateinisch und Deutsch. Zweiter Band. Darmstadt 41989. [19] I. – Diese erste von insgesamt vier Erkenntnisarten faßt Spinoza in seiner Ethica später gemeinsam mit der zweiten (»perceptio experientiâ vagâ«) zur mit dieser gleichlautenden empirischen Erkenntnis zusammen. – Siehe: Baruch de Spinoza: Ethica. Ethik. Herausgegeben von Konrad Blumenstock. – In: ders.: Opera. Werke. Lateinisch und Deutsch. Zweiter Band. Darmstadt 41989. II. Prop. XL. Schol. II. (Sigle: E) 410 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 2. 405
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aller Ursachen)411 steht, auf den das Denken notwendig zulaufen müsse. So könne gewußt (d. h. auf natürliche Art bewiesen412) werden, daß, aber nicht, was Gott sei. Das betont anthropomorphe Gottesverständnis, »wie es sich im spätmittelalterlichen Nominalismus und in der reformatorischen Prädestinationslehre herausgebildet hatte: die Vorstellung von einem allmächtigen Gott, der in absoluter Freiheit (›potestate absoluta‹) über Mensch und Welt bestimmt und verfügt und der so leicht in Anspruch genommen werden kann für eigenmächtiges Bestimmen und Verfügen seiner Interpreten und Stellvertreter hier auf Erden«:413 Lt. Hobbes genießen solche alttestamentarischen Vorstellungsweisen eines geoffenbarten Gottes zwar uneingeschränkte Autorität, werden jedoch gleichermaßen als theistische Herablassung interpretiert, die sich menschlicher Sprache und Fassungskraft anvertraut. Ähnlich wird kurze Zeit später Spinoza als Kritiker positiver Religion argumentieren, dessen gesamte Philosophie als Ausdruck der Opposition gegen eine solche Ansicht interpretiert werden kann. Die Diktion göttlicher Mitteilung sei indes, so Hobbes, die einzig mögliche, um überhaupt eine Konjunktion zwischen Mensch und Gott (re-ligio) stiften und nachhaltig garantieren zu können. Der Heiligen Schrift zufolge seien Geister Substanzen, unfähig, auf die Sinne zu wirken und sich so dem rationalen Zugriff entzögen,414 was lt. Hobbes für einen besonders resistenten Keim von Religion spricht. Allerdings lege die Schrift kein Zeugnis darüber ab, Geister seien unkörperlicher Natur: »Mir scheint es daher, als ob die Schrift mehr für diejenigen ist, die Engel und Geister für körperlich halten, als für die, welche an das Gegenteil glauben.«415 Auch das Heidentum (das Hobbes nicht zum Aberglauben416 zählt), ja sämtliche Völker der Welt lebten in dem Glauben an die Existenz von Dämonen und hielten diese meistenteils für unkörperlich. Also sinke die Fassungskraft der natürlichen Vernunft ohne Kenntnis der Heiligen Schrift zu einer animistischen Glaubensvariante herab.417 Die Kenntnis von der göttlichen Eingebung (»welche das Wirken von Geistern in uns ist«418) beruhe je»Denn die Wirkungen, die wir auf natürliche Weise wahrnehmen, begreifen notwendigerweise eine Macht, die sie hervorbrachte, bevor sie in Erscheinung traten, in sich; und jene Macht setzt etwas voraus, das diese Macht besitzt; und dieses Etwas, das die Macht hat, etwas zu erzeugen, muß, sofern es nicht ewig ist, natürlich auch durch etwas vor ihm erschaffen sein, und dieses wiederum durch irgend etwas, was vorher war: bis wir zu etwas Ewigem kommen, d. h. zur ersten Macht aller Mächte und zur ersten Ursache aller Ursachen.« – Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 2. 412 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 5. 413 Siehe: Hans Küng: Das Judentum. München 1991. 244. 414 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 5. – Siehe z. B. ebenso: Jean Bodin: Colloquium Heptaplomeres. A.a.O. II. Buch. – Sowie: ders.: D 46. 415 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 5. 416 Aus Hobbes’ Unterscheidung von wahrer Religion (Christentum) und Aberglauben läßt sich eine weitere Begründung für die autoritative Regelung, sc. die innerstaatliche Dekretierung des religiösen Kultes herleiten: weil nämlich Religion und Aberglauben von gleicher natürlicher Abkunft seien. 417 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 6. 418 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 7. 411
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doch ausschließlich auf der Heiligen Schrift. Erschwerend komme hinzu, daß es Geister der Wahrheit und der Lüge gebe.419 Die Bibel gebiete, Geisterwesen nach der daselbst eingefaßten Lehre zu beurteilen – und nicht umgekehrt. Wie aber könne zweifelsfrei gewußt werden, daß die Heilige Schrift wirklich für Gottes Wort stehe?420 Hobbes’ Antwort lautet: Ausschließlich vermöge des »Glaubens«, nicht durch Wissenschaft (Vernunft). Die Liebe zu Gott unterscheide sich jedoch von der gewöhnlichen Liebe:421 »Gott lieben heißt daher in der Heiligen Schrift, seinen Befehlen gehorchen und seinen Nächsten lieben.«422 Auch bedeute es einen Unterschied, ob Gott oder einem Menschen vertraut werde. Gott im innersten Herzen ehren beweise Ehrfurcht, d. h. Anerkennung seiner Macht423 (Majestät) so wie gegenüber einem Vorgesetzten: Gott fungiert hier sowohl als Gesetz- als auch als Befehlsgeber. 3.2 Die Gesetze von Gottes Reich 3.2.1 Staat und christliche Konfessionen Scheinbar mögen sich Versuche zur Beantwortung der Frage, inwieweit Hobbes zur Ablösung der Rechtsbegründung von religiösen Versicherungen beigetragen habe, bereits angesichts des Untertitels seines ausführlichsten Werks zur Staatstheorie: des Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil, von selbst erledigen: Denn geht es Hobbes nicht um den Nachweis der Möglichkeit einer politischen Einbindung, mithin einer friedlichen Koalition himmlischer und weltlicher Anteile des Staatswesens? Abgesehen von den zuvor beschriebenen, für lange Zeit unversöhnlichen Auseinandersetzungen zwischen König und Parlament redet Hobbes im Titel des Werks keineswegs einer rein säkularen staatlichen Formation das Wort, was umso mehr verwundert eingedenk der erbitterten Zwistigkeiten zwischen Katholiken, Lutheranern, Anglikanern, Calvinisten und Puritanern, wie sie bereits Jahrhunderte vor Ausbruch des Civil War in England ausgetragen werden.424 Vielleicht trifft der nicht zuletzt auch zutiefst ironische Eingangssatz in Descartes’ Discours, der 1637, also inmitten des Dreißigjährigen Krieges, veröffentlicht wird, am ehesten die damalige philosophische Haltung hinSiehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 7. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 8. 421 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. IX. 422 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 11. 423 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XI, 12. 424 Hobbes steht der »Unterschied zwischen den Sekten, Papisten, Lutheranern, Calvinisten, Arminianern« und in alter Zeit zwischen »Paulinianer[n], Apollonianer[n] und Kephasianer[n]« deutlich vor Augen. – Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 5. – Bemerkenswert: Hobbes kennt sowohl eine »Predigerin« (siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VII, 9) und verweist auf die »Prophetin Holda« (siehe: 1 Chr 27,15; 2 Chr 34,22) (siehe: ders.: C III, Kap. 16, 16). 419
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sichtlich der realen religiösen Widersprüche der Zeit: »Der gesunde Verstand [Le bons sens] ist die bestverteilte Sache der Welt […].«425 3.2.2 Hexen und das Recht zu foltern Hobbes deutet das Heidentum sowie Formen des Aberglaubens (d. h. polytheistische,426 staatlich nicht legitimierte Religionsgestalten) zunächst religionsskeptisch in der Absicht, ihnen in Gestalt einer auf die politischen und soziologischen Probleme seiner Gegenwart reagierenden Philosophie begegnen zu können. Heidnische Religion entstehe aus der Unwissenheit, »wie sich Träume und andere starke Einbildungen von Visionen und Empfindungen unterscheiden lassen«.427 Die Domäne des Glaubens sei, das suchen Hobbes’ Schriften wiederholt einzuprägen, in der Struktur der Vernunft selbst verankert – und insofern auch kraft dieser Vernunft analysierbar. Den historisch gewachsenen Zusammenhang von Denken und Macht erläutert Hobbes am Beispiel des Hexenwesens: »Denn was Hexen betrifft, denke ich nicht, daß ihre Zauberei irgendwelche wirkliche Macht besitzt, daß sie aber dennoch zu Recht bestraft werden, wegen ihres falschen Glaubens, daß sie solch Unheil anrichten können, verbunden mit ihrer Absicht, das nach Möglichkeit zu tun; wobei ihr Gewerbe einer neuen Religion näher steht als einer Kunst oder Wissenschaft.«428 Der theologische Unterbau der Hexenverfolgung (und nicht das Urteil der Existenzbehauptung: ›Die Hexe ist.‹429) gehört für Hobbes somit in Siehe: René Descartes: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences. A.a.O. I, 1. 426 Als Ursache der Vielgötterei, mit der sich Hobbes v. a. durch das Studium der Metamorphoseon libri des Publius Ovidius Naso (43 v. Chr.–18 n. Chr.) und der Theogonia des Hesiodos aus Askara (8./7. v. Chr.) auseinandersetzt, entlarvt er die unzählige Vielfalt menschlicher Einbildungen, die er als wissenschaftlichen Notstand, d. h. mangelnde Einsicht in das natürliche Ursachengeflecht der Dinge deutet. Dies werde, wie Hobbes unter Berufung auf De rerum natura des Titus Carus Lucretius (um 96 – 55 v. Chr.) anführt, von Furcht begleitet. Hobbes’ mindestens problematische religionskritische These lautet wie folgt: Das Aufkommen von Wissenschaftskultur läutet das Ende von Religion ein, die eine Unkenntnis zweiter Ursachen zum Ausdruck bringe. – Siehe: Thomas Hobbes: L 88; 90. – Diese Ansicht taugt zur Protektion der (jedoch apolitischen) kunstgeschichtlichen These, der Aberglaube sei von jeher der Bebilderung von Theorien dienlich gewesen. In diese Richtung gehen in letzter Zeit auch Politik- und Religionswissenschaftler. – Siehe z. B.: Aberglaube ist keine Hexerei. Gewissenserforschung von Otto Kallscheuer. O-Töne gelesen von Daniel Rohr. Literaturcafé im Foyer/Pact Zollverein, Essen. Vortrag vom 9. September 2007. 427 Siehe: Thomas Hobbes: L 15 f. 428 Siehe: Thomas Hobbes: L 16. 429 Es bestehe zwar »kein Zweifel, daß Gott unnatürliche Erscheinungen erzeugen« könne; wenn aber »diese abergläubische Furcht vor Geistern beseitigt würde und mit ihr Traumdeutungen, falsche Prophezeiungen und viele andere davon abhängende Dinge, vermittels derer gerissene, ehrsüchtige Personen das einfache Volk betrügen, wären die Menschen weit besser als jetzt zum Gehorsam gegen den Staat geeignet. [Abs.] Und dies sollte die Aufgabe der Schulen sein; aber sie unterstützen eher solche Lehre.« – Siehe: Thomas Hobbes: L 16. – Der bildungspolitische 425
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das Ressort der Jurisdiktion, in Anbetracht derer dieser die Sphäre des Moralischen gleichermaßen protegiert, sieht er solches Unwesen doch in willentlicher Entschlußkraft (d. h. nicht der »vitalen«, sondern der »animalische[n] Bewegung« des lebendigen Körpers430) verankert. Zwar geht Hobbes noch nicht so weit, die Folter (»torture«) zu untersagen zu wollen,431 spricht ihr jedoch bereits jedweden Funktionswert ab: »[…] Anklagen unter der Folter sind nicht als Aussagen anzusehen. Denn die Folter soll nur als Mittel zur Mutmaßung und Aufklärung bei der weiteren Untersuchung und Erforschung der Wahrheit angewendet werden; und was in diesem Fall gestanden wird, trägt zur Erleichterung des Gefolterten bei, nicht zur Information der Folterer, und sollte deshalb nicht die Glaubwürdigkeit einer zuverlässigen Aussage besitzen; denn ob er sich durch wahre oder falsche Anklagen befreit, er tut dies aufgrund des Rechts, sein eigenes Leben zu erhalten.«432 Hobbes ist ein scharfer Gegner der Inquisition.433 3.2.3 Melancholie Diese Themen: Hexenwesen, Willensfreiheit und Folter, streift Hobbes noch einmal in Kapitel VIII des ersten Buchs des Leviathan, das die sog. intellektuellen Tugenden (man denke an Aristoteles) thematisiert.434 Die dortigen Ausführungen stellen einen Bezug her zur Melancholie-Problematik. Die Abfolge der von Hobbes verhandelten Tugenden beschreibt einen Abstieg von attraktiven zu wenig erstrebenswerten (oder für das persönliche Erscheinungsbild gar abträglichen) geistigen Fähigkeiten. Wünschenswerte Tugenden nennt Hobbes alternativ guten Verstand.435 Im folgenden rücken die drei Tugenden »Wahnsinn«, »Raserei« und »Melancholie« in den Fokus, wobei hier besonders letztere – man denke an die vorangegangenen Interpretationen zu der Bodin-Weyer-Kontroverse436 – nähere Beachtung finden soll. Aber bleiben wir zunächst noch bei Hobbes’ Ausführungen zum Wahnsinn. Hobbes identifiziert den Wahnsinn mit stärkeren und heftigen Gemütsbewegungen (er bemüht später den Vergleich mit zu sehr dem Weine Zusprechenden), d. h.
und auch pädagogische Anspruch Hobbistischer Politologie steht zu Unrecht im Abseits der Forschung. 430 Siehe: Thomas Hobbes: L 40 431 Das Foltern leugnender Angeklagter wird in England erst 1772 abgeschafft. – Vgl.: Klenner, Anmerkung 2 zum Leviathan, 118. 432 Siehe: Thomas Hobbes: L 118. 433 Siehe z. B.: Wolfgang Behringer: Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung. München 3., durchgesehene Auflage 2002. 82 f. 434 Siehe: Thomas Hobbes: L 61 – 66. 435 Siehe: Thomas Hobbes: L 55. 436 Siehe: III. Teil, 1. Abschnitt, 3. Kapitel.
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der Affektenlehre,437 und schreibt, von diesen gebe »es fast so viele Arten wie von den Gemütsbewegungen selbst [wobei die Logik seiner These gebietet: mindestens so viele, trete der Wahnsinn doch in Form einer starken oder heftigen Gemütsbewegung in Erscheinung; H. G.]. Zuweilen entspringt die außergewöhnliche und übermäßige Gemütsbewegung der schlechten Beschaffenheit der Körperorgane oder einem ihnen zugefügten Schaden; und zuweilen werden Schaden und Indisposition der Organe durch die Heftigkeit oder lange Fortdauer der Gemütsbewegung verursacht.«438 Von hier aus geht Hobbes zur sog. »Raserei und Tobsucht«, eines wahnhaften Übermaßes an Zorn, über, gefolgt von »Niedergeschlagenheit«, die einen Menschen für grundlose Ängste anfällig mache und den Wahnsinn der »Melancholie« nach sich ziehe. Hier wird nicht nur ein Einblick in Hobbes’ Verständnis des Judentums ermöglicht, sondern mehr noch sein thematischer Überschritt zur abendländischen religiösen Tradition insgesamt deutlich. Wenn nämlich, wie Hobbes mitteilt, sowohl Griechen als auch Römer und Juden »Wahnsinnige Propheten oder (je nachdem, ob sie die Geister für gut oder böse hielten) Besessene«439 genannt hätten, zieht diese Zuschreibung logisch betrachtet (wenn A B, dann B A) folgenreiche theologiepolitische Dimensionen nach sich: Denn zwar ist es wahr, daß, wenn Wahnsinnige Propheten (resp. Besessene) sind, auch Propheten (resp. Besessene) Wahnsinnige sind; doch die jeweiligen politischen bzw. religiösen Konsequenzen für kraft solcher Verhältnislogik Aufgefallene differieren grundlegend, was sofort einleuchtet. Ohne die theologie-politische Semantik jenes Schlußgeschehens eigens zu diskutieren, erörtert freilich Hobbes ausführlich besagte Konsequenzen, die aus ihm erwachsen können und historisch bereits erwachsen sind. So findet er den Universalismus des heidnischen Dämonenglaubens – gemäß seinen polytheistischen Voraussetzungen – zwar wenig verwunderlich, vermag dagegen allerdings für die jüdische Prophetie wenig Verständnis aufzubringen, da weder Moses noch Abraham einen prophetischen Anspruch unter Berufung auf geistige Besessenheit erhoben hätten, sondern kraft »der Stimme Gottes oder einer Vision oder eines Traums«.440 Hobbes sieht solche Erklärungsmodelle in mangelndem Wissensdurst, natürliche Ursachen zu erforschen, begründet sowie darin, daß »die Glückseligkeit in der Erlangung großer Sinnenfreuden«441 zu finden gehofft werde. Vorgeblich phänomenale Supranaturalität folge dabei aus ihrer vermeintlichen Unerklärbarkeit und impliziere notwendigerweise theistische oder diabolische Konditionierung. Dieses Analyseresultat dient Hobbes letztlich dazu, über den wahren Nutzen der Heiligen Schrift für die Menschen aufzuklären: »Die Heilige Schrift wurde verfaßt, um den Menschen das Reich Gottes zu zeigen und ihren Geist darSiehe: Thomas Hobbes: L 70 f. Siehe: Thomas Hobbes: L 60 f. 439 Siehe: Thomas Hobbes: L 64. 440 Siehe: Thomas Hobbes: L 64. – Dies heißt für Hobbes aber: Zu wem Gott nicht unmittelbar gesprochen habe, der solle die Befehle Gottes von seinem Souverän empfangen. 441 Siehe: Thomas Hobbes: L 65. 437
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auf vorzubereiten, seine gehorsamen Untertanen zu werden, wobei man die Welt und ihre Philosophie der Disputation der Menschen zur Übung ihrer natürlichen Vernunft überließ. [Hervorhebung H. G.] Ob die Bewegung der Erde oder der Sonne Tag und Nacht bewirkt oder ob die exzentrischen Handlungen der Menschen von den Gemütsbewegungen oder vom Teufel stammen (solange wir ihn nicht verehren), ist ganz gleichgültig in Hinsicht auf unseren Gehorsam und unsere Unterwerfung gegen Gott den Allmächtigen; und dafür wurde die Heilige Schrift verfaßt.«442 In summa jedenfalls, und dies gilt es hier festzuhalten, sieht Hobbes in der Heiligen Schrift keinen Anhaltspunkt gegeben, Besessenheit nicht als Wahnsinn zu begreifen – und damit zugleich affektenlogisch, also epistemologisch. 3.2.4 Staatsgehorsam und Gehorsam im Staat Bis heute bildet der Gehorsam gegen Gott ein theologisches Zentrum christlichen Glaubens.443 Das bisher Erörterte berechtigt, die These zu verteidigen, Hobbes’ politische Wissenschaft suche in Form des Staatsgehorsams ein Religionssurrogat, gleichsam einen künstlichen Staatskult, zu inthronisieren. Ein solcher Versuch der Gründung einer politischen Religion muß jedoch bereits in Hobbes’ Gegenwart zum Scheitern verurteilt sein: Längst verhindern die epistemologischen – und insbesondere theologischen – Bedingungen der Neuzeit eine Retrojizierung religiöser Einheit um den Preis der Einebnung des sakralen Dogmenkatalogs.444 Hobbes’ Unterscheidung von einerseits religiösem und andererseits staatsrechtlich verfügtem Gehorsam geschieht im Dienste einer restfreien Eingliederung der Kirche in den Staat. Religiöse Seligkeit erfordere ebenso Gehorsam445 wie individuelles Glück, das sich gesellschaftlich realisiert. Christen gehorchten den »Gesetze[n] des Himmelreiches«446 als Gesetzen der Natur, Untertanen den Gesetzen des Königs. Dieses Kollektiv: die Orientierung sowohl am himmlischen als auch am weltlichen Recht, sei »notwendig zur Seligkeit«,447 wobei die Befolgung staatsrechtlich erlassener Gesetze448 das (in der Gliederung des Leviathan dritte) naturgesetzlich fundierte PrinSiehe: Thomas Hobbes: L 66. Siehe: Adolf Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin. Sechste Vorlesung. 45. bis 50. Tausend. Leipzig 1903. 60 – 71. – Friedrich Gogarten: Was ist Christentum? 2., durchgesehene Auflage Göttingen 1959. 37 – 42. – ders.: Der Mensch zwischen Gott und Welt. 3. Auflage Stuttgart 1956. 29 – 117; 121 – 133; 205 – 216. 444 Ähnlich argumentiert: Michael Großheim: Religion und Politik. Die Teile III und IV des Leviathan. A.a.O. 289. 445 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 10. 446 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 10. 447 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 10. 448 Hobbes sieht den Souverän zwar als rechtlich uneingeschränkte Instanz der Macht eingesetzt – doch auch das ausnahmslos ihm zufallende Recht auf Kodifizierung des positiven Gesetzes in seinem Ermessen unterliegt den Erfordernissen eigener Selbsterhaltung. Zudem untersteht das 442
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zip der Gerechtigkeit449 – die Erfüllung des (Natur-)Gesetzes – ins Sein setzen solle: Die Einlösung des aus Gerechtigkeit Gebotenen fungiert als praktische Utopie individuellen Willens. Andererseits wiederum stellt Hobbes nicht in Abrede, daß auch die Gründer früher Formen heidnischer Gemeinwesen die Etablierung einer gesellschaftspolitischen Ordnung beabsichtigt hätten.450 Das Religionsproblem insgesamt sei sonach im Kern ein politisches, was schon die Geschichte menschlicher Vergesellschaftungsformen lehre. Wenn Hermann Lübbe die Situation »nach der Aufklärung« beschreibt, kommt er zu einem Resultat, welchem Hobbes entscheidend vorarbeitet: »Die religiöse Aufklärung koppelt die Bürgerrechtsfähigkeit vom religiösen Bekenntnis […] ab. Die Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Irrtum im religiösen Bekenntnis wird damit nicht beseitigt; aber sie wird entpolitisiert. In institutioneller Hinsicht bedeutet das, über die ältere, traditionsreiche Praxis der Toleranzbewältigung hinaus, Freiheit der Religion als eines subjektiven, einklagbaren Bürgerrechts.«451 3.2.5 Die staatsrechtliche Sanktionierung des heidnischen Polytheismus; ihre Folgen So hat der Leviathan die Differenz auszutragen von wahrer Religion, d. h. einem gemäß göttlichem Recht sanktionierten Bekenntnis einerseits und heidnischen, d. h. nach staatsrechtlicher Maßgabe differierenden Polytheismen andererseits: Heidnische Religionen würden durch Menschen, wahre Religion dagegen allein durch Gott selbst gegründet. Staatsrechtlich heißt dies: »Ein Götze oder ein bloßes Hirngespinst kann durch eine Person vertreten werden, wie die heidnischen Götter, die durch die Personen von staatlich ernannten Beamten vertreten wurden und Besitzungen und andere Güter und Rechte innehatten, welche die Menschen ihnen von Zeit zu Zeit weihten und heiligten. Aber Götzen können keine Urheber sein, denn ein Götze ist nichts. Die Ermächtigung [i.e. das Recht, eine Handlung auszuführen, H. G.] ging vom Staat aus; und deshalb konnten vor der Einführung der staatlichen Regierung die heidnischen Götter nicht durch eine Person vertreten werden.«452 Sollte es gelingen, eine Theorie menschlichen Gemeinwesens zu konzipieren, zu deren notwendigen Bestandteil die – wie zuvor erläutert – wahre Religion zählt, hätte sich der wahrhafte, d. h. auch vor Gott rechtmäßige Staat verwirkindividualistische Interesse des Souveräns einem altruistisch veranlagten Bedingungsgefüge – und somit der Moral, sc. dem System der Naturgesetze. Diese Aspekte reflektiert Hobbes unzureichend. 449 Siehe: Thomas Hobbes: L 119 – 126. 450 Siehe: Thomas Hobbes: L 96. 451 Siehe: Hermann Lübbe: Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft. Düsseldorf/Wien 1980. 60 f. 452 Siehe: Thomas Hobbes: L 137. – Das zuletzt genannte Argument trifft nach Hobbes sicherlich auch für das Christentum zu.
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licht. Dieses Ziel zu erreichen, verfährt Hobbes’ exegetischer Zugriff unorthodox, und der Autor gesteht recht freimütig bereits in der Widmung seines Leviathan, daß er »gewisse Textstellen der Heiligen Schrift […] zu einem anderen Zweck anführe, als es andere für gewöhnlich tun.«453 Daß er »nicht von den Menschen, sondern (im abstrakten Sinne) vom Sitz der Macht«454 zu handeln beabsichtige, hat er bereits vorausgeschickt. Wie gesehen unterscheidet Hobbes zwei Möglichkeiten, eine politische Vereinigung, sprich einen Staat, zu gründen:455 1. Freiwillige Konstituierung vieler, »was einer Schöpfung aus Nichts durch den menschlichen Geist gleichkommt«;456 2. »durch Zwang, was gleichsam eine Erzeugung durch Naturkraft ist«.457 Als theologisch ergiebig erweist sich die erste Möglichkeit, setzt sie doch den Menschen – den alten metaphysischen Grundsatz a nihilo nihil fit außer Kraft setzend – an die Stelle Gottes: Die Schaffung eines Staates komme der Schöpfung aus Nichts gleich.458 Die allererst im Zuge der Staatsgründung verbürgten Rechte des Volkes können allerdings zu Streitigkeiten führen, wird die Ambiguität, die im Begriff Volk liegt, mißachtet. Hobbes unterscheidet das Volk als Anzahl von Menschen, die sich durch das Land oder die Gegend, die sie besiedeln, voneinander abgrenzen von einer Menge besonderer Personen, »ohne daß irgendwelche Kontrakte oder Verträge unter ihnen in Betracht kommen, wodurch irgend jemand den übrigen verpflichtet ist«.459 In Hobbes’ Sinne birgt der Staat dagegen das Volk als bürgerliche Person, »das heißt entweder einen Mann oder einen Rat, in dessen Willen der Wille jedes einzelnen begriffen und eingeschlossen ist«.460
Siehe: Thomas Hobbes: L 4. Siehe: Thomas Hobbes: L 3. 455 Siehe das Kapitel 2.6 dieses 2. Abschnitts. 456 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. I, 1. 457 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. I, 1. 458 Augustin Arndts Anmerkung zum ersten Satz des ersten Kapitels der Mosaischen Genesis lautet: »Das hebr. Wort bara: erschuf, brachte aus dem Nichts hervor, wird aktiv nur von göttlicher Thätigkeit gebraucht.« – Siehe: Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Mit dem Urtexte der Vulgata. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Augustin Arndt S. J. […] Erster Band. Fünfte Auflage. Regensburg/Rom/New York & Cincinnati 1910. 5. – Siehe auch: 2 Makk 7,28 sowie Weish 11,17. – Stellvertretend für die aktuelle Problematisierung dieses Aspekts sei hier genannt: Magnus Striet: Den Anfang denken. Bemerkungen zur Hermeneutik des creatio ex nihilo-Glaubens. – In: Biblisches Forum. Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive. 1 (2000). (http://www.bibfor.de) 459 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. II, 11. – Siehe auch: ders.: C II, Kap. 6, 1, FN. 460 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. II, 11. 453
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3.2.6 Das Schicksal der Nächstenliebe Das für das Christentum zentrale Gebot der Nächstenliebe (nach Hobbes »guter Wille«461) beweise zunächst eine Spielart der Macht und könne erst in zweiter Linie als Form der Liebe gelten. Dem eigenen Bedürfnis könne nicht nur entsprochen, sondern auch der Mitmensch bei der Realisierung seines Wunsches unterstützt werden: »Das Gefühl aber, das die Menschen häufig veranlaßt, Fremde mit Wohltaten zu überschütten, darf nicht Nächstenliebe genannt werden; sondern entweder Vertrag, wodurch sie Freundschaft zu erkaufen suchen, oder Furcht, die sie veranlaßt[,] Frieden zu erkaufen.«462 Hobbes behauptet hier keinesfalls eine Prolepse christlicher Nächstenliebe um willen des für seine Philosophie konstitutiven Kontraktualismus, sondern versucht vielmehr, jenes bis heute unabkömmliche Element jedweden christlichen Katechismus für seine eigene Theorie zu vereinnahmen, indem er nicht weniger fordert als eine praktische Umfunktionierung des christlichen Gebots der Nächstenliebe zugunsten der ›summa imperandi potestas‹ im Staat. Des weiteren wird der christliche Demutsappell diskreditiert: »Der Affekt, welcher im Gegensatz zum Stolz aus der Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit entsteht, wird von denen, die ihn schätzen, D e m u t genannt; von den übrigen N i e d e r g e s c h l a g e n h e i t und A r m s e l i g k e i t […].«463 Ferner entdeckt Hobbes auch im Wahnsinn übermäßige Niedergeschlagenheit oder eitlen Stolz.464 Überhaupt führe das Panorama differenter Wirkungsweisen menschlicher Affekte zu dem generellen Unterscheidungskriterium von Überzeugungen und Handlungen,465 indem der Egalitätsgedanke einer permanenten Gefährdung ausgesetzt ist: »Und so reizt der größte Teil der Menschen ohne Zusicherung von Vorteilen, aus Eitelkeit, Vergleich oder Verlangen die übrigen, die sonst mit Gleichheit zufrieden sein würden.«466 Hobbes versteht das Gleichheitsprinzip als (eine) Grundlage des Naturgesetzes (wie gesehen neben dem Verlangen nach Friedensschluß). Das Wesen der Nächstenliebe:467 Nachgiebigkeit und Vergebung, machten zusammen genommen den »Zweck des ganzen Gesetzes«468 aus. Das Christentum wird so auf sein Innerstes reduziert.469 Eine nähere Erörterung des Gleichheitsprinzips, das Hobbes als neuntes Naturgesetz anzuerkennen fordert,470 ist hier nicht vonnöten.
Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. IX, 17. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. IX, 17. 463 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. IX, 2. 464 Siehe: Thomas Hobbes: N I. Kap. X, 11. 465 Biblisch: Glauben und Werken. – Siehe: Mt 23,3; dagegen: Jak 2,18. – Hobbes spricht sich strikt dagegen aus, Glaube von Werk zu trennen. – Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 10. – Wie sich noch zeigen wird, begegnet Spinoza diesem Verhältnis kritisch. 466 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIV, 5. 467 Siehe: Mt 22,39, 40. 468 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XVIII, 8. 469 Siehe hierzu insbesondere das Kapitel 3.4 dieses 2. Abschnitts. 470 Siehe: Thomas Hobbes: L 129. 461
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3.2.7 Die Kritik an der Illuminatio Im Leviathan werden religiöse Gefahrenpotentiale erörtert, die eine Gesellschaft sowohl von außen als auch aus sich heraus bedrohen. Verbunden werden diese Warnungen mit einer Kritik an der religiösen Illuminatio, d. h. der Torheit derer, »die von der Meinung besessen sind, sie seien inspiriert«, sprich durch supranaturale Eingebung persönlich erleuchtet. Hobbes geht es hierbei v. a. um eine Sensibilisierung für die Gefahr, daß besagtes Gefühl des Auserwählt-Seins (»als in der besonderen Gnade des allmächtigen Gottes stehend«) auf eine größere Menge von Menschen, ja eine »Nation«471 übergreifen könne. Unter Rückgriff auf Aristoteles472 behauptet Hobbes, Freiheit und Knechtschaft könnten keine Vereinigung eingehen, so daß die Freiheit im Staat nichts weiter als Regierung und unteilbare473 Herrschaft bedeute. Die Dispute in Religion und Kirchenregiment gründeten in der irrtümlichen Ansicht, ein Mensch dürfe mit Recht handeln oder zu tun unterlassen, was dem Ruf seines Gewissens zuwiderlaufe: »[…] daß die christliche Religion nicht nur nicht verbietet, sondern ebenso gebietet, daß in jedem Staat jeder Untertan in allen Dingen nach seinem besten Vermögen den Befehlen dessen oder derjenigen gehorchen soll, der die herrschende Gewalt hat, und daß ein Mann, wenn er dies tut, seinem eigenen Gewissen und Urteil entsprechend handelt, da er ja in allen Streitfragen sein Urteil in die Hände der herrschenden Gewalt niedergelegt hat, und daß dieser Irrtum hervorgeht aus der Unkenntnis dessen, was und durch wen der allmächtige Gott spricht.«474 3.3 Gewissen und Naturrecht Das im Gewissen den Menschen Angehende anerkennt Hobbes als eine Form des Wissens,475 wobei auch aus der Bibel vielerorts hervorgehe, daß Gott der Wille als Tat gelte und insofern »das göttliche Gesetz für das Gewissen gegeben«476 sei. Wenngleich Hobbes diesen ›reformatorischen‹ Anteil des Glaubens nicht als erkenntnisfördernd akzeptiert, gibt er zu bedenken: »Und doch kann man nicht annehmen, daß diejenigen, welche etwas auf ihr Gewissen versichern, wirklich die Wahrheit dessen, was sie sagen, kennen. Es bleibt mithin nur übrig, daß der Ausdruck von denen gebraucht wird, die eine Meinung haben nicht nur von der Siehe: Thomas Hobbes: L 62. Siehe: Aristoteles: Politik. A.a.O. 1317a–1318a. 473 Hierfür beruft sich Hobbes auf Jean Bodins Six Livres de la République, Buch II, Kap. 1. – »Der Irrtum über die gemischte Staatsform ist entsprungen aus dem Mangel an Verständnis dafür, was jenes Wort p o l i t i s c h e r K ö r p e r bedeutet und daß es nicht die Eintracht, sondern die Vereinigung vieler bezeichnet.« – Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VIII, 7. 474 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VIII, 5. 475 Siehe: Thomas Hobbes: L 58. 476 Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XVIII, 10. 471
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Wahrheit der Sache, sondern auch von ihrer Kenntnis dieser Wahrheit. Folglich bezeichnet das Wort Gewissen in dem Sinne, wie die Menschen es gewöhnlich brauchen, eine Meinung, nicht sowohl von der Wahrheit des betreffenden Satzes, als von ihrem eigenen Wissen davon, dem die Wahrheit des Satzes untergeordnet ist. Das Gewissen definiere ich daher als Meinung vom Bewußtsein.«477 Hobbes setzt sich auch mit der wiederholt angesprochenen Vorstellung auseinander, die Naturgesetze seien in den Herzen der Menschen versenkt.478 In diesem Zusammenhang tritt seine Frontstellung gegen die Rechtsgestalt des Gewohnheitsrechts hervor: »Geschriebene Gesetze sind also die in Worte gefaßten Gesetze eines Gemeinwesens, ungeschriebene die Gesetze der natürlichen Vernunft. Gewohnheit an sich bildet kein Gesetz. Trotzdem kann, wenn einmal ein Urteil von denen, die nach ihrer natürlichen Vernunft richten, erlassen worden ist, möge es nun recht oder unrecht sein, dieses Gesetzeskraft erlangen, nicht weil ein ähnliches Urteil in einem ähnlichen Falle der Gewohnheit entsprechend gefällt worden ist, sondern weil man annimmt, daß die souveräne Gewalt ein solches Urteil schweigend als richtig anerkannt habe, und so kann es Gesetzeskraft erlangen und unter die geschriebenen Gesetze des Staates aufgenommen werden.«479 Die Realisierung des Gesetzes, so kann resümiert werden, untersteht jedoch exklusiv dem kontraktualistisch eingesetzten Herrscher, wobei in der Konsequenz das Völkerrecht mit dem Naturrecht zur Deckung gebracht werde: »Denn das, was das Naturrecht zwischen Mensch und Mensch vor der Einsetzung des Staates ist, ist nachher das Völkerrecht zwischen Herrscher und Herrscher.«480 Die Geburt des politischen Köpers impliziert die außenpolitische Bestätigung des Naturrechtsverhältnisses. Getreu seines individualistisch verfaßten Naturrechtsgedankens darf Hobbes aber auch der Reihe der Erforscher des menschlichen Herzens zugerechnet werden – wenngleich mit anderen Motiven als z. B. Blaise Pascal, d. h. die katholische Herz-Jesu-Frömmigkeit, die bereits im Kontext der konzeptuellen Auslotung des frühneuzeitlichen Naturrechts im ersten Teil vorliegender Untersuchung verschiedentlich begegnet ist.481 Hobbes betont, daß von der Menschen Handlungen nicht Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. VII, 8. Siehe: Röm 2,15; Spr 3,3. 479 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. X, 10. – Schon aus spätantiker Zeit sind in Gestalt des Gewohnheitsrechts Dispararitäten von ungeschriebenem und kodifiziertem Gesetzesrecht bekannt. – Siehe: Franz Wieacker: Recht und Gesellschaft in der Spätantike. Stuttgart 1964. 24; 43 f.; 58; 61 ff. 480 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. X, 10. 481 Siehe: Thomas Hobbes: L Einleitung. 7. – Während der Arzt, Anatom und Physiologe William Harvey (1578 – 1657), mit dem sich Hobbes nach seiner zweiten England-Rückkehr wissenschaftlich austauscht (Spuren dieser Begegnung finden sich in: Thomas Hobbes: De Homine. A.a.O. I, 2), das Herz in seiner Funktion als physisches Organ erforscht, expliziert Pascal in seinen Descartes-kritischen Pensées eine einzigartige Erkenntnislehre: Das Herz als Organ der Erkenntnis sei fähig, wahres Wissen – insbesondere über Gott – zu erlangen: »Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt, und das erfährt man in tausend Fällen.« – Siehe: Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände. (Pensées) A.a.O. IV, 277. 477
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– lt. des Leviathan »zuweilen«482 – auf deren eigentliche Absichten geschlossen werden könne. Doch gebe es ein Kennzeichen menschlicher Absichten – nämlich Worte: »Obgleich Worte die Anzeichen sind, an denen wir unsere gegenseitigen Neigungen und Absichten erkennen, so muß es doch, wegen ihrer häufigen Zweideutigkeit und der Verschiedenheit des Systems und der Gesellschaft[,] in der sie sich befinden (welche die Anwesenheit des Sprechenden, der Anblick seiner Handlungen und die Mutmaßung seiner Absichten uns überwinden helfen müssen)[,] außerordentlich schwer sein, die Meinungen und Gesinnungen der Menschen zu ermitteln, die vor langer Zeit von uns gegangen sind und uns keine anderen Wahrzeichen als ihre Bücher hinterlassen haben; diese können unmöglich ohne genügende geschichtliche Nachweise, um die vorher erwähnten Umstände zu ermitteln und ohne große Geschicklichkeit der Beobachtungsgabe verstanden werden.«483 Diese wohl auch die Exegese der prophetischen Bücher betreffende Sentenz sollte nach Hobbes auch für die Geschichte des Rechts Gültigkeit beanspruchen können. Die interpretatorische Aneignung der geschichtlichen Überlieferung wird zum notwendigen Kriterium von öffentlicher (und nicht geheimer!) Wissenschaft: »Man nimmt daher stets an, daß jeder, der nicht täuschen will, die persönliche Auslegung seiner Sprache denjenigen[,] an die sie gerichtet ist[,] zugesteht. […] Schweigen ist für diejenigen, welche glauben[,] daß es so aufgenommen wird, ein Zeichen der Zustimmung; denn es erfordert so wenig Mühe[,] ein N e i n auszusprechen, daß man annehmen kann, daß derjenige, der es in diesem Falle nicht ausspricht, zustimmt.«484 Außerdem aber – und das ist hier ungleich wichtiger – bleiben sowohl Faktizität wie Geltung der Naturgesetze auf das Gewissen bezogen,485 sie bestätigen somit ihr moralisches, sprich individualistisches Format. Damit ist die logische Ableitbarkeit der Naturgesetze weiterhin unmöglich. Hobbes: »Die Gültigkeit des Naturgesetzes ist daher nicht in foro externo, d. h. solange bis Sicherheit da ist, daß die Menschen ihm gehorchen werden, aber ist immer in foro interno, wo, solange als der tatsächliche Gehorsam unsicher ist, der Wille und die Bereitschaft, es zu erfüllen, für die Erfüllung genommen wird.«486 Die Geltungskraft des Naturgesetzes obliegt der moralischen Integrität einer Gruppe. Strukturell scheint hier auf, was Kant später mit Blick auf das sittliche Individuum projektieren wird: die Praxis der Autonomie als Kennzeichen von Freiheit und daß das Haltungsethos, der Wille zum Guten über die Realisierung des Prinzips der Sittlichkeit entscheide.
482 483 484 485 486
Siehe: Thomas Hobbes: L »Einleitung«. 7. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIII, 8. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XIII, 10 f. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XVII, 13. Siehe: Thomas Hobbes: N I, Kap. XVII, 10.
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3.4 Der ›kleinste gemeinsame Nenner‹ oder: die Aushöhlung der Religion im Staat Bereits in den Elements of Law nimmt Hobbes deutlich Stellung: Die Entscheidungsgewalt in Religionsangelegenheiten obliege der souveränen Gewalt. Im Kapitel VI. des zweiten Teils, überschrieben mit Daß Untertanen nicht verpflichtet sind, ihren privaten Urteilen in Religionsstreitigkeiten zu folgen, wird folgender dilemmatischen Problemverbund geschildert: »Wir haben unter uns das Wort Gottes als Richtschnur für unsere Handlungen; wenn wir uns nun auch den Menschen unterwerfen und uns verpflichten, das zu tun, was uns von ihnen befohlen wird, und wenn dann die Befehle Gottes und der Menschen nicht übereinstimmen, dann sollen wir Gott eher gehorchen als den Menschen; folglich ist das Versprechen allgemeinen Gehorsams gegen Menschen unrechtmäßig«487 – indes mit der Gefahr der Zerstörung des politischen Lebens, wäre hier zu ergänzen. Hobbes’ vormals erörterte These, menschliche Handlungen entsprängen dem Gewissen,488 berührt auch und v. a. die religiöse Praxis: »Um diese Gewissensbedenken, den Gehorsam gegen menschliche Gesetze betreffend, bei denjenigen, welche das Wort Gottes in der Heiligen Schrift sich selbst erklären, zu heben, schlage ich vor, in Erwägung zu ziehen, daß kein menschliches Gesetz beabsichtigt, das Gewissen eines Mannes zu lenken, sondern nur dessen Handlungen.«489 Hobbes vermag allerdings Bibelstellen anzuführen, die einen beiderseitigen Gehorsam sowohl gegenüber dem menschlichen als auch dem göttlichen Herrschaftsanspruch im christlichen Gemeinwesen zum Ausdruck bringen, so daß sich oben beschriebene Paradoxie auflöst. Wie gesehen, kann Hobbes nicht das Interesse haben, Möglichkeiten nach Beförderung oder Wahrung exklusiv religiösen Seelenheils auszuloten. So plädiert er um willen der Befriedung der klerikalen Obrigkeit für eine extrem bündige Lösung: »Es ist, ohne alle Frage, für des Menschen Seligkeit nichts weiter nötig zu glauben, als daß Jesus der Messias ist, das heißt, der Christus […].«490 Zwar sei die Christenheit in verschiedene ›Sekten‹, d. h. in das Konfessionssystem der Landeskirchen, zersplittert; doch dies setze den ›kleinsten gemeinsamen Nenner‹,491 das unum necessarium ›Jesus ist der Christus‹, keiner Gefährdung aus: »Die religiösen Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 1. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 3. 489 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 3. 490 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 6. – Christen beantworteten die Frage, was den Menschen selig mache, gleich: daß nämlich Jesus der Messias oder Christus, d. h. der Gesalbte sei. – Siehe: Ibid. – Siehe hierzu auch: Michael Esfeld: Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes. A.a.O. 352 f. – Der historische Jesus bietet Hobbes auch deshalb eine attraktive Referenzautorität, weil er sich nicht gegen die staatliche Gewalt gewandt, sondern vielmehr gelehrt habe, den irdischen, auf Moses’ Stuhl befindlichen Souveränen der Zwischenzeit zu gehorchen. Insofern »ist die christliche Religion durch ihre Lehre von der ›Zwischenzeit‹ zur Stabilisierung eines Staates weitaus besser geeignet als jede heidnische Religion.« – Siehe: Michael Großheim: Religion und Politik. Die Teile III und IV des Leviathan. A.a.O. 303. 491 Strauss nennt ihn »Fundamentalartikel«. – Siehe: Leo Strauss: Hobbes’ politische Wissenschaft. A.a.O. 76. 487
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Streitigkeiten sind daher insgesamt über solche Punkte, die für die Seligkeit nicht notwendig sind […].«492 Die mit dieser »Reduktion auf den christlichen Minimalkonsens« einhergehende »Entsubstantialisierung der Religion«493 führt in der Konsequenz zu einer Einsetzung des Souveräns als Hüter der Verfassung. Letztlich hat dies aber zur Konsequenz, daß der menschlichen Weltgemeinschaft durch den Glauben an den wahren Gott kein dauerhafter Frieden geschenkt werden kann, sondern der Mensch selber – und keine offenbarungstheologisch legitimierte Instanz494 – das Recht neu und damit selbstverantwortlich setzen muß, will er in Frieden unter seinesgleichen koexistieren. Vorausgesetzt ist jedoch das Wissen um die Unerläßlichkeit, das gottesrechtlich verbürgte System der Naturgesetze mit dem kontraktualistisch begründeten Recht: dem Gesellschaftsvertrag, im Einklang zu halten, und zwar in Form eines bürgerlichen, staatsrechtlich sanktionierten Christentums. Diese Lebensform als schützenswert zu erachten macht den Beitrag aus, der gemäß Hobbes’ Voraussetzungen von jedem einzelnen gefordert ist. Unter der souveränen Macht eines christlichen Staates läuft so gesehen niemand Gefahr, auf Grund bloßen Gehorsams gegenüber staatlichen Gesetzen in Schwierigkeiten zu geraten: Da die Herrschergewalt religiöse Praxis nicht untersage, werde niemand genötigt, einen Glauben aufzugeben, welcher der Erlösung genüge, »d. h. die fundamentalen Punkte. Und was andere Punkte anbelangt, von denen wir gesehen haben, daß sie nicht zur Seligkeit notwendig sind, so tun wir, wenn wir den Gesetzen gehorchen, nicht allein, was uns erlaubt ist, sondern was uns geboten ist durch das Naturgesetz, welches zugleich das Sittengesetz ist, das unser Heiland selbst gelehrt hat. Und ein Teil dieses Gehorsams muß zu unserer Erlösung mitwirken.«495 Hobbes bewertet Handlungen, die dem eigenen Gewissen zuwider laufen, kurzerhand als Sünde.496 Das objektive Gewissen, das ja als feste Ansicht und Meinung eines Menschen bestimmt worden ist, ist zudem von einem »private[n] Gewissen«497 zu unterschieden. Diese Differenz ermöglicht nicht nur einen unlimitierten, sondern v. a. auch unantastbaren Freiraum moralischer Praxis. Hobbes verhehlt allerdings auch nicht, daß es im Falle von Meinungsverschiedenheiten unabdingbar sei, »seine Ansichten der Autorität des Gemeinwesens [zu] unterwerfen«.498 Hobbes sieht die Untertanen aber auch nicht in der Pflicht, in Religionsstreitigkeiten dem Urteil einer beliebigen Autorität, die unabhängig ist von der souveränen Macht, zu folgen. Die Gesetze des Himmelsreiches seien allein dem Gewissen
492 493 494 495 496 497 498
Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 9. Siehe: Walter Jaeschke: Der Glaube als Hüter der Verfassung. A.a.O. 108 f. Siehe: Thomas Hobbes: L 98. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 11. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 12. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 12. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 13.
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auferlegt, und dieses sei nicht dem Zwang unterworfen.499 Der Himmelskönig übe lediglich beratende Funktion aus, unterwerfe jedoch nicht.500 So ist nach Hobbes auch niemand berechtigt, seinen Gehorsam der souveränen Macht des Staates zu verweigern unter dem Vorwand, Christus habe einen übergeordneten Kirchenstaat statuiert.501 Diese von Hobbes unter Berufung auf den Schriftbeweis zunehmend aufwendiger begründete politische Theologie, »daß Gott selbst als die höchste Macht in der gegenwärtigen Weltzeit die politische Macht der Kirche vorenthalten und den weltlichen Herrschern zugewiesen habe«:502 zuerst Abraham als einzigem Vertragspartner Gottes, anschließend Moses und schließlich Jesus selbst, steht für Hobbes in Diensten einer politischen Funktionalisierung, die eine Engführung von (christlichem!503) Souverän und Prophet zu legitimieren beabsichtigt: »Da nun […] in unsern Tagen Gott zu keinem Menschen spricht dadurch, wie dieser sich privatim die Heilige Schrift auslegt, auch nicht dadurch, wie irgendeine höhere Macht sie auslegt, oder eine Macht, die nicht von der herrschenden Gewalt eines jeden Staates abhängig ist, so ergibt sich, daß er durch seine Vizegötter oder seine Stellvertreter hier auf Erden spricht, das heißt also, durch die regierenden Fürsten oder solche, die, wie sie, souveräne Gewalt besitzen.«504 Die Tage der Wunder sind gezählt. 3.5 Ordo juris ac formae legum Im Staat verwirklichtes kodifiziertes Recht sei, »was für heute etwas Vernunftgemäßes ist, und die Vernunft ist das Gesetz der Natur.«505 Hobbes weist ausdrücklich darauf hin, daß das Rechtsgesetz zeitweilig durch das »Vorkommen neuer Fälle belehrt«506, sprich erweitert werde. Trete ein Fall ein, für dessen juridische Beurteilung (noch) kein Gesetz vorgesehen sei, müsse das Naturgesetz einspringen, »und die Gerichtspersonen haben ihr Urteil diesem gemäß abzugeben, das ist, der natürlichen Vernunft entsprechend.«507 Das Naturrecht als System der Naturgesetze fungiert so als Platzhalter für Kodifikationslücken, die der ›harten Empirie‹ erwachsen. Mithin beugt sich Hobbes’ Taxonomie des Rechts der Differenz von lex civile und lex divina.508 Die Theonomie – anders als die Theokratie – unterteile sich realiter in jure divino (mit göttlichem Recht) und lege divina (nach göttlichem Ge499 500 501 502 503 504 505 506 507 508
Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VII, 9. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VII, 9. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VII, 11. Siehe: Walter Jaeschke: Der Glaube als Hüter der Verfassung. A.a.O. 107. Siehe: Thomas Hobbes: L Kap. XXXVI. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VII, 11. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. X, 9. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. X, 10. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. X, 10. Die lex divina reserviert Thomas von Aquin für das heilsgeschichtliche Gesetz Gottes.
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setz). Wie gesehen garantiert lt. Hobbes das (göttlich verbürgte) Naturgesetz zwar ein größeres Maß an effektiver Freiheit als das bürgerliche Gesetz, doch die Disjunktion ›Ursprung des Gesetzes‹ vs. ›legitimer Gesetzgeber‹ generiere ihrerseits eine Unterteilung der Gesetze in göttliche (in der Summe: ›Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst‹), natürliche (die damit identisch sind509 verbunden mit dem »Sittengesetz« des Heilands und damit des Gesetzes des Urhebers der Natur) und bürgerliche. Letztlich jedoch spricht Hobbes sowohl göttlichen als auch natürlichen und bürgerlichen Gesetzen den Charakter wahrhaften Rechts ab: »Und obgleich die Lehre unseres Heilandes aus drei Teilen besteht, dem moralischen, theologischen und kirchlichen, so ist es nur der erste Teil, welcher die Natur eines allgemeinen Gesetzes hat; der letzte Teil ist ein Zweig des bürgerlichen Gesetzes, und der theologische Teil, welcher jene Artikel über die Gottheit und das Reich des Heilandes umfaßt, ohne die es keine Erlösung gibt, ist nicht in der Form von Gesetzen überliefert, sondern als Rat und Anweisung, wie die Strafen zu vermeiden sind, welche die Menschen sich durch die Verletzung des Sittengesetzes zuziehen. Denn es ist nicht der Unglaube, welcher verdammt, obgleich der Glaube selig macht, sondern die Übertretung des Gesetzes oder der Gebote Gottes, die anfänglich in des Menschen Herz geschrieben wurden und später auf Tafeln, die den Juden durch die Hand des Moses überliefert worden sind.«510 In gebotener Klarheit unterstreicht Hobbes: »Denn wenn es kein […] Recht vor der Offenbarung des göttlichen Willens in der Schrift gegeben hätte, dann würde niemand, zu dem die Schrift nicht gekommen ist, ein Recht haben, Gebrauch von diesen Geschöpfen für seine Nahrung oder Erhaltung zu machen.«511 Die überzeitliche Geltungskraft von Theonomie impliziert zwar die Unversehrtheit dieser Rechtsgestalt, entbehrt jedoch keineswegs der formalen Notwendigkeit der Entäußerung ihres Gehalts – und wird so zum unveräußerlichen Bestandteil des Staatsoder Bürgerrechts. Der Grundzug des Strafgesetzes trete zu Tage z. B. in der Forderung ›Du sollst nicht stehlen‹, die sogar naturrechtliche Gültigkeit beanspruchen könne; ›wer aber einen Ochsen stiehlt, hat ihn vierfältig zu ersetzen‹ ist im Unterschied dazu ein Strafgesetz. Hobbes ist sich dessen bewußt, daß der universelle Maßstab, um naturgesetzlich konnotierte Kontroversen zu vermeiden, die ›richtige‹ (rechte) Vernunft sein müßte – doch habe diese bedauerlicherweise keinen Ort »in rerum natura«. Weil sonach allein das Vertrauen in den je eigenen Vernunftgebrauch geboten und diese pragmatische Bescheidung, da kein anderes Vermögen gegeben sei, so legitim wie notwendig sei, sei die Vernunft der herrschenden Gewalt maßgeblich. Allein diese Vernunft ist die Regel. Ungeachtet dessen betont Hobbes ohne Unterlaß, die Pflich-
509 510 511
Siehe: Thomas Hobbes: N II. Kap. X, 7. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. X, 7. Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. IV, 9.
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ten der höchsten Staatsgewalt bestünden »in guter Regierung des Volkes;512 und obgleich die Taten der herrschenden Gewalt kein Unrecht darstellen gegen die Untertanen, die dieselbe durch ihre stillschweigende Einwilligung513 ins Recht gesetzt haben, so kommen dieselben doch, wenn sie die allgemeine Tendenz haben, dem Volke zu schaden, Übertretungen des Naturgesetzes und des göttlichen Gesetzes gleich. Folglich ist die entgegengesetzte Handlungsweise Pflicht der Herrscher, und in diesem Sinne nach ihrem äußersten Vermögen tätig zu sein, also alles zu vermeiden, was das Volk schädigen kann, fordert der allmächtige Gott von ihnen bei Strafe der ewigen Verdammnis.«514 Das Seelenheil des Souveräns sei allein Gott selbst überantwortet, und sein irdisches Schicksal unterstehe folgender Staatskunst:515 Zum Vorteil der Untertanen regieren nutze ihm selbst zum (weltlichen wie himmlischen) Wohle. Wenn das bürgerliche Gesetz das kirchliche inkludiere,516 können im Resultat sämtliche Gesetze entweder natürliche oder bürgerliche heißen. Kriegsgesetze (bei den Römern disciplina militaris) seien prinzipiell den Naturgesetzen zuzurechnen. Dennoch könne nicht in Abrede gestellt werden, daß das Kriegsgesetz als bürgerliches Gesetz gefaßt werden müsse, »weil ein Heer ein politischer Körper ist«.517 3.6 Das System des Gesetzes nach De Cive 3.6.1 Rechtstheoretische Grundbegriffe Auf der Grundlage des 14. Kapitels des De Cive ist eine Rekapitulation des Hobbistischen Rechtsbegriffs möglich. Wenn dort aber nicht das Naturgesetz, sondern das Staatsgesetz erörtert wird, geschieht dies – man denke an die Elements of Law – v. a. in der Absicht, den Begriff des Gesetzes vom »Ratschlag«, vom »Vertrag« bzw. vom »Recht« zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen Ratschlag und Gesetz ergebe sich aus dem Unterschied zwischen Ratschlag und Gebot: Der Ratschlag sei »eine Anweisung, bei dem der Grund, ihr zu folgen, aus der geratenen Sache selbst entnommen wird; das Gebot ist aber eine Anweisung, wo der Grund der Befolgung in dem Willen des Anweisenden liegt […]. Da nun der Gehorsam gegen die Gesetze sich nicht auf den Gegenstand selbst, sondern auf den Willen des Gebieters gründet, so ist das Gesetz kein Ratschlag, sondern ein Gebot und ist so zu definieren: Das Gesetz ist das Gebot der Person, sei es ein Mensch oder eine VerHobbes beruft sich auf das römische »Salus populi suprema lex.« – Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. IX, 1. 513 »Qui tacet, consentire videtur.« (Bonifaz VIII., 1294 – 1303) 514 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. IX, 1. 515 Auch Hobbes, ganz Kind seiner Zeit (man denke z. B. an Francis Bacons Novum Organon), erkennt den Nutzen im Zweck der Kunst. – Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. IX, 1. 516 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. X, 8. 517 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. X, 9. 512
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sammlung, deren Befehl den Grund des Gehorsams enthält. Deshalb müssen die Gebote Gottes in bezug auf die Menschen, die des Staates in bezug auf seine Bürger und allgemein die der Machthaber in bezug auf die, welche sich ihnen nicht widersetzen können, deren Gesetze heißen.«518 Im Gegensatz zu einem erteilten Ratschlag bezeugt ein Gesetzeserlaß juridische Macht. Das bedeutet, daß die Befolgung eines Ratschlags freiwillig geschehe. Zudem erklärt Hobbes: »Der Ratschlag wird nur denen gegeben, die es wollen, das Gesetz aber auch denen, die es nicht wollen.«519 Göttliche und natürliche Gesetze verdankten sich keiner menschlichen Übereinkunft, was ihre Unveränderlichkeit, aus welcher sich wiederum ihre fortwährende Geltungskraft ableite, beweise. Dagegen sei der Vertrag »ein Versprechen, das Gesetz ein Verbot; bei jenem heißt es: Ich werde es tun, bei diesem: Du sollst es tun. Verträge verpflichten uns, Gesetze halten uns als Verpflichtete fest.«520 Der Vertrag bildet so die Voraussetzung des Gesetzes, weil er Gehorsam einfordert. Hobbes nimmt hier eine problemgeschichtlich folgenreiche Umbesetzung vor: nämlich die Verlagerung des Prinzips des Gehorsams vom göttlichen in das menschliche, genauer: in das bürgerliche Gesetz oder Staatsrecht. Und er läßt keinen Zweifel aufkommen: Auch und gerade dem staatsrechtlich erlassenen Vertragsabschluß, aus dem Verpflichtung durch Zustimmung erwachse, werde Gehorsam geschuldet – und eben nicht exklusiv dem religiös gebotenen Vertrag mit Gott (mit deren äußeren Zeichen Beschneidung bzw. Taufe und dessen Gegenstand Kanaan521). Von hier aus bestimmt Hobbes das Verhältnis von Theonomie (regnum dei) und Staatsgesetz (regnum hominis) wie folgt: »Man verwechselt das Gesetz mit dem Rechte, wenn man das nach dem göttlichen Recht Erlaubte zu tun fortfährt, obgleich es nach dem Staatsgesetz verboten ist. Allerdings kann das durch Gottes Gesetz Verbotene durch das Staatsgesetz nicht erlaubt, und das durch Gottes Gesetz Gebotene durch das Staatsgesetz nicht verboten werden; allein wohl kann das nach dem göttlichen Recht Erlaubte, also zu tun Gestattete durch das Gesetz des Staates verboten werden; denn das niedere Gesetz kann die von einem höheren Gesetz erlassene Freiheit einschränken, wenn auch nicht erweitern. Nun ist aber die natürliche Freiheit ein von den Gesetzen nicht begründetes, sondern übriggelassenes Recht. Denn mit der Entfernung der Gesetze wird die Freiheit vollständig.«522 Hobbes betont unmißverständlich: Das Gesetz ist die Fessel, erst das Recht ermöglicht Freiheit. So wird noch Hegel denken.
518 519 520 521 522
Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 1. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 1. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 2. Siehe: Gen 12 ff. – Siehe hierzu auch das Kapitel 1.2 des vorliegenden 2. Abschnitts. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 3.
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3.6.2 Rekonstruktion des Rechtsbegriffs Für Hobbes bedeutet die Ableitung des Rechtsbegriff aus dem System der (Natur-) Gesetze zugleich dessen Konkretisierung. »Das Gesetz in seinem gesamten Umfang«523 sieht er nach den zwei Seiten seines Urhebers einerseits in ein göttliches, andererseits in ein menschliches unterteilt. Das göttliche – gleichwohl dem lumen naturale einsichtige – zerfalle wiederum in das natürlich-moralische (wie speziell in De Cive erörtert) bzw. das positive, d. h. revelatorisch verbürgte Gesetz, zu dem z. B. die von Gott selbst erlassenen israelitischen Staatsgesetze zu zählen sind. Die natürlichen Gesetze wiederum fächern sich auf in das natürliche Gesetz der Menschen, d. h. den natürlichen Gesetz einerseits und den natürlichen Staatsgesetzen, sprich dem unter den Völkern geltenden Recht. Diese beiden Zweige des Naturgesetzes – oder des Systems der Moral – können zusammengenommen auch »die Elemente der Gesetze und des Rechtes der Völker«524 genannt werden. Die andere Seite des Gesetzesbegriffs: sein gesamter, den Bedürfnissen menschlichen Zusammenlebens betreffener Teil, umfaßt das bürgerliche Gesetz, das Hobbes, wie gesehen, für das Staatsrecht als allein maßgebliches erachtet. Zu unterscheiden sind hier geschriebene und ungeschriebene Gesetze. Dieses bürgerliche, vom Menschen erlassene Gesetz weist einen einerseits heiligen und andererseits weltlichen Anteil auf. Religiöse Zeremonien beispielsweise vollziehen sich nach den heiligen Gesetzen der Liturgie und betreffen auch – das ist hier wichtig – »die öffentliche Lehre vom göttlichen Wesen«.525 Diese Gesetze seien, wie Hobbes zu Recht betont, »durch kein positives göttliches Gesetz festgesetzt. Denn die bürgerlichen heiligen Gesetze sind menschliche Gesetze (sie heißen auch kirchliche) über heilige Dinge, jedoch werden die weltlichen Gesetze allgemein einfach als bürgerliche bezeichnet.«526 In einer 3. Ebene (1. Ebene: heilig/weltlich; 2. Ebene: geschrieben/ungeschrieben) sind die bürgerlichen Gesetze insgesamt zu unterscheiden »nach den beiden Pflichten des Gesetzgebers, einerseits zu entscheiden und andererseits die Menschen zu zwingen, die Entscheidungen anzuerkennen«.527 Hobbes spricht hier von verteilenden (d. h. verbietenden), sämtliche Bürger des Staates angehenden Entscheidungen im Gegensatz zu einem rächenden (strafenden), d. h. gebietenden und sich lediglich an Staatsdiener richtenden Zwang: »Der rächende Teil bestimmt die Strafen, welche die Übertreter des Gesetzes treffen sollen. Verteilendes und rächendes Gesetz sind indes nicht zwei verschiedene Arten der Gesetze, sondern zwei Teile desselben Gesetzes.«528 Hobbes begründet diesen zentralen Aspekt im Rechtsbegriff mit dem unbedingten Erfordernis einer Strafverhängung im 523 524 525 526 527 528
Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 4. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 4. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 5. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 5. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 6. Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 6.
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Fall einer Gesetzesübertretung.529 Daraus folgt, daß auch göttliche Gesetze (der Dekalog) zu den Staatsgesetzen zählen. Daß Hobbes Gottesleugnung mit »Unklugheit« identifiziert (und sich bei dieser Gelegenheit den in der Vergangenheit gegen ihn erhobenen Vorwurf verbittet, nicht in der gebotenen Deutlichkeit Gottesleugner als »Feinde Gottes« angeprangert zu haben), bedeutet gleichwohl nicht, »daß man das Dasein Gottes schon durch die natürliche Vernunft erkennen könne«;530 diese Fähigkeit komme lediglich einzelnen zu. Wenn Hobbes hier nicht darüber entscheidet, ob eine in dieser Weise defizitäre Vernunft denn einmal einer adäquaten religiösen Bildung fähig wird, indem sie Gottes Wesen ansichtig wird, entlastet er die Vernunft von dem höchsten Anspruch der Theologie. Hier erwächst aus dem für Hobbes typischen Changieren zwischen Normativität und Deskriptivität531 ein Vorteil für die Philosophie. Nicht zuletzt hier findet sich der strategische Dualismus von geoffenbarter und natürlicher Vernunft, wie ihn beispielsweise der deutsche Aufklärer Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768) vertritt, bereits angedeutet. 3.6.3 Konsequenzen für die Rechtspraxis Schließlich soll auf zweierlei Konsequenzen dieser Gesetzeslehre aufmerksam gemacht werden: 1. Für Hobbes gilt also: Was als das wahrhafte Äußere (Kultus), d. h. staatsrechtlich Legitimierte der Religion gelte, bestimme nicht der Klerus, sondern die höchste weltliche Macht. Walter Jaeschke bezeichnet diese Lösung als »schlicht vormodern«.532 Der mit der Konstantinischen Wende 313 vollzogenen rechtlichen Gleichstellung des Christentums mit anderen Religionen entspricht bereits eine staatsrechtliche Sanktionierung heidnischer Religionen – eine Entwicklung, die mit Theodosius’ I. (347 – 395)533 Erklärung an ihr Ende gelangt, weil das Christentum selber zur Staatsreligion erhoben wird (Edikt vom 28. Februar 380). Es macht allerdings einen Unterschied aus, ob mit der Staatskirche ab 380 das ius sacrum (Religionsrecht) zum kraft kaiserlicher Autorität erlassenen ius publicum (öffentliches Staatsrecht) oder wie bei Hobbes umgekehrt das ius publicum als Garant und für Ein Verbot »ist aber ohne Androhung von Strafen vergeblich: deshalb muß jedes Gesetz, das eine Wirkung haben soll, beides enthalten: einmal das Verbot, ein Unrecht zu begehen, und zweitens eine Strafe für den, der es dennoch tut.« – Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 7. – Hier konzediert Hobbes dem Staat die Möglichkeit, auf Grundlage des natürlichen Gesetzes Gesetzeshüter einzusetzen. – Siehe: Ibid. II, Kap. 14, 10. 530 Siehe: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14, 19, FN. 531 Siehe: Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchung zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. A.a.O. 47 ff. 532 Siehe: Walter Jaeschke: Der Glaube als Hüter der Verfassung. A.a.O. 108. 533 Ab September 394 ist Theodosius für einige Monate der letzte (oströmische) Kaiser (379 – 394) des Gesamtreichs. 529
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
das öffentliche Leben verbindlicher Gradmesser des ius sacrum fungiert. Nach Hobbes bildet das ius publicum keinen ›quasi-geistlichen‹ Überbau des ius sacrum, sondern es überläßt religiöse Andachtsformen dem privaten Gewissen eines irdischer Gesetzesmacht ergebenen Individuums. Dem entspricht Hobbes’ Ansicht in der Frage nach der libertas ecclesiae: Sie sei real einzig im Gewissen der Bürger der Staates, welche das Corpus Christianum sind. Michael Esfeld erkennt in Hobbes’ Lösung den Vorteil, »den Gehorsam gegenüber dem Souverän zu fördern.«534 Michael Großheim ergänzt: »Eine illusionslose politiktheoretische Analyse […] muß mit der Größe des Christentums rechnen, d. h. nicht nur mit seinem Potential zur Konflikterzeugung, sondern auch mit seinem Potential zur Konfliktvermeidung. Eine Schwächung der Monopolreligion Christentum oder eine Beförderung des Atheismus würde […] lediglich bedeuten, das Feld für andere, konfliktfördernde Kräfte freizumachen, etwa für eine überaus risikoreiche Regeneration heidnischer Vorstellungen. Es ist daher Hobbes’ politisches Interesse, die destabilisierenden Tendenzen des Christentums zu schwächen und die stabilisierenden Tendenzen zu stärken. Daher kann das Christentum nicht wie die heidnischen Religionen aufklärerisch entlarvt werden.«535 Nochmals: Die Entscheidung, welche göttlichen Gesetze Geltungskraft beanspruchen können, obliegt der höchsten Staatsgewalt oder derjenigen Instanz, welcher das Recht, Gesetze zu erlassen, zukommt. Eine Abweichung von der durch den Souverän sanktionierten Lehre gilt als Häresie. Dies ist ein zumindest entschlossener, wenn auch – wie gesehen – kein zukunftsträchtiger Ansatz536 angesichts der altehrwürdigen Fragen religiöser Andachtsformen im nachreformatorischen Christentum. Nach Hobbes bestimmt der Staat ›sein‹ religiöses ›Bekenntnis‹ – und macht gleichfalls die Form der Kirche aus, deren Existenz mit dem Fortbestand seiner selbst identisch ist. Ein solcher Staat bietet allerdings nicht mehr als ein Asyl des Glaubens. 2. Wenn das unter den Völkern geltende Recht (ius gentium) als Ausdruck göttlichen Gesetzes verstanden wird, resultiert daraus, daß lt. Hobbes lediglich christliche Staaten537 eine Anerkennung als Rechtskörper erfahren können. In letzter Konsequenz heißt dies aber nichts weniger, als daß im Kriegsfall gegen einen Staat von Ungläubigen noch nicht einmal die Naturgesetze, die das Kriegsrecht gebietet, in Geltung sind. Militärische Konfrontationen mit nicht-christlichen Gemeinschaften – die bekanntlich bereits lange vor Hobbes ausgetragen werden – bedeuten so gesehen keinen gesetzeswidrigen Akt, sondern vollziehen sich schlicht in einem rechtsbefreiten – und nicht in einem naturzustandlich-rechtslosen – Raum.
534 Siehe: Michael Esfeld: Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes. A.a.O. 356. 535 Siehe: Michael Großheim: Religion und Politik. Die Teile III und IV des Leviathan. A.a.O. 290 f. 536 Als eines der wichtigsten Kennzeichen des modernen Staates gilt die Trennung von Staat und Kirche. 537 Siehe z. B.: Thomas Hobbes: C II, Kap. 6., 13, FN; III, Kap. 17, 10.
2. Abschnitt · Das positive Recht des Vertrags
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Wenn die Genese autonomer Moral nun überleitet in den 3. Abschnitt, welcher der Philosophie Spinozas gewidmet ist, so bedarf der Eintritt in dieses Stadium keiner näheren Begründung, sondern ergibt sich problemgeschichtlich von selbst, soll nur einmal der Spinozanische Religionsbegriff betrachtet werden. Denn wenn Spinoza noch hinter Hobbes zurückgeht, indem er auch schon naturzustandliche Samen von Religion leugnet,538 stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion umso dringlicher. Es wird sich zeigen, daß auch Spinoza das Verhältnis von Mensch und Religion neu zu bestimmen sucht, indem er den Begriff der Religion in Richtung Innerlichkeit539 auslegt und so einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung des neuzeitlichen Autonomiekonzepts leistet.
Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 184. Wenn sodann Leibniz »das Innerliche« als »Empfindung« anspricht und in Kombination mit der »praktischen Ausübung« so die »wahre Frömmigkeit« der Religion preist, restituiert er den Status der Zeremonien. – Siehe: Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Arthur Buchenau. – In: ders.: Philosophische Werke in vier Bänden in der Zusammenstellung von Ernst Cassirer. Band 4. Hamburg 1996. 3. 538
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3 . A b s ch n i t t Politische Forderungen aus der philosophischen Konfrontation mit der Gesetzesreligion
1. Kapitel: Vom Talmudismus zur Freiheit in der Wissenschaft 1.1 Das Marranentum oder: Spinozas Vorgeschichte Der Dominikaner Vincent Ferrer (1350 – 1419), seines Zeichens Religionsreformer und übereifriger Missionar, drangsaliert in den Jahren 1411/12 in Spanien Juden, indem er ihre Synagogen stürmen läßt und ihnen die Taufe aufzwingt. Benedikt XIII. (1327 – 1423), Nachfolger Clemens VII. (1342 – 1394) und seit dem Konzil von Pisa (1409) Gegenpapst Alexanders V. (1340 – 1410), sorgt zwischen 1412 und 1414 für das so aufsehenerregende wie entwürdigende Schauspiel, jüdische Rabbiner zu nötigen, in einen Disput mit einem zur Konversion gezwungenen Juden zu treten. Folge dieser Demoralisierung spanischer Juden ist die Bildung einer neuen sozialen Schicht: vom Juden- zum Christentum Konvertierte und ihre Nachkommen, die sog. Marranen.540 Viele von ihnen halten im Geheimen an ihrem jüdischen Glauben fest – ein frühes Beispiel dafür, daß religiöse Integration noch längst keine gesellschaftliche Integration impliziert. Judaisierende Marranen wiederum geben oftmals Anlaß zu Verfolgungen, die auch auf nicht-judaisierende Marranen übergreifen. Diese Konvertiten sind bald in sämtlichen Bereichen der spanischen Gesellschaft anzutreffen. Sie nehmen exponierte Stellen ein, nicht nur in Handel und Gewerbe, sondern auch in Bildung und öffentlichem Dienst, in Klerus sowie durch Einheirat in den Adel. Dabei behalten sie ihre gewohnten Verhaltensweisen bei, einschließlich ihrer Flexibilität und der Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe. Nach wenigen Jahrzehnten regen sich unter Altchristen Neid und Konkurrenzempfinden. 1449 ereignet sich in Toledo das erste schwerwiegende Pogrom gegen die »Conversos«. Seit fünf Jahrhunderten ist die Kultur der spanischen Halbinsel arabisch-jüdisch, sprich wieder semitisch – und bedeutet für das damalige Europa eine Blüte in der Pflege der Wissenschaften, der Künste, in der Anknüpfung an die griechische Antike in Philosophie, Medizin, Handwerk und Technik, Handel und Finanzwesen. Die praktizierte Toleranz in Glaubensfragen steht damals ohne Vergleich da und hält sich bis zuletzt in den maurisch gebliebenen Teilen des Landes (Andalusien). Aber mit dem Ende des 15. Jahrhunderts dehnt sich im Zuge der »Marranos« heißt eigentlich »Schweine«. Sie selbst nennen sich »Anussim« (»die Gezwungenen«). – Siehe: Theun de Vries: Baruch de Spinoza. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1970. 163, FN 3. (Rowohlts Monographien. Begründet von Kurt Kusenberg. Herausgegeben von Klaus Schröter) (Sigle: S) 540
3. Abschnitt · Forderungen aus der Konfrontation mit der Gesetzesreligion
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allgemeinen Zurückdrängung des Islams die Herrschaft der christlichen Königreiche vom Nordwesten der Halbinsel bis in die äußerste Südspitze wieder aus. Und den damaligen Gradmesser der Unduldsamkeit bildet die entsprechende Ausprägung des Katholischen. Da die erobernde Ritterschaft eines Mittels bedarf, diejenigen zu enteignen und aus dem Land zu treiben, die – Juden und Araber von Geburt – katholisch geworden sind, macht sie zwei Erfindungen: 1. das Prinzip der Blutreinheit, d. h. die praktizierte Ausstellung von Reinheitszertifikaten (»limpienza«), und 2. sein Werkzeug: die Tribunale der Heiligen Inquisition. Sonach fungiert fortan als Maßstab gesellschaftlicher Privilegien bzw. politischer Akzeptanz nicht mehr die Religion, sondern das »Blut«: Marranen gelten nun von Geburt an als befleckt. Unter Philipp II. (1578 – 1621, König von Spanien, Neapel und Sizilien sowie als Philipp III. König von Portugal) erlangen die »Statuten der Reinheit des Blutes« in Spanien und später auch in Portugal Gesetzeskraft: Ein katholisches Bekenntnis allein reicht nicht aus. 1.2 Niederlande und Spanien: Kulturation in religiöser Entwurzelung Die Niederlande bestehen ursprünglich aus siebzehn Provinzen, die noch einige Jahrzehnte vor Spinozas Geburt Teil des spanischen Weltreiches sind. Durch Industrie, Handel und Schiffahrt gewinnen sie an Bedeutung, werden zu einem wichtigen ökonomischen Zentrum des damaligen Europa und geographisch-politisch weitaus einflußreicher, als ihre Größe – einschließlich des heutigen Belgien – vermuten läßt. Auch in den von Spanien regierten Niederlanden geht der spanische Katholizismus rigoros gegen Regungen protestantischer Gewissensfreiheit vor. 1566 finden erste protestantische Aufstände statt. Der daraus entstehende Krieg endet 1579 mit einer Abspaltung der sieben nördlichen Provinzen des hauptsächlich protestantischen Nordens (der heutigen Niederlande) vom weitgehend katholischen Süden (dem heutigen Belgien). Sie werden schon bald Verfolgten unterschiedlicher Herkunft Zuflucht bieten. Bereits unter der Regentschaft der katholischen Monarchen Ferdinand II. aus Aragón (1452 – 1516) und Isabella I. von Kastilien (1451 – 1504) setzt eine Welle der Marranen-Verfolgung ein, die sowohl anderweitig verdächtigte Ketzer als auch Hexen erfaßt.541 Öffentliche Verbrennungen werden durchgeführt. Erst der Westfälische Friede, mit dem der Dreißigjährige Krieg endet, besiegelt 1648 die Niederlage Spaniens. Doch die Scheiterhaufen der Inquisition nötigen schon früher viele (politisch unorganisierte) Krypto-Juden zur Flucht nach Venedig, Livorno und Saloniki, Altona und Hamburg, später nach London und v. a. in den kulturellen und ökonomischen Mittel-
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Siehe: Jacob Freudenthal: SL 7; 16.
