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German Pages 195 Year 1990
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 591
MARKUS VAN DEN HÖVEL
Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
Von
Dr. Markus van den Hövel
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hövel, Markus van den: Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze / von Markus van Hövel. - Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 591) Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1989 ISBN 3-428-07023-2 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07023-2
Inhaltsverzeichnis 1. T e i l Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze Einführung
11 11
1. Abschnitt Die Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze. Normative Grundlage: § 90 Abs. 1 BVerfGG 1. Kapitel Maßnahme der öffentlichen
Gewalt
16
A . Grundsätze
16
B. Einzelfälle
17 2. Kapitel Selbst und gegenwärtig betroffen
20
A . Begründung dieser Kriterien
20
B. Selbst betroffen
25
I. Grundsätze II. Einzelfälle
25 31
1. Gesetz belastet den Beschwerdeführer
31
2. Unterlassen des Gesetzgebers
32
a) Abgrenzung: Verfassungsbeschwerde gegen legislatives Unterlassen bzw. drittbegünstigende Normen
33
3. Drittbegünstigende Normen, die den Beschwerdeführer nicht ausdrücklich von der Begünstigung ausschließen
40
4. Drittbegünstigende Normen, die den Beschwerdeführer ausdrücklich von der Begünstigung ausschließen
41
5. Drittbegünstigende Normen, deren Nichtigerklärung der Beschwerdeführer erstrebt
42
6. Drittbelastende Normen, die sich auch auf den Beschwerdeführer auswirken
43
7. Resûmé
44
6
Inhaltsverzeichnis
C. Gegenwärtig betroffen
44
I. Grundsätze
44
II. Einzelfälle
45
1. Legislatives Unterlassen
45
2. Drittbegünstigende Normen
45
3. Belastende Normen
46
4. Resûmé
46
III. Ausnahmefälle
46
1. Begründung
46
2. Fallgruppen
47
a) Das Gesetz betrifft den Beschwerdeführer noch nicht
47
b) Das Gesetz betrifft den Beschwerdeführer nicht mehr
50
3. Kapitel Behauptung einer Verletzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführten (Grund-)Rechte
52
A . Grundsätze
52
B. Theorien
53
I. Schlüssigkeitstheorie
53
II. Begrenzte Schlüssigkeitstheorie
54
III. Möglichkeitstheorie
55
1. Rechtslehre
55
2. Judikatur
56
3. Begründung für die Möglichkeitstheorie
59
IV. Theorie von Haug
60
V. „Behauptungs"-Theorie
61
C. Einzelfälle I. Legislatives Unterlassen (Verletzung von Verfassungsaufträgen)
62 ....
II. (Teilweises) legislatives Unterlassen
63 66
III. Legislatives Unterlassen (Verletzung von Handlungs- und Schutz- bzw. „Nachbesserungs-"pflichten)
68
IV. Drittbegünstigende Normen (Der Beschwerdeführer erstrebt die Einbeziehung in die Begünstigung)
72
V. Belastende Normen (Der Beschwerdeführer erstrebt den Wegfall der Belastung)
74
Inhaltsverzeichnis
7
2. Abschnitt Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
75
1. Kapitel Grundsätze
75
A . Die Bedeutung der Subsidiarität
75
B. Kritik
76
C. Die rechtliche Zuordnung der Subsidiarität
77
D. Ausblick
79
2. Kapitel Begründung für das Subsidiaritätsprinzip
79
A . Die Sach- und Rechtsnähe des fachgerichtlichen Verfahrens
79
B. Die umfassende Vorprüfung durch die Fachgerichte
80
C. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit und Effektivität des BVerfG
81
D. Die Begrenzung der Judikative
82
E. Die Artgleichheit der Feststellungsklage
83
3. Kapitel Die einzelnen Lösungsansätze A . Normative Grundlage: § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG I. Grundsätze II. Rechtsweg gegen Rechtsnormen
83 83 83 85
1. Grundsatz
85
2. § 47 VwGO
85
3. Feststellungsklage
89
4. Sekundäransprüche
89
III. Ergebnis
90
IV. Ausnahmen
90
1. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG
90
2. Nicht normierte Ausnahmen
92
V. Problem
96
Inhaltsverzeichnis
8 Β. Unmittelbar betroffen
97
I. Die frühe Rechtsprechung des BVerfG
97
II. Die Neudefinition der unmittelbaren Betroffenheit durch die Rechtslehre 100 III. Die Annäherung des BVerfG
106
IV. Die Entwicklung des eigenständigen Merkmals der Subsidiarität durch die Rechtsprechung
108
V. Die Abkehr von dieser Rechtsprechung
109
VI. Die Rückkehr zu dieser Rechtsprechung
111
V I I . Resûmé der Rechtsprechung
111
C. Das Subsidiaritätsprinzip
112
I. Vollziehungsakt ergangen
112
II. Vollziehungsakt noch nicht ergangen
115
III. Vollziehungsakt „provozierbar"
116
IV. Feststellungsklage
122
V. Verfahrensspezifische Rechtsschutzmöglichkeiten
124
V I . Anforderungen an die Rechtswegerschöpfung - Subsidiarität trotz Rechtswegerschöpfung 125 1. Grundrechtsrüge vor den Fachgerichten
125
2. Gegenvorstellungen
127
3. Resûmé
128
V I I . Hauptsacheverfahren (nach vorläufigem Rechtsschutzverfahren)
....
VIII. Vom BVerfG „geschaffene" Rechtsmittel
128 129
IX. Ausnahmen
130
1. Grundsätze
130
2. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG analog
131
3. Nicht normierte Ausnahmen
132
X. Resûmé
137
D. Das Rechtsschutzbedürfnis als Subsidiaritätsmerkmal
138
E. Kritik an der Verknüpfung von unmittelbarer Betroffenheit und Subsidiarität/ Rechtsschutzbedürfnis 139 I. Kritik am Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit BVerfG: selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen)
(Formel des 139
II. „Unmittelbare Betroffenheit ist (nur) Unterfall von gegenwärtiger Betroffenheit" 142 III. Kritik an der Vielfalt von Prüfungskriterien (Unmittelbare Betroffenheit/ Subsidiarität/Rechtsschutzbedürfnis)
143
Inhaltsverzeichnis IV. Entbehrlichkeit des Merkmals der unmittelbaren Betroffenheit V. Stellungnahme (und eigene Kritik) F. „Moderner" Lösungsansatz über § 90 Abs. 2 BVerfGG direkt I. § 90 Abs. 1 BVerfGG
143 144 148 148
II. § 90 Abs. 2 BVerfGG
149
1. Subsidiaritätsregel des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG
149
2. Neues Verständnis des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG
150
3. Ausnahmeregelungen
151
III. Kritik an diesem Lösungsansatz G. Eigener Lösungsvorschlag
151 155
I. Die Beschwerdebefugnis
155
II. Die Subsidiarität
156
1. § 90 Abs. 2 BVerfGG
156
2. Das Subsidiaritätsprinzip (über § 90 Abs. 2 BVerfGG hinaus) . . . .
156
a) Grundsatz
157
b) Prüfungsvoraussetzungen
157
c) Fazit
158
3. Abschnitt Das Rechtsschutzbedürfnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze - kein Zulässigkeitskriterium nach Erfüllung aller Zulässigkeitsvoraussetzungen
A . Herkömmliche Auffassung
159
159
B. Entbehrlichkeit des eigenständigen Merkmals des Rechtsschutzbedürfnisses . . 159 I. Rechtsschutzbedürfnis für Bagatellsachen II. Überprüfungsumfang des BVerfG III. Eignung der Verfassungsbeschwerde
160 160 160
1. Belastende Normen
161
2. Drittbegünstigende Normen, die den Beschwerdeführer ausdrücklich von der Begünstigung ausschließen
161
3. Drittbegünstigende Normen, die den Beschwerdeführer nicht ausdrücklich von der Begünstigung ausschließen 164 4. Legislatives Unterlassen
164
10
Inhaltsverzeichnis
C. Resiimé
165 4. Abschnitt Die Fristen der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
166
2. T e i l Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
172
1. Abschnitt Vorprüfung
172
1. Kapitel Erste Hürde: Präsidialräte
172
2. Kapitel Zweite Hürde: Kammern
174
3. Kapitel Dritte Hürde: Senat
174
4. Kapitel Resûmé
177
2. Abschnitt Kosten
179
3. Abschnitt Stellungnahme zu den Zulassungsvoraussetzungen
180
3. T e i l Fazit Zusammenfassung
181 182
Literaturverzeichnis
188
1. Teil
Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze Einführung ( A ) D e r Beschwerdeführer wendet sich m i t der Rechtssatz-Verfassungsbesch werde gegen ein i h n i n Grund- bzw. grundrechtsgleichen Rechten verletzendes Gesetz. 1 Eine Rechtsnorm stellt eine Maßnahme der „öffentlichen (Legislativ-)Gewalt"
i. S. d.
A r t . 93
A b s . 1 N r . 4a
GG,
§ 90
Abs. 1
B V e r f G G dar und ist deshalb tauglicher Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde. 2 U n m i t t e l b a r aus § § 9 3 A b s . 2, 3; 94 A b s . 4; 95 A b s . 3 B V e r f G G ergibt sich die grundsätzliche Zulässigkeit einer derartigen N o r menbeschwerde . 3 ( B ) Nach dem W o r t l a u t des § 90 A b s . 1 B V e r f G G kann „ j e d e r m a n n " eine N o r m e n k o n t r o l l e veranlassen. 4 D a z u zählen insbesondere Privatpersonen, unter gewissen Voraussetzungen aber auch juristische Personen des Privat- 5 und des öffentlichen Rechts 6 . D e r Gesetzgeber ist damit weit über das 1 Vgl. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 77. 2 Std. Rspr., vgl. nur BVerfGE 73, 40, 67. 3 Vgl. Gusy, Rdn. 29; Maunz / Zippelius, S. 166. 4 So lapidar Wobst, S. 14; Ossenbühl, S. 491. 5 Vgl. BVerfG NJW 1987, 2502: Auch jur. Personen des Privatrechts können Träger von Grundrechten sein; maßgebend ist nicht die Rechtsform als solche (nur indizielle Bedeutung), sondern die Art der wahrzunehmenden Aufgaben und Funktionen. Da z. B. der T Ü V eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, ist er trotz privatrechtlicher Organisationsform nicht grundrechtsfähig, da er i. d. R. eine Erweiterung seiner hoheitlichen Befugnisse gegenüber dem Bürger erstrebt. (Das würde Inhalt und Zweck der Grundrechte ins Gegenteil verkehren.) Ob der Beschwerdeführer in anderen Bereichen, in denen er nicht als Träger öffentlicher Verwaltung tätig wird, grundrechtsfähig sein kann, wird vom BVerfG hier nicht entschieden. Vgl. auch Zuck, V B Rdn. 521 524. 6 Vgl. Gusy, Rdn. 54 - 58; Zuck, V B Rdn. 525 - 528; BVerfGE 52, 366, 386, 387; 68, 193, 207; 75, 192,195: Grundrechte sind grundsätzlich auf jur. Personen des öffentlichen Rechts nicht anwendbar, sofern sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Auch hier (vgl. Fn. 5) ist nicht die Rechtsform als solche entscheidend, sondern ob und inwieweit in der Rechtsstellung als jur. Person des öffentl. Rechts eine Sach- und Rechtslage Ausdruck findet, die nach dem Wesen der Grundrechte deren Anwendung auf jur. Personen entgegensteht. Anwendbar aber auf jur. Personen (Kirchen, Universitäten, Rundfunkanstalten), die im Umfang der dargelegten Zuordnung Bürgern (auch) zur Ver-
1.
:
s e r b e
der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
ursprüngliche Verständnis einer Verfassungsbeschwerde hinausgegangen.7 Er hat dabei der herausragenden Bedeutung der Grundrechte Rechnung getragen, die gerade besonders dem Schutz der Freiheitssphäre des einzelnen Menschen als natürlicher Person gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt - und damit auch der Legislative - dienen. 8 (C) Da das BVerfG schon auf Anruf eines Einzelnen verfassungswidrige Rechtsnormen gemäß § 95 Abs. 3 BVerfGG für nichtig erklären, d. h. die sich in Normen konkretisierenden politischen (Mehrheits-)Entscheidungen kassieren kann und so als verfassungsrechtsprechende Gewalt erheblich in die Sphäre der Legislativgewalt einzugreifen vermag, bestehen speziell für die Normenbeschwerde strenge Zulässigkeitsvoraussetzungen. 9 Sie darf im Vergleich zu den anderen, von vornherein nur dem individuellen Rechtsschutz dienenden Verfassungsbeschwerdeverfahren (gegen Urteile/Exekutivakte) nicht dahingehend (zur Popularklage) privilegiert werden, daß sie zu einer „jedermann" zugänglichen, aber von der behaupteten Verletzung eigener Rechte abstrahierenden Normenkontrollklage ausgestattet wird. 1 0 Auch die unmittelbar gegen Rechtsnormen gerichtete Verfassungsbeschwerde bleibt ein Individualrechtsbehelf eines Beschwerdeführers, der in besonderer Weise mit dem Gesetz in Berührung kommen muß. Ein besonderes Schwergewicht liegt somit bei der Prüfung der Beschwerdebefugnis des die Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde erhebenden Beschwerdeführers. Dies darf aber nicht zu einer restriktiven Auslegung der Zulässigkeitsvoraussetzungen führen. 11 Es ist vielmehr von Fall zu Fall präzise festzustellen, ob der Beschwerdeführer wirklich des Rechtsschutzes gegenüber einer Norm bedarf. (D) In jüngster Zeit hingegen haben weniger derartige rechtsstaatliche, als vielmehr praktische Erwägungen aufgrund der steigenden Inanspruchnahme und damit anhaltenden Überlastung des BVerfG gleichwohl zu einer restriktiven - zumindest aber sehr engen - Auslegung der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Normenbeschwerde geführt. 12 Die „jedermann" gewährte Möglichwirklichung ihrer individuellen Grundrechte dienen und als eigenständige, vom Staat unabhängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtungen bestehen. Jur. Personen des öffentl. Rechts (ζ. B. auch Gemeinden) können Verfassungsbeschwerde dann erheben, wenn sie als Träger von Rechten und Pflichten betroffen sind, die auch jedem Dritten zustehen {Verfahrens^rundrechte, wie Art. 101 Abs. 1 Satz 2; 103 Abs. 1 GG). Vgl. dazu BVerfGE 6, 45, 49; 45, 63, 74; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 81; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 91 Rdn. 46. 7 Vgl. Wintrich, S. 14: Verfassungsbeschwerde nur gegen individuelle Akte, nicht aber materielle Rechtsnormen (abstrakt-generelle Regelungen). 8 BVerfG NJW 1987, 2502. 9 Schmidt-Bleibtreu, BayVBl 1965, 291; ders., in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 94; E. Klein, AöR 108, 418. E. Klein, AöR 108, 418. 11 E. Klein, AöR 108, 418. 12 Vgl. BVerfGE 68, 143, 151.
Einführung
13
keit, sich an das BVerfG zu wenden, stärkt das bürgerliche Selbstbewußtsein gegenüber der öffentlichen Gewalt, 13 führt aber auch als negative Folge des Aspekts vom mündigen, um Rechtsschutz nachfragenden Bürger zu vermehrten Anträgen und bedroht die Funktionsfähigkeit des BVerfG. Die Qualität der Entscheidungen wird durch diese Entwicklung sicherlich nicht gefördert. 14 Begleitet somit jede Verfassungsbeschwerde die Sorge um die zunehmende Belastung des BVerfG, so darf doch ihr legitimes und schützenswertes Ziel, die Gewährung maximaler Grundrechtsentfaltung des Einzelnen, 15 nicht vergessen werden, wobei jedoch die Eigenständigkeit des jeweils sachnächsten Verfahrens und des konkreten Sach- und Rechtszusammenhangs zu berücksichtigen ist. 16 Gerade bei „neuen" Gesetzen will das BVerfG sich i. d. R. auf die umfassende Vorprüfung der Fachgerichte als Grundlage der eigenen Entscheidung stützen können. Die Normenbeschwerde ist somit nicht Ersatz für etwaige nach anderen Prozeßordnungen mögliche Rechtsmittel, sondern vielmehr ein dem Staatsbürger eingeräumter außerordentlicher Rechtsbehelf, mit dem er Eingriffe der öffentlichen Gewalt in seine Grundrechte abzuwehren vermag. 17 Eine Verfassungsbeschwerde kann mit Aussicht auf Erfolg erst erhoben werden, wenn alle zur Verfügung stehenden fachgerichtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind, um Verfassungsverletzungen zu korrigieren. 18 Sie ist somit ein letzter und subsidiärer- und kein wahlweiser 19 - Rechtsbehelf. 20 (E) Insoweit ruht die Prüfung der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde (gegen Gesetze) auf den beiden Säulen der Beschwerdebefugnis und Subsidiarität. Diese Doppelspurigkeit kommt auch in den beiden Absätzen des § 90 BVerfGG - wenn auch ζ. T. unvollständig, so doch klar getrennt zum Ausdruck. So regelt § 90 Abs. 1 BVerfGG die Beschwerdebefugnis, § 90 Abs. 2 BVerfGG (partiell) die Subsidiarität - zumindest wird diese Regelung nur unter Zugrundelegung des Subsidiaritätsprinzips verständlich. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob die Verfassungsbeschwerde in jedem Fall das geeignete Rechtsmittel darstellt, um dem Beschwerdeführer ausreichenden Schutz vor Grundrechtsverletzungen zu bieten. Nur dann besteht bei ansonsten zulässiger Verfassungsbeschwerde ein Rechtsschutzbedürfnis für eine 13
Häberle, S. 61. Wenngleich Zacher, S. 431, die bislang durchaus adäquaten Ergebnisse erstaunen. 15 Geiger, EuGRZ 1988, 481; Peters, M D R 1976, 452; Seuffert, S. 169. 16 In diesen Bogen sieht Zacher, S. 430, die Verfassungsbeschwerde eingespannt. 17 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 186, 191 f. ; Zuck, JuS 1988,371. 18 Die Verfassungsbeschwerde dient gewissermaßen als „Letzte Hilfe", wenn die „Erste Hilfe" der Fachgerichte versagt. 19 Wobst, S. 15. 20 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 186, 191 f.; Zuck, JuS 1988, 371. 14
1.
:
s e r b e
der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
Sachentscheidung des BVerfG. Somit ist unter diesem Aspekt das Rechtsschutzbedürfnis - zusätzlich zu den Hauptproblempunkten Beschwerdebefugnis/Subsidiarität - unter der Fragestellung zu behandeln, ob es sich hierbei, gewissermaßen unabhängig von § 90 Abs. 1 BVerfGG, wirklich um ein eigenständiges Zulässigkeitskriterium handelt. (F) Eine an sich zulässige Verfassungsbeschwerde muß fristgerecht erhoben werden, um eine Sachentscheidung des BVerfG zu erlangen. Die in § 93 Abs. 2 BVerfGG eindeutig fixierte Fristenbestimmung ist im Hinblick auf vorrangig auszuschöpfende, i. d. R. fristüberschreitende, langwierige anderweitige (fachgerichtliche) Rechtsschutzmöglichkeiten problematisch. Hier ist eine der heutigen Entwicklung angemessene Lösung des Fristenproblems zu entwickeln, um die Rechtssatz-Verfassungsbesch werde nicht faktisch - (nur) aufgrund eines nicht einhaltbaren Zeitfaktors - auszuschließen. (G) Zur Problemlösung haben Rechtslehre und Rechtsprechung in dem berechtigten Bestreben, den oben dargestellten besonderen Erfordernissen der Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde gerecht zu werden, eine Vielzahl von unterschiedlichen, oft nur einzelfallorientierten Zulässigkeitsvoraussetzungen entwickelt und aufgestellt, zum Teil auch miteinander kombiniert 21 und unterschiedlich definiert 22 , so daß viele Zulässigkeitsmerkmale beliebig austauschbar scheinen, ebenso wie die darunter vorgenommene Prüfung selber. Eine logische Prüfungsreihenfolge ist oft nur schwer erkennbar, da sie sich wenig an der normativen Grundlage des § 90 BVerfGG orientiert, insbesondere die in den beiden Absätzen dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende Trennung kaum beachtet, somit jegliche dogmatische Präzision vermissen läßt. Eine einheitliche Betrachtungsweise in der Sache fehlt ebenso wie eine einheitliche Terminologie. 23 Darüber hinaus hat die Beliebigkeit der Prüfung und die dadurch ermöglichte „Argumentationsvielfalt" zu einem faktischen (Beinahe-) Ausschluß der Normenbeschwerde geführt. Der Grundsatz, „jeder Grundrechtsträger könne eine (prinzipale) Normenkontrolle initiieren" , 2 4 ist zur seltenen Ausnahme geworden. Insofern verwundert die an der Uneinheitlichkeit der Zulässigkeitsvoraussetzungen ζ. T. geäußerte Kritik 2 5 nicht. Vielmehr läßt sich zu Recht mit H. Klein 2 6 an einer einheitlichen Konzeption zweifeln, „es gebe einen bunten Strauß an Sentenzen, die Aspekte der Beschwerdebefug21 Verknüpfung des Beschwerdebefugnis-Merkmals der unmittelbaren Betroffenheit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz. 22 Insbesondere das Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit, s. 2. Abschnitt, 3. Kap., B. 23 So zu Recht Zuck, VB Rdn. 299. 24 So Ossenbühl, S. 491. 25 Nach Engelmann, S. 70, handelt es sich bei der Beschwerdebefugnis-„Formel" (selbst, gegenwärtig, unmittelbar betroffen) um einen „weder klar umrissenen noch in sich gefestigten Mosaikbegriff." 26 H. Klein, S. 1332.
Einführung
15
nis, Subsidiarität und des Rechtsschutzbedürfnisses beträfen." Zacher 27 spricht gar von einer „differenzierten Scheinrationalität der Verfahrensweisen und sachlicher Entscheidungskriterien." (H) Es wird hier nun zu zeigen sein, daß durch eine streng normorientierte Zulässigkeitsprüfung die Anzahl der einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen auf ein sinnvolles Maß reduziert werden kann, wobei jedes Merkmal, unter strikter Trennung von Beschwerdebefugnis und Subsidiarität, eindeutig unter den jeweiligen, von § 90 BVerfGG vorgezeichneten Oberbegriff zuzuordnen ist. Trotz der Lückenhaftigkeit des Gesetzes28 läßt sich anhand der in den beiden Absätzen des § 90 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Systematik eine eindeutige Definition der einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen entwickeln, um die von Rechtsprechung und herrschender Lehre bislang praktizierte Austauschbarkeit der Prüfungsmerkmale bzw. der Prüfung selber zu verhindern und eine dogmatisch unbefriedigende Überfrachtung der Begriffe zu vermeiden. 29 Dann wird auch deutlich, in welchen Fällen eine Normenbeschwerde (nach wie vor) erforderlich ist, um fachgerichtliche Rechtsschutzlücken zu kompensieren.
27
Zacher, S. 431. Insbesondere bzgl. der „Subsidiarität." 29 Insofern macht es sich Zuck, V B Rdn. 298, mit der lapidaren Aussage, das Gesetz selbst sei nur eine sehr beschränkte Hilfe, zu einfach. 28
1. Abschnitt
Die Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze. Normative Grundlage: § 90 Abs. 1 BVerfGG Als erste Zulässigkeitsvoraussetzung einer Verfassungsbeschwerde ist die Beschwerdebefugnis des Beschwerdeführers zu prüfen. Die normative Regelung hierzu findet sich in § 90 Abs. 1 BVerfGG. Danach muß der Beschwerdeführer behaupten, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte (gemeint sind nur die Grundrechte des Grundgesetzes, nicht die der Landesverfassungen 1) bzw. in einem explizit aufgeführten grundrechtsgleichen Recht verletzt zu sein. Zunächst einmal bedarf der Begriff der „öffentlichen Gewalt" einer Präzisierung im Hinblick auf die Normenbeschwerde. 1. Kapitel Maßnahme der öffentlichen Gewalt A . Grundsätze
(I) Bei den speziell mit der Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde angreifbaren Maßnahmen der öffentlichen Gewalt handelt es sich um Rechtsnormen. Der Beschwerdeführer muß somit eine durch eine Rechtsnorm verursachte Grundrechtsverletzung rügen. Die in § 90 Abs. 1 BVerfGG normierte „Behauptung" bezieht sich aber nur auf die Grundrechtsverletzung, nicht hingegen auch auf den Beschwerdegegenstand. Mit der Verfassungsbeschwerde kann nur ein existenter und damit rechtsrelevanter Hoheitsakt angegriffen werden. 2 Es ist evident, daß das überstrapazierte BVerfG nicht für eine Grundrechtsdiskussion im verursacherfreien Raum in Anspruch genommen werden kann. Unklar und mißverständlich äußert sich gleichwohl ein Teil der Rechtslehre 3 , der auf die „Behauptung" sowohl der Maßnahme als auch ihrer Zurechnung zur öffentlichen Gewalt abstellt. Dies läßt sich wohl nur dahingehend verstehen, daß der Betroffene in jedem Fall zunächst einmal im Rahmen seines Vorbringens („Behauptung") den Beschwerdegegenstand in das Ver1 2 3
Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 98. Brox, S. 52. Zuck, V B Rdn. 305; Gusy, Rdn. 63; Gallwas, FB S. 161.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
17
fassungsbesch werde verfahren einzuführen, 4 d. h. die von ihm zur Überprüfung gestellte Rechtsnorm zu spezifizieren hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen er nicht Adressat der Norm ist, 5 sich somit möglicherweise nicht sofort erkennen läßt, durch welchen Rechtssatz er sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt. Die Existenz der Rechtsnorm, d. h. ihre Rechtsrelevanz, muß somit zweifelsfrei feststehen und darf nicht bloß „behauptet" werden. (II) Die Rechtsnorm selber muß tauglicher Beschwerdegegenstand sein, d. h. vom BVerfG auch wirklich auf ihre Grundrechtsmäßigkeit (nach-) geprüft werden können. Neben der Rechts- ist auch die Prüfungsrelevanz der angegriffenen Maßnahme zu untersuchen. Allein die Feststellung einer positiven Rechtsnorm, ohne zugleich eine Begrenzung auf die justiziablen Akte vorzunehmen, ist unergiebig. 6. B . Einzelfälle
(I) Mit der Normenbeschwerde sind grundsätzlich alle von einem Inhaber der deutschen öffentlichen Gewalt erlassenen Rechtssätze angreifbar, d. h. prüfungsrelevant. 7 Insoweit sind auch die Bestimmungen des jeweiligen Landesverfassungsrechts - einschließlich der Berliner Landesgesetze8 - mit der Verfassungsbeschwerde überprüfbar. 9 Unzulässig sind auch Normenbeschwerden gegen Besatzungsrecht 10 und Maßnahmen ausländischer öffentlicher Gewalt, wie ζ. B. Rechtsnormen der E G . 1 1 (Deutsche) Zustimmungsgesetze, die gegenüber ausländischen Akten ergehen, sind jedoch wiederum prüfungsrelevante Maßnahmen der öffentlichen Gewalt i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG. 1 2 (II) Zu den angreifbaren deutschen Rechtsnormen zählen - von Fristen einmal abgesehen - nicht nur sämtliche vor- und nachkonstitutionellen Gesetze im formellen Sinn, einschließlich der Maßnahme- und Vertragsgesetze, son4 Vgl. Zuck, V B Rdn. 305. In diesem Sinn erfolgt hier die Feststellung der „Maßnahme der öffentlichen Gewalt" nicht separat, sondern unter dem Oberbegriff der „Beschwerdebefugnis", s. 1. Abschnitt. 5 In diesem Zusammenhang behandelt Gallwas, FB S. 161, das Problem auch. 6 Vgl. Gusy, Rdn. 100. Insoweit erscheint der von Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht S. 109, angenommene eigenständige Prüfungspunkt „Rechtsrelevanz des angegriffenen Aktes" unnötig umständlich. 7 Geiger, § 90 Nr. 3; Zweigert, JZ 1952, 321. 8 Mit Wiedervereinigung und Souveränität Deutschlands; vgl. noch Gusy, Rdn. 20; Zuck, V B Rdn. 417. 9 Schmidt-Bleibtreu, BayVBl 1965, 290; ders., in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 82; Zweigert, JZ 1952, 321 f. 10 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 86a; Gusy, Rdn. 23; Bleckmann, S. 314. 11 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 86a. 12 Scholler / Broß, Rdn. 282.
2 van den Hövel
18
1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
dem auch alle untergesetzlichen Rechtsnormen, d. h. Rechts Verordnungen und Satzungen.13 Zu den Gesetzen im materiellen Sinn gehören auch tarifvertragliche Bestimmungen, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen. Sie setzen objektives Recht für die Arbeitsverhältnisse der Beteiligten. 14 (III) Verwaltungsvorschriften hingegen sind nur ausnahmsweise mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar, wenn sie im Einzelfall inhaltlich und funktionell gegenüber einer Rechtsverordnung austauschbar sind. Sie müssen Bestandteil der objektiven Rechtsordnung sein, 15 d. h. wie Normen des objektiven Rechts angewendet werden und nach außen wirken, somit Bindungswirkung dem einzelnen Bürger gegenüber entfalten und diesen unmittelbar betreffen. (IV) Fraglich ist, ob auch Verfassungsnormen selber, die - an der Spitze der Normenpyramide stehend - den für alle anderen Normen unterhalb der Verfassungsebene gültigen Wertekatalog aufstellen, mit der Normenbeschwerde angreifbar sind. Für die Normen des Grundgesetzes in seiner ursprünglichen Fassung dürfte dies wohl zu verneinen sein; eine Möglichkeit bestünde allenfalls bei geänderten bzw. neu in das Grundgesetz eingefügten Vorschriften, sofern „der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß annähme." 16 (V) Bereits vom BVerfG für gültig erklärte Gesetze sind nicht noch einmal mit der Normenbeschwerde angreifbar. 17 Sie sind, einmal verfassungsgerichtlich untersucht, nicht mehr prüfungsrelevant. Die Zulässigkeit scheitert in diesen Fällen richtigerweise bereits am normierten Merkmal des Beschwerdegegenstandes, nicht erst an einem (nicht kodifizierten) eigenständigen Zulässigkeitskriterium des Rechtsschutzbedürfnisses des Beschwerdeführers, das für eine erneute Überprüfung abgelehnt werden müßte. (VI) Nicht als überprüfbare Rechtsnormen sind Entscheidungen des BVerfG, denen nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft zukommt, zu qualifizieren. 18 Gegen Entscheidungen eines Landesverfassungsgerichts ist hingegen 13
Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 69; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 78, 87; Lechner, S. 349; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 103. 14 Vgl. § 4 Abs. 1 TVG. Vgl. BArbG BB 1955, 255 f.; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 87. 15 BVerfGE 40, 237, 255; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 69; SchmidtBleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 88; Gusy, Rdn. 31; Pestalozza, S. 87. Zu Verwaltungsvorschriften als „Sonderverordnungen" vgl. Böckenförde / Gr awert, AöR 95, Iff. 16 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 83; bejahend auch Zuck, V B 1973 S. 27; Gusy, Rdn. 30, verweist auf BVerfGE 4, 294, 295; 30, 1, 16. 17 Pfeiffer, S. 11. 18 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 80; Gusy, Rdn. 30; Pieroth / Schlink, Rdn. 1233.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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auch dann, wenn ihnen Gesetzeskraft zukommt, 19 die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG möglich. 20 (VII) Ungeschriebene Rechtsnormen (Gewohnheitsrecht) hingegen unterliegen keiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle, da es sich hierbei gerade nicht um einen Akt der öffentlichen Gewalt i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG handelt. 21 (VIII) Grundsätzlich sind nur geltende, d. h. bereits vom Gesetzgeber erlassene Rechtssätze22 angreifbar. 23 Ein Gesetzesentwurf stellt hingegen noch keine rechtsrelevante Maßnahme der öffentlichen Gewalt dar. 24 Die dafür gegebene Begründung, „ein Gesetz, das noch nicht ergangen sei, könne noch keinen Eingriff der öffentlichen Gewalt i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG herbeigeführt haben", 25 ist zwar materiell-rechtlich zutreffend, gleichwohl an dieser Stelle der rein formalen Prüfung einer rechts- und prüfungsrelevanten Rechtsnorm deplaziert. Vielmehr bleibt festzustellen, daß ein bloßer Gesetzesentwurf mangels Rechtsgeltung nicht prüfungsrelevant sein kann. 26 (IX) Zweifelhaft ist, ob ein zwar schon verkündetes, aber noch nicht in Kraft getretenes Gesetz bereits als A k t der öffentlichen Gewalt zu qualifizieren ist. Verneint man dies, so käme man zu dem Schluß, daß eine Normenbeschwerde mangels relevanten Beschwerdegegenstandes begriffsnotwendig in jedem Fall unzulässig sein müßte. 27 Überwiegend wird jedoch in besonderen Fällen, in denen der Beschwerdeführer ein schutzwürdiges Interesse an einer baldigen Entscheidung des BVerfG hat, die Verfassungsbeschwerde gegen ein zwar schon verkündetes, aber noch nicht in Kraft getretenes Gesetz für zulässig erachtet. 28 Die Legislative hat in einem derartigen Fall bereits rechtsverbindlich gehandelt und somit eine Maßnahme i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG getroffen. Die Frage hingegen, ob das Gesetz bereits Rechtswirkungen auslöst (und zwar speziell dem Beschwerdeführer gegenüber), ist ein Problem der 19
Vgl. etwa § 26 Abs. 2 Satz 1 V G H G NW. 20 Geiger, D R i Z 1969, 141. 21 Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 620; Gusy, Rdn. 30. 22 Nicht bloße Neubekanntmachungen, Gusy, Rdn. 29. 23 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 89. 24 BVerfGE 68, 143, 150; Zuck, V B Rdn. 445. 25 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 89; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 110. 26 So auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 109, unter dem eigenen Prüfungsgesichtspunkt der „Rechtsrelevanz"; s. Fn. 6. 27 So Zuck, V B Rdn. 445: Ein rechtlich wirkungsloses Gesetz kann (noch) keine „Gewalt" sein. 28 BVerfGE 18, 1, 12, läßt die Frage noch offen; von BVerfGE 38, 326, 335 f. aber bejaht, so auch Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 89 Fn. 2; § 93 Rdn. 49; Leibholz / Rupprecht, § 90 Rdn. 34; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 110; vgl. Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 556; s. 2. Kap., C. III. 2a) (aa). 2*
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
individuellen Beschwer - insbesondere der gegenwärtigen Betroffenheit 29 und sollte insoweit auch dort bei der Frage erörtert werden, inwieweit ausnahmsweise ein besonderes individuelles Rechtsschutzbedürfnis das Erfordernis der gegenwärtigen Beschwer überwindet. 30 Diese Problematik läßt sich auch auf Vertragsgesetze übertragen; sofern das Gesetzgebungsverfahren bis auf die Ausfertigung des Vertragsgesetzes durch den Bundespräsidenten und die Verkündung abgeschlossen ist, kann bereits vor der Verkündung des Gesetzes die Normenbeschwerde erhoben werden. 31 Die Problemerörterung erfolgt auch dann nicht bei der Feststellung einer justiziablen Maßnahme, sondern im Rahmen der gegenwärtigen Beschwer. 32 Der bloße Formalakt steht der Gesetzesqualität nicht mehr entgegen. (X) Wenn der Gesetzgeber einen bestimmten Lebenssachverhalt (bislang) überhaupt nicht gesetzlich ausgestaltet hat, besteht die vom Beschwerdeführer gerügte Maßnahme in einem legislativen Unterlassen. Aus §§ 92 und 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ergibt sich, daß die Verfassungsbeschwerde auch gegen ein Unterlassen hoheitlicher Maßnahmen möglich ist. Auch legislatives Unterlassen ist somit ein rechts- und prüfungsrelevanter Beschwerdegegenstand. 33
2. Kapitel Selbst und gegenwärtig betroffen A . Begründung dieser Kriterien
Nach der Feststellung des rechts- und prüfungsrelevanten Beschwerdegegenstandes ist nach § 90 Abs. 1 BVerfGG weiterhin erforderlich, daß der Beschwerdeführer eine Verletzung „seiner" Grundrechte behauptet. Mit diesem Erfordernis soll die Funktion der Verfassungsbeschwerde als Individualrechtsbehelf 34 gesichert und die Popularklage ausgeschlossen werden. 35 29 Nach Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 114, handelt es sich um die Frage, ob schon eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt vorliegt. Dies ist aber inkonsequent, da er selbst die Verfassungsbeschwerde in Ausnahmefällen für zulässig erachtet. Vgl. Fn. 28. 30 So auch Gusy, Rdn. 100. 31 BVerfGE 1, 396, 413; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 98; Rojahn, in: v. Münch, Art. 59 Rdn. 45; Zeidler, EuGRZ 1988, 207; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 110; Säcker, S. 29. 32 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 98. 33 Vgl. Gusy, Rdn. 32. 34 Scholler / Broß, Rdn. 252. 35 BVerfGE 79, 1, 14; Zuck, V B Rdn. 566; Schiaich, S. 106; Raschauer, D Ö V 1976, 699; Schick, JZ 1974, 476; E. Klein, AöR 108, 419.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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(I) Eine eigene Grundrechtsverletzung kann der Beschwerdeführer nur dann behaupten, wenn die angegriffene Rechtsnorm ihn selbst - und keinen anderen - betrifft, d. h. in eigenen Rechten berührt. 36 (II) Der Rechtssatz muß ihn aber auch gegenwärtig betreffen. Würde er ihn noch nicht oder nicht mehr in Rechtspositionen tangieren, könnte der Beschwerdeführer noch nicht oder nicht mehr eine eigene Grundrechtsverletzung behaupten. Die Verfassungsbeschwerde als quasi „vorbeugende Normenkontrolle" 37 würde einer Popularklage nahekommen; 38 diese soll aber gerade durch § 90 Abs. 1 BVerfGG verhindert werden. (1) Kritik Die Differenzierung zwischen eigener und aktueller Betroffenheit erfährt von einem Teil der Rechtslehre 39 Kritik. Eine sinnvolle Abgrenzung sei nicht möglich. Werde die Schwelle zum grundrechtlich geschützten Bereich des Einzelnen überschritten - nichts anderes bedeute ja „selbst betroffen" (!) - , so sei der Beschwerdeführer immer auch gegenwärtig betroffen. 40 Aus § 90 Abs. 1 BVerfGG, „Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte betroffen", lasse sich nur die Selbstbetroffenheit, nicht aber auch die gegenwärtige Beschwer ableiten. 41 Nach Bettermann 42 genügt auch die künftige Beeinträchtigung durch die künftige Anwendung der Norm, um den Beschwerdeführer in seinem grundrechtlichen Anspruch auf Unterlassung der Setzung einer grundrechtswidrigen Norm gegenwärtig und unmittelbar zu verletzen, weil er (auch) beanspruchen könne, daß keine Norm erlassen werde, durch deren Anwendung in seine Grundrechte verfassungswidrig eingegriffen werde. Dementsprechend ist seiner Meinung nach der Beschwerdeführer immer schon dann (selbst) betroffen, wenn die Anwendung der Norm zu seinem Nachteil möglich ist. 43 Die Gefahr einer Popularklage und damit einer unzulässigen Ausdehnung des Kreises potentieller Beschwerdeführer vermag er nicht zu erkennen. Viele Bürger kämen mit zahlreichen Normen ohnehin nie in Berührung; im übrigen sei der Kreis der Anfechtungsberechtigten einer Norm zwangsläufig größer als der eines Verwaltungsaktes. Insofern habe der Gesetzgeber selber mit der Ermöglichung der Normenbeschwerde und der „jedermann"Regelung die Popularklage zugelassen.44 36 37 38 323. 39 40 41 42 43 44
Schmidt-Bleibtreu, BayVbl 1965, 291. Säcker, S. 29. BVerfGE 74, 297, 319; Zuck, V B Rdn. 590; Schuler, S. 191; Zweigert, Bettermann, AöR 86, 179 ff.; Pieroth, DVB1 1974, 196; Motzer, S. 119 ff. Motzer, S. 119 f. Pieroth, DVB11974, 196; Motzer, S. 121. Bettermann, AöR 86, 179. Bettermann, AöR 86, 181. Bettermann, AöR 86, 180.
JZ 1952,
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
(2) Stellungnahme Die Kritik vermag nicht zu überzeugen. Die (vorab 45 ) festzustellende Betroffenheit des Beschwerdeführers besteht einerseits aus der personellen Komponente - richtet sich der Hoheitsakt an den Beschwerdeführer, betrifft er ihn selbst? - , andererseits aus der zeitlichen Komponente - ist der Beschwerdeführer zum jetzigen Zeitpunkt (Erhebung der Verfassungsbeschwerde), d. h. gegenwärtig, betroffen? Greift der Beschwerdeführer ζ. B. eine eigene, aber bereits vergangene Beeinträchtigung an, so hat sich der Zeitfaktor verschoben, nicht aber die Adressierung. Der Beschwerdeführer ist nicht gegenwärtig betroffen, wenn er einmal verletzt war oder in Zukunft verletzt werden wird. 4 6 Das Merkmal der gegenwärtigen Betroffenheit grenzt somit die vergangene und zukünftige Betroffenheit aus. 47 Motzer kombiniert beide Komponenten zu der (vermischten) Formel, daß nur derjenige selbst betroffen ist, der auch gegenwärtig betroffen ist. Materiell-rechtlich aber hält er an dem Merkmal der gegenwärtigen Beschwer fest. Insofern ist es unverständlich, warum sich seiner Meinung nach dieses Merkmal nicht aus § 90 Abs. 1 BVerfGG ergeben soll - zumindest doch, wie er selbst erläutert, in dem Merkmal der Selbstbetroffenheit mitenthalten. Bettermanns Auffassung ist insofern konsequenter, als er auf das zeitliche Element der Betroffenheit verzichtet und ausdrücklich die künftige Beeinträchtigung ausreichen läßt. Gleichwohl läßt sich seine Ansicht kaum vertreten. Ein auf eine mögliche Grundrechtsverletzung gestützter Anspruch auf Norm Unterlassung besteht nicht. Mit der Verfassungsbeschwerde lassen sich nur Grundrechtsverletzungen rügen. Die Verletzung subjektiver Rechte kann erst dann eintreten, wenn grundrechtlich gewährte Freiheiten nicht mehr ausgeübt werden dürfen, d. h. erst mit einer gegenwärtigen Anwendung und damit Auswirkung der Norm auf den Beschwerdeführer. 48 Somit kann die künftige Anwendung einer Norm noch keine (aktuelle) Grundrechtsverletzung bewirken, folglich auch mit der Verfassungsbeschwerde noch nicht angegriffen werden. Eine präventive Normenkontrolle ist nicht vorgesehen. 49 Damit bleibt es bei dem Grundsatz, daß der Beschwerdeführer nur ein sich gegenwärtig auf ihn auswirkendes Gesetz einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle unterziehen kann. Eben weil der Kreis derjenigen, die mit einem Gesetz in Berührung kommen, zwangsläufig größer ist als bei einem Verwaltungsakt, sind die beiden oben angeführ45 Vor der eigentlichen „Behauptung" der Grundrechtsver/eizwwg (Grundrechtsrüge). 46 Gusy, Rdn. 112. 47 Vgl. Pestalozza, S. 95. 48 Schenke, S. 122. 49 Zeidler, EuGRZ 1988, 207. Nur in Ausnahmefällen kann aus Rechtsschutzgründen vorbeugender Rechtsschutz durch die Normenbeschwerde geboten sein, wenn dem Betroffenen andernfalls - bis zum Abwarten der Normanwendung auf ihn und damit der gegenwärtigen Beschwer - irreparable Nachteile drohten. Vgl. C. III. 2 a).
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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ten Elemente der persönlichen und aktuellen Beschwer (zur Vermeidung von Popularklagen) notwendige Bestandteile der in § 90 Abs. 1 BVerfGG kodifizierten Beschwerdebefugnis. 50 (III) Insoweit ist zunächst in der angegebenen Weise die Betroffenheit des Beschwerdeführers festzustellen, um die Popularklage auszuschließen. Da Grundrechte in vielfältiger Weise rechtmäßig einschränkbar sind, folgt aus der bloßen (Grundrechts-)Betroffenheit noch nicht zwingend logisch auch deren Verletzung. Somit ist nach der Feststellung der Betroffenheit 51 zu prüfen, ob daraus auch eine Grundrechts Verletzung resultieren bzw. i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG „behauptet" werden kann. 52 Umgekehrt setzt die nach § 90 Abs. 1 BVerfGG geforderte Verfassungsbeschwerdebefugnis rechtslogisch den Eingriff in die Rechtssphäre des Bürgers voraus, ohne den eine subjektive Grundrechtsverletzung von vornherein ausscheiden muß. 53 Die Betroffenheit, d. h. der Eingriff in die Rechtssphäre des Bürgers, stellt somit eine in § 90 Abs. 1 BVerfGG innewohnende Begrenzung dar, 54 d. h. die Behauptung einer Grundrechtsverletzung setzt das Betroffensein voraus. 55 Dadurch wird evident, daß die Behauptung, selbst und gegenwärtig von der Rechtsnorm betroffen zu sein, nicht ausreicht. 56 Vielmehr muß die rechtliche Betroffenheit (als qualitatives Minus zur Grundrechtsverletzung 57) eindeutig feststehen. 58 Ist diese zweifelhaft, haben zunächst Fachgerichte die entsprechende Norm auszulegen. 59 Es wird deutlich, daß es sich bei der zweispurig vorzunehmenden Prüfung (Betroffenheit/Grundrechtsrüge 60: Behauptung einer Grundrechtsverletzung) nicht um einen künstlichen, vom BVerfG entwickelten Filter handelt, der die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde beschränken soll, sondern vielmehr um eine logisch aufgebaute, dem Wortlaut des § 90 Abs. 1 BVerfGG gerecht werdende Prüfung. Wird in der hier angegebenen Weise geprüft - und erfüllt der Beschwerdeführer die Voraussetzungen - , so steht 50 s. 2. Kap. 51 Diese ergibt sich aus dem Wort „seiner" in § 90 Abs. 1 BVerfGG. s. 2. Kap. 52 So streng logisch auch BVerfGE 70, 35, 50; N V w Z 1987, 123, wobei es jedoch je nach Problemintensität zunächst die eine, dann die andere „Stufe" voranstellt. 53 Schenke, NJW 1986, 1452; Stephan, S. 118: Ohne Grundrechtsbetroffenheit besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für die Verfassungsbeschwerde. 54 Vgl. Schenke, NJW 1986, 1452. 55 Schiaich, S. 106. 56 Vgl. BVerfGE 51, 369, 376; 55, 37, 52; 61, 210, 232; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 94; Leibholz / Rupprecht, § 90 Rdn. 32; Bettermann, AöR 86, 130. Andernfalls könnte die Popularklage nicht ausgeschlossen werden. Gleichwohl gebraucht Zuck, JuS 1988, 373, die obige Formulierung. 57 Vgl. dazu Bettermann, A ö R 86, 185. 58 Präzise Zuck, V B 1973 S. 31; vgl. auch Brox, S. 52; Pfeiffer, S. 13; Schiaich, S.lll. 59 BVerfGE 14, 260, 263. 60 Dieser (vereinfachte) Terminus wird hier verwendet, vgl. Zuck, JuS 1988, 371.