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
punkt der Niederlande: nach Amsterdam, dem »neuen Jerusalem«.542 Die Universitäten indes befinden sich damals in anderen Städten (Leiden, Franeker, Harderwijk, Groningen, Utrecht). In Amsterdam aber lösen noch um 1640 die Berichte über unverminderte Judenverfolgungen in Spanien und Portugal heftige Reaktionen aus. Besonders die Nachricht, daß sich unter den Inquisitoren getaufte Juden befinden sollen, macht bestürzt. Das (weitgehend) liberale Amsterdamer Klima ermöglicht den Immigranten zwar, ihren ursprünglichen jüdischen Glauben wieder anzunehmen, führt jedoch letztlich zur endgültigen Verfestigung ihrer gespaltenen Marranen-Mentalität. Zu diesen Migranten gehören auch Spinozas Eltern.543 1.3 Die Sprache des Rechts – die Sprache der Ungläubigen Wenn die das frühneuzeitliche Denken insgesamt leitende Disjunktion von ›Vernunft‹ und ›Glauben‹ insbesondere im Zuge der Auseinandersetzung mit Spinozas Philosophie hervortritt, impliziert dieser problemgeschichtliche Bezug auch, besagte Leitdifferenz in der Mitte des Judentums, d. h. einer wesenhaften Einheit von Leben und Religion zu verorten. Dies bedeutet hier, daß Spinoza, am 24. November 1632 im Amsterdamer Judenviertel geboren,544 zunächst noch, d. h. bis ca. 1651, also 6 Jahre vor dem Eklat,545 dazu bestimmt ist, zum Rabbiner der portugiesischen Synagoge der Stadt, der Esnoga, ausgebildet zu werden.546 Der in Deutschland gebürtige, orthodoxe Lutheraner Johannes Colerus (1647 – 1707) teilt mit, die Spinozas wohnten »in nächster Nähe der alten portugiesischen Synagoge«.547 De Vries erläutert: »Spinozas Großonkel Abraham aus Nantes, der erste Am Schluß seines Tractatus theologico-politicus würdigt Spinoza die von religiösen Motiven unabhängige Rechtsprechungspraxis Amsterdams. – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 232; siehe auch: »Praefatio«, S. III. 543 Siehe: Yirmiyahu Yovel: Spinoza and Other Heretics. Vol. I: The Marrano Reason. Princeton 1989. 15 – 19. (Zuerst neuhebr. 1989.) 544 Siehe: Spinoza – Lebensbeschreibungen und Dokumente. Vermehrte Neuausgabe. Mit Erläuterungen herausgegeben von Manfred Walther. Übersetzung der Lebensbeschreibungen von Carl Gebhardt. – In: Baruch de Spinoza. Sämtliche Werke. Band 7. Hamburg 1998. Dok. 26 und 36. (Sigle: LD) – Spinoza, dessen Vater drei Mal heiratet, ist ein Kind aus zweiter Ehe; er hat vier (zwei leibliche) Geschwister; seine leibliche Schwester stirbt früh. 545 Siehe: LD Dok. 42. 546 »Der Talmud selbst fehlte in Spinozas Bibliothek, was [Jan Pieter N.] Land zufolge ein zusätzlicher Hinweis dafür ist, dass Spinoza nie zum Rabbiner ausgebildet wurde.« – Siehe: Henri Krop: Spinozas Bibliothek. – In: Cis van Heertum/Frank Grunert (Hgg.): Spinoza im Kontext. Voraussetzungen, Werk und Wirken eines radikalen Denkers. Katalog zur Ausstellung im Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Halle (Saale), 17. September bis 10. Dezember 2010. Halle (Saale) 2010. 52. 547 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza aus authentischen Stücken und mündlichem Zeugnis noch lebender Personen zusammengestellt / Von Johannes Colerus, deutschem Prediger der lutherischem Gemeinde in ’s Gravenhage. – In: LD 73 – 124; hier 73. – Der niederländische Originaltitel dieser umfangreichsten unter den frühen Spinoza-Biographien lautet: Korte, dog waarachtige Levens-Beschryving van Benedictus de Spinoza, Uit 542
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Schwiegervater Michael de Spinozas, war jahrelang einer der Parnassim der Synagoge, erst der Beth Jaakob, nach der Vereinigung der Talmud Tora. Auch Baruchs Vater war viele Jahre Parnas und Kassenwart der ›Kadal Kadoch‹ oder Heiligen Gemeinde und ihrer verschiedenen Einrichtungen für Belehrung und Sozialfürsorge wie der ›Dotar‹, die verwaisten Mädchen eine Aussteuer verschaffte. Als die portugiesischen Gemeinden sich zusammenschlossen, übernahmen sie eine schon lange bestehende, renommierte Schule, ›Ets Haim‹ [Baum des Lebens]. Hier bekam auch Baruch de Spinoza den ersten Schulunterricht.«548 Bento-Baruchs Geistesgaben erregen in der besagten Schule Talmud Tora, die er anschließend besucht, schon bald Aufsehen; dort werden in sein Talent große Hoffnungen gesetzt: Der Junge solle das kommende Licht der Gemeinde, ja zum dereinstigen geistigen Führer des Judentums avancieren. Daß er später zum Rabbiner ausgebildet wird, beruht aber auf einer Legende. In seiner Familie sieht man ihn ohnehin für den Kaufmannsstand bestimmt. Doch der aus Frankreich in die Niederlande geflohene Libertin und Rosenkreuzer Jean-Maximilien Lucas (1636/ 1646 – 1697), Spinozas erster Biograph, berichtet: »Er war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als er Schwierigkeiten aufwies, die die größten Gelehrten unter den Juden Mühe hatten zu lösen, und obwohl eine so große Jugend noch kaum das Alter der Unterscheidungsgabe ist, besaß er trotzdem genug davon, um zu bemerken, daß seine Zweifel seinen Lehrer in Verlegenheit brachten. Aus Furcht, ihn zu reizen, stellte er sich, als sei er von seinen Antworten vollkommen befriedigt, und er begnügte sich, sie aufzuschreiben, um sich ihrer zu ihrer Zeit und an ihrem Orte zu bedienen. Da er nur die Bibel las, kam er bald so weit, daß er keines Auslegers mehr bedurfte. Er machte so richtige Bemerkungen, daß die Rabbiner ihm nur nach Art von Ignoranten erwiderten, die, wenn sie ihre Vernunft am Ende sehen, ihren Bedrängern vorwerfen, daß ihre Meinung wenig mit der Religion in Einstimmung sei. Ein so närrisches Verfahren machte ihm klar, daß es unnütz wäre, sich über die Wahrheit belehren zu lassen: ›Das Volk kennt sie nicht; im übrigen den authentischen Büchern darin blindlings Glauben zu schenken, das hieße,‹ sagt er, ›die alten Irrtümer gar zu sehr lieben.‹ Er entschloß sich also, nur bei sich selber Rat zu suchen, aber keine Mühe zu sparen, um die Wahrheit zu entdecken.«549 Hier eignet Spinoza sich die Fundamente seiner umfassenden Kenntnis der hebräischen Sprache und des Alten Testaments incl. der mittelalterlichen Kommentare an, die ihm später die Abfassung des Tractatus theologico-politicus ermöglichen. Die Besonderheit von Spinozas Leben und Philosophie liegt sonach darin, daß es selbst bei genauerer Inspektion der Geschichte der Philosophie schwer fiele, ein in ähnlich fundamentaler Weise aus der Konfrontation mit dem Recht geborenes Autentique Stukken en mondeling getuigenis van nog levende Personen, opgestelt. Sie erscheint 1705 in Amsterdam bei Jacob Lindenberg. 548 Siehe: Theun de Vries: S 25. 549 Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 23. – Siehe ebenso: Jacob Freudenthal: SL 27.
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Denken ausfindig zu machen. Damit soll keinesfalls angekündigt sein, mit Spinoza, dem kapitalsten Gesetzesbrecher, den die Geschichte der Philosophie kenne, näher bekannt zu machen. Zu Bewußtsein gebracht werden soll vielmehr, wie sich Spinozas Lehre bereits in früher Zeit, d. h. seit den 50er Jahren, quasi als Widerpart oder besser: in Folge einer zielstrebigen Abwendung vom jüdischen Recht, d. h. von talmudistischen Kodifikationsformen herausbildet. Im mit »De lege divina« überschriebenen Kapitel IV. des Tractatus theologico-politicus definiert Spinoza das »Gesetz« nicht nur als »Lebensweise, die der Mensch sich oder anderen um eines bestimmten Zweckes willen vorschreibt«,550 sondern schließlich sogar als grundsätzliche Mißdeutung (»defectum cognitionis«551) des Wesens Gottes; dazu später mehr. So zieht Spinoza die Konsequenz, die Beschäftigung mit der hebräischen Literatur aufzugeben. Bedingung für diese Neuorientierung ist das Erlernen der Sprache der europäischen Wissenschaften – wobei Spinozas unmittelbare jüdische Umgebung dies gerade so bewertet, ihr einstmaliger hoffnungsvoller Sproß eigne sich die Sprache des Christentums, d. h. Ungläubiger an. Seine Unterweisung im Lateinischen552 ermöglicht Spinoza nun nicht nur, Studien jenseits des Kanons der hebräischen Literatur553 zu betreiben, sondern v. a. auch Anschluß zu finden an aktuelle Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 44. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 49. 552 Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 28 f. 553 Meinsma gibt in der III. Beilage einen Bericht (1680) des deutschen Rabbiners Sabbathai Horowitz über die Amsterdamer Rabbinerschule, der Stundenplan und Tagesablauf anzeigt. – Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: Spinoza und sein Kreis. Historisch-kritische Studien über holländische Freigeister. Deutsch von Lina Schneider. Vorher: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit von Constantin Brunner. Berlin 1909. 522 f.; siehe auch: 154 – 157. (Sigle: SK) – Insbesondere auch in Anbetracht der talmudistischen Ausbildung Spinozas legt die vorliegende Untersuchung eine ›eingeborene‹ Gottesvorstellung, die sein späteres Philosophieren seit seinen Anfängen begleitet und geleitet habe, zu Grunde. Als Beleg hierfür diene beispielsweise Spinozas Antwortschreiben an Albert Burgh (1650 – 1708), in dem er die menschliche Vernunft als gottgegeben preist. – Siehe: Baruch de Spinoza: B 76. An Albert Burgh Anfang 1676. – Siehe auch: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 42. – Ebenso: Jacob Freudenthal: SL 31. – Erst mit Gotthold Ephraim Lessing, der sich kurz vor seinem Tod zur Philosophie Spinozas bekennt (»Es gibt keine andre Philosophie, als die Philosophie des Spinoza.«), setzt endgültig von berufener Seite die Wertschätzung dieser Philosophie ein. – Siehe: Gotthold Ephraim Lessing: Das sog. Spinoza-Gespräch. – In: ders.: Werke. Achter Band. Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel u. a. herausgegeben von Herbert G. Göpfert. München 1979. 563 – 575; hier: 564. – Siehe hierzu: Klaus Hammacher: Über Friedrich Heinrich Jacobis Beziehungen zu Lessing im Zusammenhang mit dem Streit um Spinoza. – In: Günter Schulz (Hg.): Lessing und der Kreis seiner Freunde. – In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Herausgegeben von der Lessing-Akademie. Band VIII. Heidelberg 1985. 51 – 74; hier 58 f. – Zur Antithese (Lessing »im Stile des Anselmschen Realismus«) siehe: Helmut Thielicke: Offenbarung, Vernunft und Existenz. Studien zur Religionsphilosophie Lessings. Dritte, wesentlich erweiterte Auflage Gütersloh 1957. 93 – 105. – Neben Lessing stehen auch Friedrich Heinrich Jacobi (unter Vorbehalt), Goethe, Herder, Schleiermacher, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu Spinoza. – Am gedrängtesten formuliert Spinozas Gottesnähe vielleicht Novalis: »346. Spinotza ist ein gotttrunkener Mensch.« – Sie550
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wissenschaftliche Diskussionen seines näheren und ferneren Umfelds (vgl. Spinozas Korrespondenz). Später übersetzt Spinoza seinen Gemeinde-Vornamen Baruch »nach der Sitte der Zeit«554 ins Lateinische: Benedictus. Von der Unumgänglichkeit, sich das Lateinische anzueignen, überzeugt Spinoza vermutlich das Werk Sefer Elim (Buch der hohen Palmen) des Arztes und Physikers Joseph Salomo Delmedigo (1591 – 1655), eines späteren Freundes des kosmopolitisch gesinnten Menasse ben Israels (alias Manuel Dias Suiro), des Initiators der ersten hebräischen Druckerei der Niederlande. »Das Buch erschien nach einem wütenden Kampf mit der Zensur: Menasse konnte die ›Approbation‹ der führenden Gemeindemitglieder 1629 nur unter der Bedingung bekommen, daß das Werk als halbverhülltes Fragment erscheine. In dieser verstümmelten Form befand es sich in Spinozas Bibliothek.«555 Delmedigo zählt zu den berühmtesten Ärzten und Gelehrten seiner Zeit. Geboren wird er auf Kreta; Studium und Promotion absolviert er – wie seinerzeit die meisten jüdischen Ärzte – an der Universität Padova. Als Gelehrter verfaßt er eine Reihe von Abhandlungen mathematischen, astronomischen und philosophischen Inhalts. In Italien steht er in Kontakt zu Galilei. Seinen Studien widmet er sich aber offenbar nur neben seiner ärztlichen Tätigkeit, denn als Arzt ist er sehr gefragt. Ägypten, Konstantinopel, Litauen, Hamburg, Amsterdam und andere Zentren jüdischen Lebens sind die Stätten seines Wirkens, bis er 1631 nach Frankfurt kommt, wo er von der Jüdischen Gemeinde als Gemeindearzt angestellt wird. Delmedigo genießt hier großes Ansehen, auch christliche Bürger suchen seinen Rat. Um 1640 verläßt er Frankfurt wieder und begibt sich nach Prag, wo er 1655 stirbt. Ein Schüler Delmedigos, der Arzt Zalmann Bingen zur Blume, heiratet seine Tochter und tritt in Frankfurt seine Nachfolge als Gemeindearzt an. Spinozas Studium der Schriften Salomon Ibn Gabirols (1021 – 1058/59),556 Moses Maimonides’ (Mose ben Maimon, 1138 – 1204) – dessen These, »die Schrift müsse der Vernunft angepaßt werden«,557 er im VII. Kapitel (»De interpretatione Scripturæ«) seines Tractatus theologico-politicus einer kritischen Prüfung un-
he: Novalis: Fragmente und Studien 1799/1800. – In: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Das philosophischtheoretische Werk. Band 2. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl. München 1978. 812. 554 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 19. 555 Siehe: Theun de Vries: S 28 f.; siehe auch 34 f. 556 Zu Leben, verwickelter Überlieferungsgeschichte der wichtigsten Schriften und Philosophie dieses Neoplatonikers siehe: Julius Guttmann: Die Philosophie des Judentums. – In: Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Abt. I: Das Weltbild der Primitiven und die Philosophie des Morgenlandes. Band 3. Mit einem Bildnis des Maimonides. München 1933. 102 – 119. 557 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XV, 166 f. – Dies hieße, in der Theologie wie in der Philosophie zu verfahren, d. h. »die Wahrheit und Autorität der Theologie durch mathematische Beweise darzutun« – aber mit fatalen Folgen: nämlich »die Vernunft und das natürliche Licht ihrer Autorität zu berauben […].« – Siehe: Ibid. XV, 173.
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terzieht, und Chasdaï Creskas’ (ca. 1340 – 1410/11)558 schließen sich Beschäftigungen mit den lateinischen Werken heidnischer und christlicher Philosophen an. Zudem knüpft Spinoza Verbindungen zu den Kollegianten (auch bekannt als Arminianer559 oder Remonstranten), einer mennonitischen560 Vereinigung, die für ein ernsthaftes Interesse an der zeitgenössischen Philosophie einsteht. Das Haupt der Arminianer in Holland ist der Cartesianer und spätere Gegner des Tractatus theologico-politicus Philipp van Limborch (1633 – 1712). Auch Hugo Grotius (1583 – 1645), dessen naturrechtlich fundierter Staatslehre Spinoza nahesteht, werden arminianische Sympathien nachgesagt; dieser unterhält zudem fruchtbare Beziehungen zu den Amsterdamer Rabbinern. Creskas, der im 14. Jahrhundert Stagiriten und Maimonidaner gleichermaßen bekämpft, bekleidet das Amt des Oberrabbiners der Juden Aragoniens. »Nach der furchtbaren Judenverfolgung von 1391, in der sein einziger Sohn ermordet wurde, tat er das meiste zum Wiederaufbau der zerstörten Gemeinden.« – Siehe: Julius Guttmann: Die Philosophie des Judentums. A.a.O. 238 – 256; hier 238. – Zur Thematik immer noch einschlägig sind Manuel Joëls Untersuchungen, die sich auch der Frage widmen, ob Spinozas Religionskritik abhängig sei von der jüdischen Religionsphilosophie. – Siehe: Manuel Joël: Don Chasdai Creskas’ religionsphilosophische Lehren. Breslau 1866. 76. – Die geschichtlichen Wurzeln der Philosophie Spinozas reichen freilich weit über das jüdische Gebiet hinaus. – Auf Grund der reichen Kenntnis originaler Quellen ist hierzu nach wie vor unersetzlich: Die religiöse Poesie der Juden in Spanien. Von Dr. Michael Sachs. Zum zweiten Male mit biographischer Einleitung und ergänzenden Anmerkungen herausgegeben von Dr. S. Bernfeld. Berlin 1901. 180 – 348. 559 Diese niederländische Religionsgemeinschaft gründet Jacobus Arminius (1560 – 1609). Sie richtet sich gegen eine strenge Auslegung der calvinistischen Prädestinationslehre sowie eine calvinistisch ausgerichtete Staatskirche. Das Amsterdam zur Zeit Spinozas ist weitgehend fromm-calvinistisch. Die Bezeichnung Kollegianten rührt her von Versammlungen oder Kollegien, in denen über den Sinn der Heiligen Schrift nachgedacht wird. »Keine andere christliche Sekte jener Zeit gestattete eine so freie Auffassung der christlichen Glaubenslehren […]. Sie hielten sich an keine dogmatische Formel gebunden, mochten nun Päpste oder Prädikanten, Konzilien oder Synoden sie aufgestellt haben. Nur das frei gedeutete Wort der heiligen Schrift sollte ihr Leitstern und nur der Glaube an Christus, den Erlöser der Welt, das sie alle vereinigende Band sein. Diese Ablösung von dogmatischer Gebundenheit erlaubte ihnen, alle in ihre Gemeinschaft aufzunehmen, die sich zu Christus bekannten, sie mochten Lutheraner oder Calvinisten, Remonstranten oder Antiremonstranten oder Quäker sein. Selbst Katholiken und Sozinianer waren ihnen willkommen.« – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 67. – Von den Sozinianern allerdings trennt Spinoza ein breiter Graben. – Siehe: Ibid. 171. – Über die damaligen Zusammenkünfte der Amsterdamer Kollegianten erteilt nähere Auskünfte: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 188 – 215. – Freilich sehen sich sämtliche dieser christlichen Splittergruppierungen mit dem Jahr 1662 »als Diener des Teufels« argen Verfolgungen ausgesetzt. Ab 1664 werden mennonitische, kollegiantische und remonstrantische Versammlungen verboten und – wo nötig – gewaltsam aufgelöst. – Siehe auch: Paul Zumthor: Das Alltagsleben in Holland zur Zeit Rembrandts. Aus dem Französischen übersetzt von Kerstin Henning. Leipzig 1992. 105 – 107. 560 Der Name leitet sich ab aus der dem Theologen Menno Simons (1496 – 1561) folgenden Anhängerschaft einer aus schweizerischen, niederländischen und nordwestdeutschen Täufergruppen entstandenen Reformationsbewegung calvinistischer Prägung. – Zur genaueren Charakterisierung dieser christlichen Sekte, der angeblich auch Rembrandt (dem Spinoza möglicherweise ohne Wissen in den Zusammenkünften begegnet ist) angehört haben soll, siehe: Jacob Freudenthal: SL 65 f. 558
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1.4 Van den Endens Lateinschule In der Breite des von Spinoza in der Folgezeit konsultierten philosophischen Schrifttums sticht – ohne anderweitige Einflüsse schmälern zu wollen – sicherlich seine Auseinandersetzung mit dem Werk René Descartes’ heraus. Unter der Leitung des holländischen Humanisten, Philologen, Mediziners, Juristen, Diplomaten und Buchhändlers Dr. Franciscus (latinisiert Affinius) van den Enden (1602 – 1674),561 den er um 1654/55 kennenlernt, nimmt Spinoza gemeinsam mit dem in Amsterdam geborenen Theodoor Kerckring562 (1638 – 1693), einem später angesehenen Publizisten anatomischer Werke (die z. B. Hermann Boerhaave [1668 – 1738] lobend erwähnt), lateinische Studien (besonders der Schriften des Lukrez und Epikurs, aber auch der Kirchenväter) auf.563 Johannes Colerus will zudem »von einem deutschen Studenten« wissen, der Spinoza schon früher als der »berüchtigte« van den Enden im Lateinischen (und wohl auch im Griechischen) unterwiesen habe.564 Van den Enden, Katholik von Geburt, Augustiner-Mönch in der Jugend, dann aber ab 1619 bis 1642565 Jesuit, lebt seit 1645 in Amsterdam, wo er, nachdem er sich als Buchhändler nicht halten kann,566 1652 eine Schule für alte Sprachen eröffnet. Von den Jesuiten übernimmt er die Freude am Theater; im neuen Stadttheater läßt er Stücke lateinischer Klassiker aufführen, so z. B. die Komödien des Terenz – frivole Lustspiele – und des Plautus, die heidnischer Atem, mithin wahrhaft antiker Geist durchweht. Schon Meinsma hat die Frage, inwieweit van den Enden Einfluß auf Spinozas Philosophie ausgeübt habe, gestellt.567 Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 29. Im Taufbuch der Lutherischen Kirche zu Amsterdam wird am 22. Juli 1638 der Name »Dirck Kerckrinck« eingetragen. – Siehe: Frank Mertens: Spinozas Amsterdamer Freundeskreis. Studienfreundschaften, geschäftliche Verbindungen und verwandtschaftliche Beziehungen. – In: Cis van Heertum/Frank Grunert (Hgg.): Spinoza im Kontext. A.a.O. 44, FN 16. – Kerckring tritt 1671 auf Wunsch van den Endens vom »Augsburgischen« Bekenntnis zum Katholizismus über, um Clara Maria im Februar desselben Jahres in Amsterdam zur Frau nehmen zu können. – Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 74 f. – Siehe zudem: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 403 ff. – Die Ehe steht unter keinem glücklichen Stern und endet in schweren Zwistigkeiten. 563 Hierzu Näheres bei: Stanislaus von Dunin Borkowski S. J.: Spinoza. A.a.O. Band III. 45 – 57. 564 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 74. – Freudenthal vermutet, daß es sich dabei um Jeremias Felbinger handele, der 1660 das Neue Testament mit sozinianischen Anmerkungen versehen in Amsterdam herausgibt. – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 37 bzw. 323, Anm. 565 Ein wahrlich bemerkenswerter Lebenswandel: Van den Enden tritt in seinem 40. Lebensjahr aus dem Orden aus, findet eine Lebensgefährtin und hat mit ihr sechs Kinder. 566 Zu der gerade in diesen Jahren aufgehenden Blüte des Amsterdamer Buchdrucks, der die Verbreitung insbesondere heterodoxen Schrifttums auch außer Landes ermöglicht, siehe: Paul Hazard: Die Krise des europäischen Geistes. La Crise de la Conscience Européenne. 1680 – 1715. Aus dem Französischen übertragen von Harriet Wegener. Hamburg 1939. 117 – 120. (Europa-Bibliothek. Herausg. von Erich Brandenburg, Erich Rothacker, Friedrich Stieve, I. Tönnies) 567 Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 216 – 244. 561
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Van den Enden tritt als Religionskritiker, ja nach verschiedentlichem Vorwurf gar als Atheist568 in Erscheinung; »er habe ihm [Spinoza, H. G.] die ersten Ideen über Atheismus eingeflößt«.569 Zumindest aber werden ihm freidenkerische und demokratische Überzeugungen nachgesagt, so daß der große Zuspruch, dessen sich seine Lateinschule schon bald erfreut, den Orthodoxen sämtlicher Konfessionen ein Ärgernis bereitet. Und Spinoza steht in Verdacht, mit Clara Maria, »van den Endens allerdings nicht schöner, aber wie es scheint liebenswürdiger und gelehrter Tochter«,570 eine gottlose Christin ehelichen zu wollen. Dieses Gerücht (Lucas z. B. berichtet diese Anekdote nicht) erledigt sich aber wohl von selbst, wird in Rechnung gestellt, daß Spinoza die 1644 gebürtige Clara im Alter von 13 Jahren kennenlernt. Spinoza versucht lange, die Verbindung mit der Religion seiner Stammesgenossen aus Rücksicht auf seinen Vater und seine Geschwister aufrechtzuerhalten, die er, wie er wohl weiß, durch einen Abfall tödlich kränken würde. Wahrscheinlich 1660 verläßt Spinoza das Haus van den Endens.571 1.5 Methodologische Vorbemerkungen Man sieht, daß, wer Hobbes’ Staatsphilosophie und die in ihr wirksame Naturrechtskonzeption verstehen will, auf die Grundlagen seiner theoretischen Philosophie verwiesen wird. Vor einer ähnlich gelagerten Konstellation steht der Problemgeschichtler mit Blick auf die Erforschung der Philosophie des Bento (so der portugiesische Rufname in der Familie) bzw. Baruch (in der Gemeinde) bzw. Benedictus de Spinoza, setzen doch dessen Begriffe von Religion und Politik die 568 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 74. 569 Siehe: LD Dok. 40. 570 Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 229. 571 De Vries gibt Nachricht vom traurigen Ende van den Endens: »In der französischen Hauptstadt spielte sich der letzte dramatische Akt des Lebens Van den Endens ab, und Spinoza muß im Laufe des Jahres 1674 die Nachricht vernommen haben. Dr. Franciscus, dem es materiell wieder schlecht ging, hatte sich auf seine alten Tage in eine phantastisch-verblendete Verschwörung des Ritters de Rohan gegen den französischen Monarchen hineinziehen lassen. Er wurde verraten, mit den anderen zusammen gefangengenommen und gehängt. Er soll vor seinem Tode noch erklärt haben, daß er immer gut katholisch gewesen sei …« – Siehe: Theun de Vries: S 139. – Zum besseren Verständnis dieser ein wenig erratischen Mitteilung de Vries’ sei ergänzt, daß van den Enden, von seinen Feinden verdächtigt und verketzert, 1671 Amsterdam verläßt; seine Schule muß er aufgeben. Er geht nach Paris. Die erwähnte Verschwörung richtet sich gegen Ludwig XIV., zu dessen Leibarzt (ehrenhalber) und Ratsherrn er ernannt worden sein soll. Schon 1671 eröffnet van den Enden wieder eine öffentliche Schule, das »Hôtel des Muses«. »Im Jahre 1674 beteiligte er sich an der Verschwörung einiger französischen [sic] Edelleute, die zum Zwecke hatte, den Dauphin zu entführen, den König selbst gefangen zu nehmen und die Hafenstadt Quillebeuf den von den Franzosen schwer bedrängten Landsleuten van den Endens in die Hände zu spielen.« – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 39. – Der gefährliche Plan scheitert, und Ludwig XIV. läßt sämtliche Verschwörer am 27. November 1674 hinrichten.
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Grundlagen seiner Metaphysik, die eine Ethik ist, voraus. Das bedeutet, daß man – wird die für die Aufhellung der Entwicklungsgeschichte der Ethica Spinozas relevante Frage zurückgestellt, wie die Keimzellen der Kurzen Abhandlung später zur Ethica ausgewachsen sind – das Gesamtwerk Spinozas in den Blick nehmen muß. Doch dabei bleibt es nicht: Spinozas substanzontologisch fundierte Naturrechtslehre, aus der wiederum die Konsequenzen sowohl für seine Religionskritik als auch für seine Staatslehre erst erwachsen, befindet sich, was ihre Entstehungsbedingungen betrifft, in Abhängigkeit nicht weniger philosophischer Vorläufer, von denen – so die hier vertretene Ansicht – besonders die Lehre Descartes’ Gegenstand näheren Interesses sein müßte.572 Bedeutsamstes Indiz zur Stützung dieser sicherlich nicht neuen These ist der Umstand, daß Spinoza ein Buch über – so kündigt es sein Titel zumindest an – die Principia Philosophiae Descartes’ verfaßt: Renati Des Cartes Principiorum Philosophiae Pars I et II, More Geometrico demonstratae per Benedictum de Spinoza Amstelodamensem. Accesserunt Ejusdem Cogitata Metaphysica, In quibus difficiliores, quae tam in parte Metaphysices generali, quam speciali occurrunt, quaestiones breviter explicantur. Das Werk wird im Jahr 1663 publiziert.573 Dieses einzige zu Spinozas Lebzeiten unter seinem Namen publizierte Werk enthält eine Vorrede seines Herausgebers, des Amsterdamer Arztes, Kollegiaten und promovierten Philosophen Lodewijk Meyer (1629 – 1681).574 Aus der Zeit unmittelSiehe auch: Jarig Jelles über Spinoza. Aus dem Vorwort der nachgelassenen Schriften. – In: LD 9 – 18; hier 11. – Siehe außerdem: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 76. – Siehe zudem: Jacob Freudenthal: SL 47. 573 Siehe: Baruch de Spinoza: Descartes’ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit dem »Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken«. Übersetzt von Arthur Buchenau. Einleitung und Anmerkungen von Wolfgang Bartuschat. – In: ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. In Verbindung mit Otto Baensch und Arthur Buchenau herausgegeben und mit Einleitungen, Anmerkungen und Registern versehen von Carl Gebhard. Band 4. Hamburg 51978. (Sigle: DP) 574 »Doctor Ludovicus Meyer vir fuit omnium artium disclipinarumque peritus; non solum magnam habebat notitiam metaphysicœ, theologiœ, literarum tam humanarum quam novarum, sed etiam erat medicina, physica, mechanica, aliis scientiis. De omni re scibili et quisbusdam aliis differe potuit, sed pauca tantum scripsit.« – Siehe: W. G. van der Tak: De Ludovico Meyer. – In: Chronicon Spinozanum. Tomus primus. Hagae Comitis (Den Haag). Curis Societatis Spinozanae. MCMXXI. 91 – 100; hier 98 f. – Als Meyer, der aus einer calvinistischen Familie stammt, 1673 seine erstmals 1666 in Amsterdam erschienene Schrift Philosophia Sacræ Scripturæ interpres; exercitatio paradoxa, in quâ, veram philosophiam infallibilem S. Literas interpretandi normam esse, apodicticè demonstratur, & discrepantes ab hâc sententiæ expenduntur, ac refelluntur. Eleutheropoli [d.i. Amsterdam] erneut – nun aber gemeinsam mit dem Tractatus theologico-politicus – publizieren läßt, fungiert er noch einmal als Spinoza-Herausgeber, verbirgt sich aber hinter der fingierten Herausgeberschaft eines Daniel Heinsius. – Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Meyers Philosophia Sacræ Scripturæ interpres und dem Tractatus theologico-politicus diskutiert in extenso: Manfred Walther: Biblische Hermeneutik und historische Erklärung. Lodewijk Meyer und Benedikt de Spinoza über Norm, Methode und Ergebnis wissenschaftlicher Bibelauslegung. – In: Studia Spinozana. Central Theme: Spinoza’s Philosophy of Religion. Würzburg. 11 (1995), 227 – 300. 572
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bar nach Spinozas Abreise aus Amsterdam berichtet Jean-Maximilien Lucas: »Seine Freunde, die zumeist Cartesianer waren, legten ihm die Schwierigkeiten vor, die sie durch die Prinzipien ihres Meisters nicht zu lösen können behaupteten. Spinoza befreite sie von einem Irrtum, in dem die Gelehrten sich damals befanden, indem er sie durch ganz entgegengesetzte Gründe zufriedenstellte. […] Als diese Freunde wieder daheim waren und verkündeten, Descartes wäre nicht der einzige Philosoph, der verdiene, daß man ihm folge, da waren sie beinahe totgeschlagen worden.«575 Zudem belegt bereits der früheste erhaltene Briefwechsel Spinozas mit Heinrich Oldenburg (August/September 1661, also zwei Jahre vor der Publikation des Descartes-Buchs) die Diskussion um die vermeintlichen Mängel der Philosophie Descartes’ (und Bacons): 1. Abirrung von der Erkenntnis der ersten Ursache und des Ursprungs aller Dinge; 2. Unkenntnis der wahren Natur des menschlichen Geistes; 3. Verfehlung der wahren Ursache des Irrtums. Und nicht zuletzt deutet der Umstand, daß unter den Büchern der hinterlassenen Privatbibliothek Spinozas (161 Titel, »zu denen noch 5 Bündel kleiner Schriften hinzukommen«576) nicht weniger als acht Titel auf Descartes entfallen, auf die intensive Beschäftigung Spinozas mit diesem Philosophen hin.577 Ironie der Geschichte ist es, daß just 1663, also im Publikationsjahr des Descartes-Buchs Spinozas, Descartes’ Schriften auf den römisch-katholischen Index verbotener Bücher gesetzt werden;578 zu dieser Zeit beSiehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 32. Siehe: Jacob Freudenthal: SL 204. – Mit Blick auf das von Spinoza zur Abfassung seiner Werke herangezogene Schrifttum ist davon auszugehen, daß es keinesfalls zu einer vollständigen Inventarisierung – gerade auch der philosophischen Titel – seiner hinterlassenen Privatbibliothek (die sich zu nicht geringen Teilen auch aus dem Vatererbe zusammengesetzt haben wird) gekommen sein kann. Womöglich bringt hier ein Hinweis Freudenthals ein wenig Licht ins Dunkel: Dieser führt einen in Gebhardt-Walthers Materialienband nicht zitierten Brief Schullers an Leibniz vom 13. November 1677 an: »Vor und nach Spinozas Tode habe ich Alles einzeln durchsucht und alle Schriften, die besondere Gelehrsamkeit oder Seltenheit aufweisen, auf Weisung der Freunde und die seinige an mich genommen.« – Siehe: Ibid. 210. – Spinoza hatte Schuller früh zu seinem Vertrauen erwählt; Freudenthal teilt mit, Spinoza selbst habe in der Ahnung seines nahen Todes einen »Teil seiner Bibliothek« Schuller übergeben. – Siehe: Ibid. 302 f. 577 (31) »Descartes Brieven«; (34) »Descartes Proeven«; (44) »Renatus Descartes de prima Philosophia«; (45) »____ de Geometria«; (46) »Renatus Descartes de Philosophia prima«; (49) »Descartes de Geometria«; (50) »Descartes opera Philosophica. 1650«; (51) »____ de homine«. – Siehe: LD Dok. 75. 578 Die Sacra Congregatio Romanae et universalis Inquisitionis resp. Congregatio Sancti Officii wird am 4. Juli 1542 durch die Bulle Licet ab initio Papst Pauls III. ins Leben gerufen. Zu deren Statuierung wird noch im selben Jahr ein zuständiges Kollegium von sechs Kardinälen ernannt, die als General-, sprich Großinquisitoren mit Sonderrechten u. a. zur Ernennung weiterer Inquisitoren ausgestattet werden; im 16. Jahrhundert werden ihre Befugnisse erweitert. Die Römische Inquisition verfolgt das Ziel, den erstarkenden Protestantismus in Italien einzudämmen. Ab gesehen von der physischen Verfolgung Verdächtiger, die aber vergleichsweise zurückhaltend – man denke nur an die Spanische Inquisition! – angeordnet wird, nimmt die Römische Inquisition insbe sondere Druckwerke reformatorischen Gedankenguts ins Visier. Zu diesem Zweck wird eigens der Index Librorum Prohibitorum erstellt. Die bekanntesten durch die Römische Inquisition verurteilten 575
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findet sich das erste Buch der Ethica Spinozas schon in den Händen seiner Freunde. Spinoza wird bis zur endgültigen Fertigstellung dieses Werks noch zwölf weitere Jahre an ihm arbeiten. Ein Jahr nach Erscheinen seines Descartes-Buchs übersetzt es der flämische Mennonit Pieter Balling (gest. 1664) ins Niederländische; wiederum Jan Rieuwertsz d. Ä. (1617 – 1685) publiziert diese Übertragung. Jarig Jelles (1619/20 – 1683/84) finanziert beide Ausgaben. Dieser betrachtet das Buch als nützlichen Kommentar zu seiner seit 1656 erscheinenden, von dem Mennoniten Jan Hendrick Glazemaker (1619 – 1685) zusammengestellten Descartes-Ausgabe, die 1684 mit dem siebenten Band abgeschlossen wird.579 1.6 Spinoza steht im Ruf, Cartesianer zu sein Urbain Chevreau (1613 – 1701), der sich zwischen 1671 und 1678 am Hof Karl Ludwigs Kurfürst von der Pfalz (1617 – 1680)580 aufhält, berichtet 1673 folgendes: »Etant à al Cour du même Electeur, je parlay fort avantageusement de Spinoza
Personen sind Giordano Bruno (1600) und Galileo Galilei (1633). 1663 wird die Verbreitung fol gender Werke Descartes’ untersagt: Meditationes de prima philosophia, in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstratur; Opera philosophica; Les passions de l’âme. Die Medi tationes werden 1720 erneut verboten. – Siehe: Hubert Wolf: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. 2., durchgesehene Auflage München 2006. 260. – Die Situation in den Niederlanden stellt sich so dar, daß der Senat der Utrechter Universität das Studium Cartesianischer Schriften bereits 1642 und das Kuratorium der Leidener Hochschule 1648 unter Strafe stellt. Diesen Verboten folgt im Jahr 1656 ein Edikt der Staaten Hollands, durch welches die Cartesianische Lehre zu unter richten verboten wird – nicht zuletzt in dem Interesse, eine scharfe Grenzlinie zwischen Natur wissenschaft und Metaphysik zu ziehen. 579 Siehe ebenso: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 301. (Meinsma gibt allerdings an, Glazemakers niederländische Descartes-Edition erscheine erst ab 1657.) – Siehe auch: Jacob Freudenthal: SL 123. – Glazemaker übersetzt auch Spinozas Tractatus theologico-politicus ins Niederländische. Um Verdächtigungen hinsichtlich des tatsächlichen Inhalts des Buches sogleich zu begegnen, führt die Ausgabe den Titel: De rechtzinnige theologant, of godgeleerde staatkundige verhandelinge. [Die freisinnige theologische oder gottesgelehrte politische Abhandlung.] Hamburg: Henricus Koenraad 1693. – Warum Glazemakers Übersetzung, die bereits 1671 vorliegt, erst mit 22jähriger Verspätung auf den Buchmarkt kommt, ist einem Brief Spinozas an Jarig Jelles zu entnehmen: »Als mich Professor … unlängst besuchte, sagte er mir unter anderem, er habe gehört, mein Theologisch-politischer Traktat sei ins Niederländische übersetzt und es sei jemand, er wußte nicht wer, daran, ihn drucken zu lassen. Ich bitte Sie dieserhalb recht ernstlich, sich darüber Gewißheit zu verschaffen und womöglich die Drucklegung zu verhindern. Das ist nicht nur mein Wunsch, sondern auch der Wunsch vieler meiner guten Bekannten, die es nicht gerne sähen, wenn man das Buch verbieten würde, wie es doch zweifellos der Fall sein wird, wenn es in niederländischer Sprache herauskommt.« – Siehe: Baruch de Spinoza: B 44. An Jarig Jelles am 17. Februar 1671. – Siehe auch: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 408 f. 580 Karl Ludwig, Sohn des »Winterkönigs« Friedrich V. von der Pfalz (1596 – 1632), löst nach nach Ansicht nicht weniger Historiker mit seinem Anspruch, als Calvinist König von Böhmen zu werden, den Dreißigjährigen Krieg aus. Wie seine Schwester wächst er in den Niederlanden auf. Sein Studium absolviert er in Leiden. 1649, im Jahr nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges,
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quoyque je ne conusse encore ce Juif Protestant, que par le premiere et la deuxieme Partie de la Philosophie de M. Descartes, imprimées à Amsterdam chez Jean Riewertz en 1663. Monsieur l’Electeur avoit ce Livre; et apres lui en avoir leu quelques chapitres, il se resolut de l’appeller dans son Académie de Heidelberg pour y enseigner la Philosophie, A c o n d i t i o n d e n e p o i n t d o g m a t i z e r. «581 M. Mayer erläutert: »Chevreau nennt Spinoza Juif Protestant. Bedeutet dies etwa abtrünnig gewordenen Juden, also eine Anspielung auf seine Ausstoßung aus der Synagoge, oder Protestanten jüdischer Abstammung, weil er etwa an die Wahrheit irgendeines damals aufgetretenen Gerüchtes glaubte, Spinoza sei zum Protestantismus übergetreten? Sicherlich hatte er von seinem Bruche mit der jüdischen Glaubensgemeinschaft und seinem Verkehre mit den Trägern eines freieren Christentums im damaligen Holland, den Kollegianten und Mennoniten gehört, er, der in fast ganz Europa herumgereist und mit zahlreichen Zeitgenossen, auch Hollands, in Briefwechsel stand. Darum nennt er mit den beiden nebeneinander stehenden Hauptworten Spinoza nicht einen Bekenner des protestantischen Glaubens, sondern wegen seines innerlichen Zerfalles mit dem Judentum und wegen seines Verkehres mit Protestanten – Juif Protestant.«582 Der – sicherlich nicht zu seiner Freude – zur Anfrage bei Spinoza Beauftragte, Johann Ludwig Fabricius (1632 – 1697), schon früh außerordentlicher Professor für Griechisch in Heidelberg, nach seiner Rückkehr dorthin 1669 zudem calvinistisch geprägter Professor für Theologie, später auch für Philosophie, Rat Karl Ludwigs, ergänzt: »Sie dürften nirgends einen Fürsten finden, der hervorragenden Talenten, unter die er Sie rechnet, günstiger gesinnt wäre. Sie werden die vollste Freiheit haben zu philosophieren, indem er vertraut, daß Sie diese nicht zur Störung der öffentlich anerkannten Religion mißbrauchen werden.«583 Diese Zeugnisse belegen einerseits den Respekt, der Spinozas (autodidaktischer) Umgang mit der kehrt er in seine Heimat zurück und gehört zu den Initiatoren des Wiederaufbaus der Heidelberger Universität. 581 Siehe: Urbain Chevreau: Chevraeana II. Amsterdam 1700. 104. – Chevreau berichtet also 27 Jahre später von den Ereignissen um Spinozas Ruf nach Heidelberg. – Die zitierte Passage ist auch abgedruckt in: Die Lebensgeschichte Spinoza’s in Quellenschriften, Urkunden und nichtamtlichen Nachrichten, mit Unterstützung der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von J. Freudenthal. Leipzig 1899. Nr. 49, 219. – Siehe jetzt: Die Lebensgeschichte Spinozas. Lebensbeschreibungen und Dokumente. Zweite, stark erweiterte und vollständig neu kommentierte Auflage der Ausgabe von Jakob Freudenthal 1899. Mit einer Bibliographie. Herausgegeben von Manfred Walther unter Mitarbeit von Michael Czelinski. 2 Bände. Stuttgart-Bad Cannstatt: 2006. (specula 4,1 – 2) – Siehe zudem: Jarig Jelles über Spinoza. Aus dem Vorwort der nachgelassenen Schriften. – In: LD 9 – 18; hier 12. – Siehe außerdem: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 92 f. – Siehe ebenso: Bernhard Alexander: Spinoza. – In: Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Abt. IV. Die Philosophie der neueren Zeit I. Band 18. München 1923. 21 f. 582 Siehe: M. Mayer: Spinozas Berufung an die Hochschule zu Heidelberg. – In: Chronicon Spinozanum. Tomus tertius. Hagae Comitis (Den Haag). Curis Societatis Spinozanae. MCMXXIII. 20 – 44; hier 26. 583 Siehe: Baruch de Spinoza: B 47. Fabricius an Spinoza, Heidelberg, am 16. Februar 1673.
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Philosophie im Gefolge seiner ersten Publikation gezollt wird;584 andererseits faßt Fabricius das Anerbieten auf Grund des Bedingungszusatzes bewußt so ab, daß Spinoza kaum bedenkenlos seine Zustimmung erteilen kann. In Rücksicht auf ein friedvolles religiöses Leben im Staat faßt Spinoza selber allerdings den Untertitel seines Tractatus theologico-politicus ab, enthalte dieser doch »einige Abhandlungen, in denen gezeigt wird, daß die Freiheit zu philosophieren nicht nur unbeschadet der Frömmigkeit und des Friedens im Staat zugestanden werden kann, sondern daß sie nur zugleich mit dem Frieden im Staat und mit der Frömmigkeit selbst aufgehoben werden kann.«585 Dennoch: Das Angebot ist verlockend, insbesondere auch für jemanden, dem selbst keine akademische Ausbildung zuteil geworden ist.586 Zudem wird Spinoza sicherlich die Frage umgetrieben haben, ob es nicht von Vorteil sei, Holland zu verlassen, drängen dessen geistliche Behörden doch zusehends zu scharfer Maßregelung seiner mittlerweile weithin bekannt gewordenen Lehre. Aber Spinozas Bedenken, dem Heidelberger Ruf zu folgen, verfliegen nicht: Würde er mit einer Übersiedelung in das seit jeher von leidenschaftlichen theologischen Auseinandersetzungen geschüttelte Deutschland nicht vom Regen in die Traufe geraten? Nach sechs Wochen schließlich antwortet Spinoza Fabricius: »Wenn ich je den Wunsch gehabt hätte, ein akademisches Lehramt zu übernehmen, so hätte ich mir kein andres wünschen können als das, welches mir von Seiner Durchlaucht dem Kurfürsten von der Pfalz durch Sie angeboten wird, namentlich angesichts der Freiheit zu philosophieren, die Ihr allergnädigster Fürst mir einzuräumen geruht […]. Da es jedoch nie meine Absicht gewesen ist, öffentlich zu lehren, so kann ich mich auch nicht dazu entschließen, diese ausgezeichnete Gelegenheit zu ergreifen […]. Mein erstes Bedenken ist, daß ich wohl auf die Weiterbildung der Philosophie verzichten müßte, wenn ich mich dem Unterricht der Jugend widmen wollte. Dann habe ich das Bedenken, daß ich nicht weiß, in welche Grenzen die Freiheit zu philosophieren einzuschließen ist, damit ich nicht den Anschein erwecke, als wolle ich die öffentlich anerkannte Religion stören; denn Entzweiungen entstehen weniger aus feurigem Religionseifer, als aus der Verschiedenheit menschlicher Affekte oder aus der Sucht zu widersprechen, die alles, auch das richtig Gesagte, zu verkehren und zu verdammen pflegt. Wie ich dies schon in meinem privaten und einsamen Leben erfahren habe, um wieviel mehr hätte ich es zu befürchten, nachdem ich zu dieser Würde emporgestiegen wäre. Sie sehen also, hochansehnlicher Herr, daß ich nicht »Im Februar 1673 hatte Spinoza einen Ruf auf eine ordentliche Philosophie-Professur an die Universität Heidelberg erhalten, der die Anerkennung für die Solidität einer Schrift über Descartes und die scholastische Metaphysik war, der aber gewiß in Kenntnis der Autorschaft des ›Tractatus Theologico-politicus‹ ausgesprochen wurde.« – Siehe: Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996. 28. 585 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP Titelblatt. 586 Überliefert ist freilich, daß Spinoza in seiner Rijnsburger Zeit als quasi-akademischer Lehrer gesucht wird, als protestantische Studenten der international frequentierten Universität Leiden persönlichen Kontakt mit ihm aufnehmen. 584
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aus Hoffnung auf ein höheres Glück zögere; aber aus Liebe zu einer Ruhe, die ich mir auf andre Weise nicht bewahren zu können glaube, möchte ich eben von öffentlichen Vorlesungen absehen.«587 Spinozas Antwortschreiben ist einerseits zu entnehmen – und dieser Aspekt wird mit Blick auf den hier erörterten Zusammenhang für gewöhnlich betont –, der vordringliche Grund, den Ruf verhallen zu lassen, sei seine Befürchtung, nicht ungehindert Philosophie lehren zu können. Als mindestens gleichgewichtig zu veranschlagen sind jedoch Spinozas Bedenken hinsichtlich der zu erwartenden Schwierigkeiten, die Arbeit an seiner eigenen Philosophie fortsetzen zu können. Zwar tut Spinoza selbst in der Ethica kund: »Weil wir ferner unter den einzelnen Dingen nichts kennen, was vortrefflicher wäre als der Mensch, den die Vernunft leitet, so kann ein Jeder durch Nichts mehr zeigen, wie viel Geschick und Geist er besitze, als dass er die Menschen so heranbildet, dass sie endlich nach eigener Vernunftherrschaft leben.«588 Dennoch fürchtet Spinoza, durch einen Lehrauftrag erleide die Konzentration auf die Fortentwicklung seines eigenen Werks eine zu große Ablenkung. Spinoza ist in jener Zeit mit den abschließenden Arbeiten an seiner Ethica befaßt; zudem mag er fühlen, »daß seine schwankende Gesundheit ihm die Sammlung aller seiner Kräfte für diese Vollendung nahe lege.«589 Vielleicht beeinflussen aber auch noch Erinnerungen aus der Zeit bei van den Enden seine Entscheidung zur Absage, als ihm schwant, »daß er sich niemals zu einem allgemein anerkannten Fachgelehrten oder Spezialisten«590 würde emporarbeiten können. Den Umstand, daß 1676 die Truppen Ludwigs XIV. in die Pfalz einmarschieren und die Universität in Folge dessen geschlossen wird, wird er sicherlich als Bestätigung, richtig entschieden zu haben, aufgenommen haben. Im Anhang seines Descartes-Buchs sind seine Cogitata Metaphysica beigebunden, eine Arbeit, in der Spinozas eigentümliche philosophische Gedankenwelt bereits wetterleuchtet, auch wenn sie ursprünglich zu der Erschließung eines von Descartes unbetretenen Bezirks: der systematischen Darstellung der Metaphysik, bestimmt gewesen ist und erst im Zuge der Schlußredaktion der gesamten Publikation in den Anhang verschoben wird. Der Kurfürst dürfte sonach auch mit dieser kleinen Schrift Bekanntschaft geschlossen haben, mithin von Spinozas eigenem philosophischen Ansatz sich eine gewisse Kenntnis angeeignet haben, die ihn in seinem Entschluß, Spinoza als Hochschullehrer nach Heidelberg berufen zu wollen, beeinflußt haben dürfte.591 Mayer schreibt: »Der Geist, mit dem Karl Ludwig 587
1673.
Siehe: Baruch de Spinoza: B 48. Spinoza an Fabricius, ’s Gravenhage, am 30. Februar
Siehe: Baruch de Spinoza: E IV, Appendix, Caput IX. Siehe: M. Mayer: Spinozas Berufung an die Hochschule zu Heidelberg. A.a.O. 37. 590 Siehe: Theun de Vries: S 62. 591 Auf Chevreaus Anregung und auf Vorschlag Fabricius’ hat eigentlich der 1651 zum Protestantismus übergetretene Tannequil Lefevre (1615 – 1672), Professor an der protestantischen Akademie Saumurs, bereits den Ruf auf den philosophischen Lehrstuhl in Heidelberg angenommen; vor seiner Abreise stirbt dieser jedoch am 12. September. – Siehe: LD Dok. 66. 588
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die Berufung beschloß und befahl, war also ein ganz anderer als der Geist, in dem Fabricius den Befehl ausführte. Der Kurfürst hat viel großzügiger und freier gehandelt als man bisher wußte. Der Versuch, Spinoza für Heidelberg zu gewinnen, war der Ausfluß der seiner Zeit vorauseilenden Denkungsart dieses Fürsten, der einer der Vorläufer der deutschen Aufklärung, ein Vorgänger des aufgeklärten Despotismus gewesen ist. Im Herzen war er Freidenker – als welchen ihn auch schon Zeitgenossen betrachteten – wenn er auch seine Stellung zu den Konfessionen den zeitlichen Staatsnotwendigkeiten verständnisvoll unterordnete. Ihn erfüllte der Gedanke der Toleranz und Gewissensfreiheit; darum räumte er bisher unterdrückten Konfessionen (Lutheranern, Sabbatisten, Sozinianern592) Kultusfreiheit ein, darum wirkte er frühzeitig für die Vereinigung der christlichen Kirchen und erlaubte als Wahrzeichen dieser Idee die Konkordienkirche in Mannheim. Auch von den Geistlichen seines Landes verlangte er Duldsamkeit und trat gegen die Regiersucht und die religiösen Streitigkeiten der Theologen auf.«593 Spinozas Cogitata metaphysica mögen nicht den einzigen Anknüpfungspunkt für Karl Ludwig ermöglicht haben, erscheint doch Anfang 1670 der Tractatus theologico-politicus, dessen verdeckte Autorschaft jedoch bald enttarnt wird und Spinoza – nicht nur bei Theologen594 – einerseits zwar in den Ruf der Ketzerei bringt, ihn jedoch andererseits als mutigen und unabhängigen Freigeist zeigt. Die Schrift erscheint anonym und mit fingiertem Drucker und Druckort (nicht »Hamburgi, Apud Henricum Künrath«,595 sondern tatsächlich bei Spinozas Freund und Verleger Jan Rieuwertsz [d. Ä.] in Amsterdam;596 den Druck besorgt in Wahrheit der ebenfalls ungenannte Christoffel Koenrads). Die meisten Werke Spinozas werden erst nach dessen Ableben, aber noch in seinem Todesjahr 1677 von besagtem Jan Rieuwertsz d. Ä., dessen Name erneut ungenannt bleibt, in den von dem Gewürzhändler und Mennoniten Jarig Jelles (alias Insma), der bereits die Druckkosten für Spinozas Descartes-Buch beglichen hat, sowie weiteren Freunden des Verstorbenen »Nach dem aus Italien stammenden und später in Polen wirkenden Fausto Sozzini (1539 – 1604) benannte religiöse Bewegung, die, von der Reformation beeinflußt, ein vernunftgemäßes, von Dogmenzwang freies Christentum vertritt und sich von Polen aus seit Beginn des 17. Jahrhunderts auch nach Westeuropa ausbreitet und u. a. den Kreis der Kollegianten in Rijnsburg beeinflußt, mit dem Spinoza in seiner Rijnsburger Zeit in enger Verbindung steht […]. Der Name ›Sozinianer‹ wurde dieser sich ›Brüder‹ oder ›polnische Brüder‹ nennenden Bewegung von den Gegnern, vor allem also von der protestantischen Orthodoxie, gegeben. Auch Spinoza wird in der frühen Polemik, vor allem in Deutschland, unter die sozinianischen Irrlehren eingereiht.« – Siehe: LD Erl. 1 zu Dok. 61. – Auch Leibniz ist »contra Socinianos […] et quosdam Semisocinianos«. – Siehe: Gottfried Wilhelm Leibniz: Causa dei […]. A.a.O. Abs. 2; etwas defensiver in: ders.: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. A.a.O. 45 f. 593 Siehe: M. Mayer: Spinozas Berufung an die Hochschule zu Heidelberg. A.a.O. 38 f. 594 Siehe: M. Mayer: Spinozas Berufung an die Hochschule zu Heidelberg. A.a.O. 37 f. 595 Zu dieser Zeit ist freilich den Eingeweihten bereits klar, wer sich hinter diesem Decknamen verbirgt. – Eine zweite fiktive Adresse für Jan Rieuwertsz d. Ä. lautet Hans Jürgen van der Weyl, Bremen. 596 Siehe: Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. München 1996. 27. 592
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in Rieuwertsz’ Verlagsbuchhandlung In’t Martelaarswapen im Dirk van Haaseltsteeg597 zum Druck vorbereiteten und schließlich herausgegebenen Opera Posthuma der Öffentlichkeit zugänglich gemacht,598 wenngleich noch 1675 der Haager Kirchenrat davor warnt, nach dem Tractatus theologico-politicus »irgend eine neue Schrift« Spinozas (gemeint ist die Ethica) drucken zu lassen.599 Noch in Spinozas Todesjahr läßt der Vatikan nach vermeintlichen Spinoza-Manuskripten suchen. Dabei hat man besonders eine authentische Handschrift der Ethica ins Visier genommen.600 Aber wieder zurück zu Spinozas Antwortbrief an Fabricius: Auffällig ist außerdem die Bemerkung, nicht divergierende Überzeugungen in Religionssachen, sondern anders geartete Ursachen führten Dissens herbei. Spinozas Leugnung, religiöser Fanatismus führe zu Streit, heißt v. a. auch, daß er den Menschen prinzipiell für fähig erachtet, religiöse Zerwürfnisse eines Tages zu überwinden. Zudem kann besagte Äußerung Spinozas als leise Kritik an die kurpfälzische Bedingung, an die seine künftige Heidelberger Tätigkeit geknüpft ist, interpretiert werden: Es dürfe Meinsma teilt mit: Dirk van Assen-Steg und ’t Martelaersboeck. – Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 197. 598 Colerus listet die in Spinozas Opera Posthuma versammelten Schriften auf, deren Manuskripte bereits im Juli 1677 dem Verleger und Drucker Rieuwertsz d. Ä., dem sie Spinoza bei Lebzeiten vermacht, vorliegen: die Ethik, der Fragment gebliebene Politische Traktat, die Bruchstücke der Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, eine Auswahl der Briefe (aus deren einstmaliger Sammlung – wohl auf Verschulden Schullers – viele verlorengehen), und im Anhang schließlich (mit neuer Paginierung) die unvollendete Hebräische Grammatik (Compendium grammaticae linguae Hebraeae). – Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 98. – Aus den Briefen werden die Namen noch lebender Absender und Empfänger sorgfältig entfernt. Im November ist mit Ausnahme des Index alles gedruckt (siehe: Schuller an Leibniz vom 5. November 1677), und Ende Dezember ist die Ausgabe mit einer Vorrede Jarrig Jelles’ fertig und soll zu Beginn des kommenden Jahres ausgeliefert werden (siehe: Schuller an Leibniz vom 31. Dezember 1677). Spinozas Schriften sogleich nach dessen Tod (kostspielig) in Druck zu geben, bedeutet für alle Beteiligten ein hohes persönliches und nicht zuletzt auch verlegerisches Risiko. Veröffentlicht unter den Verfasser-Initialen »B. d. S.« werden die Opera posthuma bereits am 25. Juni 1678, nur ein Jahr nach ihrem Erscheinen, erstmalig verboten (durch die Staaten von Holland und Westfriesland: siehe: LD Dok. 82; sodann 1690 durch den Vatikan; siehe: Ibid. Dok. 82); aber nicht nur Leibniz erwirbt und studiert sie mit großem Interesse. – Zu den beinahe schon grotesk zu nennenden Schwierigkeiten, in die noch Kuno Fischer (1824 – 1907) nach der ersten Publikation seines Spinoza-Buchs (Band I/2 seiner damals noch auf sechs Bände angelegten Geschichte der neueren Philosophie [Heidelberg 1852 ff.]) gerät – z. B. ist ihm die Venia Legendi entzogen worden –, siehe: Hugo Falkenheim: Spinoza und Kuno Fischer. – In: Chronicon Spinozanum. Bd. II. Den Haag 1922. 220 – 232. – Siehe zudem: Kuno Tiemann: Kuno Fischers Kampf gegen die Reaktion. – In: Deutsche Rundschau. Berlin 1923. 32 – 44. – Mittlerweile ist allerdings klar, daß Spinoza nicht die entscheidende Rolle gespielt zu haben scheint. – Siehe: Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt a. M. 1986. 128 ff. – Zu Fischers Zeit liegt noch keine verläßliche Lebensbeschreibung Spinozas vor. – Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: Die Unzulänglichkeit der bisherigen Biographien Spinoza’s. – In: Archiv für Geschichte der Philosophie. Berlin. 9 (1896), N. F. 2, 208 – 224. 599 Siehe: LD Dok. 69. 600 Siehe: LD Dok. 80. 597
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nicht das vordringliche Interesse sein, eine besondere religiöse Praxis zu tolerieren, sondern vielmehr, philosophische Formen des Existierens vor der Vulgarität unreflektierten Widerspruchsgeistes in Schutz zu nehmen. Hier spricht Spinoza wahrlich aus reifer Erfahrung, und wer mag es ihm verdenken. Während Descartes trotz »seiner Lebensmaxime ›gut hat gelebt, wer sich gut zu verbergen wußte‹«601 mehrere Publikationen unter seinem Namen hat veranlassen können, liegt mit Spinozas Descartes-Buch dessen einzige zu Lebzeiten unter seinem Namen veröffentlichte Schrift vor.602 Sieht man von den »publikationsstrategischen Gesichtspunkten«,603 die Spinoza zweifelsohne insbesondere bei seiner erwähnten Erstlingsschrift noch bewegt haben mögen, ab und lenkt den Blick auf seinen Beitrag zu der Auseinandersetzung mit den egologischen Fundamenten einer ›prima philosophia‹, wird deutlich, daß diese Schrift mitnichten lediglich als begleitender Kommentar zu dem ersten Teil der Cartesianischen Principia philosophiae gedacht ist604 oder – ›despektierlich‹ gewendet – »uns dokumentarisch seine Vertrautheit mit allen Einzelheiten der Lehre des Descartes belegt«,605 sondern die Arbeit bereits ein eigenständiges philosophisches Niveau beweist, hat Spinoza doch zu dem Zeitpunkt ihrer Abfassung bereits wichtige Komponenten seiner eigenen Siehe: Lothar Kreimendahl: René Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie. – In: Hauptwerke der Philosophie des Rationalismus und Empirismus. Interpretationen. Stuttgart 1994. 17 – 50; hier: 18. – Diese Lebensweisheit ist Epikur entlehnt, sie muß Spinoza sympathisch erscheinen. – Siehe: Theun de Vries: S 50. 602 Sie ist 1663 bei Jan Rieuwertsz d. Ä. erschienen. – Spinozas divergierende Thesen zu Descartes’ Philosophie laufen bereits in dieser Zeit Gefahr, zu einem Ärgernis zu werden. Jean-Maximilien Lucas berichtet: »Die meisten Geistlichen, voreingenommen für die Lehre dieses großen Genies [Descartes’, H. G.], eifersüchtig auf ihr eingebildetes Recht, in ihrer Wahl unfehlbar zu sein, zetern gegen dieses Gerücht, das sie beleidigt, und versäumen nichts, was sich tun läßt, um es in der Quelle zu ersticken; aber was sie auch taten, das Übel wuchs dermaßen, daß man nahe daran war, einen Bürgerkrieg im Bereiche der Wissenschaften zu erleben, als man den Beschluß faßte, unseren Philosophen zu bitten, er möge sich hinsichtlich Descartes’ offen erklären.« – Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 33. – Im Gegensatz zu: Jacob Freudenthal: SL 123, erörtert Wolfgang Bartuschat in der »Einleitung« (siehe: XVII–XXI) seiner Ausgabe des Descartes-Buchs ganz richtig, wie wenig Spinoza diese Schrift als eine Gelegenheitsarbeit aufgefaßt habe; ähnlich äußern sich: Erich Becker: Der Begriff des Absoluten bei Spinoza in seiner Entwicklung und seinen Beziehungen zu den Begriffen der Substanz und des Modus. – In: Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausgegeben von Benno Erdmann. Heft 19. Unveränderter reprographischer Nachdruck der 1. Auflage (o. J.), Halle an der Saale. Hildesheim/New York 1980. 15. – Sowie: Hubertus G. Hubbeling: Spinoza. Freiburg (Brsg.)/München 1978. 46. 603 Siehe: Hubertus G. Hubbeling: Spinoza. A.a.O. XIX. 604 Dies geht aus der dem Descartes-Buch Spinozas vorangestellten »Vorrede« (siehe: 3 ff.) des Herausgebers Ludwig Meyer »als alter ego« Spinozas ausdrücklich hervor. – Siehe: Kuno Fischer: Spinozas Leben, Werke und Lehre. – In: Geschichte der neuern Philosophie. Jubiläumsausgabe. Zweiter Band. Descartes’ Schule. Spinozas Leben, Werke und Lehre. 4. neu bearb. Aufl. Heidelberg 1898. 294. – Fischer zitiert die einschlägigen urkundlichen Quellen. 605 Siehe: Bernhard Alexander: Spinoza. A.a.O. 60. – Genauso noch: Wolfgang Röd: Benedikt Spinoza. – In: ders. (Hg.): Geschichte der Philosophie. Band VII. Die Philosophie der Neuzeit 1. Von Francis Bacon bis Spinoza. Von Wolfgang Röd. München 1978. 186 – 211; hier 186. 601
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Philosophie ausgearbeitet.606 Dennoch soll nicht in Abrede gestellt werden, daß Spinoza im wesentlichen in der Auseinandersetzung mit der Lehre Descartes’ zu der Konzeption seiner eigenen Philosophie gelangt ist.607 Rein äußerlich ist dieser Umstand zunächst auf den starken Einfluß der Lehre des Descartes, der seit der Mitte der dreißiger Jahre in den Niederlanden vernehmbar ist, zurückzuführen.608 Auf den Universitäten von Utrecht, Leiden, Groningen, Franeker, Nimwegen, Harderwyck, ja selbst auf der katholischen Hochschule von Louvain wird die Philosophie Descartes’ gelehrt und somit gleichfalls aristotelisch-scholastisch organisierten Wissenschaften die Deutungshoheit bestritten. Wahrscheinlich macht Spinoza durch Francisus van den Enden nähere Bekanntschaft mit Descartes’ Philosophie.609 Den Nachweis, daß Spinozas Philosophie seit ihren Anfängen daran orientiert gewesen ist, Descartes’ (vermeintlich zirkuläre) Prinzipientheorie: die kraft Persistenz des Denkens generierte Selbstgewißheit des ›ego cogito, ego existo‹ zu befehden, hat der Verfasser an anderer Stelle geführt.610 Eine vertiefende Erörterung dieser Zusammenhänge führte eingedenk der rechtstheoretischen Problemfrage dieser Untersuchung auf ein philosophisches Nebengleis, obschon Spinoza mit seiner Interpretation der Cartesianischen Prinzipientheorie 1. das prominente Lehrstück der in seiner Zeit minuziös diskutierten Philosophie aufgreift,611 und 2. erst über diesen Weg zu dem Problemkreis des für seine eigene Philosophie integralen adäquaten Begriffs der Natur (oder Gottes612) vorzustoßen vermag. Seiner Siehe bes.: Baruch de Spinoza: DP »Vorrede«, 7. – Siehe ebenso: Kuno Fischer: Spinozas Leben, Werke und Lehre. A.a.O. 291 f. – Sowie mit Blick auf den Theologisch-politischen Traktat: Berthold Auerbach: Das Leben Spinoza’s. – In: B. v. Spinoza’s sämmtliche Werke. Aus dem Lateinischen mit dem Leben Spinoza’s von Berthold Auerbach. Erster Band. Stuttgart 1841. LIII. – Zudem: Jacob Freudenthal: SL 123: »In diesen Jahren ist der kurze Traktat entstanden oder doch vollendet und mit vielfachen Zusätzen bereichert worden. In derselben Zeit ist der Traktat über die Läuterung des Verstandes, der Hauptteil der Prinzipien samt den Cogitata abgefaßt und endlich das Buch der Ethik in geometrischer Form ausgearbeitet worden.« 607 Dies betont bereits: Pierre Bayle: Spinoza. – In: Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; Mit des berühmten Freyherrn von Leibnitz, und Herrn Maturin Veissiere la Croze, auch verschiedenen andern Anmerkungen, sonderlich bey anstößigen Stellen wie auch einigen Zugaben versehen, von Johann Christoph Gottscheden. Vierter und letzter Teil. O bis Z. Mit einem vollständigen Register über alle vier Theile. Mit Röm. Kaiserl. auch Königl. und Chursächs. allergnädigster Freyheit. Leipzig, 1744. Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf. 260 – 279; hier 260. 608 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 14; 47 ff. – Siehe ebenso: Berthold Auerbach: Das Leben Spinoza’s. A.a.O. XLVIII. 609 Siehe: Theun de Vries: S 47. 610 Siehe: Holger Glinka: Die Logik des Cogito. Descartes’ Prinzipienforschung und ihre Transformation bei Spinoza. Magister-Arbeit. Bochum 1998. 62 – 125. 611 Es läßt sich wohl mit Fug und Recht sagen, daß die damalige Rezeption der Cartesianischen Meditationes in ihrer kritischen Dimension als eines der letzten ›europäischen Ereignisse‹ der Philosophie zu betrachten ist. 612 de Vries macht eine denkwürdige Mitteilung: »Es gibt […] eine Spinoza-Legende, die besagt, daß in der ersten Fassung der Ethik das Wort Gott überhaupt nicht vorgekommen sei, nur 606
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Ethica eignet mit dem Tractatus de intellectus emendatione eine inhaltliche, mehr noch: eine methodologische Prämisse, deren Reichweite sich bis in die Kernthematik des Tractatus theologico-politicus erstreckt: nämlich die Explikation eines philosophisch adäquaten Gottesbegriffs (der Offenbarungsgehalt der Religion freilich wird im Tractatus theologico-politicus einer hermeneutischen Kritik ausgesetzt, wie sich noch zeigen wird). Spinoza selbst sagt in der Ethica, daß die Vervollkommnung des Verstandes auf nichts anderes als das Verständnis Gottes sowie seiner Attribute und Taten, die aus der Notwendigkeit seiner Natur folgten, hinauslaufe.613
2. Kapitel: Isolation – Befreiung – Selbstbehauptung 2.1 Bet-Din und Cherem Erwartungsgemäß bleibt der intensive Austausch mit der Schule van den Endens für Spinoza nicht lange folgenlos: Der Ältestenrat der jüdischen Gemeinde lädt ihn vor das Bet Din, vor das Gottes-Gericht des Rabbinatskollegiums (dem Spinozas einstmaliger Lehrer, der orthodoxe Rabbiner Saul Levi Morteira [1596 – 1660] vorsteht), er möge Rechenschaft ablegen über seine längst weithin bekannt gewordenen, vermeintlich ›ketzerischen‹ Überzeugungen.614 Einige Indizien sprechen dafür, daß, wie Lucas kolportiert, Spinoza Morteiras Lieblingsschüler sei; andererseits hat Spinoza an dem regulären Unterricht Morteiras in der höchsten Klasse der Talmud Tora nicht teilgenommen.615 Es kann als eher unwahrscheinlich gelten, daß sich Spinoza ausschließlich durch äußerliche Einflüsse (van den Enden, Prado [über diesen später mehr]) vom Judentum entfernt habe, sondern im Gegenteil ebenfalls, wie sich zeigen wird, intrinsische, sprich innergemeindliche Gründe den Ausschlag gegeben haben werden. Sicherlich wird Spinoza insbesondere auch mit Morteira über das Christentum diskutiert haben. Freudenthal teilt mit: »In zahlreichen Werken, welche die Bibliothek der portugiesischen Gemeinde Amsterdams aufbewahrt, sucht er [Spinoza, H. G.] das Judentum gegen allerlei Angriffe seiner Gegner zu verteidigen, und er zeigt hierbei eine nicht häufige Kenntnis christlicher Theologie.«616 Gestützt wird diese Ansicht durch folgende Begebenheit: Albert Burgh, ein das Wort Natur. Lodewijk Meyer soll Spinoza geraten haben, das Wort ›Gott‹ beizubehalten, wenn auch als ›vorgetäuschten‹ Terminus.« – Siehe: Theun de Vries: S 155. 613 Siehe: Baruch de Spinoza: E IV, Appendix, §. 4. 614 Ob Spinoza sich – und wenn ja, in welcher Form (»geen ketter sonder letter« [siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 159]) – bis dato gotteslästerlich geäußert hat, ist heute nicht mehr zu ermitteln. 615 Siehe: LD Dok. 42 m. Erl. – Jedenfalls unterstellt Lucas Morteira Rachegelüste, da Spinoza sich von ihm ab- und van den Enden zuwende. – Siehe: Die Biographie Spinozas von JeanMaximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 29; 31. 616 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 25. – In Spinoza allerdings einen »Christianissimus« (Goethe) zu erblicken, geht zu weit.
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Sohn des (wahrscheinlich) mit Spinoza befreundeten Finanzministers Conrad Burgh van Kortenhoef (1619 – 1699), tritt 1673 während einer Reise durch Italien zum Katholizismus über und fordert von Florenz aus 1675, also zwei Jahre vor Spinozas Tod, diesen auf, es ihm gleichzutun: »Zaudern Sie nicht, Gott zu gehorchen, der Sie so oft durch andere gerufen hat und der Sie nun wiederum, vielleicht zum letzten Male, durch mich ruft […].«617 Vor der richterlichen Versammlung weist Spinoza die Forderung zurück, Gott anders als durch Vernunftrekurs und Pflege des daraus resultierenden Wahrheitswissens zu dienen. Daraus darf gefolgert werden, daß er eine Widerlegung seiner vorgeblich ›ketzerischen‹ Ansichten ausschließlich aus Gründen der Vernunft gebilligt hätte. Später wird er im Tractatus theologico-politicus zu zeigen suchen, daß die Überzeugung, der Verstand sei von Natur aus verderbt und benötige aus diesem Grunde die Offenbarung, das größte aller Hindernisse, die Wahrheit zu erkennen, darstelle. Jedenfalls nötigt der Ausgang des Verhörs die Rabbiner schon jetzt dazu, den vermeintlich abtrünnigen 24-Jährigen mit dem Mittleren Bannstrahl (Cherem oder Herem), der am 27. Juli 1656 (am 6. Ab des Jahres 5416 jüdischer Zählung) in der Großen Synagoge zu Amsterdam vor versammelter Gemeinde ›feierlich‹ ausgerufen wird, zu belegen – bezeichnender Weise in Spinozas Abwesenheit.618 Das Ausmaß der Folgen, denen Spinoza mit dem Ausspruch dieses Fluches fortan ausgesetzt ist, dokumentiert der genaue Wortlaut: »Nach dem Beschlusse der Engel und dem Ausspruche der Heiligen, mit Zustimmung des heiligen Gottes und dieser ganzen Gemeinde bannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir Baruch de Espinoza vor diesen heiligen Büchern und den sechshundert und dreizehn Geboten, die ihn ihnen enthalten sind, mit dem Banne, den Josua über Jericho verhängt, mit dem Fluche, den Elisa über die Knaben ausgesprochen hat, und mit allen den Verwünschungen, die im Gesetze geschrieben sind. Verflucht sei er am Tage und verflucht sei er bei Nacht, verflucht beim Niederlegen und verflucht beim Aufstehen, verflucht bei seinem Ausgang, und verflucht bei seinem Eingang. Gott möge ihm nie verzeihen! Sein Zorn und sein Eifer wird gegen diesen Menschen entbrennen und über ihn alle die Flüche und Verwünschungen bringen, die im Buche des Gesetzes verzeichnet sind. Gott wird seinen Namen unter dem Himmel vernichten und wird ihn zum Bösen ausscheiden von allen Stämmen Israels mit all den Flüchen des Himmels, die im Buche des Gesetzes verzeichnet sind. Ihr aber, die Ihr dem Herrn, Eurem Gotte anhanget, Ihr lebet heute allzumal. Wir verordnen, daß niemand mit ihm verkehre, nicht mündlich und nicht schriftlich, niemand ihm eine Gunst erweise, niemand unter einem Dache oder innerhalb vier Siehe: Baruch de Spinoza: B 67. Von Albert Burgh. Florenz, am 11. September 1675. »Das Judentum kennt drei Stufen der Disziplinierung von Abweichlern: Nuddui heißt die erste Form der warnenden Ausstoßung; es folgt, als schwerere Form, der Herem, der aber bei Einlenken und Wiedergutmachung des Ausgestoßenen aufgehoben werden kann; schließlich die endgültige Verstoßung, teilweise Shamta genannt. Spinoza wird mit der mittleren Form, dem Herem, belegt, d. h. der Bruch wird von Seiten der Gemeinde nicht als endgültig angesehen.« – Siehe: LD Dok. 53, Erl., 231 f. 617
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Ellen mit ihm zusammen sei, niemand ein von ihm verfaßtes oder geschriebenes Werk lese.«619 Vermutlich erlangt der Bannfluch für Spinoza zu dieser Zeit aber nur die Bedeutung einer äußerlichen ›kultischen‹ Darstellung dessen, was sich in seinem Inneren längst vollzogen hat.620 In Rechnung gestellt werden muß freilich, daß neben Juden auch Calvinisten und Lutheraner, Katholiken sowie Mennoniten den Bann über Abtrünnige verhängen zum Schutze der Einheit und Reinheit ihres Bekenntnisses. Dieser Aspekt erlangt besonderes Gewicht vor dem Hintergrund, daß Spinozas vermeintliche Irrlehren mit wesentlichen Glaubensüberzeugungen der christlichen Religion gleichermaßen kollidieren. In Reaktion auf den Bann verfaßt Spinoza die umfangreiche, sicherlich unter rechtfertigender Berufung auf Moses Maimonides, Abraham ben Meir ibn Esra (auch Aben Esra, Avenesra oder Ebenesra [1092 – 1167]), Levi ben Gershon (auch Levi ben Gerson, latinisiert Leo Hebraeus, Leo de Balneolis oder Gersonides [1288 – 1344]) und Chasdaï Kreskas konzipierte Apologia para justificarse de su abdicacion de la synagoga (Apologie, um sich zu rechtfertigen für seine Lossagung von der Synagoge),621 »die er der jüdischen Gemeinde […] übergeben Siehe: Jacob Freudenthal: SL 73 f. – Colerus gibt Nachricht vom »Formular des allgemeinen jüdischen Bannes«. – Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 81 – 84. – Als Vorwarnung ereilt Spinoza zunächst der ›Kleine Bannfluch‹, durch den er für dreißig Tage aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wird. Aber auch diese Maßregel beeindruckt ihn nicht. – Siehe: Berthold Auerbach: Das Leben Spinoza’s. A.a.O. XXXVI–XLIV; Kuno Fischer: Spinozas Leben, Werke und Lehre. A.a.O. 108 f. u. 125 – 132; Jacob Freudenthal: SL 72; K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 178 – 187; Jakob Stern: Die Philosophie Spinozas. Erstmals gründlich aufgehellt und populär dargestellt. Vierte Auflage. Stuttgart 1921. 11; Bernhard Alexander: Spinoza. A.a.O. 11 – 14; PierreFrançois Moreau: Spinoza. Versuch über die Anstößigkeit seines Denkens. Aus dem Französischen von Rolf Löper. Herausgegeben und mit einem Beitrag von Friedrich Balke: Die größte Lehre in Häresie. Über die Gegenwärtigkeit der Philosophie Spinozas. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a. M., Juli 1994. Titel der Originalausgabe: ›Spinoza‹. Paris 1975. 20 f.; Eli Rottner: Studie zu Spinozas »Traktat über die Verbesserung des Verstandes und über den Weg, auf dem er am besten zur wahren Erkenntnis der Dinge geleitet wird.« – In: ders.: Spinoza in Israel. Eine kritische Betrachtung. Mit 23 Abbildungen und Faksimiles. Nieuwkoop (Holland) 1979. 24 – 33; Helmut Seidel: Spinoza zur Einführung. Hamburg 1994. 18; Wolfgang Bartuschat: Baruch de Spinoza. A.a.O. 15; 18; Theun de Vries: S 38. 620 Hier kann Lucas’ authentischem Bericht vertraut werden, der Spinoza in den Mund legt: »[…] recht so, man zwingt mich zu nichts, was ich nicht von selbst getan hätte, wenn ich den Skandal nicht gescheut hätte.« – Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 28. 621 Inwiefern fördern Spinozas Sprachkenntnisse seine Emanzipationsbestrebungen? Neben der ihm von Jugend an vertrauten Unterrichtssprache Spanisch (dessen Kenntnis er mit Pieter Balling teilt), dem Portugiesischen und dem später erlernten Hebräisch eignet er sich mit dem Lateinischen die Sprache der Gelehrten an; »außerdem Italienisch und ein wenig Französisch, möglicherweise Deutsch. Englisch konnte Spinoza nicht; das ergibt sich aus dem späteren Briefwechsel mit Heinrich Oldenburg aus London. Was Holländisch betrifft: von Kindesbeinen an war es die Verständigungssprache im Umgang mit der nichtjüdischen Welt.« – Siehe: Theun de Vries: S 33. – Allerdings gibt Spinoza noch 1670 an, zu wenig Griechisch zu verstehen, um das Neue Testament beurteilen zu können. Auf Platon bezieht sich Spinoza kaum, auf Aristoteles sel619
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habe«,622 jedoch nicht erhalten ist.623 Über den Verbleib des Manuskripts der Apologie findet sich in der Reisebeschreibung (1704) des Thomasius-Schülers Gottlieb Stolle (1673 – 1744) und dessen Begleiters Hallmann624 folgende Notiz: »Was man [nach Spinozas Tod, H. G.] gefunden, das habe man auch alles zum Druck befördert, außer ein grosses Werk, so Spinosa wider die Juden geschrieben, und dieselben sehr hart tractiret. Spinosa habe es schon vor dem Tractatu Theologico-Politico fertig gehabt und doch unedirt liegen lassen, woraus sie denn auch geschlossen, daß er es nicht publicirt haben wollen. Er (Rieuwerts) habe das Msst. gehabt, aber an jemanden weggelassen.«625 Daneben macht nur noch Bayle Nachricht über die Existenz dieser offenbar umfangreichen Rechtfertigungsschrift.626 Es liegt nahe, davon auszugehen, daß bibel- und religionskritische Argumente, die Spinoza bereits in besagter umfänglicher Apologie entwickelt, Eingang finden in seinen Theologisch-politischen Traktat.627 Dieser Umstand erscheint denn auch eher von Belang als die Beantwortung der Frage nach dem Verbleib des als verloren angezeigten Manuskripts. Festzuhalten ist aber außerdem, daß auch eine äußerliche Zwangslage: Spinozas Exkommunikation, einen Anlaß bietet für dessen damalige Konzeption der zentralen Argumente der Apologie, die insofern als Keimzelle für seinen späteren Tractatus theologico-politicus anzusehen ist. Aus Spinozas Exkommunikation resultiert also die Abfassung des Tractatus theologico-politicus. Dies bestätigt auch Salomon van Til (1643 – 1713), der mitteilt, Spinoza habe »auf Freunten. Das Verzeichnis seiner hinterlassenen Bibliothek enthält Werke in hebräischer, chaldäischer, syrischer, griechischer, lateinischer, spanischer, italienischer, französischer und holländischer Sprache. Sie gehören den unterschiedlichsten Wissenschaften an: der Theologie, Philosophie, Mystik, Philologie, Mathematik, Physik, Mechanik (eine wie gesehen [II. Teil, Kapitel 3.5] damals noch autonome Wissenschaft), Astronomie, Medizin, Geschichte und Staatswissenschaft. 622 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 93. 623 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 79; des Gleichen: Theun de Vries: S 41. – Lucas macht in seinem Schriftenverzeichnis der Werke Spinozas Mitteilung von dieser Schrift. – Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 47. 624 Zur unsicheren Identifizierung Hallmanns siehe: LD Vorbemerkung zu Teil I. 3 – 10; hier 8 f. 625 Siehe: Der Bericht der Stolle-Hallmannschen Reisebeschreibung 1704. – In: LD 125 – 148; hier 130. 626 Siehe: Pierre Bayle: Spinoza. – In: Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch […]. A.a.O. 260. – Siehe auch: Bibliotheca Judaica. Bibliographisches Handbuch umfassend die Druckwerke der jüdischen Literatur einschließlich der über Juden und Judenthum veröffentlichten Schriften. Nach alphabetischer Ordnung der Verfasser bearbeitet. Mit einer Geschichte der jüdischen Bibliographie sowie mit Indices versehen und herausgegeben von Dr. Julius Fürst, Lehrer an der Universität zu Leipzig. Dritter und letzter Theil. Leipzig 1863. 360. – Zu Hegels Mitwirkung bei der Edition der überlieferten handschriftlichen Notizen in Spinozas Tractatus theologico-politicus siehe: Hegel: GW 5, 720 ff. 627 Siehe: Leo Strauss: Anleitung zum Studium von Spinozas theologisch-politischem Traktat. (1948) – In: Norbert Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus. Darmstadt 1971. 300 – 361; hier 323.