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fest, daß er durch die angegriffene Rechtsnorm in Grundrechten betroffen wird, eine Popularklage somit ausgeschlossen ist, und eine Grundrechtsverletzung in Betracht kommt. Somit ist er „rechtsschutzbedürftig" und damit zur Verfassungsbeschwerde befugt. Zum Teil 6 1 wird gleichwohl verlangt, an die Beschwerdebefugnis seien - zur Entlastung des BVerfG - strenge Anforderungen zu stellen. Der Entlastungsgedanke ist jedoch ein bei der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigender Gesichtspunkt. 62 Diese Auffassung erklärt sich aber aus dem herkömmlichen Verständnis, auch im Rahmen der Beschwerdebefugnis das nur formal dazu gehörende (Subsidiarirôte)-Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit zu prüfen. Dieses Kriterium hängt von der Möglichkeit anderweitigen fachgerichtlichen Rechtsschutzes ab und ist insofern sinnvollerweise auch erst im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsproblem zu erörtern. 63 Dementsprechend ist diese Auffassung abzulehnen, da sie voneinander zu trennende Elemente der Beschwerdebefugnis und der Subsidiarität vermengt und damit die in § 90 Abs. 1 und 2 BVerfGG zum Ausdruck gekommene Differenzierung 64 mißachtet. (IV) Eine sehr präzise, die Differenzierung von Betroffenheitsfeststellung und Grundrechtsrüge einwandfrei herausstellende Definition gebraucht Bettermann. 65 (1) Danach ist Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein erlassenes Gesetz, daß der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig (und unmittelbar 66 ) durch das Gesetz, dessen Verfassungswidrigkeit er behauptet, in einem seiner Grundrechte oder in einem der diesen gleichgestellten Rechte betroffen wird. (2) Das BVerfG hingegen läßt die gebotene sprachliche Präzision gelegentlich vermissen. Reicht nach einer frühen Entscheidung67 die „Behauptung, selbst, gegenwärtig (und unmittelbar) durch das Gesetz betroffen zu sein", so ist nach einer neuen 68 erforderlich, daß der Beschwerdeführer „selbst, gegenwärtig (und unmittelbar) durch die angegriffene Rechtsnorm in seinen Grundrechten betroffen sein kann." Gleichwohl dürfte es sich hierbei aber um keine abweichende Meinung zu den oben dargestellten Grundsätzen handeln, sondern lediglich um eine unscharfe, in modifizierender Weise immer wieder 61
Spanner, S. 376; vgl. auch Maunz / Zippelius, S. 166 f.; Wobst, S. 15. s. 2. Abschnitt, 2. Kap. C. 63 s. 2. Abschnitt, 3. Kap. B. 64 s. Einführung, E. und H. 65 Bettermann, AöR 86, 130. 66 Bettermann versteht das Merkmal nicht als Subsidiaritätskriterium. s. 2. Abschnitt, 3. Kap. Β. II. 67 BVerfGE 1, 97, 101. 68 BVerfGE 73, 40, 67; ähnlich unpräzise spricht BVerfGE 70, 35, 50, von „Verletzung" statt „Betroffenheit". 62
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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anklingende Formulierung; das BVerfG 6 9 führt im weiteren Verlauf der Zulässigkeitsprüfung dogmatisch zutreffend aus, daß der Beschwerdeführer selbst und gegenwärtig betroffen ist. (3) Ähnlich ungenau äußert sich ebenfalls ein Teil der Rechtslehre. Auch hier wird nur die „Möglichkeit" der Rechtsbetroffenheit verlangt 70 bzw. nicht zwischen der Betroffenheitsfeststellung und der Grundrechtsrüge differenziert, d. h. eine Art „einstufiger" Beschwerdebefugnis definiert. So fordert Büsser 71 nur die „schlüssige Behauptung, durch den Rechtssatz selbst und gegenwärtig in einem Grundrecht verletzt zu sein." Dadurch verwischt er jedoch klare Konturen, vereinfacht nur scheinbar die Prüfung. Soll auch die Verfassungsbeschwerde gegen Rechtssätze ein IndividualxtchXsbchtM bleiben und nicht zur Popularklage werden, reicht die bloße „Behauptung" bzw. die „Möglichkeit", betroffen zu sein, nicht aus. Vielmehr hat der Beschwerdeführer seine persönliche Beschwer „substantiiert darzulegen." 72 Insofern läßt sich diesen - zum Teil selber „korrigierten" - Auffassungen 73 keine anderweitige, befriedigende Definition der Beschwerdebefugnis entnehmen.
B. Selbst betroffen I. Grundsätze
(1) Der Beschwerdeführer wird durch eine Rechtsnorm „selbst", d. h. persönlich 74 betroffen, wenn er Adressat des Gesetzes ist. 75 Die Rechtsnorm muß für einen Personenkreis gelten, zu dem auch der Beschwerdeführer gehört. 76 Dabei ist nicht erforderlich, daß er auch formal von der Norm betroffen wird, d. h. der Rechtssatz den Adressatenkreis explizit benennt. Es reicht für die Adressatenstellung aus, wenn er vom Norm zweck her gewollt von der Regelung betroffen ist. 77 In schwierigen Fällen ist der Personenkreis ggf. anhand einer Auslegung der Norm zu ermitteln. 78 69 BVerfGE 70, 35, 50; 73, 40, 68. 70 Gusy, Rdn. 102; Spanner, S. 377, 378. 71 Büsser, S. 85; ähnlich auch Schiaich, S. 106; vgl. auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 111. 72 Spanner, S. 377, 378. 73 So führt Gusy an anderer Stelle, Rdn. 99, aus, daß der Beschwerdeführer betroffen sein muß. Schiaich, S. 106, trennt gleichwohl zwischen Betroffenheit und Grundrechtsrüge. 74 Schuler, S. 192. 75 BVerfGE 74, 297, 318; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 95; Gusy, Rdn. 102; Pieroth / Schlink, Rdn. 1247. 7 6 BVerfGE 73, 40, 68; Schiaich, S. 113. 77 Scholler / Broß, Rdn. 289. 78 Gusy, Rdn. 102.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
(2) Auch wenn der Beschwerdeführer nicht Adressat eines Gesetzes ist, kann er gleichwohl selbst betroffen sein. Herkömmlicherweise wird dann für die persönliche Beschwer verlangt, daß der Beschwerdeführer „rechtlich" 79 und nicht bloß „wirtschaftlich" oder „(mittelbar) faktisch" 80 bzw. „durch bloße Reflexwirkungen einer Norm" 8 1 beeinträchtigt wird. Eine eindeutige Definition dieser zwischen der „rechtlichen" und „faktischen" Betroffenheit differenzierenden Terminologie bereitet Schwierigkeiten. (a) Haug 82 versucht nachzuweisen, daß der Begriff der „rechtlichen" Betroffenheit in der hier verwendeten Weise qualitativ nichts anderes bedeute als die Grundrechts Verletzung selber. Bereits im Rahmen der Feststellung der Zulässigkeit werde die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, d. h. die tatsächliche Verletzung von Grundrechten des Beschwerdeführers geprüft. 83 Dieser Terminus könne nur so verstanden werden, daß der Beschwerdeführer dann „rechtlich" betroffen sei, wenn das rechtliche Verhältnis „krank" sei, d. h. Grundrechte des Beschwerdeführers tatsächlich verletzt würden. Sei das rechtliche Verhältnis aber „gesund", werde die Freiheitszone des Beschwerdeführers nicht angetastet; insofern sei er überhaupt nicht betroffen. Da in diesen Fällen die Begründetheitsprüfung im Rahmen des Merkmals der Selbstbetroffenheit stattfinde, sei der Begriff der „rechtlichen" Betroffenheit insoweit als Zulässigkeitskriterium deplaziert. (b) Stellungnahme Diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen. Es ist Haug zwar zuzugeben, daß die Rechtsprechung 84 gelegentlich die rechtliche Betroffenheit von der Verletzung der in Betracht kommenden Grundrechte abhängig macht; es handelt sich hierbei jedoch um keine durchgehende, einheitliche Judikatur. So bejaht das BVerfG 8 5 (in Einzelfällen) durchaus die Betroffenheit des Beschwerdeführers, um gleichwohl die Unbegründetheit der Verfassungsbeschwerde festzustellen. Der Argumentation Haugs kann auch aus dogmatischen Gründen nicht zugestimmt werden. Sie läßt nämlich den Fall der rechtmäßigen Einschränkung eines Grundrechts außer Betracht. In einem solchen 79 Schmidt-Bleib treu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 97; Zuck, JuS 1988, 373; Schiaich, S. 113; Schuler, S. 192. so BVerfGE 4, 96,101; 6, 273, 278; 8, 222, 224; 34, 338, 340; 51, 386, 395; Zuck, JuS 1988, 373; Maunz / Zippelius, S. 167. 81 BVerfGE 78, 350, 354; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 97; Raschauer, D Ö V 1976, 701. 82 Haug, S. 16. 83 Haug, S. 19, 38. 84 So ist unverständlich, warum BVerfGE 16,25, 27, die Betroffenheit des Beschwerdeführers in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ablehnt. Auch Gallwas, FB S. 163, bezeichnet diese Rechtsprechung als wenig einleuchtend. S5 Ζ. B. BVerfGE 13, 230, 233.
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Fall fehlt es an der Grundrechtsver/eizwrcg; das rechtliche Verhältnis ist somit „gesund", gleichwohl ist der Freiheitsraum des Beschwerdeführers tangiert, u . U . sogar erheblich eingeschränkt. Auch diese Dezimierung der grundrechtlich geschützten Bewegungsfreiheit könnte als „rechtliche" Betroffenheit verstanden werden. 86 (c) Die von Haug kritisierte herkömmliche, insbesondere von der Rechtsprechung vertretene Auffassung definiert den Begriff der „rechtlichen" Betroffenheit aber wohl anders, versucht zumindest, rechtsdogmatisch befriedigend zu argumentieren. Danach bleibe es beim Grundsatz, daß (nur) der Adressat des Gesetzes selbst betroffen sei. Rechtlich betroffen könne aber (ausnahmsweise) auch derjenige sein, der zwar nicht förmlich von der Norm angesprochen werde, an den diese sich jedoch ihrem Inhalt, Sinn und Zweck richte. Entscheidend für die persönliche Betroffenheit sei somit die gesetzgeberisch gewollte Zielrichtung 87 und damit die Feststellung, ob die angegriffene Norm auf Setzung einer Rechtsfolge gegenüber dem Beschwerdeführer gerichtet sei. Treffe der „Gesetzesbefehl" hingegen nur Dritte, sei der Beschwerdeführer i. d. R. nicht rechtlich, sondern allenfalls faktisch - und damit nicht selbst - betroffen. 88 Die reflektorische Ausstrahlung auf den Beschwerdeführer reiche nicht aus. 89 Haverkate 90 spannt den Bogen etwas weiter. Er verlangt nur, daß der Gesetzgeber zumindest den Bezug seiner Regelung zu den Grundrechten bestimmter Personengruppen erkennen kann. Für die Feststellung der Selbstbetroffenheit sei somit eine zwangsläufige, beabsichtigte adressatengleiche Beeinträchtigung ausreichend. (d) Stellungnahme (aa) Dieses Verständnis der Begriffe der „rechtlichen" und „faktischen" Betroffenheit ist abzulehnen, da es zu dem (Fehl-)Schluß verführen kann, bei bloß faktischer Betroffenheit seien schützenswerte Rechte des Beschwerdeführers nicht beeinträchtigt. Allgemein anerkannt 91 ist jedoch, daß in Ausnahmefällen durchaus auch Rechtsnormen, die dem Beschwerdeführer gegenüber nicht auf Setzung einer Rechtsfolge gerichtet sind, gleichwohl aber wie ein Gesetzesbefehl (auch) ihm gegenüber wirken - und über die Reflexwirkung 86 Wohl in diesem Sinne stellt auch BVerfGE 13, 230, 233, zwar die (rechtliche) Betroffenheit, aber keine Grundrechtsverletzung fest. 87 BVerfGE 6, 273, 278; Büsser, S. 52; für Zuck, V B Rdn. 573, ist die Vorstellung des Gesetzgebers nur ein Faktor zur Betroffenheitsfeststellung. 88 BVerfGE 4, 96, 101; 6, 273, 278; 8, 222, 223 f.; 16, 25, 27; vgl. Zuck, JuS 1988, 373; Gallwas, FB S. 154, der selbst aber anderer Ansicht ist. 89 Büsser, S. 52. 90 Haverkate, NJW 1973, 444. 91 BVerfGE 13, 230, 233 f.; 18, 1, 12; 18, 203, 213; Pieroth / Schlink, Rdn. 1234; H. Klein, S. 1338; Gallwas, FB S. 161; Haug, S. 48; Büsser, S. 53; Erichsen, Jura 1979, 335.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
hinausreichen - , dessen Grundrechte verletzen können. Insoweit erweist sich die Abgrenzung von rechtlicher und faktischer, gesetzgeberisch gewollter und mittelbarer Beeinträchtigung bzw. Reflexwirkung als untaugliches Mittel zur Feststellung der persönlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers, 92 da auch bei bloß faktischer Betroffenheit stets eine materielle Rechtsprüfung nachzufolgen hat, um über eventuelle Ausnahmen im Einzelfall entscheiden zu können. (bb) Effektiver Rechtsschutz gegenüber Grundrechtsverletzungen kann weder vom Norm zweck (wurde der Beschwerdeführer gewollt als Adressat betroffen?) noch von der Gesetzgeberperspektive (wurde bei Normerlaß die adressatengleiche Beeinträchtigung des Beschwerdeführers erkannt?) abhängen. In jedem Fall ist der Erfolg, d. h. die Grundrechtsverletzung, gleich. (e) Insoweit bedarf es zur Problemlösung eines neuen Verständnisses, wie es ein Teil der Literatur 93 zeigt. Bei fehlender Adressatenstellung läßt sich die persönliche Betroffenheit nicht vom Norm zweck, sondern nur von der Normwirkung her bestimmen. Maßgebend für die Feststellung der Selbstbetroffenheit ist allein der Regelungsgehalt der Norm und deren Auswirkungen auf den Schutzbereich der Grundrechte des Beschwerdeführers. 94 Der Beschwerdeführer ist selbst betroffen, wenn der Rechtssatz dessen Entscheidungsfreiheit und damit dessen Grundrechtssphäre beeinträchtigend tangiert - gleich, ob nun „rechtlich" oder „faktisch". 95 Insofern ist von vornherein (nur) zu prüfen, welche Wirkung die Norm auf den Lebenskreis des Betroffenen hat, 9 6 ob sie grundrechtlich geschützte Interessen beeinträchtigt. 97 Materiell-rechtlich stellt auch die Rechtsprechung 98 bei ihren Ausnahme-Entscheidungen auf die Normwirkung ab. Dieses neue Verständnis ermöglicht nunmehr eine sinnvolle Definition des Begriffs der „rechtlichen" Betroffenheit. Der Beschwerdeführer ist rechtlich betroffen, wenn die Norm seine Grundrec/itesphäre tangiert. Im Ergebnis ist somit der herkömmlichen Meinung 99 zuzustimmen, daß der Beschwerdeführer in jedem Fall rechtlich betroffen sein muß.
92
Gallwas, FB S. 162, bezeichnet die derart differenzierende Rspr. zutreffend als „wirr". 93 Gallwas, FB S. 161 f.; H. Klein, S. 1338; Haug, S. 48; Gusy, Rdn. 102; Häberle, D Ö V 1972, 325. 94 Zuck, V B Rdn. 573. 95 Vgl. auch Pieroth / Schlink, Rdn. 1234, die auf den „tatsächlichen Erfolg" abstellen (unter Verweis auf BVerfGE 18, 203, 213). 9 * Haug, S. 47, 89. 97 Gallwas, FB S. 162. 98 BVerfGE 13, 230, 233 f.; 18,1, 12: Auch hier wirkt sich der rechtliche Vorteil der Konkurrenten negativ auf den Beschwerdeführer aus. Vgl. auch BVerfGE 6, 273, 278; Haug, S. 45, 47. 99 s. Fn. 7 9 - 8 1 .
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(aa) Zur Klarstellung sei ergänzend vermerkt, daß der Beschwerdeführer auch als Adressat der Rechtsnorm rechtlich betroffen sein muß. Nur läßt sich die rechtliche Betroffenheit in diesen Fällen i. d. R. unproblematisch feststellen. Wendet sich der Beschwerdeführer gegen eine ihn belastende Norm, ist zumindest die Grundrechtssphäre des Art. 2 Abs. 1 GG berührt. Greift er eine drittbegünstigende, ihn aber ausschließende Norm an, ist der Gleichheitssatz des Art. 3 GG betroffen. 100 Hierbei reicht somit bereits die formale Feststellung der Adressatenstellung aus, um zugleich auch die rechtliche Betroffenheit und damit die persönliche Beschwer zu bejahen. Die oben geschilderte Problematik stellt sich daher nur dann, wenn der Beschwerdeführer eben nicht Normadressat ist. In diesem Fall läßt sich die persönliche Betroffenheit nicht schon formal aufgrund der Adressatenstellung begründen. Vielmehr ist, wie ausgeführt, 101 die Norm materiell auf ihre (belastende) Wirkung dem Beschwerdeführer gegenüber zu untersuchen. Es ist festzustellen, ob sie in dessen geschützte Rechtssphäre eingreift, ihn in eigenen Rechten berührt. 102 Ein materiell-rechtlicher Unterschied zwischen der rechtlichen (Selbst-) Betroffenheit des Adressaten und Nichtadressaten ergibt sich insoweit aber nicht. Auch der Nichtadressat ist durch normverursachte Belastungen geschützt. 103 (bb) Jede Beeinträchtigungsmodalität ist vom materiellen Grundrechtsschutz erfaßt. 104 Jedermann - auch der Dritte 1 0 5 - kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, eine seine Handlungsfreiheit beschränkende Rechtsnorm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung und betreffe ihn somit in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 G G . 1 0 6 Somit muß die Verfassungsbeschwerde gegen belastende Maßnahmen - unabhängig von der Schwere des Eingriffs oder der Art und des Umfangs der auf dem Spiele stehenden Interessen - immer möglich sein. Die negative Wirkung auf den Lebensbereich genügt. 107 Verweist Gusy 1 0 8 , der grundsätzlich die „NormiWr100 Die tatsächliche Verletzung von Grundrechten ist dann erst mit der Grundrechtsrüge geltend zu machen und im Rahmen der Begründetheit detailliert zu prüfen. 101 s. oben unter (e). 102 BVerfGE 50, 290, 321; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 95. 103 s. oben (aa). 1 04 Gallwas, FB S. 161. 105 Haug, S. 43. 106 BVerfGE 6, 32, LS 4; Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rdn. 26; Zuck, VB Rdn. 319, weist auf die Akzessorietät von Art. 2 Abs. 1 GG hin, der die Rüge der Verletzung objektiven Verfassungsrechts vermittelt; vgl. auch Schenke, S. 320, 322. 107 Haug, S. 48; von BVerfGE 13, 230, 233, für Art. 2 Abs. 1 GG anerkannt. Anderer Ansicht ist Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 518, der einen derartig weiten Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG verneint, dabei aber den materiellen Grundrechtsschutz (Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG) nicht von der (bloßen) Betroffenheit auseinanderhält. 108 Gusy, Rdn. 102, räumt ein, daß die Lehre von Gallwas weitergehe, S. 67 Fn. 76. So die auch bislang h. M . , die - ohne eindeutige Grenzziehung - zwischen rechtlicher
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
kungsihtoxiz" akzeptiert, (noch) einschränkend darauf hin, daß es keinen grundrechtlichen Schutz gebe, im wirtschaftlichen Verkehr mit Dritten nicht durch Rechtsnormen behindert zu werden, die diesen Dritten Ge- oder Verbote auferlegen, so scheint sich das BVerfG 1 0 9 in jüngster Rechtsprechung dem sehr weiten Verständnis der Grundrechtsbetroffenheit des Art. 2 Abs. 1 GG uneingeschränkt anzuschließen. Es stellt klar, daß Art. 2 Abs. 1 GG auch die Freiheit im wirtschaftlichen Verkehr für den „Nicht-Adressaten" schützt. Damit legt es - gewissermaßen in Ergänzung zu einer früheren Grundsatzentscheidung 110 - den weiten Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG auch für nicht formal von einer Norm Betroffene fest. 111 (cc) Diese Annahme, auch bei fehlender Adressatenstellung, aber feststehender Belastung sei das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen, ist nicht unproblematisch. Haverkate 112 kritisiert, daß die Weite des Art. 2 Abs. 1 GG zu potentiell unendlichen (mittelbaren) Beeinträchtigungen führe. Insofern drohe das Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde auszuufern. Es bedürfe einer Grenzziehung. 113 Auch Haug 1 1 4 erkennt die Problematik, daß eine - im herkömmlichen Sinn verstandene - „faktische" Betroffenheit sich i. d. R. leichter nachweisen läßt und insoweit in diesen Fällen die Gefahr der Popularklage besteht. Wird dementsprechend z. T . 1 1 5 eine Erweiterung der Klagebefugnis für nötig befunden mit der Folge, daß eine umfassende Nachprüfung erst in der Begründetheit stattfinden könne, so erfolgt seiner Meinung nach die - notwendige - Korrektur bereits bei der Grundrechtsrüge. 116 Hierbei müsse erkennbar werden, daß der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung anfechte, die seinen eigenen Freiheitsbereich betreffe. Insoweit bedürfe es keiner Erweiterung der Beschwerdebefugnis. (dd) Stellungnahme Nur das Ergebnis, nicht aber die Argumentation Haugs überzeugt. Die Korrektur erfolgt nicht dadurch, daß der Beschwerdeführer eine eigene Grundrechtsverletzung darzulegen hat - auch in diesem Fall ist er schon selbst betrofund wirtschaftlicher Betroffenheit unterscheidet, Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 97; Leibholz / Rupprecht, § 90 Rdn. 32; Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 512; Zuck, JuS 1988, 373; Schiaich, S. 113; Schuler, S. 192; Maunz / Zippelius, S. 167. 109 BVerfGE 75, 108, 154. BVerfGE 6, 32, LS 4. 111 BVerfGE 75, 108, 155, untersucht dogmatisch zutreffend erst in der Begründetheit anhand der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächliche Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG. 112 Haverkate, NJW 1973, 444. 113 Die Lösung der „Gesetzgeberperspektive" überzeugt aber nicht, s. (d). 114 Haug, S. 48. 115 Gallwas, FB S. 150; Häberle, D Ö V 1972, 324. 116 Haug, S. 89.
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fen, das Merkmal wird nicht aufgegeben 117 - , sondern dadurch, daß er überhaupt eine Verletzung seiner Grundrechte (als qualitatives Plus zur Betroffenheitsfeststellung) substantiiert rügen muß. In derartigen Fällen läßt sich oft problemlos die Grundrechts Verletzung ablehnen. 118 Insoweit braucht zur Verhinderung unnötiger Begründetheitsprüfungen nicht bereits die Betroffenheit des Beschwerdeführers verneint zu werden; 119 vielmehr dürfte schon im Rahmen der Grundrechtsrüge die substantiierte Darlegung einer Verletzung kaum gelingen. 120 Somit bedarf es keiner erweiterten Klagebefugnis; die Sorge um die zur Popularklage ausufernde Verfassungsbeschwerde erweist sich als unbegründet. (3) Organisationen, die zur Wahrnehmung der Interessen und Rechte ihrer Mitglieder die Verfassungsbeschwerde erheben, sind nicht selbst betroffen. 121 Auch durch eine entsprechende Satzungsklausel wird ein Verband nicht legitimiert, Rechte seiner Mitglieder geltend zu machen. 122 Davon zu unterscheiden ist hingegen die Prozeßstandschaft; so kann ζ. B. der Konkursverwalter im eigenen Namen als Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde erheben und i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG verletzte Rechte des Gemeinschuldners rügen. 123 Einer näheren Erläuterung bedürfen die Fälle, in denen sich der Beschwerdeführer gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers wendet oder eine gesetzliche Ungleichbehandlung (und damit einen Verstoß gegen Art. 3 GG) rügt, da hierbei das Selbstbetroffensein ζ. T. problematisch ist. I I . Einzelfälle
1. Gesetz belastet den Beschwerdeführer Wenn das Gesetz eine bestimmte Gruppe, zu der auch der Beschwerdeführer gehört, ausdrücklich belastet, andere Gruppen hingegen nicht, so ist der Beschwerdeführer als Adressat der Rechtsnorm unproblematisch selbst betroffen.
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Auch in diesen Fällen rügt der Beschwerdeführer immer nur eine eigene Bela-
stung. 118
Vgl. das Beispiel bei Haverkate, NJW 1973, 443. 119 So aber Haverkate, NJW 1973, 443. 120 Gelingt sie doch, d. h. läßt sich die Grundrechtsverletzung erst aufgrund einer umfassenden Begründetheitsprüfung feststellen, ist die Normenbeschwerde auch söc/ientscheidungswürdig. 121 BVerfGE 2, 292, 294; 10,134,136; 11, 30, 35; 13,1, 9; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 93 Rdn. 67. * 2 2 BVerfGE 16, 147, 158. 123 BVerfGE 65, 182, 190.
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
2. Unterlassen des Gesetzgebers (a) Vollständiges Unterlassen Problematisch sind die Fälle, in denen der Beschwerdeführer vorträgt, der Gesetzgeber habe es (bislang) unterlassen, einen bestimmten Sachverhalt durch den Erlaß einer Norm zu regeln. Gerügt wird somit die Untätigkeit des Gesetzgebers, erstrebt wird als Reaktion auf die verfassungsgerichtliche Feststellung der Grundrechtswidrigkeit des legislativen Unterlassens der Erlaß der (begehrten) Rechtsnorm. 124 (b) Teilweises Unterlassen Möglich und denkbar ist auch die Rüge, daß der Gesetzgeber einen Lebenssachverhalt bislang erst unvollständig (teilweise) geregelt habe. 125 Dann wird nach einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Teilunterlassung die Ergänzung der bislang noch unvollständigen Regelung (unter Beachtung von Art. 3 GG) durch eine neue Norm bzw. Norm Vervollständigung erstrebt. 126 Angegriffen wird hierbei - im Gegensatz zur Normenbeschwerde gegen drittbegünstigende Rechtssätze127 - nicht die schon bereits geregelte Materie, sondern die noch existente Un Vollständigkeit.128 (c) Unterlassen, Norm nachzubessern Als weitere Unterlassungsrüge kommt in Betracht, daß der Gesetzgeber es unterlassen habe, eine Norm nachzubessern, d . h . eine nach heutigen Verhältnissen nicht mehr geeignete (verfassungswidrige) - ursprünglich ausreichende (verfassungsmäßige) - Norm dem inzwischen veränderten Lebenssachverhalt anzupassen.129 (d) Einheitliche Lösung Sämtliche Rügemöglichkeiten greifen somit Versäumnisse des Gesetzgebers an, wenden sich gegen ein legislatives Unterlassen. Auch hierbei muß der Beschwerdeführer selbst (und gegenwärtig) betroffen sein. 130 Zum Teil 1 3 1 wird 124
Vgl. BVerfGE 6, 257, 265. 125 BVerfGE 6, 257, 264. 126 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96; vgl. BVerfGE 8, 28, 37. 127 Zu dieser problematischen Abgrenzung s. unten 2 a). 128 Vgl. Pestalozza, BVerfG und GG S. 529: Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine „Lücke". 129 Vgl. BVerfGE 56, 54, 72, zur Verfassungsbeschwerde gegen nicht mehr ausreichende Lärmschutzmaßnahmen. 130 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 119, führt auch noch, wie die h. M . , die unmittelbare Betroffenheit an. s. 2. Abschnitt, 3. Kap., B.
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darauf hingewiesen, daß grundsätzlich in derartigen Fällen ein Selbstbetroffensein abzulehnen sei, da der Erlaß von Rechtsnormen im pflichtgemäßen Ermessen des Gesetzgebers stehe, folglich niemand darauf einen Anspruch habe. Nur wer ausnahmsweise einen Anspruch auf eine legislative Maßnahme darlegen könne, sei selbst betroffen. 132 Diese Problematik, ob der Einzelne ein Recht auf den Erlaß von Rechtsnormen herleiten kann, behandelt jedoch die Frage, ob ein legislatives Unterlassen Grundrechte des Beschwerdeführers verletzen kann. Insofern stellt sich diese Problematik erst bei dem Prüfungspunkt „Behauptung einer Grundrechtsverletzung". 133 Zur Feststellung der persönlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers sollte auch bei der Unterlassens-Thematik (zunächst) von der „Adressaten-Formel" ausgegangen und bei legislativem Unterlassen derart sinngemäß modifiziert werden, daß der Beschwerdeführer dann selbst betroffen ist, wenn er zum Adressatenkreis der von ihm letztlich begehrten (zu erlassenen bzw. nachzubessernden) Norm gehören würde. 134 Er muß somit dem Personenkreis angehören, der durch die von ihm näher darzulegende, grundgesetzlich gebotene Handlungspflicht des Gesetzgebers betroffen (begünstigt) werden soll 135 . Das ist in der Regel unproblematisch, da der Beschwerdeführer regelmäßig eine ihn betreffende Rechtsnorm erlassen haben möchte. 136 Da eine vom Beschwerdeführer begehrte und ihn begünstigende Norm ihn persönlich (positiv) betreffen würde, ist er in der gegenwärtigen Situation, in der die Norm (noch) nicht existiert, durch das Unterlassen selbst negativ betroffen. Dementsprechend ist in derartigen Fällen von der Rechtsprechung 137 das Merkmal der Selbstbetroffenheit ohne nähere Erläuterung bejaht worden. a) Abgrenzung: Verfassungsbeschwerde gegen legislatives Unterlassen bzw. drittbegünstigende Normen Greift der Beschwerdeführer eine drittbegünstigende Norm an, wendet er sich dagegen, daß ein Gesetz nur einen bestimmten Personenkreis begünstigt, einen anderen, dem er angehört, hingegen nicht. Mit einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde will er die Einbeziehung in die Leistungsgewährung erreichen. Da Unterlassungsbeschwerden essentiell andere Zulässigkeitsvorausset131
Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 107; vgl. BVerfGE 1, 97, 100. 132 Gusy, Rdn. 106. 1 33 s. 3. Kap., C. I. 134 Schneider, AöR 89, 34. 135 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 119; Seiwerth, S. 113. 136 Nicht selbst betroffen wäre er somit, wenn er eine drittadressierende Norm erstrebte. 137 BVerfGE 56, 54, 70; auch BVerfG, NJW 1987, 2287, stellt sofort auf den Verfassungsauftrag und die Handlungspflicht ab, ohne die Selbstbetroffenheit zu erwähnen. 3 van den Hövel
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zungen als Normenbeschwerden aufweisen, 138 ist eine Abgrenzung zur obigen Fallgruppe des „teilweisen Unterlassens" 139 erforderlich. In beiden Fällen hat der Gesetzgeber eine Regelung getroffen, von der der Beschwerdeführer nicht erfaßt wird. Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen dem Bürger aufgrund verfassungskonformer Auslegung der Norm oder aufgrund verfassungskonformer Rechtsfortbildung die Vergünstigung zu gewähren ist. 1 4 0 In den beiden hier voneinander abzugrenzenden Fällen kann der Beschwerdeführer hingegen nur dann in den Genuß der gesetzlichen Leistung kommen, wenn der Gesetzgeber tätig wird, etwa die Norm im gewünschten Sinn ändert, ergänzt oder eine neue Norm erläßt. Da in beiden Konstellationen Art. 3 GG eine Rolle spielt, 141 läßt sich die Unterscheidung nicht schon dahingehend treffen, daß einerseits ein Verstoß gegen einen Verfassungsauftrag (Unterlassen), andererseits gegen Art. 3 GG (drittbegünstigende Normen) gerügt wird. Im übrigen würde dann auch die dogmatisch gebotene Trennung von Betroffenheitsfeststellung und Grundrechtsrüge aufgegeben. Insofern hilft der im Schrifttum häufig gebrauchte Terminus des „relativen Unterlassens", 142 der den Verstoß gegen das Gebot gleicher Rechtssetzung erfassen will, nicht weiter. Wann nun die Verfassungsbeschwerde gegen ein legislatives Unterlassen und wann gegen die unvollständige Norm zu richten ist, bleibt umstritten. (a) Nach einem Teil der Literatur 143 handelt es sich bei beiden Konstellationen um Unterlassensfälle. Ein Unterlassen liege nicht nur dann vor, wenn der Gesetzgeber sich noch eine spätere Regelung vorbehalte, somit wissentlich einen bestimmten Lebenssachverhalt (zunächst) allenfalls partiell regele, sondern auch dann, wenn er eine endgültig gedachte Regelung treffe und dabei eine bestimmte Gruppe ausschließe.144 Die Beschwer bestehe nicht darin, daß der Gesetzgeber überhaupt gehandelt habe, sondern daß er es versäumt (unterlassen) habe, dem Gebot gleicher Rechtssetzung entsprechend, die Begünstigung auch auf den Beschwerdeführer bzw. die von ihm repräsentierte Gruppe zu erstrecken. 145 Die Verfassungsbeschwerde sei somit auf ein von der 138
Insbesondere bei der Grundrechtsrüge und den Fristen, s. 3. Kap., C. V.; 4. Abschnitt (B). 139 s. oben 2. (b). 140 Vgl. Jülicher, S. 47. s. 3. Kap., C. II. und III. 142 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 111; Seiwerth, S. 67; Wessel, DVB1 1952, 164. 143 Seiwerth, S. 68 ff.; Pestalozza, BVerfG und GG S. 530; Lechner, NJW 1955, 1818; Schuler, S. 164 f.; wohl auch Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 639 ff., und Krohn, BB 1968, 1073: Dieselbe Beschränkung (Verfassungsauftrag) gilt auch für Verfassungsbeschwerden gegen relatives, teilweises Unterlassen. 144 Lechner, NJW 1955, 1818. 145 Seiwerth, S. 68.
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positiven Teilregelung unabhängiges - isolierbares 146 - legislatorisches Unterlassen gerichtet. 147 Dies gelte auch dann, wenn die Norm den Beschwerdeführer ausdrücklich (durch Ausschlußklauseln) von der Begünstigung ausschließe. 148 Würde der Beschwerdeführer die Norm angreifen, dann könnte eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde nur zur Nichtigkeit des Gesetzes führen. Die Begünstigung würde für alle Betroffenen wegfallen, dem Beschwerdeführer aber nicht zu seinem Ziel verhelfen, in deren Genuß zu gelangen. Folglich bestünde für eine derartige Verfassungsbeschwerde kein Rechtsschutzbedürfnis. 149 Nach dieser Auffassung ist nur danach zu differenzieren, ob der Gesetzgeber zum Erlaß der Rechtsnorm von Verfassungs wegen verpflichtet ist, oder aber, ob er sich in Ausübung seiner Ermessensfreiheit zum Gesetz entschließt, dann aber, wenn er tätig wird, aufgrund des Gleichheitssatzgebotes gleiche Tatbestände nicht unberücksichtigt lassen darf. 1 5 0 (b) Stellungnahme Diese Unterscheidung behandelt die Frage, ob der Gesetzgeber beim jeweiligen Normerlaß verfassungsmäßig - unter Beachtung der Grundrechte - handelt. Sie spielt somit bei der Begründetheit - und vorgelagert bei der Grundrechtsrüge - eine Rolle, ist aber für die davon unabhängige Betroffenheitsfeststellung irrelevant. Auch aus weiteren Gründen ist diese, keine Differenzierung zwischen beiden Fallgruppen treffende Meinung abzulehnen. Das Argument, die Beschwer bestehe im Unterlassen, überzeugt nicht. Dann müßte der Beschwerdeführer grundsätzlich immer ein Unterlassen mit der Verfassungsbeschwerde angreifen, da der Gesetzgeber stets die von ihm gewünschte Regelung unterlassen hat. 1 5 1 Fehlerhaftes Handeln des Gesetzgebers läßt sich immer als Unterlassen richtigen Handelns kennzeichnen. 152 Die für Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze (und damit „positives Handeln" des Gesetzgebers) geltende Fristbestimmung des § 93 Abs. 2 BVerfGG wäre dann bedeutungslos. Das materielle Unterlassen der begehrten Regelung kann somit nicht der entscheidende Differenzierungsgesichtspunkt sein. Die Auffassung, dem Beschwerdeführer fehle für eine gegen die Norm gerichtete Verfassungsbeschwerde das Rechtsschutzbedürfnis, läßt sich angesichts der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG nicht mehr aufrechterhalten. Eine erfolgreiche Normenbeschwerde führt heute i. d. R. nicht mehr zur Nichtigkeit des 14
6 So Lechner, NJW 1955, 1818. Seiwerth, S. 71; Pestalozza, BVerfG und GG S. 530: Verfassungsbeschwerde mehr gegen „Lücke", weniger gegen Teilregelung. 148 Seiwerth, S. 71. 149 Vgl. Seiwerth, S. 68 und unten 5. 150 Seiwerth, S. 70. 151 Vgl. BVerfGE 13, 284, 287. 152 Zuck, VB Rdn. 492. 147
3*
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Gesetzes, sondern zur Verfassungswidrigerklärung. 153 Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit aber kann dem Beschwerdeführer zu einem günstigen Ergebnis verhelfen, da der Gesetzgeber zur Korrektur - und damit möglicherweise zur gewünschten Regelung - veranlaßt wird. Werden beide Kategorien als Unterlassensfälle verstanden, so läßt sich rechtsdogmatisch nicht befriedigend erklären, warum einerseits der Beschwerdeführer sich auf einen ausdrücklichen, eng umgrenzten Verfassungsauftrag berufen können muß, andererseits aber die (bloße) Rüge der Verletzung von Art. 3 GG ausreicht. 154 (c) Zum Teil 1 5 5 wird eine Abgrenzung nach formalen Kriterien befürwortet. Da im Einzelfall schwierig festzustellen sei, ob der Gesetzgeber den Beschwerdeführer durch Unterlassen oder eine positive Regelung ausgeschlossen habe, 156 könne nur die formelle, gesetzestechnische Gestaltung maßgebend sein. 157 Ein Unterlassen liege vor, wenn der Gesetzgeber eine Materie nicht geregelt oder einen bestimmten Personenkreis nicht in den Tatbestand aufgenommen habe, diesbezüglich somit untätig geblieben sei 158 und sich auf eine Bezeichnung der für die Vergünstigung ausschlaggebenden Kriterien beschränkt habe. 159 Erwähne der Gesetzgeber aber ausdrücklich den Personenkreis, dem die Vergünstigung versagt sein soll, durch Aufnahme diesbezüglicher Merkmale in den gesetzlichen Tatbestand, liege ein Ausschluß durch eine positive Regelung vor. 1 6 0 (d) Stellungnahme Unter Zugrundelegung dieser Meinung ergibt sich, daß der Beschwerdeführer ein legislatives Unterlassen angreift, wenn er sich gegen eine drittbegünstigende, ihn aber nicht ausdrücklich ausschließende Norm wendet. Berücksichtigt das Gesetz ihn hingegen ausdrücklich nicht, so richtet sich seine Verfassungsbeschwerde gegen die Rechtsnorm selber. Unverständlicherweise führt Schneider 161 noch weitere - der oben angeführten Meinung 162 entsprechenden - Argumente für die Fälle an, in denen der Beschwerdeführer an einer bislang nur Dritten gewährten, seiner Meinung nach gegen das Gebot gleicher ι « Vgl. Gusy, Rdn. 104. 154 s. 3. Kap., C. I. und IV. Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 640, spricht, dogmatisch ebenfalls unbefriedigend, von der „Sonderproblematik" des Art. 3 GG. 155 Schneider, AöR 89, 24 ff. 156 Schneider, AöR 89, 26. 157 Schneider, AöR 89, 50. 158 Schneider, A ö R 89, 26. 159 Schneider, AöR 89, 27. 160 Schneider, AöR 89, 27. 161 Der Betroffene werde durch das legislative Unterlassen beschwert, AöR 89, 39; für eine gegen die Norm gerichtete Verfassungsbeschwerde fehle das Rechtsschutzbedürfnis, da nur eine Nichtigerklärung (aber keine Einbeziehung) möglich sei, A ö R 89, 40. 162 s. oben unter (a).
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Rechtssetzung verstoßenden Begünstigung partizipieren möchte, um deren Einordnung in die Rubrik „Unterlassen" zu rechtfertigen. 163 Auch diese Ansicht vermag nicht zu überzeugen. Da unterschiedliche Zulässigkeitsvoraussetzungen bestehen, je nachdem, ob die Norm oder ein legislatives Unterlassen angegriffen wird, darf nur die materielle Rechtslage, nicht aber die bloße Gesetzes/orra, über die Möglichkeit verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes entscheiden. Bezüglich der Annahme, Drittbegünstigungsfälle als Unterlassen einzustufen, gilt das schon oben Ausgeführte. 164 (e) Die früher h. M . 1 6 5 differenzierte (zumindest faktisch) danach, ob der Gesetzgeber aufgrund eines Verfassungsauftrages zum Normerlaß verpflichtet war oder nur im Rahmen seines Ermessensspielraums beim Normerlaß Art. 3 GG zu beachten hatte. 166 Im ersten Fall richtete sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein legislatives Unterlassen, im zweiten gegen die positive Norm. Mittlerweile treffen Rechtsprechung und h. M. jedoch eine materiellrechtliche Differenzierung. (aa) Danach sei entscheidend, ob das Gesetz selber eine wenn auch ablehnende Regelung der Ansprüche enthalte. In einem derartigen Fall werde die Norm angegriffen, denn dann habe es der Gesetzgeber nicht „unterlassen", über diese Ansprüche zu entscheiden. 167 1, d. R. führe ein Gesetz Ansprüche enumerativ auf bzw. „nach Maßgabe des Gesetzes" 168 ohne Andeutung der Beispielhaftigkeit. 169 Das bedeute, daß der Gesetzgeber mit der Bestimmung der Begünstigung grundsätzlich zugleich festlege, wer diese erhalte und damit ebenfalls, wer (der Beschwerdeführer) nicht einbezogen werde. Schließe somit das Gesetz selber schon den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Anspruch explizit oder auch implizit aus, 170 so liege in all diesen Fällen eine Regelung vor, so daß der Beschwerdeführer durch die bereits getroffene Entscheidung des Gesetzgebers beschwert werde, und dementsprechend Prüfungsgegenstand der Verfassungsbeschwerde die Norm selber sei. 171 Der 163 Schneider, A ö R 89, 39, selber erklärt seinen Gedankengang nicht für zwingend, hält auch die gegenteilige Annahme, daß der Beschwerdeführer von der Norm betroffen werde, für möglich. 164 s. oben unter (b). 165 Pfeiffer, S. 12, 13; Wessel, DVB1 1952, 164; Lerche, AöR 90, 352; Tendenz auch bei BVerfGE 6, 257, 263, und insbesondere 15, 46, 60. 166 Vgl. die Ähnlichkeit mit der ersten Auffassung, s. oben (a) a. E. 167 BVerfGE 13, 284, 287; Leibholz / Rupprecht, § 93 Rdn. 27. 168 BVerfGE 3, 284, 287. 169 Leibholz / Rupprecht, § 93 Rdn. 27. ™ Gusy, Rdn. 213. 1 71 BVerfGE 15, 126, 132; 17, 122 ff.; 18, 288, 296; 22, 349, 361; 23, 242, 250. Jülicher, S. 57 und 63, spricht vom „ausdrücklichen und konkludenten" Ausschluß. A n anderer Stelle, S. 12, verweist er aber auf ein „Unterlassen", wenn der Beschwerdeführer ohne ausdrücklichen Ausschluß übergangen werde. (Möglicherweise versteht er somit den konkludenten Ausschluß - gegen die h. M. - als Unterlassen.) Dann wieder
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
Beschwerdeführer greife eben nicht wie beim Unterlassen die Untätigkeit des Gesetzgebers an, sondern vielmehr dessen positive Entscheidung, nur die eine, nicht aber auch die andere Gruppe zu begünstigen. 172 Er wende sich damit gegen dessen Anspruch, eine abschließende und endgültige Regelung der Materie getroffen zu haben 173 und rüge materiell die seiner Meinung nach durch die geltende Norm entstehende sachwidrige und willkürliche Differenzierung. 174 Das „Unterlassen" der Begünstigung stelle nur einen Reflex der im übrigen getroffenen Entscheidung dar. 1 7 5 Es handele sich somit um eine gegen die den begünstigten Personenkreis zu eng begrenzende Rechtsnorm gerichtete Verfassungsbeschwerde. 176 Damit vergleichbar sei auch der umgekehrte Fall, daß der Betroffene eine sachwidrige G/e/c/zbehandlung vermeintlich ungleicher Sachverhalte angreife. Auch hierbei richte sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Handeln des Gesetzgebers. 177 (bb) Im Gegensatz dazu ist nach der h. M. ein teilweises Unterlassen nur dann denkbar, wenn der Gesetzgeber eine materielle Regelung unterlassen hat. Es müsse klar sein, daß wegen des Umfangs der zu regelnden Materie offensichtlich nicht ein einheitliches Gesetz, sondern sinngemäß mehrere zeitlich einander folgende Teilregelungen verlangt würden. 178 Dann regele die bereits existierende Norm nicht den der anderen, noch nicht existenten Norm vorbehaltenen Bereich. Im allgemeinen stehe es dem Gesetzgeber - vorbehaltlich des Willkürverbotes - frei, eine Materie nach dem Maß seiner Kräfte nach und nach in verschiedenen Gesetzen zu regeln. Die Beschwer bestehe hier nicht darin, daß der Gesetzgeber überhaupt gehandelt habe - insoweit verletze das erste von mehreren geplanten Gesetzen nicht das Grundrecht der Gleichheit, weil die weiteren Teilregelungen verwandter oder gleicher Tatbestände noch ausstünden - , 1 7 9 sondern resultiere aus dem Unterlassen weiterer, den Beschwerdeführer berücksichtigender Teilregelungen. Dem Beschwerdeführer gehe es nicht um die Beseitigung dieser über „seinen" Anspruch keinersoll sogar bei teilweisem Unterlassen eine Regelung (!) den Beschwerdeführer benachteiligen und mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar sein, S. 113. Ähnlich unklar äußert sich auch Zuck, V B Rdn. 498 Fn. 782, wonach bei nur unvollkommen erfüllten Verfassungsaufträgen ein gesetzgeberisches Tun angegriffen werden müsse. A n anderer Stelle, Rdn. 492 Fn. 767, führt er aus, daß auch bei Gleichheitsverstößen die Klassifizierung als „Unterlassen" möglich sei. 172 BVerfGE 13, 248, 250; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 111; vgl. Leibholz / Rupprecht, § 93 Rdn. 27. 173 So präzise Geiger, § 90 Nr. 6 g. 1 74 BVerfGE 23, 249, 250; 26,100,110; 26,116,134; 29,268, 273: auf diese Entscheidung beruft sich auch Zuck, V B Rdn. 494 Fn. 772, s. Fn. 171; im Ergebnis auch Zweigert, JZ 1952, 323. 175 Zuck, V B Rdn. 494. 176 BVerfGE 29, 268, 273; Leibholz / Rupprecht, Nachtrag § 90 Rdn. 43. 177 BVerfGE 64, 323, 346. ™ BVerfGE 6, 257, 263 f.; Leibholz / Rupprecht, § 93 Rdn. 27. 179 Geiger, § 90 Nr. 6 g, mit Verweis auf BVerfGE 1, 14 ff.