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desrat diese Schrift zurückgehalten und es unternommen, diese Dinge etwas geläufiger und kürzer [sic] in ein anderes Werk einzufügen, das er unter dem Titel Tractatus Theologico-politicus im Jahre 1670 veröffentlichte.«628 Heute gilt als sicher, daß bereits um 1660 Spinozas bibel- und religionskritische Haltung auch in Rijnsburg bekannt ist. Gemessen an der Strafe, die der Ketzerei Überführte in damaliger Zeit für gewöhnlich ereilt: Folter, bis der Tod eintritt oder Scheiterhaufen, ist das Urteil, Spinoza mit dem Bann zu belegen, sicherlich als milde zu bezeichnen; ob es allerdings unumgänglich ist, steht auf einem anderen Blatt. Freudenthal konstatiert zu Recht, daß Spinoza hier auf starrgläubige Traditionalisten gestoßen sei,629 wenn ihm beispielsweise die ›Schmach‹, Zeremonialgesetze übertreten zu haben, zum Vorwurf gemacht werde.630 Im Tractatus theologico-politicus reagiert Spinoza auf die Forderung nach einer Verbindlichkeit kultischer Praktiken, und seine Antwort läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »das natürliche göttliche Gesetz [d.h. die in Gestalt seiner Ethica explizierte philosophische Erkenntnis Gottes oder der Natur als Immanenz der causa sui, H. G.] fordert keine Zeremonien, d. h. Handlungen, die an sich indifferent sind und nur auf Grund einer bestimmten Satzung gut heißen oder die ein zum Heil notwendiges Gut versinnbildlichen oder, wenn man lieber will, Handlungen, deren Sinn die menschliche Fassungskraft übersteigt. Denn das natürliche Licht fordert nichts, was außerhalb seines Bereiches läge, sondern nur das, was es mit völliger Klarheit als ein Gut oder als ein Mittel zu unserer Glückseligkeit erweisen kann.«631 Was jedoch in jener Zeit von Mitgliedern und Vorstehern der jüdischen Gemeinde insbesondere eingefordert wird, ist ein den Religionsgesetzen gemäßer Lebenswandel. De Vries wiederum wirbt für Verständnis für den Ausschluß Spinozas: »Spinoza wäre mit seinem dynamischen Verlangen nach den klarem und rationalem Denken entspringenden Antworten, die außerhalb seines sephardischen Kreises gegeben wurden und die ihn zu ganz anders gearteten Geistesverwandten hinSiehe: LD Dok. 54. – Später gehört Salomon van Til einer gemeinsamen Untersuchungskommission der Universität und der Stadtverwaltung Leidens an, die 1678 eine Verurteilung der Schriften Spinozas vorzubereiten bzw. zu prüfen hat. – Siehe: Die Lebensgeschichte Spinoza’s in Quellenschriften, Urkunden und nichtamtlichen Nachrichten, mit Unterstützung der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von J. Freudenthal. A.a.O. Dok. 84. – Die intensive Spinoza-Forschung der 1920er Jahre, v. a. die historischen und editorischen Arbeiten Carl Gebhardts (1881 – 1934) und des Kreises um das Chronicon Spinozanum (Den Haag 1921 – 1927), zu dem auch einzelne deutsche liberale Theologen gehören, wäre ohne die Untersuchungen und Quelleneditionen Freudenthals nicht denkbar gewesen. Die für unsere Studien zentrale biographisch-dokumentarische Quellensammlung zu Spinoza (vgl: Baruch de Spinoza: Lebensbeschreibungen und Dokumente. Vermehrte Neuausgabe. Mit Erläuterungen herausgegeben von Manfred Walther. Hamburg 1998) geht in Material und Anlage auf Freudenthals erstgenannte Sammlung (1899) dieser Art zurück. 629 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 77. 630 So auch schon in: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 30. – Siehe auch: Ibid. Dok. 40, 55 und 56. 631 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 48. 628
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zogen, innerhalb des Amsterdamer Judentums ein zerstörendes Element gewesen. Dieses Judentum – wir dürfen das nicht vergessen – wurde von einer Flüchtlingsschar getragen, die eine tolerante Regierung ins Land hineingelassen hatte; die Gemeinde war jedoch keineswegs kugelfest gegenüber Angriffen von streng calvinistischer Seite.«632 Hier ist insbesondere zu denken an den nie ablassenden Leiter der staatsreformierten Theologen, den Utrechter Führer der calvinistischen Orthodoxie Gisbertus Voetius (1598 – 1676), der eine strenge Schicksals- und Lebenslehre predigt. Der Calvinismus bewahrt dem Christentum einige mittelalterlichen Züge, so z. B. die Maßgeblichkeit des Alten Testaments für die Ordnung des Gemeinwesens. Erst nach der »Großen Versammlung« (1651) erlangt die reformierte calvinistische Kirche (Hervormde Kerk) den Status einer Staatskirche. Spinoza ist in dieser Zeit jedoch bei Leibe nicht der einzige, den der Bannfluch der jüdischen Orthodoxie trifft: Der bereits genannte andalusische Physiker Dr. Juan (Daniel) de Prado (ca. 1612–nach 1664) sowie der Marrane Uriël da Costa (1585 – 1640) gehören ebenfalls zu den Verstoßenen. Verschiedentlich wird gemutmaßt, Prado habe Spinoza auf ketzerische Abwege geführt.633 Prado kommt 1654 nach Hamburg und nimmt in der dortigen jüdischen Gemeinde den Namen Daniel an. In Amsterdam trifft er etwa Mitte 1655 ein und wird Mitglied der Gemeinde Talmud Tora. Seit dieser Zeit tauscht sich Spinoza mit ihm aus. Über Prado wird am 4. Februar 1658, sprich ein halbes Jahr nach Spinoza, der Bann verhängt; er gelobt Besserung, und ihm wird Vergebung zuteil, weil er mit den Seinen in eine der jüdischen Niederlassungen in Westindien emigriert. Von da an verliert sich seine Spur.634 Uriël da Costa wird unter dem Namen Gabriel da Costa vermutlich 1585 in Porto geboren. Vermutlich spätestens 1497 sieht sich seine Familie gezwungen, vom Judentum zum Katholizismus zu konvertieren. Der junge katholisch sozialisierte Gabriel studiert an der Universität Coimbra zwischen 1604 und 1608 Kanonisches Recht und bekleidet im Anschluß die Funktion eines Schatzmeisters in einer Kirche seiner Heimatstadt. Der Druck der Inquisition auf Conversos und Marranen zwingt ihn samt Mutter und Geschwistern zwischen 1612 und 1615 zur Flucht nach Amsterdam. Dort kehrt seine Familie zum sephardischen Judentum zurück, und Gabriel nimmt den Namen Uriël da Costa an. In der Folgezeit entwickelt er eine rationalistische Kritik am rabbinischen Judentum, die seinen Schriften Propostas contra a tradicao (1616) und Exame Das tradicoe˜s Phariseas conferidas com á lei escrita (5384 jüdischer Zeitrechnung [so auf dem Titelblatt verzeichnet], 1624) zu entnehmen ist. Letztere bietet eine Polemik gegen den Arzt Siehe: Theun de Vries: S 41 f. Siehe z. B.: LD Dok. 49. 634 Zu Prado siehe vorzugsweise: Yirmiyahu Yovel: Spinoza and other Heretics. Vol. I. A.a.O. 57 – 83. – Über die näheren Umstände des Banns über Prado informiert: LD Dok. 48, Erl.; siehe ebenso Dok. 55. – Gebhardt u. a. sprechen von einer »Prado-Spinoza-Affaire«. – Siehe: Carl Gebhardt: Juan de Prado. – In: Chronicon Spinozanum. Tomus tertius. Hagae Comitis (Den Haag). Curis Societatis Spinozanae. MCMXXIII. 269 – 291. 632
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und Philosophen Semuel da Silva (1570 – 1631). Da Costa wendet sich gegen die Vorstellung von einer unsterblichen Seele (siehe auch da Silvas Werk: Tratado Da Immortalidade [5383 jüdischer Zeitrechnung (so auf dem Titelblatt verzeichnet), 1623]) und bezeichnet sowohl die jüdische als auch die christliche Religion als Menschenwerk ohne Anspruch auf ewige Wahrheit.635 Spinoza selbst bestreitet bereits vor seiner Exkommunikation die Lehren von der Unsterblichkeit der Seele,636 eine Ansicht, die sich in der Ethica verdichtet, nämlich in Form einer Konzeption der Unvergänglichkeit des endlichen Geistes.637 Wie Spinoza638 richtet sich Da Costa zudem gegen die Vorstellung von einem auserwählten Volk und hält an der Utopie eines konfessionslosen Judentums fest; im Unterschied zu Spinoza läßt er jedoch den offenbarungstheologischen Status des Judentums unangetastet. Andererseits setzt sich Da Costa wie Spinoza für eine Aufweichung der starren Regeln und Vorschriften des jüdischen Zeremonialgesetzes ein. Zwischenzeitlich hält er sich in Hamburg, wo er erstmals 1618 von der dortigen Gemeinde gemaßregelt wird, und in Utrecht auf. Da Costa erleidet mehrere Ausschlüsse aus der sephardischen Gemeinde Amsterdams, wird jedoch – in Folge vorgeschützter Widerrufungen – stets erneut aufgenommen. Freudenthal berichtet aus da Costas letztem Lebensjahr 1640: »Zum zweiten Male in den Bann getan, unterwarf er sich nach sieben Jahren einer grausamen über ihn verhängten Buße, deren Augenzeuge der damals achtjährige Spinoza gewesen ist. Der unglückliche Mann hatte zuerst ein feierliches Sündenbekenntnis abzulegen und Besserung zu geloben. Dann empfing er neununddreißig Geißelhiebe, und schließlich mußte er, auf der Schwelle der Synagoge ausgestreckt, die Anwesenden über sich hinwegschreiten lassen. Da Costa überlebte die ihm angetane Schmach nicht lange. Nachdem er in einer uns noch erhaltenen Beschreibung seines Lebens furchtbare Anklagen gegen seine Feinde erhoben hatte, machte er mit einem Pistolenschuß seinem unseligen Dasein ein Ende.«639 Siehe hierzu: Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas theologisch-politischem Traktat. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Norbert Altwicker. Darmstadt 1981. 24 – 27. (Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin: Akademie-Verlag 1930. Veröffentlichung der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Philosophische Sektion. 2. Band) 636 Siehe: Baruch de Spinoza: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück. Auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Wolfgang Bartuschat. – In: ders.: Sämtliche Werke. Band 1. 5., grundlegend revidierte Neuausgabe Hamburg 1991. 23. Kapitel, [2]. 637 Siehe: Robert Schnepf: Wer oder was ist unsterblich (wenn überhaupt)? Spinozas Theorie des ewigen Teils des endlichen Geistes. – In: Archiv für Geschichte der Philosophie. Berlin. 88 (2006), 189 – 215. 638 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III. 639 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 58 f. – Neben besagter, erst zehn Jahre nach Spinozas Tod publizierter Autobiographie Exemplar Humanae Vitae, die da Costa unmittelbar vor seinem Freitod abfaßt, hinterläßt er eine Vielzahl philosophischer, ja für ketzerisch befundene Schriften. Reaktionen auf den Skandal und die Tragödie vor der Synagoge müssen unter den Amsterdamer Talmud-Schülern nachhaltig nachgewirkt haben. Ob aber Spinoza tatsächlich Augenzeuge der Be635
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Ein Anklagepunkt gegen Spinozas Lehre lautet, sein eigenes Volk als Ansammlung abergläubischer Toren verstanden und so blamiert zu haben (und im Tractatus theologico-politicus heißt es später denn auch: »Was den Verstand angeht, so ist sicher […], daß sie [die Hebräer, H. G.] von Gott und Natur nur sehr gewöhnliche Vorstellungen hatten […].«640). Dieses Vergehen gilt seinen Stammesgenossen als Sünde wider sein eigen Fleisch und Blut. Wenn Spinoza demnach die Heiligkeit der Bibel (und damit die Glorie Gottes) an die Vernunft verrate, dann lautet der weitergehende Vorwurf – und Spinoza wird konsequent bleiben: Mit der späteren Vollendung seiner Ethica (»sub specie aeternitatis«), so seine unerschütterliche Überzeugung, sei die Heilige Schrift überflüssig geworden641 –, er könne nur Atheist sein: Nach einmal erfolgter Exkommunikation – nimmt man nicht das Bußsakrament auf sich (vgl. da Costa) – ist es keinem Juden jemals wieder möglich, seine religiöse Vergangenheit durch ein alternatives Bekenntnis zu tilgen. Die Verhängung des Banns selbst also führt zum später vielfach kolportierten Atheismusvorwurf gegen Spinoza, dessen wahre Ursache jedoch nicht exklusiv in der innergemeindlichen Ausgrenzung Spinozas zu sehen wäre – strikte Personalisierung bedeutete hier eine Verharmlosung i.S. historischer Zufälligkeit –, sondern erst – und insbesondere! – die Eröffnung neuer ›Denkräume‹ beschwört die Konflikte herauf. Ein weiterer, gemäß der Quellenlage sicherlich nicht unerheblicher Aspekt betrifft Spinozas Finanznöte um das Jahr 1656. Möglicherweise wird der Bann über Spinoza verhängt, weil dieser – statt seine ökonomische Schieflage, die aus der übernommenen Firma seines Vaters herrührt, innerhalb der Gemeinde zu regeln – sich an die ›weltliche‹ Justiz, sprich einen Kurator (Louis Craeijer),642 wendet: »Ist die Tatsache, daß noch im November 1656, also mehr als zwei Monate nach Verhängung des Herem, die Nicht-Bezahlung einer Promessa [Extraschenkung, H. G.] durch Spinoza in den Finanzbüchern der Gemeinde vermerkt wird (Dok. 43), dadurch bestimmt, oder geht es nur um ordnungsgemäße Bereinigung der Bilanz?«643 Wiep van de Bunge vermutet zudem, Spinozas Berufung auf die holländische Jugebenheit gewesen ist, wie Freudenthal behauptet, ist nicht gesichert. – Siehe: Uriel da Costa. Exemplar humanae vitae – Beispiel eines menschlichen Lebens. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Hans-Wolfgang Krautz. Tübingen 2001. (Ad Fontes. Quellen europäischer Literatur. Herausgegeben von Michael von Albrecht [Heidelberg]. Band 7) – Zu da Costa siehe auch: Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. A.a.O. 20 – 32. 640 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 34. 641 Spinozas Studium der Naturwissenschaften, besonders der Kopernikanischen Lehre samt ihrer Konsequenz: der Unendlichkeit von Welt in Raum und Zeit, bringt ihm die Notwendigkeit zu Bewußtsein, die anthropozentrische Weltanschauung, die auch der Bibel zu Grunde liegt, aufzugeben. Das schließt allerdings nicht aus, daß Spinoza für die Erziehung des Volkes die Heilige Schrift nach wie vor als verbindlich erachtet, und mehr noch: es ihn geradezu erstaunt, wie beispielsweise die Grundannahmen der Kosmologie eines Galilei tatsächlich auf die prophetischen Bücher der Heiligen Schrift bezogen werden können. – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP II, 22. 642 Siehe: LD Dok. 51 – 52. 643 Siehe: LD Dok. 53, Erl., 232.
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risdiktion könne »ihm als Minderjährigen von der Haftung für die Konkursschäden befreit haben.«644 Judaisierende Marranen erklären, der für sie zentrale Begriff der Erlösung sei im mosaischen Gesetz, nicht aber im Christentum zu finden. Als Marrane höheren Grades, d. h. als Marrane der Vernunft und keiner Offenbarungsreligion – behauptet Spinoza doch die Positivität jedweder überlieferten Religion – ist er sich dagegen sicher, den allein wahren und seligmachenden Weg der Erlösung zu wissen: Dieser Weg führe über die geistige Liebe Gottes (»amor dei intellectualis«645) und damit zu einem Wissen von der Universalität der Naturgesetzlichkeit. Der Mensch findet Seligkeit in der Erkenntnis des Unendlichen. Das aber heißt nicht weniger, daß Spinoza den Menschen als Meister seiner eigenen, rein vernünftig einlösbaren ›Erlösung‹ begreift. Im Unterschied zu nicht wenigen Philosophen nach ihm gibt Spinoza die letzten spirituellen Ziele der mystischen Tradition niemals auf – ein Motiv, das dem homo carnalis verschlossen bleiben muß.646 Doch ist Spinoza im Gegensatz zum Mystizismus der Überzeugung, alleiniges Vernunftvertrauen als stärkste geistige Kraft (der »scientia intuitiva«, des anschauenden Wissens) führe zum Ziel.647 Günter Gawlick sagt es so: »In der Kritik der positiven Religion lag daher die Antriebskraft seiner ganzen Arbeit des Begriffs in Metaphysik und Ethik. Denn da er jeder Offenbarung, der christlichen nicht weniger als der jüdischen, den Charakter einer übernatürlichen Erkenntnisquelle absprach, sie vielmehr als Funktion des lebhaften Vorstellungsvermögens der Propheten deutete, die keine Wahrheit vermitteln, sondern Gehorsam bewirken sollte, deshalb und nur deshalb sah er sich genötigt, dem denkenden Menschen eine neue Heimat im Reich der metaphysischen Erkenntnis zu geben, damit er sich diejenige Seligkeit selber schaffen konnte, die die Offenbarungsreligion den übrigen versprach.«648 Die breitere Erörterung der Religionskritik Spinozas sei aber noch ein wenig aufgeschoben. Ungeachtet dessen kann aber schon jetzt festgehalten werden, daß Spinozas Philosophie eines durch Vernunft zugänglichen und universell verpflichtenden natürlichen Gesetzes kaum vereinbar ist mit der Lehre, das göttliche Gesetz bestehe vornehmlich in der – positiven – mosaischen Gesetzgebung (Tora) und sei in seiner 644 Siehe: Wiep van de Bunge: Spinozas philosophische Hintergründe. – In: Cis van Heertum/ Frank Grunert (Hgg.): Spinoza im Kontext. A.a.O. 17. – Nach damaligem Recht ist die Volljährigkeit erst mit 25 Jahren erlangt. 645 Siehe: Baruch de Spinoza: E V, Prop. XXXIII; V, Prop. XLII., Dem. – Diese Liebe zu Gott impliziert für Spinoza kein Verlangen, daß Gott diese Liebe erwidere. Die Liebe zu Gott ist selbstlos, sie ist Ausdruck göttlicher Selbstliebe. – Siehe: Ibid. V, Prop. XIX. – Nach eigener Aussage beschäftigt Goethe dieser Gedanke über Gebühr. – Siehe: Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. – In: ders.: Sämtliche Werke. Band 10. Zürich 1950. III, 14. 684. 646 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 47 f. 647 Insbesondere hierzu siehe auch das nachfolgende Kapitel 2.4. 648 Siehe: Günter Gawlick: Baruch de Spinoza. 1632 – 1677. Vortrag anläßlich der Eröffnung der Gedenkausstellung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel am 21. Februar 1977. Bremen/Wolfenbüttel 1977. 19. (Wolfenbütteler Hefte. 4)
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gesamten Fülle allein Israel bekannt. Nichtsdestoweniger – daran wird der Tractatus theologico-politicus keinen Zweifel lassen – seien Nützlichkeit und Notwendigkeit der Heiligen Schrift unbestritten: »Da alle Menschen unbedingt gehorchen können und es, verglichen mit der ganzen Menschheit, nur sehr wenige gibt, die durch die bloße Leitung der Vernunft eine tugendhafte Lebensführung erreichen, so müßten wir an dem Heil fast aller Menschen zweifeln, wenn wir das Zeugnis der Schrift nicht hätten.«649 Doch der Tractatus theologico-politicus gibt vor, die Bibel im Lichte des Verstandes zu erkennen – eine schwere Sünde. Seinen Gemeindevorstehern entgegnet Spinoza, Gott spreche zu den Menschen stündlich klarer durch die natürliche Vernunft; die Heiligen Schriften dagegen seien unverständlich – wie also könnten sie je zum Heil führen? Wenn Spinoza den Glauben mit der Vernunft versöhnt sehen möchte, dann möchte er auch das Gesetz durch die Vernunft erreichbar wissen. Die Rabbiner dagegen begreifen die Vernunft als Götzen: Wo gewußt werde, könne nicht mehr geglaubt werden. Wie Spinoza sich also widersetzt, gegen seine Überzeugung ein mit den Gesetzen des Judentums konformes Leben zu führen, so empfängt er so bewußt wie gleichmütig seine Exkommunikation – ein nach Yovel marranischer Zug, d. h. ein durch einen Bruch gekennzeichneter Lebensweg – und zeigt sich auch auf die Gefahr möglicher Konsequenzen hin nicht opportun,650 obgleich ihm klar gewesen sein muß, daß die Vorsteher der Amsterdamer Gemeinde die etwaige Fortsetzung seines schriftstellerischen Wirkens als direkten Affront gegen das Judentum im Allgemeinen und die hiesige Gemeinde im Besonderen auffassen müssen, gebe doch eine jede neue Publikation den Feinden Israels neue Argumente an die Hand. Möglicherweise – so die beunruhigende Ahnung der Rabbiner – ist Spinoza nicht der einzige vom Judentum Abgefallene (»Mummar Leakkum«), und so sieht sich die Amsterdamer Talmud-Schule gezwungen, ein Exempel zu statuieren. 2.2 De iteratione legis Die Verhängung des Banns konfrontiert Spinoza mit der unausweichlichen Realität des mosaischen Gesetzes, dessen Geschichte und theoretisch-praktischen Begriff er wenig später im Tractatus theologico-politicus einer eingehenden Prüfung unterzieSiehe: Baruch de Spinoza: TTP XV, 174. – Das Konzept ›Menschheit‹ ist eigentlich jünger; es lohnte sich, diesen Begriff bei Spinoza besser zu verstehen lernen. 650 Auch Bayle stellt Spinoza ein moralisch integres Zeugnis aus: »[…] denn er liebte den Gewissenszwang nicht, und war ein großer Feind der Verstellung.« – Siehe: Pierre Bayle: Spinoza. – In: Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch […]. A.a.O. 260. – Daß Spinoza eine Jahresrente von 650 Gulden angeboten wird unter der Bedingung, er bezeuge – zumindest äußerlich – die Treue zur ansässigen Synagoge und unterlasse zukünftig die Publikation weiterer gotteslästerlicher Schriften, wird mancherorts ins Reich der Fabel verwiesen. – Siehe z. B.: Theun de Vries: S 36. 649
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hen wird. Strukturell indes erlebt die Rechtsperson Spinoza mit besagtem Richterspruch die ›Parusie‹ einer eigentlich überwunden geglaubten juridischen Vollzugsgewalt: Gemeint ist die portugiesisch-spanische Inquisition, die vormals Spinozas Vorfahren zunächst drangsaliert und sodann aus ihrer iberischen Heimat vertrieben haben. Über drei Generationen sind Spinozas Ahnen gezwungen, ihr Leben als Scheinchristen einzurichten. In der Folgezeit emigrieren viele der spanisch-portugiesischen Juden in die Niederlande; Spinozas Eltern lassen sich mit dem 6-jährigen Sohn dort nieder. Spinozas Verweigerungshaltung: seine schon früh erlangte Einsicht, allein die Philosophie, also das Vernunftvertrauen,651 ebene den Weg zu der Erkenntnis der Wahrheit,652 geht – erzwungen durch die Konfrontation mit der weltlichen Macht von Gottesmännern – das zusätzliche Risiko ein, sich diesen reanimierten Repressalien erneut auszusetzen. Spinoza entscheidet sich nun also bewußt dagegen, bis an das Ende seiner Tage eine jüdische Scheinexistenz zu führen. Endgültig dann mit dem Tractatus theologico-politicus stehen für Spinoza die politisch abgesicherte Möglichkeit, für wahr gehaltene Ansichten ungehindert öffentlich vertreten zu können, und die ungezwungene religiöse Praxis auf einer Stufe.653 Auch der Marrane da Costa erleidet, wie gesehen, von altchristlicher Seite Diskriminierungen. Zudem gerät er in das Fadenkreuz der katholischen Inquisition, und die als frisch Getaufter zusammen mit seiner Familie angetretene Flucht nach Amsterdam geschieht einzig in dem Vorhaben, sich in ›Neu-Jerusalem‹ zum jüdischen Väterglauben zu bekennen. Doch dort gerät der Sadduzäer da Costa mit den Rabbinern der Gemeinde, die er Pharisäer schilt, in einen offenen Richtungsstreit über die Tora-Exegese. Sein Bekenntnis zur endgültigen Sterblichkeit des Menschen und zur Lehre der Heilsgeltung der fünf Grundgebote der Mitmenschlichkeit im Namen Noahs ohne die Zusätze Moses’ tun ihr Übriges, um den Cherem des Rabbinats heraufzubeschwören. »Doch anders als Uriel da Costa ist Spinoza an der Trennung von seiner Umgebung nicht zerbrochen, sondern seinen Weg unbeirrt zu Ende gegangen.«654 2.2.1 Jüdischer Messianismus Möglicherweise fürchten einige Juden aus Spinozas Bekanntschaft dessen Lehre, von der sie mehrheitlich nichts Genaues wissen können, da ihnen Spinozas Schriften nicht vorliegen, auch deshalb, weil sie sie als Hindernis für die Ankunft des (wie Sendschreiben aus Gaza berichten) Heilands Sabbatai Zwi655 begreifen.656 Siehe z. B.: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 177. »Philosophiæ enim scopus nihil est præter veritatem […].« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 165. 653 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 230. 654 Siehe: Günter Gawlick: Baruch de Spinoza. 1632 – 1677. A.a.O. 9. 655 Die Schreibweise variiert stark: S[a]ebbat[h]ai Z[’][e][v][w]i. – Zum Phänomen insgesamt siehe: Ernest Goldberger: Die Seele Israels. Ein Volk zwischen Traum, Wirklichkeit und Hoffnung. 651
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Sabbatai Zwi, ein nach Quellenlage charismatischer Talmud-Gelehrter, 1626 im türkischen Smyrna (dem heutigen ˙Izmir) geboren, gibt sich als Gesalbter aus und baut in den jüdischen Zentren Konstantinopel, Saloniki, Kairo und Jerusalem Gemeinden von Gläubigen auf. 1665 kehrt er nach Smyrna zurück und verkündet die Erlösung für den 18. Juni 1666. Seine Botschaft dringt auch nach Europa. Vielerorts bereiten sich Juden sodann auf eine Rückkehr in das Gelobte Land vor. Noch im selben Jahr, 1666, inhaftieren ihn türkische Behörden (Anhänger nennen sein Gefängnis auf Gallipoli »Turm der Macht«), worauf er sein Überleben allein durch einen feierlichen Übertritt zum Islam sichern kann. Von nun an führt er den Namen Mehemed Effendi. Er stirbt 1676 in Albanien. Allerdings bedeuten weder sein erzwungener Abfall vom Judentum noch sein Tod das Ende der Bewegung (Sabbatianismus). Zwar zeigt sich die jüdische Gemeinde insgesamt uneinig darin, ob Sabbatai Zwi als neuer Erlöser anzuerkennen sei, ist in der Tora doch nirgends die Rede von einem Messias; doch gerade die Amsterdamer Sephardim werden in den Sog einer Auswanderung nach Smyrna zwecks anschließender Rückkehr in das gelobte Land gezogen. Inwieweit das heutige Christentum ohne den jüdischen Messias-Glauben kaum seine eigentümliche Geschichtsmächtigkeit hätte erlangen können, setzt doch der Glaube an Jesus von Nazareth als Erlöser die bestehende Hoffnung auf einen Messias voraus,657 soll hier keine näheren Erörterungen nach sich ziehen. Heinrich Oldenburg (um 1620 – 1677), Magister der Theologie, in ständigem diplomatischen Dienst seiner Vaterstadt Bremen seit 1653 in London u. a. als Sekretär der Royal Society of Sciences tätig und seither zunehmend an Philosophie und Naturwissenschaft interessiert, lernt Spinoza 1661 in Rijnsburg während der Rückreise nach England kennen. Es entwickelt sich in den folgenden Jahren eine der philosophisch bedeutsamsten Korrespondenzen Spinozas, in deren Zentrum der Tractatus theologico-politicus steht.658 Oldenburg, der auch mit Hobbes bekannt ist, Zürich 2004. 71 – 73. – Siehe zudem die bis heute maßgeblichen Studien von: Gershom Scholem: Sabtai Sebi (hebr.). Tel Aviv 1957. – ders.: Die jüdische Mystik. Zürich 1957. 315 – 355. – ders.: Sabbatai Sevi: The Mystical Messiah. 1626 – 1676. Übersetzt von Raphael Jehudah Zwi Werblowsky (mit Bibliographie). Princeton 1973. – ders.: Kabbalah. Jerusalem 1974. – Im 18. Jahrhundert gibt sich Jakob Frank (1726 – 1791) als Inkarnation des Sabbatai Zwi aus. – Siehe: Phillip Sigal: Judentum. Stuttgart 1986. 220. 656 Zum »Pendant im christlichen Millenarismus, dem Glauben an die nahe Endzeit«, siehe: Cis van Heertum/Frank Grunert (Hgg.): Spinoza im Kontext. A.a.O. Nr. 24; 94. 657 Über die fundamental differierenden Erlösungskonzepte, welche die Haltung zum Messianismus im Judentum und Christentum jeweils bedingen, informiert: Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. – In: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M. 1970. 121 – 167. – Siehe auch: David Biale: Kommt der Erlöser? Kommt die Erlösung? Zum Verhältnis von Messianismus und Orthodoxie. – In: Andreas Nachama/Julius H. Schoeps/Edward van Voolen: Jüdische Lebenswelten. Essays. Berlin 1991. 50 – 67. 658 In späteren Jahren steht Oldenburg – vormals vorurteilsfreier Naturforscher, dann streng kirchlich gesinnter Christ – insbesondere den im Tractatus theologico-politicus vertretenen Thesen über die sich angesichts philosophischer Einsichten einstellende Eintrübung religiöser Überzeug-
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spricht Spinoza in einem Brief (8. Dezember 1665) auf die Verheißung besagten ›neuen Messias‹ an. Spinozas Antwort ist nicht überliefert; es scheint jedoch evident, daß er – auch wenn er das vorgeblich entscheidende messianische Jahr 1648 als erst Sechzehnjähriger erlebt – diesem Phänomen schon damals keine ernsthafte Aufmerksamkeit geschenkt hätte659 (und erst recht nicht später, als ihn sephardische Rabbiner in den Bann tun). 2.2.2 Mordanschlag? Konsequenzen einer Hypothese Die für Spinoza sich weiter verschlechternden äußeren Umstände – vielleicht auch der Versuch eines religiösen Eiferers, ihn zu erdolchen (nach einem Theaterbesuch, wie Pierre Bayle mitteilt; nach einem abendlichen Besuch in der alten portugiesischen Synagoge, wie Colerus660 unter Berufung auf Spinozas Den Haager Hauswirt Hendri[c]k van der Sp[y]ij[c]k, eines Malers, und dessen Ehefrau berichtet661) – führen (ob, wie Lucas662 mitteilt, auf Betreiben der Rabbiner vom Magistrat er-
ungen strikt ablehnend gegenüber. Dementsprechend versiegt sein brieflicher Austausch mit Spinoza, bis sich Graf Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651 – 1708; zu diesem mehr in Kapitel 2.8 des vorliegenden 3. Abschnitts) 1675 bemüht, deren beider einstmaligen Austausch wiederzubeleben. Spinoza schickt Oldenburg auf Tschirnhaus’ Veranlassung ein Exemplar des Tractatus theologico-politicus, was dazu führt, daß Oldenburgs überdachtes (und vielleicht von Tschirnhaus beeinflußtes) Urteil über das Werk etwas milder ausfällt. Als Spinoza ihm schließlich eröffnet, er gedenke seine Ethica demnächst zu publizieren, warnt Oldenburg Spinoza davor, sich gegen die Religion zu richten. Nichtsdestoweniger wolle er einige Exemplare der Ethica »in Empfang nehmen und unter seine Freunde in England verteilen. Doch möge Spinoza sie nicht unter Oldenburgs Namen, sondern unter dem eines in London wohnenden holländischen Kaufmanns schicken und niemandem sagen, daß er ›derartige Bücher‹ ihm zugesendet habe.« – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 282. 659 Siehe auch: Yirmiyahu Yovel: Spinoza and other Heretics. I. A.a.O. 191 f. – Sowie: Phillip Sigal: Judentum. A.a.O. 186. 660 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 76 f. 661 Wahrscheinlich übernimmt Colerus diese Anekdote ungeprüft aus Bayles Spinoza-Wörterbuchartikel und schützt van der Spijck vor, um seine Informationsquelle mit größerer Seriosität auszustatten; Lucas zumindest weiß nichts von einem versuchten Mordanschlag auf Spinoza. Mit Ausnahme von Bayle und Colerus berichtet keiner der Biographen von diesem Ereignis. Freudenthal gibt zudem zu bedenken: »In den Gerichtsakten findet sich keine Spur von dem Mordanfall, der doch in Amsterdam nicht unbeachtet hätte bleiben können.« – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 69. 662 Ob, wie bereits erwähnt, der aus Frankreich in die Niederlande geflohene Libertin und Rosenkreuzer Lucas auch als Autor des im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Traité des trois imposteurs (Moses, Jesus und Mohammed) zeichnet, untersucht Winfried Schröder in: Anonymus: Traktat über die drei Betrüger. Traité des trois imposteurs. (L’esprit de Mr. Benoit de Spinosa). Kritisch herausgegeben, übersetzt, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Winfried Schröder. Französisch – deutsch. Hamburg 1992. XX; XXVII f. – Siehe zur Frage einer individuellen Autorschaft des Werkes auch: Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. A.a.O. 324 f.; 395; bes. 452 – 464. – Je-
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zwungen, ist heute nicht mehr zu klären663) zu seiner Abreise aus Amsterdam im Jahr 1660 (de Vries diskutiert diese erzwungene Vertreibung unter dem Stichwort »Der zweite Bann«664). In den Jahren 1656 – 1660 haben sich wohl verschiedene Personen (welche, ist heute nicht mehr zweifelsfrei zu ermitteln) für Spinoza eingesetzt; doch seinen Abschied aus Amsterdam können auch sie nicht mehr abwenden. Spinoza zieht sich zunächst nach Kostverloren, in die Nähe Ouderkerks – hier genießt er (wahrscheinlich) die Gastfreundschaft des Regenten Dirk Tulp665 (1624 – 1682) in dessen Landhaus Tulpenburg –, und im Frühjahr 1660 nach Rijnsburg, zwischen Leiden und Katwijk an Zee, d. h. unweit von Amsterdam, zurück – aber eben nicht nach Amsterdam, in das er nicht mehr zurückzukehren wünscht. In Rijnsburg ist der engere Kreis der Kollegianten ansässig.666 Spinoza wohnt im gerade errichteten Haus des Wundarztes und Kollegianten Hendrik Homan, des heutigen Sitzes der Vereniging Het Spinozahuis. Das fragliche Attentat auf Spinoza wäre in der Weise zu interpretieren, daß es auf das Konto eines ›Rächers Israels‹ ginge, der dem Individuum Spinoza sein Ende hätte bereiten wollen, da nach der Verhängung des Banns gegen dieses sämtliche anderweitige Möglichkeiten, der fortgesetzten Entwicklung seiner gotteslästerlichen Philosophie Einhalt zu gebieten, ausgeschöpft wären. Einen Auftragsmord in Betracht zu ziehen, hält schon Freudenthal zu Recht für wenig plausibel.667 Der tiefere Grund für den Versuch einer endgültigen Beseitigung Spinozas wäre jedoch in seiner die »Prophetie oder Offenbarung«668 von philosophischem, sprich menschlichem Wahrheitswissen ausgrenzender Theorie zu sehen: So gesehen wäre es Spinoza zum Verhängnis geworden, daß er als mutmaßlicher Verhinderer einer unausweichlichen, weil geweissagten Geschichte aufgetreten wäre.
denfalls ist in Lucas’ Spinoza-Biographie die Rede von »falschen Freunden«. – Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 44. 663 Freudenthal gibt an, die calvinistischen Geistlichen Amsterdams stimmten dem Magistratsantrag zu. – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 81. 664 Siehe: Theun de Vries: S 65 – 67. 665 Tulp heiratet 1650 Anna, die Tochter des Amsterdamer Bürgermeisters, Arztes und späteren Remonstranten Albert Coenraadsz Burgh (1593 – 1647). 666 »Die Kollegianten, jeglicher Kirchendisziplin und allen Predigern abhold, kamen zweimal jährlich zusammen im ›Großen Haus‹ (eine Schenkung des reichen Bauern, Schöffen und Kollegianten Gijsbert van der Codde), um in apostolischem Sinn die Schrift zu besprechen und diejenigen, die das wollten, durch Bad und Taufe in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Spinoza hat sie geachtet, aber nicht an ihren geistlichen Übungen teilgenommen. Übrigens, brave Kollegianten wie Joh. Bredenburg und Frans Kuiper haben ihn und seine Auffassungen später prinzipiell bekämpft.« – Siehe: Theun de Vries: S 68. – Weitere Informationen zu dem seit 1640 zwei Mal per annum abgehaltenen Rijnsburger Kollegianten-Treffen finden sich bei: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 50, Erl. 27. 667 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 69. 668 Hier sei der erste Satz des Tractatus theologico-politicus in Erinnerung gerufen: »Prophetie oder Offenbarung ist die von Gott den Menschen offenbarte sichere Erkenntnis einer Sache.« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP I, 1
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Spinozas erzwungener gesellschaftlicher Abstieg hätte so eminent religionspolitische Gründe. 2.3 Spinozas Verbindungen zum Militär Jahre später, im Mai 1673, läuft Spinoza, zu dessen Vorfahren neben Kardinälen auch Soldaten zählen, noch einmal Gefahr, einem gewalttätigen Übergriff auf Leib und Leben ausgesetzt zu sein: Grund ist seine Rückkehr aus dem Utrechter Heeres-Hauptquartier des Prinzen de Condé669 (1621 – 1686), der die französischen Truppen, die ein Jahr zuvor in die (reformierten!) Niederlande einbrechen, anführt. Noch von Dunin Borkowski unterschlägt die gesamte Begebenheit beinahe: »Sicher ist, daß Condé, der den Besuch gewünscht hatte, abwesend war, daß Spinoza sehr liebenswürdig aufgenommen wurde und gefiel, daß er keineswegs unklug und voreilig gehandelt hatte; denn er war im Besitz holländischer und französischer Geleitbriefe, und bedeutende Haager Staatsmänner wußten um seine Reise. Aber das kritische Ergebnis zum Zweck und zum Erfolg der Reise lautet, meiner Ansicht nach, beruhigend einfach: Man weiß nichts.«670 Dem ist heute glücklicherweise nicht mehr so. Der Krieg zwischen Frankreich und den vereinigten Regierungen von England, Schweden und den Niederlanden bricht bereits 1668 aus. Der aus Italien (lt. Freudenthal aus der Schweiz) stammende Jean-Baptiste Stouppe671 (1623 – 1692), Befehlshaber eines unter französischen Fahnen dienenden (und von Frankreich besoldeten) Schweizerregiments, weist den Prinzen auf den nahen Aufenthaltsort des Verfassers des Tractatus theologico-politicus im Haag hin – freilich nicht ohne eigenes Interesse. Denn Stouppes religiöser Indifferentismus und politischer Opportunismus bringt ihm Schwierigkeiten mit seinen Schweizer Landsleuten ein: Wie könne er als Calvinist in Diensten (des katholischen) Frankreich gegen ein calvinistisches Land zu Felde ziehen? Stouppe gedenkt mit einer Schrift (La Religion des Hollandois, reprensentée en plusieurs lettres Es handelt sich um Louis II. François, genannt »le Grand Condé«, einen französischen Feldherrn, (Titular-)Duc d’Enghien, ab 1646 der 4. Prince de Condé, 2. Duc de Châteauroux, de Montmorency, d’Albret (bis 1661) et de Bellegarde, Duc de Fronsac, Sohn Henris II. (1552 – 1646). – Condé ist ein so altes wie berühmtes Geschlecht im Henngau im heutigen Belgien, dessen Stammsitz die Stadt Condé ist. Die Condé entstammen einer Seitenlinie der Bourbonen. Besonders im 16. Jahrhundert sind sie weithin bekannte Hugenottenführer. 670 Siehe: Stanislaus von Dunin Borkowski S. J. Aus den Tagen Spinozas. Geschehnisse, Gestalten, Gedankenwelt. Dritter Teil: Das Lebenswerk. – In: ders.: Spinoza. Band IV. Münster i. W. 1936. 65. – So auch noch: Cis van Heertum/Frank Grunert: Spinoza: Wolfenbüttel, Amsterdam, Halle. Zur Einleitung. – In: Cis van Heertum/Frank Grunert (Hgg.): Spinoza im Kontext. A.a.O. 7 – 15; hier: 10. 671 Zunächst calvinistischer Theologe, wird Stouppe später Prediger der französisch-reformierten Gemeinde in London. Bis 1653 in Cromwells Diensten, geht er sodann nach Frankreich, wo er der politische Agent Ludwigs XIV. (1638 – 1715) wird. Condé macht ihn zum Offizier seiner Armee. 669
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écrites par un Officier de l’Armée du Roy, à un Pasteur & Professeur en Théologie de Berne. Cologne 1673)672 zu reagieren, in der er den Nachweis zu führen beabsichtigt, daß die Niederlande genau genommen nicht calvinistisch geprägt sei, sondern »man finde hier Römisch-Katholische, Lutheraner, Brownisten, Independenten, Arminianer, Anabaptisten, Socinianer, Arrianer [nota bene!], Enthusiasten, Quäker oder Zitterer, Borelisten, Armenier, Moskowiter und Freigeister. Außerdem noch Juden und Perser und eine ganze Menge ›Suchender‹, die selber nicht wissen, wohin sie gehören. Der eigentliche Gott der Holländer ist Mammon oder der Geldsack; den verehren sie mehr als jeden anderen.«673 Mit der Abfassung eines solchen Werks ist Stouppe beschäftigt, als Condé in Utrecht (von einem Gichtanfall heimgesucht und außer Gefecht gesetzt) mit Spinoza zu debattieren sucht in der Hoffnung, von dem Philosophen wertvolle Aufschlüsse über die verwickelten niederländischen Konfessionsverhältnisse und christlichen Sekten zu erhalten. Nur zögerlich willigt Spinoza nach Stouppes erfolgter Kontaktaufnahme im Mai ein, ausgestattet mit Geleitbriefen von Holländern und Franzosen vorbei an den einander gegenüberstehenden Heeresgruppen nach der von den Feinden besetzten Stadt durchzubrechen, um den mächtigen Feldherrn und Prinzen zu treffen, einen Libertin antimonarchischer und religionskritischer Gesinnung und seit 1650 führender Kopf der sog. Fronde, des Bündnisses des französischen Adels in Gegnerschaft zu dem absolutistischen Regime des Kardinals Jules Mazarin (1602 – 1661) und der Königin Anna Maria von Österreich (1601 – 1666).674 Allerdings scheitert das persönliche Zusammentreffen Condés mit Spinoza675 (Bayle berichtet vom Gegenteil), dessen Mission in gewisser Weise als diejenige eines politischen Gesandten der Niederlande, d. h. der Regierung im Haag, zu verstehen ist: Projektiert ist nämlich die Aushandlung eines ehrenvollen Friedens mit Frankreich. Auf Wunsch des Prinzen bleibt Spinoza mehrere Wochen in dessen Hauptquartier. Als
Was den Zeitgenossen zunächst entgeht (siehe: LD Dok. 80): Auch wenn Stouppes Buch über die Religion der Holländer Spinozas Tractatus theologico-politicus lobt, befindet es sich doch in scharfer Gegnerschaft zu ihm: »Er malte Spinozas Ketzereien mit schwarzen Farben, um die Gleichgiltigkeit der Niederländer zu brandmarken und es dadurch zu rechtfertigen, daß er im Dienste Ludwigs gegen sie zu Felde zog.« – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 252. 673 Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 436. 674 Nach Armand-Jean I. du Plessis de Richelieus Tod (1642), des maßgeblichen Beraters und Ministers Ludwig XIII. (1601 – 1643), übernimmt Mazarin dessen Amt als regierender Minister und behält es auch, als nach dem Tod Ludwig XIII. dessen Witwe Anna Maria von Österreich die Regentschaft für den noch unmündigen Thronfolger Ludwigs XIV. ausübt und nachdem dieser 1651 für volljährig erklärt und gekrönt wird. Anna Maria von Österreich bzw. von Habsburg, Infantin von Spanien, ist ab 1615 Königin und von 1643 bis 1651 Regentin von Frankreich. 675 Siehe: LD Dok. 67. – Statt seiner empfangen Spinoza François-Henri de MontmorencyButtéville, Duc de Luxembourg (1628 – 1695), einer der französischen Marschälle in den Niederlanden und zum Utrechter Kreis um Condé gehörig, sowie Oberst Stouppe. Ein Jahresgeld unter der Bedingung, daß Spinoza eines seiner Bücher Ludwig XIV. widme (siehe Colerus), schlägt dieser aus; auch der angebliche Versuch, ihn unter großen Versprechungen zur Übersiedlung nach Versailles zu bewegen, soll fehlgeschlagen sein. 672
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die Nachricht eintrifft, Condé könne nicht nach Utrecht zurückkehren, reist Spinoza ab. Nach seiner Rückkehr nach dem Haag gerät Spinoza in ernsthafte Gefahr: In der politisch-militärisch schwierigen Situation der Niederlande wird ihm vorgeworfen, als Spion im Interesse Frankreichs nach Utrecht gegangen zu sein und mit dem Landesfeind in hochverräterischer Korrespondenz zu stehen. Doch van der Spijcks Furcht, man werde sein Haus stürmen und seinen Mieter lynchen, sei Spinoza wie folgt begegnet: »Macht Euch darüber keine Sorgen. Ich bin unschuldig, und es gibt viele unter den Großen, die wohl wissen, warum ich nach Utrecht gegangen bin. Sobald Ihr einigen Lärm an Eurer Tür hört, werde ich zu den Leuten hinausgehen, auch wenn sie mit mir verfahren sollten wie mit dem guten Herrn de Witt. Ich bin ein aufrichtiger Republikaner, und das Wohl der Republik ist mein Augenmerk.«676 Diese höchste Form der Ausübung von Frömmigkeit (»pietas«): der Patriotismus,677 wie auch äußerliche religiöse Kulte (»religionis cultus«)haben sich, so Spinoza, dem Frieden und dem Nutzen des Staates unterzuordnen.678 Spinoza betrachtet nicht die »Jüdische Nation« als sein Vaterland, sondern für ihn ist Holland die »patria«. Jedenfalls erlangt er aber gegen seinen Willen einen Ruhm, den er so nicht gewollt hat. 2.4 Spinozanische Philosophie und Christentum Spinoza weiß zwei Wege zum Heil: per rationem und per cogitationem dei – einen dritten, gar christlichen, kennt er nicht,679 wenngleich er sich durchaus nicht scheut, »mit den Christen zu verkehren«680 und überhaupt der Ansicht ist, Gott Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 91 f. – In diesem Zusammenhang ist von Interesse, daß Spinoza in einem Brief an Oldenburg von »meinem Vaterlande« spricht. – Siehe: Baruch de Spinoza: B 13. An Heinrich Oldenburg. Voorburg, am 17./27. Juli 1663. 677 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 218. 678 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 215. – Siehe auch: Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1995. 224 – 277. – Bartuschat berücksichtigt Spinozas Theorie der Religion nicht. 679 »[…] so habe ich über Gott und Natur eine ganz andere Meinung, als jene, die von den modernen Christen gewöhnlich vertreten wird. Ich fasse nämlich Gott als die immanente und nicht als äußere Ursache aller Dinge.« – Siehe: Baruch de Spinoza: B 73. An Oldenburg. November–Dezember 1675. 680 Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 28. – Hierzu heißt es in Erl. 17: »Kontakte mit nicht auf dogmenorientierte Rechtgläubigkeit, sondern auf praktische Frömmigkeit und Verträglichkeit ausgerichteten Vertretern nicht-kirchlicher Christen wie den späteren Freunden Jarig Jelles und Pieter Balling […] knüpft Spinoza schon während seiner kaufmännischen Tätigkeit […].« – Siehe: Ibid. 49. – Sebastian Kortholt (1675 – 1760) gibt stattdessen zu Protokoll, Spinoza habe sich »als Christ bekannt«. – Siehe: Christian Kortholt: Über die drei Betrüger. Hamburg 1700. Vorwort von Sebastian Kortholt. – In: LD 57. – Auch Bayle geht von Spinozas Konversion zum Christentum aus. – Siehe: Pierre Bayle: Spinoza. – In: Herrn Peter 676
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habe sich »am meisten in Christus kundgetan«,681 was in summa nicht zuletzt Spinozas Analyse der »religio catholica« im Tractatus theologico-politicus zu entnehmen ist.682 Diese Aspekte können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß bereits Spinozas erste Schüler dessen Lehre als eine neue Trutzburg gegen die Religion verstehen. So berichtet z. B. Simon Joosten de Vries (1633/34 – 1667), ein mennonitischer Kaufmann im frühen Freundeskreis um Spinoza, in einem Brief an Spinoza, der zu dieser Zeit in Rijnsburg lebt, über einen Amsterdamer Lektürekreis zur Ethica: »Unser Collegium selbst ist folgendermaßen eingerichtet. Einer (aber der Reihe nach jeder) liest vor, erklärt nach seiner Auffassung und beweist dann alles, entsprechend der Folge und Ordnung Ihrer Lehrsätze. Im Falle, daß man einander nicht befriedigen kann, hielten wir es für der Mühe wert, es anzumerken und an Sie zu schreiben, damit Sie uns womöglich Aufklärung geben und damit wir unter Ihrer Führung gegenüber Abergläubischen und Christen die Wahrheit verteidigen und gegen den Ansturm der ganzen Welt feststellen können.«683 Colerus teilt bereits aus der Zeit vor der Verhängung des Banns mit, in Spinozas jüdischen Lehrern wachse die Furcht, »daß er von ihnen abfallen und zum Christentum übertreten werde.«684 Er selbst freilich wirft Spinoza direkt keine Ketzerei oder gar Gottverlassenheit vor: »Er nimmt sich selbst die Freiheit, den Namen Gottes in einem solchen Sinne zu gebrauchen, wie ihn noch nie ein Christ genommen hat.«685 Den gegen Spinoza erhobenen Vorwurf des Atheismus suchen einige seiner hinterbliebenen Freunde sogleich zu entkräften, wobei der dem Cartesianismus zugetane Jarig Jelles in seiner von Lodewijk Meyer ins Lateinische übersetzten Vorrede zu den Opera posthuma die Vereinbarkeit von Spinozanischer Philosophie und christlichem Glauben zu demonstrieren sucht. Tatsächlich entwickelt Spinoza im Tractatus theologico-politicus eine Christologie, wenngleich sie nicht eigens den trinitarischen Teil der Gottessohnschaft betrifft. Im Unterschied zum Prinzip der Theonomie (in Gestalt der Propheten, die Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch […]. A.a.O. 261 – Zutreffend über Spinozas Verhältnis zum Christentum berichtet der Altorfer Professor Johann Christian Sturm (1635 – 1703). – Siehe: LD Dok. 58. – Spinoza wird, obgleich in Wahrheit niemals zum Christentum übergetreten, am 25. Februar 1677 in der lutherischen Neuen Kirche auf dem Spuy in Den Haag beigesetzt, zunächst in einem Miet-, später in einem Massengrab. 681 Siehe: Baruch de Spinoza: B 75. An Oldenburg. Dezember 1675–Januar 1676. 682 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 164. 683 Siehe: Baruch de Spinoza: B 8. An Simon de Vries. 24. Februar 1663. 684 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 76. 685 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 99. – Colerus kritisiert den Gottesbegriff der Ethica wie folgt: »[…] darum darf es folgerichtig auch keine Strafe und keine Verurteilung, keine Auferstehung, keine Seligkeit und keine Verdammnis geben, da sein Gott sonst sein eigenes, notwendig durch Ihn gewirktes Werk bestrafen und belohnen würde. Ist dies nicht die schnödeste Atheisterei, die jemals ans Licht gekommen ist?« – Siehe: Ibid. 99 – 102.
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sämtlich zu den Autoren göttlicher Gesetzesbücher zu zählen seien und so den wahren Begriff Gottes im Erkennen verfehlen müssen) habe Christus die Dinge wahr und adäquat begriffen (»res verum et adæquate percepisse«), ja sein Wirken sei als Mund Gottes (»os Dei«) zu deuten.686 Die Annahme hingegen, im Anschluß an die Propheten habe Gott seine Offenbarungen auch Christo angepaßt, widerstreite der Vernunft, da andernfalls der Adressat der Lehre Christi ungenannt bliebe: die gesamte Menschheit (»totum humanum genus«). Die christliche Offenbarung: der Geist, sei sonach nicht lediglich auf das Fassungsvermögen der jüdischen Propheten, sondern vielmehr auf die dieser Menschheit innewohnenden Anschauungen und Überzeugungen, d. h. den allgemeinen und wahren Begriffen (»hoc est, notionibus communibus et veris«), abgestimmt. Spinoza: »Eben daran, daß Gott sich Christus oder seinem Geist unmittelbar offenbart hat und nicht durch Worte und Bilder wie den Propheten, können wir gerade erkennen, daß Christus die offenbarten Dinge in Wahrheit begriffen oder erkannt hat. Denn dann wird eine Sache erkannt, wenn sie rein durch den Geist, ohne Worte und Bilder begriffen wird.« Scharfsinnig argumentiert Spinoza außerdem, daß Christus, wenn er das ihm Geoffenbarte »wirklich einmal als Gesetze vorschrieb, so tat er es wegen der Unwissenheit und Halsstarrigkeit des Volkes. Er handelte darin gerade wie Gott, indem er sich dem Geist des Volkes anpaßte und deshalb, wenn er auch mit etwas größerer Klarheit als die anderen Propheten sprach, dennoch dunkel und häufiger durch Gleichnisse seine Offenbarungen lehrte, zumal wenn er zu Leuten sprach, denen es noch nicht gegeben war, das Himmelreich zu erkennen (s. Matthäus, Kap. 13, V. 10 ff.).«687 Spinozas metaphorische Identifikation Christi mit dem göttlichen Mund, aus dem die Stimme, das im Judentum wesenhaft Göttliche, ertönt, betrifft die Auszeichnung Jesu, seinerseits die Offenbarung nicht ausschließlich einem Volk anzupassen. In und durch Jesus wiederholt sich somit das Offenbarungsgeschehen strukturell und damit als solches. Hierin – und nicht in der Gottessohnschaft, so ließe sich folgern – besteht die wahrhafte Gottähnlichkeit Jesu. Die Propheten sind zwar ebenso Gefäß der Offenbarung, aber im Gegensatz zu Jesus nicht befähigt, sie den Bedürfnissen ihrer Umgebung gemäß zu akkomodieren und entsprechend zu funktionalisieren. Leo Strauss bemerkt allerdings zu »Wir erkennen zwar ganz klar, daß Gott sich den Menschen unmittelbar mitteilen kann, denn ohne körperliche Hilfsmittel teilt er unserm Geist sein Wesen mit; wollte aber ein Mensch bloß mit dem Geiste etwas begreifen, das in den tiefsten Grundlagen unserer Erkenntnis nicht enthalten ist und nicht aus ihnen abgeleitet werden kann, so müßte sein Geist notwendig vorzüglicher sein und den menschlichen Geist weit überragen. Ich glaube daher nicht, daß irgend jemand eine solche Vollkommenheit vor den anderen erreicht hat, ausgenommen Christus, dem der Heilsplan Gottes ohne Worte und Gesichte, ganz unmittelbar offenbart worden ist, so daß Gott durch Christi Geist sich den Aposteln offenbart hat so wie einst dem Moses durch die Stimme aus der Luft. Darum kann die Stimme Christi gerade so wie jene, die Moses gehörte, Gottes Stimme heißen.« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP I, 6 f. – Ähnlich äußert sich Spinoza in einem bereits vormals genannten Brief an Oldenburg. – Siehe: Baruch de Spinoza: B 75. An Oldenburg. Dezember 1675–Januar 1676. 687 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 50 f. 686
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recht: »Da die Naturgesetze im allgemeinen und die Gesetze der menschlichen Natur im besonderen immer und überall dieselben sind, oder da niemals irgend etwas radikal ›neu‹ ist, kann Jesus, der einen menschlichen Leib hatte, nicht einen übermenschlichen Geist gehabt haben. Mit anderen Worten: Da der Mensch kein höheres Vermögen als die Vernunft hat oder da es keine Wahrheit jenseits der Vernunft gibt, kann Jesus unmöglich mehr gewesen sein als der größte Philosoph, der jemals lebte. […] Wenn Spinoza ›mit Paulus‹ versichert, daß alle Dinge in Gott sind und sich in ihm bewegen, so kann man annehmen, daß Spinoza glaubte, daß seine Lehre über Gott als die immanente Ursache aller Dinge bis auf Jesus selbst zurückgehe.«688 Davon abgesehen jedoch dispensiert Spinozas eigenes immanent-philosophisches ›Erlösungskonzept‹ rigoros von vergleichbaren Vorstellungen innerhalb der positiven Religionsgestalten. Seine Alternative sei hier eine rationalmystische genannt. Auch Yovel sieht Spinoza – wie andere Marranen auch – auf der Suche nach einer ›neuen Erlösung‹, die sich abwendet von ausgetretenen Pfaden der bis dato etablierten Geistesgeschichte (Heterodoxie; Transzendieren der Offenbarungsreligion). Doch während Marranen die Lösung in einer geschichtlichen Religion, dem Judentum, zu finden hoffen, sucht Spinoza ihn jenseits alles dessen. Durch ein rational-intuitives Verfahren, welches keinem überlieferten Kult, keiner Offenbarung verpflichtet ist, soll der Philosoph schließlich derjenigen Einsicht teilhaftig werden, die eingeweihte Mystiker und religiöse Sucher je schon erstrebt, jedoch unweigerlich haben verfehlen müssen, weil sie sich abergläubischen Überzeugungen und Ritualen anvertraut haben. Indes unterscheidet sich Spinozas Philosophie von traditioneller Mystik, wenn auch für sie die Seligkeit, im Dasein Gottes Geborgenheit zu finden, ebenso entscheidend ist wie für jeden jüdischen oder christlichen Mystiker. Denn Spinoza erkennt in der alten Mystik eine fehlgeleitete Form einer Sehnsucht und eines Strebens, die – nimmt sich die Vernunft ihrer an – einen Erlösungsweg für den auf die Ratio vertrauenden Philosophen eröffnen kann: Ein Ziel, das so selten wie schwierig zu erreichen ist. Es ist aber vergleichbar mit demjenigen, das Mystiker mit irrationalen Mitteln zu erreichen suchen. Mit diesem unbeirrbaren Interesse an persönlicher Erlösung689 auf bislang unbekannten Wegen verbinden sich Leugnung von Transzendenz, d. h. unbedingte Diesseitigkeit sowie Säkularismus. Wenn Spinoza den Anspruch erhebt, über die wahre Lehre zu verfügen, resultiert aus dieser Haltung letztlich eine Philosophie der Einsamkeit, der sich lediglich der Weise anzuschließen wisse: Spinoza lehrt nicht, die Philosophie führe zur Weisheit, sondern das Innesein einer adäquaten Idee Gottes ermögliche, ja gebiete den Zugang zur Philosophie, der eine einzige wahre Gestalt eigne. Aber erst mit der Publikation seiner nachgelassenen Ethica kommt ans Tageslicht, daß Siehe: Leo Strauss: Anleitung zum Studium von Spinozas theologisch-politischem Traktat. (1948) A.a.O. 300 – 361; hier 330. 689 Zum gleichermaßen privativen Hintergrund der Anfänge des Christentums siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 223. 688
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seine Philosophie aus der tradierten rationalen Theologie ausscheidet und auf eine Lebenslehre zielt, die naturgesetzlich gesichert ist. Für Spinoza äußert sich das Vernunftprinzip in metaphysischer Ethik einerseits und objektiver Wissenschaft (Politik und Anthropologie, d. h. Affektenlehre) andererseits. Daraus erwächst die Differenz einer Vernunft als Vermögen oder Geist (als Prinzip des Seins) und einer subjektiven Vernunft, sprich einer je individuellen Form menschlicher Rationalität. Das demonstrative Zentrum Spinozanischer Philosophie liegt sonach in der theoretischen Potenz der Konjunktion beider: einer Vernunft als Vermögen und einer Konkretion subjektiver Vernunft. Diese Unterscheidung bietet die Grundlage für Spinozas These einer naturhaften Begabung zur Vernunft,690 aus welcher sich im negativen, d. h. die Vernunft verfehlenden Fall die Freiheit ableitet, nicht »der gesunden Vernunft gemäß«691 leben zu müssen, weil es dem Gesetz der Natur nach schlechterdings nicht möglich ist. Die Macht der Natur verweist zunächst auf die Macht sämtlicher ihrer Individuen insgesamt; aber die Natur als Natur ist ›größer‹, impliziert mehr Möglichkeitsspielräume als die Vernunft: Vernunftgesetze vermögen Naturgesetze niemals zu determinieren.692 Es sei allerdings, so Spinoza, weitaus nützlicher, »nach den Gesetzen und bestimmten Vorschriften unserer Vernunft zu leben«.693 Vereinigen, d. h. einen Staat bilden, müßten sich die Menschen, um sicher und gut zu leben.694 2.5 Geistig-moralische Autonomie In Rijnsburg sieht sich Spinoza mit depressiven Stimmungen konfrontiert, die jedoch keineswegs zunehmender Vereinsamung geschuldet sind – der Philosoph ist zeit Lebens von Freunden695 und Gönnern umgeben,696 aber auch von Neugierigen, die das »bedauernswerte Menschlein« und, wie es auch heißt, »exotische Tier«697 aufsuchen und pflegt eine (je nach Erfordernis) sowohl gelehrte als auch profane, stets geduldige, wo geboten sogar langmütige und auch gutherzige Korrespondenz698 –, sondern eher auf den sich abzeichnenden vollständigen Bruch mit Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 176. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 176. 692 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 176. 693 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 177. 694 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 177. 695 Anders als beispielsweise Tschirnhaus, der Philologe Johann Georg Graevius (1632 – 1703) oder Christoph Wittich (1625 – 1687) wird nicht jeder dieser Bekannten Spinoza bis zum Schluß die Treue halten; so berichtet später Lucas von Spinozas »falschen Freunde[n]«. 696 Lt. Bayle freilich ziehe Spinoza Freigeister »von allen Enden« an. – Siehe: Pierre Bayle: Spinoza. – In: Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch […]. A.a.O. 261. 697 Solches Verlangen treibt Johann Christian Sturm um. – Siehe: LD Dok. 58. 698 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 90 – 93. – Noch Sebastian Kortholt führt seine Leser in die 690
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den Verbliebenen seiner Familie zurückzuführen sind,699 die ihn sogar zu enterben gedenken. Zweifelhafte Verdienste erwerben sich hier insbesondere seine Halbschwester Rebekka sowie ihr Mann Samuel Caceres, ein späterer Rabbiner der portugiesischen Gemeinde und vielgeachteter Prediger, erkennen doch beide Spinoza eines Tages nicht mehr als ihren Blutsverwandten an. Erneut also sieht sich Spinoza einer Konfrontation mit dem Recht ausgesetzt: Nun soll er einen Besitzstand, der ihm widerrechtlich entzogen werden soll, aufgeben. Nach erfolgreichem Rechtsstreit entsagt er seines Erbteils; das gestörte Geschwisterverhältnis indes kann nie wieder ins reine gebracht werden. In der Folgezeit betrachtet Spinoza den engeren Kreis seiner Freunde – und später die »Loevesteiner« Faktion700 – als Quasi-Familie. Es verkennte jedoch die Verhältnisse, jene Gemeinschaft, die nicht zuletzt an Spinozas Lehre, die unter ihren Mitgliedern meistenteils in Form von Manuskripten zirkuliert, interessiert ist, als Keimzelle eines nachfolgenden Spinozismus zu deuten, wie de Vries meint.701 Zumindest für die deutsche Frühaufklärung weist Winfried Schröder Untersuchung nach, daß eine in Ansätzen zu erkennende Aneignung Spinozanischer Philosophie erst wesentlich später einsetzt.702 Auch Rainer Specht bemerkt, Spinozas PhilosoIrre: Spinoza, »unentgeltlich ein schlimmer Atheist«, »verbrachte sein Leben ganz einsam.« – Siehe: Christian Kortholt: Über die drei Betrüger. Hamburg 1700. Vorwort von Sebastian Kortholt. – In: LD 56. 699 Zu Spinozas familiären Hintergründen siehe: LD Dok. 44 – 47; 50 – 52; 59. – Arnold Zweig erklärt Spinozas Abwendung vom jüdischen Vaterglauben aus dessen später verklärter Mutterliebe, »und die Welt kaufmännischen Erwerbs lehnt er ab, indem er sich sein Leben lang von Pensionen erhalten läßt, die ihm Freunde [Simon Joosten de Vries resp. sein hinterbliebener Bruder Isaak de Vries, H. G.] und das Staatsoberhaupt aussetzen.« – Siehe: Arnold Zweig: Baruch Spinoza. Portrait eines freien Geistes. 1632 – 1677. Leipzig 1961. 20; Zit. 21. – Ähnlich interpretiert: Theun de Vries: S 26 – 29. 700 Siehe: Theun de Vries: S 81 – 89. 701 Siehe: Theun de Vries: S 55; 59 f. 702 »Die Summe der in dieser Arbeit gezeichneten Einzelportraits ergibt ein ernüchterndes Gesamtbild, das den frühen Spinozismus als noch unbedeutender erscheinen läßt, als es die Gruppe der in der Literatur genannten Anhänger des niederländischen Philosophen ohnehin schon war: Neben Autoren, die wie der Cartesianer Wittich, der Wolffianer Fischer und der unabhängige Freidenker Lau von übereifrigen Wächtern der Orthodoxie der Einflußsphäre Spinozas zugerechnet wurden, und Figuren wie Tschirnhaus und Edelmann, die einzelne aus dem systematischen Kontext gelöste Philosopheme rezipierten, haben lediglich zwei Autoren Texte hinterlassen, in denen Ansätze einer Aneignung des Systems der ›Ethik‹ erkennbar sind. Keiner von beiden – Stosch und Wachter – hat jedoch auch nur die grundlegenden Propositionen des Systems der ›Ethik‹ korrekt reproduziert. Durch Selektion, Vereinfachung und Umdeutung verzerrt, büßt es obendrein durch die Verbindung mit Gedankengut anderer Provenienz seine Konsistenz ein. Als Spinozisten können Stosch und Wachter auch dann nicht gelten, wenn man ›Spinozismus‹ so weit faßt, wie es z. B. geschieht, wenn die Okkasionalisten noch dem Cartesianismus zugerechnet werden.« – Siehe: Winfried Schröder: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987. 148. (EPISTEMATA. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie. Band XXXIV – 1987) – Zum angesprochenen Komplex Spinoza – Kabbala siehe: Gerschom Scholem: Die Wachtersche Kontroverse über den Spinozismus und deren Folgen. – In: Karlfried Gründer/ Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hgg.): Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Heidelberg
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phie werde »erst seit Jacobi öffentlich rezipiert [und ist] vorher beinahe nur ein Gegenstand von Polemiken, aus denen die von Christian Wolff aus Breslau durch ihren Anstand und ihre Differenziertheit hervorsticht.«703 Wenn jedenfalls, so findet Karl Jaspers, von einem Juden in der Diaspora die Rede ist, müsse zuvörderst Spinoza genannt werden: »Sein Schicksal hat Spinoza nicht gewollt, aber als unumgänglich begriffen: es bedeutete die Lösung aus jeder Gemeinschaft des Glaubens, der Herkunft, des Volkes, der eigenen Familie. Von den Juden ausgestoßen, wurde er nicht Christ.«704 Und tatsächlich: Spinoza, zeitlebens ledig, verläßt seine religiöse Gemeinschaft, in die er hineingeboren ist, ohne sich je wieder einer anderen anzuschließen. In der niederländischen Republik hat er niemals richtig Fuß gefaßt (wenngleich er sich, wie gesehen, auch in für ihn bedrohlicher Lage selbst als »Republikaner« zu erkennen gibt705), ihr Grenzgebiet – mit Ausnahme des erwähnten Abstechers 1673 in das benachbarte Utrecht ins Hauptquartier der französischen Truppen – aber auch niemals überschritten (im Gegensatz beispielsweise zu dem reisefreudigen Descartes). Spinozas gesellschaftliche Eingliederung ist eher als abstrakt-politischer Zustand denn als konkrete Lebenserfahrung zu werten. In einer Zeit, die es de facto niemandem ermöglicht, eine geistig-personale Identität außerhalb existenter religiöser Vorgaben auszubilden, kann Spinoza als Individuum par excellence begriffen werden706 – und darüber hinaus als lebendiger Gegenbeweis (vgl. Colerus) für die in damaliger Zeit als Allgemeingut geltende Überzeugung, aus vermeintlich ›böser‹ Theorie resultiere zwangsläufig eine verderbte Lebensführung.707 Die Vorstellung von einem ›reinen Individuum‹, deren Wesenskern nichts als die Kraft der Vernunft, d. h. ein universelles Vermögen abseits einer bestimmten Religionsgemeinschaft ausmacht, bedeutet in Spinozas Zeit ein völliges Novum. Das historische Individuum Spinoza muß als Realisierung dieser Idee begriffen werden – jedoch nicht in dem Bestreben, sie zu einer Lebensregel zu verklären oder gar zu funktionalisieren. Die Person Spinoza diene lediglich als empirisches Beispiel besagter Maxime, sie ist ein Einzelfall, der in zukünftiges Phänomen, welches damals noch ohne gesellschaftliche Entsprechung ist, gleichwohl vorweg-
1984. 15 – 25. (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Herausgegeben von der Lessing-Akademie. Band 12) 703 Siehe: Rainer Specht: Gottesvorstellungen im Rationalismus und Empirismus. A.a.O. 24. 704 Siehe: Karl Jaspers: Spinoza. München 1978. 8. 705 Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 92. 706 »Die Sicherheit des Staates wird nicht davon berührt, welche Gesinnung die Menschen zur richtigen Verwaltung anhält, sofern nur die Verwaltung richtig ist. Denn G e i s t e s f r e i h e i t o d e r G e i s t e s k r a f t s i n d P r i v a t t u g e n d e n , S i c h e r h e i t i s t d i e Tu g e n d d e s S t a a t e s . « – Siehe: Baruch de Spinoza: TP Einleitung, § 6. 707 Kortholt zieht sogar in Zweifel, ob das dem Vernehmen nach friedliche Dahinscheiden Spinozas »zu einem Atheisten passen könne«. – Siehe: Christian Kortholt: Über die drei Betrüger. Hamburg 1700. Vorwort von Sebastian Kortholt. – In: LD 57.
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nimmt.708 Schon Lucas gibt folgende Empfehlung: »Aber da er [Spinoza, H. G.] dem Schicksal alles Lebendigen nicht hat entgehen können, so laßt uns versuchen, in seinen Fußstapfen zu wandeln oder wenigstens, wenn wir es ihm nicht nachzutun vermögen, ihn durch Bewunderung und Lobpreisung verehren. Das ist es, was ich den ernsten Seelen rate, seinen Grundsätzen und seinen Erleuchtungen so zu folgen, daß sie sie ständig vor Augen haben, um sie als Regel für ihre Handlungen zu gebrauchen.«709 2.6 Zur Divergenz von Sittlichkeit und religiösem Leben Daß Moralität und Religiosität nicht zwangsläufig eine Allianz eingehen, erstaunt auch Daniel Langermann.710 Dieser berichtet zudem, Spinoza behandele sämtliche positiven Religionen gleichrangig711 – ein frühes Zeugnis jenes auch in der Folgezeit gegen Spinoza erhobenen Vorwurfs.712 Im Anschluß an Langermann gibt aber Ähnlich argumentiert z. B.: Günter Gawlick: Baruch de Spinoza. A.a.O. Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 46. 710 Siehe: LD Dok. 57. – Langermanns Bericht ist auf den 10. September 1661 datiert; seine Lebensdaten sind der Quelle nicht zu entnehmen. 711 Ebenso äußert sich Johann Christoph Sturm. – Siehe: LD Dok. 58. – Siehe auch: Michael Czelinski-Uesbeck: Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland. Würzburg 2007. 41. 712 Langermann gibt auch erstmals Nachricht über Spinozas Beschäftigung mit optischen Gläsern (zur Herstellung von Brillen, Mikroskopen und Teleskopen), die akkurat zu schleifen er wohl im Hause van den Endens erlernt (siehe: Theun de Vries: S 52) und die seit seiner Rijnsburger Zeit im Hause Homan, in dessen Werkstatt er sie anfertigt, weithin bekannt werden. Diese handgefertigten Linsen (siehe: Spinoza: 32. Brief. An Heinrich Oldenburg. Voorburgh, am 10. November 1665. A.a.O. 149) erfreuen sich großer Beliebtheit, Freunde nehmen sie in Kommission und verkaufen sie in Amsterdam. Leibniz schickt am 5. Oktober 1671 Spinoza seine Notitia Opticae promotae, weil er »einen besseren Beurteiler in dieser Art der Wissenschaft nicht leicht finden werde«. – Der gleichen Beschäftigung haben sich auch Descartes sowie der Astronom, Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens (1629 – 1695), der Biologe Jan Swammerdamm (1637 – 1680) und der Mathematiker und Amsterdamer Bürgermeister Johann van Waveren Hudde (1628 – 1704) hingegeben (zu diesem siehe nach nachfolgende Kapitel 2.7). Von historischem Interesse ist in diesem Zusammenhang, daß der Holländer Antoni[y] van Leeuwenhoeck (gest. 1723), Spinozas Jahrgang, in Delft als erster unter dem Mikroskop Kleinstlebewesen (animalcula) beobachtet. Er zählt so zu den Vorbereitern der modernen Biologie, wenngleich seine lebenslange Weigerung, das Geheimnis seiner perfektionierten Kunst des Schleifens winziger, bikonvexer Linsen preiszugeben (bis zu 270-fache Vergrößerungen, was die Leistung der ersten mehrlinsigen Mikroskope bei weitem übertrifft), wahrlich nicht als Dienst an Wissenschaft und Mensch gepriesen werden kann. Bakterien (schon Leeuwenhoeck beobachtet Bazillen, Kokken und Spirillen) können so erst wieder im 19. Jahrhundert in näheren Augenschein genommen werden, als es gelingt, bessere mehrlinsige Mikroskope zu konstruieren. – Auf der Entdeckung von Spermatozoen und Eiern baut sich in der Folge die Performationstheorie auf, nach der das künftige Tier in den Samen und Keimen vorgebildet liege. Insbesondere ergibt sich das Prinzip, daß Lebendiges nur aus Lebendigem stammen könne, d. h. daß Lebendiges einer Form nur aus Lebendigem anderer Form hervorgehe. – Auch Hobbes gibt beredtes Zeugnis über die epistemologischen Folgen und die bis dato unbekannten Wahrnehmungsmodifikationen, die aus der 708
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insbesondere Pierre Bayle im Spinoza-Artikel seines Historisch-kritischen Wörterbuchs eine mögliche Divergenz von religiöser Überzeugung und sittlich untadeliger Lebensführung zu bedenken: »Dieses ist seltsam; allein im Grunde darf man sich nicht mehr darüber verwundern, als wenn man Leute sieht, welche sehr gottlos leben, ob sie gleich von dem Evangelio völlig überzeuget sind.«713 Dieses fragwürdige Mißverhältnis erörtert er außerdem in seinen Penseés diverses sur la comète (1683), in denen er sein mißbilligendes Urteil über Spinoza noch zu steigern weiß: »Spinoza war der größte Atheist, der man jemals gesehen hat. Er hatte sich von gewissen philosophischen Grundsätzen auf eine so närrische Art einnehmen lassen, daß er, um denselben desto besser nachzusinnen, sich in die Einsamkeit begab, allem demjenigen absagte, was man Vergnügungen und Eitelkeiten der Welt nennt, und sich nur mit diesen versteckten Betrachtungen beschäftigte.«714 Wenn Bayle auf Spinozas äußerlichen Theismus (die Formulierung ›Spinozas Religiosität‹ wäre nach dem bisher Dargelegten verfehlt) zu sprechen kommt: »Er hat niemals geschworen, niemals unehrerbiethig von Gott geredet; er hat den Predigten manchmal beygewohnt, und andere ermahnet, fleißig in die Kirche zu gehen«,715 läßt er dennoch keinen Zweifel daran, daß Spinoza in Wahrheit ein von Gott Verlassener sei. Überraschend indes erscheint der (wenig plausible) Grund, den Bayles Wörterbuchartikel für den seelischen Mißstand seines ›Klienten‹ anzuführen weiß: nämlich Spinozas Descartes-Studium, d. h. dessen kritische Rekonstruktion der Principia Philosophiae des Jahres 1663 (deren eigentliche Stoßrichtung Bayle gleichwohl verborgen bleibt): »Er ist auch darinnen, wegen der Natur Gottes, eben so rechtgläubig, als Cartesius selbst: allein man muß wissen, daß er nicht aus Ueberzeugung, so geredet hat.«716 In toto wertet Bayle die Gesamterscheinung Spinoza als Einheit von Leben und Lehre und erkennt in ihr ein Beispiel für die Möglichkeit autonomer Sittlichkeit. Nach Bayle muß Spinoza also nicht als praktischer, wohl aber als theoretischer Atheist verstanden werden, kann ihm doch offenbar Wirkung, welche die Verwendung moderner Mikroskope auf die damaligen Wissenschaftler ausübt, resultieren. – Siehe: Thomas Hobbes: Co XXVII, Art. 1. – Auch Reimarus bezieht sich auf Leeuwenhoecks Forschungen in seiner Abhandlung »Von den besondern Absichten Gottes in dem Thierreiche«. – Siehe: Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Mit einer Einleitung unter Mitarbeit von Michael Emsbach und Winfried Schröder herausgegeben von Günter Gawlick. Band I. Göttingen 1985. V. § 27. 713 Siehe: Pierre Bayle: Spinoza. – In: Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch […]. A.a.O. 261. 714 Siehe: Pierre Bayle: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist. Aus dem Französischen von Gottsched 1741 herausgegebene Übersetzung von Johann Christoph Faber. Einleitung von Rolf Geissler. Leipzig 1975. 390. – Die erste Ausgabe der Pensées diverses sur la comète erscheint am 1. März 1682 in Köln, die zweite im September 1683 in Rotterdam, der Geburtsstadt Bayles. 715 Siehe: Pierre Bayle: Spinoza. – In: Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch […]. A.a.O. 266 (I). 716 Siehe: Pierre Bayle: Spinoza. – In: Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch […]. A.a.O. 261.
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kein sündiger Lebenswandel vorgeworfen werden – ein nach christlicher Maßgabe (so z. B. auch für den Anti-Spinozisten und orthodoxen Pastor der lutherischen Gemeinde Colerus) besonders irritierender Umstand.717 Ähnlich urteilen auch Stolle-Hallmann, die von einem nicht näher identifizierbaren »Sigm. Gottl. Scholtze«, der »als Medicus bey Spinoza in seiner Letzten Krankheit gewest«, erfahren: »Er [Spinoza, H. G.] habe modest und honnett gelebt, und nichts von j Atheismo gegen andre außer irgend seine Freunde merken lassen.«718 Hören wir schließlich Spinoza selbst, der sich zu der Frage nach seinem mutmaßlichen Atheismus in einem Brief an Heinrich Oldenburg wie folgt äußert: »Ich verfasse eben eine Abhandlung über meine Auffassung von der Schrift. Dazu bestimmen mich: 1. die Vorurteile der Theologen; diese Vorurteile hindern ja, wie ich weiß, am meisten die Menschen, ihren Geist der Philosophie zuzuwenden; darum widme ich mich der Aufgabe, sie aufzudecken und sie aus dem Sinne der Klügeren zu entfernen; 2. die Meinung, die das Volk von mir hat, das mich unaufhörlich des Atheismus beschuldigt; ich sehe mich gezwungen, diese Meinung womöglich von mir abzuwehren; 3. die Freiheit, zu philosophieren und zu sagen, was man denkt; diese Freiheit möchte ich auf alle Weise verteidigen, da sie hier bei dem allzugroßen Ansehen und der Frechheit der Prediger auf alle mögliche Weise unterdrückt wird.«719 Daß die Philosophen zu Unrecht des Atheismus bezichtigt würden, wird auch im Tractatus theologico-politicus beklagt.720 2.7 Spinozas politische Umgebung Die in Rijnsburg geknüpften persönlichen Verbindungen sowie die Korrespondenzen mit Gelehrten des In- und Auslands intensiviert Spinoza im Zuge seiner Übersiedelung nach Voorburg (eines damaligen Vororts den Haags) in das Haus des Malers Daniël Harmensz Tydeman721 und seiner Frau Margarita Karels im Jahr Siehe: Mt, 7,16; 7,20. Siehe: Der Bericht der Stolle-Hallmannschen Reisebeschreibung 1704. – In: LD 125 – 148; hier 139. 719 Siehe: Spinoza: 30(1). Brief. An Heinrich Oldenburg. September–Oktober 1665. A.a.O. 141 f. – Siehe ebenso: Baruch de Spinoza: TTP »Praefatio«, S. III. 720 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP II, 16. 721 »In the month of May, 1664, he [Spinoza, H. G.] removed to Voorburg, a village distant one mile from the Hague. There he lived in the ‹Kerklaan,’ in the house of one Daniel Tydeman, an artist, ‹who seems to have held opinions more liberal than those that were generally current in the Reformed Church.’ The author of Müller’s Dutch MS. suggests that it was Tydeman who first introduced Spinoza to the world of art. He may have had lessons in drawing, perhaps even in painting, from this artist. At all events, he seems to have undertaken art studies in a very serious way. He attained some proficiency in portrait-drawing in ink or charcoal. Colerus possessed an album of his portraits, amongst which were those of several distinguished persons, and one of himself, in the costume of a fisherman ‹en chemise,’ carrying a net on his shoulder.« – Siehe: Arthur Bolles Lee: Spinoza: the Man and the Philosopher. – In: Littell’s Living Age. 133, no. 1714 (April 21, 1877). 717
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1663, bevor er 1670 selber nach dem Haag zu der Witwe van der Werven an die Stille Veerkade zieht.722 Im selben Jahr schließt van den Enden seine Lateinschule und siedelt nach Paris über. Tydeman, obgleich reformierten Glaubens, ist den Kollegianten zugeneigt. Es ist davon auszugehen, daß Spinoza dort Bekanntschaft macht mit dem in Dordrecht gebürtigen Cartesianer Johan de Witt (auch Jan de Witt, 1625 – 1672), seit 1650 Pensionär seiner Vaterstadt. De Witt sollte eine in dieser Zeit zentrale Figur für die Politik der Niederlande werden. 1653 wird er nach Adriaen Pauws723 (geb. 1585) Tod dessen Nachfolger, d. h. Ratspensionär724 im Haag. Mit 28 Jahren ist de Witt der einflußreichste Politiker der Republik, quasi Staatskanzler. Er umgibt sich mit einem Kreis von Historikern und Staatstheoretikern. Es kann jedoch keine Rede davon sein, daß in diesen auch Spinoza eingeführt wird.725 Carl Gebhardts These, Spinozas Tractatus theologico-politicus sei – zumindest teilweise – als Engagement für de Witts liberale Politik zu werten,726 ist mit Blick auf dessen Reaktion auf Spinozas Werk kaum haltbar.727 Spinoza nimmt nicht einseitig Partei für den (aristokratisch ausgerichteten) RepublikanisSiehe: Jarig Jelles über Spinoza. Aus dem Vorwort der nachgelassenen Schriften. – In: LD 9 – 18; hier 11. 723 1613 wird Adriaen Pauw, Sohn eines Amsterdamer Bürgermeisters, vom englischen König Jakob I. (1566 – 1625) geadelt. Bereits seit 1611 ist er Pensionär der Stadt Amsterdam, ab 1627 dann Rat- und Rechenmeister der niederländischen Provinzen Holland und Westfriesland. In diplomatischer Mission ist er seit 1618 in Europa unterwegs, 1634 schließt er u. a. das Staatsbündnis, das den Eintritt Frankreichs gegen Spanien in den Dreißigjährigen Krieg regelt. Zwischen 1631 und 1636 ist Pauw der Regierungschef der Niederländischen Republik (Ratspensionär). 1643 nimmt er als Deputierter für Holland an den Verhandlungen um den Westfälischen Frieden in Münster teil, wo er als wichtigster Gesandter aus den Niederlanden agiert. Auf Gerard ter Borchs d. J. (auch Terborch, um 1617 – 1681) Gemälde Einzug des Gesandten Adriaen Pauw in Münster sieht man ihn mit seiner Gattin und Enkelin in einer sechsspännigen Kutsche mit drei Vorreitern. Ab 1651 wird Pauw erneut Ratspensionär. Nach seinem Tod im Jahr 1653 wird seine ca. 16.000 Bände umfassende Privatbibliothek, die Bibliotheca Heemstediana, versteigert. Ein kleiner Teil der Sammlung findet Eingang in die Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel. 724 »Ratspensionär« (niederl. Raadspensionaris; im Deutschen fälschlich manchmal auch »Großpensionär«) heißt der Staatssekretär Hollands und Westfrieslands zur Zeit der Republik der Vereinigten Niederlande, der als besoldeter Beamter zwar nicht den Regenten angehört, tatsächlich aber nicht nur die Geschäfte seiner Provinz, sondern in Folge des Übergewichts Hollands diejenigen der gesamten Republik leitet und besonders die auswärtige Politik lenkt. Bedeutende Ratspensionäre in der Blütezeit der Niederlande sind Johan von Oldenbarnevelt (1547 – 1619), Jacob Cats (1577 – 1660), Gaspar Fagel (1634 – 1688), Anthonie Heinsius (1641 – 1720) und Simon van Slingelandt (1664 – 1737). – Bereits während der Herrschaft der Herzöge des Hauses Burgund ist »Pensionär« der Titel des Stadtschreibers und -juristen. Unter Kaiser Karl V. (1500 – 1558) wird auch ein Landesschreiber (Landesadvokat) instituiert, mit dem alten Namen »Ratspensionär«. 725 Unter Berufung auf Lucas vertritt diese Ansicht noch: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 407. – Siehe dagegen: LD Dok. 63 und 64. 726 Siehe: Carl Gebhardt: Einleitung zum Theologisch-politischen Traktat. Hamburg 1908/ 1955. IX. – Auch Freudenthal folgt ihm darin noch. – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 157. 727 Siehe: LD Dok. 63. 722
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mus de Witts, sondern verteidigt die bereits erwähnten Anmaßungen und »Vorurteile der Theologen« – d. h. einer gesellschaftlichen Minorität – gegen das geistige Leben als solches: die Denk- und Glaubensfreiheit. Damit steht er als Autor einer sich solcher theologie-politischer Thematik widmenden Schrift über den Parteien. Zweifelsohne jedoch vermag de Witt als Gegner geistlicher Unduldsamkeiten bis zuletzt strenge Maßregeln von seiten der kirchlichen Behörden Hollands gegen den Autor des Tractatus theologico-politicus einzudämmen. Nachdem das Heer Ludwigs XIV. 1672 die Niederlande überfällt,728 muß Jan de Witt seine Ämter niederlegen. Auch der Posten des niederländischen Statthalters wird mit Prinz Wilhelm III. von Oranien-Nassau, dem späteren König von England (ab 1689), Schottland und Irland, neu besetzt.729 Nicht ungenannt bleiben darf in diesem Zusammenhang Johan van Waveren Hudde, einer der wirkungsmächtigsten Bürgermeister der Amsterdamer Stadtgeschichte (von 1672 bis 1704). Hudde ist eine der politischen Führungspersönlichkeiten in Spinozas Bekannten- und Korrespondentenkreis; man führt eine anspruchsvolle Korrespondenz vorwiegend über das Wesen und die Natur Gottes.730 »Mit ihm teilt Spinoza das Interesse an der Optik, den Grund für die Vermittlung des Kontaktes durch Christian Huygens. Über Hudde knüpft Spinoza Beziehungen zu den Regentenkreisen und verfaßt unter diesem Eindruck seine staatstheoretischen Schriften.«731 Hudde setzt sich auch nach dem brutalen, durch Anhänger des Hauses Oranien am 20. August 1672 verübten Lynchmord der Brüder Corneli [u]s und Jan de Witt – verwundet überlebt Jan bereits im Juni d. J. einen ersten Mordanschlag – für Spinoza ein. De Vries bemerkt hierzu: »Man sagt, daß der Statthalter nichts von dem Drama wußte. Wilhelm III. war zur Zeit der Mordtat im Feld, bei der Armee. Er hat nur später die Mörder belohnt. Sie hatten ihm den konsequentesten Gegner aus dem Weg geräumt und diesem Kränkung und Herabsetzung seiner Jugend heimgezahlt. Der Herr selbst hatte Rache genommen, so ertönte es auf den niederländischen reformierten Kanzeln: das Oraniervolk hatte endlich seinen lang ersehnten ›Richter‹ bekommen.«732 Spinozas einstmalige Grundüberzeugung, daß, würden erst einmal die theologischen Vorurteile aufgedeckt, fielen die politischen von selbst, ist durch dieses Ereignis stark erschüttert worden.
Siehe: LD Dok. 67. Zu Wilhelm III. siehe auch Kapitel 2.1 des 2. Abschnitts dieses III. Teils. 730 Siehe: Baruch de Spinoza: B 34.–36. Januar–Juni 1666. 731 Siehe: LD 146, Erl. 30. 732 Siehe: Theun de Vries: S 127. – Spinoza frustriert die Bluttat stark. Er hat vor, nahe dem Ort des frevlerischen Verbrechens ein Plakat mit der Aufschrift »Ultimi barbarorum!« anzubringen, wird jedoch von seinem Hauswirt van der Spijck daran gehindert: Dieser verschließt die Haustüren, »denn er würde sich der Gefahr ausgesetzt haben, zerrissen zu werden.« – Siehe: LD Dok. 64. 728
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2.8 Spinozas wissenschaftliche Attraktivität: Leibniz’ Interesse Spätestens 1669 wird Leibniz mit Spinozas Descartes-Buch bekannt. Den Tractatus theologico-politicus studiert Leibniz bereits unmittelbar nach seiner Veröffentlichung, identifiziert den anonymen Autor aber nicht. Leibniz’ Urteil über das Werk fällt recht zurückhaltend aus.733 Das hindert ihn jedoch nicht daran, nach Möglichkeiten eines wissenschaftlichen Austauschs mit Spinoza zu suchen, als er 1671 erfährt, aus wessen Feder das anonyme Werk stammt. Ein Jahr früher schon ist er bemüht, auch mit dem »Atheisten Hobbes« in brieflichen Austausch zu treten. Im Auftrag des Mainzer Kurfürsten Emmerich Josef Freiherr von Breidbach zu Bürresheim (1707 – 1774)734 reist Leibniz 1672 im diplomatischen Dienst nach Paris, wo er, mit kurzen Unterbrechungen bis 1676 bleibt. 1675 führen dort seine wissenschaftlichen Interessen zu der Bekanntschaft mit Tschirnhaus.735 Dieser, von Spinoza bereits in den Kreis seiner engeren wissenschaftlichen Diskussionspartner aufgenommen, macht Leibniz mit einigen Aspekten der Spinozanischen Metaphysik vertraut. Leibniz wünscht sodann eine Abschrift der Ethica, die Tschirnhaus besitzt, zu erhalten. Seinen Freunden hat Spinoza jedoch seine Ethica unter der Bedingung übergeben, daß sie ohne seine Erlaubnis nicht weiter verbreitet werde. Sie jetzt Leibniz zusenden zu dürfen, erbittet Tschirnhaus von Spinoza durch Vermittlung des mit der Alchemie befaßten Doktors der Medizin Georg Hermann Schuller (1651 – 1697736), der Spinoza schon früher zur Überlassung von Abschriften In seinen für die Öffentlichkeit bestimmten Äußerungen bemüht sich Leibniz im Gegensatz zu Spinoza, möglichst nicht mit den gegenwärtigen religiösen und theologischen Anschauungen in Konflikt zu geraten. Dagegen bricht Spinozas Substanzontologie mit wesentlichen dogmatischen Voraussetzungen des Judentums und Christentums. Spinozas Ansicht, die positive Religion sei moralphilosophisch zugänglich, muß Leibniz zurückweisen. 734 Emmerich Josef Freiherr von Breidbach zu Bürresheim ist der bedeutendste Mainzer Kurfürst (1763 – 1774) des 18. Jahrhunderts. Unter seiner Herrschaft werden die Prinzipien der Aufklärung in vielen Bereichen konsequent umgesetzt. Als Kurfürst (princeps elector imperii oder elector) gehört er noch zu der begrenzten Zahl jener Reichsfürsten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die das Kurfürstenkollegium bilden und denen seit dem 13. Jahrhundert das alleinige Recht zur Wahl (mhd. = kur oder kure, siehe nhd. küren) des Römischen Königs zusteht. Mit diesem Königstitel ist traditionell die Anwartschaft auf das römisch-deutsche Kaisertum verbunden. 735 Tschirnhaus tritt, als 1668 der Krieg zwischen Frankreich und den vereinigten Regierungen Englands, Schwedens und den Niederlanden ausbricht, als Freiwilliger in das holländische Heer ein, verläßt es jedoch nach anderthalb Jahren wieder, um sich aufwändigen wissenschaftlichen Studien (Chemie, Didaktik, Mathematik, Mineralogie, Philosophie, Physik, Technik sowie Vulkanologie) zu widmen; u. a. studiert er die Schriften Descartes’. 1674 lernt er in Amsterdam Schuller kennen. Durch diesen ermuntert, tritt er in brieflichen Verkehr mit Spinoza. Fünf seiner Briefe an Spinoza und vier Briefe Spinozas an Tschirnhaus aus den Jahren 1674 – 1676 sind erhalten. Schuller ist es auch, der Tschirnhaus’ unter Freunden zirkulierende Abschriften der Werke Spinozas zugänglich macht. Gegen Ende des Jahres 1674 lernt Tschirnhaus Spinoza persönlich kennen. 736 Freudenthal nennt fälschlicherweise 1679 als das Todesjahr Schullers. – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 268. 733
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»meiner Schriften« für Leibniz bewegen will.737 Doch Spinoza verwehrt Leibniz diesen Wunsch, kann er doch die Pariser Reise des kurfürstlichen Rates an den Hof eines kriegslustigen Königs, der die Niederlande in der jüngsten Vergangenheit an den Rand ihres Verderbens gedrängt hat, nicht als sonderlich vertrauenswürdig werten. Spinoza möchte zunächst Genaueres über Leibniz’ politische Beweggründe und wissenschaftliche Ziele erfahren, bevor er ihn in das Zentrum seiner Philosophie, die Metaphysik, einweiht. Dagegen hat er offensichtlich keine Schwierigkeiten damit, sich gegenüber Leibniz als Verfasser des Tractatus theologico-politicus zu erkennen zu geben. Es ist anzunehmen, daß Spinozas Absage in Leibniz den Wunsch nach einem persönlichen Zusammentreffen reifen läßt: Vielleicht könne er selbst von Spinoza dasjenige erlangen, was er sich durch Vermittlung der Freunde Spinozas nicht hat verschaffen können. Aber erst zwischen dem 18. und 28. November 1676, als Leibniz über Holland in die Heimat unterwegs ist, kommt es zu mehrmaligen Besuchen des 14 Jahre jüngeren Leibniz bei dem von seiner Krankheit bereits schwer gezeichneten Spinoza, vier Monate vor dessen Tod. Man tauscht sich nicht über religionskritische Fragen aus, sondern führt »mehrere lange Gespräche über [Spinozas, H. G.] ›Ethik‹, Descartes’ Bewegungstheorie, die characteristica universalis und das Gottesproblem«; Leibniz legt Spinoza auch den Text Quod Ens perfectissimum existit, »für Spinoza in seiner Gegenwart geschrieben«, zur Prüfung vor; zudem ist Spinozas Briefwechsel mit Oldenburg Thema.738 Es geht also auch um das Zentralproblem ihrer beider Metaphysik und Naturtheologie, sprich das Verhältnis von Geist und Körper, welches Leibniz bekanntlich bald in Gestalt seines Systems der prästabilierten Harmonie anders zu lösen sucht als Spinozas den identitätsphilosophischen Standpunkt begründender Parallelismus. Erst bei ihrer persönlichen Zusammenkunft also gewährt Spinoza Leibniz Einblick in ausgewählte Partien des Manuskripts der Ethica. Später freilich versucht der Staatsmann Leibniz, seinen Besuch bei Spinoza zu vertuschen, steht er doch in Diensten seines Vaterlands. Sein Interesse für Spinozas Philosophie bleibt jedoch bestehen. Eine öffentliche Berufung auf Spinoza, der sich spätestens seit 1675 dauerhafter Observanz von klerikaler Seite ausgesetzt sieht,739 hält Schuller jedoch selbst in seiner Korrespondenz mit Leibniz für zu gefährlich, so daß er lediglich unter Angabe von dessen Initialen auf ihn Bezug nimmt.740 Erst nach Spinozas Tod kann Leibniz beginnen, Spinozas Siehe: Baruch de Spinoza: B 72. An. G. H. Schuller. ’s Gravenhage, am 18. November 1675. – Siehe auch: LD Dok. 76. 738 Siehe: Leben und Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Chronik. Bearbeitet von Kurt Müller und Gisela Krönert. Frankfurt a. M. 1969. 46. (Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs. Herausgegeben von der Niedersächsischen Landesbibliothek. 2) 739 Siehe: LD Dok. 71. 740 Seit seiner Rijnsburger Zeit setzt Spinoza als Briefsiegel unter seine Inititalen »BDS« den Wahlspruch »Caute«, und zwar oval angeordnet um das Emblem einer Rose mit scharfen Dornen (espinosas), so daß sub rosa – im Zeichen der Verschwiegenheit – geschrieben ist, was er damit siegelt. Zudem soll die Rose Spinoza auch zur Gesundheit gereichen, gewinnt er doch nach einem 737
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Philosophie eingehend zu studieren, verfügt er doch jetzt über die Opera posthuma.741
3. Kapitel: Metaphysik als Ethik 3.1 Zur Funktion von Spinozas Affektenlehre Der Naturrechtslehrer Spinoza weiß, daß der Mensch in seinem Handeln nicht ausnahmslos von der Vernunft geleitet wird, sondern in ein komplexes Geflecht von Affekten eingebunden ist – eine Wesensart, die jeder denkbaren höchsten Gewalt widerstehe.742 Dabei sei der Trieb nach Selbsterhaltung das treibende Moment.743 Das dritte Buch der Ethica, ein Fanal für natürliche Erkenntnis744 und Erkenntnis des Natürlichen, ist der Herkunft und der Natur der Leidenschaften (»affectiones«) gewidmet. Es kann als Auftakt von Spinozas Auseinandersetzung mit Descartes’ Schrift Les passions de l’âme (1649) verstanden werden; die eigentliche Kontroverse mit diesem Werk wird allerdings erst im fünften Buch der Ethica geführt.745 Descartes behauptet, die Überwindung von Leidenschaften und Affekten – eine diskutable Unterscheidung dieser Begriffe wird nicht vorgenommen – werde durch die Freiheit des Individualwillens ermöglicht. Die Cartesianische Affektenlehre resümiert Spinoza wie folgt: »Da wir […] mit jedem Willen eine jede Bewegung der Drüse [der Zirbeldrüse,746 H. G.] und folglich der Lebensgeister verbinden können, und die Bestimmung des Willens blos von unserer Gewalt abRezept seines Freundes Dr. med. Adriaan Koerbaghs (1632 – 1669; Pseudonym Vreederijk Waarmond), der unter menschenunwürdigen Verhältnissen im Herbst 1669 in einem Amsterdamer Kerker stirbt, aus ihren Blütenblättern die Medizin, die er gegen seinen von der Mutter ererbten Husten (Lungentuberkulose), der ihn wohl seit den 50er Jahren heimsucht, nimmt. Spinoza selbst gibt erstmals 1665 Nachricht von seiner Erkrankung. 741 Unter Hinzuziehung der einschlägigen Korrespondenzen behandelt das Verhältnis Spinoza – Tschirnhaus – Leibniz ausführlich: Detlev Pätzold: Spinoza – Aufklärung – Idealismus. Die Substanz der Moderne. Zweite, erweiterte Auflage Assen 2002. 3. Kapitel. 742 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 225. 743 Diese Überzeugung vertritt Spinoza bis zuletzt. – Siehe: Baruch de Spinoza: TP § 5. 744 Spinoza zieht in Betracht, daß die aus Grundsätzen und Begriffen (»principiis und notionibus«) sich konstituierende »cognitio naturalis« bei den Menschen keine besondere Anerkennung genieße, und zwar insbesondere nicht bei den Hebräern des alten Reiches, »die sich über alle Menschen erhaben dünkten und die geradezu alle und damit auch das allen gemeinsame Wissen zu verachten pflegten.« – Baruch de Spinoza: TTP I, 13 f. 745 Siehe besonders: Baruch de Spinoza: E V, Præfatio. 746 Für die Zirbeldrüse existieren mehrere synonyme Bezeichnungen: Epiphyse oder Epiphysis (cerebri) (griechisch-klinisch: epTfwsj, wörtlich »Auf-Wuchs«, das »aufsitzende Gewächs« mit dem lateinischen Zusatz cerebri, »des Gehirns«, da auch die Knochenenden der langen Röhrenknochen als Epiphysen bezeichnet werden); das Corpus pineale (lateinisch-anatomisch: der »[zapfenförmige] Pinienkörper«); die Glandula pinealis (lateinisch-anatomisch: die »Piniendrüse«); und das Pinealorgan. Spinoza bezieht sich wie Descartes auf die Glandula pinealis.
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hängt [»à solâ nostrâ potestate pendet«], so werden wir, wenn wir nur unsern Willen durch sichere und feste Urtheile bestimmen, nach denen wir die Handlungen unseres Lebens leiten wollen, und die Bewegungen der Leidenschaften, die wir haben wollen (»et motûs passionum, quas habere volumus«), mit diesen Urtheilen in Verbindung bringen, eine unumschränkte Herrschaft über unsere Leidenschaften erlangen.«747 Bereits mit der in der Ethica vertretenen Grundthese, Gott (oder die Natur) an die Gesetze der Natur gebunden zu sehen, optiert Spinoza gegen Descartes’ Voluntarismus.748 Unter Wille (»voluntas«) versteht Spinoza ein exklusiv auf den Geist bezogenes Selbsterhaltungsstreben (»conatus in suo esse perservandi«), für das er bei italienischen Naturphilosophen Vorbilder gefunden habe.749 »Conatus« resp. »appetitus« (Spinozas Terminus für »Trieb«) stehen beide für eine auf Körper und Geist zugleich bezogene Form der Selbsterhaltung, während »Begierde« (»cupiditas«) einen bewußtseinsbegleiteten Trieb bezeichnet, ein Wesensmoment des Menschen selbst, sofern sie als durch eine gegebene Affektion zur Tätigkeit determiniert begriffen wird. Eine besondere Wirkungsweise des Willens betrifft freilich die Spinozanische Gemeinschaftsidee i. S. der demokraktischen Republik: »Unter Seelenstärke [»animositas«] verstehe ich die Begierde, zufolge deren ein Jeder strebt, sein Seyn nach dem blossen Gebote der Vernunft zu erhalten. Unter Edelmuth [»generositas«] aber verstehe ich die Begierde, der zufolge Jeder strebt, nach dem blossen Gebote der Vernunft die übrigen Menschen zu unterstützen und sich durch Freundschaft zu verbinden.«750 Eine wissenschaftliche Erklärungsnot in Gestalt der Zuflucht zum »Willen Gottes« nennt Spinoza konsequent das »Asyl [Otto Baensch751 übersetzt: die Freistatt] der Unwissenheit [»ignorantiæ asylum«]«.752 Daher kündigt Spinoza in seiner Affektenlehre an, er werde »die menschlichen Handlungen und Triebe eben so betrachten, als wenn von Linien, Flächen oder Körpern«753 gehandelt würde – eine Ansage, die eine frappierende Ähnlichkeit aufweist zu Hobbes’ Klagen, daß »wenn die Verhältnisse der menschlichen Handlungen mit der gleichen Gewißheit erkannt worden wären, wie es mit den Größenverhältnissen der Figuren geschehen ist, so würden Ehrgeiz und Habgier gefahrlos werden, da ihre Macht sich nur auf die falschen Ansichten der Menge über Recht und Unrecht stützt […].«754 SpinoSiehe: Baruch de Spinoza: E V, Præfatio. 235. Zu Descartes’ These, der Wille reiche vermögenslogisch weiter als der Verstand, siehe: Meditatio IV. 749 Siehe: Theun de Vries: S 158. 750 Siehe: Baruch de Spinoza: E III, Prop. LIX., Scholium. 751 Siehe: Benedict de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Otto Baensch. Einleitung von Rudolf Schottlaender. Hamburg 1955. 44. 752 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Appendix. 753 Siehe: Baruch de Spinoza: E III, Vorbemerkung. 754 Siehe: Thomas Hobbes: C »Widmung an Se. Exz. den Grafen Wilhelm von Devonshire, meinen hochzuverehrenden Herrn.« 61. 747
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zas Definition des Affektes i. S. einer von Bewußtsein (einer Vorstellung [»affectio«]) begleiteten Zustandsveränderung des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen dieses Körpers, Wirksamkeit auszuüben, entweder vermehrt oder vermindert werde,755 ist eindeutig dem Zuständigkeitsbereich vernunftgemäßen Erkennens zugeordnet. Spinoza weiter: »Viele, die über die Affecte und die Lebensweise der Menschen geschrieben haben, scheinen nicht von natürlichen Dingen [»rebus naturalibus«], welche den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen [»quæ communes naturæ leges sequuntur«], zu reden, sondern von Dingen, welche ausserhalb der Natur [»extra naturam«] liegen. Ja, sie scheinen den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staate [»veluti imperium in imperio«] zu fassen. Denn sie glauben, dass der Mensch die Ordnung der Natur mehr störe [»naturæ ordinem magis perturbare«] als befolge, und dass er eine unumschränkte Macht in Bezug auf seine Handlungen habe [»in suas actiones absolutam habere potentiam«] und anders nicht, als von sich selber, bestimmt [»à se ipso determinari«] werde.«756 Die Neuartigkeit seiner Affektenlehre ist Spinoza durchaus bewußt. Er schreibt: »Die Natur und die Kräfte der Affecte aber, und was seinerseits der Geist, um sie zu mässigen, vermöge, das hat, so viel ich weiss, Niemand bestimmt.«757 Auch dieser Teil seines Systems ist am mos geometricus758 ausgerichtet. De Vries: »Jede Verirrung, jede undeutliche Vorstellung oder Leidenschaft ist somit die Folge unvollständiger Erkenntnis. Jede Erkenntnis ist ein tieferes Erfassen unserer Stellung in der Realität und unseres Wachstums zur Vollkommenheit.«759 Wissen ist von eminent praktischem Wert. Zu beachten ist, daß Spinoza (im Unterschied zu Siehe: Baruch de Spinoza: E II, Definitio III. Siehe: Baruch de Spinoza: E III, Vorbemerkung. 757 Siehe: Ibid. 758 Spinozas Präferenz für diesen methodischen Zugriff, dessen er sich auch schon in seiner ersten Publikation bedient, treibt bemerkenswerte Blüten. So berichtet Jarig Jelles: »Er hatte immer im Sinne, eine hebräische Grammatik nach geometrischer Methode bewiesen herauszugeben […].« – Siehe: Jarig Jelles über Spinoza. Aus dem Vorwort der nachgelassenen Schriften. – In: LD 9 – 18; hier 14. – Freilich bezeugt Spinozas offenbar nie gänzlich versiegtes Interesse am Hebräischen, das nicht zuletzt im Tractatus theologico-politicus zum Ausdruck kommt durch Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache und Geschichte, seine Treue zu seiner sprachlichen und damit geistigen bzw. religiösen Herkunft. Die Fertigstellung der genannten Grammatik ist nicht das einzige Projekt, das durch Spinozas Tod verhindert wird, hat er doch als Ergänzung zur Ethica zudem eine Naturphilosophie und ebenso eine leicht faßliche Algebra auszuarbeiten geplant. Colerus weiter: »Außerdem hat er eine Übersetzung des Alten Testaments ins Holländische begonnen, über die er sich oft mit sprachkundigen Männern besprach und wobei er sich nach der Auslegung der Christen in Betreff dieser oder jener Stelle erkundigte. Die fünf Bücher Mosis waren längst vollendet, doch wenige Tage vor seinem Ableben hat er sie auf seinem Zimmer verbrannt.« – Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 102. – Daß Spinoza aus großen Teilen der Bibel frei zu zitieren weiß, ist bezeugt; »daß ich die Heilige Schrift nicht verstehe, obschon ich mich eine Reihe von Jahren mit ihr beschäftigt habe«, liegt an den Widersprüchen, die er schon früh in ihr ausfindig macht. – Siehe: Spinoza: 21. Brief. An Willem van den Blyenbergh. Schiedam, 28. Januar 1665. A.a.O. 105. 759 Siehe: Theun de Vries: S 158. 755
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vielen Wissenschaftlern seiner Zeit) keinesfalls dafür optiert, die Leidenschaften zu unterdrücken (»affectus comprimere«); er möchte vielmehr eine Anleitung an die Hand geben, Einsicht zu gewinnen in die Funktionsweise deren komplexen Wirkungsgeflechts. Der ordo geometricus der Ethica, sprich die wechselseitigen immanenten Übergriffe unterschiedlicher Satztypen von ihrerseits wiederum differierender veritativer Dignität, zeigt an, daß Spinoza Descartes insofern recht gibt, daß die verläßliche Methode der Mathematik760 auch in der Sphäre des menschlichen Geistes, d. h. der Philosophie zur Anwendung kommen müsse. Spinoza entlarvt diese wissenschaftstheoretische Forderung jedoch als Notwendigkeit der Explikation einer neuartigen Metaphysik: nämlich einer kausaldeterministisch organisierten Ethik. Wenn aber, so Spinoza, auch das menschliche Leben als den Gesetzen der Natur unterworfen begriffen werden müsse, müßten Empfindungen und Gefühle, ja Leidenschaften im weitesten Sinne zukünftig anders verstanden werden, nämlich nicht mehr als hinderlich zur Erlangung des Glücks, der ataraxia. 3.2 Wertelehre und spekulativ-metaphysischer Utilitarismus Unter »gut« begreift Spinoza etwas, von dem mit Sicherheit gesagt werden kann, daß es von Nutzen sei; unter »schlecht« demgemäß etwas, von dem feststeht, es stelle ein Hindernis dar, eines Guten teilhaftig zu werden. Wolfgang Röd unterstreicht zu Recht, daß Spinoza keinem empirischen, sondern einem metaphysischen Utilitarismus das Wort rede: Als nützlich gelte, was die Verwirklichung des Ideals adäquater Erkenntnis bzw. vollkommener Gottesliebe befördere;761 darüber hinaus werde das Streben nach Eigennutz keinesfalls als gottlose Tat diskreditiert, sondern sei im Gegenteil notwendiger Bestandteil einer Ethik, »deren zentrale Idee der Amor Dei ist.«762 Dieses Zentrum Spinozanischer Philosophie: die geistige Liebe zum / des erhabenen und höchsten Wesen(s) (»amor dei intellectualis«), führt nicht unbedingt dahin, daß dem menschlichen Miteinander ein lediglich sekundärer Status eingeräumt wird; gleichwohl ist Spinozas Naturrechtslehre auf eine Sicherung, ja Erweiterung des individuellen Machtbereichs (»potentia«) hin ausgerichtet. Einzig das menschliche Individuum ist durch Modifikationen zweier (in sich unendlicher) Attribute der einen Substanz konstituiert: Wie der Körper ein Modus der Substanz unter dem Attribut der Ausdehnung ist, so ist das Bewußtsein Modus der Substanz unter dem Attribut des Denkens. »Mathematik […] soll Spinoza, wie Thomas Crenius im Jahre 1703 berichtet, bei einem Italiener erlernt haben, dessen Name nicht angegeben wird.« – Siehe: Jacob Freudenthal: SL 43. 761 Siehe: Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 1. A.a.O. 200 f. 762 Siehe: Ibid. 200 f. – Wer Macht über seine Seele habe, so Spinoza, werde lernen, sie immer besser auf die Idee Gottes oder der Natur auszurichten. Dementsprechend setzt die Ethica ein mit dem (ontologischen) Gottesbeweis und endet mit Spinozas Gottesverherrlichung. 760
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Im Unterschied zu herkömmlichen Apologeten einer vernünftigen Moral berufe sich Spinoza, so Röd, auf eine Konzeption von Vernunftgeboten, die »das Handeln unter der Leitung der Vernunft zum Zweck der Selbsterhaltung und der Selbstverwirklichung« ermöglich sollen. Anders als geläufige Lehrformen der Moral, welche die Vernunft befähigt sehen, »eine objektive Wertordnung zu erfassen und deren Wesen in Form von Normen zu artikulieren«, sieht Spinoza das Streben des einzelnen, sein eigenes Dasein zu erhalten (»conatus sese conservandi«), mit dem höchsten natürlichen Recht (»summo naturae jure«) ausgezeichnet. Moralische Unterscheidungskriterien zwecks Beurteilung, ob die in der Ethica beschlossenen Möglichkeiten (insbesondere Freiheit und Vernünftigkeit) realisiert oder verfehlt werden, ergeben sich nach Spinoza freilich nicht. Röd: »Da von moralisch richtigen und verfehlten Handlungen nur unter der Voraussetzung von Normen gesprochen werden kann, Spinoza aber wegen seiner Leugnung eines objektiven Sollens Natur- oder Vernunftgesetze im normativen Sinne für unmöglich erklärte, muß die von ihm vorgenommene wertende Differenzierung auf stillschweigend akzeptierten Normen beruhen. Tatsächlich hat Spinoza in den Begriff der menschlichen Natur das Moment der Normativität aufgenommen, indem er ihn als etwas auffaßte, das verwirklicht werden soll. Nur unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll, von einem Ideal (exemplar) der menschlichen Natur zu reden und es im Sinne größtmöglicher Rationalität und damit Freiheit zu charakterisieren.«763 »Frei« heißt ein Wesen, wenn es in seinem Wirken ausschließlich der Notwendigkeit, d. h. den Gesetzen seiner eigenen Natur (oder Gott) folgt:764 Gott oder die Naturgesetze ist der erste und letzte Bestimmungsgrund, d. h. die innere Ursache des Seienden; keine äußerlichen, sondern ausschließlich immanente Ursachen sind hier leitend, denn Gottes Wirken entspricht den Naturgesetzen – und nur ihnen. Damit ist Gottes Wesen aber keiner naturhaften, sprich notwendigen Beschränkung ausgesetzt, sondern einzig Gott begriffen als causa sui vermag im Vollsinn der Freiheit zu handeln, d. h. nur Gott oder die Natur bieten sich in freier, d. h. dem Zufälligen enthobener Entfaltung dar. An Schuller schreibt Spinoza einmal: »Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in den freien Willen, sondern in die freie 763 Siehe: Ibid. 200 f. – Seine Entdeckung der vermeintlichen Immoralität der Philosophie Spinozas veranlaßt bekanntlich Friedrich Nietzsche, einen Brief an Franz Overbeck (datiert vom 30. Juli 1881) wie folgt zu eröffnen: »Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen –, in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Kultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Atemnot machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich!« – Siehe: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Dritter Band. Herausgegeben von Karl Schlechta. 2., durchgesehene Auflage München 1960. 1171 f. 764 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. XVII.
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Notwendigkeit setze.«765 Gott ist »causa efficiens« »omnium rerum, quae sub intellectum infinitum cadere possunt«,766 und zwar derart, daß »ex data natura divina, tam rerum essentia quam existentia debeat necessario concludi […].«767 3.3 Anti-Teleologie und Kausaldeterminismus Die Verwendung teleologischer Begriffe verbietet sich nach Spinoza nicht nur gemäß den Voraussetzungen, auf denen seine eigene Metaphysik ruht,768 sondern v. a. auf Grund eines von ihm grundsätzlich attackierten anthropomorphen Gepräges von Metaphysik. Röd führt aus: »Die teleologische Naturbetrachtung beruht seiner Ansicht nach auf der ungerechtfertigten Übertragung von Handlungsstrukturen, für die die Zweck-Mittel-Relation wesentlich ist, auf die Wirklichkeit insgesamt bzw. auf Gott als den Grund der Wirklichkeit, dem im Rahmen der kritisierten Denkweise ein Handeln nach Zwecken zugeschrieben wird. Spinozas Analyse der teleologischen Naturkonzeption kann als frühe Form der Ideologiekritik angesehen werden.«769 Begriffe wie ›zweckmäßig‹, ›schön‹, ›geordnet‹ oder ›gut‹ betreffen nach Spinoza kein reales Naturverhältnis, sondern sind Ausdruck eines geistigen Wirklichkeitsbezugs.770 Die wachsende Einsicht in die Erkenntnis dessen, was Körper Siehe: Baruch de Spinoza: B 58. An Georg Hermann Schuller. Im Herbst 1674. Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. XVI plus Corrolarium I. 767 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. XXV, Scholium. 768 Im Inneren der Ethica heißt es: »Der Grund […] oder die Ursache, wesshalb Gott oder die Natur handelt, und wesshalb er da ist, ist ein und dasselbe. Wie er also um keines Zweckes willen da ist, so handelt er auch keines Zweckes wegen; denn wie für sein Daseyn, so hat er auch für sein Handeln keinen Anfangsgrund und keinen Endzweck. Was man aber Zweckursache nennt, ist nichts als der menschliche Trieb selbst […].« – Siehe: Baruch de Baruch de Spinoza: E IV, Vorrede. 769 Siehe: Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 1. A.a.O. 196. – Vgl. hierzu auch: Stephan Schmid: Finalursachen in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung der Transformation teleologischer Erklärungen. A.a.O. 229 – 240. 770 Mit dieser Konzeption hat sich Spinoza mit einem Schlag des Theodizee-Problems entledigt, indem seine Philosophie keine substanzielle Distanz zu Gott zuläßt. Dennoch sind – dieses systematischen Leistungsniveaus nicht ansichtig geworden – bereits früh Klagen über die praktischen Konsequenzen der Philosophie Spinozas angestimmt worden: Die Unbegreiflichkeit von Gott und Welt bleibe trotz des Gedankens ihrer internen Verflechtung bestehen – denn wenn Gott in allem Wirklichen anwesend sei, gelte dies dann nicht auch für Kampfeshandlungen und Naturkatastrophen, für welche die Geschichte nur allzu viele Beispiele bereithalte (z. B. den Dreißigjährigen Krieg, das Erdbeben von Lissabon [1755] oder den Siebenjährigen Krieg)? Ähnlich argumentiert auch Bayle im bereits erwähnten Spinoza-Artikel seines Historischen und kritischen Wörterbuches: »Aber wenn es physisch gesprochen eine gewaltige Absurdität ist, daß ein einfaches und einziges Subjekt zur gleichen Zeit durch die Gedanken aller Menschen modifiziert sein sollte, so ist es eine abscheuliche Widerwärtigkeit, wenn man dies von der Seite der Moral erwägt. Wie nun? Das unendliche Wesen, das notwendige Wesen, das höchst vollkommene Wesen wird nicht unerschütterlich, beständig und unveränderlich sein? Was sage ich unveränderlich? Es wird keinen Augenblick lang dasselbe sein […]. Daß die Menschen einander hassen, daß sie einander meuchlings töten, daß sie sich in Armeen versammeln, um sich gegenseitig umzubringen, daß die Sieger 765
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und Seele in der Ausübung ihrer natürlichen Fähigkeit hemmt oder fördert, erzeugt eine Dynamik, in deren Folge sämtliche (moral-)theologischen Unterscheidungen von ›gut‹ und ›böse‹ entfallen. Spinozas Definitionen lauten demgemäß: »Unter gut verstehe ich das, wovon wir gewiss wissen, dass es uns nützlich sey. […] Unter böse aber das, wovon wir gewiss wissen, dass es uns hindert, irgend eines Guten teilhaftig zu werden.«771 Daraus resultiert Spinozas Tugendkonzept: »Je mehr ein Jeder danach strebt und vermag, das ihm Nützliche zu suchen, d. h. sein Seyn zu erhalten, um so mehr ist er mit Tugend begabt […].«772 Gänzlich unberechtigt wäre hier der Einwurf, Spinoza rede einem hemmungslosen Egoismus das Wort, würde so doch das organologische Prinzip, das Spinozas Philosophie innewohnt, verkannt werden: Was insgesamt als Spinozas Gesellschaftslehre (oder als seine Sozialphilosophie) angesprochen werden könnte, firmiert auch schon innerhalb der Ethica als Theorie einer komplexen Form eines ausgezeichneten Individuums, mithin des Staatskörpers. Mit Spinozas Tugendkonzept einher geht seine Lehre von den aktiven und passiven Affekten, d. h. von »Freude« und »Leid«: Erstere regten das Nutzbringende des Seelenlebens und des Körpers an und förderten die Einsicht in die Vollkommenheit; dagegen stünden passive Leidenschaft verbunden mit inadäquaten Ideen und Vorstellungen jedweder Vervollkommnung entgegen. Steigere die Affektion die psycho-physische Aktivität, sei sie lustvoll (»Liebe«); arbeite sie ihr entgegen, sei sie lustverhindernd (»Haß«). Diese Skala impliziert Vollkommenheitsniveaus einer insgesamt als vollkommen begriffenen Realität:773 Da das Sein oder das Wesen, sprich die Realität Gottes vollkommen und unveränderlich sei, ist in Gott oder der Natur auch die Möglichkeit angelegt, Phänomene als ›böse‹, ›schlecht‹ oder ›schädlich‹ anzusehen. Vollkommenheit wird hier aber nicht nur im ethischen, sondern v. a. im ontologischen Sinne verstanden: Es geht um die Vereinigung sämtlicher realitates in Gott. So wird der Begriff »vollkommen« wertfrei gebraucht und variiert je manchmal die Besiegten auffressen –, das ist verständlich, weil man voraussetzt, daß sie voneinander verschieden sind und das Mein und Dein unter ihnen entgegengesetzte Leidenschaften hervorbringt. Aber daß es Kriege und Schlachten geben sollte, wenn doch die Menschen nur Modifikationen derselben Substanz sind und es folglich nur Gott ist, der handelt, und wenn der numerisch selbe Gott, der sich zu einem Türken modifiziert, sich auch zu einem Ungarn modifiziert – das übersteigt all die Ungeheuerlichkeiten und all die chimärischen Regellosigkeiten der verrücktesten Köpfe, die man jemals in Irrenhäuser eingesperrt hat. […] Deshalb reden nach dem System Spinozas alle diejenigen schlecht und falsch, die sagen ›Die Deutschen haben zehntausend Türken getötet‹, es sei denn, sie meinen ›Der in Deutsche modifizierte Gott hat den in zehntausend Türken modifizierten Gott getötet‹; und so haben alle Sätze, durch die man ausdrückt, was die Menschen einander zufügen, keinen anderen wahren Sinn als diesen: ›Gott haßt sich selbst, er bittet sich selbst um Gnade und schlägt sie aus; er verfolgt sich, er tötet sich, er frißt sich auf, er verleumdet sich, er schickt sich selbst aufs Schafott usw.‹« – Siehe: Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. A.a.O. Artikel Spinoza. Anmerkung (N). 401 f. 771 Siehe: Baruch de Spinoza: E IV, Definitiones 1 et 2. 772 Siehe: Baruch de Spinoza: E IV, Prop. XX. 773 Siehe: Baruch de Spinoza: E II, Def. 6; zum objektiven, sprich attributiven Realitätsgrad siehe auch: E I, Prop. IX.
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nach dem Anteil adäquater Ideen, die der Geist bildet. Der adäquat erkennende Geist ist aktiv, der inadäquat erkennende passiv. Der Zustand des Geistes, dem das Zustandekommen seiner Affekte dunkel bleibt, heißt Leidenschaft (»passio«). Der Geist solle erkennen, daß und wie er ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ des Naturgeschehens sei. Demnach werden die Leidenschaften überwunden durch die Substituierung inadäquater Ideen durch adäquate. Nur so lasse sich das natürliche Geschehen, dem der Mensch unterworfen ist, insgesamt erklären. Einsicht in die Komplexität wechselseitiger Bedingungsverhältnisse komme der Überwindung der Knechtschaft gleich.774 Doch zurück zum Problem der Teleologie. Spinoza begreift das Faktum der Erkenntnis keinesfalls als Selbstzweck, sondern als einen der Wahrheit oder den Gesetzen der Natur verpflichteten Akt im Interesse des Wohles sittlicher Lebensformen. Überhaupt unterstehen die Wissenschaften einem einzigen Endzweck: der Vervollkommnung des Menschen, d. h. einer an der Vernunftmaxime orientierten Form des Existierens. Dabei bedeutet – was bereits aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet worden ist – die ›fromme‹ Hingabe an ein unendliches göttliches Wesen das Substanzielle der Lehre Spinozas. In der einen Substanz konfundieren Wesen, Intellekt und Notwendigkeit. Die (geistige) Liebe zu Gott bezeugt so die höchste Form von Solidarität.775 Gewahr werde man ihr intuitiv, mit dem ›Auge der Seele‹, der Erkenntnis der Ewigkeit. Solche Glückseligkeit ist kein Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Hier findet das begriffliche Wissen eine natürliche Grenze: »[…] und allerdings muss etwas schwierig seyn, was so selten angetroffen wird. Denn wie wäre es möglich, wenn das Heil so leicht zur Hand wäre und ohne grosse Anstrengung gefunden werden könnte, dass es fast von Allen vernachlässigt würde? Aber alles Hohe ist ebenso schwer als selten.«776 Spinozas Lösung im Blick auf eine finale Disposition des Seins besteht also in einem antiteleologischen Gegenentwurf: In Geltung ist ein Kausaldeterminismus, der die psycho-physische Verfaßtheit der menschlichen Realität durchwirkt. SpinoSiehe: Baruch de Spinoza: E IV, Praefatio. Spinozas Affektenlehre beweist nicht nur eine tiefe Vertrautheit mit der menschlichen Natur, sondern stellt darüber hinaus einen antifeudalistischen Akt dar. Wer diese Konzeption als ›anthropologische Utopie‹ interpretiert, behauptet zugleich, daß Spinoza auf eine politische Realität reagiert, als deren Ziel er die Befreiung des Menschen aus sowohl geistiger als auch gesellschaftlicher Knechtschaft ausgibt. Es ist bereits gezeigt worden, daß v. a. in Folge neuartiger naturwissenschaftlicher Kenntnisse über den Menschen das Bedürfnis, ja die Einsicht in die Notwendigkeit entsteht, sein moralisches Wesen und damit einhergehend die Formen seiner Vergesellschaftung neu zu beschreiben. Auch wenn Spinoza römisch-heidnischen Traditionen (insbesondere der Stoa) verpflichtet ist, formuliert seine Ethik im Vergleich zu den Entwürfen eines Platon oder Aristoteles – mit denen er im übrigen kaum vertraut sein dürfte – deutlich bescheidenere Ansprüche. Abseits des Bemühens, die Vielzahl individueller Phänomenen, die in der Ethica thematisch werden, substanzontologisch zu vermitteln, treibt Spinoza letztlich die Frage um, welche Möglichkeiten dem einzelnen gegeben sind, ein gutes und geglücktes Leben zu führen. Insofern versteht Spinoza unter Ethik recht eigentlich ›Lebenskunst‹. 776 Siehe: Baruch de Spinoza: E V, Prop. XLII, Scholium. 774
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zas metaphysische Antiteleologik ist jedoch nicht zuletzt auch als Reaktion eines im Geiste philosophischer Wahrheit frei Gewordenen auf die teleologische Theologie des messianischen Judentums zu deuten. Zudem trifft die deterministische Grundthese seiner Philosophie einen Zentralnerv der zeitgenössischen Naturwissenschaften, obschon Spinoza deren Tendenzen nicht immer zu folgen bereit ist. Noch einmal Röd: »Wissenschaftlichen Erklärungen entsprechen Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen im Sinne transeunter Kausalität, weshalb es gerechtfertigt ist, wissenschaftliche Theorien realistisch zu interpretieren. Da aber die Wirkursächlichkeit nur eine Art von Kausalität ist, kann die Wissenschaft die Wirklichkeit nicht umfassend begreifen, solange sie nicht die metaphysische Auffassung der Tatsachen als ›Wirkungen‹ von Wesensprinzipien und letzten Endes des Wesens der Substanz berücksichtigt, die in den Tatsachen im Sinne immanenter Kausalität wirksam sein soll.«777 Röd scheint hier an Spinozas Propositio XVIII der Ethica zu denken: »Deus est omnium rerum causa immanens; non verò transiens.« Einzig im Immanenz-Prinzip findet sich die Begründung von Normativität. Diese Erkenntnis in sein Leben aufzunehmen ist gleichsam Voraussetzung und Auftakt jedweder Form menschlicher Autonomiebestrebung. Das immanente Wesen Gottes als Ausdruck der dem Menschen faßbaren Wirklichkeit: Dieser zentrale und zugleich vornehmste Gedanke Spinozas bedeutet seinerzeit ein großes, weil vermeintlich ketzerisches Wagnis – und dies nicht allein aus Sicht von Theologen unterschiedlicher Couleur (Spinozas häufigste Gegner, selbst noch nach seinem Tod778). 3.4 Weder Pantheismus noch Cartesianismus Die wie gesehen nur zögerlich einsetzende Rezeption der Spinozanischen Philosophie führt zunächst zu deren pantheistischer Adaption. Dies ist wenig verwunderlich, gibt doch noch Freudenthal in Ansehung der Frage nach frühen Einflüssen Spinozas verschiedentlich Hinweise in diese Richtung: »Von der großen Mehrzahl jüdischer Religionsphilosophen wird Gott als Schöpfer und transzendenter Beweger des Weltalls gedacht. Aus neuplatonischen Kreisen aber sind auch zu ihnen Anschauungen gedrungen, die in geradem Gegensatze zu jener Lehre des Theismus Siehe: Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 1. A.a.O. 197. Selbst solche Nichtigkeiten, daß Spinoza vorzugsweise nachts zu arbeiten beliebt, geraten zum Anlaß übler Nachrede. So findet sich unter Spinozas frühen Biographen beispielsweise die Rede von dessen »Werken der Finsternis« u. ä. Wo aber Finsternis hereinbricht, sind die Gestalten des Teufels sowie deren Beschwörer: die Theologen, nicht fern. So fragt denn auch Johannes Musaeus (1613 – 1681), Professor der Theologie in Jena, »ob unter denen, die der Teufel selbst in großer Zahl gedungen hat, um göttliches und menschliches Recht zu verkehren, wohl jemand zu finden ist, der sich eifriger zu dessen Verderben gezeigt hat als dieser Betrüger [Spinoza, H. G.], der zum Unglück der Kirche und zum Nachteil des Staates geboren ist.« – Siehe: Johannes Colerus: Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza […]. – In: LD 73 – 124; hier 104 f. 777
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stehen. In dem Spinoza wohlbekannten Bibelkommentar ibn Esras erscheint die Gottheit als Eines und Alles, als die das Weltall erfüllende Substanz, als immanente Ursache der Welt. ›Gott ist das Eine, welches Alles ist‹; ›Er ist in Allem und Alles in ihm‹, so lehrt der Mann, den von allen mittelalterlichen Bibelerklärern Spinoza am höchsten stellte. Aber auch in den weitverbreiteten, von philosophischem Geist erfüllten Einheitsgedichten, die an jedem jüdischen Festtage in den Synagogen Deutschlands vorgetragen werden, begegnen wir gleichen Gedanken und Wendungen. ›Du trägst Alles und fühlst Alles, und als Sein des Alls bist du in Allem‹, dies und ähnliches spricht der unbekannte Verfasser jener theologischen Dichtungen aus. Wenn Spinoza je über den Sinn solcher Sätze nachdachte, so wird er schon früh zu Gedanken geführt worden sein, die von dem gewöhnlichen Gottesbegriffe weit ablagen.«779 Doch Spinozas dem XI. Lehrsatz seiner Ethica zu entnehmende Identifikation von höchstem Wesen und Welt, von Gott und Natur gemahnt an die Vorstellung der Alten, daß der Eine Kosmos unerschaffen sei. So sperrt sich das Studium der Ethica gegen eine pantheistische Deutung, d. h. eine Erschöpfung von Gottes Wirklichkeit in Raum und Zeit. Nach Spinoza gehört jede wahre Idee einem System von Begriffen an; dessen Logizität entspreche den Wesensgesetzen der Wirklichkeit, ist somit wahr. Thematisch sind hierbei jedoch keinesfalls willkürliche Denkerzeugnisse, also Nominaldefinitionen, sondern Wesensbegriffe, deren Bedeutung per definitionem realis bestimmt wird. Nach Spinoza vollziehen sich Realdefinitionen geschaffener Dinge genetisch: Sie bestehen in der Anführung der Erzeugungsbedingungen des fraglichen Begriffs (z. B. geometrischer Figuren). Dagegen können Realdefinitionen von Unerschaffenem nicht genetisch gewonnen werden, da der Begriff eines Unerschaffenen das Erzeuger-Prinzip, sprich ein extrinsisches Definiens ausschließt. Unerschaffenes ist demnach aus sich (»per se«) zu begreifen – wie Spinoza es vom Begriff der Substanz, die »causa sui« ist, fordert.780 Dem Prinzip der Schöpfung, wie es geistesgeschichtlich mit den Offenbarungsreligionen – insbesondere mit dem Christentum – an Einfluß gewinnt, wird so eine Absage erteilt.781 Spinozas Lehre, Gott sei (auch) die Welt, kongruiert jedoch keinesfalls 779 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 34 f.; siehe auch: 45 f.; 170. – Freudenthal verweist zudem auf die spätestens im 8. Jahrhundert entstehende Kabbala, die im 13. Jahrhundert zur vollen Ausbildung gelangt und von der auch Morteira und Menasse ben Israel beeinflußt sind. – Spinozas einziges zur Kabbala und ihrer Protektoren überliefertes Diktum spricht für sich: »Auch einige kabbalistische Schwätzer habe ich gelesen und obendrein kennengelernt und mich über ihren Unsinn nicht genug wundern können.« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IX, 121 f. 780 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Definition 3. – Siehe zudem: Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 1. A.a.O. 188 f. – Da, so Spinoza, alles, was existiert, in Gott ist so wie Gott in allem ist (siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. XV), ist ausgeschlossen, daß Gott sich und Welt in einem Akt schöpferischer Freiheit unterschieden habe. 781 Die Figur des Thomas Payne aus Georg Büchners (1813 – 1837) Dantons Tod (1835) folgert daraus, daß sich die Existenz der Welt keinem Schöpfungsakt verdankt, mehr noch die Nicht-Existenz Gottes: »Es gibt keinen Gott, denn: Entweder hat Gott die Welt geschaffen oder nicht. Hat er sie nicht geschaffen, so hat die Welt ihren Grund in sich, und es gibt keinen Gott,
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mit einem Pantheismus, folgt nach Spinoza doch aus Gottes Natur Unendliches auf unendliche Weise,782 wobei die vollständige Dekomposition dieses Beziehungsgeflechts dem Menschen als endlichem Individuum versagt bleibe.783 Dieser erkenntnislogische Rest verhindert eine symmetrische Totalität von Gott und Welt. Besagte Verhältnisbestimmung ließe sich auf folgende Formel bringen: Die Welt ist vollständig in Gott,784 aber Gott äußert sich nicht vollständig in der dem Menschen faßlichen Welt785 – d. h. Spinozas Philosophie ist kein Pantheismus, sondern bestenfalls Panentheismus. Wenn Spinoza aber die Welt in Gott begriffen denkt, erinnert dies an die Rede des Apostels Paulus vor dem Altar des unbekannten Gottes auf dem Athener Areopag (dem Gerichtshof!): »Denn in ihm leben, weben und sind wir […].«786 Spinozas Gedanke, daß in Wahrheit mit Ausnahme der Substanz, da Gott nur dadurch Gott wird, daß er den Grund alles Seins enthält. Nun kann aber Gott die Welt nicht geschaffen haben; denn entweder ist die Schöpfung ewig wie Gott, oder sie hat einen Anfang. Ist letzteres der Fall, so muß Gott sie zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen haben, Gott muß also, nachdem er eine Ewigkeit geruht, einmal tätig geworden sein, muß also einmal eine Veränderung in sich erlitten haben, die den Begriff Zeit auf ihn anwenden läßt, was beides gegen das Wesen Gottes streitet. Gott kann also die Welt nicht geschaffen haben. Da wir nun aber sehr deutlich wissen, daß die Welt oder daß unser Ich wenigstens vorhanden ist, und daß sie dem Vorhergehenden nach also auch ihren Grund in sich oder in etwas haben muß, das nicht Gott ist, so kann es keinen Gott geben. Quod erat demonstrandum. […] MERCIER. Halten Sie, Payne! Wenn aber die Schöpfung ewig ist? / PAINE. Dann ist sie schon keine Schöpfung mehr, dann ist sie eins mit Gott oder ein Attribut desselben, wie Spinoza sagt; dann ist Gott in allem, in Ihnen, Wertester, im Philosoph Anaxagoras und in mir.« – Siehe: Georg Büchner: Dantons Tod. Ein Drama. – In: ders.: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Leipzig 1968. 7 – 86; hier 53 f. – Nicht unerwähnt bleiben darf hier allerdings König Peters Verspottung der Philosophie Spinozas eingangs der zweiten Szene des ersten Aktes in Leonce und Lena (1836). – Siehe: Georg Büchner: Leonce und Lena. A.a.O. 119 – 155; hier 125. – Der junge angehende Privatdozent Büchner kündigt am 2. September 1836 (wahrscheinlich) Wilhelm Büchner an, vor seinen Züricher Studenten »in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Überflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza, zu halten.« – Siehe: Georg Büchner: Briefe. A.a.O. 383 – 446; hier 440. 782 Siehe: Baruch de Baruch de Spinoza: E I, Prop. XVI. 783 Spinoza erklärt, die Konsequenzen aus dem ersten, das Wesen Gottes oder des ewigen und unendlichen Seienden explizierenden Teil seiner Ethica dienten allein der Erkenntnis des menschlichen Geistes und seiner höchsten Glückseligkeit. – Siehe: Baruch de Baruch de Spinoza: E II, Vorbemerkung. – Fichte bemerkt hierzu: »Dieß war eben die Schwierigkeit aller Philosophie, die nicht D u a l i s m u s sein wollte, sondern mit der Suche der Einheit Ernst machte, daß entweder wir zugrunde gehen mußten, oder Gott. Wir wollten nicht, Gott sollte nicht! Der erste kühne Denker, dem hierüber das Licht aufging, mußte nun wohl begreifen, daß, wenn die Vernichtung einmahl vollzogen werden sollte, wir uns derselben unterziehen müssen; dieser Denker war Spinoza […].« – Siehe: Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804. Gereinigte Fassung, herausgegeben von Reinhard Lauth und Joachim Widmann unter Mitarbeit von Peter K. Schneider. 2., verbesserte Auflage Hamburg 1986. 76. 784 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. XV. 785 Siehe: Baruch de Spinoza: E II, Prop. XLV. 786 Siehe: Act (Acta Apostolorum), 17,28. – Spinoza selbst zieht diese Linie: »[…] so habe ich über Gott und Natur eine ganz andere Meinung, als jene, die von den modernen Christen ge-
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d. h. Gott oder der Natur (»Deus sive natura«), nichts sei, überbietet wie gesehen für sich schon den Gedanken Gottes als des Schöpfers und der Welt als der Schöpfung. Die immanente Identität Gottes mit der Natur – und nicht mit der Welt! – führe zur Aufhebung der Transzendenz Gottes. Jedwedes Seiende, selbst Leib und Seele des Menschen, erscheinen als Modi göttlichen Seins. »Man hat darauf hingewiesen, daß die jüdische, sogar kabbalistische Auffassung der zwischen Gott und seiner Schöpfung vermittelnden Entitäten, die Sefirot, bei Spinozas Konzeption der Modi eine Rolle gespielt hat.«787 Auch in Descartes’ Drei-Substanzen-Lehre kommt exklusiv Gott die Macht zu, aus sich selbst heraus zu existieren. Wenn aber Spinoza Gott und Natur engführt, entfernt er sich beträchtlich sowohl von Descartes als auch von der jüdisch-christlichen Religion. Zu Recht weisen sowohl Wolfgang Bartuschat als auch Lüder Gäbe darauf hin, daß erst aufwendigere Studien der Spinozanischen Ethica die entsprechenden Perspektiven eröffneten,788 en détail die systematischen Erwägungen zu rekonstruieren, die es Spinoza verbieten, in seiner Metaphysik zwei geschaffene und eine ungeschaffene Substanz anzusetzen.789 Das Philosophem der fundamentalen Differenz von ›res cogitans‹ und ›res extensa‹, wie es Descartes vertritt, leistet für Spinoza keine plausible Begründung, die ›Substanz‹ in endliche, d. h. vergängliche790 Teile zerfallen zu lassen.791 Spinoza sieht in Descartes’ Metaphysik eine Konzeption, welche die jeweilige Substanzialität von ›res cogitans‹ und ›res extensa‹ wesentlich verfehle,792 sind doch beide: sowohl ›res cogitans‹ als auch ›res extensa‹, je schon verwiesen793 auf ›Gott oder die Substanz794 oder die Natur‹,795 d. h. der unwöhnlich vertreten wird. Ich fasse nämlich Gott als die immanente und nicht als die äußere Ursache aller Dinge. Ich behaupte eben, daß alles in Gott lebt und webt, geradeso wie Paulus und vielleicht auch alle antiken Philosophen, wenn auch in anderer Weise, und ich darf wohl auch sagen, wie alle alten Hebräer, soweit man aus manchen freilich vielfach verfälschten Traditionen schließen darf. Wenn es aber Leute gibt, die meinen, der Theologisch-politische Traktat gehe davon aus, daß Gott und die Natur (worunter sie eine Masse oder eine körperliche Materie verstehen) eines und dasselbe seien, so sind sie ganz und gar im Irrtum.« – Siehe: Baruch de Spinoza: B 73. An Heinrich Oldenburg. November–Dezember 1675. – Schon früh wird der Versuch gemacht, Spinozas Philosophie mit dem »Gesetz Jesu Christi« in Einklang zu bringen. – Siehe: Die Biographie Spinozas von Jean-Maximilien Lucas. – In: LD 19 – 54; hier 43. 787 Siehe: Theun de Vries: S 156. 788 Siehe: Baruch de Spinoza: DP S. XXI. – Siehe ebenso: Lüder Gäbe: Descartes’ Selbstkritik. Untersuchungen zur Philosophie des jungen Descartes. Neufassung einer im Jahre 1965 von der Hohen Philosophischen Fakultät der Philippsuniversität in Marburg angenommenen Habilitationsschrift. Hamburg 1972. 137. 789 Spinoza findet hierzu eine prägnante Formulierung in: E II, Prop. VII., Schol. 790 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. VIII., Schol. II. mit E V, Prop.es XXIII. bzw. XXXIX. 791 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. XIV. 792 Siehe: Baruch de Baruch de Spinoza: E I, Definitiones I.–III. 793 Aber nicht kausal! – Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. VI. 794 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Prop. XI. 795 Siehe: Baruch de Spinoza: E IV, Præfatio. – Spinozas ›Gott‹ als ausgedehntes Wesen (siehe: Baruch de Spinoza: E II, Prop. II) ist keinesfalls auf einen ,flachen‹ Materialismus zu reduzieren, auch wenn es von Supranaturalität und Extramundaneität dispensiert.
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geschaffenen Substanz. Wenn Spinoza sagt, der »Geist erkennt sich selbst nur, indem er die Vorstellungen der Affectionen des menschlichen Körpers auffasst [nisi quatenus Corporis affectionum ideas percipit]«,796 widerspricht dies Descartes’ Doktrin der Rekursivität des Geistes als erstem Prinzip im menschlichen Wissen. Die Ethica durchwirkt ein ›Primat des Körpers‹, man begegnet hier einem höheren, einem spirituellen Materialismus, wie Antonio Negri überzeugend herausarbeitet.797 Damit soll keinesfalls behauptet werden, Spinoza gelte allein der ›Leib‹, sprich der ›gedachte‹ Körper, als Ort selbstbewußter Ich-Werdung; vielmehr, so läßt sich eingedenk der II. Cartesianischen Meditation resümieren, leugnet Spinoza die Sinnhaftigkeit einer metaphysischen Zweifelsoperation in Gestalt einer ›meditativen‹ Ablösung des ›Körpers‹ vom ›Geist‹:798 (Selbst-)Erkenntnis stelle sich weder logisch (Descartes: »quatenus«) noch temporal (Descartes: »quamdiu«) vor jedwedem physikalischen Weltwissen ein. Anders kündet Spinozas Ethica von der höchsten Form des Erkennens gemäß der ›dritten Gattung‹ (lt. Emendatio gemäß der ›vierten‹) als Einheit von ausgereiftester Tugend799 und höchstmöglicher Empfindungsintensität (»Beatitudo in Amore erga Deum consistit […]«800). Insofern zeigt sich hier erneut, daß Spinoza zweifellos der großen Tradition der Tugendlehrer angehört, zeitigen doch individuelle Einsichten immer auch Konsequenzen für das Gemeinwesen.
4. Kapitel: Die Kritik an der positiven Religion 4.1 Ambiguität im Sprechakt Das Werk kaum eines Philosophen ist so eng mit seiner Wirkungsgeschichte verbunden wie dasjenige Spinozas. Und diese setzt bereits vor seinem – vielleicht wenig friedvollen?801 – Tod am 21. Februar 1677 ein, und zwar mit der Rezeptionsgeschichte des Tractatus theologico-politicus, dem zunächst beinahe ausnahmslos ein überaus negatives Echo beschieden ist. Nach Beschwerden sucht der Hof von Holland das Werk bereits im Jahr seines Erscheinens 1670 zu verbieten;802 vier Jahre Siehe: Baruch de Baruch de Spinoza: E II, Prop. XXIII. Negri deutet Spinozas Denken als »modernen Materialismus«, welches »eine Begründung der materialistischen Methode« allererst ermögliche. – Siehe: Antonio Negri: Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Werner Raith. Berlin 1981. 9; 12. 798 Siehe schon: Baruch de Spinoza: TIE 21. 799 Siehe: Baruch de Baruch de Spinoza: E V, Prop. XXV. 800 Siehe: Baruch de Spinoza E V, Prop. XLII., Dem. – Siehe daneben die bekannte Formel »Amor dei intellectualis« in: Ibid., Prop. XXXIII. 801 Siehe: LD Dok. 72, Erl. 3. 802 Siehe: LD Dok. 61. – Zur verwickelten Publikations- und Editionsgeschichte des Werks, die dem Verbot vorausgeht, siehe Günter Gawlicks »Einleitung« in: Baruch de Spinoza: TTP VII–XVII. – Gawlick ordnet und resümiert Carl Gebhardts Ausführungen zur »Textgestaltung« 796
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später schließlich, am 19. Juli 1674,803 ist der Beschluß rechtskräftig. 1679 wird das Werk auf den Index librorum prohibitorum der katholischen Kirche gesetzt;804 auch die protestantische Kirche sowie die Universitätskanzleien untersagen seine Verbreitung. Der Statthalter Hollands, Wilhelm III. von Oranien-Nassau, verbietet unter Androhung strengster Bestrafung Druck und Verbreitung der Schrift, weil sie ein »gotteslästerliches und seelenverderbendes« Werk sei, »voll von grundlosen und gefährlichen Ansichten und Greueln«; nicht einmal seine zustimmende Erwähnung wird gewährt. Der mutmaßliche Verleger, welcher gegen diese Weisung verstößt, soll mit einer Geldbuße von 3.000 Gulden belegt sowie zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt werden. Eine Fülle von Pamphleten gegen den Tractatus theologico-politicus erscheint, und ein fingiertes Bücherverzeichnis des Jahres 1672805 kündigt ihn wie folgt an: »Tractatus Theologico-Politicus. Von dem abtrünnigen Juden zusammen mit dem Teufel in der Hölle geschmiedet und mit Wissen von Herrn Jan de Witt und seinen Spießgesellen herausgegeben«.806 Dies alles verhindert jedoch weder die rasche Verbreitung des Werkes – im Gegenteil mag sein frühes Verbot diese eher gefördert haben – noch seine Übersetzung in das Französische (La clef du santuaire [1678]) durch den ehemaligen Soldaten und Hugenotten Gabriel (wahrscheinlich) de Saint-Glain.807 Weit über 100 Jahre nach der ersten Publikation des Werks erscheint auch seine erste deutsche Übersetzung, die der Hofbeamte und Publizist Schack (Jacques) Hermann Ewald (1745 – 1822) besorgt.808 Warum aber und für welche Leser läßt ein Autor ein solches Werk überhaupt publizieren, wird er die damit verbundenen Schwierigkeiten doch unschwer vorausgesehen haben? Spinozas mitnichten einer frühen Form von Volksaufklärung809 des Tractatus theologico-politicus, die dessen Heidelberger Spinoza-Ausgabe beigefügt ist (siehe: III. 363 – 382). 803 Siehe: LD Dok. 68. 804 Siehe: LD Dok. 83. 805 »Appendix zu dem Katalog von den Büchern Mr. Jan de Witts, bestehend in einer Anzahl kuriöser und sekreter Manuskripte, welche verkauft werden sollen im Saale zu Haag, Montag den 5. September 1672 und die folgenden Tage.« – Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 428. 806 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 131. – Über das besondere Verhältnis De Witt – Spinoza wird noch zu sprechen sein. 807 Siehe: Stanislaus von Dunin Borkowski S. J.: Spinoza. A.a.O. Band III. 27. 808 Siehe: Benedikt von Spinoza über Heilige Schrift, Judenthum, Recht der höchsten Gewalt in geistlichen Dingen, und Freyheit zu philosophiren. Aus dem Lateinischen. – In: Spinoza’s philosophische Schriften. Erster Band. Gera, bey Christoph Friedrich Bekmann, 1787. 809 Zum Begriff der Volksaufklärung siehe: Holger Böning/Hanno Schmitt/Reinhart Siegert (Hgg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007. Einleitung. 9 f.; Reinhart Siegert: Volksbildung im 18. Jahrhundert. – In: Notker Hammerstein/Ulrich Hermann (Hgg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte II: 18. Jahrhundert. München 2005. 443 – 483; Anne Conrad: Aufgeklärte Elite und aufzuklärendes Volk. – In: Anne Conrad/ Arno Herzig/Franklin Kopitzsch (Hgg.): Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert. Hamburg 1998. 1 – 15; Holger Böning: Der »gemeine Mann« als Adressat aufklärerischen Gedankengutes. Ein Forschungsbericht zur Volksaufklärung. – In: Das Achtzehnte Jahrhundert. Göttingen. 2 (1988), 52 – 88.