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lei Entscheidung enthaltenen Norm, sondern um den Erlaß einer (weiteren) ihn berücksichtigenden Teilregelung. In diesen Fällen greife er ein legislatives Unterlassen an, 1 8 0 unabhängig davon, ob der Gesetzgeber bewußt oder unbewußt von weiteren Teilregelungen abgesehen habe. 181 (f) Stellungnahme Wie schon ausgeführt 182 , kann der Umstand, daß der Gesetzgeber die vom Beschwerdeführer gewünschte Regelung materiell unterlassen hat, nicht ausschlaggebend für die Bestimmung einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Norm oder gegen Unterlassen sein. Dann wäre eine Differenzierung nicht mehr möglich; denkbar wären nur noch Unterlassungsbeschwerden. Ebenso unbillig wäre es auch, die bloße Gesetzesform über die Rechtsschutzmöglichkeiten entscheiden zu lassen. 183 Maßgeblich kann nur sein, ob der Gesetzgeber eine materielle Regelung getroffen hat oder nicht. Dies verkennt das BVerfG in einer frühen Entscheidung, 184 in der es auf das „formelle Unterlassen" abstellt. So wende sich der Beschwerdeführer zwar materiell gegen die positive Entscheidung des Gesetzgebers, diese äußere sich aber formell in einem Unterlassen. Das BVerfG betont somit selber die materielle Regelung, nimmt aber gleichwohl einen Unterlassensfall an. Insoweit führt Jülicher 185 zu Recht aus, daß hier nicht über „Unterlassen", sondern die „Norm" hätte entschieden werden müssen, da eine durch Auslegung zu entnehmende Regelung den Beschwerdeführer von der Begünstigung ausschloß. Genau an diesem Punkt bei der materiellen Regelung - setzt die h. M., wie ausgeführt, die Differenzierung an. Sie führt auch zu interessengerechten Ergebnissen, indem sie auf das wahre Begehren des Beschwerdeführers abstellt. I. d. R. geht es ihm um die Einbeziehung in die bereits gesetzlich geregelte Begünstigung und damit um die Änderung der konkret existierenden Norm. Er will somit die positive Entscheidung ( = Differenzierung) des Gesetzgebers angreifen, nur Dritte, nicht aber auch ihn zu begünstigen. Nur bei einer gegen die Norm selber gerichteten Verfassungsbeschwerde besteht auch ausreichende Rechtssicherheit durch die Fristbestimmung des § 93 Abs. 2 BVerfGG. Da in diesen Fällen die Verfassungsbeschwerde mittelbar zur Änderung des Gesetzes führen kann, bestünde bei der Annahme von Unterlassensfällen (mit entsprechend unbeschränkter Frist) beliebig lange Rechtsunsicherheit, ob der Regelungsgehalt der existenten Norm überhaupt Bestand behält. Die unbeschränkte Frist ist nur dann 180 Vgl. BVerfGE 6, 257, 263 f.; 15, 46, 60; Schenke, S. 338 f.; Gusy, Rdn. 213; Schmidt-Bleib treu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96. 181 Vgl. BVerfGE 6, 257, 263. 182 s. oben (b). 183 s. oben (d). 184 BVerfGE 15, 46, 60. Auch Herzog / Schick, S. 86, stellen auf àie formelle Regelung ab. 185 Jülicher, S. 57.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
sinnvoll, wenn ein echtes Unterlassen, nicht aber der bereits bestehende Rechtssatz angegriffen wird, d. h. der Beschwerdeführer ausnahmsweise eine neue Norm (möglicherweise auch die Ergänzung einer Teilregelung) erstrebt, da die komplexe Gesetzesmaterie mehrere Teilregelungen erfordert. Nach der h. M. bleibt es auch bei der hier entwickelten Systematik der strengen Trennung von Beschwer und Grundrechtsrüge. So ermöglicht die eindeutige Bestimmung der Verfassungsbeschwerde als Unterlassens- oder Normenbeschwerde auch die eindeutige Feststellung der Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers durch legislatives Unterlassen 186 bzw. durch die Norm 1 8 7 . Erst im Rahmen der Grundrechtsrüge gewinnt die Problematik des Verfassungsauftrages bzw. der Rüge der verletzten Gleichheit (Art. 3 GG) bei der Darlegung der Grundrechtsverletzung Raum. Keineswegs kann die Grundrechtsrüge die Einordnung in die entsprechenden Kategorien bestimmen, wie dies die früher h. M . 1 8 8 praktizierte und damit die logische Kausalkette, daß zunächst die Betroffenheit festzustellen und entsprechend der Beschwer die Grundrechtsrüge zu formulieren ist 1 8 9 , auf den Kopf stellte. Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß heutzutage beinahe jeder Lebenssachverhalt normativ erfaßt ist, i. d. R. somit die Norm selber Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde ist, 1 9 0 sofern nicht ausnahmsweise ein gesetzesfreier Raum auftaucht. 191 3. Drittbegünstigende Normen, die den Beschwerdeführer nicht ausdrücklich von der Begünstigung ausschließen In Fällen, in denen der Beschwerdeführer durch eine Änderung der Norm in die Begünstigung einbezogen werden möchte, ist die Selbstbetroffenheit insoweit problematisch, als er eben nicht ausdrücklich Adressat des Gesetzes ist. Wie festgestellt 192 , ist jedoch die materielle, nicht die formelle Regelung ausschlaggebend. Würde die Rechtsnorm den Bürger ausdrücklich von der Begünstigung ausschließen, so wäre er als Adressat der negativen Regelung des Gesetzes unproblematisch selbst betroffen. 193 Dann kann aber bei einem nicht ausdrücklichen Ausschluß, aber materiell identischer Regelung nichts 186
s. oben 2(d). s. unten 3. - 6. 188 s. (e) und BVerfGE 15, 46, 60. Da hier die Möglichkeit des Beschwerdeführers bestand, sich auf einen ausdrücklichen Verfassungsauftrag zu berufen, konnte problemlos, wenn auch dogmatisch unzutreffend (s. (f)), ein Unterlassen angenommen werden. 189 s. oben A . III. 190 Schon seit BVerfGE 26, 116, 134, ohne nähere Ausführungen bejaht. 191 Oft lassen sich auch „Unterlassensrügen" in „Normrügen" auslegen, BVerfGE 77, 170, 219. 192 s. oben 2 a) (f). 193 s. unten 4. 187
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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anderes gelten, da es sonst der Gesetzgeber in der Hand hätte, durch formale Kriterien die Verfassungsbeschwerde zuzulassen oder auszuschließen bzw. zu erschweren. 194 Auch in diesem Fall wird der Beschwerdeführer von der Kehrseite der Norm betroffen, ist somit Adressat des Ausschlusses. Somit läßt sich problemlos feststellen, daß der Beschwerdeführer selbst betroffen ist. 1 9 5 Auch die Rechtsprechung 196 hat in diesen Fällen das Merkmal der Selbstbetroffenheit ohne nähere Begründung bejaht. Im Schrifttum 197 wird die daraus ableitbare Tendenz, ein Selbstbetroffensein des Beschwerdeführers immer schon dann anzunehmen, wenn dieser durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt schlechter als die Begünstigten gestellt und damit diesen gegenüber möglicherweise in einer Art. 3 GG verletzenden Weise benachteiligt wird, kritisiert. Die Kritik bezieht sich darauf, daß auch eine gleichheitssatzwidrige Begünstigung eines anderen den Nichtbegünstigten noch nicht unbedingt in seinem subjektiven Recht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletze. Diese Bedenken sind jedoch bei der Erörterung des Merkmals der Selbstbetroffenheit verfehlt, da die Frage, ob eine ungleiche Begünstigung Art. 3 GG verletzen kann, erst bei der Grundrechtsrüge zu behandeln ist. Auch wenn man diese Fallgruppe als „Unterlassen" versteht, 198 ist das Selbstbetroffensein aufgrund der oben 199 angestellten Überlegungen problemlos zu bejahen, da der Beschwerdeführer auch in diesen Fällen eine ihn in die Begünstigung einbeziehende, ihn somit adressierende Regelung erstrebt. 4. Drittbegünstigende Normen, die den Beschwerdeführer von der Begünstigung ausschließen
ausdrücklich
Hierbei ist der Antragsteller als Adressat des gesetzlichen Ausschlusses selbst betroffen. 200 Wie ausgeführt 201 , unterscheiden sich die Fallgruppen (3) und (4) nur formal, nicht aber materiell, so daß eine Gleichbehandlung gebo194
Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96. Sofern sich der Beschwerdeführer - wie hier - gegen seinen Ausschluß wehrt und vorträgt, auch zu dem Kreis der Begünstigten zu gehören. Vgl. BVerfGE 32, 173, 181 und den anderen denkbaren Fall, unten 5. * 9 6 BVerfGE 9, 338, 342; 26, 100,110; 26,141,153; 32,157,163; 69,122,125; 72, 39, 43; vgl. auch Schmidt-Bleibtreu, BayVBl 1965, 291. In diesen Fällen ist heutzutage die unmittelbare Betroffenheit problematisch, s. 2. Abschnitt, 3. Kap., C. I I I . 197 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96; Zuck, VB Rdn. 568. 198 s. oben 2 a) (a) und (d). 199 s. oben 2. (d). 200 D a e i n Ausschluß durch eine positive Regelung vorliegt, nimmt Schneider, AöR 89, 26, 40, der auf formale Kriterien abstellt, hierbei auch an, daß der Beschwerdeführer durch die Norm, und nicht durch Unterlassen, betroffen wird. Dies ist aber inkonsequent, da die Regelung materiell identisch zu (3) ist. 201 s. 3. 195
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
ten ist. Trotz ausdrücklichen Ausschlusses des Beschwerdeführers nimmt ein Teil der Literatur 2 0 2 auch hierbei einen Unterlassensfall an. Dies ist konsequent aufgrund der zu Kategorie (3) bestehenden materiell-rechtlichen Identität. Insofern läßt sich auch das Betroffensein entsprechend begründen. 203 5. Drittbegünstigende Normen, deren Nichtigerklärung der Beschwerdeführer erstrebt Denkbar sind auch Fälle, in denen das Gesetz eine bestimmte Personengruppe begünstigt, den Beschwerdeführer hingegen nicht, im Unterschied zu den obigen Konstellationen 204 der Beschwerdeführer aber nicht die Einbeziehung in die Begünstigung, sondern „nur" deren Wegfall (für die privilegierte Gruppe) verlangt. Es handelt sich hierbei um Fälle, in denen von vornherein ausgeschlossen ist, daß der Gesetzgeber bei einer Neuregelung den Beschwerdeführer ebenfalls berücksichtigt, etwa, weil es sich bei den Begünstigten erkennbar um eine zahlenmäßig begrenzte Ausnahmegruppe handelt. Da der Beschwerdeführer dann mit der Verfassungsbeschwerde nicht seine Nichtberücksichtigung angreift, läßt sich daraus auch keine persönliche Beschwer ableiten, d. h. die Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers kann nicht schon damit begründet werden, daß er Adressat einer Ausschlußregelung sei. Somit ist in diesen Fällen die Adressatentheorie nicht einschlägig. Vielmehr bedarf es nun einer materiell-rechtlichen Prüfung der Norm Wirkung auf die geschützte Grundrechtssphäre des Beschwerdeführers. 205 I. d. R. hat der Wegfall der Begünstigung für den Beschwerdeführer keinen Vorteil, da die (noch) geltende Rechtsnorm ihn nicht belastet und dementsprechend auch nicht in die Grundrechtssphäre des Art. 2 Abs. 1 GG eingreift. Grundsätzlich ist der Beschwerdeführer in diesen Fällen somit nicht selbst betroffen. 206 Ausnahmsweise ist er jedoch dann persönlich betroffen, wenn er durch eine drittbegünstigende Norm selber belastet und damit Art. 2 Abs. 1 GG tangiert wird, er somit durch die Aufhebung der Vorschrift aufgrund des Wegfalls der Belastung eine Besserstellung erfahren würde. 207 202
1818.
So ausdrücklich Seiwerth,
S. 71, 75; s. Fn. 147; wohl auch Lechner, NJW 1955,
203
s. oben 3. a E. und 2. (d). s. oben 3. und 4. 205 s. oben I. 2. (e) (aa). 206 Mit diesem Fallbeispiel (Nichtigerklärung der Norm bringt dem Beschwerdeführer keinen Vorteil) begründet ein Teil der Literatur den „Unterlassensfall", s. Fn. 149, 204
161.
207
Unpräzise Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96: Der Beschwerdeführer muß einen praktischen Nutzen für den Wegfall darlegen können. Ähnlich auch Zuck, VB 1973 S. 32; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 113; Henning, S. 52: Es muß ein enger Sachbezug zur angegriffenen Norm bestehen.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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In einem derartigen Ausnahmefall hat das BVerfG 2 0 8 die Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers, der durch eine Dritten steuerliche Vorteile gewährenden Norm diesen gegenüber in seiner Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt wurde, bejaht. Die Kritik, 2 0 9 das BVerfG habe prüfen müssen, ob in diesem speziellen Fall der Beschwerdeführer wirklich in rechtlichen Positionen und nicht nur in wirtschaftlichen Interessen betroffen wurde, läßt sich mit dem weiten Betroffenheitsbegriff 210 nicht mehr vertreten. Gerügt wird in diesen Fällen eine sachwidrige Belastung; 211 damit ist der Grundrechtsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG berührt und der Beschwerdeführer somit rechtlich betroffen. 212 Es handelt sich hierbei um „Umgehungsgeschäfte auf Gesetzesebene". 213 Formell wird zwar nur der steuerbegünstigte Personenkreis angesprochen, materiell aber auch der Beschwerdeführer belastet und damit betroffen. Dieser ist gewissermaßen als „Adressat" der durch die Norm verursachten Belastung selbst beschwert. Materiell entspricht diese Konstellation somit der ersten Fallgruppe. 214
6. Drittbelastende Normen, die sich auch auf den Beschwerdeführer auswirken In diesen Fällen wendet sich das Gesetz nur an Dritte, nicht aber ausdrücklich oder konkludent an den Beschwerdeführer; dieser erstrebt auch keine ihn adressierende Rechtsnorm. Somit versagt die Adressatentheorie hier ebenfalls. Insofern ist die Norm Wirkung auf die geschützte Grundrechtssphäre des Beschwerdeführers zu prüfen. Grundsätzlich beschweren drittbelastende Normen nicht auch den Beschwerdeführer. Dieser ist i. d. R. somit nicht in seinem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG betroffen. Etwas anderes kann ausnahmsweise gelten, wenn sich die Drittbelastung aufgrund einer engen Beziehung zu dem belasteten Dritten auch auf den Beschwerdeführer auswirkt, etwa aufgrund bestehender Vertragsverhältnisse. So können ζ. B. an Vermieter gerichtete Gesetze auch den Mieter mitbetreffen 215 oder an Verkäufer und Ladeninhaber adressierte (Ladenschluß-)Gesetze sich auch nach208
BVerfGE 18, 1, 12; vgl. auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 112. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96 Fn. 2, trennt nicht zwischen der Betroffenheit und der Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung (Grundrechtsrüge). 2 10 s. oben I. 2. (e) (bb). 211 Scholler / Broß, Rdn. 290. 2 2 * s. oben I. 2. (e). 213 Raschauer, D Ö V 1976, 701. 214 s. oben 1. 215 Vgl. Raschauer, D Ö V 1976, 701, der von der „Gesetzgeberperspektive", s. I. 2. (c) und (d), her argumentiert: Der Gesetzgeber nehme indirekte Eingriffe in die Rechte Dritter billigend in Kauf. Vgl. auch BVerfGE 3, 162, 170. 209
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teilig auf die (beschwerdeführenden) Kunden auswirken. 216 In diesen Fällen kann der Beschwerdeführer eine (sachwidrige) Belastung geltend machen, so daß zumindest der Freiheitsbereich seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG betroffen ist. 7. Resûmé Ein Selbstbetroffensein des Beschwerdeführers ist immer dann gegeben, wenn er von einer Norm belastet wird 2 1 7 - und dementsprechend deren Aufhebung erstrebt - oder eine ihn adressierende Norm begehrt, weil keine derartige Regelung existiert 218 bzw. ein Rechtssatz ihn von der nur Dritten gewährten Begünstigung ausnimmt. 219 C. Gegenwärtig betroffen I. Grundsätze
(1) Der Beschwerdeführer ist gegenwärtig, anders formuliert: „aktuell" 2 2 0 betroffen, wenn er eine rechtsverbindliche Norm angreift, 221 die bereits bei Erhebung der Normenbeschwerde seine geschützten Rechte berührt. 222 Die Beschwer muß bereits eingetreten und darf noch nicht weggefallen sein, d . h . der Beschwerdeführer muß schon und noch betroffen sein. 223 (2) Die bloße Möglichkeit, in Zukunft einmal von der Rechtsnorm betroffen zu werden (virtuelle Betroffenheit) reicht ebensowenig224 wie die in der Vergangenheit eingetretene, mittlerweile aber weggefallene Beschwer aus. Das deutsche Recht unterscheidet sich hierbei bewußt von der Verfassungsbeschwerde in der Schweiz. Dort muß der Beschwerdeführer zwar auch in rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt sein, 225 eine virtuelle Betroffenheit 216
BVerfGE 13, 230, 232; Raschauer, D Ö V 1976, 701, vermag hier eine rechtliche Betroffenheit nicht zu erkennen - nur faktische Interessen der Kunden würden berührt - , trennt damit nicht zwischen der (bloßen) Betroffenheitsfeststellung und der Grundrechtsrüge, mit der die Verletzung grundrechtlicher Positionen geltend zu machen ist. 217 s. oben 1. 5. und 6. 218 s. 2. 2 9 * s. 3. und 4. 220 Zuck, JuS 1988, 373; Schmidt- Β leibtreu, BayVBl 1965, 291; Schiaich,, S. 114; Schuler, S. 192; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 114. 221 BVerfGE 70, 35, 50. 222 Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 67; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 98; Gusy, Rdn. 113. 223 Battis / Gusy, S. 167; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 114; vgl. auch Zuck, JuS 1988, 373; Schiaich, S. 114; Schmidt-Bleibtreu, BayVBl 1965, 291. 224 BVerfGE 58, 81, 107; 72, 1, 5; Zuck, JuS 1988, 373; Schiaich, S. 114; s. Fn. 222. 225 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 13.
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reicht aber aus, sofern unmittelbar die Norm angegriffen wird. 2 2 6 Insoweit ist die Schweizer Verfassungsbeschwerde nicht unähnlich zur Popularklage. 227 (3) Eine Konsequenz des deutschen, in § 90 Abs. 1 BVerfGG („seiner") die gegenwärtige Betroffenheit normierenden Rechts besteht in der Möglichkeit, daß ein Gesetz zum Zeitpunkt seines Erlasses den Beschwerdeführer noch nicht bzw. nur virtuell betrifft und dann, wenn es ihn aktuell berührt, die Jahresfrist zur Erhebung der Normenbeschwerde nach § 93 Abs. 2 BVerfGG verstrichen ist. Diese Rechtslage bedingt jedoch grundsätzlich 228 keine Verkürzung des Rechtsschutzes, da eine verfassungsgerichtliche Überprüfung des Gesetzes noch nach Erschöpfung des (fachgerichtlichen) Rechtsweges im Rahmen einer Urteilsverfassungsbesch werde möglich ist. 2 2 9 I I . Einzelfälle
1. Legislatives Unterlassen Wird ein gesetzgeberisches Unterlassen gerügt, ist ebenfalls Voraussetzung, daß der Beschwerdeführer auch gegenwärtig betroffen ist. 2 3 0 Die aktuelle Beschwer läßt sich noch nicht damit begründen, daß eben gegenwärtig die vom Beschwerdeführer erstrebte Norm (noch) nicht bestehe, er somit selbst und auch gegenwärtig betroffen sei. Vielmehr muß sich das von ihm begehrte Gesetz aktuell (mit seinem Erlaß) - ebenso wie ein mit der Normenbeschwerde angreifbarer (existenter) Rechtssatz - auf ihn auswirken. Der Beschwerdeführer darf somit nicht eine Rechtsnorm wollen, deren Tatbestand er selber erst zukünftig erfüllt. 2 3 1 Trotz gegenwärtig fehlender Regelung wäre dann eine gegenwärtige Betroffenheit des Beschwerdeführers abzulehnen. Die aktuelle Beschwer läßt sich somit nur aus dem Regelungsgehalt der fiktiven (erstrebten) Norm entnehmen. 2. Drittbegünstigende
Normen 232
Exakt dieselben Grundsätze gelten auch für die gegen drittbegünstigende Normen gerichtete Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer muß die 226 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 13, 14; Huber, S. 10; Schuler, S. 19; Raschauer, D Ö V 1976, 701. 227 Vgl. Schuler, S. 19; zu dieser durch § 90 Abs. 1 BVerfGG ausgeschlossenen Folge s. A . 228 Zur Ausnahme s. unten III. 2. (a) (bb) ((3)). 229 Zuck, JuS 1988, 374; Schiaich, S. 114. 230 Seiwerth, S. 113. 231 Der (noch arbeitende) Beschwerdeführer kann ζ. B. keine ihn erst später betreffende (Renten-)Regelung mit der Verfassungsbeschwerde erstreben. 232 s. Β. II. 3. und 4.
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sofortige (gegenwärtige) Einbeziehung in die Begünstigung erstreben, d. h. die gewünschte Normänderung muß sich mit ihrem Inkrafttreten aktuell auf ihn auswirken. 233 3. Belastende Normen 234 Nur den Beschwerdeführer gegenwärtig belastende Normen sind taugliche Angriffsobjekte der Normenbeschwerde. 4. Resûmé Grundsätzlich erstrebt der Beschwerdeführer durch den Wegfall/Erlaß bzw. die Änderung eines Rechtssatzes eine sich für ihn aktuell ändernde Rechtslage, so daß i. d. R. die gegenwärtige Betroffenheit problemlos feststellbar ist. 2 3 5 I I I . Ausnahmefälle
1. Begründung In Ausnahmefällen kann ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers das Merkmal der gegenwärtigen Betroffenheit überwinden und die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde begründen. Es handelt sich hierbei nicht mehr um eine den §§90 ff. BVerfGG innewohnende Regelung, sondern das BVerfG löst sich selber von diesem Zulässigkeitskriterium unter unmittelbarem Rückgriff auf das Rechtsschutzinteresse. 236 Dieses wiederum entnimmt es dem in Art. 19 Abs. 4 GG zum Ausdruck kommenden Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Da das Merkmal der gegenwärtigen Betroffenheit erfordert, daß der Beschwerdeführer schon und noch 237 betroffen ist, sind als Ausnahmen die Fallgruppen, daß das Gesetz den Beschwerdeführer noch nicht und nicht mehr betrifft, zu unterscheiden.