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zuzurechnender Tractatus theologico-politicus richtet sich an Philosophen810 – oder die »prudentiores«811 – und wird publiziert in der Hoffnung, das Werk möge für das menschliche Gemeinwesen von praktischem Nutzen sein.812 Worin aber besteht für Spinoza der wahre Zweck des Staates? Die Antwort lautet: In der Ermöglichung der ungefährdeten Kultivierung menschlicher Geistes- und Körperkräfte, sodann des Schutzes des ungezwungenen Vernunftgebrauchs sowie der allgemeinen Förderung des friedfertigen Umgangs miteinander – mit einem Wort: in der Freiheit.813 Doch Spinoza – und das wird gerne unterschlagen, ist aber für eine Rekonstruktion der Problemgeschichte des Begriffs der Toleranz unverzichtbar – ebnet auch der staatsrechtlichen Idee der Religionsfreiheit den Weg. Zwar wird die Forderung nach Freiheit der Religion(en) lange vor Spinoza von vielen tonangebenden Gelehrten und Politikern erhoben, aber »er ist der erste, der die Idee der Denkfreiheit nach ihrer religiösen, politischen und philosophischen Seite mit gleicher Kraft entwickelt und begründet hat.«814 Bezogen auf die Analyse des gesellschaftlichen Lebens im Staat unterscheidet Spinoza freilich streng zwischen Denken bzw. Urteilen und Handeln. Die Rechtfertigung dieser Differenz ergibt sich daraus, daß sie Spinozas Verständnis von religiösem Frevel bedingt, sonach nähere Aufklärung ermöglicht über die tiefere Bedeutung eines schweren Vorwurfs, der von seiten der Mächtigen oftmals gegen ihn selber erhoben wird. Und so stehen unzweifelhaft auch persönliche Erfahrungen im Hintergrund, wenn Spinoza im Tractatus theologico-politicus den Nachweis zu führen ankündigt, »wie jedermann unbeschadet des Rechts und der Autorität der höchsten Gewalten, d. h. unbeschadet des Friedens im Staat, alles was er denkt, sagen und lehren kann; wenn er nämlich den Beschluß über alle Handlungen den höchsten Gewalten überläßt und nicht gegen ihren Beschluß handelt, auch wenn er oft gegen das handeln muß, was er für gut hält und unverhohlen denkt. […] Darum ist es auch gottlos [»adeoque impium etiam est«], nach eignem Gutdünken gegen den Beschluß der höchsten Gewalt, deren Untertan man ist, zu handeln, weil wenn dies jedem erlaubt wäre, der Untergang des Staates die notwendige Folge sein würde.«815 Der Tractatus theologico-politicus dokumentiert aber auch die Suche nach einem natürlichen, und d. h. für Spinoza stets: nach einem wissenschaftlich gangbaren Weg, die menschliche Einbildungskraft (»imaginatio«) zu regulieren zu dem näheren Zwecke der Einebnung ihrer zerstörerischen Elemente und zu dem weiteren Siehe: Baruch de Spinoza: TTP »Praefatio«, S. VII. – Bei Lichte betrachtet kann sich Spinoza mit seinem Buch aber nur an die Christen unter ihnen wenden. – Die Unterscheidung (Volks-)Masse – Philosoph ist noch in David Humes Natural History of Religion (1757) wirksam (und nicht nur in dieser seiner Schriften). 811 Siehe: Baruch de Spinoza: B 30(1). An Heinrich Oldenburg. September–Oktober 1665. 812 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 223 (»ex usu esse possunt«). 813 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 227. 814 Siehe: Jacob Freudenthal: SL 161. 815 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 227 f. 810
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Zwecke der Beförderung eines für die Gesellschaft Nutzen bringenden Verhaltens. Dabei sieht Spinozas Vorschlag keinesfalls vor, das »imaginativ-affektive Leben«816 der Menge, die weitestgehend dem Aberglauben (im Unterschied zu einer die Forderungen der Offenbarung erfüllenden Religiosität) anhänge, vernünftig zu nennen – dies sei schlechterdings unmöglich, lehre doch die Erfahrung das genaue Gegenteil. Spinoza sucht vielmehr – quasi in Anlehnung an seine Affektenlehre der Ethica – nach einer Technik, die Wirkungen besagter »imaginatio« in quasi-rationale Muster zu überführen, ja mehr noch: sie zu institutionalisieren. Dieser ›zivilisierende‹ Eingriff in die Natur vollzieht sich über zwei Stufen: auf die religiöse folgt die politische. Die neuen Gestalten von geläuterter Religion und vernünftigem Staat müßten die Garantie bieten, daß innerhalb der Menge dieselben Verhaltensweisen generiert würden, die der rationale Entwurf einfordere – auch auf die Gefahr hin, daß dies durch irrationale Kräfte und inadäquate Ideen motiviert sei. Dies nötigt den Philosophen, auf das rhetorische Potenzial der Sprache zurückzugreifen, auf daß seine Rede beim Adressaten die gewünschte Wirkung erziele. Daher befördert Spinozas religionspolitische Kritik die Kultivierung eines Sprechakts, sprich einer Redekultur geregelter, d. h. hier: bewußt vollzogener Ambiguität. Theologische Performanz sei auf die »jeweilige Fassungskraft des Volkes«817 – hier: eines gelehrten Publikums – abgestimmt. Bereits der Autor des Tractatus de intellectus emendatione macht sich diese Forderung selber zur Pflicht;818 daß sich die Ethica als Ort der wahren Philosophie davon notwendig unterscheidet, mündet selbstverständlich nicht in einen Widerspruch. Der Tractatus theologico-politicus ist aber ein entsakralisierter Ausdruck jenes revelatorischen Akkomodismus. Er verdankt sich ausschließlich vernünftiger Einsicht und vermag somit keinesfalls in das Offenbarungsgeschehen zurückgeholt zu werden, so daß der Einwurf, solche Performanz sei ihrerseits religiöser – und damit offenbarungsdienlicher – Abkunft (»more humano loquitur«819), hier nicht am Platz ist. Solcherart uneigentliches Sprechen (Leo Strauss redet sogar von überreichen »Widersprüchen«820) rechnet Yovel zu den marranischen Zügen Spinozas.821 Da nach Spinoza Siehe: Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. A.a.O. 250 u. ö. 817 Diese Angleichungstendenz sieht Spinoza wirksam für die »Fassungskraft des wankelmütigen und unbeständigen jüdischen Volkes« – wahrlich kein Kompliment für seine eigenen Vorväter. – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 159. 818 Siehe: Baruch de Spinoza: TIE [17]. 819 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 184, Adn. XXXIV. 820 Siehe: Leo Strauss: Anleitung zum Studium von Spinozas theologisch-politischem Traktat. (1948) A.a.O. 300 – 361; hier 335 f.; mit Blick auf »seine Ansichten über theologische Gegenstände« konzidiert er Spinoza zumindest »sehr viel Zurückhaltung« (325). – Kreimendahl plädiert zu recht für eine Abmilderung von Strauss’ These einer im Tractatus theologico-politicus wirksamen exoterischen und einer esoterischen Lehre: »Dies mag für die spezifisch theologischen Kapitel zugestanden werden, obwohl nicht unbeträchtliche Probleme mit einer solchen hermeneutischen Maxime verbunden sind. In den staatsphilosophischen Kapiteln aber schlug Spinoza einen Ton an, wie er für damalige Ohren provokanter kaum sein konnte, und hier gibt es auch keine Wider816
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jedoch umgekehrt der Imaginations-Mensch niemals die rationale Perspektive des Philosophen einzunehmen versteht, wird sich dieser gleichermaßen auf die Sprache und das Niveau seines Adressaten einzustellen haben, um Sinn-, insbesondere aber Autoritätsmodifikationen bewirken zu können. Dies beansprucht ein dialektisches Vermögen, das zu bedienen einen großzügigen Gebrauch von Metaphern, Allegorien und Äquivokationen (von denen auch die Heilige Schrift geradezu wimmelt) einfordert. Darüber hinaus aber ermöglicht die Praktik mehrdeutiger Sprachkultur dem Philosophen – führt er doch ein Doppelleben zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit (signum marranorum!) – nicht nur soziale Assimilation, sondern gleichermaßen den Verbleib auf einer Diskursebene, welche die philosophische Wahrheit seiner Aussagen nicht gefährdet.822 Wenn aber der Geist von Buchstabe und Schrift geschieden wird, bedeutet dies gleichermaßen, daß die Heilige Schrift frei von erhabenen philosophischen Erkenntnissen ist. So sollen und müssen die Prämissen der Schrift dann auch nicht zu Ende gedacht werden. 4.2 Zum theologie-politischen Motiv der Differenz von »vana religio« und »fides catholica« Hier ist nicht der Ort, die Frage zu erörtern, ob und inwieweit der Tractatus theologico-politicus mit einem theologisch tragfähigen Begriff von positiver Religion umgeht.823 Zwar beschränken sich Spinozas Untersuchungen auf die Heilige Schrift der Juden und Christen; nichtsdestoweniger erheben sie Anspruch, das religiöse Phänomen in seiner Gesamtheit zu behandeln, wenngleich Spinozas exegetischer Schwerpunkt auf der vorgeblich vollkommensten Offenbarung liegt – und damit nicht auf dem Judentum, sondern auf dem Christentum. Leo Strauss vertritt die These, die Bücher III–V des Tractatus theologico-politicus seien zunächst an die Ju-
sprüchlichkeiten in dem Sinn, daß Spinoza gegebenenfalls auf andere Textstellen zur Beruhigung der Gemüter hätte verweisen können.« – Siehe: Lothar Kreimendahl: Freiheitsgesetz und höchstes Gut in Spinozas »Theologisch-politischem Traktat«. Hildesheim 1983. 52. (Philosophische Texte und Studien. Band 7) 821 Siehe: Yirmiyahu Yovel: Spinoza and other Heretics. I. A.a.O. Chapter 5. »Spinoza, the Multitude, and Dual Language«. 128 – 152. – Bei Spinoza selber: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 164 f. 822 Wo diese »Gefahr ist, wächst das Rettende« (Hölderlin): nämlich das Vertrauen auf die Philosophie. Wer diesen Chiasmus verkennt, setzt ein eindimensionales und damit verfehltes Konzept von Marranentum an – und muß es für Spinoza zwangsläufig zurückweisen. – So geschehen bei: Wiep van Bunge: Spinozas philosophische Hintergründe. – In: Cis van Heertum/Frank Grunert (Hgg.): Spinoza im Kontext. A.a.O. 16 – 33; hier: 19. 823 Auch Manuel Joël vermutet, daß Spinoza jüdischen Denkern einen Großteil des Materials für seine Deutung und Kritik der biblischen Religion verdanke. – Siehe Manuel Joël: Spinozas Theologisch-Politischer Traktat. Breslau 1870. 111.
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den gerichtet gewesen.824 Davon befreit, Antworten auf diese oder ähnliche Fragen zu geben, steht die hier verfolgte Problemgeschichte anders vor der Aufgabe, sich des Spinozanischen Begriffs der Religion zu vergewissern. Die Bestimmung des Begriffs der Religion zieht nicht notwendig Erörterungen von Varianzen kultischer oder gar liturgischer Praktiken nach sich,825 und so kann sich Spinozas Analyse des Theismus auf das Rationale des Glaubens konzentrieren – und verfolgt in einem zweiten, jedoch ungleich bedeutsameren Schritt gleichermaßen die Protektion natürlicher und damit vernunftgerechter Religion. Diese Strategie mündet in Spinozas spät im Werk getroffener Definition des Glaubens: »Glauben heißt nichts anderes als dasjenige von Gott denken, mit dessen Unkenntnis der Gehorsam gegen Gott aufgehoben wird und was mit diesem Gehorsam notwendig gegeben ist.«826 Wenn Spinoza aber den Glauben, sprich das Konkrete der Religion auf einen gedachten Gott bezogen sieht, verlagert er das Problem auf den rein-rationalen Gehalt der Religion – und spricht damit gleichermaßen die Vernunft als ein allen Menschen zukommendes Vermögen an. Dies aber bedeutet gleichermaßen, daß auch die natürliche Religion diese Vernunft-Natur des Menschen betrifft. Problemgeschichtlich gesehen arbeitet daher die natürliche Religion der Vernunftreligion der Aufklärung vor; beide bilden späte, gleichwohl integrative Bestandteile der philosophischen Theologie.827 Als Philosoph setzt sich Spinoza ex post ins Recht, das Wesen Gottes more geometrico zur Darstellung zu bringen – ein Projekt, das er beileibe nicht als einziger verfolgt; bestenfalls formal gesehen könnte Spinoza ein Alleinstellungsmerkmal bescheinigt werden. Betrachtungen über die Religion indes finden in Spinozas Ethica keinen Platz mehr – andererseits wiederum ist die Kritik der positiven Religion auf die Mittel der Vernunft angewiesen:828 In Umkehrung des Leitspruchs Anselms ließe sich hier von einem ›intellectus quaerens fidem‹ sprechen. Aber Spinoza bestimmt das Verhältnis von Religion und Philosophie noch genauer. Wahrhafter Glauben bewähre sich am wahrhaften Gehorsam, der allein die Seligkeit befördere.829 Als Indikatoren für beide: Gehorsam und Glauben, fungie-
824 Siehe: Leo Strauss: Anleitung zum Studium von Spinozas theologisch-politischem Traktat. (1948) A.a.O. 300 – 361; hier 322 f. 825 So beziffert Spinoza den theologie-politischen Funktionswert der mit dem Pentateuch überlieferten religiösen Zeremonien denn auch gering: Sie trügen »nichts zur Glückseligkeit« bei und bezögen »sich bloß auf die zeitliche Wohlfahrt eines Staates«. – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP VI, 56. 826 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 161. (Hervorhebungen H. G.) 827 Zur »Herauslösung der philosophischen Theologie aus der allgemeinen Metaphysik« siehe auch: Günter Frank: Die Vernunft des Gottesgedankens. Religionsphilosophische Studien zur frühen Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. 159 – 162. (Quaestiones 13) 828 Überhaupt setzt Spinoza die Leistungsfähigkeit der Vernunft voraus (Suffizienz). Dies ist die wichtigste Voraussetzung für: Manfred Walther: Metaphysik als Anti-Theologie. Die Philosophie Spinozas im Zusammenhang der religionsphilosophischen Problematik. Hamburg 1971. VII. 829 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 163 f.
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ren aber die Werke:830 Gute Werke bezeugen wahrhaften Glauben. Auf dieses Stück Theologie reagiert Spinoza defensiv: »Wie heilsam und wie notwendig diese Lehre im Staat ist, damit die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben, und namentlich wie viele Ursachen von Wirren und Verbrechen dadurch beseitigt werden, das überlasse ich jedem selbst zu beurteilen.«831 Dieser Anstoß spricht für sich; wichtig ist aber, daß Spinoza den Grund für den Gehorsam des Untertans im Staat: weil er Strafe fürchte oder weil er sich einen Vorteil erhoffe oder weil er das Vaterland liebe, für unerheblich hält. Das Zentrum der Theologie bilden nämlich Geschichte und Sprache,832 dasjenige der Philosophie dagegen Allgemeinbegriffe. So erkennt Spinoza zwischen der Theologie und der Philosophie nur wenig Gemeinsamkeiten. Und er geht noch weiter, wenn er konstatiert, der Sinn der Bibel sei auch Ungebildeten zugänglich – woraus die »wahre[] Methode der Schrifterklärung« resultiere: Es »muß […], was in der Schrift enthalten ist, aus der Schrift selbst geschöpft werden, gerade so wie die Erkenntnis der Natur allein aus der Natur.«833 Dies wiederum bedeutet, daß weder Propheten noch Schriftgelehrte erleuchtet gewesen seien. Und weil die Heilige Schrift tatsächlich nicht Unwissenheit, sondern Ungehorsam verurteile,834 folge weiter, daß der Glauben keine wahren Dogmen einfordere, sondern ausschließlich solche, die zum Gehorsam nötig seien.835 So führt Spinozas kritische Hermeneutik zu dem Ergebnis, den Gott einer Religion, die nichts als Gehorsam zur Bedingung hat, zur Grundlage einer Unterscheidung von Religion und Wissenschaft (Philosophie) – dem »Hauptzweck des ganzen Werkes«836 – zu erheben. Insofern kann dem Tractatus theologico-politicus mit Recht der (Ehren-) Titel Kampfschrift zuerkannt werden. Es ist dieser Gesetzes-Gott des Judentums, der bereits Bento-Baruch Spinozas (Kinder-)Glauben regiert, und diese Religionsgestalt eines Tages einer wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen, erscheint nur allzu legitim, zumal sie sich den Resultaten eigens konzipierter hermeneutischer Prinzipien837 unterwirft. Wenn also der Religionshistoriker Benedictus Spinoza zu Bewußtsein bringt, daß dem Gott der Juden-Christen eine wandlungsreiche Begriffsgeschichte vorausgeht, zählt er zu den Mitbegründern838 der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, sprich einer genetischen Betrachtung der Religion.839
Spinoza beruft sich hierbei besonders auf: Jak 2,17; Joh 2,3. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 165. 832 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP VII. 833 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP VII, 85. 834 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 162. 835 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 162. 836 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 159. 837 Spinozas Thesen des siebten Kapitels (»De interpretatione Scripturæ«) lauten: Die Schrift sei hermetisch aus sich selbst verständlich; wo die Vernunft sie nicht verstehen könne, da sei sie unverständlich (hermetische Hermeneutik). – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP VII, 83 – 103. 838 Yovel drosselt Interpretationen, lt. derer Spinoza als methodologischer Gründervater hermeneutischer Bibelkritik gelte: Dieser Kranz gebührt wohl Isaac de la Peyrère (wahrscheinlich 830
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Die Indikatoren für Frömmigkeit resp. Asebie erweisen sich also auf der Grundlage eines solchen Glaubens als gänzlich unabhängig von Wahrheit oder Falschheit, sondern betreffen ausschließlich die Binäropposition Gehorsam/Ungehorsamkeit,840 »und da, wie jedermann weiß, die Sinnesart der Menschen im allgemeinen sehr verschieden ist und sich nicht alle gleichmäßig mit derselben Ansicht zufrieden geben, sondern die Ansichten in sehr verschiedener Weise die Menschen beherrschen […], so folgt daraus, daß zum allgemeinen oder gemeingültigen Glauben [»fidem catholicam sive universalem«] keine Dogmen gehören können, über die es unter rechtschaffenen Menschen eine Meinungsverschiedenheit geben kann. Denn Dogmen dieser Art können in Ansehung des einen fromm und in Ansehung des anderen gottlos sein, weil sie bloß nach den Werken zu beurteilen sind. Zum allgemeinen Glauben gehören damit nur solche Dogmen, die der Gehorsam gegen Gott unbedingt voraussetzt und mit deren Unkenntnis der Gehorsam schlechthin unmöglich wäre. In allem übrigen jedoch soll jeder so denken, wie es ihm zu seiner eigenen Bestärkung in der Gerechtigkeitsliebe am besten scheint; denn jeder kennt sich selbst am besten.«841 Eine Vergegenwärtigung der Konsequenzen dieses Arguments ist auch mit Blick auf die Voraussetzungen, die für eine heutige Diskussion dieser Problemlage gelten, noch von weitreichenden Folgen. Mit dem Erreichen der ersten religiösen Stufe eröffnet sich somit die Möglichkeit, die geschichtliche Religion als »vana religio« zu markieren; als Surrogat fungiert besagte »religio catholica«, die allgemeine Religion. Sie entspricht der ›volkstümlichen‹ Version einer rudimentären Vernunftreligion, die der Leidenschaft und Imagination verpflichtet bleibt; ihr rationales Residuum besteht lediglich in kultischen Formen sowie mimetischer Fähigkeit. Sie setzt kein Wissen, sondern schlicht Gehorsam voraus. Damit dieses reduktionistische Religionskonzept mit der Heiligen Schrift in Einklang bleibt, bedürfen deren Inhalte einer Umdeutung – eine Aufgabe, die der biblischen Hermeneutik zufällt. Die zweite politische Stufe ist als Ergänzung zur theologischen Stufe vonnöten. Zentralen theologischen Lehren indes: Gerechtigkeit, Solidarität und gegenseitige Hilfe (worauf Spinoza Offenbarungsreligion und Gotteswort zu reduzieren empfiehlt), ermangelten als Grundlage 1596 – 1676), einem Freund Menasse ben Israels, Spinozas späterem Lehrer. – Siehe: Yirmiyahu Yovel: Spinoza and other Heretics. I. A.a.O. 8; 29; bes. 80 – 84; 191. – Siehe zudem: ders.: Spinoza and other Heretics. II. The Marrano of Reason. Princeton, New Jersey 1989. 68. – Siehe auch: BBKL IV (1992), Spalten 1145 – 1155 (Autor: Klaus Grünwaldt). 839 Z.B. zieht die Frage nach einer etwaigen Redaktion der mosaischen Bücher durch den Priester Esra aus dem Geschlecht Aron eine anhaltende Diskussion nach sich, an der sich – freilich nicht öffentlich – noch Hermann Samuel Reimarus beteiligt. – Siehe: Hermann Samuel Reimarus: APOLOGIE oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Im Auftrag der JoachimJungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg herausgegeben von Gerhard Alexander. I. Band. Frankfurt a. M. 1972. [I. Teil] Sechstes Buch. 5. Capittel. §§ 1 – 12. – Reimarus leugnet die göttliche Abkunft des jüdischen Gesetzes, »welches Esra mitgebracht«. – Siehe: Ibid. II. Band. [II. Teil] Erstes Buch. 1. Capittel. § 2. 840 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 162. 841 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 162 f.
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des Handelns die rechte Verbindlichkeit: Diesen Prinzipien müßte eine gesonderte Gesetzgebung unterliegen zwecks Zuschnitt auf ihren sozialen Kontext. Der Staat gilt Spinoza daher nicht nur als realitas potestatis, sondern auch als Mittel der Zivilisierung oder als Instrument der Erziehung – womit sich Spinoza allerdings in die Nähe zu erziehungstheologischen Spekulationen der Alten Kirche begibt, der sich noch Lessings Erziehung des Menschengeschlechts verpflichtet weiß.842 Woran bewährt Spinoza seine Thesen? 4.3 Die Simultaneität von Naturzustand und Demokratie Spinozas Theorie der Demokratie (die er in seinen letzten Jahren weniger deutlich vertritt) gründet in der These, die Demokratie weise eine größtmögliche Nähe zum Naturzustand auf843 – ein Ansatz, der mit Spinozas Lehre vom Menschen als zuvörderst von Leidenschaften bestimmten Wesen konvergiert. Mit Blick auf das Offenbarungsgeschehen verkehrt sich allerdings besagter Bezug: Die antidemokratische Ordnung des Naturzustands verhindere wahres Glück und Glückseligkeit (»Vera fælicitas [sic] et beatitudo«) durch den Ausschluß aller übrigen von der Teilhabe am Guten. Von hier aus kann Spinoza den Hebräern vorwerfen, in einem revelatorischen Naturzustand verblieben zu sein. Daher müsse ihnen ein Wissen um Glückseligkeit abgesprochen werden, beanspruchten sie nämlich die Faktizität göttlicher Offenbarung bzw. Prophetie exklusiv für sich. So scheut Spinoza auch die theologie-politische Konsequenz aus seiner (zeitgleich ebenfalls in seiner Ethica konzipierten) affektenlogischen Glückseligkeitslehre nicht – nämlich die Leugnung der Prädestination: Für die Offenbarung seien die Hebräer nicht geeigneter gewesen als ein beliebiges anderes Volk.844 Insbesondere der Aufklärung des Bezugs von Naturzustand und Politologie verdankt sich auch der Aufbau des letzten, d. h. nach Abschluß der Ethica, also nach 1675 in Angriff genommenen Werks Spinozas, d. h. des Tractatus politicus, welcher Siehe: Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. – In: ders.: Werke. Achter Band. Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel u. a. herausgegeben von Herbert G. Göpfert. München 1979. §§ 1 – 2; 53. – Lessings Verhaftung in der Clemens-Alexandrinus- und Origines-Tradition betont: Walter Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese. München 1976. 275 – 285. (Beiträge zur evangelischen Theologie. Theologische Abhandlungen. Begründet von Ernst Wolf. Herausgegeben von Eberhard Jüngel und Rudolf Smend. Band 76) – So jetzt auch bei: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Lessings origenistische Eschatologie. – In: Christoph Bultmann/Friedrich Vollhardt (Hgg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin/New York 2011. 138 – 153; hier: 139 f.; 150 – 153. (Frühe Neuzeit. Band 159) 843 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 231. 844 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 31. – »Die Völker unterscheiden sich […] voneinander nur hinsichtlich ihrer Gesellschaft und der Gesetze, unter denen sie leben und regiert werden.« – Siehe: Ibid. III, 33. 842
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– bevor (analog zu Bodin) die drei Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie i.S. einer Entwicklungsgeschichte von Staatenbildung845 abgehandelt werden – Elemente der Lehre vom Naturrecht vorausschickt.846 Bezogen auf die Religion finden sich zur Monarchie bekanntlich bereits in der »Vorrede« des Tractatus theologico-politicus kritische Einwände.847 Spinoza argumentiert aber auch deshalb gegen die monarchistische Staatsform, weil sie – wie auch die Religion – zum Instrument der Ergreifung und des Erhalts subjektiver Macht mißbraucht werden könne: Um Willen des Ruhms werde Gewalt als Mittel eingesetzt, z. B. zur Unterdrückung von Untertanen oder für militärisch unverantwortbare Wagnisse, die Gefahr laufen, das Gleichgewicht im Staat ins Wanken zu bringen. 4.4 Widerstreitet die Naturzustandstheorie dem göttlichen Recht? Das Reich Gottes (»Dei regnum«), so heißt es bei Spinoza, sei allein dort, wo »Gerechtigkeit und Liebe Rechts- und Gesetzeskraft [»vim juris et mandati«] haben. Dabei erkenne ich keinen Unterschied an, ob Gott die rechte Übung [»verum (…) cultum«] der Gerechtigkeit und Liebe durch das natürliche Licht oder durch Offenbarung lehrt oder befiehlt. Denn es ist gleichgültig, wie diese Übung offenbart worden ist, wenn sie nur das höchste Recht bedeutet und den Menschen als höchstes Gesetz gilt.«848 Sonach besitzt die negative Beantwortung der Frage nach einem etwaigen Gegensatz von Naturzustand und göttlichem Recht für Spinoza höchste Priorität, verlange doch das oberste göttliche Gebot, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben (das Gemeinsame beider Elementarbücher). Für den Juden Spinoza läßt sich das gesamte mosaische Gesetz auf dieses eine reduzieren: das christliche Gebot der Nächstenliebe.849 Immerhin verkünde Jesus zwar eine vernünftige Religion, in deren Zentrum besagte Liebesethik rangiere; doch letztlich – und davor darf der Spinoza-Student christlichen Bekenntnisses die Augen nicht verschließen – begreift Spinoza das Christentum wie andere Religionsgestalten auch als in orthodoxe Dogmen und leere Rituale erstarrt, denn auch das Neue Testament sei durch845 Siehe: I. P. Razumovski: Spinoza und der Staat. – In: Norbert Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus. A.a.O. 377 – 392; hier 392. 846 Siehe: Baruch de Spinoza: TP II, §§ 2 – 11. 847 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP »Praefatio«, S. III. 848 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 215. – Diese Überlegungen bilden eine folgenreiche Prolepse im Kontext des im 18. Jahrhundert anhebenden radikal religionskritischen Schrifttums, das durch den Gegensatz von Offenbarungsreligion – natürliche Religion bestimmt ist (siehe hierzu insbesondere das nachfolgende »Resümee«). Auch Spinozas Konzept einer Funktionalisierung der »religio catholica« bietet der nachfolgenden Aufklärungsphilosophie Anknüpfungsmöglichkeiten. Nach außen vertritt eine natürliche Religion z. B. Reimarus, der sich zurückhält, seine scharfe Kritik an den Offenbarungsreligionen (mithin auch dem Christentum) öffentlich zu machen. – Siehe: Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. A.a.O. »Vorbericht«. 55 – 66. 849 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 160; 164 [V.].
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setzt mit Unverbindlichkeiten: Die Apostel lehrten nur dasjenige, was ihnen vernünftig: auf Basis sprachlicher Performanz nämlich, einsichtig gewesen sei. Gleichwohl erhebt Spinoza diesen Vorwurf sowohl gegen das Judentum als auch den Islam (»Turca«);850 verständlich und insofern berechtigt ist er aber erst eingedenk dessen, daß emigrierten Juden damaliger Zeit einzig die Polemik gegen die eigene Religion, wie sie in der lateinischen Vulgata bzw. anderen christlichen Zeugnissen zu finden ist, als theologischer Bezugspunkt dient. Resultat dieser verhinderten Tradierung gelebter Religiosität sind ein jüdisch-christlicher Synkretismus und damit einhergehend unterschiedliche Formen von Skepsis, die sich zu Säkularismus, Neopaganismus, rationalistischem Deismus und (meistenteils) zu einer regellosen Mixtur von Symbolen und Traditionen auswächst. Der äußerlichen Kritik an der Religion überhaupt entspricht dann Spinozas Symptombeschreibung: daß »der Lebenswandel bei allen der gleiche«851 sei. Doch das äußere Moment der Kritik führt letztlich in das verfallene Innere von Religion: Dadurch, daß der Andersdenkende denunziert werde und die Prediger lediglich auf Erbaulichkeit (das Neue) achteten, habe sich der ursprüngliche Sinn der Religionen verloren; zurückgeblieben sei ihr Kultus. Hobbes, der zuletzt noch den Tractatus theologico-politicus rezipiert, bringt die Tiefenstruktur der Problematik: niemand wisse von Natur aus, daß er Gott Gehorsam schuldig sei, nicht zu Bewußtsein, wenngleich er sicherlich Spinoza darin recht gäbe, erst Zeichen der Offenbarung (»ex revelatione signis«) bedeuteten die Erkenntnisquelle des grundlegenden Gebots, Gott (und damit sich selbst und seinen Nächsten) lieben zu sollen.852 Spinoza indes sieht den Naturzustand auf die Religion folgen (»nam is et natura et tempore prior est religione«):853 Das Offenbarungsgeschehen als Quellgrund göttlichen Rechts erweist sich, mit Hegel zu sprechen, als ›nur‹ vermittelt. Näher verdeutlicht Spinoza diesen Aspekt in Gestalt einer Verteidigung der akkomodierten, d. h. in Befolgung anthropologischer Standards vollzogenen Rede des Paulus:854 Dessen Predigt, der Mensch könne Gott nicht entkommen, impliziere nichts weiter, als daß göttliches Erbarmen göttlicher Gnade obliege. Dies bedeute zunächst, daß auch menschliche Schuld theistischen Inbilds sei; was jedoch – und das nun folgende ausführliche Zitat sei durch in eckigen Klammern kenntlich gemachte Einschübe erläutert – »das göttliche natürliche Gesetz angeht [»ad legem divinam naturalem attinet«], dessen oberste Vorschrift es […] ist, Gott zu lieben, so habe ich es in dem Sinne Gesetz genannt, in dem die Philosophen [z.B. Galilei und Spinoza ipse] die allgemeinen Regeln der Natur, nach denen alles notwendig geschieht, Gesetze nennen. Denn die Liebe zu Gott [»Mentis Amor intellectualis erga Deum est ipse Dei amor, quo Deus se ipsum Siehe: Baruch de Spinoza: TTP »Praefatio«, S. IV. Siehe: Ibid. 852 Spinoza fragt sich denn auch, wie überhaupt die Verfolgung (resp. der gesellschaftliche Ausschluß) insbesondere von Philosophen möglich sei. 853 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 184. 854 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 184, Adh. XXXIV. 850
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amat«855] ist nicht Gehorsam, sondern Tugend [»Beatitudo non est virtus præmium; sed ipsa virtus«856], die dem Menschen, der Gott richtig erkannt hat [vgl. Spinozas Definitionen von causa sui, substantia und Deus857], notwendig innewohnt. Der Gehorsam hingegen hat den Willen des Befehlenden im Auge, nicht die Notwendigkeit der Sache und ihre Wahrheit. […] Dazu kommt noch, daß die göttlichen Rechte […] uns nur solange als Rechte und Satzungen [»jura seu instituta«] erscheinen, als wir ihre Ursache nicht kennen; haben wir diese erkannt [Ethica], dann hören sie auf, Recht zu sein, und wir nehmen sie als ewige Wahrheiten und nicht mehr als Rechte an; d. h. der Gehorsam geht dann in Liebe über, die ebenso notwendig [ordo geometricus] aus der wahren Erkenntnis [scientia intuitiva] hervorgeht wie das Licht aus der Sonne. Wir können also nach der Leitung der Vernunft Gott zwar lieben, aber nicht ihm gehorchen, da wir doch weder die göttlichen Rechte, solange ihre Ursache uns unbekannt ist, als göttlich annehmen, noch durch die Vernunft Gott als einen Herrscher, der Rechte festsetzt, zu denken vermögen.«858 Diese beiden Möglichkeiten, Gott zu ehren: entweder durch Gehorsam im Glauben oder rein vernünftig im »amor intellectualis« (nicht sowohl als auch!), verschaffen Spinoza beinahe unermeßliche Denkräume. Welchem Zeitgenossen Spinozas dieses Ausschlußverfahren nicht einleuchtet, der mag insbesondere dessen unter dem Titel Ethica geführtes Clandestinum (so er davon überhaupt Kenntnis hat) in der Zeit nach dem Ausspruch des Bannfluchs als ein Bedürfnis deuten, einen letztlich doch gültigen Beweis für die Unifikation von wissenschaftlichem Wahrheitsdienst und moralisch untadeliger Lebensführung zu erbringen.859 Rücksichtlich der hier leitenden Problemfrage gilt darüber hinaus, daß Spinoza mit der (wahren) Philosophie die Möglichkeit gegeben sieht, das (göttliche) Recht in das wissenschaftlich begriffene Gesetz der Natur zu transponieren: Der Kausaldeterminismus löst das Gebot ab, und die Philosophie rückt an die Stelle der Religion, der bestenfalls moralische Verbindlichkeit eigne; zumindest aber gilt im Staate die Freiheit zu philosophieren so viel wie das Recht auf seinen jeweiligen Glauben.860 Jedenfalls läßt das III. Kapitel des Tractatus theologico-politicus nochmals auf den bis dato erreichten Bearbeitungsstand der Ethica schließen: »Unter der Leitung Gottes verstehe ich jene feste und unveränderliche Ordnung der Natur oder die Verkettung der Naturdinge. Schon oben habe ich es ausgesprochen und an anderer Stelle habe ich es bewiesen, daß die allgemeinen Gesetze der Natur, nach denen alles geschieht und bestimmt wird, nichts anderes sind als Gottes ewige Ratschlüsse, die Siehe: Baruch de Spinoza: E V, Prop. XXXVI. Siehe: Baruch de Spinoza: E V, Prop. XLII. 857 Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Def.es I; III; VI. 858 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 184, Adn. XXXIV. 859 Dunin Borkowski unterstellt Spinoza in der Zeit nach 1657 zumindest »den Entschluß, sein Lebensglück unter strenge ethische Forderungen zu stellen.« – Siehe: Stanislaus von Dunin Borkowski S. J.: Spinoza. Band III. A.a.O. 2. 860 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP II, 28; X, 229. 855
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stets ewige Wahrheit und Notwendigkeit in sich schließen.«861 Nach dem Bisherigen erklärt sich dieser Passus von selbst. 4.5 Zur Kritik an der Offenbarung: Temperamenten-Lehre und Rhetorik »Ohne Einschränkung behaupte ich, daß sich das Grunddogma der Theologie nicht durch das natürliche Licht ergründen läßt oder daß es wenigstens noch niemanden gegeben hat, der es bewiesen hätte, und daß darum die Offenbarung höchst notwendig gewesen ist; nichtsdestoweniger aber können wir von unserem Urteil Gebrauch machen, um das bereits Offenbarte wenigstens mit moralischer Gewißheit anzuerkennen.«862 Spinoza schlägt also nichts weniger vor – und das wird hier als bedeutsame problemgeschichtliche Errungenschaft seiner revolutionierten Bibel-Hermeneutik verstanden –, als die positive Religion nicht nur dem inneren Staatsrecht zuzurechnen (Hobbes), sondern sie darüber hinaus als Bestandteil der Moral anzuerkennen. Das II. Kapitel (»De prophetis«) des Tractatus theologico-politicus legt dar, daß die Gewißheit der Propheten (deren Vorkommen kein ausschließlich jüdisches Spezifikum darstelle863) resp. der Dolmetscher Gottes864 über das zuerst Offenbarte »nur eine moralische[] Gewißheit war«,865 und die gesamte prophetische Gewißheit beruhe 1. auf einem wenig klaren (weil unvernünftigen866), wenngleich lebhaften Vorstellungsvermögen,867 2. auf einem Zeichen und 3. auf dem »Rechten und Guten zugewandten Sinn«.868 Zudem könnten ausschließlich dem Lebenswandel und der Tugendhaftigkeit der Propheten Verbindlichkeit beigemessen werden, nicht aber deren gemeiner Sicht auf die Dinge.869 Eine nähere Kenntnis der Ursachen prophetischer Eingebungen sei aber 1. nicht erforderlich, setze der Tractatus theologico-politicus doch ausschließlich die Urkunden der Heiligen Schrift (»Scripturæ documenta«) und nicht die Ursachen dieser Urkunden der Kritik aus,870 und sei zudem 2. – da ihre Gewißheit nicht von maSiehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 31 f. – Vgl. die Rechtssystematik in: Thomas Hobbes: C II, Kap. 14 (Gott offenbart seine Gesetze nur durch die natürliche Vernunft). 862 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XV, 171. – Zur Erkenntnisreichweite des »lumen naturale« siehe: Ibid. IV, 48. 863 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 36. 864 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP I, 1. 865 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XV, 171. – Den gesellschaftlich-moralischen Wert prophetischer Agitation stellt Spinoza allerdings in Frage. – Siehe: Ibid. XIX, 222. 866 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP II, 16. 867 Spinoza gesteht allerdings unumwunden seine Ratlosigkeit ein, welche Naturgesetze hier wirkten. – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP I. 14. – Abgesehen von Jesus Christus habe niemand unabhängig vom Vorstellungsvermögen die göttliche Offenbarung empfangen (eine nähere Erörterung folgt). – Siehe: Ibid. I, 7. – Von den Predigern des Alten Testaments habe Salomo am vernünftigsten von Gott gesprochen. – Siehe: Ibid. II, 27; III, 31. 868 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XV, 172; II, 17. 869 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP »Praefatio«, S. V; I, 13 870 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP I, 14. 861
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thematischer Art sei – auch gar nicht zu leisten möglich.871 Ein weiteres Hindernis für eine sichere Deutung des im prophetischen Vorstellungsvermögen sich einstellenden Geoffenbarten bestehe in der jeweiligen Realisierung prophetischer Sendung, die vom subjektiven Temperament (»pro dispositione temperamenti corporis«) ihres Empfängers abhänge; diese Diversifikationen kommen in jeweils korrespondierenden Sprechakten zum Ausdruck.872 Sie induzieren nichts weniger als eine göttliche Offenbarung je nach Gemütsverfassung. Problemgeschichtlich begegnet hier erneut die Vier-Säfte-Lehre, und es wird nicht das letzte Mal sein.873 Zudem tritt neben die Temperamentenlehre zusätzlich ein rhetorisches, die revelatorische Performanz bedingendes Kriterium. Entscheidend ist allerdings – und auf diese Weise wird der in Rede stehende Problemkomplex ›Propheten – Prophetie‹ der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen –, daß Spinoza den variierenden Qualifizierungsgrad der Gabe zur Prophetie als Gnade Gottes ausgibt.874 4.6 Zum Verhältnis von Natur- und Gesetzesbegriff Erst eine problemgeschichtliche Synopse von Ethica und Tractatus theologico-politicus bringt ans Licht, daß Spinoza zwei Naturbegriffe aufeinander bezieht, die zwei Quellen von Offenbarung aus sich entlassen: zum einen die natürliche und zum anderen die prophetische Erleuchtung.875 Die natürliche (d. h. allgemeingültige) Ausdrucksform ist hier der Beweis (»demonstratio«876) – und sonach eine zusätzliche Möglichkeit, Religion als natürliches Phänomen, d. h. gemäß den Grundsätzen Spinozanischer Philosophie: als Gestalt der Vernunft selbst zu deuten.877 Wenn die Siehe: Baruch de Spinoza: TTP II, 18. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP II, 19; 21. 873 Siehe hierzu auch: III. Teil, 1. Abschnitt, Kapitel 3.4; 4. Abschnitt, Kapitel 1.1; 1.2. 874 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP II, 21. 875 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 215 f. 876 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 216. 877 Hieraus folgt konsequent Spinozas kritische Bestandsaufnahme des Wunderglaubens, die für die nachfolgende Aufklärungsphilosophie ein zentrales Initial bereitstellt, führt doch Spinozas naturalistische Wunderdeutung in einen unlösbaren Konflikt mit den Wundererzählungen (»miraculorum narrationes«), wie sie der Heiligen Schrift zu entnehmen sind. Der progressive Zug dieser These besteht darin, daß sie als Begründung der Folgerung Spinozas, Wunderberichte könnten bestenfalls eine sakrilegische Zutat aus Frevlerhand sein, fungiert. Spinozas Grundbehauptung, daß beide: sowohl die Heilige Schrift als auch die Vernunft, zur Erkenntnis der Liebe Gottes befähigten, verlegt die Beweislast auf die Offenbarungsreligion, behauptet sie doch die Supranaturalität der Wunder als Fundament für die Wahrheit des Christentums. Spinoza wiederum ist seinerseits mit dem Problem konfrontiert, die Irrelevanz von Wundern erweisen zu müssen. Dabei glaubt er, deren Demontage könne erfolgen, indem die Frage aufgeworfen wird, ob sich die Wirkkraft der Natur modifizieren lasse. Seine Antwort fällt negativ aus: Allein Gott lenke die Natur. So kündigt Spinoza an zu zeigen, »1. daß nichts gegen die Natur geschieht, daß diese vielmehr eine ewige, feste und unveränderliche Ordnung innehält, und zugleich, was man unter einem Wunder zu verstehen hat; 2. daß wir aus den Wundern weder das Wesen noch die Existenz 871
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Religion die Vernunft hat, hat die Vernunft gleichermaßen die Religion. Solchen Vernunftoptimismus teilt Hobbes nicht: »Ein Mensch sollte daher nicht durch die Vernunft irgendeinen Punkt prüfen oder mittels der Vernunft aus der Schrift irgendeine Folgerung über das Wesen des allmächtigen Gottes ziehen, denn dessen ist die Vernunft nicht fähig.«878 Zwar bekennt auch Spinoza freimütig, die Heilige Schrift nicht zu verstehen;879 wo aber der Tractatus theologico-politicus diesen Widerspruch um willen der Philosophie auszutragen sucht, gibt Hobbes immerhin zu bedenken, nicht mehr getreu des Katechismus mit der Bibel zu verfahren. Spinozas Projekt einer hermeneutischen Bibelkritik – ein Unternehmen, als dessen Anlaß, wie gesehen, nicht zuletzt Spinozas Exkommunikation namhaft gemacht werden muß – kommt in diesem Sinne mindestens ebenso viel Gewicht zu wie seiner zeitgleich in Arbeit befindlichen Ethica. Spinoza sucht aber nicht nur die Gleichursprünglichkeit von Kirche und Staat zu erweisen,880 sondern gleichermaßen über den Verlust der Rechtsgeltung geoffenbarter Religion im Zuge des Niedergangs des hebräischen Reiches aufzuklären:881 Das Ende des Staates, mit dem auch die theologische Befugnis der Exegeten erlischt, läutet so auch das Ende geoffenbarter Religion ein. Die Religion, so Spinoza, gelte »nur noch als eine allgemeine Lehre der Vernunft [»catholicum rationis documentum«].«882 Vor diesem Hintergrund kann Spinoza diese beiden streng voneinander geschiedenen Gesetzesbegriffe einer Kritik aussetzen: einerseits das göttliche Gesetz als Gebot, andererseits das in seiner Unwandelbarkeit ewig-wahre und unverbrüchliche Naturgesetz,883 das keinerlei Glaubenspraxis verpflichtet sein kann,884 zeige es und folglich auch nicht die Vorsehung Gottes erkennen können, daß vielmehr all das weit besser aus der festen und unwandelbaren Ordnung der Natur begriffen werden kann.« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP VI, 68. – Wunder seien kein Bestandteil eines Beweises für die Existenz Gottes, wenngleich sie das menschliche Fassungsvermögen transzendierten – aber genau das macht sie problematisch. Vielmehr geht Wunderglauben für Spinoza einher mit Unwissenheit und impliziert gerade insofern eine Desavouierung der Religion, die im Gegensatz zum Aberglauben nicht auf Unwissenheit, sondern auf Weisheit gründe. Ob Freudenthal darin zuzustimmen wäre, es sei Spinozas Bestreben, die Religion wieder in denjenigen Rang zu erheben, den sie einst innehatte: eine ›milde Beherrscherin der Herzen‹ (siehe: Jacob Freudenthal: SL 166), sei dahingestellt. – Siehe auch: Baruch de Spinoza: B 73; 75. An Heinrich Oldenburg (undatiert). 878 Siehe: Thomas Hobbes: N II, Kap. VI, 9. – Siehe zudem: Röm 12,3. – Hobbes erwähnt des Weiteren »dicke Bände« zum Thema Schicksal und Zufall bei den Stoikern und Epikureern und spricht die Warnung aus, »daß das Aufwerfen von Fragen durch die menschliche Vernunft, obgleich man dabei von fundamentalen Punkten ausgeht, nicht nur nicht nötig, sondern höchst gefährlich für den Glauben eines Christen ist.« – Siehe: Ibid. – So versteht Hobbes Paulus. 879 Siehe: Baruch de Spinoza: B 21. An Willem van Blyenbergh. Schiedam, 28. Januar 1665. 880 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 223. 881 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 216. 882 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 216. – Die »allgemeine Religion war damals noch nicht durch Offenbarung bekannt geworden (»catholica religio nondum ex revelatione innotuerat«). – Siehe: Ibid. XIX, 217. 883 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XV, 174, Adn. XXXI.
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sich doch in Form von Sprache und (exklusiv jüdischer885) Geschichte (d. h. in Gestalt kanonisierter heiliger, sprich prophetischer Bücher im Fokus ihrer Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte). Mitnichten jedoch – und hier scheint es erneut auf – legitimiert diese für die Konzeption des Tractatus theologico-politicus basale Differenz von göttlichem und natürlichem Gesetz eine Diffamierung von Heiliger Schrift und Offenbarung, das Gegenteil ist vielmehr der Fall: »Denn da wir durch das natürliche Licht nicht begreifen können, daß der schlichte Gehorsam der Weg zur Seligkeit ist, sondern da nur die Offenbarung lehrt, daß dies aus der besonderen Gnade Gottes geschieht, die wir mit der Vernunft nicht erfassen können, so ergibt sich, daß die Schrift den Sterblichen einen sehr großen Trost gewährt.«886 Einerseits stellt Spinoza nicht in Abrede, »daß das Lesen dieser Geschichten im Hinblick auf das bürgerliche Leben von großem Nutzen ist«;887 andererseits erschwert der Graben, der sich hier abermals zwischen »Klügeren« und nicht in der (wahren) Erkenntnis (Gottes) Unterwiesenen auftut, eine Kontinuität gelebter Religiosität im Staat. Daß die Vernunft selbst dafür den Nährboden bereitet, verschärft die konfessionellen Divergenzen nur noch weiter.888 Spinoza erörtert aber auch das Problem, ob sich die Vernunft von Gott als Gesetzgeber oder Herrscher überhaupt einen Begriff bilden könne. Und seine Lösung betrifft die Entlarvung des Scheins der Differenz von göttlichem Willen und göttlichem Verstand: Diese Unterscheidung werde durch die menschliche Vernunft allererst erzeugt, d. h. in »Gedanken [»nostrarum cogitationum«], die wir uns vom Verstande Gottes bilden.«889 Die Konsequenz hieraus besteht v. a. darin, die göttliche Offenbarung zukünftig von einem näheren Verständnis ihrer vernunftbasierten Widersprüche entlasten zu können. Dies geht immer dann vonstatten, wenn an Stelle eines Wissens von Gott i.S. einer notwendigen und ewigen Wahrheit anders sein Wesen für den Ausdruck eines Gesetzes oder einer Verordnung genommen wird. Einer solchen theologischen Verkennung verfalle, so Spinoza, nicht allein Adam: »Aus dem gleichen Grunde, nämlich wegen mangelhafter Erkenntnis [»defectum cognitionis«], war der Dekalog bloß in bezug auf die Hebräer ein Gesetz. Weil sie das Dasein Gottes nicht als ewige Wahrheit erkannten, mußten sie das, was ihnen im Dekalog offenbart wurde, nämlich daß Gott existiert und daß er allein anzubeten ist [2. Gebot des Dekalogs,890 H. G.], als ein Gesetz auffassen. Hätte Gott ohne die Anwendung körperlicher Mittel unmittelbar zu ihnen gespro-
Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 165. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 37. 886 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XV, 174. 887 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 47 f. 888 Auch diesen Aspekt spricht Spinoza an, wenn es heißt, daß »die Menschen in Religionssachen gewöhnlich am meisten irren«. – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 185. 889 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 48. – Siehe auch: ders.: E II, Prop. III, Dem., Scholium. 890 Siehe: Ex 20,3. 884
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chen, so hätten sie es nicht als Gesetz, sondern als ewige Wahrheit aufgefaßt.«891 Dies gelte gleichermaßen für das Prophetentum – sonach auch für Moses selbst –, welches im Namen Gottes Gesetzestexte verfaßt hat. 4.7 Zur Form des Staatsrechts; seine Folgen Das XVI. Kapitel des Tractatus theologico-politicus führt folgende Titelei: Über die Grundlagen des Staates, über das natürliche Recht und das bürgerliche Recht des einzelnen und über das Recht der höchsten Gewalten. Es basiert auf Spinozas zuvor getroffener Bestimmung des Gesetzes als regelmäßige individuelle Handlung,892 aus welcher sich der Begriff des eigentlichen Rechts ergebe als »dasjenige, das die Menschen zur größeren Sicherheit und Bequemlichkeit des Lebens oder aus anderen Gründen sich und anderen vorschreiben.«893 Das Recht verwirklicht sich demnach in zweierlei Weise: einmal als menschliches und einmal als göttliches (der wahren Erkenntnis und Liebe Gottes verschriebenes894) Gesetz. Insbesondere das Naturrecht richte sich nach Begierde und Macht(-streben), denn »nicht alle Menschen sind von Natur bestimmt, nach den Regeln und Gesetzen der Vernunft zu handeln«895 – für Spinoza die entscheidende Voraussetzung für die Macht des durch Furcht verursachten896 Aberglaubens (eines geistigen Wahngebildes [»mentis ludibria«]). Die Unterscheidung zwischen bürgerlichem Recht und bürgerlichem Privatrecht (»jus civile privatum«) ist fortan nichtig:897 »die Freiheit des einzelnen, sich in seinem Zustand zu erhalten, [ist, H. G.] eine Freiheit, die durch die Erlasse der höchsten Gewalt bestimmt und durch ihre Autorität allein geschützt wird.«898 Nach Spinoza erwächst allerdings aus diesem Austritt aus dem Naturzustand die Verpflichtung zu einer vernünftigen Lebensführung – was auch (d’accord mit Hobbes, der bereits bei Spinozas Abfassung des eminent praktisch veranlagten Tractatus de intellectus emdendatione im Hintergrund steht899) die Abtretung des Widerstandsrechts an die höchste Macht inkludiere. So ist – und auch hierin treffen sich Hobbes und Spinoza – Unrecht überhaupt nur im bürgerlichen Gemeinwesen, d. h. als Konflikt unter zivilen Rechtspersonen, denkbar, »von den höchsten Gewalten jedoch, denen von Rechts wegen alles erlaubt ist, kann den Untertanen Siehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 49. Siehe hierzu auch: II. Teil, Kapitel 2.1; 3.2; 3.7. 893 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 44. 894 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 45. 895 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 176. 896 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP »Praefatio«, S. I–III. 897 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 181. 898 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 182. – Siehe hierzu auch: Wilfried Röhrich: Der Staat der Freiheit. Zur politischen Philosophie Spinozas. Darmstadt 1969. 38 – 41. 899 Siehe: Ernst Cassirer: Spinoza. – In: Norbert Altwicker (Hg.): Texte zur Geschichte des Spinozismus. A.a.O. 172 – 214; hier 194 f. 891
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kein Unrecht geschehen.«900 Dies hat zur Konsequenz, daß im Naturzustand weder Recht noch Unrecht herrscht (und somit auch keine Gerechtigkeit) – und auch keine Sünde, hat diese doch religiöse Projektionen zur Voraussetzung. Nicht zuletzt Spinozas hinterlassene Privatbibliothek901 indiziert, daß er Hobbes’ Werke studiert – was ihn jedoch nicht davor bewahrt, mit einer Hobbes-Bemerkung einem Mißverständnis aufzusitzen: »In jedem Staat kann der Mensch frei sein. Denn sicher ist der Mensch so weit frei, als er sich von der Vernunft leiten läßt. Aber (wohlgemerkt anders nach Hobbes) die Vernunft rät durchaus zum Frieden. Dieser aber kann nur aufrecht erhalten werden, wenn die gemeinsamen Rechte des Staates unverletzt bleiben. Je mehr also der Mensch von der Vernunft geleitet wird, d. h. je freier er ist, desto beständiger wird er die Rechte des Staates achten und die Gebote der höchsten Gewalt, deren Untertan er ist, befolgen«,902 denn die Inhaber der Regierungsgewalt »sollen auch die Ausleger und Beschützer des geistlichen Rechts sein [»interpretes esse debent et vindices«].«903 Oben ist bereits hinlänglich erörtert worden, daß Hobbes das Gebot zum Frieden – freilich solange es die allgemeine Sicherheit nicht gefährde – unter die ersten Naturgesetze rechnet,904 ja es sogar einmal als »Wesen des Naturgesetzes«905 bezeichnet. Unbeantwortet bleibt allein – aber darauf kommt Spinoza nicht zu sprechen –, wie nach Hobbes die Fortführung des Natur- bzw. Kriegszustands jemals unterbunden werden könnte, lasse sich doch das Verhältnis der Staaten untereinander nicht anders als eine Fortsetzung dieses Naturzustands mit anderen Mitteln verstehen.906 Auch nach Hobbes bleibt somit der Naturzustand trotz Gründung separater Staatskörper in Geltung. 4.8 Die theologische Kritik an der Vertragstheorie Spinozas Analyse des Staatsrechts betrifft die Grundlagen der demokratischen Regierung. Er sieht mit der Verwirklichung dieser Staatsform das naturrechtliche Gleichheitsprinzip, das Hobbes noch als Risiko einstuft,907 auf politischer Ebene restituiert:908 Die Übertragung eigener Rechtsgewalt auf eine Mehrheit im Volk (Vertrag) ist ja nur möglich, bleibt der Einzelne – so wie jeder andere – Teil der Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 182. (129) »Hobbes Elementa Philosophica«. – Siehe: LD Dok. 75. – De Cive hat Spinoza sicher besessen. – Siehe: Henri Krop: Spinozas Bibliothek. – In: Cis van Heertum/Frank Grunert (Hgg.): Spinoza im Kontext. A.a.O. 47 – 58; hier: 54. 902 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 181, Adn. XXXIII. 903 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 214. 904 Siehe: Thomas Hobbes: L 107; 108; 128; 145; ders.: N I, Kap. XIV, 14; 74; 126; 129. 905 Siehe: Thomas Hobbes: N 101; siehe auch 112 f. 906 Siehe: Thomas Hobbes: C »Widmung an Se. Exz. den Grafen Wilhelm von Devonshire, meinen hochzuverehrenden Herrn.« 59. 907 Siehe: Thomas Hobbes: C I, Kap. 1, 14. 908 Siehe: III. Teil, 3. Abschnitt, Kapitel 4.3. 900
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Gesamtgesellschaft (»totius societatis«); ob er dabei gleichberechtigt gemäß dem Prinzip der Gerechtigkeit ist, läßt Spinoza unerörtert, müßte jedoch nach den Voraussetzungen seiner Naturrechtslehre, in deren Zentrum die weitgehende Verwirklichung der durch individuelle geistig-körperliche Macht gegebenen Möglichkeiten steht, ausgeschlossen werden. Dem entspricht, daß Spinoza die Möglichkeit einer vollständigen kontraktualistischen Rechtsübertragung nicht für möglich hält: Die Natur könne nicht um ihr Sein betrogen werden, das spezifisch Menschliche der Vertragspartner laufe niemals Gefahr, vollständig getilgt zu werden.909 Die Explikation des Begriffs der Demokratie, so Spinoza, entbinde denn auch davon, die Grundlagen der übrigen Staatsgewalten offenzulegen, »da ich ja vom Nutzen der Freiheit im Staate hatte sprechen wollen.«910 Zudem beabsichtigt der Autor des Tractatus theologico-politicus keine Demonstration, auf welche Weise die Regierungsbildung rücksichtlich des Kriteriums permanenter Sicherheitsgarantie911 glücken könne912 – ein weiterer kardinaler Unterschied zur Politologie Hobbes’. Spinoza lehnt den historischen Kontraktualismus ab, da er diese Idee dem göttlichen Recht zuschlägt: »Denn ausdrücklich haben [die Hebräer, H. G.] durch Vertrag (s. 2. Buch Mose, Kap. 24, V. 7) und Eidschwur auf ihr natürliches Recht freiwillig, nicht durch Gewalt gezwungen oder durch Drohungen erschreckt, verzichtet und es auf Gott übertragen. Damit dieser Vertrag gültig und dauernd sei und den Verdacht einer Täuschung nicht aufkommen lasse, hat Gott nicht eher mit ihnen etwas vereinbart, als bis sie seine wunderbare Macht erfahren hatten, durch die sie einzig und allein erhalten worden waren und in Zukunft erhalten werden konnten (s. 2. Buch Mose, Kap. 19, V. 4 u. 5). Denn eben weil sie glaubten, sie könnten durch Gottes Macht allein erhalten werden, haben sie ihre ganze natürliche Macht sich zu erhalten, die sie vielleicht früher aus eigenem Recht zu haben meinten, auf Gott übertragen und damit auch ihr ganzes Recht. […] Infolgedessen waren die Feinde des Staates Feinde Gottes. […] Darum waren in diesem Staate bürgerliches Recht und Religion […] ein und dasselbe. […] Darum konnte dieser Staat auch eine Theokratie heißen, weil seine Bürger an kein anderes Recht als an das von Gott offenbarte gebunden waren. Das alles beruhte indes mehr auf der Meinung als auf der Wirklichkeit. Denn in Wirklichkeit hatten die Hebräer das Recht der Regierung ohne Einschränkung sich vorbehalten […].«913 Der Ausgang dieses Belegs markiert unmißverständlich, welches Interesse Spinozas InterSiehe: Baruch de Spinoza: TTP XVII, 187; XX, 225. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 181. 911 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 33. 912 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVII, 189. 913 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVII, 191 f. – Zu den Möglichkeiten, die Spinoza sieht, einen ›rein vernünftigen‹ Vertrag zu schließen, siehe z. B.: Thomas Heerich: Transformationen des Politikkonzepts von Hobbes zu Spinoza. Würzburg 2000. 47 – 58. (Schriftenreihe der Spinoza-Gesellschaft. Band 8) – Zudem: Kazuhiko Yoshida: Vernunft und Affektivität. Untersuchungen zu Spinozas Theorie der Politik. Würzburg 2004. 99 – 124. (Schriftenreihe der Spinoza-Gesellschaft. Band 12) 909
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pretation jüdischer Theokratie verfolgt: nämlich den Erweis letztgültiger Übertragung allen Rechts auf den obersten Richter Moses als einzigen legitimen Ausleger der göttlichen Gesetze (»divini oraculi«).914 Die Ansicht, geistliches sei vom bürgerlichen Recht zu trennen, nennt Spinoza später aufrührerisch (»seditiosam opinionem«).915 Unter diesen Voraussetzungen ergibt sich die Möglichkeit eines Verständnisses des bereits zuvor916 betrachteten (vermeintlichen) Endes des (mosaischen) Gesetzes in Gestalt des Lebens und Wirkens Jesu, der vor dem Hohen Rat vermutlich unter Eid aussagt,917 jedoch selber einen solchen zu leisten untersagt.918 Spinoza: »Denn wenn die Menschen von Natur durch das göttliche Recht verpflichtet wären oder wenn das göttliche Recht von Natur Recht wäre, so wäre es ja ganz überflüssig, daß Gott mit den Menschen einen Vertrag einginge und sie durch Bund und Schwur verpflichtete. Darum muß man unbedingt zugeben, daß das göttliche Recht erst mit der Zeit beginnt [»jus divinum ab eo tempore incepisse«], zu der die Menschen durch ausdrücklichen Bund versprochen haben, Gott in allem zu gehorchen, womit sie gleichsam auf ihre natürliche Freiheit verzichtet und ihr Recht auf Gott übertragen haben, wie es nach meinen Ausführungen im bürgerlichen Zustand der Fall ist.«919 Spinoza will hier keinesfalls insinuieren, die Etablierung von Religion bedinge gleichermaßen den Austritt aus dem Naturzustand, betont er doch unmißverständlich, im Naturzustand sei »jeder aus demselben Grunde an das offenbarte Recht gebunden […], aus dem er an die Vorschrift der gesunden Vernunft gebunden ist, weil es nämlich für ihn vorteilhafter und für sein Heil notwendig ist.«920 Sonach ist das bürgerliche Recht gebunden an den Beschluß (»decreto«) der höchsten Gewalt, »das Naturrecht aber hängt von den Gesetzen der Natur ab, die sich nicht nach der Religion richten [»jus autem naturale pendet a legibus naturæ, quæ non religioni (…) intendenti«], welche bloß den menschlichen Nutzen im Auge hat, sondern nach der Ordnung der gesamten Natur, d. h. nach dem ewigen, uns unbekannten Ratschluß Gottes [»sed ordini universæ naturæ, hoc est, æterno Dei decreto nobis incognito accommodatæ sunt«]«: der Substanz oder der Natur nämlich, d. h. dem schlechthin unendlichen, s.c. aus unendlich vielen in ihrer Art unendlichen Attributen bestehenden Sein.921 Hier sagt es Spinoza klar und deutlich: Von der Religion unabhängige Gesetze der Natur determinieren das Recht der Natur. Flankiert wird diese Rechtsfigur durch die – wie gesehen in Wahrheit religionskritische – Forderung, »daß wir Gott über alles gehorchen müssen«, weil hier der Bedingungsnachsatz entscheidend ist: nur dann, »wenn wir eine gewisse und 914 915 916 917 918 919 920 921
Siehe auch: Baruch de Spinoza: TTP XVII, 207. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIX, 220. Siehe Kapitel 2.3 des II. Teils vorliegender Untersuchung. Siehe: Mt 26,64 f. Siehe: Jak 5,12; Mt 5,34 – 37. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 184. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 184 f. Siehe: Baruch de Spinoza: E I, Def. VI.