233 s. Fn. 231. 234 s. Β. II. 1. 5. und 6. 235 Vgl. BVerfGE 32, 173, 181. 236 E. Klein, AöR 108, 593; so auch BVerfGE 72, 1, 5: Das Rechtsschutzinteresse fehlt, wenn der Beschwerdeführer nicht gegenwärtig betroffen ist. 237 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 114.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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2. Fallgruppen a) Das Gesetz betrifft den Beschwerdeführer noch nicht Es handelt sich hierbei um die grundsätzlich zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde führenden Fälle der virtuellen Betroffenheit, in denen der Beschwerdeführer erst zukünftig von der Norm betroffen wird. Ausnahmsweise gewährt die Verfassungsbeschwerde jedoch auch vorbeugenden Rechtsschutz. 238 Innerhalb dieser Fallgruppe sind zwei unterschiedliche Aspekte zu untersuchen. (aa) Das Gesetz entfaltet noch keine Rechtswirkung 239 Darunter ist der schon angesprochene und hierher verwiesene Fall 2 4 0 zu verstehen, daß ein Gesetz zwar schon verkündet, aber noch nicht in Kraft getreten ist. Fraglich ist, ob in diesem Fall ausnahmsweise schon ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Normenbeschwerde anzunehmen ist. ((1)) Grundsätzlich kommt die Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde erst nach dem Inkrafttreten der Regelung in Betracht, da diese eben erst dann ihre Rechtsverbindlichkeit erhält und einen den Antragsteller beschwerenden Eingriff der öffentlichen Gewalt darstellen kann. 2 4 1 Vorher dürfte eine aktuelle Verletzung regelmäßig noch nicht gegeben sein. 242 Ein zwar rechtlich bereits existentes, aber im übrigen wirkungsloses Gesetz kann (noch) keine „Gewalt" sein und somit den Beschwerdeführer noch nicht im Rechtssinn „verletzen". 243 ((2)) Gleichwohl wird die Normenbeschwerde zum Teil 2 4 4 für zulässig erachtet, da es formalistisch sei, die Aktualität eines mit Gewißheit bald eintretenden Ereignisses abzulehnen. ((3)) Eine andere Meinung 245 verweist darauf, daß nur ein besonders schutzwürdiges Interesse ausnahmsweise die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gebieten könne. 238 Anderer Ansicht ist Gusy, Rdn. 114, der aber inkonsequenterweise selber Ausnahmefälle aufführt, in denen vorbeugender verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz geboten ist, Rdn. 115 f. 239 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 114. 240 Vgl. in Fn. 29 die ablehnende Stellungnahme zur Ansicht Pestalozzas, Verfassungsprozeßrecht, S. 114, daß sich dieser Aspekt mit der Frage deckt, ob schon eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt vorliegt. 241 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 89; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 109. 242 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 98. 243 Zuck, V B Rdn. 445, der konsequenterweise eine Verfassungsbeschwerde für unzulässig hält. 244 Leibholz / Rupprecht, § 90 Rdn. 34; vgl. auch Gusy, Rdn. 115; Schenke, S. 136 ff.; Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 556, mit Verweis auf BVerfGE 18, 1,11,12: die Frage wird offengelassen, bei BVerfGE 38, 326, 335 f. allerdings bejaht.
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
((4)) Stellungnahme Die letztgenannte Begründung rechtfertigt diese Ausnahme. Nur das Rechtsschutzbedürfnis (d. h. ein schutzwürdiges Interesse) des einzelnen Beschwerdeführers vermag ausnahmsweise die Abweichung von einem Zulässigkeitskriterium zu begründen, 246 um Rechtsschutzdefizite - und damit eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG - zu vermeiden. 247 Andernfalls würde ohne Grund das Merkmal der aktuellen Betroffenheit generell abgeschwächt. 248 Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Verfassungsbeschwerde kann sich in diesen Fällen deshalb ergeben, um Unbilligkeiten im Einzelfall, d. h. das „Umschlagen einer drohenden Rechtsgefährdung in eine irreparable Rechtsverletzung" zu verhindern. Insoweit muß bei Erhebung der Normenbeschwerde - also noch vor dem Inkrafttreten der Rechtsnorm - eine bereits ernsthaft zu besorgende Grundrechtsgefährdung eine „verletzungsgleiche Beeinträchtigung" 249 hervorrufen. (bb) Das Gesetz ist wirksam, aber der Antragsteller erfüllt seinen Tatbestand noch nicht 2 5 0 Auch unter diesem Aspekt sind weitere Ausnahmen von dem Erfordernis der gegenwärtigen Betroffenheit denkbar. ((1)) Es handelt sich um Fälle, in denen der Beschwerdeführer bereits gegenwärtig - die Norm und deren Regelungsgehalt kennend und berücksichtigend - zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen gezwungen wird. 2 5 1 Es kann sich hierbei insbesondere um umfangreiche finanzielle Dispositionen handeln, etwa wenn der Beschwerdeführer zur Aufrechterhaltung seiner Rechtsposition 252 bereits gegenwärtig - später nicht mehr nachholbare - regelmäßige Beiträge zu entrichten hat. 2 5 3 Die Entbehrlichkeit der gegenwärtigen Beschwer rechtfertigen insbesondere auch ausschließlich den 245 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 89 Fn. 2; § 93 Rdn. 49. 246 Auch BVerfGE 38, 326, 335, läßt sich - trotz fehlender Begründung - von diesem Gedanken tragen. So müssen die Abgeordneten bereits vor der Wahl Gewißheit über etwaige Konsequenzen nach der Wahl - Mandatsneuregelung - haben. Nur aus Rechtsschutzinteressen rechtfertigt sich auch die Normenbeschwerde gegen innerstaatliche, noch nicht in Kraft getretene Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen (nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens). Die verfassungsgerichtliche Kontrolle soll vor der völkerrechtlichen Bindung erfolgen. Vgl. Zeidler, EuGRZ 1988, 207; s. 1. Kap., Β. IX. 247 s. oben 1. a.E. 248 Vgl. Raschauer, D Ö V 1976, 702, der dieses Merkmal für wenig befriedigend hält. 249 Zuck, JuS 1988, 374; Schiaich, S. 114, 115. 250 Vgl Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 114. 2
51 Vgl. Zuck, JuS 1988, 374. U m in den Genuß der später gewährten gesetzlichen Leistung zu kommen. 2 53 BVerfGE 75, 78, 95. 252
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
49
Beschwerdeführer betreffende - somit nicht generelle - Gesetze, wenn klar abzusehen ist, in welcher Weise der Beschwerdeführer betroffen wird, und schon jetzt unkorrigierbare Vorwirkungen bestehen. 254 Vorbeugender verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz ist auch bei sog. „Lenkungsnormen" 255 im Wirtschaftsverwaltungs- und Steuerrecht geboten, da deren Eingriffscharakter sich typischerweise bereits im Vorfeld der Tatbestandserfüllung zeigt. ((2)) Das BVerfG 2 5 6 hat die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde auch dann bejaht, wenn bereits gegenwärtig berechtigte Erwartungen bestehen, daß eine gesetzliche Regelung (ζ. B. ein mit dem Studium angestrebter Berufstitel) nicht später aufgehoben wird. Nach zum Teil 2 5 7 geäußerter Kritik wird hier das Merkmal der aktuellen Betroffenheit sachlich aufgegeben. Bei Erhebung der Normenbeschwerde stehe nämlich keineswegs fest, ob die Beschwerdeführer den Abschluß ihrer Ausbildung überhaupt erleben oder erfolgreich beenden würden. Insoweit reiche offenbar schon aus, daß der Beschwerdeführer „wahrscheinlich demnächst betroffen werde". 2 5 8 Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Mit der sinngemäßen Begründung, die ungewisse Zukunft verbiete verbindliche Aussagen über die Betroffenheit des Beschwerdeführers, ließe sich jede Ausnahme von der gegenwärtigen Beschwer ablehnen. Der Bürger würde jedoch in vielen Fällen rechtsschutzlos gestellt. Die Ausnahmetatbestände resultieren aber gerade daraus, daß der Beschwerdeführer faktisch durchaus schon gegenwärtig betroffen ist, auch wenn er den Tatbestand der Norm noch nicht erfüllt. So wird durch die wegfallende Berufsbezeichnung bereits das gegenwärtig betriebene Studium dadurch partiell entwertet, daß es nicht mehr mit dem bislang verliehenen Titel, der eine (besondere) berufliche Qualifikation zum Ausdruck bringt, abgeschlossen werden kann. ((3)) Allein der drohende Fristablauf für die Erhebung der Normenbeschwerde vermag grundsätzlich keine Ausnahme von der gegenwärtigen Betroffenheit zu rechtfertigen. 259 Eine Verfassungsbeschwerde ist jedoch ausnahmsweise dann zulässig, wenn eine andere Möglichkeit, effektiven Rechtsschutz zu erlangen, ausscheidet,260 so daß Art. 19 Abs. 4 GG gewissermaßen eine prinzipale Normenkontrolle gebietet. 261 254 BVerfGE 74, 297, 320. 2 55 Schenke, S. 123. 256 BVerfGE 26, 246, 251; vgl. auch Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 560. 257 Zuck, V B Rdn. 591 Fn. 104; vgl. Raschauer, D Ö V 1976, 702; Pieroth / Schlink, Rdn. 1251, konstatieren dem BVerfG einen großzügigen Umgang mit dem Merkmal der gegenwärtigen Betroffenheit. 258 Motzer, S. 117; Henning, S. 89; vgl. auch BVerfGE 72, 1, 6 f. mit (zutreffender) ablehnender Meinung. 259 s. I. 3. 260 BVerfGE 74, 297, 320; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 114. 261 Schenke, S. 314; Gusy, Rdn. 210: Um ein Rechtsschutzdefizit zu vermeiden, wird die gegenwärtige Betroffenheit gelockert. 4 van den Hövel
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
((4)) Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß die Ausnahmen nicht das Merkmal der gegenwärtigen Betroffenheit abschaffen, sondern .pur dem Gebot des Art. 19 Abs. 4 GG angemessen Rechnung tragen sollen. Die Schlußfolgerung, die Verfassungsbeschwerde sei zulässig, sofern der Beschwerdeführer „wahrscheinlich demnächst betroffen werde", 2 6 2 bedarf somit des Zusatzes, „und dann einsetzender Rechtsschutz zu spät käme". 2 6 3 b) Das Gesetz betrifft den Beschwerdeführer nicht mehr Grundsätzlich muß der Antragsteller im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde noch betroffen sein, d. h. die Beschwer darf noch nicht weggefallen sein. Die Prüfung dieser Voraussetzung erfolgt i. d. R. unter dem Gesichtspunkt des „Rechtsschutzbedürfnisses" (i. e. S.) als eigenständigem Zulässigkeitskriterium. Das Rechtsschutzbedürfnis müsse noch im Zeitpunkt der Entscheidung bestehen. 264 Es handelt sich hierbei jedoch um den gegenteiligen Ausnahmefall zu a). 2 6 5 Der Beschwerdeführer war einmal gegenwärtig betroffen, ist es zum Zeitpunkt der Erhebung bzw. Entscheidung der Verfassungsbeschwerde jedoch nicht mehr. Entweder ist die Norm aufgehoben worden, 2 6 6 oder der Beschwerdeführer erfüllt nun selbst nicht mehr die gesetzlichen Voraussetzungen. 267 Auch in diesem Fall erfolgt die Prüfung im Hinblick auf die Frage, ob das Rechtsschutzbedürfnis ausnahmsweise - trotz fehlender gegenwärtiger Beschwer - die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gebietet 2 6 8 und ist dementsprechend im Rahmen der gegenwärtigen Betroffenheit vorzunehmen. 269 Ausnahmsweise besteht trotz des Wegfalls der Beschwer (Erledigung) weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis für die Verfassungsbeschwerde. 270 (aa) Dies gilt insbesondere dann, wenn der gerügte Eingriff ein besonders bedeutsames Grundrecht betraf, 271 insbesondere das persönliche Freiheits-
262 s. Fn. 258. 263 Schenke, S. 312, 313. 264 BVerfGE 9, 84, 93; 50, 244, 247; 74, 102, 115; für Zuck, JuS 1988, 373, der einzig erwähnungsbedürftige Prüfungspunkt bei dem Merkmal des Rechtsschutzbedürfnisses. 265 s. auch 1. a. E. 266 Ygi Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 184. 267 Vgl. Gusy, Rdn. 118; Zuck, V B Rdn. 609. 268 Raschauer, D Ö V 1976, 704. 269 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 115; vgl. auch Gusy, Rdn. 117, der das Rechtsschutzbedürfnis für die Ausnahmen betont, Rdn. 132. 270 BVerfGE 23, 208, 223; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 105. 271 Vgl. Gusy, Rdn. 117, 305.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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recht aus Art. 2 Abs. 2 G G 2 7 2 und Art. 104 G G 2 7 3 , aber auch die Grundrechte der Art. 12 Abs. 2 und 3 G G 2 7 4 und 13 G G 2 7 5 . (bb) Gelegentlich wird verlangt, daß diese Voraussetzung kumulativ mit dem Erfordernis des Klärungsbedarfs einer verfassungsgerichtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt. 276 Diese Verknüpfung widerspricht jedoch der Systematik, daß der Rückgriff auf das Rechtsschutzbedürfnis diese Ausnahmen rechtfertige. Bei Verletzung eines bedeutsamen Grundrechts gebietet das Rechtsschutzbedürfnis die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unabhängig davon, ob es sich um eine verfassungsrechtliche Frage von allgemeiner Bedeutung handelt. 277 Umgekehrt vermag allein der Umstand, daß bei Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterblieben wäre, die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde aus Rechtsschutz gründen nicht zu begründen. Diese Ausnahme rechtfertigt sich jedoch aus der besonderen Funktion der Verfassungsbeschwerde, neben dem Schutz individueller Grundrechte auch das objektive Verfassungsrecht zu wahren und seiner Auslegung und Fortbildung zu dienen. 278 Sie ist somit unabhängig von der Verletzung eines besonders bedeutsamen Grundrechts. 279 (cc) Die Verfassungsbeschwerde ist auch dann zulässig, wenn streitig ist, ob überhaupt eine Erledigung vorliegt. 280 (dd) Ausnahmen können ferner daraus resultieren, daß der Beschwerdeführer weiterhin durch das gegenstandslos gewordene Gesetz (faktisch) beeinträchtigt wird bzw. dieses Voraussetzung belastender Afac/zwirkungen ist. 2 8 1 Als Beispielsfälle kommen die Minderung des Ansehens oder die bleibende Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit in Betracht. 282
272
BVerfGE 50, 244, 247; 58, 208, 219. 273 BVerfGE 76, 363, 381. 274 BVerfGE 74, 102, 115. 275 B V e r f G E 51, 97, 105; 57, 346, 354; 76, 83, 89.
276 BVerfGE 33, 247, 257; 69, 315, 341; 75, 318, 326; so auch Zuck, V B Rdn. 610. 277 BVerfGE 10, 302, 308; 74, 102, 115, und Gusy, Rdn. 117, 305, stellen (richtigerweise) nur auf das bedeutende Grundrecht ab. 278 BVerfGE 33, 247, 259; 51, 130, 139; 75, 318, 326. Diese Systematik kommt auch in den beiden Alternativen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG zum Ausdruck, bestimmt primär das Subsidiaritätsprinzip mit. s. 2. Abschnitt, 3. Kap., C. IX. 2. (c) und 2. Abschnitt, Fn. 523. 279 Als eigenständiger Prüfungspunkt (richtigerweise) auch von Gusy, Rdn. 117, aufgeführt; vgl. auch E. Klein, AöR 108, 595; Pieroth / Schlink, Rdn. 1273; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 132. 280 BVerfGE 75, 318, 326. 28 1 Gusy, Rdn. 117; Zuck, VB Rdn. 612. 2 2 8 BVerfGE 15, 226, 230; 50, 244, 247; vgl. auch BVerfGE 51, 97, 105; Gusy, Rdn. 117; E. Klein, AöR 108, 595; Pieroth / Schlink, Rdn. 1273. 4=:-
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
(ee) Resiimé Die Ausnahmegruppe b) wird im wesentlichen von zwei Rechtsschutzgedanken beherrscht. Einerseits sollen zeitliche Umstände, die dem Einfluß des Beschwerdeführers weitgehend entzogen sind, nicht die Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Sachentscheidung bestimmen 283 - er kennt i. d. R. weder den Zeitpunkt des Wegfalls der Beschwer noch der Entscheidung des BVerfG; andererseits muß di e faktische Betroffenheit, die - nach dem Wegfall der rechtlichen Beschwer 284 - durchaus identische (Nach-)Wirkungen haben kann, ausreichen, um das untragbare Ergebnis zu vermeiden, daß es andernfalls aus Rechtsschutzgründen „günstiger" wäre, rechtlich statt faktisch betroffen zu sein. 285 3. Kapitel Behauptung einer Verletzung der in § 90 Abs. 1 B V e r f G G aufgeführten (Grund-) Rechte A . Grundsätze Aus der Feststellung, daß die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Rechtsnorm den Beschwerdeführer in rechtlich geschützten Interessen aktuell tangiert, folgt noch nicht die Verletzung dieser Rechte. Die Beschwer bedingt nicht in jedem Fall den rechtswidrigen Grundrechtseingriff. Die Verletzung von Grundrechten ist vielmehr als weiterer Schritt im Rahmen der Beschwerdebefugnis nach dem Wortlaut des § 90 Abs. 1 BVerfGG zu „behaupten", wobei eine effektive, nicht eine bloß drohende Verletzung eines der in § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführten Rechte gerügt werden muß. 2 8 6 Da der Beschwerdeführer schon selbst betroffen sein muß, darf er zulässigerweise auch nur die Verletzung eigener Grundrechte rügen. 287 Insoweit ist eine Zusatzrüge, daß neben der Verletzung eigener Rechte auch Rechte Dritter mitverletzt seien, unzulässig.288 Ansonsten ließen sich über diesen Umweg doch wieder Elemente der Popularklage in das Verfassungsbeschwerdeverfahren einflechten.
283 BVerfGE 76, 1, 38 f. 284 Die Norm tangiert den Grundrechtsbereich des Betroffenen nicht mehr. 285 Der „rechtlich" Betroffene kann gegen das ihn beschwerende Gesetz die Verfassungsbeschwerde erheben. 286 BVerfGE 66, 39, 57; Wintrich / Lechner, S. 679. 287 BVerfGE 73, 40, 68; 77, 84, 101; Brox, S. 54; Schmidt-Bleibtreu, BayVBl 1965, 291. 288
BVerfGE 73, 40, 68.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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Β. Theorien Problematisch ist, welche Anforderungen an die „Behauptung" der Grundrechtsverletzung ( = Grundrechtsrüge 289 ) zu stellen sind. Zumindest als Ausgangspunkt läßt sich auf die ähnlich gelagerte Problematik im Verwaltungsprozeßrecht zurückgreifen und auf die Verfassungsbeschwerde, den Besonderheiten angepaßt, übertragen. I. Schlüssigkeitstheorie
(1) Nach der Schlüssigkeitstheorie ist die Verfassungsbeschwerde nur zulässig, wenn die Subsumtion des tatsächlichen Beschwerdevorbringens unter den gesetzlichen Tatbestand die Rechts Verletzung schlüssig erkennen läßt. 2 9 0 Der Beschwerdeführer muß danach Tatsachen vortragen, aus denen schlüssig die Rechtsverletzung abgeleitet werden kann. 2 9 1 (2) Stellungnahme Die Konsequenz dieser Auffassung besteht darin, daß im Rahmen der Begründetheit nur noch zu prüfen ist, ob die behaupteten erheblichen Tatsachen vorliegen. 292 Es müßte nur noch die tatsächliche Rechtsverletzung festgestellt werden. 293 Damit würde jedoch die ausschließlich zur Begründetheit gehörende materiell-rechtliche Prüfung der Schlüssigkeit bereits bei der Feststellung der Beschwerdebefugnis erfolgen und damit in die Zulässigkeit (vor-) verlagert. 294 Die Feststellung der Rechts Verletzung ist jedoch Streitgegenstand der Verfassungsbeschwerde und hat mit der Zulässigkeit materiell nichts zu tun. 2 9 5 Der Gedanke der Zweiteilung des Prozesses in eine Zulässigkeitsund Begründetheitsprüfung würde (faktisch) aufgegeben. 296 Diese Theorie läßt sich somit weder für das Verwaltungs- noch für das Verfassungsbeschwerdeverfahren dogmatisch begründen, widerspricht im übrigen diametral der in § 90 Abs. 1 BVerfGG lediglich geforderten „Behauptung" einer Grundrechtsverletzung.
289 s. Fn. 60. 290 Menger, VerwArch. 48, 353 f. 291 Menger, VerwArch. 49, 77. 292 Brox, S. 55; Lüke, AöR 84, 214. 293 Brox, S. 60. 294 Kidder, JZ 1968, 377; Lüke, AöR 84, 214; befürwortend Bleckmann, S. 318, der alle Voraussetzungen materieller Grundrechtssicherung schon in der Zulässigkeit prüfen will. 295 Brox, S. 60. 296 Lüke, AöR 84, 214.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze I I . Begrenzte Schlüssigkeitstheorie
(1) Aufgrund der oben dargestellten Bedenken wird von einem Teil des Schrifttums 297 eine moderate, sog. „begrenzte Schlüssigkeitstheorie" vertreten. Danach muß der Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers lediglich dessen rechtliche Betroffenheit, nicht aber dessen Verletzung, erkennen lassen298. Der Antragsteller muß substantiiert nur darlegen, daß er in seinen Grundrechten negativ berührt ist. 2 9 9 Die tatsächliche Rechtsverletzung braucht danach mit der Grundrechtsrüge nicht aufgezeigt zu werden. (2) Brox 3 0 0 hält dieser Theorie entgegen, daß auch die - im Gegensatz zur Rechts Verletzung nur auf die Rechtsbeeinträchtigung bezogene - begrenzte Schlüssigkeitsprüfung nichts bei der Feststellung der Zulässigkeit zu suchen habe. (3) Stellungnahme Die Kritik läßt sich für das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht aufrechterhalten. Eine Zulässigkeitsvoraussetzung besteht gerade darin, daß der Beschwerdeführer selbst und gegenwärtig in grundrechtlichen Positionen betroffen ist. 3 0 1 Diese Betroffenheit hat sich eindeutig aus dem Sachvortrag zu ergeben. Gleichwohl ist die begrenzte Schlüssigkeitstheorie für das Verfassungsbeschwerdeverfahren abzulehnen. Andernfalls hätte die Grundrechtsrüge, mit der nach § 90 Abs. 1 BVerfGG ausdrücklich die Verletzung (und nicht nur die Betroffenheit (!)) von Grundrechten „behauptet" - d. h. in irgendeiner Weise dargelegt - werden muß, keinen eigenständigen, über die bloße Aufzeigung der rechtlichen Betroffenheit hinausführenden Sinn. Dann bestünde in vielen Fällen der relativ leicht nachzuweisenden „faktischen" Betroffenheit 302 die Gefahr der Popularklage 303 . Die begrenzte Schlüssigkeitstheorie wird somit dem Wortlaut des § 90 Abs. 1 BVerfGG und damit den Besonderheiten des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nicht gerecht.
297 Ridder, JZ 1968, 377; Lüke, AöR 84, 211, 213. 298 Ridder, JZ 1968, 377. 299 Lüke, AöR 84, 211, 213; vgl. auch die Wiedergabe bei Haug, S. 25, 28. 300 Brox, S. 56. 301 Vgl. die Ausführungen zur Betroffenheit, 2. Kap., A . 302 Der Beschwerdeführer ist zwar nicht Adressat des Gesetzes, aber gleichwohl von ihm betroffen, s. 2. Kap., Β. I. 2. und II. 5. und 6. 303 Gerade die Grundrechtsrüge soll den „weiten" Betroffenheitsbegriff „korrigieren", s. 2. Kap., Β. I. 2. (e) (dd).
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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I I I . Möglichkeitstheorie
Überwiegend wird die sog. „Möglichkeitstheorie" schwerde vertreten.
für die Verfassungsbe-
1. Rechtslehre (a) Nach einem Teil der Rechtslehre 304 muß die „Behauptung" der Grundrechtsverletzung so „schlüssig" aufgestellt werden, daß die Rechtsverletzung nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers als möglich erscheint. (b) Ein anderer Teil der Literatur 305 kritisiert die Widersprüchlichkeit dieser Definition. Schlüssig sei die Behauptung dann, wenn sich nach dem Tatsachenvortrag die Verletzung zwingend ergäbe - und nicht eben nur möglich sei. Die Kritik weist dogmatisch zutreffend auf den Dualismus beider Theorien hin. 3 0 6 Eine zwingende Rechtsverletzung ist nicht bloß möglich - umgekehrt ergibt sich aus der bloßen Möglichkeit nicht zwingend die Verletzung. Die Literatur versteht den Schlüssigkeitsbegriff aber anders als im herkömmlichen, ζ. B. im Zivilprozeß gebrauchten Sinn, 307 modifiziert nicht etwa die Schlüssigkeitstheorie, sondern stellt trotz des unpräzisen Wortlautes ausschließlich auf die „Möglichkeit" der Grundrechtsverletzung ab. Diese muß sich aus einer ausreichend substantiierten Rechtsverletzungsbehauptung ergeben. 3 0 8 Der Sachvortrag des Beschwerdeführers muß somit die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung erkennen lassen. 309 (c) Das Problem besteht jedoch darin, festzustellen, wann (bereits) die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung gegeben ist. 3 1 0 Wie „stark" muß sie sein, 311 welche Qualität ist erforderlich? Es erscheint unmöglich, positiv eine Intensitätsstufe festzulegen, ab der die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung erkennbar wird. Vielmehr kommt nur eine negative Abgrenzung in Betracht. Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung dann nicht hinreichend „behauptet", wenn er durch die Verfassungsbeschwerde ein Interesse verfassungsrechtlich schützen lassen will, das in keinem
304
Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 67; Büsser, S. 85; Zuck, JuS 1988, 373; Geiger, EuGRZ 1988, 484; Gusy, Rdn. 64, verweist auf BVerfGE 49, 1, 8; vgl. auch Seiwerth, S. 40. 305 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 109; Brox, S. 55 f. 306 Einerseits Schlüssigkeits-, andererseits Möglichkeitstheorie. 307 Darauf weist Büsser, S. 44, hin. 308 Stern, S. 1019. 309 Vgl Pestalozza, S. 91, wonach die Verletzung als möglich erscheinen muß. 310
Vgl. Erichsen, VerwArch. 67, 188. » Haug, S. 31.
3
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
denkbaren Fall grundrechtlich geschützt ist. 3 1 2 Die Verletzungseignung der gerügten Norm (über die Betroffenheitseignung hinaus) muß feststehen. Die von Erichsen 313 angeführten Beispiele, in denen eine Grundrechtsverletzung von vornherein ausgeschlossen ist, etwa wenn eine Maßnahme keine unmittelbare Außenwirkung hat bzw. den Beschwerdeführer nicht selbst, gegenwärtig und unmittelbar betrifft, überzeugen hingegen nicht, da die Zulässigkeit in diesen Fällen bereits aus anderen, vorher zu prüfenden Gesichtspunkten ausscheidet. Es kann sich vielmehr nur um einen Lebenssachverhalt handeln, bei dem trotz rechtlicher Betroffenheit evident ist - möglicherweise wegen bereits ähnlicher, schon entschiedener Fälle - , daß die Einschränkung grundrechtlicher Freiheiten rechtmäßig erfolgt. 2. Judikatur Auch das BVerfG steht auf dem Boden der Möglichkeitstheorie. Klingt auch in früheren Entscheidungen 314 noch eine Schlüssigkeitsprüfung an, so ersetzt es in neuerer Rechtsprechung - ebenso wie ein Teil der Rechtslehre 315 - den ungenauen Terminus der „schlüssigen Behauptung" durch „substantiierte Ausführungen". So verlangt es „substantiierte Ausführungen und Darlegungen, die die Verletzung von Grund- bzw. grundrechtsgleichen Rechten hinreichend deutlich machen". 316 Dabei stützt sich das BVerfG auf die normative Grundlage der §§ 23 Abs. 1; 92 BVerfGG. 3 1 7 Nach § 92 BVerfGG ist das als verletzt behauptete Recht zu bezeichnen, eine ausdrückliche Angabe des Artikels ist allerdings nicht erforderlich. 318 Dem Beschwerdeführer werden keine Äec/zteausführungen abverlangt. 319 (a) Zum Teil stellt das BVerfG 3 2 0 strenge Anforderungen an die „Möglichkeit" der Grundrechtsverletzung. Die konkrete (behauptete) Grundrechtsverletzung muß derart dargelegt werden, daß deutlich wird, wie das Grundrecht ohne Behinderung ausgeübt worden wäre. 321 Der Beschwerdeführer hat somit 312
Erichsen, VerwArch. 67, 189; Pieroth / Schlink, Rdn. 1237; diese Alternative zu seinem Modell, s. Fn. 294, zeigt auch Bleckmann, S. 319, auf. 313 Erichsen, VerwArch. 67, 191, 192. BVerfGE 18, 1, 10; 16, 147, 160. 3 15 Schiaich, S. 106. 3 16 BVerfGE 54, 363, 372; 68, 176, 184; 74, 358, 369; 77, 170, 216; 79, 1, 16; vgl. Zuck, JuS 1988, 373. 317 BVerfG NJW 1988, 328; vgl. auch NJW 1987, 1689. 3 18 Zuck, JuS 1988, 373. 319 Geiger, EuGRZ 1988, 482. Dies wäre dem juristischen Laien (kein Anwaltszwang vor dem BVerfG) auch gar nicht möglich. Insofern ist Erichsen, VerwArch. 67, 187, unverständlich, der ausführt, daß der allgemeine Rechtsgrundsatz „da mihi factum, dabo tibi ius" nicht mehr gelte. 320 Seibert, S. 503, spricht von einer „erheblichen Hürde". 321 BVerfGE 75, 201, 216; 77, 275, 281 (zur Verletzung von Art. 103 GG): Was hätte der Beschwerdeführer bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs an zusätzli-
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
substantiiert auszuführen, was er tun mußte und/oder nicht tun durfte, angegriffene Maßnahme dies verlangte. 322
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weil die
(b) Dann wieder lockert das BVerfG 3 2 3 seine verbale Restriktion und verlangt unter Hinweis auf § 92 BVerfGG nur, daß das Vorbringen des Beschwerdeführers erkennen lassen müsse, inwiefern die beanstandete Regelung Grundrechte verletzen könne. Dies kommt der oben dargestellten 324 „negativen" Abgrenzung nahe, wonach im konkreten Fall lediglich eine Verletzung grundrechtlich geschützter Interessen nicht von vornherein ausgeschlossen sein darf. Der jeweils unterschiedliche Wortlaut darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß immer nur - den Sachvortrag des Beschwerdeführers als richtig unterstellt - die Verletzung des gerügten Grundrechts möglich erscheinen muß. 3 2 5 (c) Das oben erläuterte Problem, welche Anforderungen an die „Möglichkeit" gestellt werden (und damit an die Qualität des Sachvortrages), löst die Rechtsprechung allerdings auch nicht. Je substantiierter die Ausführungen sein müssen, um so mehr führt das naturgemäß zu einer Verschärfung der Intensitätsstufe der „Möglichkeit", ohne daß eine konkrete Grenzziehung möglich wäre. 326 Hierin zeigt sich gerade das Problem der fehlenden eindeutigen Bestimmung - gibt sie dem BVerfG die Möglichkeit, je nach Arbeits- und Belastungsintensität an der Zulässigkeitsspirale zu drehen und mit einer vorweggenommenen Begründetheitsprüfung bereits die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mit dem Argument einer unzureichenden, die Grundrechtsverletzung nicht hinreichend substantiierten Grundrechtsrüge abzulehnen. (d) Eindeutig nicht nur negativ grenzt das BVerfG bei der Rüge der Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG ab. Hier bejaht es die „Möglichkeit" einer Grundrechtsverletzung nicht schon deshalb, weil diese nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint. Wird der Beschwerdeführer durch eine belastende Maßnahme betroffen, so kann er in jedem Fall in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt sein; 327 eine Grundrechtsverletzung erscheint in diesen Fällen grundsätzlich immer möglich. Gleichwohl reicht der bloße Hinweis, das den Antragsteller belastende Gesetz verletze jedenfalls Art. 2 Abs. 1 GG, nicht aus. Vielmehr ist die konkrete Verletzung eher Information vorgetragen, die nun nicht berücksichtigt worden ist? Sehr plastisch Gusy, Rdn. 217: Der Beschwerdeführer muß rügen, daß und was er noch vorgetragen hätte. 322 So präzise Gusy, Rdn. 227, der auf die Rechtsprechung Bezug nimmt. 323 BVerfGE 75, 78, 96; 76, 1, 37: Die Verletzung erscheint nicht ausgeschlossen. 324 s. oben 1. (c). 325 So nüchtern und zutreffend BVerfGE 73, 40, 67; auch BVerfGE 77, 170, 220; 80, 137, 150. 326 Vgl. BVerfG NJW 1988, 2289, wonach sich aus dem Vortrag des Beschwerdeführers mit „hinreichender Deutlichkeit" die „Möglichkeit" einer Grundrechtsverletzung ergeben muß. 327 Adressatentheorie, vgl. Kopp, § 42 Rdn. 42 a, 79 m. w. N.
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
im Einzelfall substantiiert darzulegen, etwa, eine nichtige und damit nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung gehörende Norm sei angewendet worden, 328 der Gesetzgeber habe für eine Regelung die „falsche" Form (formelles Gesetz statt Rechtsverordnung/Satzung) gewählt 329 bzw. sei unzuständig gewesen330 oder habe das Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG verletzt 331 . (e) Eine derartige „Verschärfung" der Möglichkeitstheorie erscheint in diesen Fällen geboten. Würde nämlich die sich bereits aus der Betroffenheitsfeststellung ergebende „Möglichkeit" der Grundrechtsverletzung für die Beschwerdebefugnis ausreichen, so bedürfte es keiner eigenständigen Grundrechtsrüge mehr. Da i. d. R. eine belastende Norm angegriffen wird, 3 3 2 könnte grundsätzlich nach der Feststellung der Betroffenheit immer auf die „Möglichkeit" der Verletzung des (Auffang-)Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG verwiesen werden, ohne daß es einer präzisen Rüge der eigentlichen Verletzung bedürfte; die Grundrechtsrüge würde faktisch bedeutungslos. Dies wäre angesichts der expliziten Regelung des § 90 Abs. 1 BVerfGG ein offensichtlich untragbares Ergebnis. Insbesondere in den Fällen fehlender Adressatenstellung des Beschwerdeführers würde die Gefahr der Popularklage bestehen. 3 3 3 Die (neutrale) Feststellung der Betroffenheit zeigt nur an, daß der Freiheitsbereich des Grundrechts (aus Art. 2 Abs. 1 GG) tangiert ist, trifft aber dabei über die Wahrscheinlichkeit der Verletzung keinerlei Aussage. Die Frage, ob die Norm formell und materiell verfassungsmäßig ist, bleibt unbeantwortet. Eine mit der Grundrechtsrüge allenfalls noch erhobene „Behauptung" der Grundrechtsverletzung würde an deren Wahrscheinlichkeit nichts ändern, wäre somit als Zulässigkeitskriterium irrelevant. Soll die Grundrechtsrüge aber auch in diesen Fällen ihre über die Feststellung der Betroffenheit des Beschwerdeführers hinausführende eigenständige Bedeutung behalten, so ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG substantiiert durch die Rüge, die angegriffene Rechtsnorm sei nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung, geltend zu machen. Es handelt sich hierbei um keine vorweggenommene Begründetheitsprüfung; die jeweilige Substantiierungspflicht darf nicht überbewertet werden. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG wird schon bei jedem Verstoß gegen irgendeinen Satz des objektiven Verfassungsrechts verletzt. 3 3 4 Eine die Freiheit des Bürgers beeinträchtigende Rechtsnorm gehört schon dann nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung und verletzt somit Art. 2 Abs. 1 GG, wenn sie formell oder inhaltlich gegen einzelne Verfassungsbe32
8 BVerfGE 65, 297 LS. 329 BVerfGE 70, 35, 42. 330 Schiaich, S. 108. 331 BVerfGE 60, 360, 371; Schiaich, S. 108. 332 Ausnahmen: Unterlassen/drittbegünstigende Normen, s. 2. Kap., Β. II. 1. bis 3. 333 s. 2. Kap., Β. I. 2. (e) (dd). 334 BVerfGE 75, 108, 146 - 153; Zuck, JuS 1988, 371; Schlaich, S. 108.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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Stimmungen verstößt. 335 Der Beschwerdeführer muß dementsprechend zur Darlegung einer Grundrechtsverletzung aus Art. 2 Abs. 1 GG (lediglich) die objektive Rechtswidrigkeit einer ihn belastenden Norm glaubhaft machen können. 336 3. Begründung für die Möglichkeitstheorie (a) Gusy 337 begründet den Rückgriff auf das Möglichkeitskriterium des Verwaltungsrechts damit, daß der Beschwerdeführer sich nicht in bloßer Redeweise erschöpfen könne, um die Popularklage effektiv auszuschließen. (b) Stellungnahme Diese Begründung, die Möglichkeitstheorie sei zur Vermeidung der Popularklage erforderlich, vermag nur für den Ausnahmefall zu überzeugen, daß der Beschwerdeführer betroffen ist, ohne Adressat der Norm zu sein. 338 Der Beschwerdeführer behauptet immer nur eine eigene - und keine fremde Grundrechtsverletzung, wenn er diese aus der eigenen Betroffenheit herleitet. 3 3 9 Selbst wenn die Möglichkeit einer effektiven Grundrechtsverletzung von vornherein ausscheidet, weil etwa die Rechtmäßigkeit der Norm evident ist, führt das zur Unbegründetheit der Verfassungsbeschwerde, nicht aber zur Popularklage. Fremde Grundrechte sind nicht Gegenstand der Sachentscheidung. Nur in dem Ausnahmefall, daß die Prüfung der eigenen, aktuellen Betroffenheit die Popularklage noch nicht auszuschließen vermag, 340 bedarf es der Möglichkeitstheorie zur „Korrektur". Den Beschwerdeführer trifft dann gewissermaßen eine gesteigerte Substantiierungspflicht, die Grundrechtsverletzung durch eine ihn nicht adressierende Norm darzulegen. (c) Die Möglichkeitstheorie wird vielmehr von dem Gedanken getragen, das BVerfG vor Mißbrauchsfällen bzw. offensichtlich unbegründeten Verfassungsbeschwerden zu schützen. Dem Beschwerdeführer werden insoweit keine differenzierten, ihn möglicherweise als juristischen Laien ohne Rechtsanwalt überfordernden Rechtsausführungen abverlangt; 341 vielmehr soll dem BVerfG angesichts seiner Überlastung nur dann eine Sachentscheidung zugemutet werden, wenn diese wirklich zur Feststellung von Grundrechtsverlet335
BVerfGE 6, 32 LS 4; Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rdn. 26; Bettermann, AöR 86, 137 f.; Schenke, JuS 1981, 87. 33 * Vgl. Schenke, S. 320, 322. 337 Gusy, Rdn. 64. Diese Argumentation klingt schon bei Battis / Gusy, S. 166, an. 338 s. 2. Kap.,B. II. 5. 6. 339 Sofern keine Zusatzrüge erfolgt; s. A . a. E. 340 Wenn der Beschwerdeführer trotz fehlender Adressatenstellung ausnahmsweise selbst betroffen ist, s. Fn. 338. 341 Vgl. Geiger, EuGRZ 1988, 482.
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
zungen erforderlich ist - nicht aber dann, wenn eine Grundrechtsverletzung (trotz der Betroffenheit des Beschwerdeführers) offensichtlich ausscheidet. Insofern soll mit Hilfe der Möglichkeitstheorie die Zahl der Anträge auf die wirklich entscheidungsbedürftigen Verfassungsbeschwerden reduziert werden. Die Möglichkeitstheorie im hier verstandenen - weiten 342 - Sinn beläßt sowohl der Grundrechtsrüge als Bestandteil der Beschwerdebefugnis als auch der Begründetheit im Rahmen der materiellen Rechtsprüfung ihre eigenständige Bedeutung, 343 schützt das BVerfG aber durch das „Ausfiltern" von Mißbrauchsfällen bzw. offensichtlich unbegründeten Anträgen vor unnötiger Inanspruchnahme. 344 I V . Theorie von Haug
(1) Einen anderen Ansatz vertritt Haug. 3 4 5 Er lehnt die Möglichkeitstheorie ab. 3 4 6 Die Beschwerdebefugnis besage nicht, daß die Verletzung möglich sein müsse. Die Lösung sei vielmehr über § 92 BVerfGG zu suchen. Danach müsse der Beschwerdeführer substantiiert behaupten, durch die öffentliche Gewalt (hier durch ein Gesetz) verletzt zu sein, und somit Tatsachen vortragen, die einer Individualisierung dienen. Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig, wenn sein Vortrag ergäbe, daß er durch einen Hoheitsakt in Grundrechten verletzt zu sein glaube, gleich, ob die Rechtsverletzung möglich sei oder nicht. 3 4 7 (2) Stellungnahme Dieser Auffassung ist entgegenzuhalten, daß sie kaum praktikabel ist. Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde muß sich nach dem objektiven Begehren des Beschwerdeführers richten, darf nicht von seiner subjektiven Einstellung, die sich irgendwie äußert und kaum verifizieren läßt, abhängen. Die meisten Beschwerdeführer, die den Weg zum BVerfG wählen, gehen wohl davon aus, durch die öffentliche Gewalt in grundrechtlich geschützten Interessen verletzt zu sein. Der strikt an seine Verletzung glaubende, aber offensichtlich rechtmäßig behandelte Beschwerdeführer könnte somit leichter eine Sachentscheidung des BVerfG herbeiführen als der zweifelnde, aber tatsächlich Verletzte - ein offensichtlich untragbares Ergebnis! 342 Das Möglichkeitskriterium wird durch die „negative Abgrenzung" bestimmt, s. 1. (c). 343 Nach Geiger, EuGRZ 1988, 484, ergibt sich die Möglichkeitstheorie bereits (unmittelbar) aus § 90 Abs. 1 BVerfGG. 344 Gleichwohl führt sie nach Zuck, V B Rdn. 561 Fn. 115, zu weit, da auch die objektive Feststellung der Verletzungseignung des Gesetzes einen Teil der Begründetheitsprüfung in die Zulässigkeitskontrolle einbeziehe. 345 Haug, S. 54. 346 Haug, S. 31. 347 Haug, S. 34.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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V . „Behauptungs"-Theorie
(1) Der Kritik an der Möglichkeitstheorie schließt sich ein weiterer Teil der Rechtslehre an. Auch hierbei werde bereits eine Vorbedingung für die Begründetheit in die Zulässigkeit verlagert 348 und ein Teil der Sachprüfung des Beschwerdeführers vorab im Rahmen einer summarischen Überprüfung vorgenommen. Zur Begründetheitsprüfung gehöre dann nur noch die Feststellung der tatsächlichen Rechtsverletzung. Diese sei aber Streitgegenstand der Verfassungsbeschwerde, habe folglich mit der Zulässigkeit nichts zu tun. 3 4 9 (2) Diese Meinung 350 propagiert vielmehr die reine Wortlautlösung. Da bereits feststehe, daß der Beschwerdeführer beschwert sei, reiche die bloße Behauptung der Grundrechtsverletzung aus. Es komme nicht darauf an, ob das Recht verletzt sein könne. 3 5 1 Die Verfassungsbeschwerde sei somit auch dann zulässig, wenn sich auf den ersten Blick erkennen lasse, daß Grundrechte des Beschwerdeführers nicht verletzt seien. 352 Erst im Rahmen der Begründetheit müsse dann entschieden werden, ob der angefochtene Hoheitsakt wirklich Grundrechte verletze. 353 Durch diese Praxis entstehe auch kein erhöhter Arbeitsaufwand; das BVerfG brauche nicht mehr Zeit zu verwenden als jetzt schon, um im Rahmen der Zulässigkeit die Begründetheitsprüfung vorwegzunehmen. 354 (3) Stellungnahme (a) Die Argumentation, der Arbeitsaufwand sei identisch, ob nun die Verfassungsbeschwerde als unzulässig oder unbegründet abgewiesen werde, verkennt, daß in dem verfeinerten System von Präsidialräten/Kammern/Senaten viele offensichtlich unzulässige Verfassungsbeschwerden bereits gar nicht mehr zur richterlichen (zumindest aber nicht mehr zur Senats-)Entscheidung gelangen. Im übrigen erspart eine bereits mangels hinreichender Grundrechtsrüge unzulässige Verfassungsbeschwerde weitere Zulässigkeitsprüfungen 355 und kann darüber hinaus zu einer kürzeren Begründung als eine (ablehnende) Sachentscheidung führen. (b) Die an der herrschenden Möglichkeitstheorie geäußerte Kritik ist dogmatisch aber insoweit zutreffend, als Zulässigkeitsfragen frei von Begründet348
Schneider, AöR 89, 36. Brox, S. 60. 350 Brox, S. 62; Henke, JZ 1962, 628, für den Verwaltungsprozeß; Schneider, AöR 89, 35, 37. 351 Schneider, AöR 89, 35, 37. 3 52 Brox, S. 63. 353 Brox, S. 64. 3 54 Schneider, AöR 89, 35, 37. 355 Insbesondere umfangreiche Subsidiaritätserwägungen. 349
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
heitsproblemen sind bzw. sein sollen. 356 Insofern ist die Möglichkeitstheorie dann abzulehnen, wenn sie dazu führt, mangels konkreter Bestimmung des Möglichkeitskriteriums die Begründetheitsprüfung derart in die Zulässigkeit (vor-)zuverlagern, daß die Grundrechtsrüge nur dann erfolgreich, d . h . hinreichend substantiiert ist - eine Verletzung nur dann „möglich" erscheint - , wenn auch die Verfassungsbeschwerde insgesamt erfolgreich, d. h. begründet ist. 3 5 7 Eine die „Möglichkeit" nur negativ ausgrenzende Möglichkeitstheorie 358 unterliegt dieser Kritik jedoch nicht; sie kommt der obigen Dogmatik sehr entgegen, schützt das BVerfG aber vor unnötiger Inanspruchnahme und beläßt der Grundrechtsrüge ihren selbständigen Sinn. 359 (c) Die vorgeschlagene Lösung, aufgrund der bereits festgestellten Beschwer reiche die bloße Behauptung aus, ist nur scheinbar wortlautgetreu, da sie der Grundrechtsrüge ihre eigenständige Bedeutung nimmt. Eine bloße Behauptung ohne daran geknüpfte Anforderungen ist rechtlich irrelevant und somit entbehrlich. C. Einzelfälle In einigen Fällen ist die Grundrechtsrüge problematisch und bedarf einer näheren Erläuterung. Die grundsätzliche Thematik ist dadurch gekennzeichnet, daß der Beschwerdeführer sich entweder gegen eine ihn belastende Norm wehrt oder von einer bislang nicht existenten oder nur drittbezogenen Norm profitieren möchte. 360 In diesen beiden Fällen muß er mit der Grundrechtsrüge die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung aufzeigen, indem er - vereinfacht formuliert - entweder einen Unterlassungsanspruch 361, anders ausgedrückt, einen'Anspruch auf das ihm von der Norm Verwehrte geltend machen 362 oder aber einen Leistungsanspruch auf Erlaß/Änderung eines Gesetzes aufzeigen muß. Im ersten Fall sucht er Schutz vor, im zweiten „Schutz" (d. h. Schutzpflichterfüllung, Leistungsgewährung, Teilhabe) durch die Norm.
356
Der „klassische" Fall dazu findet sich etwa im Zivilprozeß. 57 s. III. 2. (c). 358 Vgl j m einzelnen III. 1. (c) und 3. (c). 3
359
Somit folgt sie gewissermaßen aus § 90 Abs. 1 BVerfGG; vgl. Geiger, EuGRZ 1988, 484 sowie Fn. 343. 360 s. 2. Kap., B . I I . 1. bis 6. 3 *i Vgl. Gallwas, FB S. 162. 362 Vgl. BVerfGE 76, 248, 252.
1.