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unzweifelhafte Offenbarung besitzen [»quando certam et indubitatam habemus revelationem«].«922 Zu unterscheiden ist also – sei es gegründet im Vernunftgesetz (Transfer) oder bezeugt durch das Offenbarungsgeschehen (Rekursion) – das Recht der höchsten Gewalt auf alles von dem auf sie übertragenen natürlichen Recht des einzelnen. Doch die auf Basis eines Kontrakts gegründete Gesellschaft fungiert lediglich als praktisches Optimum, dem gegenüber die politische Realität bestenfalls einen günstigen Annäherungswert darstellt.923 Zum Menschen jedoch – und dieses Charakteristikum erhebt Spinoza in den Rang einer ewigen Wahrheit – gehöre eine komparatistisch veranlagte Vermeidungsstrategie von Übeln einerseits und eine strategische Energie zur Potenzierung des Guten (bonum) andererseits.924 Das Recht der Natur – drohe individuelles Übel – rechtfertige sogar die Lüge;925 die damit verbundene moralische Verwerflichkeit diskutiert Spinoza erst gar nicht, hält er sie doch für eine widernatürliche und damit unzulässige Projektion.926 Insofern untersteht besonders der Staatsvertrag dem utilitaristischen Kriterium: Es sei »töricht, von einem anderen ewige Treue zu fordern, wenn man nicht gleichzeitig dafür sorgt, daß ihm aus dem Bruch des abzuschließenden Vertrags mehr Schaden als Nutzen erwächst.«927 Damit einher geht, »daß jeder, soviel er von der Macht [»potentiæ«], die er besitzt, freiwillig oder gezwungen [»vel vi vel sponte«] auf einen anderen überträgt, gerade soviel auch von seinem Recht dem anderen abtreten muß […].«928 Derjenige, dem das höchste Recht zukomme, habe auch die höchste Gewalt inne und behaupte diese, solange er sich an der Macht halten könne.929 Dies ist das Recht des Stärkeren. Jeder sei angehalten, die gesamte Macht, über die er verfüge, »auf die Gesellschaft zu übertragen, die damit das höchste Recht auf alles hat, d. h. die allein die höchste Regierungsgewalt innehat und der jeder aus freiem Willen oder aus Furcht vor der härtesten Bestrafung gehorchen muß. Das Recht einer derartigen Gesellschaft heißt Demokratie; sie ist demnach zu definieren als eine allgemeine Vereinigung von Menschen, die in ihrer Gesamtheit das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag.«930 Ob allerdings einem solchen nach heutigem Verständnis wenig demokratisch anmutenden Gesellschaftsmodell nicht historische Realitätsferne vorzuwerfen wäre, Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 185. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVII, 187. 924 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 178. 925 Siehe: Ibid. 926 Schon zuvor erklärt Spinoza unmißverständlich: »Wenn uns daher irgend etwas in der Natur als lächerlich, widersinnig oder schlecht erscheint, so kommt das nur daher, weil unsere Erkenntnis von den Dingen Stückwerk ist, weil uns die Ordnung und der Zusammenhang der ganzen Natur zum größten Teil unbekannt bleiben und weil wir alles nach der Gewohnheit unserer Vernunft geleitet sehen wollen.« – Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 177. 927 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 178; 181. 928 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 179. 929 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 179 f. 930 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 179. 922
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wenn Spinoza – insbesondere mit Bezug auf Senecas Ansicht zur Gewaltherrschaft931 – erklärt, es komme nur selten vor, »daß die höchsten Gewalten ganz widersinnige Befehle geben; denn ihnen liegt am meisten daran, sich vorzusehen und die Herrschaft zu behaupten, indem sie für das Gemeinwohl sorgen und alles nach dem Gebot der Vernunft leiten«,932 wirft nicht nur die Frage nach dem Begriff der Souveränität auf, sondern betrifft darüber hinaus das Verhältnis von Moralität und Gouvernementalität.933 4.9 Die Verbannung der Exegeten und der säkulare Staat Wie die Ethica wird der Tractatus politicus erst 1677, nach Spinozas Tod, in den von Freunden des Verstorbenen veranstalteten Opera Posthuma veröffentlicht. Spinoza hat die Arbeit an diesem Werk, das er auf Wunsch seiner Freunde verfaßt, jedoch nicht mehr abschließen können: Möglicherweise inmitten der Beschreibung der demokratischen Staatsverfassung scheidet er aus dem Leben. Die Ausarbeitung des Werks, mit der er in seinem letzten Lebensjahr beginnt, ist aber auch unterbrochen worden, um eine Neuauflage des Tractatus theologico-politicus – versehen mit verdeutlichenden, auf Lateinisch verfaßten Glossen – auf den Weg zu bringen.934 Dessen Abfassung wiederum verhindert über Jahre die Fertigstellung der Ethica – und auch ihre Publikation: Die scharfen Kontroversen, welche der Tractatus theologico-politicus hervorruft, haben die Herausgabe der Ethica bei Lebzeiten Spinozas als nicht ratsam erscheinen lassen. So befindet sich Spinoza kurz vor seinem Tod in einer persönlich so gefährlichen wie wissenschaftlich ausweglosen Lage. An Oldenburg schreibt er im Herbst des Jahres 1675, daß die geplante Publikation der Ethica zunächst einmal auf unabsehbare Zeit verschoben werden müsse: »Während ich damit beschäftigt war, wurde überall das Gerücht ausgesprengt, es sei ein Buch von mir über Gott unter der Presse, in dem ich zu beweisen suche, daß es keinen Gott gebe, ein Gerücht, das auch bei vielen Leuten Eingang fand. Daraus nahmen einige Theologen (vielleicht die Urheber dieses Gerüchts) Gelegenheit, mich beim Prinzen [Wilhelm III. von Oranien-Nassau, H. G.] und bei den Behörden zu verklagen […]. Die Sache scheint aber von Tag zu Tag eine schlimmere Wendung zu nehmen, und ich bin im Ungewissen, was ich dabei tun soll.«935 Rückgriffe auf Spinoza denkt hier wohl an die drei Bücher De ira von Lucius Annaeus Seneca, d.i. Seneca der Jüngere (ca. 1 – 65). 932 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 180. 933 Siehe: Michel Foucault: Analytik der Macht. Aus dem Französischen von Reiner Ansén u. a. Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald. Auswahl und Nachwort von Thomas Lemke. Frankfurt a. M. 2005. 171 f. 934 Siehe: Baruch de Spinoza: B 68. An Heinrich Oldenburg. Herbst 1675. – Diese Anmerkungen sind als Randbemerkungen einigen Exemplaren des Tractatus theologico-politicus beigefügt. 935 Siehe: Baruch de Spinoza: B 68. An Heinrich Oldenburg. Herbst 1675. 931
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Spinozas eigene, noch unveröffentlichte Metaphysik im Tractatus theologico-politicus (vorwiegend in den Kapiteln IV und VI) haben zu unterschiedlichen rezeptionsgeschichtlichen Interpretationen geführt. Spinozas Brief an Oldenburg gibt zu erkennen, daß er nach der Publikation des Tractatus theologico-politicus mittlerweile für sich selbst schlimme Konsequenzen fürchtet – Konsequenzen, die ihn, wäre er nicht zwei Jahre später verstorben, vermutlich tatsächlich ereilt hätten: Seine Feinde hätten ihm wohl den Prozeß wegen Ketzerei und Gottesleugnung machen wollen.936 Möglicherweise hätte Spinoza ein ähnliches Schicksal ereilt wie den bereits genannten Arzt und Advokaten Adriaan Koerbagh, der als Verfolgter bedingt durch die Publikation eines nicht der Sache des Christentums verschriebenen Werks sogar der Folter standhält und Spinozas Freundeskreis nicht denunziert!937 Möglicherweise gedenkt Spinoza des armen Koerbagh, als er gegen Ende seines Tractatus theologico-politicus schreibt: »Was, sage ich, kann verderblicher sein, als wenn Männer nicht wegen eines Verbrechens oder einer Freveltat, sondern nur weil sie freien Geistes sind, zu Feinden erklärt und zum Tode geführt werden […]?«938 Spinoza sagt klar und deutlich, daß »diejenigen in Wahrheit Antichristen sind, die achtbare und gerechtigkeitsliebende Männer deshalb verfolgen, weil sie von ihrer Meinung abweichen und nicht dieselben Dogmen vertreten wie sie. Denn wir wissen, wer Gerechtigkeit und Liebe hochschätzt, der ist dadurch allein schon gläubig, und wer die Gläubigen verfolgt, der ist ein Antichrist.«939 Der Tractatus politicus reflektiert Spinozas Erfahrungen seit dem Ende der niederländischen Liberalität. Das Werk optiert für eine föderative Aristokratie i. S. de Witts; wie gesehen, bevorzugt Spinoza noch im Tractatus theologico-politicus die Demokratie. Wilhelm Schmidt-Biggemann gibt zu bedenken, die politische Lage des Landes tendiere nun jedoch wieder dahin, Staat und Religion enger zu verknüpfen; »der innenpolitische Friede galt nicht mehr als Voraussetzung für die Souveränität des Staates, sondern die Souveränität Gottes, seiner auserwählten Kirche und seines Königs war das höchste Ziel.«940 Dieses politische Ziel hat ein wissenschaftshistorisches Modell zur Voraussetzung: nämlich die theologische Legitimation von Staat und Religion im Interesse des Heils seiner Untertanen (Thron und Altar). Spinozas Tractatus theologico-politicus indes beschreitet den entgegengesetzten Weg: Es sei nicht die Aufgabe des Staates, das Seelenheil seiner Bürger zu Sprechend: Samuel Hirszenbergs (1865 – 1908) Bildnis Spinoza und seine Feinde. – Siehe: Eli Rottner: Spinoza in Israel. Eine kritische Betrachtung. A.a.O. 33. 937 Zu dem traurigen Schicksal Koerbaghs siehe v. a. (weil hier erstmals die einschlägigen Prozeßprotokolle angeführt werden): K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 367 – 400. – Siehe zudem: Theun de Vries: S 116 – 119. – Und: Jacob Freudenthal: SL 139 ff. 938 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 231. 939 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XIV, 162. 940 Siehe: Baruch de Spinoza. 1677 – 1977. Werk und Wirkung. Zusammengestellt und eingeleitet von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Zweite, hier und da verbesserte und vermehrte Auflage. Braunschweig 1977. 11. (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek. Nr. 19) 936
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befördern; vielmehr solle erreicht werden, daß die religiösen Instanzen ihre Anschauungen weniger mit Macht als mit Überzeugung vertreten. Bereits eine Äußerung Spinozas aus dem Jahr 1665 deutet auf den späteren Tractatus politicus, die letzte und ausgereifte Form seiner politischen Theorie, hin, in welchem die Religion kein konstitutives Moment mehr für die politische Einheit der Gesellschaft bilden kann.941 Spinoza: »In demselben Sinne wie die Philosophen und Mediziner sagen, die Natur sündige, sagen wir also, der Staat sündige, wenn er etwas gegen das Gebot der Vernunft unternimmt.«942 Als politologische Referenz für diese Forderung ließe sich gleichermaßen Hobbes anführen. Die Forderung, Sakrales (das religiöse Leben samt seines theologischen Ausdrucks) vollständig in den Staat (in seiner Funktion als geistliche Exekutive) zu integrieren, hat bei Hobbes die Allmacht dieses Staates – und nicht der Kirche – zur Konsequenz. Hier ist untersucht worden, inwieweit Hobbes und Spinoza ein solches Verhältnis von Staat und Kirche jeweils rechtfertigen und die entsprechenden Konsequenzen im nachhinein theoretisch verwalten. Hobbes insinuiert einen ›vorstaatlichen‹ Naturrechtszustand, den zu überwinden die Vernunft des Menschen ihm gebiete. Stärker noch beansprucht Spinoza die objektive Realität des Staates (auch als historisches Faktum) verstanden als komplexes Machtgebilde geistig-körperlichen Ausdrucks; abgeleitet sieht er ihn nicht. Und beide – Hobbes und Spinoza – bestreiten die Legitimität theonomer Herrschaftsformen. Wenn darüber hinaus wiederum sowohl für Spinoza als auch für Hobbes die Bedeutung des (Gesellschafts-)Vertrags »in der Begründung der Geltung der Rechtsnormen und nicht nur in der Erklärung oder Beschreibung der tatsächlichen Staatsentstehung«943 besteht, erachtet Spinoza das politische Prinzip des historischen Kontraktualismus auf Grund seiner theologischen Wurzel (hebräisches Reich) als nicht tragfähig. Hobbes hingegen umgeht eine theologische Kritik am Kontraktualismus.944 Gerade aber das politische Potential einer theologischen Kritik ermöglicht, konkrete Religion zukünftig von staatlicher Fürsorgepflicht zu entbinden. Für Spinoza liegt hier zudem die Voraussetzung wahrhafter Toleranz: »Und der Religion war die politische Macht genommen, sie war auf den Bereich der Seele verwiesen, hier mußte sie – um ihrer eigenen Reinheit willen – ihre Anhänger überzeugen.«945 Wenn Wolfgang Röd in Spinozas Ideal menschlicher Natur (exemplar humanae naturae) den Maßstab zur Beurteilung von Handlungen sieht,946 ist hiermit die Siehe: LD Dok. 84. Siehe: J.[acob] Bluwstein (Hg.): Spinozas Briefwechsel und andere Dokumente. Ausgewählt und übertragen von J. Bluwstein. Leipzig 1916. 315. 943 Siehe: Walter Eckstein: Zur Lehre vom Staatsvertrag bei Spinoza. (Aus Anlaß von Spinozas dreihundertstem Geburtstag). – In: Zeitschrift für öffentliches Recht. Salzburg. XIII (1933), 3, 356 – 368; hier 358. 944 Siehe: Thomas Hobbes: B 106 f. 945 Siehe: Baruch de Spinoza. 1677 – 1977. Werk und Wirkung. A.a.O. 13. 946 Siehe das Kapitel 3.2 des vorliegenden 3. Abschnitts; vgl. auch den Hinweis auf Uriel da Costa in Kapitel 2.1. 941
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Idee eines durch adäquate Natur- resp. Gotteserkenntnis bestimmten Geistes angesprochen: »Da der bessere Teil unser selbst der Verstand ist, müssen wir sicherlich, wenn wir in Wahrheit unseren Nutzen suchen wollen, vor allem danach trachten, ihn nach Möglichkeit zu vervollkommnen; denn in seiner Vollkommenheit muß unser höchstes Gut bestehen. Da ferner alle unsere Erkenntnis und die Gewißheit, die in Wahrheit allen Zweifel behebt, von der Erkenntnis Gottes allein abhängig ist, weil ohne Gott nichts sein noch begriffen werden kann, und auch weil man an allem zweifeln kann, solange man von Gott keine klare und deutliche Idee hat, so hängt folglich unser höchstes Gut und unsere Vollkommenheit allein von der Erkenntnis Gottes ab usw. Da ferner ohne Gott nichts sein noch begriffen werden kann, so schließt sicherlich jedes Ding in der Natur den Begriff Gottes in sich und drückt ihn je nach seinem Wesen und seiner Vollkommenheit aus. Je mehr wir daher die natürlichen Dinge erkennen, desto größer und vollkommener wird auch unsere Erkenntnis Gottes; oder (weil ja die Erkenntnis der Wirkung durch die Ursache nichts anderes ist als die Erkenntnis einer Eigenschaft der Ursache) je mehr wir die natürlichen Dinge erkennen, desto vollkommener erkennen wir das Wesen Gottes (das die Ursache aller Dinge ist). Und so hängt also unsere ganze Erkenntnis, d. h. unser höchstes Gut, nicht so sehr von der Erkenntnis Gottes ab, sondern besteht vielmehr ganz und gar in ihr. Dies ergibt sich auch daraus, daß der Mensch umso vollkommener ist je nach der Natur und der Vollkommenheit des Dinges, das er vor den übrigen liebt, und umgekehrt. Darum muß derjenige der vollkommenste sein und an der höchsten Vollkommenheit am meisten teilhaben, der die geistige Erkenntnis Gottes, des vollkommensten Wesens, über alles liebt und sich am meisten ihrer erfreut. Unser höchstes Gut und unsere Glückseligkeit läuft [besser: laufen, H. G.] also auf die Erkenntnis und die Liebe Gottes hinaus. Darum können die Mittel, die dieser Zweck aller menschlichen Handlungen, ich meine Gott selbst, sofern seine Idee in uns ist, erfordert, Gottes Befehle heißen, weil sie sozusagen von Gott, sofern er in unserem Geist existiert, uns vorgeschrieben werden, und daher heißt die Lebensweise, die diesem Zweck entspricht, mit vollem Recht das göttliche Gesetz.«947 Diese Überlegungen finden sich nicht, wie man vielleicht vermuten mag, in Spinozas Ethica, sondern bezeichnenderweise im IV. Kapitel (»De lege divina«) seines Tractatus theologico-politicus, wo Einblicke gewährt werden in den bis dato erreichten Bearbeitungsstand der Ethica. EntscheiSiehe: Baruch de Spinoza: TTP IV, 46. – »Der Heilige Geist selbst ist ja im Grunde nichts anderes als die Seelenruhe, welche die guten Handlungen im Geist erzeugen. Über die Wahrheit und Gewißheit dessen aber, was allein Gegenstand der Spekulation ist, gibt kein anderer Geist Zeugnis als die Vernunft, die […] allein das Reich der Wahrheit für sich in Anspruch genommen hat. Wenn jene also behaupten, sie hätten außerdem noch einen anderen Geist, der ihnen über die Wahrheit Gewißheit gibt, so rühmen sie sich zu Unrecht und reden bloß aus einem Vorurteil ihrer Affekte, oder sie nehmen ihre Zuflucht zu den heiligen Dingen, weil sie Angst haben, von den Philosophen besiegt und dem öffentlichen Gelächter preisgegeben zu werden. Doch vergebens, denn welchen Altar kann der sich bauen, der die Majestät der Vernunft beleidigt?« – Siehe: Ibid. XV, 174. 947
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dend ist, daß der sich hier einstellende Widerspruch: zum einen hänge sämtliche Erkenntnis von Gott ab, zum anderen wird genau dieses bestritten, lediglich die Form seiner Darstellung betrifft: Denn einerseits kommt Spinoza auf ein anticartesianisches Argument zurück: auf die methodische Skepsis, die er bereits im Tractatus de intellectus emendatione erkenntniskritisch analysiert (echtes Wissen habe die wahre Idee Gottes zur Voraussetzung); andererseits aber ist Spinozas substanzontologische Konzeption in toto betroffen: Das Erkennen als solches sei Ausdruck der (göttlichen) Natur-Substanz. So bilden beide Anteile seiner Theorie: sowohl der methodologische als auch der metaphysische, jeweils integrale Momente insbesondere auch des Tractatus theologico-politicus. Daher sieht sich Spinoza auch berechtigt, auf vormals Erarbeitetes zu verweisen: »Welches aber diese Mittel sind und welches die Lebensweise, die ein solcher Zweck erfordert, und wie sich daraus die Grundlagen des besten Staates und die Art und Weise des Lebens der Menschen untereinander herleiten, das gehört in die allgemeine Ethik.«948 4.10 Das Anthropologische der Religion als Resultat der Kritik Der Tractatus theologico-politicus macht wie gesehen die Voraussetzung, daß das religiöse Phänomen als solches – da es eine anthropomorphe ›Projektion‹ bedeute949 – der Vernunft zugänglich sei. Dies ist bereits dem Einstiegssatz des ersten Kapitels zu entnehmen: »Prophetie oder Offenbarung ist die von Gott den Menschen offenbarte sichere Erkenntnis einer Sache.«950 Dabei erkläre sich (vgl. Hobbes) die Gleichrangigkeit von »cognitio naturalis« und »cognitio supranaturalis« aus deren gemeinsamer theistischer Wurzel – ein für Spinoza zentrales Argument von großer Strahlkraft für seine gesamte Philosophie. Von letztlich höherer Dignität im Blick auf Spinozas Grundinteresse bleibt allerdings der Unterschied von Philosophie und Religion: Die Gesetze des menschlichen Geistes fungieren als »proxima causa« natürlicher Erkenntnis, obschon sie zur Erklärung der »cognitio supranaturalis« nicht ausreichen. Daß dies mit einer (relativen) Einschränkung der Erkenntnisreichweite einhergeht (gemäß körperlich-geistiger Mächtigkeit des jeweiligen Individuums), kann nach Spinoza kein Mangel sein, hat er doch vielmehr die ideenpolitischen Siehe: Baruch de Spinoza: TTP III, 46. Zum anthropologischen Themenkreis siehe v. a. Spinozas Briefe an den Freund und Gorkumer Regenten Hugo Boxel, die deutlich wie sonst nirgends die Subjektivität der Begriffe des Schönen und Vollkommenen, die Unzulässigkeit anthropomorpher Vorstellungen von Gott, den Unterschied von bildlicher Vorstellung und Begriff, die Möglichkeit einer Erkenntnis Gottes, die Identität von Freiheit und Notwendigkeit in Gott u. a. behandeln. Boxel wendet sich anfänglich an Spinoza, um in Erfahrung zu bringen, wie dieser zum Gespenster-Phänomen stehe. – Über Boxel ist nur wenig bekannt; siehe immerhin: Wim Klever: De spoken van Hugo Boxel. – In: Bzzletin. Den Haag. 204 (1993), 53 – 64. – Das »Namen- und Sachregister« des Briefbandes der siebenbändigen Spinoza-Werkausgabe bei Felix Meiner führt Boxel nicht auf; Meinsma vermutet, er sei »vor 1679« gestorben. – Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 458, FN 1. 950 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP I, 1. 948
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Konsequenzen besagter imaginatio theologica im Blick. Inadäquate Ideen (als verfehlter Modus der Substanz unter dem Attribut des Denkens) sind fragmentarisch, zufällig und verworren – gleich religiösen Ideen, die außerhalb der Reichweite des Geistes liegen: »Das Studium dieser Ideen, die nicht den Regeln des Geistes alleine folgen, ist das Studium der imaginatio oder der menschlichen Affekte. Das Studium dieser Affekte, insofern sie auf Gott gerichtet sind, ist das Studium des religiösen Phänomens.«951 Wissenschaftliche Erklärbarkeit identifiziert Spinoza mit natürlicher Phänomenalität: Die Ordnung des Universums, das dem Betrachter in concreto kontingent erscheint, ist in Wahrheit lückenlos kausal-determiniert. Auch hieraus resultiert der Primat des Verstandes, und rein innerreligiöse Sola-scriptura-Forderungen scheiden von vornherein aus (obgleich deren theologischer Funktionswert unbestreitbar sei952). Eine anthropologische Verfaßtheit der Religion konstatiert auch der Jurist Matthew Tindal (wahrscheinlich 1656 – 1733). Dessen 1730 anonym erschienener erster Band – ein zweiter wird nie publiziert – des später als ›Bibel der Deisten‹ bezeichneten Werks Christianity as old as creation953 ist in dialogischer Form abgefaßt und gewinnt auch in Deutschland größere Verbreitung durch Johann Lorenz Schmidts Übersetzung Beweis, daß das Christentum so alt ist, als die Welt (1741).954 Möglicherweise ist es durch einen verdeckten Angriff des Londoner Bischofs Edmund Gibson (1669 – 1748) evoziert.955 Nach Tindal habe die natürliche Religion officias erga deum et hominem zu erfüllen; Sittlichkeit wird als Zweck bestimmt, dem die Religion als Mittel diene. Wenn Tindals Schrift die natürliche Religion als schlechterdings vollkommen begreift und den Wahrheitsgehalt jedweder Religion (auch des Christentums) daran bemißt, inwieweit diese mit jenem koinzidiere, dann verwandelt sich – vergleichbar mit Spinozas These – Religion letztlich in Moral. Sonach lautet die deistische Konsequenz für die Moral: Wenn sich eine natürliche Religion aus bloßen Vernunftbegriffen ableiten ließe, wären gleichermaßen der christlichen Tradition sowie der Moral das gemeinsame notwendige Fundament: nämlich der Offenbarungsglauben, entzogen. Tindals Deismus darf jedoch nicht als eine die endgültige Abspaltung der Moral von der Religion verursachende Vernunftgestalt mißdeutet werden, wird doch mit der Religion des Evangeliums die Renovation der ursprünglichen, natürlichen Religion geleistet. Theologische Siehe: Alexander Samely: Spinozas Theorie der Religion. Würzburg 1993. 24. (Schriftenreihe der Spinoza-Gesellschaft herausgegeben von Wolfgang Bartuschat, Klaus Hammacher und Manfred Walter. Band 2) 952 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP VII. 953 Siehe: Matthew Tindal: Christianity as Old as the Creation; or, the Gospel a Republication of the Religion of Nature. London 1730. 2nd ed. 1731; 3rd 1732; 4th 1733. 954 Es sei in Erinnerung gerufen, daß Schmidt 1744 die erste deutsche Übersetzung der Ethica anonym publiziert. Der Titel lautet: B. v. S. Sittenlehre widerleget von dem berühmten Weltweisen unserer Zeit Herrn Christian Wolff, aus dem Lateinischen übersetzt. – Siehe hierzu: Ursula Goldenbaum: Die erste deutsche Übersetzung der Spinozaschen »Ethik«. – In: Hanna Delf/Julius H. Schoeps/ Manfred Walther (Hgg.): Spinoza in der deutschen Geistesgeschichte. Berlin 1994. 107 – 125. 955 Siehe: BBKL XII [1997], 156 – 159. 951
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
Lehre und religiöse Gebote als lex naturae, so Tindal, überfordern keinesfalls die Erkenntniskraft menschlicher Vernunft; auch die Grundsätze der Moral seien vernünftiger Einsicht fähig, wie überhaupt sowohl Freiheit als auch menschliche Selbstbestimmung in der Vernunft gründeten.956 4.11 Ein praktischer Maßstab für die Regenten: die Ethica Wilhelm Schmidt-Biggemann beschreibt die Instabilität der innenpolitischen Situation der Niederlande zur Zeit Spinozas: »Die obligatorisch regierende Kaufmannspartei, die ›Regenten‹, stand gegen die royalistische Partei, die ›Oranier‹, die im Bunde mit der orthodox-calvinistischen Kirche versuchte, auch in den Niederlanden langfristig eine monarchistische Regierungsform durchzusetzen. Seit aber 1650 der ›Statthalter‹957 Wilhelm II. von Oranien gestorben war und nur ein unmündiges Söhnchen hinterlassen hatte, fehlte der royalistischen Partei auf die absehbare Zeit von etwa 20 Jahren ein regierungsfähiger Thronfolger. Die Kaufmannspartei, die nach einem Delegationsprinzip die Vertreter der Regentenfamilien in ihr Ständeparlament entsandte, hatte dagegen mit Jan de Witt,958 der 1653 erst 27jährig zum ›Ratspensionär‹ [der Provinz Holland, H. G.] bestimmt wurde, einen der fähigsten Politiker der Zeit an der Spitze der niederländischen Verwaltung. Es war nicht mehr als konsequent, daß Jan de Witt seine Politik primär an den ökonomischen Interessen der Regenten ausrichtete. Diese Politik ordnete die religiösen Differenzen, die royalistischen Machtansprüche, auch die philosophischen und wissenschaftlichen Streitfragen, die in anderen Ländern mit theologischen Maßstäben gemessen wurden, vornehmlich ökonomischen Interessen [d.h. der Wahrung des entstehenden Privateigentums, H. G.] unter. Dadurch vergrößerte sich der wissenschaftliche und theologische Freiraum enorm; die Philosophie René Descartes’ breitete sich in den Niederlanden zur selben Zeit aus wie die Theosophie Jacob Böhmes, ein konsequenter Rationalismus der Naturbetrachtung, wie in Christian Huygens vertrat, entstand im selben Zeitraum, als in Amsterdam kabbalistische Texte geschrieben und veröffentlicht wurden, als Rembrandt den ›Faust‹ radierte und Wyck eine Alchimistenküche abbildete, in der man nach spätmittelalterlichen Geheimrezepten Gold zu machen versuchte.«959
Siehe: Gotthard Victor Lechler: Geschichte des englischen Deismus. Stuttgart und Tübingen 1841. 324 – 342. 957 Der Statthalter hat den Oberbefehl der jeweiligen Landstreitkräfte inne. 958 Zzgl. der bisherigen Ausführungen vorliegender Untersuchungen siehe zu Jan de Witt auch: Baruch de Spinoza. 1677 – 1977. Werk und Wirkung. A.a.O. 26, I. 2; 27, I. 6. – Siehe außerdem: Jacob Freudenthal: SL 152 f. – Meinsma betont neben De Witts politische besonders dessen wissenschaftliche Bedeutung für Spinoza (und letztere vielleicht ein wenig zu stark). – Siehe: K.[oenraad] O.[ege] Meinsma: SK 399; 335. 959 Siehe: Baruch de Spinoza. 1677 – 1977. Werk und Wirkung. A.a.O. 7 ff. 956
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Die Regenten haben aber sämtliche relevante Posten auf örtlicher und Provinzebene – oft zeit Lebens – inne, und so machen die Schattenseite ihrer Regierungszeit Dünkelhaftigkeit, Machtgier und Hang zur Korruption aus. Dennoch fühlt sich Spinoza der dessen ungeachtet kultivierten und republikanischen Gesinnung jener mehrheitlich liberal gesinnten großbürgerlichen Führungsschicht nahe, woraus er insgesamt seine Motivation für deren Unterstützung gezogen haben dürfte: Seine Ethica, merkt De Vries zu Recht an, ziele auf »eine Lebenslehre nicht zuletzt für die Regierenden, um die eigene Seele, Antriebe und Möglichkeiten zu ergründen und die Folgerungen dieser Selbsterkenntnis auf Staat und Gesellschaft anzuwenden.«960 Das ändert aber nichts daran, daß Spinoza Ende der 60er Jahre – »vielleicht im Auftrag, jedenfalls aber mit Billigung der herrschenden Kaufmannspartei«961 – auch den Theologisch-politischen Traktat als institutioneller Außenseiter abzufassen beginnt. Seine Arbeiten daran nehmen mindestens vier Jahre in Anspruch. Als die Oranier und mit ihnen die orthodoxen Calvinisten, gegen deren Vorhaben der Durchsetzung einer theokratischen Verfassung in den Niederlanden Spinoza seit jeher polemisiert,962 zur Herrschaft gelangen, mündet dies 1672 in einen Krieg der Niederlande gegen Frankreich und England (verbündet mit einigen deutschen Kleinstaaten) mit ruinösen Auswirkungen auf das Land. Während Deutschland unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges leidet, Frankreich durch den Konflikt zwischen absolutem Königtum und Adel beansprucht ist und England seine erste Revolution unter Cromwell durchmacht, werden die Niederlande trotz der Stabilisierung der politischen Verhältnisse in England und Frankreich schließlich doch Opfer ihrer Zangenlage zwischen zwei aufstrebenden Großmächten. Das Ende der niederländischen Großmachtstellung ist besiegelt. Nach dem royalistischen Machtwechsel zeigt sich das neue Bündnis von Thron und Altar bestrebt, Freiräume für religionskritische und politische Grundsatzdiskussionen weitestgehend einzudämmen. Hobbes schreibt 1642 in seinem »Vorwort an die Leser« seines De Cive, er habe sich »in keinen Streit über theologische Lehren einlassen wollen, diejenigen ausgenommen, welche den Gehorsam der Bürger aufheben und die Festigkeit des Staates erschüttern.«963 Daß Spinozas philosophisches Anliegen in der Kritik einer (nicht zuletzt historisch verbürgten) Voraussetzung besteht: nämlich des wesenhaften Bezugs von Theologie und Politik, hat zur Folge, daß seiner ›Anthropologie‹ – mit Blick auf die Ethica: seiner Affektenlehre – die Funktionsmechanismen von Fremdbestimmung zu analysieren aufgegeben sind. Spinoza sagt, das vernünftige Streben der Gemeinschaft freier Menschen ziele Siehe: Theun de Vries: S 62. Siehe: Baruch de Spinoza. 1677 – 1977. Werk und Wirkung. A.a.O. 10. 962 In Erinnerung an De Vries mahnt allerdings auch Yoshida zu berücksichtigen, »daß die damalige calvinistische Kirche in den Niederlanden die Armenfürsorge fast ausschließlich verwaltete und deshalb die volle Sympathie hilfsbedürftiger armer Leute fand.« – Siehe: Kazuhiko Yoshida: Vernunft und Affektivität. Untersuchungen zu Spinozas Theorie der Politik. Würzburg A.a.O. 79, FN 135. 963 Siehe: Thomas Hobbes: C 73. 960
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
auf die Glückseligkeit, deren Grundlage nicht mehr Leidenschaften (Vorteilshoffnung; Nachteilsangst usw.), sondern Einsicht aus Vernunft bilde. Ein solches Leben in der Erkenntnis, sich von Leidenschaften, weil sie ins Wissen fallen, insgesamt weitestgehend befreien zu können, führen Individuen, die fortan nicht mehr zu einem Staat als zwangsrechtlicher Gemeinschaft zählen. Derjenige Staat gewähre das höchste Maß an Freiheit, »dessen Gesetze sich auf die gesunde Vernunft gründen«.964 Dies vorausgesetzt, warnt Spinoza außerdem davor, die menschliche Gesellschaft vollständig durch Gesetze regulieren zu wollen.965 Diese Empfehlung betrifft gleichermaßen eine etwaige flächendeckende Rechtskraft religiöser Gesetze, erst recht jedoch »Gesetze über spekulative Dinge [»leges, quæ de rebus speculativis conduntur«]«.966 Spinozas politische Utopie findet aber gerade auch Ausdruck in einem Begriff des Geistes i.S. einer Idee des Körpers, welche einem Bewußtsein körperlicher Vorgänge, die mechanischen Gesetzen unterliegen, gleichkommt. Selbstbewußtsein, so Spinoza, sei ohne das Bewußtsein eines physischen Reizes unmöglich.967 1675 vollendet Spinoza die Ethica. Daß dieses Werk »nur zufällig ›Ethik‹«968 im Titel führe, ist auszuschließen. Der religiös-politische Herrschaftsverbund mittelalterlicher Prägung ist zur Zeit Spinozas stark in Auflösung begriffen. Seit Machiavelli gilt die Selbsterhaltung des profanen Machtstaats als oberstes Prinzip der Politik. Wie gesehen hat bereits der französische Jurist und Inquisitionsrichter Bodin unter dem Eindruck der Religionskriege des 16. Jahrhunderts in bewußter Abgrenzung gegen die zeitgenössische Theologie eine Theorie der Staatssouveränität konzipiert, gemäß derer der Rechtsstaat mit normierten Mitteln seine Selbsterhaltung aus eigener Kraft zu gewährleisten habe. Dieses politische Selbsterhaltungsprinzip findet Eingang in Spinozas Philosophie, indem sie es der Gattung Mensch als wesenhaft zu ihrer Natur gehörig zuschreibt. Besagte Theorie der Staatssouveränität erhält in der Folgezeit ein zunehmend anti-kirchliches Gepräge, was dazu führt, die religiöse Macht insgesamt einer profanen Staatlichkeit zu opfern, so daß sich konstatieren ließe: Mit Spinoza ist die Trennung von Kirche und Staat theoretisch abgesegnet; allein über die Praxis wird in der Folgezeit noch gestritten. Spinozas Voraussetzung ist ein Vernunftanspruch, der auf das theologisch-politische Feld übergreift – in damaliger Zeit keine Selbstverständlichkeit. Wenn Spinoza die prinzipielle Gleichförmigkeit von Vernunft und Religion zu beweisen sucht,969 darf er problemgeschichtlich als über seine Zeit weit hinausweisend und 964 965 966 967 968
14.
Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XVI, 181. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 229. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 233. Siehe: Baruch de Spinoza: E II, Prop. VII; Prop.es XII f. Siehe: Fritz Mauthner: Spinoza. Ein Umriß seines Lebens und Wirkens. Dresden 1921.
Diese These impliziert für Spinoza Geschichtslosigkeit sowie dauerhafte Sicherung des in Religion und Vernunft Erkannten. 969
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als Vorbereiter für sowohl das Zeitalter der Aufklärung als auch die Klassische Deutsche Philosophie begriffen werden. Wie gesehen geht Spinoza im Tractatus theologico-politicus so weit, die religiöse Offenbarung offen am Maßstab der politischen Vernunft zu messen: Das theologische Vorrecht der Offenbarung wird grundsätzlich abgewiesen; das menschliche Vermögen, dies zu erkennen, sei die Vernunft. Diese aus Sicht der Theologie unerträgliche Hybris kann nur zur Konsequenz haben, eine solche Philosophie als Form der Ketzerei zu diskreditieren. Wie gesehen changieren bereits seit früher Zeit die Vorstellungen, die man sich vom Leben und Denken Spinozas macht, von Verteufelung bis Heiligsprechung. Hier reicht das Spektrum vom Ketzer zur Zeit der Vorherrschaft der Theologie bis zum Inbegriff des Verkünders einer gottdurchwirkten Natur zu einer Zeit, als die Wissenschaft der Natur an die Stelle der Wissenschaft von den göttlichen Dingen hat treten können. Der Tractatus theologico-politicus kann der Ketzerei in zweierlei Hinsicht bezichtigt werden: Zum einen leugne er die theologische Dignität der Offenbarung, zum anderen bestreite er die theistische Legitimität politischer Herrschaft (wenngleich Spinoza die Gründe für ein Schisma und die möglichen Gefahren, die es verursachen könnte, mehrfach anspricht970 und sogar konkretisiert, indem er den Religionsstreit zwischen Remonstranten und Contra-Remonstranten als Beispiel anführt971). Spinoza behauptet demnach nicht nur die Unantastbarkeit der Vernunft, sondern zementiert darüber hinaus das Legitimationsfundament des Staates. Sonach eröffnet die hier verfolgte problemgeschichtliche Perspektive, daß neben Hobbes schon Spinoza dem Staat durch Konterstellung zur Religion diejenige Wertschätzung beimißt, die er bis über das 18. Jahrhundert hinaus bewahren kann. Doch nicht nur der problem-, sondern – wo geboten – auch ein begriffsgeschichtlicher Zugriff hat es ermöglicht, das Gesamtphänomen: nicht nur das konkrete Individuum, sprich den historischen Spinoza, sondern auch die aus einer Philosophie resultierende geistige Haltung, in einen weiteren Kontext zu stellen. Mit Paul Thiry D’Holbachs radikaler Religions- und Kirchenkritik: das Universum sei Resultat von Ursache und Wirkung und der Einfluß des Priestertums verderbe die Gesellschaft, steht die Genese autonomer Moral nun vor dem Eintritt in ihr letztes hier erreichtes Stadium. D’Holbachs Untersuchungen zur Ideologiekritik, zu Fragen der Moralbegründung und zur Politologie suchen in einer bis dato unerhörten Kühnheit Welt, Gesellschaft und Mensch in einem strikt materialistischdeterministischen Sinne zu deuten: Der Fatalist werde in allem »die notwendige Wirkung und Gegenwirkung des Physischen auf das Moralische und des Moralischen auf das Physische erkennen.«972 Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 230; 232. Siehe: Baruch de Spinoza: TTP XX, 232. 972 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und moralischen Welt. Système de la nature ou des loix du monde physique et du monde moral. Aus dem Französischen übersetzt von Fritz-Georg Voigt. Mit einer Einleitung von Manfred Naumann. Berlin 1960. I. 180. (Sigle: SN) 970
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4. Abschnit t Die Moral der Materie
1. Kapitel: Die religionspolitischen Folgen des praktischen Materialismus 1.1 Die problemgeschichtliche Plazierung der physiologischen Moralphilosophie D’Holbachs Der Problemgeschichtler Ernst Cassirer bemerkt in seinem Werk Die Philosophie der Aufklärung: »Es gehört zu den charakteristischen Zügen des achtzehnten Jahrhunderts, daß in seinem Denken das Na t u r p r o b l e m und das E r k e n n t n i s p r o b l e m in engster Verbindung miteinander stehen, ja daß zwischen ihnen eine unlösliche Verknüpfung eintritt.«973 Wie gesehen beansprucht ein solchermaßen beschriebener Chiasmus insbesondere für den Bereich der praktischen Philosophie gleichermaßen Gültigkeit, sieht doch bereits der vermeintliche Gewährsmann modernen Philosophierens, Descartes,974 eine gelungene Lebensführung unabdingbar mit rationaler Einsicht verbunden: »[…] daß aber ich, bezüglich all der Meinungen, die ich bisher unter meine Überzeugungen aufgenommen hatte, nichts Besseres unternehmen könnte, als sie einmal ernstlich wieder abzulegen, um sie nachher entweder durch andere, bessere zu ersetzen oder auch durch dieselben, wenn ich sie an der Vernunft gemessen haben würde. Ich war der festen Überzeugung, daß es mir dadurch gelingen würde, mein Leben weit besser zu führen, als wenn ich nur auf alten Fundamenten baute und mich nur auf Grundsätze stützte, die mir in meiner Jugend eingeredet wurden, ohne daß ich je geprüft hätte, ob sie wahr sind.«975 Cassirer, der die Frage nach der Natur des Erkennens als »kritische[s] Problem auf ein genetisches Problem zurück[führt]«,976 läßt in seinen vornehmlich die philosophische Psychologie des 18. Jahrhunderts betreffenden Analysen, deren daSiehe: Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. – In: Grundriß der philosophischen Wissenschaften. In Verbindung mit Ernst von Aster, Ernst Cassirer, Adhémar Gelb, Kurt Goldstein, Ernst Hoffmann, Karl Joël, Richard Kroner, Heinrich Maier, Heinrich Rickert, † Wilhelm Windelband und anderen Fachgenossen herausgegeben von Fritz Medicus. Tübingen 1932. 123. 974 Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit. Herausgegeben von Pierre Garniron und Walter Jaeschke. A.a.O. 88. 975 Siehe: René Descartes: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la verité dans les sciences. A.a.O. II, 2. – Dagegen verabreicht Descartes seiner skeptischen Strategie in der Meditatio IV offensichtlich ein hiervon dispensierendes Format, wie bereits in der Synopsis angekündigt wird. – Siehe: René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. A.a.O. 976 Siehe: Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. A.a.O. 124. 973
4. Abschnitt · Die Moral der Materie
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mals kaum kritisierte Gestalt Locke initiiert habe,977 allerdings die Frage nach dem Status der Moral – abgesehen von einem Hinweis auf die stoizistisch unterfütterte Affektenlehre des Rationalismus978 – unbehandelt. Die Frage nach der Möglichkeit einer wissenschaftlich fundierten Moral wird in der Folgezeit aber nicht nur in der deutschen, sondern insbesondere in der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts ausführlich diskutiert.979 Ein adäquates Verständnis der mit dem französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts im Bereich der praktischen Philosophie in gänzlich neuer Weise zu Tage geförderten Problemverbünde darf sich nicht ausschließlich orientieren an Julien Offray de la Mettrie (1709 – 1751), der unter seinem Pariser Lehrer Boerhaave 1733 zum Mediziner promoviert, zwischen 1734 und 1743 als praktizierender Arzt in seiner Heimatstadt St. Malo tätig ist und so für die Philosophie einen speziell naturwissenschaftlichen Zugriffsbereich reserviert sieht: »Alles, was nicht aus dem Schoße der Natur selbst geschöpft ist, alles, was nicht Naturerscheinung, Ursache, Wirkung, mit einem Wort Wissenschaft von Dingen ist, wird von der Philosophie in keiner Weise berührt und stammt aus einer Quelle, die der Philosophie fremd ist. So die Moral, die willkürliche Frucht der Politik […].«980 Ein solches Ausschlußverfahren teilen nämlich nur die wenigsten seiner philosophischen Zeitgenossen. Der 1723 im pfälzischen Edesheim (im heutigen Landkreis Landau-Bad Bergzabern) nahe Speyer geborene Paul Heinrich Dietrich von Holbach beispielsweise gehört nicht zu ihnen.981 Cassirer ist darin zuzustimmen, daß die spätere »wissenschaftliche Gesinnung des enzyklopädistischen Kreises […] nicht durch d’Holbach und Lamettrie, sonSiehe: Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. A.a.O. 132. Siehe: Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. A.a.O. 140 ff. 979 Siehe: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Herausgegeben von Heinrich Schmidt-Jena. Erstes Buch: Geschichte des Materialismus bis auf Kant. Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant. Leipzig 1926. I, 286. 980 Das Zitat findet sich bei Naumann, der verweist auf: Lamettrie: Œuvres complètes. Amsterdam 1774. Vol. I, p. 3 f. – In: Paul Thiry D’Holbach: SN XXXVII. – D’Holbach hat La Mettries L’homme machine nachweislich zur Kenntnis genommen – so findet sich bei ihm beispielsweise auch die Maschinen-Metapher (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 181) – und kommt zu dem Urteil, dieser Autor »habe über die Sitten wahrhaftig wie ein Wahnsinniger geurteilt.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 12. 513. FN 81. 981 »Zunächst schien das Schicksal den Bürgersohn nicht begünstigen zu wollen. Früh verlor er seine Mutter, wenig interessiert an der Erziehung war der Vater. So konnte der junge Thiry, das war der Name seiner Familie, von Glück reden, als ihn 1735 ein Onkel, Franz Adam Holbach, nach Paris holte. Von jetzt ab leitete dieser Verwandte seine Erziehung. [Abs.] Der Onkel war noch zu Lebzeiten Ludwigs XIV. nach Paris gegangen. Schnell, man weiß nicht wie, hatte er sich in Frankreich einen beträchtlichen Reichtum erworben, der es ihm erlaubte, sich naturalisieren zu lassen und ein Adelpatent zu kaufen. Der nunmehr d’Holbach Geheißene legte sein Vermögen in Grundbesitz in Frankreich und Holland an, was ihm Verbindungen mit adeligen Kreisen und internationale Beziehungen eintrug.« – Siehe: Paul Thiry d’Holbach: Ausgewählte Texte. Eingeleitet und kommentiert von Manfred Naumann. – In: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriftenreihe der Arbeitsgruppe zur Geschichte der deutschen und französischen Aufklärung. Herausgegeben von Werner Krauss. Berlin 1959. 1 f. 977
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III. Teil · Stadien der Genese autonomer Moral
dern […] durch d’ A l e m b e r t repräsentiert«982 wird. Für die damaligen Materialisten stellen sowohl Biologie als auch allgemeine Physiologie wichtige wissenschaftliche Referenzpunkte dar,983 und Cassirer erwähnt in diesem Kontext auch D’Holbachs Berufung »auf die Chemie und auf die Wissenschaften vom organischen Leben«;984 doch sowohl die Konsequenzen für eine Moralphilosophie, die nach D’Holbach notwendig mit der politischen Philosophie interagiere,985 als auch – so die im Folgenden explizierte These – die vermeintliche Herkunft ihrer Prinzipien aus antiken Melancholie-Vorstellungen bleiben unberücksichtigt. Wissenschaftsgeschichtlich ist zu konstatieren, daß erst die gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehende empirische Psychologie das System der »Vier Temperamente« (in alter BeSiehe: Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. A.a.O. 73. Bemerkenswerterweise läßt Cassirer in diesem Zusammenhang die Physiologie Carl von Linnés (1707 – 1778) unbehandelt. – Eindringliche Analysen zu der im 17. Jahrhundert in Frankreich und England aufkommenden Naturgeschichte der Pflanzen und der Tiere, die schließlich in Gestalt der Werke Linnés die Entwicklungslinien vom Tier zum Menschen entdeckt, finden sich bei: Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Titel der Originalausgabe: Les mots et les choses (1966). Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 81989. 165 – 210. – Der Ausdruck »Ordnung der Dinge« ist übrigens ein terminus technicus in D’Holbachs System der Natur. – Der tatsächliche wissenschaftliche Wert tradierter Einflüsse auf die Philosophie D’Holbachs (besonders Epikurs) ist in jüngerer Vergangenheit adäquat einzuordnen versucht worden. – Siehe z. B.: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. A.a.O. 293 f. – Der Vorwurf indes, D’Holbach habe gar nicht Kenntnis genommen von einschneidenden naturwissenschaftlichen Neuerungen seiner Zeit, vermag etwas entschärft zu werden, wird das System der Natur korrekt als eine Theorie der Moral verstanden (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 1. 12; I. 12. 184) und weniger als Versuch, den Positivismus der Naturwissenschaften zu befördern: Das »Innerste der Natur« sei noch nicht entdeckt, es gebe noch »eine Menge von Geheimnissen«. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 184. 984 Siehe: Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. A.a.O. 87. – Im 1751 veröffentlichten Vorwort zum 2. Band der Encyclopédie kündigt Denis Diderot einen neuen Mitarbeiter an: »Besonders viel verdanken wir einem Mann, dessen Muttersprache deutsch und der sehr beschlagen auf den Gebieten der Mineralogie, Metallurgie und Physik ist; er hat uns eine erstaunliche Menge Artikel über diese verschiedenen Sachgebiete zur Verfügung gestellt, von denen man schon eine beträchtliche Anzahl in diesem zweiten Band finden wird. Diese Artikel stellen Auszüge aus den besten deutschen Werken über Chemie dar. Man weiß, wie reich Deutschland auf diesem Gebiet ist; wir wagen daher zu versichern, daß unser Werk sehr viele interessante und neue Bemerkungen über diese so ausgedehnten Gegenstände enthalten wird, die man in unseren französischen Büchern vergebens suchen würde.« – Siehe: Denis Diderot: Encyclopédie. T. II, p. I. Paris 1751. – D’Holbach hatte »auch Chemie studiert, Artikel aus diesem Fach für die Enzyklopädie geliefert und mehrere chemische Werke aus dem Deutschen ins Französische übersetzt.« – Siehe: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. A.a.O. I. 288. 985 »Die Moral hat keineswegs Macht, wenn die Politik sie nicht unterstützt; die Politik ist wankend und verirrt sich, wenn sie nicht durch die Tugend getragen und geführt wird.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: Holbach’s Sociales System oder Natürliche Principien der Moral und der Politik mit einer Untersuchung über den Einfluss der Regierung auf die Sitten. Nach dem Original übersetzt von Johann Umminger. Leipzig 1898. X f. (Sigle: S) (Diese Ausgabe enthält im einzelnen die drei Teile: Natürliche Principien der Moral. Natürliche Principien der Politik. Von dem Einflusse der Regierung auf die Sitten oder von den Ursachen und den Heilmitteln der Corruption.) – Die französische Erstausgabe des Werkes erscheint 1773 mit der Ortsangabe »Londres«. 982
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grifflichkeit: der »Vier Komplexionen«) allmählich in den Hintergrund drängt. Erstaunlicherweise läßt sich jedoch bei D’Holbach, der keine wissenschaftliche Fundierung der Psychologie, sondern der Moral beabsichtigt,986 noch in der Mitte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein deutlicher Nachhall der alten Temperamentenlehre vernehmen. D’Holbachs bei weitem bekanntestes Werk, das 1770 erschienene Système de la nature, beabsichtigt, die von verschiedener Seite bereits seit längerem befehdete feudalabsolutistische Standesideologie Frankreichs durch einen offenen Affront auf die Verbündung von Fürstentum und Priesterschaft987 in ihren Grundfesten zu erschüttern und unter geregeltem Rekurs auf die gelehrte Tradition für die Unerläßlichkeit einer gesamtgesellschaftlichen Reform, die »bei den Göttern des Himmels beginnen«988 solle, zu plädieren. Insbesondere diese Überzeugung: aus einer vorangehenden materialistischen Interpretation der Welt Schlüsse auf die Notwendigkeit eines Umsturzes der gesellschaftlichen Ordnung989 zu ziehen, gilt unter den damaligen französischen Gelehrten keinesfalls als selbstverständlich. Insofern scheint es auf den ersten Blick kaum verwunderlich, daß eine Erörterung der Moralphilosophie D’Holbachs – so sie überhaupt einmal vorgenommen wird – dazu führt, das dessen atheistischen Materialismus durchwirkende physiologische Moment, in dessen Zentrum sich das bemerkenswerte Projekt einer weltimmanenten Konsolidierung natürlicher Moral verbirgt,990 zu übergehen – so geschehen bei Cassirer und anderen Problemgeschichtlern der Folgezeit. Insofern zeigt sich schon hier, daß
Dieses Vorhaben orientiert sich an einem soziologischen Determinismus mechanistischer Prägung. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 135; I. 157; I. 185. 987 Siehe den despektierlichen Artikel »Sacerdoce« (»Priesterschaft«) in: Paul Thiry d’Holbach: Taschentheologie oder kurzgefaßtes Wörterbuch der christlichen Religion von Herrn Abbé Bernier, Lizentiat der Theologie. Théologie portative ou Dictionnaire abrégé de la religion chrétienne. Aus dem Französischen übersetzt von Rosemarie Heise. – In: ders.: Religionskritische Schriften. Herausgegeben von Manfred Naumann. Berlin und Weimar 1970. 173 – 293; hier 277. (Sigle: T) – »Die Priester sind gewöhnlich die größten Betrüger unter den Menschen, die besten von ihnen sind allenfalls in gutem Glauben böse.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 438. – Siehe auch: Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. A.a.O. I. 287. 988 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 536. – Lange ist zwar beizupflichten, wenn er über D’Holbach schreibt: »Das Recht der Völker auf Revolution in entarteten Zuständen gilt ihm wie ein Axiom, und hierin traf er genau den Nagel auf den Kopf.« – Siehe: Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. A.a.O. I. 289. – Doch darf nicht verkannt werden, daß D’Holbach – obgleich seine Schriften unmittelbar vor Ausbruch der Französischen Revolution entstehen – keinesfalls einem gewaltsamen Umsturz der damaligen französischen Volksgemeinschaft das Wort redet, wie z. B. auch seiner ablehnenden Haltung »zu einer Revolution im Staat« zu entnehmen ist. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 10. 124. – Diesen Kontext genauer zu untersuchen ist Aufgabe des folgenden Kapitels. 989 »[…] das Spiel einer so komplizierten Maschine, wie es die Gesellschaft ist […].« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 13. 546. 990 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 4. 40. – Siehe: ebenso bereits das »Vorwort des Verfassers« in: Paul Thiry D’Holbach: SN 5 ff. 986
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D’Holbachs Philosophie zweierlei Impulse durchwirken: einerseits ein kritischer, andererseits ein programmatischer. Andererseits jedoch steht D’Holbachs in seinem System der Natur entwickelte metaphysische991 und antispiritualistische Theorie einer allzeit unveränderlichen Natur-Vernunft992 in unauflöslichem Widerspruch zu der – wie seinen späten Schriften zu entnehmen ist – vornehmlich aus demographischen Analysen abgeleiteten Forderung, aus rein philosophischen Gründen die Notwendigkeit eines Umsturzes des französischen Feudalismus einzusehen. D’Holbach, die Cartesianische Durativität und Unteilbarkeit des Denkens,993 das lediglich eine von vielen Erscheinungsweisen der Materie ausmache, leugnend,994 ist – vergleichbar mit Spinoza – so gesehen in den Stand gesetzt, geistige i.S. von materiellen Modifikationen zu Wenngleich D’Holbach die metaphysische der modernen physikalischen Periode – der er sich selbst zurechnet (siehe z. B.: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 544. FN 95.) – vorangehen sieht (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I, 1, 5; »die öden Regionen der Metaphysik« [siehe: (César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:) Essay über die Vorurteile oder Vom Einfluß der Meinungen auf die Sitten und das Glück der Menschen, eine Schrift, die die Verteidigung der Philosophie enthält. Von D. M. – Der Titel der Erstausgabe lautet: Essai Sur Les Préjugés Ou, De l’influence des opinions sur les mœurs & sur les bonheur des Hommes. Ouvrage contenant L’Apologie De La Philosophie. Par Mr. D. M. Londres MDCCLXX. Aus dem Französischen. Übersetzung von Werner Blochwitz. Herausgegeben und Nachwort von Winfried Schröder. Leipzig 1972. XI. 177 (Sigle: E)], die eine für die Menschen unverständliche Philosophie zu verantworten hätte (siehe: Ibid. XI, 188), kann seine materialistische Alleinheitsspekulation schwerlich antimetaphysisch genannt werden. Daher ist Friedrich Jodl die Zustimmung zu versagen, wenn er schreibt: »Der Materialismus ist eine Weltanschauung, eine bestimmte Deutung in bezug auf die letzte Natur des Seienden. Sicherlich werden, wo er akzeptiert wird, gewisse transzendente Hilfsvorstellungen der Ethik hinfällig.« – Siehe: Friedrich Jodl: Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft. Erster Band. Bis zum Schlusse des Zeitalters der Aufklärung. A.a.O. 413. – Nach D’Holbach haben in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive Medizin und Physik Magie und Zauberei abgelöst. – Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E X. 171, 2. FN. – D’Holbachs Weisung zu einer Rückkehr zur Natur (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN Vorwort. 7) betrifft eine Reaktivierung postmythischer Projektionen: »An die Stelle von Dingen traten Wörter [d.h. sowohl die – unwissenschaftliche – Theologie (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 544.) als auch eine falsch verstandene Philosophie (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 66.), (H. G.)]; man stritt unentwegt und konnte doch nichts erhellen.« – Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E XI. 187. – Siehe zum theologischen Nominalismus, dem D’Holbachs signifikatorischer Realismus entgegensteht: Paul Thiry D’Holbach: T »Mots« (»Wörter«). 255; sowie: Ibid. »Scolastique« (»Scholastik«). 279; siehe ebenso: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 10. 133 f. – In dieser Zeit, als die Metaphysik die alte »echte Physik« abgelöst habe, habe auch die »Staatskunst, weil man weder die Naturgesetze noch die Gerechtigkeit zu ihrer Grundlage machte« (siehe: Ibid.), unbekannt bleiben müssen. Die wahre Physik gründe ausschließlich auf Erfahrung. – Siehe: Ibid. X, 171. – Zu D’Holbachs abschätziger Bewertung christlicher Metaphysik siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Métaphysique« (»Metaphysik«). 253. 992 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 102; in I. 124 ist die Rede vom »Mechanismus der Vernunftbetätigung«. 993 »[…] mens autem plane indivisibilis […].« – Siehe: René Descartes: Meditationes de prima philosophia. A.a.O. VI. 19. – Ursachen für das Aussetzen des vernünftigen Denkens erkennt D’Holbach im Zustand der Leidenschaft, der Erregung und der Trunkenheit. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 11. 149 f. 994 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 73 f. sowie 88 f. 991
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beschreiben, ohne sie zunächst motivational erklären zu müssen: Eine Analyse derartiger Beweggründe obliege dann einem alternativen Ressort, nämlich einer philosophischen Gesellschaftstheorie (wie sie Helvétius entwickelt) bzw. der Politologie. Letztlich macht D’Holbach ein dualistisches Philosophieren für die aktuellen moralischen Irritationen verantwortlich: »Weil man den Menschen als Doppelwesen ansah; weil man seine Seele von seinem Körper unterschied; weil man seine Seele dem Bereich des Physischen entzog, um sie phantastischen Gesetzen zu unterwerfen, die man aus imaginären Bereichen herleitete; weil man vermutete, daß ihre Natur in jeder Hinsicht von den bekannten Dingen verschieden sei: deshalb ist die Moral zu einem unlösbaren Rätsel geworden.«995 Wahr sei dagegen – man glaubt, Spinoza zu hören –, »daß Seele und Körper ein und dasselbe sind, betrachtet unter verschiedenen Gesichtspunkten«;996 man hätte die Seele besser i.S. eines Atoms begriffen, als Ens, das wirklich in die Vorstellung fallen könne – und »sie wäre überdies unsterblich geblieben, […] ein unauflösbares Element.«997 Vor diesem Hintergrund stellt sich nunmehr die Frage, welcher Etappe innerhalb der hier rekonstruierten Genese der autonomen Moral die Moralphilosophie D’Holbachs zuzurechnen wäre. Deutlich geworden ist bereits, wie in der frühen Neuzeit eine Verschiebung stattfindet im Hinblick auf die philosophischen Fundierungsbestrebungen des Rechtsprinzips dergestalt, daß die im christlichen Mittelalter etablierte rationaltheologische Festschreibung allen Rechtsverhältnisses in der Folgezeit abgelöst wird zugunsten neuer Rechtstheorien, die nun in einer – gleichwohl immer noch von Gott geschaffenen – Natur gründen. Inwieweit leistet nun D’Holbach einen Beitrag zur Neuerschließung rechts- bzw. moralphilosophischer Quellen? Die Behandlung dieses Problems erfordert v. a., die theoretische Signatur des Naturbegriffs, der im Zentrum seiner im Folgenden erörterten Schriften steht, zu ermitteln. Der Verdacht, daß D’Holbachs Naturbegriff ein Dynamismus inhäriert zwecks Aufweichung der starren Statik kausaldeterministischer Beschreibungen von Welt998 – im Speziellen staatlicher Gemeinschaften –, soll dabei einen von mehreren Zielpunkten der Analysen bilden, d. h. es wird gehen um ein Verständnis von D’Holbachs These: »Die Natur ist gezwungen, Abwechslung in ihre Werke zu bringen«.999 Dabei bleibt bemerkenswerterweise der Aristotelische Grundsatz natura non facit saltus sowohl hinsichtlich einer individuellen Lebensführung als auch – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 263 f. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 264. 997 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 75, FN 23. 998 »Indessen genügt ein überlegtes Studium der Natur, um jeden Menschen, der die Dinge ruhigen Auges betrachtet, aus dem Irrtum zu befreien; er wird sehen, daß das gesamte Universum durch Kettenglieder zusammengehalten wird, die für den oberflächlichen oder unruhigen Beobachter unsichtbar, für denjenigen aber, der die Dinge mit kaltem Blut betrachtet, sehr deutlich wahrnehmbar sind. […] Die einfachsten Beobachtungen werden ihm unwiderlegbar beweisen, daß alles notwendig ist […] und daß das große Ganze immer das gleiche bleibt.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 13. 543; siehe auch: Ibid. I. 6. 63; I. 12. 184 f. sowie II. 13. 547. 999 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 93; siehe auch: Ibid. I. 12. 182. 995
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mit Hegel zu sprechen – hinsichtlich des Gangs der Weltgeschichte unangetastet: »Das Glück oder das Unglück, das Wohl oder das Elend jedes einzelnen von uns und ganzer Völker sind an Kräfte gebunden, deren Wirken wir unmöglich voraussehen, beurteilen oder aufhalten können. […] Wir selbst können nicht einen Augenblick für unser eigenes Geschick einstehen.«1000 Das Verantwortungsprinzip erlangt bei D’Holbach noch keine Geltungskraft. 1.2 Melancholisches Temperament in D’Holbachs Moralphilosophie D’Holbachs Schriften ist leicht zu entnehmen, daß sich der Autor in permanenter Auseinandersetzung mit antiker (und in Ansätzen auch orientalischer) Mythologie, Theologie und Philosophie (neben Plato und Aristoteles insbesondere mit den Vorsokratikern Anaxagoras, Zenon und dem Pythagoreismus) befindet, wobei zusätzlich die Stoa (namentlich »der tragische Dichter Seneca«1001 und Epiktet), Lukrez und Lukian sowie der römische Eklektizismus (neben Sallust, Marcus Antonius, Petronius, Varro und Plinius insbesondere Cicero) bevorzugte Anknüpfungspunkte bilden. Ungeachtet der Frage, ob der dem Corpus Aristotelicum eingereihte Text Das Problem III, 11002 tatsächlich von Aristoteles oder aber Theophrast1003 stammt, fällt mit Blick auf D’Holbachs Moralphilosophie auf, daß dessen materialistische (er selbst nennt sie natürliche) Ethik noch stark von der antiken Melancholievorstellung, wie sie nach heutiger Kenntnis erstmals in Das Problem III, 1 ausführlich dargelegt ist, beeinflußt ist.1004 Die bereits zu Beginn dieses Textes geäußerte Frage: »Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?«,1005 kann
Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 12. 186 f. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 13. 211, FN 81. 1002 Siehe: Aristoteles: XXX Was Klugheit, Verstand und Weisheit betrifft. – In: Aristoteles: Problemata Physika.– In: ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Herausgegeben von Ernst Grumach. Band 19. Übersetzt von Hellmut Flashar. Darmstadt 1962. 953a–957a. 1003 Siehe zu dieser Frage: Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt/M. 1992. 81 ff. – Das Gemeinschaftswerk enthält eine zweisprachige (gr./dt.), mit hilfreichen Anmerkungen versehene Edition von Das Problem III, 1 (59 – 76). Für die Zitation aus diesem Text gilt im Folgenden die übliche Zählung. – Gemäß einer bei Diogenes Laertius gegebenen Theophrast-Werkliste findet sich unter der Ziffer 63. eine Schrift betitelt peri melancholías. – Siehe: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. I. Band. A.a.O. V. 45. 1004 Zudem ist in bezug auf das 17. Jahrhundert hinzuweisen auf Robert Burton, der die europaweit beachtete Anatomy of Melancholy – deren Rezeption durch D’Holbach allerdings nicht nachweisbar ist – verfaßt. 1005 Siehe: Aristoteles: Das Problem III, 1. 953 a, 10 – 14. – Die Intellektuellen haben »Grund zur Klage, weil die Welt tatsächlich aus den Fugen ist. Sie sind mutig in ihrer Trauer – die besten und die tapfersten Intellektuellen sind, wie bereits Aristoteles feststellte, Melancholiker.« – Siehe: 1000
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bei D’Holbach tatsächlich sowohl auf Philosophen als auch auf Staatsmänner und insbesondere Dichter1006 bezogen werden. Die notwendige Voraussetzung für die These, einer Thematisierung des seit der Antike behandelten schwermütigen Seelenzustands noch bis in die Zeit des französischen Materialismus Wirksamkeit zu bescheinigen, besteht darin, daß die antike pathologische1007 Melancholievorstellung »noch vor dem Ausgang des Altertums mit dem System einer Lehre von den vier Temperamenten als Charakterbildern verschmelzen«1008 sollte. Von zentraler Bedeutung ist hierbei, daß exklusiv der Saft der schwarzen Galle – das melancholische Temperament eines Menschen notwendig bedingend – charakterbildend (ethopoión) wirke, was beim Körper durch Wärme- oder Kältezufuhr reguliert werde. Dabei wird davon ausgegangen, Erhitzung entstehe infolge von Reibung im Körperinnern, also aufgrund von Bewegung. Wie La Mettrie1009 setzt auch D’Holbachs Naturphilosophie – wohl in Anlehnung an Tolands Letters to Serena (London 1704)1010 – einen durchgängig bewegten Kosmos an (für La Mettrie eine ewig bewegte Maschine),1011 was u.a einer lobenden Erwähnung des Atomismus des Eudämonisten Epikur1012 zu entnehmen ist: »Die unzerstörbaren Elemente, die Atome Epikurs, deren Bewegung, Zusammenspiel und Verbindungen alle Dinge hervorgebracht haben, sind zweifellos reaWolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt a. M. 1998. XIX. 1006 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] Essay über die … IX. 156 f.; X. 175 f.; XI. 180 f.; XI. 187. 1007 Zu den melancholischen Krankheiten werden gezählt: Epilepsie, Lähmungserscheinungen, Depressionen und Phobien; im Erhitzungsfall der Körper können Tollkühnheit, Geschwüre und Raserei auftreten. – Siehe: Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. 76. 1008 Siehe: Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. 93. 1009 Siehe: Julien Offray de la Mettrie: L’homme machine. Die Maschine Mensch. Übersetzt und herausgegeben von Claudia Becker. Französisch-deutsch. Hamburg 1990. 35. 1010 Siehe: John Toland: Briefe an Serena. Über den Aberglauben. Über Materie und Bewegung. Herausgegeben und eingeleitet von Erwin Pracht. Übersetzt von Günter Wichmann. Philosophische Studientexte. Herausgegeben von der Arbeitsgruppe für Philosophie an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1959. 120 – 171. (»Bewegung als wesentliche Eigenschaft der Materie« [Brief V]) – Siehe zu dieser Rezeptionsgeschichte: Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. A.a.O. I. 220 bzw. I. 292, wo es zu D’Holbach so treffend wie konzise heißt: »Übertragen heißen die Bewegungen, wenn sie von außen einem Körper aufgenötigt werden; selbständig, wenn die Ursache der Bewegung in dem Körper selbst ist. Hierher rechnet man beim Menschen Gehen, Sprechen, Denken, obwohl wir bei genauerer Betrachtung finden können, daß es nach strengen Begriffen keine selbständigen Bewegungen gibt. – Der menschliche Wille wird durch äußere Ursachen bestimmt.« 1011 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 3. 33 – 39. (»Von der Materie, von ihren verschiedenen Verbindungen und ihren unterschiedlichen Bewegungen, oder vom Gang der Natur« [3. Kapitel des I. Teils]) 1012 Darüber hinaus lobt D’Holbach vielerorts Epikurs »auf die Natur gegründete Moral«. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: Holbach’s Sociales System … I. 3. 37; I. 7. 79. – Ansonsten finde man ausnahmslos, so D’Holbach, »bei den Alten nur eine theologische und klösterliche Moral«. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 3. 38, FN 18.
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lere Ursachen als der Gott der Theologie.«1013 D’Holbachs Philosophie beseitigt sonach den Schöpfergott der Offenbarungstheologie1014 zugunsten eines rein materialistisch verstandenen Bewegungsbegriffs, auf welchen sowohl onto- als auch phylogenetisch die Entstehung des Menschen zurückgeführt wird;1015 das Lebewesen Mensch habe – wie jedwedes andere auch – einen rein natürlichen Ursprung,1016 wobei allerdings die sich anschließende Frage nach seiner Herkunft – man glaubt Kant zu hören – das Erfahrungswissen übersteige.1017 Demgemäß geht mit D’Holbachs Bemühung um die Grundlegung einer weltimmanenten Ethik1018 gerade eine Ablehnung der im Zuge des Aufkommens des Christentums gepredigten Askese einher. Eine auf sinnliche Entsagung ausgerichtete Lebensführung sei dem Menschen als wesenhaft soziologischem Wesen unangemessen, und an Stelle eines Rückzugs in eine gotterfüllte, aber letztlich weltenthobene Sehnsucht nach dem Übersinnlichen redet D’Holbach einem Eudämonismus das Wort: »Genießt die Güter, die euch eure gegenwärtige Existenz bietet; vermehrt deren Zahl; schwingt euch nicht in höhere Sphären auf.«1019 Diese Sinnenfreuden sähe D’Holbach gerne verbunden mit einem Paradigmenwechsel auf dem Gebiet der Moralwissenschaft insofern, als eine medizinisch-naturwissenschaftliche Revolutionierung des praktischen Lebensvollzugs vorangehen solle: »Der Naturforscher, der Anatom, der Arzt sollten ihre Erfahrungen und ihre Beobachtungen gemeinsam auswerten, Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 11. 496. »[…] ohne uns zu befragen, stellte uns die Natur für eine Zeitlang in die Reihe der organisch gebauten Wesen, die wir später ohne unsere Zustimmung wieder verlassen müssen, um irgendeine andere Stelle einzunehmen.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 13. 196. 1015 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 6. 63. 1016 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 6. 66. – Dagegen wird dem Menschen das Wissen um seinen Ursprung abgesprochen; dies gilt auch für die Einsicht »in das Wesen der Dinge« sowie der »Grundprinzipien«. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 6. 71. – Siehe hierzu auch: Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. A.a.O. A.a.O. I. 292 f. 1017 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 6. 66. – D’Holbachs in seinen Schriften vielerorts begegnende Mahnung, das Erkennen habe jederzeit vor der Erfahrung Rechenschaft abzulegen, erinnert an Hobbes’ Philosophie: Wie gesehen stellt sich nach dessen Erkenntnislehre Evidenz allein in Koalition mit Erfahrungswissen ein. D’Holbach schließt sich diesem Standard – gepaart mit einem gehörigen Schuß Schulpessimismus – an: »Aber in der Philosophie gibt es keine andere unfehlbare Macht als die der Evidenz; die Maxime eines jeden vernunftbegabten Menschen ist: auf keines Lehrers Worte schwören.« – Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E X. 168, FN. – D’Holbach denkt an »den Weisen, der bescheiden seine Meinung vorbringt, der sie der Prüfung unterzieht, der ständig zur Erfahrung anregt, kurz, der keine andere Autorität als die der Evidenz anerkennt« (siehe: Ibid. XII. 209), führt dabei jedoch letztlich eine Religionskritik im Schilde: »Immer dann, wenn wir aufhören, uns von der Erfahrung leiten zu lassen, erliegen wir dem Irrtum. Noch gefährlicher und unheilbarer werden unsere Irrtümer, wenn sie von der Religion gestützt werden; dann werden wir niemals von allein wieder umkehren können […].« –Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 17. 259. – Andererseits kritisiert D’Holbach Hobbes’ Naturrecht. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S III. 21 f. 1018 »Tugend der weltlichen Moral, die man abtöten muß, wenn man ein guter Christ sein will.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Humanité« (»Menschlichkeit«). 236. 1019 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 10. 493. 1013
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um uns zu zeigen, was wir von einer Substanz [der res cogitans, H. G.] zu denken haben, die man uns unkenntlich zu machen für gut befunden hat; ihre Entdeckungen sollten den Moralisten die wahren Triebkräfte zeigen, die die Handlungen der Menschen beeinflussen können; sie sollten den Gesetzgebern die Beweggründe zeigen, von denen sie Gebrauch machen müssen, um die Menschen anzuregen, für das gemeine Wohl der Gesellschaft zu arbeiten; sollten den Herrschern die Mittel zeigen, welche die ihrer Macht unterworfenen Völker wahrhaft und dauernd glücklich machen. Physische Seelen und physische Bedürfnisse verlangen ein physisches Glück und wirkliche Gegenstände, die den Hirngespinsten vorzuziehen sind, mit denen man so viele Jahrhunderte lang unseren Geist abgespeist hat. Wir müssen für das Physische des Menschen sorgen, es ihm angenehm machen, und bald werden wir sehen, daß seine Moral besser und glücklicher, seine Seele friedlich und heiter und sein Willen durch natürliche und faßliche Beweggründe, die man ihm zeigt, zur Tugend bestimmt wird. Wenn der Gesetzgeber seine Bemühungen aufs Physische richtet, dann wird er gesunde, starke und kräftige Staatsbürger bilden, die sich glücklich fühlen und denjenigen nützlichen Impulsen aufgeschlossen sind, die man ihren Seelen wird geben wollen.«1020 Lehrt noch Blaise Pascal, einzig dem Christentum inhäriere die wahre Anthropologie,1021 wischt anders D’Holbach jedwede tradierte ›Anthropologie‹ mit einem Handstreich vom Tisch: »Die Politik, die Religion und sehr oft auch die Philosophie haben uns falsche Begriffe vom Menschen gegeben.«1022 Konsequent entfallen auch etwaige Pflichten gegen Gott.1023 Der Aufruf zu ›natürlicher‹ Verpflichtung auf Kosten des religiösen Gebots geht aber auch bei D’Holbach nicht reibungslos vonstatten, wenn es beispielsweise heißt: »Die Natur sagt den Kindern, diese sollen ihre Eltern ehren, sie lieben, ihnen gehorchen und sie im Alter unterstützen: die Religion sagt ihnen, sie sollen mehr auf die Prophezeiungen ihres Gottes hören und, wenn es um göttliche Interessen geht, Vater und Mutter mit Füßen treten.«1024 Doch gemäß des Dekalogs (5. Gebot1025) dürfte dieses Verdikt kaum haltbar sein. Somit ist klar, inwiefern besagter Text Aristoteles’, von Klibansky et aliis trefflich »Monographie der schwarzen Galle«1026 genannt, einen Schlüssel bereithält für eine physiologische Lesart jener deterministischen Motivlage des moralischen Engagements bei D’Holbach, weiß dieser sich doch einer insgesamt als radikal zu bezeichnenden religionskritischen Idee von Aufklärung verpflichtet, die von einem Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 7. 79. Siehe: Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände. (Pensées) A.a.O. Fragment 187. 1022 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 3. 1023 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 34. 1024 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 462. 1025 Siehe: Ex 20,12; Dtn 5,16. 1026 Siehe: Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. A.a.O. 76. – Siehe ebenso: Aristoteles: Problemata Physica. A.a.O. 711. 1020
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die Gesellschaften Zentraleuropas umgreifenden Verblendungszusammenhang ausgeht,1027 der jedoch insbesondere Staatslenker sowie Kleriker betreffe: »Regierung und Religion wären nur dann vernünftige Institutionen, wenn beide zur Glückseligkeit der Menschen beitragen würden.«1028 Beide nämlich, sowohl Fürst als auch Priester, erliegen ihrer eigenen eitlen Schwäche: Der Fürst werde zwangsläufig größenwahnsinnig ob seiner durch klerikale Seligsprechung vor Gott legitimierten1029 Eroberungskriege, wohingegen der Priester – hauptverantwortlich für die Mißstände in der Jugend-Pädagogik1030 (D’Holbach sieht die gesamte Erziehung1031 »n u r a u f Na c h a h m u n g g e g r ü n d e t «1032) – eine gnadenlose und menschenverachtende Moral predige und so selbst Opfer des Aberglaubens werde,1033 den rein vernünftig anzugehen allerdings bereits Voltaire für müßig erachtet.1034 »Die Menschen haben nur Hang zum Bösen, weil sie es für das Gute halten; sie sind nur so verdorben und durch Rückwirkung so elend, weil die Erziehung in der Kindheit, die öffentliche Meinung und die Regierung in dem reifen Alter ihnen für gewöhnlich nur betrügerische Ideen beibringt. Alles trägt dazu bei, sie in den Vorurtheilen zu erhalten, welche sie verblenden; Alles verschwört sich zu hindern, ihre Vernunft anzubauen; sie sehen von allen Seiten gefährliche Beispiele, welche nachzuahmen sie sich verpflichtet glauben, obgleich sie dieselben verdammen.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 10. 1028 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 16. 249. 1029 Gottgefällig sei allein eine theonome Moral. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 20. 1030 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E XIII. 226. – Es wird insgesamt beklagt, daß ausnahmslos »Priester« (siehe: Ibid. III. 45 f.) mit der Erziehung der Jugend betraut (siehe hierzu auch: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 8. 444 f. und II. 9. 453, sowie: Paul Thiry D’Holbach: T »Education chrétienne« [»Christliche Erziehung«]. 225) sowie für die Unterweisung der Bürger zuständig seien; diese, so D’Holbach, hielten es auch für gefährlich, wenn das Volk in die Lage versetzt würde, »über die Religion nachzudenken«. – Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E III. 52. – Wie bereits vor ihm Bayle, mit dessen Dictionnaire historique et critique er vertraut ist (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 7. 78, FN 26), bezeichnet D’Holbach solche Leute als »Wahnsinnige«. – Siehe hierzu auch: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E I. 18: »dem allgemeinen Wahnsinn«; V. 72; 73: »Schwachsinn«. – In seinem System der Natur erörtert D’Holbach die Praxis elterlicher Erziehung (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 107 f.) mit dem Resultat, einer adäquaten pädagogischen Unterweisung widerstritten: Aberglaube; politische Willkür der Regierenden, die zudem die Aufklärung fürchten; ungerechte Gesetze; dem gesunden Menschenverstand widersprechende Gebräuche; öffentliche, nicht tugendhafte Meinung; Unfähigkeit der Erzieher, die »falsche Ideen« lehren. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 11. 158, FN 58. 1031 Siehe: Paul Henri Thiry Baron d’Holbach: La Morale universelle ou les Devoirs de l’Homme fondés sur sa Nature. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Amsterdam 1776. Tome I–III. StuttgartBad Cannstatt 1970. Tome premier. Troisieme partie. Section cinquieme. Chapitre III. (Sigle: M) 1032 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 9. 1033 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 8. 437. 1034 Siehe: Francois Marie Arouet de Voltaire: Aus dem philosophischen Wörterbuch. Herausgegeben und eingeleitet von Karlheinz Stierle. Übersetzt von Erich Salewski (Wörterbuchartikel) und Karlheinz Stierle (Anhang). Frankfurt a. M. 1967. »Aberglaube«. 42. – Beide übrigens, sowohl D’Holbach als auch Voltaire, stehen in der problemgeschichtlichen Nachfolge Christian Wolffs, wenn sie fragen, wie die begriffsgeschichtliche Verschiebung vom Ketzer zum Atheisten zu verstehen sei, wobei sie dahingehend den angeblichen Atheismus des chinesischen Volkes untersuchen. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 13. 534, FN 92; sowie: Francois Marie Arouet de Voltaire: Aus dem philosophischen Wörterbuch. A.a.O. »Atheismus«. 44. 1027
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Scheint es zunächst unklar, welchen konkreten Vorteil sich die Geistlichkeit durch ihre Herrscherverführung zu Krieg1035 und Gewalt erhofft, lichten sich die Schleier, wenn D’Holbachs Taschentheologie hinzugezogen wird: Die Geistlichkeit habe es stets verstanden, die Monarchie als Mittel zum Zweck zu mißbrauchen, sprich sie zugunsten einer – falls geboten – gewaltsamen1036 Christianisierung protegiert durch die »niederträchtigen Inquisitoren«1037. Auf der anderen Seite würden Herrscher durch derartige Gewaltanwendung heiliggesprochen,1038 womit erneut ein jahrhundertalter Funktionalismus1039 bemüht wird: »Ach, die theologischen und die übernatürlichen Ideen, die sich der Hochmut der Herrscher zu eigen gemacht hat, haben die Politik nur verdorben und sie in Tyrannei verwandelt. […] Es ist also evident, daß der Despotismus, die Tyrannei, die Verderbtheit und die Zügellosigkeit der Fürsten sowie die Verblendung der Völker auf die theologischen Begriffe und auf die niederträchtigen Schmeicheleien der Diener Gottes zurückzuführen sind.«1040 Aber auch der Monarch setzt sich einer Gefährdung aus, zeigt doch seine Macht ein göttliches Siegel: »Hat die Sache Gottes nicht tausendmal den Mord, die Treulosigkeit, den Meineid, die Rebellion, den Königsmord für rechtmäßig erklärt? Sind nicht jene Fürsten, die sich oft zu Rächern des Himmels gemacht und zu Henkersknechten der Religion aufgeworfen haben, hundertmal deren erbärmliche Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Armes« (»Waffen«). 199. – Die möglichen Ursachen von Kriegen vermag D’Holbach allerdings getreu der alten Säfte-Lehre geflissentlich zu bagatellisieren: »Zuviel Schärfe in der Galle eines Fanatikers, zu heißes Blut im Herzen eines Eroberers, die schlechte Verdauung im Magen eines Monarchen, eine Grille im Kopfe einer Frau sind ausreichende Ursachen, um Kriege zu veranlassen, […] um Trostlosigkeit und Not für eine lange Reihe von Jahrhunderten auf unserem Erdball zu verbreiten. […] Etwas Diät, ein Glas Wasser oder ein Aderlaß hätten manchesmal genügt, um Königreiche zu retten.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 12. 185 f. – D’Holbach konstatiert im weiteren, daß der »menschenfeindliche Gott« der Christen dem »eifersüchtigen, unbeständigen, rachsüchtigen, blutdürstigen Gott der Juden« keinesfalls vorzuziehen sei. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 22 f. 1036 »Die Menschen sind niemals ehrsüchtiger, gieriger, niederträchtiger, grausamer und aufrührerischer gewesen als dann, wenn sie davon überzeugt waren, daß die Religion es ihnen erlaube oder gar befehle; von diesem Zeitpunkt an verlieh die Religion ihren natürlichen Leidenschaften, denen sie sich unter diesem heiligen Schutz ungestraft und ohne Gewissensbisse überlassen konnte, eine unüberwindliche Kraft.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 13. 198. 1037 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 13. 529. 1038 Siehe hierzu auch: Paul Thiry D’Holbach: S I. 27 ff. – Ein vergleichbares Konstitutionsverhältnis sieht D’Holbach für Theonomie und Moral in Geltung: »In der Tat ist die Annahme, daß ein Gott notwendig sei, um die Moral aufrecht zu erhalten, eine Stütze für die theologischen Ideen und die meisten Religionssysteme auf Erden; man bildet sich ein, ohne Gott könne der Mensch weder erkennen noch ausführen, was er sich selbst und anderen schuldig sei. Ist dieses Vorurteil einmal eingewurzelt, so glaubt man, daß die stets unbestimmten Ideen eines metaphysischen Gottes derart mit der Moral und mit dem Wohl der Gesellschaft verkettet seien, daß man die Gottheit nicht angreifen könne, ohne zugleich die Pflichten der Natur zu verletzen.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 9. 457. 1039 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 15. 1040 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 8. 438. 1035
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Opfer geworden?«1041 Zwar sei die Geistlichkeit1042 grundsätzlich in der Lage, den Herrscher zu stürzen, riefen doch, so D’Holbach, die Diener der unsichtbaren Mächte lediglich dann zum Gehorsam gegen die sichtbaren Mächte auf, wenn diese ihnen demütig ergeben seien;1043 doch – so ist man geneigt zu ergänzen – hat der Klerus in seiner langen Geschichte die Gelegenheit verpaßt, ja mehr noch: ist seiner moralischen Verpflichtung kaum je nachgekommen, an der Beseitigung politischer Unrechtssysteme mitzuwirken. Und mit Blick auf den Adel beklagt D’Holbach: Wenn die »Fürsten an Stelle des Katechismus eine verständliche Moral lehren ließen, wozu bedürfte es dann noch der theologischen Dispute, der Konzilien, Kirchensatzungen, päpstlichen Erlässe, Glaubensbekenntnisse, Bullen usw., die so notwendig für das Wohl der Religion sind und so geeignet, heiligen Aufruhr in den Staaten zu entfesseln?«1044 Dementsprechend beinhaltet D’Holbachs politische Philosophie in ihrer Ausrichtung, diesen Mißständen zukünftig den Boden zu entziehen, den Grundsatz, im Sinne einer techné »die Leidenschaften der Menschen zu ordnen und sie zum Wohl der Gesellschaft zu lenken […]. Um nützlich zu sein, muß die Politik ihre Grundsätze auf die Natur gründen, das heißt, sie muß sich dem Wesen und dem Zweck der Gesellschaft anpassen.«1045 Auf der Grundlage des – auch nach D’Holbach – Hauptgesetzes des menschlichen Lebens: des Bedürfnisses der Selbsterhaltung, entwickelt er eine Ethik der sozialen Nützlichkeit: Unter Tugend wird dasjenige verstanden, was der Selbsterhaltung des Gesellschaftswesens Mensch nutzbar gemacht werden könne. Individuelles und allgemeines Glück bilden eine Interdependenz, die Soziabilität des Menschen basiert auf einem gegenseitigen Nutzungsverhältnis. D’Holbachs Philosophie wäre sonach als altruistisch, nicht aber als egoistisch zu kennzeichnen. Besagtem utilitaristischen Prinzip unterliege auch die individuelle Moralität: »Unsere moralischen Urtheile oder Gefühle können niemals uneigennützig sein; wir können nur lieben, was uns gefällt, was uns nützlich, was uns angenehm ist, was uns ein Vergnügen verschafft, sei es dauerhaft, sei es momentan.«1046
Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 530. Unter dem Gegenteil von geistlich versteht D’Holbach fleischlich: »Im allgemeinen sind fleischliche Menschen solche, die das Pech haben, aus Fleisch und Bein gemacht zu sein und gesunden Menschenverstand zu haben.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Charnel« (»Fleischlich«). 209. – Der Stand christlicher Geistlichkeit erhalte sich nach D’Holbach dadurch, daß andere für ihn arbeiteten. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Clerc« (»Geistlicher«). 211. 1043 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 443. FN 56. 1044 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Vorrede«. 179 – 192; hier: 187. 1045 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 108. – »Die wahre Weisheit darf niemals eine andere Sprache als die der Natur reden.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 39. – Siehe auch: Paul Thiry D’Holbach: M Tome premier. Chapitre V.; VII. 1046 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 43 f.; siehe auch: Ibid. I. 6. 1041
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Dieses Ziel zu erreichen geht einher mit dem für D’Holbach wichtigen Vorsatz, einer universellen und überzeitlich gültigen Moral1047 Festigkeit zu verleihen: »Es liegt nicht im Wesen der Moral, den Launen der Einbildungskraft, den Leidenschaften und den Interessen des Menschen zu folgen: sie muß beständig und für alle Individuen des Menschengeschlechts die gleiche sein, sie darf in den verschiedenen Ländern nicht unterschiedlich sein; die Religion hat nicht das Recht, die unwandelbaren Vorschriften der Moral nach den wechselnden Gesetzen ihrer Götter abzuändern.«1048 Mit dem Anspruch auf Universalität und überzeitlicher Geltung tritt auch Kants praktische Philosophie auf (Transzendentalität). Die Interioritätsbeziehung von menschlichem, d. h. natürlichem Moralbegriff und Tugendbegriff1049 erklärt D’Holbach wie folgt: »Die Moral ist die Kunst, mit den Menschen gut zu leben. Die Tugend besteht darin, durch das Glück, welches man den Andern verschafft, sich glücklich zu machen.«1050 Die religiöse Moral dagegen mache die Menschen »ungesellig«,1051 fördere Autoritätshörigkeit und behindere so die Ausbildung des praktischen Autonomieprinzips.1052 Ziel der wahren Moral sei es daher, die Menschen darüber aufzuklären, daß es ihr ureigenstes Interesse sei, der Orientierung an vergänglichen Leidenschaften, die dem Menschen als einem Bedürfniswesen notwendig innewohnten,1053 zugunsten dauerhafter Befriedigung zu entsagen.1054 D’Holbach sieht »die Wesen unserer Gattung in verschiedene Klassen eingeteilt«,1055 wofür er physiologische Gründe in Gestalt einer Temperamentenlehre anzugeben weiß: »Das Temperament ist bei jedem Menschen der gewöhnliche Zustand, in dem sich die flüssigen und die festen Bestandteile befinden, aus denen sein Körper zusammengesetzt ist. Die Temperamente unterscheiden sich auf Grund der Elemente oder Stoffe, die in jedem Individuum vorherrschen, und auf Siehe hierzu auch: Paul Thiry D’Holbach: S I. 50. – D’Holbach spricht auch von einer »Wahrheit, die auf der Erfahrung aller Zeiten beruht«. – Siehe: [César Chesneau Du Marsais/PaulHenri Dietrich, Baron d’Holbach:] E II. 35. – Dem widerstreite eine verhängnisvolle Pluralität der Religionssysteme. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 21. – Die Vielgestaltigkeit der Konsolidierungsversuche auf dem Gebiet der Moral vergleicht D’Holbach mit einem »completten Pyrrhonismus«. – Siehe: Ibid. I. 49. – So wird die sog. ›natürliche Moral‹ wie folgt charakterisiert: »Die Beweggründe, deren sich die natürliche Moral bedient, liegen in den evidenten Interessen, die jeder Mensch, jede Gesellschaft und jede Menschenart zu allen Zeiten, in allen Ländern, unter allen Umständen haben.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 556. – Siehe auch: Paul Thiry D’Holbach: M. 1048 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 9. 455. – Das religiöse Fundierungsprinzip der Moral erkennt D’Holbach im Willen der Götter. – Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E II. 28. 1049 »Fraget diese Erleuchteten, was die Tugend ist? Sie werden euch antworten, daß sie die Übereinstimmung der Handlungen des Menschen mit dem Willen seines Gottes ist.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 21; I. 49. 1050 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 19. 1051 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 25. 1052 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 30. 1053 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 4 f. 1054 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 11. 160. 1055 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 95. 1047
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Grund der unterschiedlichen Verbindungen und Modifikationen, die diese schon an sich unterschiedlichen Stoffe in seiner Maschine erfahren. Auf diese Weise haben manche zuviel Blut, andere zuviel Galle, wieder andere sind phlegmatisch usw.«1056 Das seit dem Tag der Geburt entsprechend wirksame Temperament werde beeinflußt durch Nahrung (der Genuß von Wein wirke sich beispielsweise günstiger auf die Gesundheit aus als das Trinken von Wasser1057), Eigenschaften der Luft, Klima, Erziehung sowie Ideen und Meinungen. Nach D’Holbach leiten sich sowohl intellektuelle als auch moralische Fähigkeiten des Menschen (und hier vornehmlich das »Mitgefühl«) aus seinem physischen Empfindungsvermögen ab.1058 In seinen Schriften beobachtet er das »bunte Schauspiel der moralischen Welt«1059 und führt es auf unterschiedliche Temperamente, die naturwissenschaftlich verstanden werden können und auch müssen, zurück. Insofern besteht für D’Holbach ein direkter Zusammenhang zwischen physischer Ausgeglichenheit (im weitesten Sinne Gesundheit1060) und Tugendhaftigkeit: »Vom Gleichgewicht der Säfte scheint der Zustand derer abzuhängen, die wir als tugendhaft bezeichnen; ihr Temperament scheint das Produkt einer Verbindung zu sein, in der die Elemente oder Grundstoffe so genau ausgewogen sind, daß keine einzige Leidenschaft mehr als eine andere die Maschine in Unruhe versetzt.«1061 Es scheint, die Schlußfolgerungen aus den praktischen Forderungen einer Affektenlehre à la Spinoza (ataraxia) werden beschrieben. Eine affektenregulierte Moral wird von einem ständigen Wechselspiel von Spannung und Ausgleich beherrscht: Aus »dieser Vielfältigkeit ergibt sich die fortwährende Wirkung und Gegenwirkung, die das Leben der moralischen Welt ausmacht; aus diesem Mangel an Übereinstimmung resultiert die Harmonie, durch die das Menschengeschlecht besteht und fortdau-
Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 95. – Bemerkenswert: Gemeinsam sei allen Temperamenten »das feurige Grundelement«. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 97. – Sehr ähnlich argumentiert: Julien Offray de la Mettrie: L’homme machine. Die Maschine Mensch. A.a.O. 27 ff.; 37. 1057 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 96; siehe auch: Ibid. I. 9. 98; in I. 9. 103 werden die Gefahren für einen »trunkenen Menschen« besprochen; ähnlich in I. 10. 123. – Siehe zum Thema Weingenuß entsprechend Aristoteles: »Wein in großer Menge genossen versetzt offensichtlich Menschen in solche Zustände, wie wir sie bei den Melancholikern finden, und ruft bei den Trinkenden die verschiedensten Charakterzüge hervor, indem er sie zum Beispiel jähzornig, menschenfreundlich, rührselig oder draufgängerisch macht […].« – Siehe: Aristoteles: Problemata III, 1. 953a; siehe ebenso: Ibid. 954a. 1058 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 99; sowie: Ibid. FN 38. – Andererseits betont D’Holbach wiederum die veritative Verpflichtung jedweder intellektueller und moralischer Kompetenz: »Unsere Aufführung, sei sie gut oder schlecht, hängt immer von den wahren oder falschen Begriffen ab, welche wir uns bilden oder welche Andere uns beibringen. […] Wir ahmen nur diejenigen nach, von welchen wir vermuthen, dass sie glücklich sind.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S »Vorwort des Verfassers«, 7 f. 1059 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 94. 1060 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 10. 485 f. 1061 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 118. 1056
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ert.«1062 Eine physische Dysfunktion beschwört beispielsweise sexuelle Zügellosigkeit1063 oder cholerische Unvernunft1064 herauf. Nach D’Holbach bringen die Menschen »bei der Geburt Anlagen mit, welche beschaffen sind, die moralischen Wahrheiten mit mehr oder weniger Leichtigkeit aufzufassen, ebenso als sie Köpfe mitbringen, welche der Art organisiert sind, mit mehr oder weniger Raschheit die physischen oder geometrischen Wahrheiten zu begreifen.«1065 In der Differenz von Wahrheit und Wahrheitswissen scheint dann aber erneut die problematische Epistemologie der Philosophie D’Holbachs auf: Einerseits zwar beschwört D’Holbach den »Wert der Wahrheit«,1066 wobei er keinen Zweifel daran läßt, das Organ (»Werkzeug«) der Wahrheit sei das Sinnesvermögen;1067 andererseits wiederum wird eine weiche und philosophisch problematische Definition von Wahrheit, die auf das empirische Prinzip permanenter Rekapitulation vertraut, gegeben: »Wissen ist die – durch wiederholte und verdeutlichte Erfahrung gewonnene – Gewißheit von den Ideen, Empfindungen und Wirkungen, die ein Gegenstand in uns oder in anderen hervorruft. Jede Wissenschaft kann sich nur auf die Wahrheit, und die Wahrheit selbst kann sich nur auf das beständige und treue Zeugnis unserer Sinne gründen. So ist die Wahrheit die fortwährende Gleichheit und Übereinstimmung, die uns unsere normal gebildeten Sinne mit Hilfe der Erfahrung zwischen den Gegenständen, die wir kennen, und den Eigenschaften, die wir ihnen zuschreiben, zeigen. Kurz: die Wahrheit ist die richtige und genaue Verknüpfung unserer Ideen. Aber wie soll man sich ohne Erfahrung von der Richtigkeit der Verknüpfung überzeugen; und wie soll sie bestätigt werden, wenn man diese Erfahrungen nicht wiederholt? Wenn schließlich unsere Sinne fehlerhaft sind, wie kann man sich dann auf die Erfahrungen oder Geschehnisse beziehen, die sie in unser Gehirn einprägen? Durch vielfache, mannigfaltige, wiederholte Erfahrungen wird man diese Fehler ausmerzen können.«1068 Entsprechend entstehe Irrtum aus falscher Ideenverbindung. Wenn gemäß D’Holbachs Socialem System die natürlichen Prinzipien der Moral in der menschlichen Natur gründen sollen, bedeutet dies, daß sie den Menschen Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 94. – »D i e Wa h r h e i t i m P h y s i s c h e n ist die Kenntniss der Wirkungen, welche die natürlichen Ursachen auf unsere Sinne hervorbringen müssen. D i e Wa h r h e i t i m M o r a l i s c h e n ist die Kenntniss der Wirkungen, welche die Handlungen der Menschen hervorbringen müssen. D i e Wa h r h e i t i m Po l i t i s c h e n ist die Kenntniss der Wirkungen, welche die Regierung auf die Gesellschaft hervorbringt, das heisst die Art und Weise, auf welche sie auf die öffentliche Glückseligkeit und auf die der einzelnen Bürger Einfluss nimmt.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 14; siehe ebenso: Ibid. I. 43. 1063 Diese schreibt D’Holbach nicht selten Frauen zu in Verbindung mit ehebrecherischen Gelüsten, die als moralisch verwerflich markiert werden. 1064 Siehe: Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. A.a.O. 82. 1065 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 43. 1066 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 257. – Siehe auch: Paul Thiry D’Holbach: M Tome premier. Chapitre X. 1067 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 547. 1068 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 101. 1062
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mit sich selbst bekannt machen, ihm das Ziel seines Lebens und »die Mittel, es zu erreichen«,1069 vor Augen führen sollen. Als Ziel seines Lebens begreift der Mensch »das Glück oder das dauerhafteste, reellste, das wahrhafteste Vergnügen«,1070 das er flüchtigen und trügerischen Leidenschaften vorziehen sollte. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, daß der Mensch »in seine Vergnügungen eine Wahl«1071 bringt, denn der »Mensch lebt, um sich zu erhalten, und um mit Menschen in Gesellschaft des Glückes zu geniessen, welche dieselben Begierden haben und dieselben Widerwillen wie er. Die Moral wird ihm also zeigen, dass er, um sich selber glücklich zu machen, verpflichtet ist, mit dem Glück derjenigen sich zu beschäftigen, deren er zu seinem eigenen Glück bedarf: Sie wird ihm beweisen, dass von allen Wesen der Mensch dem Menschen das Nothwendigste ist.«1072 Die Identifikation von Nützlichkeit, wahrhaftem, d. h. sowohl besonderem als auch allgemeinem Glück sowie Tugendhaftigkeit1073 sieht D’Holbach verbunden mit der – temporal endlichen – Aufhebung des Determinismusprinzips: »das Glück ist die Übereinstimmung des Menschen mit den Ursachen, die auf ihn wirken«.1074 Die »Unkenntnis über die natürlichen Ursachen erzeugte die Götter; der Betrug der Priester machte sie zu Schreckensbildern […].«1075 Die Religion befördere lediglich Partialinteressen: nämlich die Machterhaltung derjenigen, die den ›Priesterbetrug‹ zu verantworten haben.1076 1.3 Die Kritik an der Geistlichkeit und das System des Atheismus Von hier aus ergibt sich leicht die Verbindung zu D’Holbachs Kritik an jedweder theologischen Moral, fordert er doch die Erfüllung mitmenschlicher Pflichten anstelle einer Erfüllung von fadenscheinigen Pflichten gegen Gott, welche sich einem undurchsichtigen System des Spiritualismus1077 verdanken: »Kraft der Theologie Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 52. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 53. 1071 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 53. 1072 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 53. 1073 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 250. 1074 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 105. 1075 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 250. 1076 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 250. 1077 D’Holbachs System der Natur enthält ein Kapitel über das »System der Spiritualität« (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 7. 73 – 81), in dem dieses insgesamt als eine Folgeerscheinung des Cartesianismus angesehen und dieser in geschichtlicher Konsequenz als der »selbstsüchtigen Politik der Theologen« (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 7. 78, FN 27) verpflichtet entlarvt wird. – Zu D’Holbachs Descartes-Kritik (dessen Philosophie er übrigens genauso wie diejenige Leibniz’, Malebranches oder Cudworths »die metaphysischen Romane« nennt [siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 7. 79. FN 28]), siehe insbesondere: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 7. 78, FN 26, wo es um Descartes’ Schlußfolgerung geht, »daß das, was denkt, von der Materie verschieden sein muß […].« – Siehe hierzu Descartes: »[…] certum est me a corpore meo revera esse distinctum et absque illo posse existere.« – Siehe: René Descartes: Meditationes de prima philosophia. A.a.O. 1069
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hat sich Gott selbst mit euren Priestern identifiziert, er regiert nur noch in ihren Köpfen, spricht nur durch ihren Mund, inspiriert sie ohne Unterlaß und straft sie niemals Lügen.«1078 Die Geistlichkeit genieße göttliche Vorrechte: »Die Interessen der Geistlichkeit sind die Interessen Gottes selbst. […] Mit einem Wort: Gott, Religion und Kirche sind dasselbe wie die Priester. Aus dieser Dreieinigkeit geht das einzigartige Wesen hervor, das man Geistlichkeit nennt.«1079 Die Antwort auf die für D’Holbach zentrale Frage: »Was ist in der Tat ein Atheist?«1080 heißt dementsprechend: Der Geistlichkeit nicht glauben heiße »Atheist sein«1081. Der Atheismus sei das wahrhafte Natur- und Vernunftsystem, das niemals – ebenso wenig wie die Religion – das Verbrechen1082 (das nach D’Holbach begangen werde auf Grund psycho-physischer Prädispositionen1083) billigen werde.1084 Als frühe Vertreter solcher Theorie werden genannt: Epikur, Lukrez, Bodin, Spinoza und Hobbes, deren Werke niemals Revolutionen verursacht hätten.1085 Zwar gesteht D’Holbach ein, daß eigentlich auch das Christentum Waffengewalt verachte,1086 gibt jedoch zugleich zu bedenken: »Diese Geistlichkeit braucht Soldaten, um ihren Dogmen und ihren Rechten Geltung zu verschaffen.«1087 Schließlich identifiziert D’Holbach den Atheismus sogar mit dem Resultat einer Bildungs- und Reflexionskultur: »Das System des Atheismus kann nur das Ergebnis eines beständigen Studiums und einer durch Erfahrung und Urteil abgekühlten Einbildungskraft sein.«1088 Der Seelenzustand des Atheisten: einsichtig, wissend und abgeklärt; kommt dagegen die Rede auf das fürstliche Recht, beklagt D’Holbach: »Die Geschichte aller Länder zeigt uns nur eine Menge lasterhafter und bösartiger Machthaber; indessen zeigt sie uns
VI. 9. – D’Holbach dagegen vertritt die Ansicht: »Je mehr wir nachdenken, umso mehr werden wir überzeugt sein, daß die Seele überhaupt nicht vom Körper unterschieden werden kann, sondern daß sie nur der Körper selbst ist im Hinblick auf einige seiner Funktionen, solange er Leben besitzt.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 7. 80. 1078 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T 191; siehe ebenso: Ibid. »Dieu« (»Gott«). 220: »Synonym für Priester«. 1079 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Vorrede«. 191. 1080 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 11. 496. – Zu der für D’Holbach entscheidenden Relevanz einer atheistisch verfaßten Philosophen-Existenz später mehr. 1081 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Vorrede«. 191. 1082 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: M Tome premier. Section troisieme. 1083 »Der Mensch kann nicht im Zaum gehalten werden, wenn sich nicht in ihm selbst Beweggründe finden, die stark genug sind, um ihn zurückzuhalten oder zur Vernunft zurückzuführen. Weder in dieser noch in jener Welt kann es etwas geben, was denjenigen tugendhaft machen könnte, den ein unglücklicher Körperbau, ein schlecht entwickelter Geist, eine erregbare Einbildungskraft, eingewurzelte Gewohnheiten, unheilvolle Beispiele und mächtige Interessen von allen Seiten zum Verbrechen verleiten.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 13. 208. 1084 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 513. 1085 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 516. 1086 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 8. 439, FN 53. 1087 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 8. 439, FN 53. 1088 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 516.
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kaum solche, die Atheisten gewesen wären.«1089 Letztlich sei es ohnehin die Vernunft, die zum Nutzen der Völker die wilde und ungestüme Grausamkeit allmählich zwinge, dem Völkerrecht zu weichen.1090 Die Tatsache, daß ausschließlich die Priesterschaft ein göttliches Recht kraft eigener Befugnis für sich in Anspruch nehmen dürfe, entlarvt D’Holbach als einen ungesunden Auswuchs innerhalb eines insgesamt in die Krise geratenen Rechtsprinzips: »Jeder, der für seinen Gott streitet, kämpft in Wirklichkeit nur für die Interessen seiner eigenen Eitelkeit, die unter allen menschlichen Leidenschaften am leichtesten erregbar und am ehesten geeignet ist, zu sehr großen Torheiten zu führen.«1091 Zukünftig die politisch-moralischen Folgen dieses aus rein egoistischen Motiven rührenden Mißverhältnisses zu unterbinden, entwickelt D’Holbach einen bemerkenswerten Freiheitsbegriff: »Freiheit ist die Fähigkeit, für sein eigenes Glück alles zu tun, was dem Glück der Mitmenschen nicht schadet; durch die Vereinigung hat jedes Individuum auf die Ausübung jenes Teils seiner natürlichen Freiheit verzichtet, der die Freiheit der andern beeinträchtigen würde.«1092 Die Mißachtung dieses Grundsatzes identifiziert D’Holbach mit »Zügellosigkeit«.1093 1.4 Die physikotheologische Legitimierung des Freitods Gemäß dem Alten Testament ist bereits das Interesse am Okkultismus der Totenbeschwörungen strikt untersagt: »Ihr sollt euch nicht wenden zu den Geisterbeschwörern und Zeichendeutern und sollt sie nicht befragen, daß ihr nicht an ihnen unrein werdet; ich bin der HERR, euer Gott.«1094 Über die Differenz von falscher und rechter Prophetie heißt es: »Wenn du in das Land kommst, das dir der HERR, dein Gott, geben wird, so sollst du nicht lernen, die Gräuel dieser Völker zu tun, daß nicht jemand unter dir gefunden werde, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen läßt oder Wahrsagerei, Hellseherei, geheime Künste Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 6. 440; ähnlich II. 8. 448. – Und so fragt D’Holbach: »Bildet man sich denn wirklich ein, daß ein Mensch, weil er Atheist ist oder weil er die Rache der Götter nicht fürchtet, sich alle Tage betrinkt, die Frau seines Freundes verführt, die Tür seines Nachbarn aufbricht und sich alle die Ausschweifungen erlaubt, die für ihn selbst sehr schädlich oder die sehr strafwürdig sind? Die Laster des Atheisten sind um nichts außergewöhnlicher als die des religiösen Menschen, keiner hat dem anderen etwas vorzuwerfen.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 13. 511; deutlich vergleichbar in II. 13. 536. – Ähnlich argumentiert bekanntlich Bayle in seinen Pensées sur la comète (1682). – Siehe: Pierre Bayle: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist. A.a.O. Zweiter Teil. VII. Beweisgrund. 133 – 139. – Siehe dagegen: »Der Gerechte ist der Lüge feind; aber der Gottlose handelt schimpflich und schändlich.« – Spr, 13,5. 1090 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E II. 32 f. 1091 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 477. 1092 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 110. 1093 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 9. 110. 1094 Siehe: Lev, 19,31. 1089
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oder Zauberei treibt oder Bannungen oder Geisterbeschwörungen oder Zeichendeuterei vornimmt oder die Toten befragt.«1095 Und zu Sauls Untergang: »So starb Saul um seines Treubruchs willen, mit dem er sich an dem HERRN versündigt hatte, weil er das Wort des HERRN nicht hielt, auch weil er die Wahrsagerin befragt, den HERRN aber nicht befragt hatte. Darum ließ er ihn sterben und wandte das Königtum David, dem Sohn Isais, zu.«1096 Angesichts solcher u. ä. Unterweisungen führt D’Holbach den vielleicht härtesten Schlag gegen das Christentum in Form einer ausdrücklichen Legitimierung des Suizids. Den sicherlich bekanntesten Selbstmord, von dem die Schrift berichtet, begeht Judas Ischariot: »Und er warf die Silberlinge in den Tempel und machte sich davon und ging hin und erhängte sich.«1097 Doch die Rede ist auch von vier weiteren Personen – bei denen bemerkenswerter Weise allesamt ein Hinweis auf einen persönlichen Glauben an Gott fehlt –, die Selbstmord verüben: zum einen Saul: »Da sprach Saul zu seinem Waffenträger: Zieh dein Schwert und erstich mich damit, daß nicht diese Unbeschnittenen kommen und mich erstechen und treiben ihren Spott mit mir. Aber sein Waffenträger wollte nicht, denn er fürchtete sich sehr. Da nahm Saul das Schwert und stürzte sich hinein«;1098 sodann Ahitofel: »Als aber Ahitofel sah, daß sein Rat nicht ausgeführt wurde, sattelte er seinen Esel, machte sich auf und zog heim in seine Stadt und bestellte sein Haus und erhängte sich und starb und wurde begraben in seines Vaters Grab«;1099 des Weiteren Simri: »Als aber Simri sah, daß die Stadt eingenommen werden würde, ging er in den Burgturm im Hause des Königs und verbrannte sich mit dem Hause des Königs und starb«;1100 und schließlich Simson: »Und er umfaßte die zwei Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, die eine mit seiner rechten und die andere mit seiner linken Hand, und stemmte sich gegen sie und sprach: Ich will sterben mit den Philistern! Und er neigte sich mit aller Kraft. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, so daß es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte.«1101 Im Gegensatz dazu erfährt das Thema ›Sterbehilfe‹ in der Bibel eine moderatere Behandlung. Über das Verscheiden Sauls und seiner Söhne steht geschrieben: »Da rief Abimelech eilends seinen Waffenträger und sprach zu ihm: Ziehe dein Schwert und töte mich, daß man nicht von mir sage: Ein Weib hat ihn ermordet! Da durchstach ihn sein Diener, und er starb.«1102 Anders D’Holbach, der – unter Berufung auf Seneca1103 – ein naturalistisches (oder i. S. D’Holbachs materialistisches 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103
Siehe: Dtn, 18,10 – 11. Siehe: I Chr, 10,13 – 14. Siehe: Mt, 27,5. Siehe: I Sam, 31,4. Siehe: II Sam, 17,23. Siehe: I Reg, 16,18. Siehe: Jdc, 16,29 f. Siehe: Jdc, 9,54. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 224, FN 83.
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oder anthropologisches) Argument zur Rechtfertigung des Selbstmordes aufbietet: »[…] und wenn er [der Mensch, H. G.] sich das Leben nimmt, führt er eine Anordnung der Natur aus, die ihn nicht mehr existieren lassen will. Diese Natur hat während Tausenden von Jahren im Innern der Erde das Eisen geschaffen, das seinem Leben ein Ende setzen soll.«1104 Abgesehen von ihrer areligiösen Stoßrichtung scheint hier die Nüchternheit der materialistischen resp. physiologischen Moralphilosophie D’Holbachs auf, nicht zu vergleichen beispielsweise mit der Alleinheitsphilosophie eines Spinoza, aus der heraus mit Blick auf den in Rede stehenden Aspekt zumindest eine ontologische Wertigkeit (»potestas«/»potentia«) zu folgern wäre: Wenn nichts in der Natur existiert, das eine Zerstörung von außerhalb seiner selbst erleiden kann, dann ist der Suizid »die Anzeige vollständiger Ohnmacht.«1105 1.5 Die Ökonomie des moralischen Instinkts Das Nachdenken über den nicht nur beim Tier, sondern auch beim Menschen vorfindlichen Instinkt hat eine gute Tradition in der modernen französischen Philosophie. Von Blaise Pascal – auf dessen in den Jahren 1656/57 in Paris erschienene Les provenciales, ou Lettres escrites par Louis de Montalte à un provincial de ses amis et aux RR. PP. Jésuites sur le sujet de la morale, et de la politique de ces Pères auch D’Holbach Bezug nimmt1106 –, der in seinen Pensées (daß D’Holbach auch mit ihnen bekannt ist, scheint evident1107) Wesen und Reichweite dieses denkwürdigen Konglomerats aus Sinnes- und Verstandesleistung untersucht, über Jean-Jacques Rousseau1108 bis Denis Diderot verwundert die »Kraft«1109 des Instinktes. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 223. Siehe: Birgit Sandkaulen: Die Macht des Lebens und die Freiheit zum Tod. Spinozas Theorie des Suizids im Problemfeld moderner Subjektivität. – In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin. 55 (2007), 2, 193 – 207; hier 195. 1106 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 33. 1107 »Schließlich treffen die Schicksalsschläge im Armen ein biegsames Schilfrohr, das nachgibt, ohne zu zerbrechen.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 255. – Vgl. mit: Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände. (Pensées) A.a.O. Fragment 347. 1108 Innerhalb seiner Staatslehre bezeichnet Rousseau im Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes eine zweite Art der Ungleichheit als »sittliche oder politische Ungleichheit«: Diese sei als Resultat des entfremdeten gesellschaftlichen Zustands und durch Machtmißbrauch, politisches Unrecht und ungezügelten Kampf um Geld und Besitz durch Interessengruppen entstanden. Das Werk konstruiert – ohne Anspruch auf historische Wahrheit – einen vorzivilisatorischen Urzustand der Menschheit von »guten« und »glücklichen« Wilden, die Mitleid mit der Kreatur und ihresgleichen auszeichnen und deren Leben durch Selbsterhaltung und Vorsorge bestimmt wird. Die Natur habe diesen Unzivilisierten ausschließlich mit Instinkt und solchen Fähigkeiten ausgestattet, die sein Leben sicherten. Sein Verstand entwickle sich nach Maßgabe seiner Bedürfnisse. Ungleichheiten unter den Menschen seien für deren Schicksal im Naturzustand unerheblich. Der Wilde handle von Natur gut, sei frei von Lastern; Selbstsucht, die der Selbsterhaltung diene, werde durch angeborenes Mitleid ausgeglichen. Der natürliche Widerwille, seinesgleichen leiden zu sehen, ja ihm vielmehr helfend beizuspringen, diene alsdann der 1104
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Auch D’Holbach weiß um die Besonderheit, sprich das erweiterte kognitive Leistungsvermögen, welches sich im Instinkt verbirgt. Er schreibt: »[…] für den Philosophen ist er die Wirkung eines sehr lebhaften Gefühls und besteht in der Fähigkeit, eine Menge von sehr komplizierten Erfahrungen und Ideen schnell zu verbinden.«1110 Und weiter: »Instinkt haben heißt nur: schnell urteilen, ohne lange überlegen zu müssen.«1111 Diese Charakteristika erinnern an eine wissenschaftstheoretische Utopie, die Descartes in seiner frühen, Fragment gebliebenen Schrift Regulae ad directionem ingenii entwirft.1112 Möglicherweise wäre eine ausgereifte Theorie des Instinkts (oder mit Blick auf den Körper: des mechanischen Reflexes) in der Lage, den zwischen Theoretischem und Praktischem, oder besser: Denken und Handeln vorfindlichen Hiatus zu schließen. Für Reflexionen über dieses Thema ist hier jedoch nicht der Ort (abgesehen davon, daß sich in D’Holbachs hier konsultierten Schriften eine solcherart konzipierte Theorie des Instinkts resp. des Reflexes auch gar nicht findet). In seinem späteren Socialen System spricht sich D’Holbach mit Blick auf den moral sense aber gegen die szientifische Tragfähigkeit eines Rückbezugs auf den Instinkt aus: Der Instinkt ermögliche nichts weiter als beispielsweise die Auswahl individuell angenehmer Speisen.1113 Eine genauere Begriffsbestimmung des moralischen Instinkts hat er bereits in seinem System der Natur vorgenommen. Dort heißt es: »Unsere moralischen Gefühle sind die Frucht einer Menge von oft sehr langen und sehr komplizierten Erfahrungen. […] Die Geläufigkeit, mit der wir unsere Erfahrungen anwenden oder mit der wir die moralischen Handlungen beurteilen, hat man moralischen Instinkt genannt.«1114
Erhaltung des gesamten Geschlechts. Der gute und glückliche Wilde handele nach dem moralischen Prinzip: Sorge für dein Wohl, aber benachteilige dabei andere so wenig wie möglich. 1109 Siehe: Denis Diderot: Rameaus Neffe. Zweite Satire. – In: ders.: Rameaus Neffe und Moralische Erzählungen. Mit 25 Federzeichnungen von Francisco Borès. – In: Das erzählerische Gesamtwerk von Denis Diderot. Band 4. Übertragen von Raimund Rütten. Herausgegeben von Hans Hinterhäuser. Mit Essays von Hans Hinterhäuser und Carl Linfert. 7 – 174; hier 68. 1110 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 128. 1111 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 130. 1112 Siehe: René Descartes: Die Erforschung der Wahrheit durch das natürliche Licht. – In: ders.: Regeln zur Leitung des Geistes. Übersetzt und herausgegeben von Arthur Buchenau. Unveränderter Nachdruck der zweiten, durchgesehenen Auflage von 1920. Hamburg 1960. 111 – 146; hier: »Vorwort«, Ziffer 5. 1113 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 43 f. 1114 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 127. – Als Beleg für D’Holbachs sensitiven Determinismus diene folgendes Zitat: »Meine Gefühle sind notwendig, sie hängen von meiner eigentümlichen, durch die Erziehung ausgebildeten Natur ab. Meine leicht zu erregende Einbildungskraft bewirkt, daß beim Anblick von Leiden, unter denen meine Mitmenschen seufzen, beim Anblick des Despotismus, der sie zermalmt, des Aberglaubens, der sie verwirrt, der Leidenschaften, die sie auseinandertreiben, der Torheiten, die sie fortwährend in Unfrieden stürzen, sich mein Herz zusammenkrampft oder heftiger schlägt.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 178.
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1.6 Das Kalkül der Physiognomie; die Prophetie D’Holbach schwebt eine physiognomische Moral-Wissenschaft vor: Solchen, die Physiognomien sensibler zu deuten vermögen, bietet sich ein Kalkül im Hinblick auf »ihre künftigen Handlungen, ihre Neigungen, ihre Triebe, ihre herrschende Leidenschaft usw.«1115 Dabei bleibt das Problem der insbesondere für die Sphäre der Praxis konservierten grundsätzlichen Differenz von Vorsatz bzw. Absicht und konkreter Tat unreflektiert. Dennoch erkennt D’Holbach, der ja in der Gefühlsregung den moralischen Grund sieht, im Physiognomiker einen »Menschen mit einem feineren Gefühl als andere«.1116 Solcherart Begabte sollten demnach in ausgezeichneter Weise zu den moralischen Wesen gezählt werden. D’Holbach behandelt darüber hinaus die »prophetischen Talente«, spricht sich jedoch unzweideutig dagegen aus, diese als »übernatürlich« zu verstehen: »Man kann bei ihnen nur auf Erfahrung und auf einen sehr feinen Körperbau schließen, durch welchen diese Menschen imstande sind, schnell die Ursachen zu ergründen und ihre sehr entfernten Wirkungen vorauszusehen. Diese Fähigkeit gibt es auch bei den Tieren, die die Veränderungen der Luft und den Wechsel der Witterung eher empfinden als die Menschen.« Hier kommt D’Holbach auf die Auspizien, die Ornithomantie zu sprechen: »Die Vögel sind lange Zeit die Propheten und Führer mehrerer Völker gewesen, die sich für sehr aufgeklärt hielten.«1117 Diese historisch vielfältig verbürgten Gesellschaftssysteme bezeugen für D’Holbach die philosophische Unhaltbarkeit eines Ideen-Innatismus: »Unsere Ideen über Laster und Tugend sind keine angeborenen Ideen; sie werden wie alle anderen Ideen erworben, und die Urteile, die wir darüber fällen, gründen sich auf wahre oder falsche Erfahrungen, die von unserer Bildung und von den Gewohnheiten, die uns modifiziert haben, abhängen.«1118 D’Holbachs Sensualismus gründet so in der Vielgestaltigkeit des konkreten Erfahrungsraums, der sich einem jeden Menschen individuell eröffnet. Diesem empirischen Skeptizismus trägt D’Holbach Rechnung, indem er beispielsweise aus François de La Mothe Le Vayers (1588 – 1672) Le Banquet sceptique (Das skeptische Bankett) zitiert.1119 Le Vayer, Jurist mit Sitz im Pariser parlement, Philosoph, Schriftsteller und Prinzenerzieher Ludwigs XIV. und seines Bruders, be-
Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 129. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 129. 1117 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 130. – Orakel werden von den unterschiedlichsten tierischen Bewegungen und auch Tierlauten abgeleitet. Aus dem Flug und dem Ruf der Vögel, aus den Sprüngen von ins Feuer geworfenen Tierschulterblättern (Skapulimantie) oder aus den Eingeweiden von Opfertieren, besonders der Leber (Leberschau), werden Orakel gewonnen. Im alten Rom obliegt die Vogelschau einem eigenen Staatspriesterkollegium (Auguren). – Siehe z. B.: Mantik. – In: 3RGG IV. 727 ff. 1118 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 130 f. 1119 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 132, FN 52. 1115
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tont die Wankelmütigkeit des Denkens, das von äußerlichen Eindrücken beeinflußt werde.1120 1.7 Das Format theonomer Moral D’Holbach räumt unumwunden ein, daß die »philosophische Moral« bisher wenig Wirksamkeit ausgeübt habe oder gar von Nutzen gewesen sei. Der Grund hierfür sei in vielerlei weit verbreiteten Vorurteilen zu suchen.1121 Die theonome Moral (D’Holbach nennt sie auch »fanatische«,1122 »übernatürliche«1123 oder »willkürliche«1124), die sich vornehmlich auf den Jähzorn des alttestamentarischen Rachegotts berufe,1125 gründe ausnahmslos auf Prinzipien der Furcht,1126 für die jeder Mensch empfänglich sei,1127 sowie auf der Kanonisierung der Tugendbegriffe.1128 D’Holbach gibt zu bedenken, die Theologie habe »bisher noch keine wirkliche Definition von der Tugend zu geben gewußt. Ihr zufolge handelt es sich um eine Wirkung der Gnade, die uns veranlaßt, das zu tun, was der Gottheit angenehm ist. Aber was ist die Gottheit? Was ist die Gnade?«1129 Hier erweist sich die Bekämpfung der Todesfurcht im Menschen als ein zentrales Anliegen D’Holbachs: »Die Furcht vor dem Tode macht die Menschen immer nur zu Feiglingen, die Furcht vor seinen angeblichen Folgen macht sie zu Fanatikern oder zu frömmelnden Melancholikern, die für sich selbst und für andere nutzlos sind.«1130 Und im Socialen System heißt es entsprechend: »Die Hoffnung und die Furcht, die beiden grossen Triebfedern der menschlichen Handlungen: s i e s i n d i n d e n H ä n d e n d e r j e n i g e n , w e l c h e d i e Me n s c h e n r e g i e r e n .«1131 Dagegen müsse die natürliche Grundlage der menschlichen Moral vielmehr durch Einsicht in »die Notwendigkeit der Dinge« oder das »Universum«1132 geschaffen werden. D’Holbach verweist auf Abschnitte seines Systems der Natur, die Hinweise auf eine »unerschütterliche Festigkeit«1133 der Moral gäben. Er denkt dabei an das 8. Kapitel des I. Buches mit dem Titel »Von den intellektuellen Fähig-
1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133
Siehe auch: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 135. Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E VI. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 261. Siehe z. B.: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 456. Siehe z. B.: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 458. Siehe: Dtn, 32,35 sowie: Ez, 25,15 ff. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 454. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 170. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 457. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 460. FN 61. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 228. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S II. 82. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 104. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 455.
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keiten, die sich alle auf die Fähigkeit des Empfindens gründen«;1134 zudem an das 12. Kapitel des I. Buches, das mit »Prüfung der Ansicht, daß das System des Fatalismus gefährlich sei«1135 überschrieben ist sowie die Schlußpartien des 14. Kapitels des I. Buches, das mit »Die Erziehung, die Moral und die Gesetze reichen aus, um die Menschen im Zaum zu halten / Vom Verlangen nach Unsterblichkeit / Vom Selbstmord«1136 betitelt ist. D’Holbach sieht im genannten 8. Kapitel die menschliche Verstandestätigkeit zur Gänze, d. h. das Vernunftvermögen1137 als solches, im »Empfinden« verankert. In der Konsequenz gerinnt Ratio, d. h. ihr physischer Sitz (das Gehirn), zur Ausdrucksgestalt der Materie: »Das bisher Gesagte ist hinreichend, um die Entstehung der Empfindungen, der Wahrnehmungen, der Ideen und ihrer Assoziation oder Verbindung im Gehirn zu zeigen; man sieht, daß diese verschiedenen Modifikationen nur Ergebnisse aufeinanderfolgender Eindrücke sind, die unsere äußeren Organe dem inneren Organ [d.h. dem innerlichen Empfindungsbewußtsein, H. G.] übermitteln, das die sogenannte Denkfähigkeit besitzt, das heißt die Fähigkeit, die verschiedenen Modifikationen oder Ideen, die es empfangen hat, an sich selbst wahrzunehmen oder zu empfinden, sie zu verbinden oder zu trennen, sie zu erweitern oder zu begrenzen, sie zu vergleichen, zu erneuern usw. Hieraus sieht man, daß das Denken nur die Wahrnehmung von Modifikationen ist, die unser Gehirn von äußeren Gegenständen empfangen hat oder sie sich selbst gibt. [Absatz] Tatsächlich nimmt unser inneres Organ nicht nur die Modifikationen wahr, die es von außen erhält, sondern es kann sich auch selbst modifizieren und die Veränderungen und Bewegungen betrachten, die in ihm vorgehen, oder seine eigenen Verrichtungen, wodurch es neue Wahrnehmungen und neue Ideen erhält. Diese Ausübung der Fähigkeit, auf sich selbst zurückzugehen, nennt man Nachdenken.«1138 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 82 – 91. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 166 – 187. – D’Holbach verleiht beiden FatalismusTypen: sowohl dem positiven (d. h. seinem eigenen [siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 164]) als auch dem negativen (d. h. dem theologischen), eine Stimme: Im Artikel »Fatalisme« (»Fatalismus«) (siehe: Paul Thiry D’Holbach: T 230) heißt es: »Verwerfliches System, das alles der Notwendigkeit unterordnet, während doch die Welt von dem unabänderlichen Ratschluß Gottes bestimmt wird, ohne dessen Willen nichts geschehen kann. Wenn alles notwendig wäre, dann ade freier Wille des Menschen, dessen die Priester so notwendig bedürfen, um ihn verdammen zu können.« – Auch im System der Natur wird die Kleriker-Variante durchgespielt: »Hüte dich also, dich über dein Schicksal zu beklagen.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 554. – D’Holbach polemisiert gegen die These von der menschlichen Willensfreiheit; daß diese für den Klerikerstand konstitutiv sei, um die ›Exekutive‹ der Verdammnissprechung zu gewährleisten, belegt der Artikel »Libre arbitre« (»Freier Wille«). – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T 248. 1136 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 213 – 228. 1137 »Die Fähigkeit unseres inneren Organs, äußere Gegenstände oder sich selbst wahrzunehmen oder durch sie und durch sich selbst modifiziert zu werden, nennt man bisweilen den Verstand. Als Intelligenz bezeichnet man die Gesamtheit der verschiedenen Fähigkeiten, deren dieses Organ fähig ist. Die Vernunft ist eine bestimmte Art, sich dieser Fähigkeiten zu bedienen.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 91. 1138 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 89. 1134
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Allerdings unterliegt D’Holbachs Begriff des Denkens dem Verdikt einer strengen Normativität, für deren veritative und epistemologische Ausschlußmechanismen sich Michel Foucault1139 oder auch der Normalismus-Forscher Jürgen Link1140 sicherlich interessiert hätten: »Der Geist denkt nur dann richtig, er ist nur dann fähig, die Dinge gesund zu beurteilen, und die Einbildungskraft ist nur dann in Ordnung, wenn unser Körperbau derart beschaffen ist, daß er seine Funktionen genau erfüllt.«1141 Für D’Holbach bedeuten ›denken‹ und ›nachdenken‹ demnach nichts anderes, als Eindrücke, Empfindungen oder auch Ideen sowie Veränderungen, die das Gehirn oder sein inneres Organ in ihm selbst bewirken, zu empfangen. So reduzieren sich für D’Holbach sämtliche intellektuelle Fähigkeiten, d. h. Wirkungsarten, die traditionell der Seele zugeschrieben werden, »auf Modifikationen, Eigenschaften, Seinsweisen und Veränderungen, die durch die Bewegung im Gehirn hervorgerufen werden.« Sein Kernsatz, der hier mit Blick auf die Fundierungsfrage der Moral von höchstem Interesse ist, lautet demgemäß: »Dieses [das Gehirn, H. G.] ist offensichtlich in uns der Sitz des Gefühls und das Prinzip aller unserer Handlungen.«1142 Und D’Holbach gibt auch eine Erklärung für das Zusammenspiel von Gefühl und Gehirn: »Die grundlegende Fähigkeit des lebenden Menschen, von der sich allen anderen herleiten, ist das Gefühl.«1143 Organisches Empfinden werde hervorgerufen »durch die Gegenwart eines materiellen Objekts, […] deren Bewegungen oder Erschütterungen dem Gehirn mitgeteilt werden.«1144 Empfindung stelle sich ein durch das Zusammenspiel einzelner Nerven, die affiziert würden und insgesamt einen großen Nerv ausmachten. Einige Denker hätten das Gehirn fälschlich als »eine spirituelle Substanz«1145 verstanden. Anders der physiologische Holist D’Holbach, der sich gegen eine äußerliche Größe, die auf den menschlichen Körper Einfluß nehme, ausspricht. Insofern muß er auch eine Philosophie des Geistes in ihrer Strategie, »eine okkulte Kraft« anzusetzen, mit allem Nachdruck zurückweisen.1146 Jedweder Vorgang müsse auf natürliche Weise erklärt werden können. Im 12. Kapitel nimmt D’Holbach eine umfangreiche Diagnose unterschiedlicher Systemformen vor. Dabei kontrastiert er irreführende Systeme des AberglauSiehe: Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Aus dem Französischen von Walter Seitter. München 1973. (Hanser Anthropologie. Herausgegeben von Lawrence Krader, Wolf Lepenies, Henning Ritter) – Sowie: ders.: Psychologie und Geisteskrankheit. Titel der Originalausgabe Maladie mentale et Psychologie. Aus dem Französischen übersetzt von Anneliese Botond. Frankfurt a. M. 31970. 1140 Siehe: Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen 3. ergänzte, bearbeitete und neu gestaltete Auflage 2006. 1141 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 100. 1142 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 91. 1143 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 82. 1144 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 82. 1145 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 80. 1146 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 81. 1139
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bens mit sog. wahren Systemen, »die sich auf die Natur und die Erfahrung gründen«.1147 Als allgemeiner Prüfstein der Systeme, Anschauungen und Handlungen der Menschen gilt ihm hierbei die Nützlichkeit.1148 D’Holbach konstatiert, die »wahren Begriffe von Recht und Unrecht, vom moralisch Guten und Bösen, von wirklichem Verdienst und von Schuld hängen nicht von den Willkürlichkeiten einer politischen Gesellschaft ab; sie gründen sich auf die Nützlichkeit und auf die Notwendigkeit der Dinge«,1149 d. h. das System des Fatalismus. D’Holbach betont unermüdlich, daß er jedwede menschliche Handlungsform einem stringenten Determinismus unterworfen sieht. Konsequent heißt es: »So ist das System der Notwendigkeit nicht nur wahr und auf sichere Erfahrungen gegründet, sondern es gibt auch der Moral eine unerschütterliche Basis.«1150 Das hier aufscheinende rechtsphilosophische Sonderproblem: die Straffähigkeit der Person, vermag D’Holbach allerdings noch keiner überzeugenden Lösung zuzuführen,1151 wenn er sagt, »jemandem eine Handlung zur Last legen heißt, sie ihm beimessen, ihn als deren Urheber erkennen. Selbst wenn man annähme, daß diese Handlung die Wirkung eines notwendig wirkenden Agens sei, kann die Zurechnung stattfinden.«1152 Diese Erklärung mißachtet zum einen das jeweilige Täterprofil; was jedoch ungleich schwerer wiegt, ist die philosophisch verhängnisvolle Applikation der Begriffe Fatum (kausaler Determinismus) und Verantwortungsprinzip (Freiheit): Auch wenn, wie erst Kant innerhalb der Antinomie der reinen Vernunft, genauer: im dritten Widerstreit der transzendentalen Ideen (»das ganze dialectische Spiel der cosmologischen Ideen«), zeigt,1153 Kausalität einerseits »aus Freiheit«, andererseits als Naturgesetz möglich ist (indifferent dagegen D’Holbach: »Welchen Ursprung gewisse Handlungen auch haben mögen, sie mögen frei oder notwendig sein«1154), ergibt sich dennoch eine zwingende Antwort auf die Fragen, »ob ich in meinen Handlungen frey, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sey, ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bey dem wir in allen unseren Betrachtungen stehen bleiben müssen«.1155 Erschwerend kommt hinzu, daß D’Holbach keine scharfe terminologische Diversifikation der Gesetzesbegriffe vornimmt: Einerseits setzt er einen strengen Determinismus des Naturgesetzes an, andererseits behauptet er eine anthropomorphe Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 167. – Siehe auch: Paul Thiry D’Holbach: M Tome premier. Chapitre IX. 1148 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 167. 1149 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 174. 1150 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 177. 1151 Jodl, der wohl denkt an: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 168 ff., gesteht D’Holbach hier allerdings ein größeres Verdienst zu. – Siehe: Friedrich Jodl: Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft. Erster Band. A.a.O. 455. 1152 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 168. 1153 Siehe: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. – In: AA 3. B 490. 1154 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 170. 1155 Siehe: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. – In: AA 3. B 491. 1147
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Genesis des Rechtsgesetzes: »Die Gesetze [die Rechtsgesetze, H. G.] sind nur geschaffen worden, um die Gesellschaft zu erhalten und um die Menschen, die miteinander in Verbindung getreten sind, daran zu hindern, sich zu schaden.«1156 Gesetze begreift D’Holbach als »Ausdruck des allgemeinen Willens«.1157 Allerdings legt D’Holbach ein wenig überzeugendes, um nicht zu sagen: problematisches Willenskonzept zugrunde, so daß sich seine Gesetzeslehre letztlich als unhaltbar erweist. Das Problem verdeutlichen zwei Belege zur Begriffsbestimmung des Willens: »Der Wille ist eine Modifikation unseres Gehirns, durch die es geneigt ist, zu wirken, das heißt, die Organe des Körpers in gewisser Weise zu modifizieren, damit er sich das verschafft, was ihn auf eine seiner Seinsweise gemäße Art modifiziert, oder damit er sich das fernhält, was ihm schadet. Wollen heißt: zum Wirken bereit sein.«1158 Und dann ergänzend: »[…] der Wille ist die Modifikation des Gehirns, durch die es zum Handeln geneigt oder durch die es darauf vorbereitet wird, die Organe in Gang zu setzen, die es bewegen kann.«1159 Es ergibt sich die vor diesem Hintergrund nicht eindeutig zu beantwortende Frage, worauf der Primat gesetzt ist: auf einen (seinerseits determinierten) Willen vor dem Willen oder auf die (freie) Spontaneität (im Sinne D’Holbachs: die Bereitschaft) als Ausgangspunkt, d. h. Prinzip des Aktes. Immerhin gesteht D’Holbach eine Inkongruenz von Denken und Handlung ein, wenn er ersteres letztere nicht konsequent dominieren sieht: »Wir wollen uns nicht weiter um das Verhalten eines Menschen kümmern, der uns ein System vorlegt; seine Ideen können […] sehr richtig sein, während seine Handlungen sehr tadelnswert sind.«1160 Deutlich geworden ist bis jetzt, daß D’Holbachs System der Natur keine mit Kant vergleichbaren Introspektionen der internen Architektonik reiner Vernunft unternimmt, sondern zunächst die vordergründigen Bedingungen für ein tragfähiges Konzept praktischer Moralität prüft, von dem zusammenfassend gesagt werden kann, gut seien menschliche Handlungen dann, wenn sie dem Erfordernis allgemeiner, d. h. gesellschaftlicher Nützlichkeit genügten: »Wenn es möglich wäre, dass eine Lüge der Welt wahrlich nutzbringend sein könnte, so würde sie dadurch eine Tugend werden; die Tugend kann nur in der allgemeinen Nützlichkeit bestehen.«1161 Doch D’Holbach macht unmißverständlich auch klar: »Welches auch die Ursache sein mag, die die Menschen zum Handeln veranlaßt, man ist auf jeden Fall berechtigt, den Wirkungen ihrer Handlungen entgegenzutreten, ebenso wie derjenige, dem sein Feld durch einen Fluß weggeschwemmt wird, berechtigt ist, Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 168 f. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 170. – Dann wieder konstatiert D’Holbach, die Gesetze quälten die Menschheit (siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 253), wo doch die »Natur […] den Fürsten [sage, H. G.], […] daß der öffentliche Wille das Gesetz hervorbringe«. – Siehe: Ibid. II. 463. 1158 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 90. 1159 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 142. 1160 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 528. 1161 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 15. FN 7.; 16 f. 1156
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das Wasser mittels eines Dammes zurückzuhalten, oder, wenn er es vermag, sogar seinen Lauf umzuleiten.«1162 Konsequent mißbilligt er allerdings Bestrafungen von Handlungen, die sich einer Gesellschaft verdankten, die ihrem Mitglied nichts gegeben habe, und diskreditiert sie als ungerecht. Mit Erziehung, Gesetz, öffentlicher Meinung, Beispiel, Gewohnheit und Furcht nennt D’Holbach Einflußbereiche, aus denen für die Menschen Modifikationen hervorgingen, d. h. eine Willensbeeinflussung, »sie zum allgemeinen Wohl arbeiten zu lassen, ihre Leidenschaften zu leiten und alles zurückzuhalten, was dem Zweck der Vereinigung schaden kann.«1163 Streitigkeiten und Blutvergießen um willen theologischer Fragen hätten der Theologie bisher kein festes Fundament ermöglicht.1164 D’Holbach bietet aber auch eine Erklärung für das schwankende Fundament einer theonomen Moral: Die Menschen seien zu keiner Zeit in der Lage gewesen, einen einheitlichen, d. h. unumstrittenen oder rein vernünftigen Begriff Gottes zu konzipieren. Die Crux zeige sich somit in Gestalt der Geschichte der Religion. D’Holbach sieht den Grund Gottes im Menschen gegeben. Doch er nennt noch einen weiteren Aspekt, warum insbesondere dem christlichen Monotheismus eine letztgültige fideistische Überzeugungskraft ermangele: Sein historischen Modifikationen unterworfenes göttliches Wesen nämlich, das zudem »niemals eine deutliche Sprache führte«,1165 als Basis für die Moral auserkoren zu haben, habe früher oder später zwangsläufig zu einer Vielzahl von sowohl typologisch als auch soziokulturell adaptierten Moralvarianten führen müssen: »Die Moral dieses Gottes ändert sich von Mensch zu Mensch, von einer Gegend zur anderen.«1166 Erforderlich sei jedoch, wie bereits andernorts betont,1167 ein und dieselbe Moral für alle Menschen überall und zu allen Zeiten,1168 und zwar zuvörderst des Kalküls der Mäßigung wegen: »Große und Kleine gehorchten der Religion, wenn sie ihren Leidenschaften gelegen kam; sie gehorchten ihr nicht mehr, wenn sie ihnen Einhalt gebieten wollte.«1169 Das bedeutet jedoch nichts weniger, als daß die von Klerikerseite unablässig betonte Union von Religion und Moral bereits wirklich, ›empirisch‹ widerlegt werde. Letztlich werde, so D’Holbach, die Etablierung einer weltlichen Moral zwangsläufig den Niedergang geistlicher Kultur verursachen. Die Frage, warum Gott nicht zur moralischen Instanz tauge, wird wie folgt beantwortet: »Ein über allem stehender Gott, der seinen Untertanen nichts schuldig ist, der keines anderen Wesens bedarf, kann nicht das Vorbild seiner Geschöpfe Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 169. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 169. 1164 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E XI. 193. 1165 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 458. 1166 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 459. 1167 Siehe Kapitel 1.2 dieses 4. Abschnitts. 1168 Orientierungsmaßstab für D’Holbach ist »eine Wahrheit, die auf der Erfahrung aller Zeiten beruht«. – Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E II. 35. 1169 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 465. 1162
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sein, die viele Bedürfnisse haben und die folglich gegenseitige Verpflichtungen haben.«1170 So erweist sich schließlich eine deontologische Ethik als zwingender Bestandteil gesellschaftlichen Lebens innerhalb staatlicher Gemeinschaften.
3. Kapitel: Die historisch-systematische Kritik einer materialistischen Fundierung der Moral 1.1 Logische Probleme in D’Holbachs Moralsystem Das philosophische Projekt einer Verwissenschaftlichung der Moral oder eine Ethik bleibt also Desiderat. Wie gesehen, sucht D’Holbach eine utilitaristische Ethik zu entwickeln: Die Nützlichkeit sei »der Prüfstein der Systeme, der Anschauungen und der Handlungen der Menschen«.1171 Eingedenk dieser Maxime baut D’Holbach auf »Principien der Moral«, die »ein System bilden«1172 sollen. Er fordert: »Die Prinzipien der Moral müssen evident sein und aus der Natur des Menschen abgeleitet, auf seine Bedürfnisse gegründet, von der Erziehung beeinflußt, durch die Gewohnheit vertraut gemacht und durch solche Gesetze sanktioniert werden, welche unsere Geister überzeugen, welche uns die Tugend nützlich und teuer erscheinen lassen und die Nationen mit rechtschaffenen und guten Staatsbürgern erfüllen.«1173 Zu den Prinzipien der Moral zählt D’Holbach »Natur, Vernunft, Tugend, Evidenz«.1174 Besonders der Evidenz-Begriff, der auch in früheren, D’Holbach nicht unbekannten rationalistischen Theorien (z. B. Descartes) philosophische Attraktivität genießt, dokumentiert die enge konzeptuelle Verklammerung innerhalb seines philosophischen Konsolidierungsprogramms, zählt er diesen doch selbst einerseits zu den Moralprinzipien – und läßt ihn aber andererseits ebenso als Attribut der Moralprinzipien fungieren: »Die Prinzipien der Moral müssen evident sein […].«1175 Hieraus ließe sich folgern, daß auch das Naturprinzip der Moral (und Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 434. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 166. – »Indessen kann, wie schon an anderer Stelle gesagt worden ist, die Nützlichkeit die einzige Regel und das einzige Maß für die Urteile sein, die man über die Anschauungen, Institutionen, Systeme und Handlungen intelligenter Wesen fällt; unsere Achtung vor all diesen Dingen sollte sich nach dem Glück richten, das wir von ihnen zu erwarten haben; sobald sie für uns nutzlos sind, müssen wir sie verachten; sobald sie für uns schädlich sind, müssen wir sie verwerfen; und die Vernunft sagt uns, daß wir sie in dem Maße verabscheuen müssen, in dem sie uns Leiden verursachen.« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 433. 1172 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S I. 50. 1173 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 454. – Das Gesetz sollte »Dolmetsch« (siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E XIII, 238) der Moral sein; auch das Anliegen der Philosophie müsse durch einen Philosophen gedolmetscht werden. – Siehe: Ibid. VIII, 132. 1174 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 458. 1175 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 458. 1170
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ebenso dasjenige der Vernunft sowie der Tugend – ja sogar dasjenige der Evidenz selbst!) den Charakter der Evidenz mit sich führe, mit anderen Worten: Die Evidenz sei evident. Abgesehen davon, daß D’Holbach nirgends eine nähere Begriffsbestimmung von ›Evidenz‹ vornimmt, unterläuft ihm hier mehr noch der Beweisfehler des hysteron proteron. Doch abseits allen Interesses an vermeintlich syllogistischen Fallstricken in D’Holbachs Beweisargumentation bleibt zunächst festzuhalten, daß er eine Anthropologie enttheologisierten Formats in den Rang einer Primärwissenschaft transponiert wissen will. Die drei Säulen der Moralprinzipien: die persönliche, die fürstliche sowie die nationale Moral,1176 machten gemeinsam die Einheit der Moral, d. h. ihr System aus.1177 D’Holbachs Argument zur Stützung seiner Überzeugung, es sei sowohl aus politischen als auch philosophischen Gründen unumgänglich, eine funktionstüchtige – und d. h. für ihn in erster Linie: eine einheitliche, d. h. systematisierte Moralkonzeption – vorzulegen, berücksichtigt das natürliche, d. h. ganzheitliche Wesen des Menschen: Die »Gewohnheit« (oder die Sitten1178) sei die »modifizierte Natur des Menschen«,1179 und der Mensch bedürfe auf Grund seiner physischen Konstitution einer Moral.1180 Und weiter: »Sowohl die physischen als auch die moralischen Erscheinungen der Gewohnheit sind auf Grund eines reinen Mechanismus zu erklären […].«1181 1.2 Die Definition und der wahre Grund der Moral D’Holbach entwickelt einen deontischen und somit bipolaren Begriff der Moral: »Die Moral, die nichts anderes ist als das Wissen um die Pflichten des in Gesellschaft lebenden Menschen, muß sich auf die universellen, unserer Natur innewohnenden Gefühle gründen, die so lange bestehen werden wie das Menschengeschlecht selber.«1182 Die Moral gründe sonach einerseits im Gefühl; zudem aber – und diese Erweiterung verdient besondere Beachtung – behauptet D’Holbach, »daß sich die Moral auf die unwandelbaren Beziehungen gründet, die zwischen empfindungsfähigen, intelligenten, geselligen Wesen bestehen; daß ohne Tugend keine Gesellschaft bestehen kann; daß sich kein Mensch zu erhalten vermag, ohne Siehe: Paul Thiry D’Holbach: M Tome premier. Chapitre I. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: S II. 129 f. 1178 »Die Sitten sind das Verhalten oder das allgemeine System der Willensregungen und Handlungen ganzer Völker oder einzelner Menschen, das sich notwendig aus ihrer Erziehung, aus ihrer Regierung, aus ihren Gesetzen, aus ihren religiösen Anschauungen, aus ihren sinnvollen oder unvernünftigen Institutionen ergibt. Mit einem Wort, die Sitten sind die Gewohnheiten der Völker […].« – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 112. 1179 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 118. 1180 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 459 f. 1181 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 106; siehe ebenso: Ibid. I. 181. 1182 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 456. 1176 1177
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seine Begierden zu zügeln.«1183 Diese Bemerkung scheint eine Art Gemeinschaftsgefühl als Voraussetzung für die Realität von Vergesellschaftung überhaupt zu implizieren, mithin die Ansicht, die Bedingung für moralisches Verhalten liege in der ›Geselligkeit‹, wie es im Deutschland dieser Zeit heißt. Diese These beinhaltet allerdings mehr als die bloße Versicherung, daß der (moderne) Mensch nicht vereinzelt anzutreffen sei – und D’Holbach geht noch weiter: Sogar das (vereinzelte) Bewußtsein gründe im Gefühl, d. h. in menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit,1184 sprich Bewußtsein gehe einher mit innerer Empfindung –; sondern D’Holbachs Ansatz erfordert darüber hinaus die Sittlichkeit als Prämisse. Das bedeutet dann aber: Moralität bedürfe sittlicher Vergesellschaftungsformen, und Vergesellschaftungsformen führten das Signum der Sittlichkeit, weil ihre Partizipanten moralisch handelten. D’Holbach betritt so einen circulus vitiosus, aus welchem sich bekanntermaßen ein Grund nicht deduzieren läßt. So beantwortet D’Holbach die Frage nach dem Grund der Moral philosophisch unzureichend. Unter dem Strich bleibt lediglich ein ethischer Sensualismus, der sich darauf beruft, daß »sich mein Herz zusammenkrampft oder heftiger schlägt«1185 angesichts mitmenschlichen Leids. D’Holbach redet so einer natürlichen Eignung, einer Moralität des Mitleids das Wort. Darüber hinaus: An ein Kalkül zur Generierung einer Kenntnis sicherer Grundsätze (Plural!) sei nicht zu denken: »Erst wenn sich die Kräfte des Eigennutzes und der Vernunft zufällig vereinen, kennt der Mensch sichere Grundsätze. Wenn sich aber diese Kräfte kreuzen, wird seine Moral zweifelhaft; dann entscheiden seine eigene Gemütsveranlagung, seine Gewohnheiten und persönlichen Verhältnisse über sein Verhalten. [Absatz] Indessen, es gibt für alle Wesen des Menschengeschlechts nur eine einzige Moral.«1186 Dieser erneute Appell für einen moralischen Universalismus orientiert sich an einer auf Erfahrung »und Analyse«1187 basierenden Vernunft.1188 Pikanterweise mit Anklängen an den 1. Brief an die Thessalonicher1189 wird ein religiöses gegen ein philosophisches Beweisverfahren gewendet: »Die Verfechter der einen Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 514. Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 85 f. – Siehe auch: Paul Thiry D’Holbach: M Tome premier. Chapitre XIII. 1185 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 178. 1186 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E XIII, 238. 1187 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E X, 172. 1188 »In der Vernunft liegt die Würde des Menschen, mit ihrer Hilfe erhält er sich und vermag er sein Leben glücklich zu gestalten; ohne sie ist er nur ein Automat, ohnmächtig, für seine Glückseligkeit etwas zu tun. Ist es nicht in der Tat die Vernunft, die gesellschaftsfähig macht? […] So ist die Moral auf die Vernunft gegründet, die selber wiederum nichts vermag ohne die Erfahrung und ohne die Wahrheit.« – Siehe [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E II, 32. – Sichere Erfahrungen zu machen koste indes Zeit. – Siehe: Ibid. VIII, 131. – Auch die Kenntnis tradierten Wissens gründe auf Erfahrung. – Siehe: Ibid. X, 163 f. – Dies habe in der Vergangenheit (angesprochen ist das England unter Charles I.) sogar eine »freiheitliche Begeisterung« (siehe: Ibid. X, 164, FN) mit sich gebracht. 1189 Siehe: 1 Thess 5,21. 1183
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Religion gründen ihre Aufgabe auf Blendwerk, Lügen und Wunder, deren nähere Prüfung untersagt wird; die Verfechter der anderen gründen ihren Auftrag auf die Erfahrung und empfehlen, alles zu prüfen.«1190 Unbedingt steht D’Holbach in Diensten einer Erneuerung der Moral; die Möglichkeiten für eine Fusion von Moral und Religion indes seien verspielt, sei die wahrhaft philosophische Moral doch genötigt, »für immer mit der Religion und der Politik zu brechen.«1191 Das Schicksal des alten Bündnisses von Thron und Altar sei besiegelt, wenngleich D’Holbach die – sicherlich nicht nur vor dem historischen Bewußtsein der Heutigen – kaum zu stützende Ansicht zu verantworten hat, Irrtümer eines Individuums wögen ungleich schwerer als diejenigen eines Herrschers.1192 Solches mag nur denken, wer ohne Verständnis geblieben ist für die unheilvollen Folgen (Konfessionskriege), die vielfach allererst auf Basis besagter Union zu beklagen gewesen sind. Dieses verwundert bei jemandem wie D’Holbach allerdings – und dokumentiert andererseits, welche fundamentalen Verschiebungen geschichtlicher Wertungen mit dem Abstand einiger Jahrhunderte möglich werden. D’Holbachs der Erfahrung verpflichtete ›Verbund-Definition‹ menschlicher Moral und seines allgemeinen Strebens lautet wie folgt: »Die Moral ist die auf das Verhalten des gesellschaftlich lebenden Menschen angewandte Erfahrung; die Politik ist die auf die Führung der Staaten angewandte Erfahrung; die Wissenschaften sind die Erfahrung, welche auf die verschiedenen Dinge angewendet wird, aus denen für die Menschen teils Nutzen, teils Annehmlichkeit entspringen kann; die Geschicklichkeit ist lediglich die Erfahrung, die auf die menschlichen Bedürfnisse, in dem Maße, wie sie wachsen, angewendet wird.«1193 Um gesicherte Erfahrungen zu machen, bedürfe es »gesunder und kräftiger Organe; aus diesen Erfahrungen, die vom Gedächtnis aufgespeichert und auf das Verhalten eines sinnes- und verstandesbegabten, auf das eigene Wohl bedachten Wesens angewendet werden, leitet sich die Vernunft her. Ohne Wahrheit kann der Mensch also nicht glücklich sein.«1194 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E XIII, 223. – Der »oberste Grundsatz« verächtlicher Politik bestehe demgemäß darin, »die Erfahrung zu ächten«. – Siehe: Ibid. II, 31. 1191 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E XIII, 222. 1192 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E IV, 57. 1193 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E II. 34. – Die Kritik am politischen Zustand lautet, »daß die Politik, die ihrem Wesen nach offensichtlich die Gesellschaften aufrechterhalten, ihre Kräfte zusammenfassen, für ihre Sicherheit und die Befolgung der unwandelbaren Regeln der Gerechtigkeit Sorge tragen soll, durch eine schreckliche Umkehrung der Dinge zum Prinzip der Auflösung der Gesellschaften geworden ist […].« – Siehe: Ibid. VII. 110. 1194 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E II, 30. – »Die Wahrheit wird die Könige lehren, daß die Gesetzgebung nicht geschaffen wurde, um die Launen eines einzelnen oder die Habsucht eines Hofes zu befriedigen, sondern um den Allgemeinwillen der Nation, die sich der Gesetzgebung zu ihrem Nutzen unterwirft, auzudrücken.« – Siehe: Ibid. IV, 58. – »[…] laßt die Wahrheit im Ohr der Könige dröhnen«. – Siehe: Ibid. IX, 153. 1190
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1.3 Der Begriff des Systems D’Holbachs System der Natur entfaltet kein System der Philosophie im eigentlichen Sinne, sondern expliziert eine Theorie, welche die rationale Transparenz einer ganzheitlich verstandenen Natur zu validieren sucht. Im Gegensatz dazu werden die Systeme der Metaphysiker einer harschen Kritik unterzogen, da sie historisch betrachtet ein abwegiges Natur- und – damit einhergehend – Moralverständnis zu verantworten haben.1195 Die mit besagten Totalitätskonzepten in engem Zusammenhang stehende Hypothese einer Freiheit der Seele, »das heißt, daß sie wirken könne, ohne durch eine äußere Kraft bestimmt zu werden«,1196 vermag nicht mit D’Holbachs Système de la Nature in Einklang gebracht zu werden. Denn grundsätzlich bedeutet für D’Holbach ›System‹ zunächst nichts weiter als eine geordnete, d. h. vernünftig ausweisbare Vorstellung einer wissenschaftlichen Theorie oder auch nur eines einzelnen Begriffs (z. B. des Atheismus, der Moral, der Natur, des Aberglaubens oder des Fatalismus). So wird beispielsweise der energetisch verfaßte Natur-Begriff des Menschen separat behandelt, da zunächst gewußt werden müsse, wie »sich der Mensch von den anderen Dingen unterscheiden kann«.1197 Eine Einsicht in diese Diversifikationstechniken gewährleiste sodann ein tieferes Wissen davon, wie »er sich von den Dingen eines anderen Systems oder einer anderen Ordnung unterscheidet.«1198 Nichtsdestoweniger ist die Extension des D’Holbachschen Systemkonzepts derart ausgreifend, daß dessen Konkretion sogar anhand menschlicher Gewohnheiten illustriert wird: »Betrachten wir die Dinge aufmerksam, so werden wir finden, daß fast unser gesamtes Verhalten, das System unserer Handlungen, unsere Beschäftigungen, unsere Bindungen, unsere Studien und unsere Vergnügungen, unsere Manieren und unsere Gebräuche, unsere Kleidung und unsere Ernährung Wirkungen der Gewohnheit sind.«1199 Den Fatalismus als wesentlichen Bestandteil seiner Philosophie nennt D’Holbach auch »System der Notwendigkeit«.1200 Nicht plausibel erscheint allerdings, inwieweit diese Form des Einheitswissens ihrerseits von den in D’Holbachs Schriften vielfach erörterten natürlichen Modifikationsweisen dispensiere: »In der Tat kann man alle die Umwälzungen, die sich oft von einem Augenblick zum andern in den Lehrgebäuden, in allen Anschauungen, in allen Urteilen der Menschen vollziehen, Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 264. – D’Holbach spricht auch von den »öden Regionen der Metaphysik«; Untersuchungen auf diesem Gebiet seien nutzlos. – Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E XI. 177. – Die spekulative Philosophie insgesamt wird mit der Suche nach Wahrheit, zu welcher der Mensch von Natur aus veranlagt sei (siehe: Ibid. XII. 201 f.) – man glaubt, Kant zu hören –, identifiziert; sie lehre uns, »einen gerechten Preis für die Dinge festzusetzen, und zwar nach dem wirklichen Nutzen, den sie erbringen können«. – Siehe: Ibid. XII. 200. 1196 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 265. 1197 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 60. 1198 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 62. 1199 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 105. 1200 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 178. 1195
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auf Grund eines rein physischen Mechanismus erklären: diesem Mechanismus zufolge sieht man sie bald richtig und bald falsch urteilen.«1201 Die Antwort, das fatalistische System sei eben Ausdruck der Einsicht des Wissens in besagten objektiven Sachverhalt, reicht nicht aus. D’Holbach konzidiert als größten aller Vorteile, den das Menschengeschlecht aus der Lehre der Fatalität – wenn sie es praktisch applizierte – ziehen könnte, eine allumfassende Nachsicht und Toleranz,1202 die sich notwendig aus der Überzeugung, alles, was geschehe, sei notwendig, ergeben müsse. Folglich werde der »in seinen Ideen konsequente Fatalist […] also weder ein lästiger Menschenfeind, noch ein gefährlicher Staatsbürger sein.«1203 Der Fatalist habe nicht das Recht zur Eitelkeit mit Blick auf seine eigenen Tugenden und Talente. Er wisse, daß diese Eigenschaften lediglich »Folgen seines natürlichen Körperbaus sind, der durch Umstände, die in keiner Weise von ihm abhängen, modifiziert ist. Er wird weder Haß noch Verachtung gegen diejenigen hegen, die von der Natur und von den Umständen nicht so begünstigt wurden wie er selbst. Der Fatalist muß grundsätzlich einfach und bescheiden sein; denn er ist gezwungen einzusehen, daß er nichts anderes besitzt als das, was er empfangen hat.«1204 Mit Denis Diderots 1773 abgeschlossenem, gleichwohl erst 1796 zum Druck gegebenen Roman Jacques le Fataliste liegt das bis dato vielleicht bekannteste Zeugnis einer Auseinandersetzung mit der Lehre der Fatalität vor. Das dort beschriebene Verhältnis zwischen dem aktiven, aber dennoch im festen Glauben an die Determiniertheit sämtlicher Ereignisse befangenen Knecht Jacques und seinem lethargisch-passiven Herrn, der – gleichwohl ironischerweise – die These der Willensfreiheit vertritt, inspiriert beispielsweise Hegel zu der in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) entfalteten Herr-Knecht-Dialektik.1205 Und auch in Diderots Le Neveu de Rameau1206 finden sich deutliche Anklänge einer physiologisch-materialistischen Selbstdeutung des Neffen i.S. eines D’Holbachschen Determinismus, der in Jacques der Fatalist »zur titeltragenden Konstante werden wird«: »Außerdem lag das in der Familie. Das Blut meines Vaters und das meines Onkels ist das gleiche Blut. Mein Blut ist das gleiche wie das meines Vaters. Das Molekül väterlicherseits Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN II. 485. D’Holbach plädiert durchaus für Toleranz in religiösen Angelegenheiten. – Siehe: Paul Thiry D’Holbach: T »Tiédeur« (»Lauheit«). 286: »Höchst verdammenswerte Gleichgültigkeit gegen die bedeutenden Gegenstände, mit denen ein Christ sich beschäftigen muß. Sie kann unter Umständen zur Toleranz führen.« – Siehe zudem: Ibid. »Tolérance« (»Toleranz«). 287. 1203 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 179. 1204 Siehe: Paul Thiry D’Holbach: SN I. 180. 1205 Zu dieser These siehe z. B.: Suzanne Gearhart: The Dialectic and its Aesthetic Other: Hegel and Diderot. – In: MLN: Modern Language Notes. Baltimore, Maryland. 101 (1986), 5, 1042 – 1066. 1206 Dieser Text wird in Goethes deutscher Übersetzung erstmals 1805 publiziert, sodann in einer französischen Rückübersetzung 1821 und im schließlich wiederentdeckten Originaltext erst 1891. – Siehe: Rameau’s Neffe. Ein Dialog von Diderot. Aus dem Manuskript übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe. Leipzig 1805. 1201
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muß wohl schroff und stumpf sein; und dieses verfluchte Urmolekül hat alles übrige seinen Eigenschaften angeglichen.«1207 Summa summarum ist D’Holbach sicherlich zu den Religionskritikern zu zählen, wenngleich er – und dieser Aspekt sei besonders betont – mitnichten für eine ersatzlose Verabschiedung des in religiosa vita Befriedigten optiert. Denn – das weiß auch D’Holbach – Kritik ohne Alternative ist unredlich. Und so lotet er anders die Bedingungen für eine funktionale Umbesetzung – und in der Konsequenz für eine Optimierung – der bis dato aus der religiösen Praxis resultierenden gesellschaftlichen Wertstelle aus: »Möchten doch Moral, Philosophie, Erfahrung, nützliche und echte Wissenschaften an die Stelle jener Theologie treten, an die Stelle jener finsteren Dogmen, jeder geheimnisvollen Mysterien, jener lächerlichen Märchen, jener nichtigen Pflichten, welche nur dazu dienen, den Verstand des Bürgers zu trüben, seine Gedanken zu verwirren und ihn böse zu machen.«1208 Nützliche, »aber oft widersprochene und in ihrer Neuheit bekämpfte Wahrheiten«1209 entdeckten: Physiker, Geometer, Mechaniker, Ärzte und Chemiker. Ähnlichen Vorgaben unterliege denn auch das philosophische Geschäft: »Um Philosoph zu sein, genügt es nicht, die überkommenen Vorurteile anzugreifen; man muß nützliche Wahrheiten an ihre Stelle setzen. […] Der Philosoph ist ein Mensch, der den Wert der Wahrheit kennt, sie sucht, über sie nachdenkt oder sie den anderen verkündet; der ist ein Weiser, der ihre Lehren zur Anwendung bringt. Wahrheit, Weisheit, Vernunft, Tugend, Natur sind gleichwertige Begriffe, sie bezeichnen das, was dem Menschengeschlecht nützt.«1210 Die Wahrheit kann einen hohen Preis haben: Menschen verkündeten sie »unter Einsatz ihres Glücks, ihres Vermögens und ihres Lebens«.1211
1207 Siehe: Denis Diderot: Rameaus Neffe. – In: ders.: Rameaus Neffe und Moralische Erzählungen. A.a.O. 122 bzw. FN 146, 280. 1208 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E III. 48. 1209 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E III. 40. 1210 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E VIII. 134 bzw. 138. 1211 Siehe: [César Chesneau Du Marsais/Paul-Henri Dietrich, Baron d’Holbach:] E IX, 154.
RESÜMEE
Die nun folgenden Überlegungen bedeuten eine Erweiterung der bislang gewonnenen Perspektiven insofern, als die Untersuchung Zur Genese autonomer Moral zwar den Begriff der Autonomie im Titel führt; ihren eigentlichen Schwerpunkt aber macht der Ausdifferenzierungsprozeß von Recht und Moral aus. Um die hier einschlägige Rechtsgestalt genauer zu fassen: Ausgehend von der Leitfrage, wie es dazu kommt, daß in der frühen Neuzeit und der Aufklärung die Moral nicht mehr theologisch, sondern rein vernünftig begründet wird, fokussiert sich die Arbeit folglich zunächst auf die Zurückdrängung des Theonomie-Prinzips. Die problemgeschichtliche Rekonstruktion der Genese autonomer Moral weißt auch insoweit einen religionspolitischen Schwerpunkt auf, als in ihr mit Blick auf die konfessionellen Aufspaltungen des Christentums als Resultat der Reformation die frühneuzeitlichen Verhältnisbestimmungen von Staat und Kirche zur Disposition stehen. Eines der Zentren ihrer Analysen betrifft mithin die Frage nach dem Begründungsverhältnis von Recht und Religion. Im Ganzen äußert sich dieser Problemkreis in Gestalt divergierender Theorien des Naturrechts, divergierend insofern, als das alte Naturrecht Schritt für Schritt von theologischen Vorgaben befreit wird. Dieser Problemverbund wird hier insoweit zum modernen Autonomie-Begriff gerechnet, weil die ihm innewohnende Konterstellung von Religion und Vernunft von der allmählichen Ausbildung des Konzepts natürlicher Vernunft getragen wird. Für die theoretische Philosophie resultiert hieraus letztlich die Destruktion der tradierten Lehrbestände der philosophischen Theologie; für die frühneuzeitlichen Politologien dagegen impliziert die Behauptung einer Natur der Vernunft, d. h. einer zum Wesen des Menschen gehörigen Kompetenz, die Kritik und daher letztlich die Abweisung jeglicher offenbarungstheologischer Ansprüche. Gleichermaßen ist mit der natürlichen Vernunft die Möglichkeit einer praktischen Bemächtigung heidnischer Religionen durch staatsrechtliche Sanktionierung gegeben. Insofern bringt die Genese autonomer Moral die schrittweise Austreibung der Religion aus dem alten Naturrecht zu Bewußtsein – und bedeutet nicht zuletzt ein wichtiges Moment der Geschichte der Religionskritik. Wenn der Begriff der Autonomie die Notwendigkeit einer Begründung des Menschseins aus sich selbst heraus insinuiert, ist damit nicht zwangsläufig der subjektive Anspruch auf Selbstbehauptung und -verwirklichung gewährleistet. In einer Zeit verheerender Konfessionskriege ist mit dieser Tendenz jedoch gleichermaßen die Frage nach einer Neubegründung menschlicher Gesellschaften verbunden. Moderne Staatslehren, wie sie z. B. Jean Bodin und Thomas Hobbes entwerfen, und individuelle Selbstbehauptung (siehe z. B. den »historischen Spinoza«) bedingen sich wechselseitig. Wenn die Genese autonomer Moral mit solchen folgenreichen In-
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Resümee
itiativen einhergehende politische Utopien zu rekonstruieren sucht, setzt sie voraus, daß sich der Begriff der politischen Autonomie im ausgehenden 16. und zu Beginn des 17. Jahrhundert insbesondere in Form unterschiedlicher Staatsphilosophien realisiert, in deren Zentren Theorien von Souveränität stehen. Diese Souveränitätslehren beschreiben divergente Verhältnisbestimmungen von Religion und Politik, welche die Genese autonomer Moral in mehreren Stadien rekapituliert. Ihr erstes Stadium erörtert Entstehungsbedingungen und Lehre der Six Livres de la République des Juristen und Inquisitionsrichters Bodin. Deren dem Anspruch nach säkulare Theorie absolutistischer Fürsten-Souveränität inhäriert bereits ein weiter Religionsbegriff insofern, als die Abkehr von der Frage nach der wahren Religion bereits die Forderung nach Toleranz zur Konsequenz hat. Bodin optiert für die staatsrechtliche Gleichbehandlung der Konfessionen und zählt so in seiner Zeit zu den ersten, die nüchtern die Irreversibilität der religiösen Pluralität als Resultat der Reformation nicht nur konstatieren, sondern auch anerkennen. Dabei impliziert der Begriff der Souveränität absolute Zustimmungsunabhängigkeit hinsichtlich gefällter und aufgehobener Beschlüsse. Er steht für die höchste, ungeteilte, zeitlich unbegrenzte, kraft eigener Befugnis (autonom) zugewiesene, sprich von äußeren Gesetzen entbundene Gewalt über die Untertanen. Gleichwohl ist Bodins Konzept staatsrechtlicher Selbstbestimmung noch von brüchiger Gestalt, stellt es doch einen Vermittlungsversuch dar von uneingeschränkter fürstlicher Befehlsvollmacht einerseits und Vernunftverpflichtung gegenüber dem ius divinum andererseits, also von Voluntarismus und altem Naturrecht: Vernachlässige der Monarch seine Regierungspflichten, seien Bürger und Beamte zum passiven Ungehorsam berechtigt, ja sogar angehalten. Trotz fürstlicher Bindung an das von Gott gegebene Naturrecht sei die Wahrung natürlicher Gerechtigkeit Gebot dieses Rechts. So wagen Bodins Sechs Bücher über den Staat den Spagat zwischen der Begründung uneingeschränkter Herrschergewalt einerseits und moralischen Anforderungen an den Souverän andererseits. Bei Bodin finden sich also schon erste Indizien für die Abnabelung der Moral vom Recht. Dennoch ist mit Michael Stolleis zu konstatieren, daß mit dem frühneuzeitlichen Naturrecht zunächst einmal die etablierte Feudalgesellschaft juristisch befestigt wird. Vor diesem Hintergrund ist Bodins Verdienst darin zu sehen, unter dem Eindruck der Religionskriege des 16. Jahrhunderts in bewußter Abgrenzung gegen die zeitgenössische Theologie einen ersten Versuch unternommen zu haben, eine Theorie der Staatssouveränität zu konzipieren, gemäß derer der Rechtsstaat mit normierten Mitteln seine Selbsterhaltung aus eigener Kraft (autonom) zu gewährleisten habe. Das deskriptive Moment dieses Projekts besteht in seiner permanenten Auseinandersetzung mit den Ansätzen politischer Philosophie der griechischen und römischen Antike, sprich mit Aristoteles und Cicero. Das zweite Stadium der Genese autonomer Moral führt zu Thomas Hobbes’ Politologie. Deren Autonomie-Konzept läßt sich günstigstenfalls aus der gleichermaßen mit ihr angelegten Erkenntnistheorie, genauer: aus ihrem Nominalismus, ableiten. Für Hobbes ist die Einsicht grundlegend, daß es ›von Natur aus‹ schlech-
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terdings keine Beurteilungsmöglichkeiten für menschliches Handeln gibt. Sowohl Ursachen (Naturzustand) als auch Folgen (Vertrag) dieser Lehre zu vergegenwärtigen, rechnet er zur politischen Aufgabe des Menschen selber. Nach den Erfahrungen der nicht zuletzt konfessionell ausgetragenen Kontroversen zwischen Königtum und englischem Parlament sieht sich Hobbes vor die Aufgabe gestellt, ein staatsrechtlich verträgliches Nebeneinander von irdischer Souveränität und Geistlichkeit zu etablieren. Aus seinen erkenntnistheoretischen Vorgaben resultiert, daß allererst der Staat autoritativ verfüge, welche theologischen resp. politischen Namen Gültigkeit beanspruchen dürfen. Der ›Leviathan‹ ist der ›große Definierer‹ – er allein reguliert die Semantik gültiger Begriffe. Hobbes’ Epistemologie eines verläßlichen, d. h. methodisch reflektierten Bildungsgesetzes wahren Wissens stützt sich auf per inductionem gewonnene Sätze, die deduktiv gesichert und sodann dem Gesetz der Natur eingeschrieben werden sollen. Dieser bis auf Aristoteles zurückgehenden resolutiv-kompositiven Methode unterliegt auch Hobbes’ Bildungstheorie des künstlichen Staatskörpers. Hobbes sagt es in De Corpore so: »Gegenstand der Philosophie und Materie, mit der sie sich befaßt, ist ein jeder Körper, bei dem sich irgendeine Erzeugungsweise begreifen und mit dem sich, wenn man ihn unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, eine Vergleichung vornehmen läßt; oder alles, bei dem Zusammensetzung und Zergliederung statthat […].« Wissenschaftliche Rekonstruktion impliziert sowohl begriffliche Destruktion als auch methodisch angeleitete Konstruktion, kurz: Analyse und Synthese. Insofern zerlegt die produktiv konstruierende Vernunft jedwede Komplexitätsform in ihre einzelnen Elemente und ermöglicht so die Einsicht in deren internen Zusammenhang. Diese so zur Vernunftwirklichkeit geronnene komplexe Kompilation wird jetzt gewußt – und d. h. wahrlich begriffen. Ausdrücklich betont sei, daß Hobbes mit diesem politischen Nominalismus keinesfalls die Freiheit des Denkens zu unterminieren sucht: Wie für die Sphäre des Religiösen bleibt auch für den Bereich des Politischen die subjektive Innenwelt des Geistes unangetastet. Sonach verfolgt Hobbes keinesfalls eine Perhorreszierung von Kirche und Religion, sondern vielmehr deren staatsrechtliche Implementierung, die gleichermaßen die Dekretierung von ›wahrer‹ und heidnischer Religion legitimiert. Da es, so Hobbes, im vorstaatlichen Naturzustand lediglich Keime von Religion, aber noch nicht sie selbst gebe, könne Religion nur im Rahmen menschlicher oder göttlicher Politik, d. h. im Staate, praktiziert werden. Statt also Widerstand gegen die kontraktualistisch legitimierte Macht des Leviathan zu leisten, müsse jeder Untertan ihm und damit einem staatsrechtlich legitimierten, insgleichen wahren, mithin aber auch reduktionistischen Christentum Gefolgschaft leisten bis hin zu der Bereitschaft, bei Widerstand das Martyrium anzunehmen: »Es ist nur ein Glaubensartikel, für den zu sterben zu einem so ehrenvollen Namen berechtigt; und dieser Artikel besteht darin, daß Jesus der Christus ist […].« Hobbes’ Politologie zeugt von einem ungetrübten Blick auf die mit der Reformation (für Hobbes eine protestantische Revolution) und den aus ihr erwachsenen Religionskriegen erlittene Einbuße des kirchlichen Monopolismus, nicht zuletzt auch in exegetischen Fragen. Doch
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mit den konfessionellen Kontroversen, die das Gemeinwesen zu spalten drohen, ist der Staat gleichermaßen gezwungen, sich auf seine eigenen Selbsterhaltungskräfte zu besinnen – womit er allerdings den Naturzustand mit rechtlichen Mitteln fortsetzt. So kann in staatsrechtlicher Perspektive nicht mehr die Frage, welche die wahre Religion sei, den Primat beanspruchen, sondern vielmehr, wie friedliches Zusammenleben unter den Menschen wieder möglich sei. Unverzichtbare Stützung erfährt Hobbes’ Theorie zur Staatsbildung durch die These vom persönlichen Selbsterhaltungswillen – und somit durch ein realontologisch unabweisbares Naturgesetz, d. h. eines natürlichen Rechts des Menschen.1 Hier tritt das Neuartige, sprich das Antiaristotelische in Hobbes’ Naturrechtslehre am deutlichsten zu Tage: seine Individualisierung. Die Unmöglichkeit, dieses elementare Streben nach Selbsterhaltung dem einzelnen streitig zu machen, erklärt sich, wie Hobbes einschärft, v. a. daraus, es nicht auf einen anderen übertragen zu können, und d. h. im Umkehrschluß: aus der naturnotwendigen Rückbindung an den je eigenen Möglichkeitsspielraum, sich praktisch verhalten zu müssen – und zwar in steter Vorteilsrücksicht. Dieses individualistische Moment Hobbistischer Anthropologie kehrt wieder, wenn religiöse Andachtsformen dem privaten Gewissen eines irdischer Gesetzesmacht ergebenen Individuums überlassen werden. Dem entspricht Hobbes’ Ansicht in der Frage nach der libertas ecclesiae: Sie sei einzig real im Gewissen der Bürger der Staates, welche das Corpus Christianum bedeuten. Am ergiebigsten für den Nachweis des Durchbruchs des neuzeitlichen Autonomie-Konzepts erweist sich Spinozas Metaphysik, die eine Ethik ist. Indem Spinoza bereits naturzustandliche ›Samen‹ von Religion leugnet, spitzt er im Vergleich zu Hobbes das Problem der Religion zu. Denn wenn die Religion dem Naturzustand nachgeordnet ist, wird die Frage nach dem Verhältnis von Staat und positiver Religion virulent. Spinozas religionspolitische Lösung führt Hobbes’ Ansatz aber auch fort, indem der Begriff der Religion in Richtung Innerlichkeit ausgelegt wird. So leisten beide, Hobbes und Spinoza, wichtige Beiträge für die Entwicklung des neuzeitlichen Autonomiekonzepts. Bei Spinoza sind die Gründe hierfür nicht zuletzt in der eigenen Vita zu suchen (Stichwörter: Bannstrahl des Jahres 1656 und anschließende Exkommunikation). So bildet sich Spinozas Lehre bereits in früher Zeit quasi als Widerpart – oder besser: in Folge einer radikalen Abwendung vom jüdischen Recht heraus, d. h. in Gestalt einer Emanzipation von talmudistischen Kodifikationsformen. Spinozas Philosophie verdankt sich wesentlich dieser Konfrontation mit dem Recht. Judaisierende Marranen erklären, der für sie zentrale Begriff der Erlösung sei im mosaischen Gesetz, nicht aber im Christentum zu finden. Spinoza richtet sich gegen die Vorstellung von einem auserwählten Volk, hält an der Utopie eines konfessionslosen Judentums fest – und bezweifelt so nichts weniger als dessen offenbarungstheologischen Status. Als Marrane höheren Grades, d. h. als Marrane der Vernunft behauptet Spinoza, den allein wahren und seligmachenden Weg zur ›Erlö1
Siehe hierzu: III. Teil, 2. Abschnitt, Kapitel 2.6.1.
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sung‹ zu kennen: Dieser Weg führe über die geistige Liebe Gottes – und somit gemäß den Voraussetzungen seiner eigenen Metaphysik über ein Wissen von der Universalität der Naturgesetzlichkeit. Der Mensch finde die Seligkeit in der Erkenntnis des Unendlichen. In der Kritik der positiven Religion liegt daher Spinozas Impuls seines Interesses an Metaphysik und Ethik. Denn da er schlicht jeder Offenbarungsgestalt: der christlichen nicht weniger als der jüdischen, den Charakter einer supranaturalen Quelle der Erkenntnis abspricht, sie vielmehr funktionalistisch i.S. eines lebhaften Vorstellungsvermögens der Propheten deutet, die keine Wahrheit vermitteln, sondern Gehorsam bewirken solle, deshalb und nur deshalb sieht er sich genötigt, dem denkenden Menschen eine neue Heimat im Reich metaphysischer Erkenntnis zu geben, damit er sich diejenige Seligkeit selber schaffen könne, welche die Offenbarungsreligion allen übrigen verspricht. So ist Spinozas Philosophie eines durch Vernunft zugänglichen und universell verpflichtenden natürlichen Gesetzes kaum vereinbar mit dem Glauben, das göttliche Gesetz bestehe in der mosaischen Gesetzgebung (Tora), das allein Israel vollständig bekannt sei. Nichtsdestoweniger – daran läßt der Tractatus theologico-politicus keinen Zweifel – seien Nützlichkeit und Notwendigkeit der Heiligen Schrift unbestritten: »Da alle Menschen unbedingt gehorchen können und es, verglichen mit der ganzen Menschheit, nur sehr wenige gibt, die durch die bloße Leitung der Vernunft eine tugendhafte Lebensführung erreichen, so müßten wir an dem Heil fast aller Menschen zweifeln, wenn wir das Zeugnis der Schrift nicht hätten.« So vertritt Spinoza die Überzeugung, positive Religion gehe letztlich vollständig in Moral auf. Spinozas politische Autonomie zeigt sich insbesondere an seiner Neutralität in bezug auf politische Fragen. So wäre Carl Gebhardts These, der praktische Teil des Tractatus theologico-politicus sei als Engagement für Jan de Witts liberale Politik zu werten, zu revidieren, wird in Rechnung gestellt, wie dieser auf Spinozas Werk reagiert.2 Spinoza nimmt nicht einseitig Partei für den (aristokratisch ausgerichteten) Republikanismus de Witts, sondern verteidigt als Anwalt der Denk- und Glaubensfreiheit die Anmaßungen und »Vorurteile der Theologen« als einer gesellschaftlichen Minorität gegen das geistige Leben überhaupt. Der Autor des Tractatus theologico-politicus steht somit über den Parteien. Daß die Spinozanische Ethik zum Typus normativer Ethik gehört, ist mit Bezug auf ihre Lehre vom Menschen zu rechtfertigen: Spinoza nimmt in den Begriff der menschlichen Natur das Moment der Normativität auf, indem er ihn als etwas begreift, das verwirklicht werden soll. Nur unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll, von einem Ideal (»exemplar«) der menschlichen Natur zu reden und es i.S. größtmöglicher Rationalität – und mithin Freiheit – zu charakterisieren. Diese Erkenntnis in sein Leben aufzunehmen, ist nach Spinoza Auftakt und Voraussetzung jedweder Form menschlicher Emanzipationsbestrebung. Der wahre Zweck des Staates besteht für Spinoza in der Ermöglichung der ungefährdeten Kultivierung menschlicher Geistes- und Körperkräfte, sodann des 2
Siehe: III. Teil, 3. Abschnitt, Kapitel 4.11.
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Schutzes des Vernunftgebrauchs sowie der allgemeinen Förderung des friedfertigen Umgangs miteinander – mit einem Wort: in der Freiheit. Und gerade Spinozas Theorie der Freiheit reichert den modernen Begriff der Autonomie an: Freiheitsund Autonomiebegriff bedingen im Individuum einander dann, wenn sie als adäquate Ursache von Veränderungen firmieren. Das aber ist nicht ›restfrei‹ möglich, da Veränderungen auch äußerlich verursacht werden: Somit sieht Spinoza absolute Freiheit nicht gegeben, wohl aber relative: nämlich vermöge der Überwindung des Einflusses von Leidenschaften sowie durch die Erkenntnis individueller Besonderheit. Das Streben des Menschen nach einem Leben ohne Zwang ist daher zu unterscheiden von seinem angeblich ›freien‹ Willen. So entspricht Freiheit der Tilgung von Zufälligkeit. Die Geltung des Freiheitsprinzips, so Spinoza, erstrecke sich nur soweit, wie es die Ontologie des unter dem Attribut des Denkens für frei Gehaltenen ermögliche. Auch in wissenschaftstheoretischer Perspektive befördert Spinoza das Autonomie-Konzept, verfaßt er doch den Tractatus theologico-politicus mit dem Vorsatz, der Philosophie ein gegenüber der Theologie autonomes Reservat zu verschaffen. In Wahrheit aber ist Spinozas Anspruch umfassender: Denn der Tractatus theologico-politicus dokumentiert v. a. auch die Suche nach einem natürlichen, und d. h. für Spinoza stets: nach einem wissenschaftlich gangbaren Weg, die menschliche Einbildungskraft (»imaginatio«) zu regulieren. Verfolgt wird dabei der nähere Zweck der Einebnung der zerstörerischen Elemente solcher Einbildungskraft und der weitere Zweck der Beförderung eines für die Gesellschaft Nutzen bringenden Verhaltens. Dabei sieht Spinozas Vorschlag keinesfalls vor, das – wie Leo Strauss es nennt – »imaginativ-affektive Leben« der Menge, die weitestgehend dem Aberglauben anhänge, vernünftig zu heißen, lehre doch die Erfahrung das genaue Gegenteil. Spinoza sucht vielmehr – quasi in Anlehnung an seine Affekten-Lehre der Ethica – nach einer Technik, die Wirkungen besagter »imaginatio« in quasi-rationale Muster zu überführen, ja mehr noch: sie zu institutionalisieren. So sieht Spinoza mit der (wahren) Philosophie die Möglichkeit gegeben, das (göttliche) Recht in das wissenschaftlich begriffene Gesetz der Natur zu überführen: Der Kausaldeterminismus löse das Gebot ab, und die Philosophie rücke an die Stelle der Religion, der bestenfalls moralische Verbindlichkeit eigne. Zumindest aber gilt im Staat die Freiheit zu philosophieren soviel wie das Recht auf seinen jeweiligen Glauben. Zum Theologat einer Engführung von Staat und Religion (Thron und Altar) stellt Spinozas Tractatus theologico-politicus also den konträren Gegenentwurf dar: Es sei nicht Aufgabe des Staates, das Seelenheil seiner Bürger zu befördern; vielmehr solle erreicht werden, daß die religiösen Instanzen ihre Anschauungen weniger mit Macht als mit Überzeugung vertreten. Bereits eine Äußerung Spinozas aus dem Jahr 1665 bereitet die letzte und ausgereifteste Form seiner politischen Theorie vor: den Tractatus politicus, welcher der Religion keine konstitutive Rolle bei der politischen Einheit der Gesellschaft mehr zuerkennen wird. Dort heißt es: »In demselben Sinne wie die Philosophen und Mediziner sagen, die Natur sündige, sagen wir also, der Staat sündige, wenn er etwas gegen das Gebot der Vernunft unternimmt.«
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Das vierte und vorläufig jüngste Stadium, in das die Genese autonomer Moral eintritt, betrifft den theoretischen Anspruch einer materialistisch fundierten Moral, wie sie der Baron Paul Thiry D’Holbach in seinen der Philosophie der Natur und der Moral gewidmeten Schriften zu explizieren sucht. D’Holbachs bekanntestes Werk, das 1770 pseudonym veröffentlichte System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und moralischen Welt, beabsichtigt, die von verschiedener Seite bereits seit längerem befehdete feudalabsolutistische Standesideologie Frankreichs durch einen Angriff auf die Verbündung von Fürstentum und Priesterschaft im Kern zu erschüttern und unter geregeltem Rekurs auf die gelehrte Tradition die Dringlichkeit für eine Reform der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit deutlich zu machen. Diese Reform solle »bei den Göttern des Himmels beginnen«, wie D’Holbach sagt. Sein Ansatz setzt zwar die vollzogene Scheidung von Recht und Moral voraus – und kommt doch trotz dieses Differenzierungsvorteils letztlich nicht darüber hinaus, lediglich unaufhörlich den Mißstand zu beklagen, daß die Wissenschaften es bisher nicht vermocht hätten, die Moral auf einen sicheren Grund zu stellen. Problematisch ist weiter, daß D’Holbach selber so gut wie keine konstitutiven Beiträge zur philosophischen Etablierung der projektierten neuen Moral anbietet, sondern sich weitestgehend mit despektierlicher Deskription der herrschenden Verhältnisse begnügt, ohne seinerseits Auswege aufzuzeigen. Wie soll nach D’Holbach der zukünftige Begriff der Moral verfaßt sein? Er stellt vier Forderungen: a) Die Moral soll materialistisch oder, wie es auch heißt, natürlich sein. D’Holbach orientiert sich an der Vier-Säfte-Lehre der griechischen Antike. Die Wesen der menschlichen Gattung seien in verschiedene Klassen eingeteilt. Für die Begründung dieser These zieht sich D’Holbach auf die Physiologie der Temperamentenlehre zurück; von deren Voraussetzungen hänge selbst der Vollzug des Denkens ab: »Der Geist denkt nur dann richtig, er ist nur dann fähig, die Dinge gesund zu beurteilen, und die Einbildungskraft ist nur dann in Ordnung, wenn unser Körperbau derart beschaffen ist, daß er seine Funktionen genau erfüllt.« Darüber hinaus schwebt ihm eine physiognomische Moral-Wissenschaft vor: Diejenigen, die Physiognomien sensibler zu deuten vermögen, sind eines Kalküls im Blick auf künftige Handlungen, Neigungen, Triebe, vorherrschende Leidenschaften usw. fähig. Das hier auftretende Problem der gerade auch in der Praxis bestehenden grundsätzlichen Differenz von Vorsatz bzw. Absicht und konkreter Handlung bleibt unreflektiert. Aus D’Holbachs Naturbegriff folgen schließlich Fatalismus und Determinismus: Die natürliche Grundlage der menschlichen Moral müsse durch Einsicht in die determinierte Struktur des Universums geschaffen werden. D’Holbachs Naturphilosophie lehrt einen durchgängig bewegten Kosmos und findet lobende Worte für den Atomismus des Eudämonisten Epikur: »Die unzerstörbaren Elemente, die Atome Epikurs, deren Bewegung, Zusammenspiel und Verbindungen alle Dinge hervorgebracht haben, sind zweifellos realere Ursachen als der Gott der Theologie.« D’Holbachs Philosophie beseitigt den Schöpfergott der Offenbarungstheologie und ersetzt ihn durch einen Begriff bewegter Materie, auf den
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sich sowohl onto- wie phylogenetisch die Entstehung des Menschen zurückführen lasse. b) Die Moral soll atheistisch sein. D’Holbach vertritt ein radikal religionskritisches Aufklärungskonzept, das einen die Gesellschaften Gesamteuropas umgreifenden Verblendungszusammenhang diagnostiziert, mit dem jedoch insbesondere Staatslenker sowie Kleriker geschlagen seien. Harsche Kritik wird geübt an einer theologisch verbürgten Autonomie: Die Tatsache, daß ausschließlich die Priesterschaft ein göttliches Recht kraft eigener Befugnis für sich in Anspruch nehmen dürfe, wird als ungesunder Auswuchs innerhalb eines insgesamt in die Krise geratenen Rechtsprinzips verurteilt. Das schwankende Fundament einer theonom veranlagten Moral erklärt D’Holbach damit, daß die Menschen zu keiner Zeit in der Lage gewesen seien, einen einheitlichen, d. h. unumstrittenen – oder rein vernünftigen Begriff Gottes zu entwerfen. Dieser Defekt habe früher oder später zwangsläufig zu einer Vielzahl von sowohl typologisch als auch soziokulturell angepaßten Moralen führen müssen. D’Holbach optiert jedoch mitnichten für eine ersatzlose Verabschiedung des in religiosa vita Befriedigten, sondern lotet vielmehr die Bedingungen für eine funktionale Umbesetzung – und in der Konsequenz für eine Optimierung – der bis dato durch eine bestimmte religiöse Praxis dominierte gesellschaftliche Wertstelle aus. c) Die Moral soll utilitaristisch sein. Auf Grundlage des – nach D’Holbach – Hauptgesetzes menschlichen Lebens: des Bedürfnisses nach Selbsterhaltung, fordert er eine Ethik sozialer Nützlichkeit: Unter Tugend wird dasjenige verstanden, was der Selbsterhaltung der in der Gesellschaft lebenden Menschen nutzbar gemacht werden kann. Die Soziabilität der Menschen solle auf einem gegenseitigen Nutzungsverhältnis beruhen. D’Holbachs Moralphilosophie wäre sonach als altruistisch zu kennzeichnen. d) Die Moral soll universalistisch sowie von überzeitlicher Geltung sein. D’Holbach sagt, die Moral müsse beständig und für alle Individuen des Menschengeschlechts die gleiche sein. Wie diese Forderung nach einem moralischen Universalismus, die für Kant ein Faktum ist, realisiert werden könne, läßt D’Holbach allerdings unbeantwortet. Ziel der wahren Moral sei jedenfalls, die Menschen darüber aufzuklären, daß es ihr ureigenstes Interesse sei, der Orientierung an vergänglichen Leidenschaften zugunsten dauerhafter Befriedigung zu entsagen. Für die aktuellen moralischen Irritationen macht d’Holbach ein dualistisches Philosophieren – für ihn der Erbfehler des Cartesianismus – verantwortlich. Daher sei die Moral insgesamt zu einem unlösbaren Rätsel geworden. Wie gesehen, ist das deskriptive – wiewohl jederzeit kritische – Moment des D’Holbach’schen Materialismus ausgeprägter als das normative. Doch D’Holbach bleibt einen Lösungsvorschlag, wie die Moral philosophisch begründet werden könne, schuldig. Am Ende bleibt lediglich ein ethischer Sensualismus, der sich darauf beruft, daß sich das Herz zusammenkrampft oder heftiger schlägt beim Anblick von mitmenschlichem Leid. D’Holbach redet so einer natürlichen Eignung, einer Moralität des Mitleids das Wort. An ein Kalkül zur Generierung zweifelsfreier
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Grundsätze (man beachte den Plural!) sei nicht zu denken: »Erst wenn sich die Kräfte des Eigennutzes und der Vernunft zufällig vereinen, kennt der Mensch sichere Grundsätze. Wenn sich aber diese Kräfte kreuzen, wird seine Moral zweifelhaft; dann entscheiden seine eigene Gemütsveranlagung, seine Gewohnheiten und persönlichen Verhältnisse über sein Verhalten.« Wir haben gesehen, daß der Entwicklungsverlauf in Richtung einer autonomen Moral streng unterschieden werden muß von der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Statuierung einer Ethik als autonome Wissenschaft. Das hat auch zur Konsequenz, daß im Sog der sich zum Ende des 18. Jahrhunderts ankündigenden philosophischen Moderne die Konzentration auf klassisch-naturrechtliche Grundlegungsstrategien abnimmt zugunsten der Frage nach dem systematischen Ort der Moral. Mit dem von D’Holbach zwar projektierten, aber aus den genannten Gründen nicht befriedigend explizierten System einer physiologisch fundierten Moral hat indes die Genese autonomer Moral nicht ihre historisch letztgültige Gestalt erreicht. Denn beispielsweise auch Kants – was selten Erwähnung findet3 – dem Christentum in mancherlei Weise noch verpflichtete Postulatenlehre der »reinen praktischen Vernunft«, die nicht zuletzt in Friedrich Heinrich Jacobi einen unnachgiebigen Gegner findet, hätte in vorliegender Untersuchung einen Platz beanspruchen können. Jacobi selber äußert sich nicht eindeutig zu dem hier erreichten problemgeschichtlichen Stand, sondern spricht für gewöhnlich schlechthin von »der« Religion; lediglich im Kunstgarten findet sich ein Hinweis auf eine etwaige Favorisierung des Protestantismus.4 Hinzu kommt, daß sich Jacobi auch nicht moralphilosophischen, wohl aber an dem Zusammenhang von (despotischem) Staat und (göttlichem) Recht ausgerichteten Fragestellungen5 widmet. Daß Jacobi indes an einer das Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit neu gestaltenden Form von Religion grundsätzlich festzuhalten gedenkt, ist bereits evident in seinen Briefen an den Herrn Mendelssohn über die Lehre des Spinoza (1785). So sind – es sei nochmals betont – die bis dato durchschrittenen Stadien als Fallbeispiele, derer es sicherlich noch mehr gibt, aufzufassen. Neben Jacobi sei im folgenden zumindest noch ein weiteres genannt. Eine löbliche Ausnahme macht: Gerhard Schwarz: Est deus in nobis. Die Identität von Gott und reiner praktischer Vernunft in Immanuel Kants Kritik der praktischen Vernunft. Berlin 2004. 4 Siehe: Friedrich Heinrich Jacobi: Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch. (1781) – In: JWA 7,1. 115 – 201; hier: 192 f. 5 Siehe: Friedrich Heinrich Jacobi: Über Recht und Gewalt, oder philosophische Erwägung eines Aufsatzes von dem Herrn Hofrath Wieland, über das göttliche Recht der Obrigkeit. (1781) – In: JWA 4,1. 257 – 287. – Sowie: ders.: Ueber und bei Gelegenheit des kürzlich erschienenen Werkes, Des lettres de Cachet et de prisons d’état. (1783) – In: Ibid. 365 – 425; hier: 378 – 425 (Jacobi gibt zunächst Kostproben aus selber übersetzten Partien der Schrift Mirabeaus und kommentiert diese sodann). 3
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David Hume David Humes (1711 – 1776) im Bereich der praktischen Philosophie bedeutendster Beitrag enthält eine Begründung für die Unterscheidung von Ethik (»benevolence«) und Recht (»justice«). Nicht selten wird diese Diversifikation angeführt als das zentrale Resultat seiner Moralphilosophie, die sich gegen eine rationalistische Moral wendet, wie sie v. a. Ralph Cudworth (1617 – 1688), Samuel Clarke (1675 – 1729) und William Wollaston (1659 – 1724) vertreten. Doch Hume müht sich auch, das problematische Verhältnis von Moral und Religion auszuleuchten. Wenn nach Hume die Prinzipien der Moral nicht in der Vernunft, sondern im Gefühl liegen (»sentiment«), sind nicht Wahrheiten, sondern »Handlungsdirektiven« bzw. »Beurteilungskriterien für Handlungen und Charaktereigenschaften« (Manfred Kühn) leitend.6 Überhaupt bestimmt die Frage nach der Grundlage der Moral mehrere Schriften Humes. Auch der Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751) knüpft in seinem 1. Abschnitt »Von den allgemeinen Prinzipien der Moral« an eine in den »letzten Jahren« entsponnene Kontroverse an, ob nämlich die Moral »auf der Vernunft oder auf dem Gefühl beruht, ob wir sie durch eine Kette von Argumenten und Induktion erkennen oder durch ein unmittelbares Gefühl und einen feineren inneren Sinn […].«7 Die Möglichkeit, durch Offenbarung gegebene göttliche Gebote gegebenenfalls als Quellgrund von Sittlichkeit und Moralität zu betrachten, kommt mit diesem Entweder-Oder gar nicht mehr in den Blick. Hume kann sich zwar darauf zurückziehen, lediglich einen aktuellen Diskussionsstand aufzugreifen, doch die mit diesem statuierte Alternative ratio vel sensus wäre durchaus durch die Problemfrage nach der – wie gesehen – bis dato vielfach erörterten begründungstheoretischen Reichweite des Theonomieprinzips zu erweitern gewesen. Indessen: Neben Hume und seinen genannten Mitstreitern möchten auch Samuel Clarke sowie William Wollaston diese Debatte nicht mehr anfachen. Vielmehr werde, so Hume, ein ethisches System gesucht, das auf »Tatsachen und Beobachtungen«8 beruhen soll. Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl bemerken zu Recht, Hume trachte »die Moral aus der theologischen Umklammerung durch den Nachweis zu lösen, daß der wissenschaftliche Theismus nicht in der Lage sei, die Eigenschaften Gottes zweifelsfrei zu eruieren. Aus der bloßen Existenz Gottes Ganz der moral-sense-Tradition verhaftet, die Lord Shaftesbury (Anthony Ashley Cooper, the third Earl of Shaftesbury 1671 – 1713) begründet, folgen Hume und sein Freund Adam Smith (1723 – 1790) hierin der Philosophie Francis Hutchesons (1694 – 1746). »Doch während Hutcheson die Ansicht vertritt, daß diese Übereinstimmung zwischen unseren Gefühlen und den moralischen Eigenschaften der Dinge aufgrund einer Art von Harmonie besteht, die von Gott vorherbestimmt ist, reduziert Hume sie auf die menschliche Natur.« – Siehe: David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Manfred Kühn. Hamburg 2003. XXIII. – Abschnitt 5 dieser Schrift (»Warum Nützlichkeit gefällt«) argumentiert gegen Hobbes’ und Bernard de Mandevilles (1670 – 1733) individualistisches Prinzip der Ethik. 7 Siehe: David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. A.a.O. 4. 8 Siehe: Ibid. 9. 6
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können aber keine sittlichen Gebote deduziert werden. Damit ist eine Fundierung der Moral in der natürlichen Religion als unmöglich erwiesen. Unter diesen Aspekten erscheint die Humesche Theismuskritik als notwendige Vorstufe zur Etablierung einer autonomen Moral, die keinerlei Bezug zur Transzendenz mehr hat. Im Kontext der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts läßt sich dieser Teil der Religionsphilosophie Humes daher als eine Vorstufe der Kantischen Moraltheologie betrachten, denn Kant bringt Religion und Moral wieder in einen Zusammenhang, in dem sich nun freilich unter Umkehrung des traditionellen Begründungsmodus die Religion an den Prinzipien der Moral zu orientieren hat.«9 Ungeachtet dessen betont allerdings gerade Kant, Hume sei der erste neuzeitliche Theoretiker, der die Begründung der Moral ausschließlich »in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist«,10 sucht. Auch das dritte Buch aus Humes Treatise of Human Nature (1739/40), Of Morals (1740), wäre innerhalb der Genese autonomer Moral einer intensiven Betrachtung wert gewesen.11 Humes dortige Ausgangsfrage, »ob es möglich ist, das sittlich Gute und das sittlich Böse allein durch die Vernunft zu unterscheiden oder ob noch andere Erkenntnisgründe hinzukommen müssen, um uns eine solche Unterscheidung zu ermöglichen«,12 bedeuten einen unausgesprochenen kritischen Bezug auf die biblische Schöpfungsgeschichte, die von der Einsicht in den Unterschied von Gut und Böse durch den verbotenen Genuß der Früchte des Baumes der Erkenntnis berichtet.13 Zudem findet sich hier ein Ansatzpunkt für Humes Kritik an dem spätestens mit Kirchenvater Augustinus abgesegneten christlichen Dogma der Erbsünde. Die Moral betrifft also eine Form des Wissens, die sich ausschließlich menschlichem Interesse verdankt. Das moralische Urteil, so Hume, sei unleugbarer Bestandteil menschlicher Naturanlage. Diese Ansicht empfiehlt er auch bezogen auf die Religion: Deren Wurzeln lägen im Menschen selbst, so seine Natural History of Religion (1757), die der Religion so ihren »vorgeblich objektiv verbindlichen OfSiehe: Günter Gawlick/Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. 121. (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. Herausgegeben von Norbert Hinske. Abteilung II: Monographien. Band 4) – Ob freilich Schelling dem beigepflichtet hätte, der noch 1842 betont, wie »wichtig es ist, daß Kant die Moral ›secularisirt‹ hat«, kann bezweifelt werden. – Siehe: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Mythologie. Erster Band. Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Unveränderter reprografischer Nachdruck der aus dem handschriftlichen Nachlaß herausgegebenen Ausgabe von 1856. Darmstadt 1966. 532, FN. 10 Siehe: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. – In: ders.: AA IV, 389. – Zit. nach Reinhard Brandts »Einführung« in: David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. (A Treatise of Human Nature). Buch I–III. Deutsch mit Anmerkungen und Register von Theodor Lipps. Mit einer Einführung neu herausgegeben von Reinhard Brandt. Hamburg 1973. XLIII. 11 Siehe: David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. (A Treatise of Human Nature). A.a.O. 195 – 374; siehe bes. I. 1 – 2. 12 Siehe: Ibid. I. 1. 13 Siehe: Gen, 2,17. 9
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fenbarungsgehalt«14 bestreitet. Aus dem Aufweis des wahren Grundes von Religion: der menschlichen Natur, folge weiter, sie als Gestalt der Vernunft selbst anzuerkennen. Gründet aber Religion in Vernunft, wird es letztlich auch möglich, den Orientierungsanspruch der Religion, wie er dem Menschen Gegenstand ihrer Geschichte ist, weiter zu relativieren: Religion vermöge Moral nicht nur nicht zu begründen, sondern der Anspruch religiöser Gebote sei mit moralischen Forderungen schlechterdings unverträglich. So behandelt der vierzehnte Abschnitt der Natural History of Religion den ungünstigen Einfluß volkstümlicher Religionen auf die Moralität.15 Hume bemerkt, es sei je schon mehr als nur moralische Integrität erforderlich gewesen, die Götter günstig zu stimmen, sc. ihre Gnade zu gewinnen (z. B. vermöge strengster Entsagungen an hohen religiösen Feiertagen).16 Diesen Vorschriften zu genügen müsse »selbst für den verderbtesten und lasterhaftesten Menschen härter sein […] als die Erfüllung irgendeiner moralischen Pflicht. […] Kurz, jede Tugend, wenn die Menschen durch noch so geringe Ausübung an sie gewöhnt worden sind, ist angenehm; aller Aberglaube hingegen ist immer verhaßt und lästig.«17 Im Umkehrschluß folge daraus allerdings nicht, ein Leben ohne Religion (für das Hume keinerlei empirische Anhaltspunkte vorfindet) als in besonderer Weise moralisch zu preisen: Man dürfe »sicher sein, daß die Menschen dort nur wenige Grade von den Tieren entfernt sind.«18 Die menschlichen Vorstellungen von der Gottheit sind meistenteils so unsittlich (affektgeleitet) wie die aus ihnen erwachsenen Verpflichtungen, die Gnade Gottes zu erlangen, unvernünftig sind. Sie tragen kaum zu einer an der Moral orientierten Existenz bei: »Hört man die verbalen Beteuerungen der Leute an, so ist nichts so gewiß wie die Lehre ihrer Religion; untersucht man jedoch ihren Lebenswandel, so wird man kaum annehmen, daß sie das geringste Vertrauen in sie setzen.«19 Die Religiosität selbst stehe der Moralität im Wege, so Hume. Die Frage nach Humes undurchsichtiger Einstellung zur Bedeutung des Glaubens oder des Irrationalismus für das geistige Leben des Menschen führte auf ein weiteres, zudem bislang noch wenig beschrittenes Forschungsfeld. Worin liegt die tiefere Bedeutung von Humes’ Kritik der traditionellen Metaphysik, die sich als notwendiger Bestandteil seiner – in ihren Motiven schemenhaften – Protektion des Glaubens erweist? Hume, dem auf Grund eines Heterodoxie-Vorwurfs 1745 die Berufung auf den Edinburgher Lehrstuhl für Philosophie verwehrt wird, leugnet in keiner seiner Schriften die Existenz Gottes – »im Gegenteil: die Natural History of Religion kann als ein einziges Bekenntnis zum physikothelogischen Gottesbeweis gelesen werden, und in den Dialogues einigen sich alle Gesprächsteilnehmer schnell 14 Siehe Lothar Kreimendahl in seiner »Einleitung« zu: David Hume: Die Naturgeschichte der Religion. Übersetzt und herausgegeben von Lothar Kreimendahl. Hamburg 1984. XXIII. 15 Siehe: David Hume: Die Naturgeschichte der Religion. A.a.O. 64 – 69. 16 Siehe: Ibid. 65 f. 17 Siehe: Ibid. 66. 18 Siehe: Ibid. Fünfzehnter Abschnitt. Allgemeine Schlußbetrachtung. 71. 19 Siehe: Ibid.
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darauf, daß die Existenz eines höchsten Wesens außer Frage stehe und daher nur seine Attribute Gegenstand der Unterhaltung sein könnten.«20 Wenn Hume aber die Leistungsfähigkeit des physikotheologischen Gottesbeweises anerkennt – sc. daß aus der Schönheit und Zweckmäßigkeit der Natur auf einen vernünftigen Schöpfer geschlossen werden dürfe –, stellt sich die Frage nach dem Status der Vernunft besonders dringlich: Gott selber komme so Vernunft zu. Sofort wird klar: Eine die Gehalte dieser Probleme rechtfertigende Rekonstruktion erforderte den Eintritt in weitere Stadien der Genese autonomer Moral, zu denen nähere Erörterungen nicht zuletzt der Moralphilosophien Shaftesburys und Hutchesons gehörten. Natürliche Religion Gegen die These, geschichtliche Religionen seien Verfallsformen einer historisch ursprünglichen natürlichen Religion, polemisiert auch Hume, indem er die seit der griechischen Antike bekannten natürlichen Theologien als retrospektive Konstrukte entlarvt. Schon länger glauben Deisten, es handele sich bei der natürlichen Religion um eine Art verfälschte Urreligion der Menschheit. Hume sieht stattdessen in den Dialogues concerning Natural Religion (1779) polytheistische Naturverehrungen am Anfang von Religion gegeben und bestreitet einen »natürlichen« Weg, die Existenz eines christlichen Gottes mittels bloßer Erwägungen aus Vernunftgründen zu erweisen (gleichwohl er es für möglich hält, daß Gelehrte sich einem vernünftigen Christentum durch philosophische Skepsis annähern können21). Mit der zu der bisher entfalteten Genese autonomer Moral parallel verlaufenden, wenngleich kurzlebigen religionsphilosophischen Episode der natürlichen Religion sucht sich in exzeptioneller Weise eine dem Anspruch nach weitestgehend unabhängig von religiösen Vorgaben gehaltene Ethik zu realisieren. Vorliegende Studie ist auf diese minimalistische Religionsvariante bereits verschiedentlich zu sprechen gekommen.22 Der Grundgedanke der natürlichen Religion bzw. Theologie als Erkenntnisform23 findet sich paradigmatisch in Reimarus’ Schriften ausgeSiehe: Günter Gawlick/Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. 120. (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. Herausgegeben von Norbert Hinske. Abteilung II: Monographien. Band 4) – V.a. schottische Calvinisten sind Humes Gegner. 21 Siehe: David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Herausgegeben von Günter Gawlick. Vierte, verbesserte Auflage 1968. Zwölfter Teil. 105 – 122. 22 Siehe: II. Teil, 2. Kapitel 2.4; 3.8; III. Teil, 4. Abschnitt, Kapitel 1.1. 23 Die natürliche Theologie setzt die prinzipielle Möglichkeit objektiver Erkenntnis voraus und anerkennt ein metaphysisches Kausalprinzip bzw. den Satz vom zureichenden Grund. Humes synonyme Verwendung von »natürliche Theologie« und »natürliche Religion« verwischt die Erweiterung »natürlicher Theologie« in »natürliche Religion«. Heute unterscheiden Religionswissenschaftler und Theologen zwischen »natürlicher Religion« als Lebensform und – das negative Resultat Kantischer Vernunftkritik ignorierend – »natürlicher Theologie« als philosophisch20
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sprochen: Wenn das Wesentliche des Menschen seine Vernunft ist, gehört auch die Sphäre des Religiösen eben dieser Vernunft an.24 Wenn aber das Religiöse zur vernünftigen Naturanlage des Menschen gezählt werden muß, dann gibt es auch eine natürliche Erkenntnis Gottes – wohlgemerkt ohne Rekurs auf die Offenbarung. Allerdings müsse die Vernunft des Menschen erst ausgebildet werden, bevor aus ihm ein guter Christ werden könne.25 Reimarus ist also nicht mißzuverstehen: Sein Anliegen ist eine aus Vernunftgründen zu leistende renovatio religionis christianae – und zwar nicht im Interesse einer weiteren Verfugung ihrer philosophisch-theologischen Validität (der höchst schwierigen Bewältigung eines solchen Unternehmens ist sich Reimarus wohl bewußt), sondern vielmehr zum Zwecke ihrer gesellschaftspolitischen Revitalisierung: »Die vernünftige Religion ist […] die Grundveste aller Religionen, und von Heyden, Juden, Christen, Türken, als wahr und unleugbar erkannt. […] Daher wäre sehr zu wünschen, daß insonderheit Christen, nach dem Beyspiel ihres großen Lehrmeisters, die vernünftige Religion und ihre Pflichten mehr trieben, und ihr zuvörderst in dem Catechismo, nebst den Glaubens-Lehren so viel Platz gönneten, daß Kinder zuvor von Gott und göttlichen Dingen vernünftige Begriffe bekämen, ehe sie Geheimnisse zu glauben und dem Gedächtnisse einzuprägen angewiesen würden. Denn diesem Mangel ist es hauptsächlich zuzuschreiben, daß das Christenthum bey dem gemeinen Hauffen wenig oder nichts fruchtet. Da sie nicht verständlich begreiffen, was Gott sey, worin seine Eigenschaften bestehen, und was denselben gemäß sey […].«26 Simone Zurbuchen behandelt den Zusammenhang von Toleranz und natürlicher Religion und kommt hinsichtlich des damit thematischen Verhältnisses von Staat und Religion zu der Einschätzung, die natürliche Religion werde »als integrierender Bestandteil des Naturrechts verstanden und bildet die Grundlage des staatlichen Religionsrechts.«27 Zurbuchen fährt fort: »Die natürliche Religion ertheologischer Theoriebildung. Auch wenn die »natürliche Religion« eine Apologie der Vernunftmoral beabsichtigt, betont Gawlick zu Recht, daß weder Christian Wolff noch Reimarus – und damit keiner der beiden prominentesten Vertreter der natürlichen Religion der deutschen Aufklärung – einen Beitrag zu einer modernen naturrechtlichen Moralfundierung leisten. – Siehe: Günter Gawlick: »Einleitung«. – In: Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. A.a.O. 10. 24 Siehe: Hermann Samuel Reimarus: APOLOGIE oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. A.a.O. [I. Teil] Erstes Buch. Erstes Capittel. § 1. 25 Siehe: Ibid. § 4. 26 Siehe: Ibid. Band II. [Die vernünftige Religion ist die Grundveste aller Religionen]. § 19. 27 Siehe: Simone Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzbegriffs von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau. Würzburg 1991. 7. – Zurbuchen bezieht die religiöse Dimension zwar auf das neuzeitliche Naturrechtsdenken, muß jedoch – ihrem Thema entsprechend – die moraltheoretischen Ausdifferenzierungsprozesse weitestgehend unbehandelt lassen. – Zu den Vorteilen, welche die Staatslehren des 18. Jahrhunderts aus der Idee der natürlichen Religion ziehen können, siehe z. B.: Christoph Link: Christentum und moderner Staat. Zur Grundlegung eines freiheitlichen Staatskirchenrechts im Aufklärungszeitalter. – In: Gerhard Dilcher/Ilse Staff (Hgg.): Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisation. Frankfurt a. M. 1984. 110 – 128; hier: 115 ff.
Resümee
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laubt es, die Pflichten, die aus der Vernunft erkannt werden, und die Pflichten, die Gott den Menschen durch Offenbarung bekanntgemacht hat, als unter der Einheit des göttlichen Willens stehend zu denken. In ihr liegt der Grund für die von Pufendorf immer wieder betonte Übereinstimmung von Vernunft und Offenbarung. Für die Unterscheidung zwischen Naturrecht und Moraltheologie ist eine weitere Differenzierung von Bedeutung, nach der sich die Moraltheologie mit dem inneren Verhalten des Menschen zu den Gesetzen, d. h. mit seiner Gesinnung, befassen soll, während das Naturrecht auf die eigentlichen Rechtsgebote beschränkt ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Gesinnung der Handelnden vom Naturrecht völlig unberücksichtigt bleiben könnte: Denn ein Minimum an moralischer Gesinnung ist notwendig, damit die natürlichen Gesetze beachtet werden. Die natürliche Religion bildet insofern die ethische Grundlage des Naturrechts, als sie in ihren praktischen Sätzen einen ›minimalen Moralkodex‹ enthält, in dem sie die Verehrung des höchsten Wesens und dessen Anerkennung als Gesetzgeber der natürlichen Gesetze vorschreibt.«28 Sofort wird deutlich, daß auch die natürliche Religion – wie könnte es anders sein – eine Entwicklung, und zwar in Form einer Unterminierung der Moral durch religiöse Restauration, durchmacht. Eine nähere Darlegung dieser Problemlagen müßte jedoch an anderer Stelle erfolgen.
Siehe: Simone Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzbegriffs von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau. A.a.O. 8. 28
DAN KS AG U NG
»Das ist aber ein schwerer Blätterhaufen. Das ist doch viel zu dick für ein richtiges Buch.« Das waren die Worte meines damals 6-jährigen Sohnes Richard, als er das Exemplar meiner Dissertationsschrift sah, das ich beim Prüfungsamt einreichen wollte. Trotz dieser Zweifel ist die vorliegende Arbeit im Sommersemester 2008 von der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen worden. Für die Drucklegung wurde sie leicht überarbeitet. Angeregt und betreut wurde die Arbeit vom Direktor des Bochumer Hegel-Archivs, Herrn Prof. Dr. Walter Jaeschke, dem ich für seine Unterstützung gerne danken möchte. Mein Dank gilt ebenso Herrn Prof. Dr. Gunter Scholtz für die freundliche Übernahme des Korreferats. Herrn Prof. em. Dr. Günter Gawlick und Herrn Prof. Dr. Lothar Kreimendahl (Mannheim) verdanke ich wichtige Impulse für meine Beschäftigung mit der rationalistischen und empirischen Philosophie der frühen Neuzeit und der Aufklärung. Danken möchte ich auch Catia Goretzki, die mich bei der Erstellung des Personenverzeichnisses unterstützt hat, und Peter Kriegel, ebenfalls aus dem Hegel-Archiv, deren beider Lektüren und Diskussionen der Arbeit mir manche Korrekturen ermöglicht haben. Herr Marcel Simon-Gadhof, Lektor des Felix Meiner Verlags, hat sich für die Veröffentlichung des Manuskripts eingesetzt und es mit großem Engagement und Sachkunde zum Druck gebracht. Dafür gebührt ihm mein herzlicher Dank. Meine Eltern haben mich in mancher Weise unterstützt. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken. Die Jahre der Niederschrift dieses Buches waren gemeinsame Jahre. Stefanie, für immer meine Freundin, war immer da. Die gemeinsame Zeit, die es zu entbehren galt, war eine kostbare Gabe. Von Herzen danke ich ihr für alles. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Bochum, im Herbst 2011
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vnd des Parlements Raths inn Franckreich / ec. [Abs.] Nun erstmals durch den auch Ehrnvesten vnd Hochgelehrten H. Johann Fischart / der Rechten Doctorn / auß Französischer Sprach / treulich inn Teutsche gebracht / vnd an etlichen enben [sic!] gemehret vnd erkläret. [Abs.] HeutigsTags / bei nun zumal zweiffelhafftiger Nachfrag von der Hexen verdienst vnd Straff / den Theologen / Rechtsgelehrten / Medicis / Amptleuten / Richtern / Rhäten / Rhatspersonen / vnd jeder Oberkeyt notwendig zuwissen vnd sich darnach zu richten. [Abs.] Mit Röm: Key: May: Freiheyt auff zehen Jar. [Abs.] Straßburg bei B. Jobin. 1581. (Sigle: D) – Io. Bodini Methodvs ad facilem historiarum cognitionem: Accvrate denuo recusus. Subiecto rerum Indice. M. D. LXXXIII. Apud Ioann. Mareschallum Lugdunensem. – Colloquium of the Seven about Secrets of the Sublime. Colloquium Heptaplomeres de Rerum Sublimium Arcanis Abditis. Princeton 1975. – Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis. E codicibus manuscriptis curavit Ludwig Noack. Reprint der Ausgabe Schwerin 1857. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. – Das Heptaplomeres des Jean Bodin. Zur Geschichte der Cultur und Literatur im Jahrhundert der Reformation. Von Dr. G. E. Guhrauer. Mit einem Schreiben an den Herausgeber von A. Neander. Berlin, 1841. Verlag von G. Eichler. – Sechs Bücher über den Staat. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer. Eingeleitet und herausgegeben von Peter Cornelius Mayer-Tasch. München 1981 – 1986. Band 1: Buch I–III. Band 2: Buch IV–VI. (Sigle: S + Bandr.) Iacobi Bruckeri: Historia critica philosophiae. Tomi I–IV. Lipsiae 1742 – 67. Giordano Bruno: Über die Ursache, das Prinzip und das Eine. De la causa, principio et uno. Italienisch–deutsch. Übersetzung, Einleitung und Kommentar von Thomas Leinkauf. – In: Giordano Bruno Werke (GBW). Band 3. Hamburg 2007. Georg Büchner: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Leipzig 1968. Hermann Conring: Der Ursprung des deutschen Rechts. De origine iuris germanici. – In: Michael Stolleis (Hg.): Die Bibliothek des deutschen Staatsdenkens. Band 3. Frankfurt a. M. 1994. Uriel da Costa. Exemplar humanae vitae – Beispiel eines menschlichen Lebens. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Hans-Wolfgang Krautz. Tübingen 2001. (Ad Fontes. Quellen europäischer Literatur. Herausgegeben von Michael von Albrecht [Heidelberg]. Band 7) Nicolaus de Cusa: Vom Frieden zwischen den Religionen. Lateinisch – deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Klaus Berger. Frankfurt a. M. 2002. William Derham: Astro-theology, or a Demonstration of the Being and Attributes of God from a Survey of the Heaven. London 1714, 61731. – [William Derham (Übers. Johann Albert Fabricius)]: Astrotheologie, oder Himmlisches Vergnügen in Gott, bey aufmercksamen Anschauen des Himmels und genauerer Betrachtung der Himmlischen Cörper zum augenscheinlichen Beweis, dass ein Gott, und derselbige ein allergütigstes, allweises, allmächtiges Wesen sey. Aus der fünfften vollständigeren Engl. Ausgabe in die Deutsche Sprache übersetzet […]. Hamburg 1728, 21732. Jacques Derrida: Grammatologie. Aus dem Französischen von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1974.
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PE R S O N E N VE R ZE I C H N I S
Abimelech 309 Abraham 180, 190, 200 Agrippa von Nettesheim 114 Ahas 137 Ahitofel 309 Alembert (le Rond), Jean-Baptist d’ 77, 292 Alexander IV. (Papst) 108 Alexander V. 198 Alexandrinus 267 Anaxagoras 49, 257, 296 Anna Maria von Österreich 232 Anselm von Canterbury 264 Antiochus 137 Antonius, Marcus 95, 296 Aristoteles 1 – 4, 6, 10, 27, 49, 61, 64, 71 – 73, 80, 82, 87, 108, 121, 133, 152, 165, 169, 172, 179, 185, 219, 254, 296, 299, 304, 328 f. Arminius, Jacobus 204 Arndt, Andreas 10, 29, 76, 183 Arnold, Gottfried 68, 134 Aron 266 Augustinus 1, 34, 67, 110 f., 122, 337 Bacon, Francis 6, 74, 80 – 83, 143, 152, 168, 192, 208, 215 Bahrdt, Carl Friedrich 41 Balling, Pieter 209, 219, 233 Barthélmy, Gabriel de 69 Barthes, Roland 125 Bartuschat, Wolfgang 211, 233, 258 Bauer, Leonhard 40, 100 f., 125, 230 Bayle, Pierre 4, 6, 28 f., 45, 51 f., 77, 94, 109, 216, 220, 226, 229, 232 f., 237, 241, 252 f., 300, 308 Becket, Thomas (Erzbischof von Canterbury) 37
Behemoth 135, 138 – 141, 148 Bekmann, Christoph Friedrich 260 Bellarmin, Robert (Bellarmino, Roberto Francesco Romolo) 134 Benedikt von Nursia 51 Benedikt XIII. 198 Bentheim-Tecklenburg, Anna von 112 Bessel, Friedrich Wilhelm 67 Bingen, Hildegard von 67 Bingen zur Blume, Zalman 203 Bischoffwerder, Johann Rudolf von 40 Blanke, Tobias 157 Blumenberg, Hans 2, 50, 52, 64, 72, 75 Blyenbergh, Willem van den 249, 273 Bodin, Jean 8, 15, 29, 56, 78, 84 – 129, 155, 157, 176, 179, 185, 268, 288, 307, 327 f. Boerhaave, Hermann 205, 291 Böhme, Jacob 37, 209, 286 Bonifaz VIII. 192 Borch d. J., Gerard ter (Terborch) 243 Borsita, Jaroslav (kaiserlicher Statthalter, Graf von Martinitz) 37 Bourbon, Henrietta-Marie de 145, 231 Boxel, Hugo 113, 284 Boyle, Robert 64 Brackert, Helmut 125 Brahe, Tycho 37 Brandt, Reinhard 337 Bredenburg, Johannes 230 Breidbach zu Bürresheim, Emmerich Josef Freiherr von 245 Bröcker, Walter 49 f. Bruch, Richard 5 Brucker, Jacob 27 Bruno, Giordano (Bruno, Filippo) 42, 67 – 70, 209 Buber, Martin 21
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Personenverzeichnis
Büchner, Georg 256 Büchner, Wilhelm 257 Burgh, Albert 202, 217 f. Burgh, Albert Coenraadsz 230 Burgh, Anna 230 Burton, Robert 296 Butler, Joseph 6 Caceres, Samuel 238 Caesar, C. Iulius 121, 171 Campanella, Tommaso (Domenico, Giovanni) 42, 80 Caspar, Max 64 f. Cassirer, Ernst 2, 4, 15, 18 – 20, 22, 24, 28, 52, 64, 197, 275, 290 – 293 Cats, Jacob 243 Cauvin; Jean (Calvin) 92 Cavendish, William 145, 152 Charles I 131, 138, 141 f., 145, 321 Charles II. 138, 149, 153 Charron, Pierre 42 Cherbury, Herbert 152 Chevreau, Urbain 209 f., 212 Christi 73, 160, 206, 235, 258 Christine von Schweden 29 Cicero, Marcus Tullius 87 f., 109, 121, 156, 296, 328 Clarke, Samuel 6, 76, 336 Clemens 19, 151, 267 Clemens VII. 92, 198 Codde, Gijsbert van der 230 Cohen, Hermann 19, 21 f., 30 f. Colerus, Johannes 200, 205 – 207, 210, 214, 219 f., 229, 232 – 234, 237, 239, 242, 249, 255 Conring, Hermann 101 Cooper, Anthony Ashley (the third Lord of Shaftesbury) 336 Costa, Uriël da 222 – 224, 227, 282 Craeijer, Louis 224 Crenius, Thomas 250 Creskas (Kreskas), Chasdaï 204 Cromwell, Oliver 140, 146, 231, 287 Crooke, Andrew 59, 139, 153
Crusius, Christian August 41 Cudworth, Ralph 306, 336 Damasio, Antonio R. 11 Damasio, Hanna 11 Darea, Cathrin 104 de Witt, Corneli[u]s 233, 243 f., 260, 281, 286, 331 de Witt, Jan (Johan) 243 f., 260, 286, 331 Delmedigo, Joseph Salomo 203 Demokrit 19, 74 Derrida, Jacques 19 Descartes, René 6, 11, 13, 19, 22, 30, 49, 64 f., 74 f., 77 f., 82 f., 131, 151 f., 160, 165 f., 177 f., 186, 205, 207 – 213, 215 f., 239 – 241, 245 – 248, 250, 258 f., 286, 290, 294, 306, 311, 319 Deschner, Karlheinz 124 f. Devonshire, Wilhelm von 145, 152, 248, 276 d’Holbach, Paul Thiry 9, 37, 84, 289 – 325, 333 – 335 Diderot, Denis 77, 292, 310 f., 324 f. Digby, Kenelm 153 Dilthey, Wilhelm 18, 20, 22, 163 Diogenes Laertius 4, 65, 296 Diokletian 128 Dionysius 111 Dofay, M. Claudij 105 Dohm, Christian Wilhelm 39 Drake, Francis 143, 152 Droysen, Johann Gustav 18 Duhem, Pierre 73 Dunin Borkowski S. J., Stanislaus von 140, 205, 231, 260, 270 Duns Scotus, Johannes 20, 164 Eco, Umberto 103 Edelmann, Johann Christian 238 Eduard II. 146 Effingham, Charles Howard von 143 Eisler, Rudolf 4, 26 Elisabeth I. 142 Enden, Clara Maria van den 212
Personenverzeichnis
Enden, Franciscus (Affinius) van den 205 f., 212, 216 ff., 243 Epiktet 296 Epikur 19, 51, 65, 74, 205, 215, 292, 297, 307, 333 Ernst (Herzog von Braunschweig-Lüneburg) 42 Esfeld, Michael 161, 196 Esra, Abraham ben Meir ibn (Esra, Aben; Avenesra; Ebenesra) 219, 256, 266 Eukleides von Alexandria 151 Ewald, Schack (Jacques) Hermann 67, 260, 280 Fabricius, Albert Johann (Pseudonyme: Veridicus, Sincerus) 83, 210 – 214 Fabricius, Johann Ludwig 210 Fabricius aus Müglitz (Schreiber Fabritius) 37 Fagel, Gaspar 243 Fawkes, Guy 144 f. Felbinger, Jeremias 205 Ferdinand II. (König von Aragón, Sizilien und Sardinien) 199 Ferrer, Vincent 198 Fichte, Johann Gottlieb 5, 7, 27, 57, 77 f., 202, 257 Fischart, Johann Baptist (genannt Mentzer) 93, 99, 103 f., 126 f. Fischer, Christian Gabriel 238 Fischer, Kuno 18, 20, 214 – 216, 219 Flavius Josephus 102, 115, 124 Foucault, Michel 19, 280, 292, 315 Franconus i. S. 69 Frank, Erich 22, 56, 95, 116, 200, 205, 225, 228, 231, 263 f., 276 Franz (Markgraf Georg von Brandenburg) 42 Freud, Sigmund 64 f., 119, 205, 210, 253 Freudenthal, Jacob 44, 205, 208, 217, 221, 223 f., 229 – 232, 243, 245, 255 f., 260 f., 273 Friedländer, Paul 22
377
Friedrich II. (der Große), König von Preußen 40, 68, 86 Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg 33 Friedrich V. von der Pfalz 209 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 40 Füglinum Basiliensem, Johannem 112 Gäbe, Lüder 49, 54, 75, 102, 258, 269, 313 Gabirol, Salomon Ibn 203 Gadamer, Hans-Georg 21 – 24, 26 f. Galilei, Galileo 49, 59, 67, 70, 76, 152, 163, 203, 209, 224, 269 Gassendi, Pierre (Petrus) 74 Gawlick, Günter 87, 225, 259, 336, 340, 343 Gebhardt, Carl 208, 222 Geiger, Moritz 23 Gerke, Friedrich 50 f. Gershon, Levi ben (Gerson, Levi ben; Hebraeus, Leo; Balneolis, Leo de; Gersonides) 219 Geulincx, Arnold 6 Gewirth, Alan 6 Gibson, Edmund 285 Glafey, Adam Friedrich 59 Glazemaker, Jan Hendrick 209 Glinka, Holger 216 Goethe, Johann Wolfgang 15, 105, 202, 217, 225, 324 Goeze, Johann Melchior 157 Graevius, Johann Georg 237 Grawert, Rolf 2 Gregor VII. 134 Gregorius XIII. 92 Grillandus, Paulus (Grillando, Paolo) 109 Grotius, Hugo (de Groot, Huig) 5, 29, 54, 87, 136, 204 Gundling, Nicolaus Hieronymus 59 Guttmann, Julius 20, 203 f. Hallmann
220, 242
378
Personenverzeichnis
Hampden, John 131, 150 Hare, Richard Mervyn 6 Hartley, David 6 Hartmann, Nicolai 18 f., 21 f., 24 f., 27 Harvey, William 186 Harviller, Jeanne (Harwilerin, Johanna) 104 – 107 Haselrig, Arthur 150 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2, 5, 7 f., 18, 27 – 29, 35, 45, 49, 57, 69, 77 f., 88, 124, 136 f., 157, 193, 220, 269, 290, 296, 324, 343 Heidegger, Martin 18, 20 – 23, 26 f., 64, 80 Heimsoeth, Heinz 16, 22 Heineccius, Johann Gottlieb 5, 56, 59 Heinrich III. 93 Heinsius, Anthonie 207, 243 Heinsohn, Gunnar 94, 118, 124 f. Helvétius, Claude Adrien 295 Henrich, Dieter 7, 18, 29 Henris II. 231 Henri IV. (Henri le Grand) 86 Henry Stewart (Lord Darnley) 143 Henry VIII. 142 f., 146 Heppe, Henriette 101 Heraklit (Heraclitus) 34 Herder, Johann Gottfried 202 Hermes, Hermann Daniel 40 Hesiod (Hesiodos aus Askara) 178 Hieronymus 95, 116 Hildegard von Bingen 67 Hillmer, Gottlob Friedrich 40 Hiob 138 Hirszenberg, Samuel 281 Hobbes, Thomas 1 f., 5 f., 8 f., 12, 16, 21, 24, 30, 41, 48, 56, 59 – 62, 78, 84, 86, 88, 102, 122, 128 – 197, 206, 228, 240 f., 245, 248, 269, 271, 273, 275 – 277, 282, 284, 287, 289, 298, 307, 327 – 330, 336 Höffe, Otfried 6, 73, 134 Holbach, Franz Adam doppelt 291 f., 297 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 290 – 325
Holda (Prophetin) 177 Hölderlin, Friedrich 29, 263 Holz, Hans Heinz 19 Homan, Hendrik 230, 240 Honegger, Claudia 103, 117 Hönigswald, Richard 9, 22, 70, 165 Hösle, Vittorio 6, 25 Hudde, Johan 244 Hume, David 1, 6, 261, 336 – 339 Husserl, Edmund 9, 17, 20, 22 f., 26 Hutcheson, Francis 6, 336, 339 Huygens, Christiaan 240, 244, 286 Iamblicus (Iamblichus) 109 f. Ignatius von Loyola 92 Ilting, Karl-Heinz 34, 154 Im Hof, Ulrich 33 Innozenz VIII. (Papst) 116 Institoris, Heinrich 106, 116 – 118, 121 Isabella I. (Isabel I de Castilla) 199 Israel, Menasse ben (Dias Suiro, Manuel) 39, 54 f., 203, 218 f., 226 f., 230, 256, 266, 281, 331 Jacobi, Friedrich Heinrich 20, 39, 69 f., 98, 202, 239, 335 Jaeschke, Walter 25, 27, 49, 51, 69 f., 98, 189 f., 195, 267, 290, 343 Jakob VI. (James; Jakob I) 143 Jaspers, Karl 22 f., 239 Jelles, Jarig (alias Insma) 207, 209 f., 213 f., 233 f., 243, 249 Jesaja (Prophet) 55 Jesus von Nazareth (Jesus Christus) 14, 50, 54 f., 75, 84, 104, 108, 118, 123, 128, 186, 188, 190, 228 f., 235 f., 258, 268, 271, 278, 329 Jodl, Friedrich 5 – 7, 52, 294, 316 Joël, Manuel 204, 263, 290 Johann (Kurfürst von Sachsen) 42 Johann von Frankfurt 116 Joseph II. (römisch-deutscher Kaiser) 39 Judas Ischariot 309 Julius III. 92
Personenverzeichnis
Justinian
50 f.
Kaiphas 102 Kant, Immanuel 1, 4 – 8, 13, 17 f., 28, 41, 46, 48, 51, 54, 57, 63, 72, 79 f., 157, 187, 202, 291, 298, 303, 316 f., 323, 334 f., 337 Karels, Margarita 242 Karl I. 142 Karl IX. 93 Karl Ludwig Kurfürst von der Pfalz 209 Karl V. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) 42 f., 156, 243 Kepler, Johannes 37, 64 – 66, 70 – 73, 83 Kerckring, Theodoor (Kerckrinck, Dirck) 205 Kircher, Athanasius 68, 102 Klenner, Hermann 12, 140 f., 148, 155, 179 Klibansky, Raymond 296 f., 299, 305 Klostermann, Vittorio 21 Koenraad, Henricus 209 Koenrads, Christoffel 213 Koerbagh, Adriaan 247, 281 Konstantin der Große (Constantinus, Gaius Flavius Valerius) 50 Kopernikus 64 – 68, 70 – 72, 83 Korff, Hermann August 18 Kortenhoef, Conrad Burgh van 218 Kortholt, Sebastian 233, 237 – 239 Krauss, Werner 163, 291 Kreimendahl, Lothar 262, 336, 338, 343 Kriegel, Peter 69, 343 Kroner, Richard 20, 22, 290 Krüger, Gerhard 21 Kühn, Manfred 257, 336 Kuiper, Frans 230 Künrath, Heinrich (Künrath, Henricum) 213 Kuyper, Frans 153 Lange, Friedrich Albert 19, 293 Langermann, Daniel 240 Lau, Theodor Ludwig 238
379
Lauchen, Georg Joachim von (Rheticus) 66 Laud, William (Erzbischof von Canterbury) 147 – 149 Leeuwenhoeck, Antoni[y] van 240 f. Lefevre, Tannequil 212 Leibniz, Gottfried Wilhelm 19, 28 f., 33, 51 f., 75 f., 83, 111, 197, 208, 213 f., 240, 245 – 247, 306 Leisegang, Hans 18 Lessing, Gotthold Ephraim 17, 96, 157, 202, 239, 267 Leukipp 74 Limborch, Philipp van 204 Lindenberg, Jacob 201 Line, Wilhelm von 107 Link, Jürgen 39, 54, 309, 315, 340 Linnés, Carl von 292 Locke, John 21, 33, 291 Louis II. François (le Grand Condé) 231 Löwith, Karl 23 Lübbe, Hermann 182 Lucas, Jean-Maximilien 201 f., 205 f., 208, 215, 217, 219 – 221, 229 f., 233, 237, 240, 243, 258 Ludwig XIII. 232 Ludwig XIV. (Louis le Grand) 78, 97, 206, 212, 231 f., 244, 291, 312 Luhmann, Niklas 155 Lukian 296 Lukrez (Titus Carus Lucretius) 74, 205, 296, 307 Luther, Martin 42, 44, 92 Machiavelli, Niccolò 79, 88, 103, 155, 288 Macintyre, Alasdair 10 Maimonides, Moses (Maimon, Mose ben) 203, 219 Malebranche, Nicolas 6, 52, 75, 306 Mandevilles, Bernard de 336 Mandrous, Robert 103 Mani (Manes) 110 Marcellus II. 92
380
Personenverzeichnis
Maria Stuart (Maria I.) 143 Maria Tudor I. 142 Matis, Herbert 100, 125 Matthäus 108, 235 Matthias (Reichskaiser, König von Ungarn und von Böhmen) 37 Mauthner, Fritz 53, 288 Mayer, Hans 18 Mayer, M. 210, 212 f. Mayer-Tasch, Peter Cornelius 56, 93 Mazarin, Jules 232 Medea 110 Meinsma, Koenraad Oege 202, 204 – 206, 209, 214, 284, 286 Melanchthon, Philipp 14, 66 Mendelssohn, Moses 7, 20, 39, 69, 335 Mersenne, Marin 152 Messner, Johannes 12 Mettrie, Julien Offray de la 291, 297, 304 Meyer, Lodewijk (Heinsius, Daniel [Pseudonym]) 19, 207, 215, 217, 234 Midelfort, H. C. Erik 113, 115, 119 f., 122 f., 126 Minois, Georges 52 f. Mirabeau, Honoré Gabriel Riquetti 335 Montaigne, Michel Eyquem de 42, 56, 168 Montanus, Petrus (Berg, Petrus van den) 113 Montmorency-Buttéville, Duc de Luxembourg, François-Henri de 232 Moreri, Louis 77 Morteira, Saul Levi 217, 256 Morus, Thomas (More, Thomas) 42, 80 Moses (Mose) 188, 190 f., 227, 229, 235, 275, 278 Müller, Max 23, 66, 242, 246 Musaeus, Johannes 255 Natorp, Paul Gerhard 19, 21 f., 24 Naumann, Manfred 289, 291, 293 Negri, Antonio 259 Newton, Isaac 58, 64, 71 f., 76, 103 Nicolaus von Cues 95
Nietzsche, Friedrich 18, 64, 251 Nola, Alfonso di 103, 113 f. Novalis (Hardenberg, Georg Philipp Friedrich Freiherr von) 202 f. Oldenbarnevelt, Johan von 243 Oldenburg, Heinrich 45, 208, 219, 228 f., 233 – 235, 240, 242, 246, 258, 261, 273, 280 f. Oporin, Johannes 113 Origines 267 Osiander, Andreas 66 Overbeck, Franz 251 Ovid (Publius Ovidius Naso) 178 Paley,William 6 Paracelsus 105 Pascal, Blaise 67, 186, 299, 310 Paulus (Apostel) 49, 54, 70, 92, 95, 102, 236, 257 f., 269, 273 Paul III. (Papst) 208 Paulus IV. 92 Pauw, Adraen 243 Pearl, Jonathan L. 103 Petronius 296 Peyrère, Isaac de la 265 Philipp II. (König von Spanien, Neapel und Sizilien; als Philipp III. König von Portugal) 143, 199 Philipp (Landgraf von Hessen, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg) 42, 79, 199 Philo Judaeus (Philo von Alexandrien) 108 Pius IV. 92 Pius V. 92 Plato 4, 13, 21 f., 25, 50, 65, 71, 73, 110, 133, 219, 254, 296 Plautus 205 Plinius 119, 296 Plotin (Plotinus) 110 Plutarch (Plutarchus) 110 Prado, Juan (Daniel) de 217, 222
Personenverzeichnis
Praetorius, Johannes (eigentl. Schulz, Hans [Pseudonyme: Hilarius, Petrus; Läusepeltz; Steffen, Memel, Johannes Petrus de; Merlinus, Brandanus; Potorianus, Janeser; Richter, Johann; Sechswochius, Wigandus; Servius; Hoffmeister SpinnStuben; Wortlibius, Lustigerus]) 105 Price, Richard 6 Psellus (Psellos) 109 Ptolemäus 64 Pufendorf, Samuel 5, 12, 33, 56, 59, 62, 340 f. Pym, John 149 f. Pyrrho 303 Pythagoras 296 Rabelais, François 99 Ramus, Petrus (Rameé, Pierre de la) 86 Rawls, John 6 Reichen, Johann 5, 28, 121 f., 204, 230, 314 Reimarus, Hermann Samuel 195, 241, 266, 268, 339 f. Rembrandt (Harmenszoon van Rijn, Rembrandt) 204, 286 Richelieu, Armand-Jean I. du Plessis de 232 Rickert, Heinrich 20, 26, 290 Riehl, Alois 22 Rieuwertsz d. Ä., Jan (Riewertz, Jean) 209, 213 – 215 Röd, Wolfgang 19, 195, 215, 250 – 252, 255 f., 282 Roellenbleck, Georg 29, 85 f., 93, 97 Rothacker, Erich 26, 205 Rousseau, Jean-Jacques 15, 310, 340 f. Rudolf II. (Kaiser des Heiligen Römischen Reichs; Rudolf V., Erzherzog von Österreich) 37 Saint-Glain, Gabriel Sallust 296 Salomo 95, 271 Samuel 124, 203
260
381
Saul 309 Scattola, Merio 14, 36 Scheler, Max 21 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 5, 7, 17, 27, 57, 98, 202, 337 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 202 Schmale, Wolfgang 13, 39 Schmidt, Johann Lorenz 80, 106, 285, 291 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 19, 38, 238, 267, 281, 286 Schmitt, Carl 20, 25, 260 Schneiders, Werner 5, 34, 45, 170 Scholtze, Sigm. Gottl. 242 Schoock, Martinus 113 Schopenhauer, Arthur 69 Schröder, Jan 12 f., 47 – 50, 55 – 57, 59, 62 f. Schröder, Winfried 12, 53, 69, 96, 229, 238, 241, 294 Schuller, Georg Hermann 208, 214, 245 f., 251 f. Schulz, Walter 19, 105, 202 Schütte, Hans-Walter 53 Seneca d. J., Lucius Annaeus 156, 280, 296 Senis, Francisca von 109 Shakespeare, William 143 Siep, Ludwig 2 Simmel, Georg 20, 79 f. Simons, Menno 14, 204 Simri 309 Simson 309 Sixtus V. 92 Slavata, Vilém 37 Slingelandt, Simon van 243 Smith, Adam 6, 336 Sokrates 4, 49 Soldan, Georg 101 Sozzini, Fausto 213 Spaemann, Robert 35 Spee, Heinrich von 106, 113, 115, 117, 119 f., 123, 126
382
Personenverzeichnis
Spijck (Sp[y]ij[c]k), Hendri[c]k van der 229, 233, 244 Spinoza, Baruch de 4, 14, 41, 45, 49, 55, 84, 113, 134 f., 140, 144, 147, 168, 175, 197 f., 200 – 203, 207, 209 – 213, 216 – 219, 221, 223 – 227, 230, 233 – 237, 239 f., 242, 244, 246 – 249, 251 – 254, 256 – 259, 261 – 289 Spinoza, Michael de 201 Spinoza, Rebekka de 238 Spitzel, Theophil 53 Sprenger, Jakob 106, 116, 118 Steiger, Otto 60, 94, 118, 124 f., 241, 253 Stephani, Joachim 44 Steuco, Agostino 28 Stollberg-Rilinger, Barbara 38 Stolle, Gottlieb 220, 242 Stolleis, Michael 56, 88, 101, 155, 328 Stosch, Friedrich Wilhelm 238 Stouppe, Jean-Baptiste 231 f. Strauss, Leo 20 f., 23, 34, 36, 128, 130, 137, 143 f., 150, 152, 188, 220, 223 f., 235 f., 262 – 264, 332 Sturm, Johann Christian 234, 237, 240 Süsterhenn, Adolf 45, 58 Swammerdamm, Jan 240 Teichmüller, Gustav 26 Theodosius I. der Große (Theodosius, Flavius) 50 Theophrast (Theophrastus) 296 Thomas von Aquin 54, 67, 110, 126, 190 Thomasius, Christian 3, 5, 12, 29, 33 f., 56, 59, 62, 79, 122, 154, 220 Thukydides 150 f. Til, Salomon van 220 f. Tillich, Paul 20 Tindal, Mathew 285 f. Toland, John 297 Tönnies, Ferdinand 172 Trendelenburg, Friedrich Adolf 26 Trevor-Ropers, Hugh 103 Tschirnhaus, Graf Ehrenfried Walther von 229, 237 f., 245, 247
Tugendhat, Ernst 22 f. Tulp, Dirk 230 Tydeman, Daniël Harmensz Urbanus VII.
242 f.
92
Vanini, Lucilio (Giulio Cesare) 68 f. Varro 296 Vasold, Manfred 38 Vayer, La Mothe le 312 Vico, Giambattista 72 Voetius, Gisbertus 222 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 23 Voltaire (Arouet, François Marie) 300 Vries, Isaak de 200, 206, 216, 221, 230, 234, 238, 244, 249, 287 Vries, Simon Joosten de 234, 238 Vries, Theun de 198, 201, 203, 206, 212, 215 – 217, 219 f., 222, 226, 230, 238, 240, 244, 248 f., 258, 281, 287 Wachter, Georg 238 Warburg, Aby 64 Warburton, William 6 Waveren Hudde, Johann van 240, 244 Weber, Hartwig 63, 90 f., 97, 101, 105 Welzel, Hans 3, 13, 34, 36, 42 Wentworth, Thomas (Earl of Strafford) 147 – 150 Werven, van der 243 Weyer, Johann(es) (Weier, Wier, Wierus, Piscinarius) 67, 186, 299, 310 Weyl, Hans Jürgen van der (fiktiv) 213 Wilhelm III. von Oranien-Nassau 154, 244, 260, 280 Wilhelm von Cleve 112 Wilhelm von Ockham 164 Willms, Bernard 16, 133 – 135, 138, 140, 142, 148, 150 f., 153, 164 – 166 Windelband, Wilhelm 16, 18, 20, 28, 290 Winter, Helmut 82 Wittich, Christoph 237 f.
Personenverzeichnis
Woellner (Wöllner), Johann Christoph 40 f. Wolf (Fürst zu Anhalt) 42, 209, 267, 297, 315 Wolff, Christian 3, 5, 10, 12 f., 48, 57, 62, 73, 75, 239, 285, 300, 340 Wollaston, William 336 Woltersdorff, Theodor Carl Georg 41 Wyck, Thomas 286 Yoshida, Kazuhiko
277, 287
383
Yovel, Yirmiyahu 200, 222, 226, 229, 236, 262 f., 265 f. Zedler, Johann Heinrich 12 Zenon 296 Zurbuchen, Simone 340 f. Zweig, Arnold 152, 191, 194, 238 Zwi, Sabbatai (S[a]ebbat[h]ai Z[’][e][v][w]i; Mehemed Effendi) 227 f.