: e
s
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der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
I. Legislatives Unterlassen (Verletzung von Verfassungsaufträgen)
(1) Greift der Antragsteller mit der Verfassungsbeschwerde ein legislatives Unterlassen an, so ist die Darlegung einer Grundrechtsverletzung problematisch. Der Erlaß von Rechtsnormen steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gesetzgebers. Grundsätzlich hat niemand einen Anspruch auf den Erlaß eines Gesetzes und damit auf ein Handeln des Gesetzgebers. Auch das BVerfG darf nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten. 363 Insoweit wird dem Einzelnen kein Schutz gewährt. Somit kann grundsätzlich legislatives Unterlassen keine Grundrechte verletzen. Dementsprechend ist auch eine, die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten hinreichend substantiiert aufzeigende Grundrechtsrüge i. d. R. nicht denkbar. Normalerweise kann nur ein erlassenes Gesetz, nicht aber ein legislatives Unterlassen Grundrechte verletzen und dementsprechend mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. 364 (2) Eine hinreichend substantiierte Grundrechtsrüge ist ausnahmsweise dann denkbar, wenn eines der in § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführten (Grund-) Rechte dem Gesetzgeber eine Handlungsp/7/c/tf zum Erlaß eines Gesetzes auferlegt und dementsprechend bei Untätigkeit verletzt wird. 3 6 5 (a) Im einzelnen sind drei Komponenten erforderlich, um eine Grundrechtsverletzung objektiv feststellen zu können. (aa) Der Gesetzgeber muß objektiv verfassungsrechtlich verpflichtet sein, ein Gesetz zu erlassen. 366 Eine derartige Verpflichtung wird durch einen ausdrücklichen Verfassungsauftrag begründet, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im wesentlichen umgrenzt hat. 3 6 7 Es bedarf somit zunächst einmal der positiven Feststellung einer verfassungsrechtlichen Norm, welche die Legislative zu einem spezifischen Tun verpflichtet. Diese muß nicht nur das „Ob", sondern auch das „Wie" und „Wann" der Handlungspflicht determinieren. 368 363 BVerfGE 1, 97, 100; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 107; Redelberger, NJW 1953, 362. 364 BVerfGE 11, 255, 261; Zuck, V B Rdn. 496; Zweigert, JZ 1952, 323. 365 So - mit unterschiedlichen Formulierungen - Seiwerth, S. 44, 45; Lechner, NJW 1955, 1818: Mit der Pflicht des Gesetzgebers muß ein Grundrecht des Einzelnen korrespondieren; Gusy, Rdn. 32; Schenke, S. 337: Rechtssetzungsanspruch auf Rechte des § 90 Abs. 1 BVerfGG stützen; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 107; Säcker, S. 28. 366 Seiwerth, S. 39. 367 BVerfGE 6, 257, 264; 8, 1, 20; 11, 255, 261; 12, 139, 142; 56, 54, 70; NJW 1987, 2287; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96; Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 535; Lechner, S. 350; Schiaich, S. 112; Scholler / Broß, Rdn. 298; Bleckmann, S. 315. 368 Gusy, Rdn. 32.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
(bb) Der Gesetzgeber muß bislang die Handlung unterlassen haben. 369 (cc) Schließlich muß der Beschwerdeführer (subjektiv) die Verpflichtung geltend machen dürfen, d. h. der Verfassungsauftrag muß sich aus einer Gebotsnorm aus dem Grundrechtskataiog ergeben, die den Gesetzgeber in der oben angesprochenen Weise verpflichtet 370 und somit einen Anspruch auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers verleiht. 371 Solange der Gesetzgeber untätig bleibt und den Verfassungsauftrag nicht erfüllt, verletzt er Grundrechte des Beschwerdeführers. 372 (b) Anforderungen an die Grundrechtsrüge Der Beschwerdeführer hat seine Grundrechtsrüge dahingehend zu substantiieren, daß er das als verletzt gerügte Grundrecht hinreichend erkennen läßt und die konkrete Handlung angibt, die der Gesetzgeber seiner Meinung nach hätte treffen müssen. 373 Die Grundrechtsverletzung ist nur dann nicht von vornherein ausgeschlossen und damit „möglich", wenn das als verletzt gerügte Recht überhaupt geeignet ist, einen Anspruch auf das Tätigwerden des Gesetzgebers zu begründen. 374 Ohne Verfassungsauftrag ist i. d. R . 3 7 5 eine Grundrechtsverletzung nicht denkbar, 376 wobei derartige, gegenüber „jedermann" bestehende Rechtssetzungspflichten sehr selten sind. 377 (c) Kritik Die hier angeführten Voraussetzungen für eine hinreichend substantiierte Grundrechtsrüge bei legislativem Unterlassen sind nicht ohne Kritik geblieben. (aa) Nach Meder 3 7 8 muß eine Verfassungsbeschwerde mit dem Ziel, den Gesetzgeber zum -Erlaß grundrechtsgemäßer Gesetze zu verpflichten, auch ohne Verfassungsauftrag möglich sein. Der Gesetzgeber habe die „Garanten369
Seiwerth, S. 39; Schneider, AöR 89, 34. Seiwerth, S. 40. 371 Schneider, AöR 89, 34. 372 Vgl. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 119; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 69. 373 Seiwerth, S. 44. 374 Anderer Ansicht ist Schneider, AöR 89, 35, der dies für eine Frage der Begründetheit hält. Dieser (dogmatische) Ansatz verkennt jedoch die eigenständige Bedeutung der Grundrechtsrüge, s. B. I I I . 3. (c). 375 Zu den „Ausnahmen von der Ausnahme", s. unten III. 376 Erichsen, Jura 1979, 280. 377 Anerkannt bei Art. 6 Abs. 5; 33 Abs. 5; 101 Abs. 1 Satz 2; 104 Abs. 2 Satz 4; 131 GG. Vgl. BVerfGE 6, 257; 8, 18; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, §90 Rdn. 113 f.; Lechner, S. 350; Gusy, Rdn. 76; Zuck, V B Rdn. 498 f. 378 Meder, DVB1 1971, 848, 850. 370
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Verpflichtung", verfassungsrechtlich qualifizierbare Fehlentwicklungen zu korrigieren. (bb) Stellungnahme Die Kritik Meders vermag nicht zu überzeugen. Abgesehen davon, daß die Verfassungsbeschwerde über die Möglichkeit, einen positiven A k t hoheitlicher Gewalt anzufechten (und für nichtig erklären zu lassen) und die dafür geltende Fristbestimmung des § 93 Abs. 2 BVerfGG über Gebühr in wohl unzulässiger Weise ausgedehnt würde, 3 7 9 ist bereits fraglich, wie die (angebliche) Grundrechtsverletzung ohne grundrechtlichen Verfassungsauftrag vom jeweiligen Beschwerdeführer substantiiert dargelegt werden kann. Die Kehrseite der von Meder 3 8 0 angesprochenen objektiven Pflicht zu verfassungsgemäßen Gesetzen ist nicht zwingend der subjektive Anspruch des einzelnen Beschwerdeführers. 381 Nur in den seltenen Fällen der Reduzierung des gesetzgeberischen Ermessensspielraums 382 hat der Bürger einen Anspruch auf die Korrektur verfassungsrechtlicher Fehlentwicklungen. 383 Insoweit widerspricht die pauschale These Meders, „jedermann" müsse den Gesetzgeber zu verfassungsmäßigen Gesetzen verpflichten können, dem materiellen Recht. Möglicherweise relativiert sich die Kritik aber dadurch, daß Meder 3 8 4 auch die Verfassungsbeschwerde gegen drittbegünstigende Normen als Unterlassungsbeschwerde auffaßt. Hierbei ist (richtigerweise) kein Verfassungsauftrag erforderlich. 385 (cc) Auch Lerche kritisiert die h. M. Er greift zwar nicht grundsätzlich das Erfordernis des Verfassungsauftrages an, hält aber eine ausdrückliche Handlungspflicht nicht für erforderlich. Jeder irgendwie erkennbare (konkludente) Auftrag müsse genügen. 386 Insoweit sei auch nicht einzusehen, warum die begehrte gesetzgeberische Aktivität „im wesentlichen umgrenzt" sein müsse. Entscheidend sei vielmehr, daß eine irgendwie erkennbare Verfassungspflicht auf irgendein gesetzgeberisches Tun als bestehend und verletzt behauptet werden könne. 387 (dd) Stellungnahme Grundsätzlich ist zu beachten, daß ein Grundrecht dann nicht verletzt sein kann, wenn der Gesetzgeber sich im Rahmen seines (pflichtgemäßen) Ermes379 So Zuck, V B 1973 S. 30. 380 s. (aa). 381 Die Gesetzgebung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gesetzgebers, s. 1. 382 s. (dd). 383 Bei „Nachbesserungspflichten", vgl. unten III. 2. 384 Meder, DVB1 1971, 851. 385 Weil die Norm angegriffen wird, vgl. die Abgrenzung, 2. Kap., Β. II. 2 a). 38 * Lerche, AöR 90, 350. 387 Lerche, AöR 90, 351. 5 van den Hövel
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
sens sowohl für als auch gegen bzw. für die eine als auch die andere Regelung entscheiden kann. Eine Grundrechtsverletzung kommt grundsätzlich nur in Betracht (und ist damit auch nur in diesem Rahmen entsprechend rügbar), wenn der Gesetzgeber untätig bleibt und feststeht, daß, wann und wie er handeln muß, 3 8 8 d. h. sich sein Ermessen ausnahmsweise auf „Eins" 3 8 9 reduziert hat. Läßt sich dies präzise auch ohne ausdrückliche Regelung feststellen, d . h . kommt die Handlungspflicht für den Gesetzgeber unmißverständlich zum Ausdruck, 390 so bestehen gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde keine Bedenken - insoweit mag man Lerches kritischen Ansatz bestätigen. Diese Ermessensreduzierung hat der Beschwerdeführer mit der Grundrechtsrüge darzulegen. Im Regelfall dürfte dies jedoch praktisch ohne konkrete gesetzliche Regelung und damit ohne im wesentlichen umgrenzten Handlungsauftrag kaum gelingen. 391 Die h. M. bedeutet kein verbales Dogma, sondern orientiert sich an der auch von Lerche vertretenen Überzeugung, daß eine Gleichwertigkeit von gesetzgeberischer Untätigkeit und positivem Verfassungsverstoß nur bei Mißbrauch eines verbindlichen Verfassungsauftrages 392 gegeben ist. Nur dann besteht aufgrund einer Grundrechtsverletzung die Möglichkeit, die Verfassungsbeschwerde gegen ein Unterlassen mit Erfolg zu erheben. I I . (Teilweises) legislatives Unterlassen
(1) Bei teilweisem Unterlassen, d. h. einer erst unvollständigen gesetzlichen Regelung, hat der Beschwerdeführer substantiiert zu rügen, daß der Gesetzgeber den Verfassungsauftrag unter Verletzung von Art. 3 GG erst unvollständig ausgeführt habe 393 - etwa infolge unrichtiger Auslegung. 394 Aber auch hier ist entscheidend, daß die Verletzung des Art. 3 GG im Rahmen eines ausdrücklichen Verfassungsauftrages erfolgt. 395 Art. 3 GG selbst enthält keinen Handlungsauftrag, 396 gewinnt aber als verletztes Grundrecht Bedeutung, 388
So präzise Gusy, Rdn. 32. Nur eine konkrete Handlung kommt in Betracht, s. (b). 390 Diese Formulierung schlägt Zuck, V B Rdn. 497, als Ersatz für die zu sehr auf die bloße Gesetzesform („ausdrücklich") abstellende Definition der Rechtsprechung vor. 391 Lerche, AöR 90, 351 Fn. 30, verlangt selber die hinreichende Darlegung des Verfassungsauftrages, ohne die Frage zu beantworten, wie die konkrete Handlung ohne ein konkretes Grundrecht dargelegt werden kann. Zu den Ausnahmen s. unten III. 392 So Lerche, AöR 90, 353. 393 BVerfGE 15, 46, 60; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 112; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 69. 394 Seiwerth, S. 67. 395 Vgl. BVerfGE 6, 257, 265; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 112. 396 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 111; dies verkennt Gusy, Rdn. 76, der fälschlich dafür BVerfGE 6, 257, 265; 15, 60, 76, zitiert. 389
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wenn der Gesetzgeber einen nicht im Grundrechtskatalog befindlichen Verfassungsauftrag (z. B. Art. 131 GG) nur partiell erfüllt. Erst Art. 3 GG ermöglicht dann die Verfassungsbeschwerde auch gegen diesen, nicht in § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführten Verfassungsauftrag, sofern er nur unvollständig (und damit in gegen den Gleichheitssatz verstoßender Weise) realisiert wird. 3 9 7 (2) Kritik (a) Lerche 398 kritisiert die Rügekombination aus Verfassungsauftrag und Art. 3 GG. Nur der Verfassungsauftrag sei materiell entscheidend. Der erst unzureichend erfüllte Verfassungsauftrag verletze die entsprechende Grundgesetznorm, habe aber materiell nichts mit Art. 3 GG zu tun. Es sei nur zu fragen, ob der Gesetzgeber den Verfassungsauftrag auch in Richtung auf den Beschwerdeführer erfüllt habe oder nicht. Bereits ein entsprechender Verfassungsauftrag könne von sich aus die Berücksichtigung des Beschwerdeführers fordern - umgekehrt reiche es für die gesetzliche Nichtberücksichtigung des Beschwerdeführers nicht aus, daß sie mögliche „sachlich einleuchtende, an der Gerechtigkeitsidee orientierte" Gründe (d. h. solche des Art. 3 GG) für sich buchen könne. 399 Insoweit sei für Art. 3 GG kein Raum. 4 0 0 Es handle sich um eine bloße Hilfskonstruktion, um die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde für die Fälle, in denen sich der Verfassungsauftrag nicht im Grundrechtskatalog befinde und insofern vom Beschwerdeführer nicht als verletztes Grundrecht gerügt werden könne, zu begründen. Sie sei dementsprechend dort vermeidbar, wo der Verfassungsauftrag im grundrechtlichen Bereich wurzele. 401 Lerche lehnt in derartigen Fällen aber nicht generell die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ab, sondern beschreitet einen anderen Weg. Das Rechtsschutzbedürfnis für eine zulässige Verfassungsbeschwerde erfordere eine Beschwer. Der in diesem Sinn beschwerte Bürger könne sich aber auf Art. 2 Abs. 1 GG, das auf „Freiheit vor Belastungen schlechthin" ausgeweitete Grundrecht stützen. 402 (b) Stellungnahme Der „Austausch" von Art. 3 GG zu Art. 2 Abs. 1 GG vermag nicht zu überzeugen. Art. 2 Abs. 1 GG ist ein negatives Statusrecht, d. h. ein Abwehrrecht auf Unterlassung verfassungswidriger staatlicher Eingriffe. Es wehrt jede rechtswidrige, durch einen A k t öffentlicher Gewalt gesetzte Belastung ab, ist aber nicht auf staatliches Handeln gerichtet und damit nicht auf den 397
Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 43. Lerche, AöR 90, 356. 399 Lerche, AöR 90, 357. 40° Vgl. Lerche, AöR 90, 341 ff. Fn. 54. 401 Lerche, AöR 90, 358. 402 Lerche, AöR 90, 359. 398
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
Neuerlaß einer Norm anwendbar. 403 Im übrigen läßt sich auch nicht die Unzulässigkeit der angeblichen „Hilfskonstruktion" erkennen. So deckt zwar der Verfassungsauftrag selber schon das Gebot gleicher Rechtssetzung ab, 4 0 4 konsumiert gewissermaßen das Gleichheitsgebot des Art. 3 G G ; 4 0 5 dieses Grundrecht gewinnt aber dort wieder eigenständige Bedeutung, wo der Verfassungsauftrag mangels Grundrechtsqualität nicht die Möglichkeit seiner Durchsetzung (durch die Verfassungsbeschwerde) zu begründen vermag. Wenn der Gesetzgeber seiner Rechtssetzungspflicht nachkommt, darf er davon nicht willkürlich gewisse Personen ausschließen. Insoweit ist es konsequent, den noch nicht Berücksichtigten verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Da unstreitig eine derartige Verfassungsbeschwerde zulässig ist, sollte es bei Art. 3 GG in Verbindung mit dem Verfassungsauftrag als adäquater Grundrechtsrüge verbleiben. I I I . Legislatives Unterlassen (Verletzung von Handlungs- und Schutz- bzw. „Nachbesserungs"-pflichten)
(1) Auch in den Fällen des legislativen Unterlassens kann ausnahmsweise ein Verfassungsauftrag entbehrlich sein, wenn der Beschwerdeführer rügt, der Gesetzgeber habe es unterlassen, seinen Handlungs- und Schutzpflichten nachzukommen. Diese ergeben sich nicht (wie Verfassungsaufträge) unmittelbar aus den Grundrechten, sondern lassen sich erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen herleiten. 406 Eine derartige Schutzpflicht ist insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 GG anerkannt. 407 (a) Nach Schiaich 408 vermögen Schutzpflichten eine Verfassungsbeschwerdebefugnis gegen legislatives Unterlassen nicht zu begründen. (b) Diese Auffassung vertritt grundsätzlich auch das BVerfG. (aa) Dem Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt komme bei der Erfüllung dieser Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und 403
Jülicher, S. 35. Der Verfassungsauftrag ist vollständig zu erfüllen. 405 Auch Jülicher, S. 63, spricht diese „Doppelkonstellation" an: Mit dem Verstoß gegen den Verfassungsauftrag ist zugleich Art. 3 GG verletzt. 406 BVerfGE 56, 54, 71. 407 BVerfGE 46, 160, 164; 56, 54, 73; Zuck, V B Rdn. 320. Anerkannt aber auch aus Art. 5 Abs. 3 GG, vgl. Zuck, V B Rdn. 348, ζ. B. Schutz der Hochschullehrer vor Vorlesungsstörungen; Art. 14 GG, vgl. BVerwGE 50, 282, 287 f., Schutz des Eigentümers vor rechtswidriger Bebauung des Nachbargrundstückes bei schwerer und unerträglicher Betroffenheit; denkbar auch aus Art. 8 GG, ζ. B. Schutz einer Versammlung vor rechtswidrigen Störungen. 408 Schiaich, S. 112. 404
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Gestaltungsbereich zu, der auch Raum lasse, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. 409 (bb) Dieser weite Gestaltungsbereich unterliege nur in begrenztem Umfang der richterlichen Nachprüfung - je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. 410 (cc) Grundrechtsrüge So sei hinreichend substantiiert nur rügbar, daß die öffentliche Gewalt gänzlich untätig geblieben sei, Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte überhaupt nicht getroffen habe, ober aber, daß die getroffenen Regelungen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien, das Schutzziel zu erreichen. 411 Unter ganz besonderen Umständen könne der Beschwerdeführer auch geltend machen, die öffentliche Gewalt genüge ihrer Schutzpflicht allein dadurch, daß sie eine ganz bestimmte Maßnahme ergreife, wobei er auch die Art der zu ergreifenden Maßnahme substantiiert darzulegen habe. 412 Eine derartige Rüge dürfte nur selten gelingen, erfordert sie doch die Darlegung, daß jede andere Verhaltensweise (nicht bzw. anders zu handeln) Grundrechte verletzt. (c) Stellungnahme Die legislative Gestaltungsfreiheit begrenzt den grundrechtlichen Anspruch des einzelnen Bürgers und dementsprechend auch die Verletzungsmöglichkeit. Darüber hinaus fehlt in diesen Fällen im Gegensatz zum Verfassungsauftrag 413 eine konkrete gesetzliche Regelung, wie der Gesetzgeber seine (Schutz-) Pflichten zu erfüllen hat, so daß insoweit nur gesetzgeberisches „Extrem"verhalten 414 der völligen Passivität oder Ignoranz der realen Verhältnisse rügbar ist. Die Formulierung einer derartigen Grundrechtsrüge dürfte schwerlich gelingen. Im übrigen ist bereits bei einer auch nur unzureichenden Regelung schon kein mit der Verfassungsbeschwerde angreifbares Unterlassen mehr gegeben; 415 in einem solchen Fall kann sich die Verfassungsbeschwerde nur gegen die bestehende Norm, nicht aber das Unterlassen des adäquaten Rechtssatzes richten. 416 409
BVerfGE 77, 170, 215; 77, 381, 405. BVerfGE 77, 381, 405. BVerfGE 77, 381, 405. 412 BVerfGE 77, 170, 215, spricht hier unpräzise von einer „schlüssigen" Darlegung, s. B. III. 1. (a). 4 13 s. I. 414 s. (b) (cc). 4 15 BVerfGE 56, 54, 71. 416 Vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 111; Schiaich, S. 112.
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(2) In Betracht kommt ferner eine gegen legislatives Unterlassen gerichtete Verfassungsbeschwerde unter dem insbesondere in „neueren" Entscheidungen herausgearbeiteten Gesichtspunkt, der Gesetzgeber habe durch seine Untätigkeit eine verfassungsrechtliche „Pflicht zur Nachbesserung" einer ursprünglich als verfassungskonform angesehenen Regelung verletzt. 417 (a) Nach Zweigert 418 ergibt sich in derartigen Fällen keine Grundrechtsrügemöglichkeit. Für ihn ist die durch die spätere Entwicklung bedingte Ungleichheit 4 1 9 grundsätzlich nicht rügbar, soweit zur Zeit des Erlasses das Grundrecht nicht verletzt sei. Nur darauf aber habe der Beschwerdeführer einen Anspruch. Die Anpassung einer Norm an die jeweiligen Verhältnisse sei eine ewige Aufgabe des Gesetzgebers, auf deren Erfüllung die Verfassungsgerichtsbarkeit unmöglich Einfluß nehmen könne. Zweigert erwägt die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde allenfalls bei willkürlichem Handeln des Gesetzgebers, fügt aber zugleich hinzu, daß dies in Demokratien wohl nie nachweisbar sein dürfte. 420 (b) Die Begründung erscheint zu formal. So ist nicht einzusehen, warum der Grundrechtsschutz des Bürgers gegen eine Norm sich nur auf deren Erlaß, nicht aber auch deren durch veränderte Lebensverhältnisse entsprechend modifizierten Anwendungsbereich beziehen soll. Grundrechts schütz ist gegenüber Grundrechts Verletzungen geboten; diese aber werden durch die tatsächlichen Verhältnisse bedingt - entsprechend flexibel ist der Grundrechtsschutz auszugestalten.421 (c) Zuck 4 2 2 zweifelt daran, ob die Berufung auf unterlassene Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers in den Zusammenhang der UnterlassensThematik gehört. Nachgebessert werden könne nur ein Werk, das überhaupt - wie auch immer - erbracht worden sei. Somit handele es sich (auch) hier um eine gegen positives Tun des Gesetzgebers gerichtete Verfassungsbeschwerde. (d) Diese plausibel klingende Begründung berücksichtigt den Rechtsschutz des Bürgers nicht zureichend. Da das angegriffene Gesetz erst durch die zeitbedingte Entwicklung verfassungswidrig geworden ist, würde eine Rechtssatz« 7 BVerfGE 25, 1, 12 f.; 50, 290, 335, 337 f.; 56, 54, 72; vgl. auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 111; Schiaich, S. 112: Der Beschwerdeführer muß rügen, das Gesetz sei (heute) nicht mehr zureichend. Vgl. auch die Kritik Meders, s. I. 2. (c) (aa) und (bb) (Stellungnahme). 418 Zweigert, JZ 1952, 323. 419 Er stellt nur auf die Verletzung von Art. 3 GG ab. 420 Zweigert, JZ 1952, 324. 421 Dies zeigt sich gerade bei Art. 2 Abs. 2 GG: Bei ursprünglich ausreichenden Schutzgesetzen droht keine Gesundheitsgefährdung - warum soll Art. 2 Abs. 2 GG aber nicht dann verletzt sein, wenn diese Gesetze später nicht mehr ausreichen und dementsprechend erhebliche Gesundheitsgefahren drohen? Vgl. die ähnliche Problematik bei BVerfGE 56, 54 ff. 422 Zuck, V B Rdn. 510.
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Verfassungsbeschwerde regelmäßig am Fristerfordernis des § 93 Abs. 2 BVerfGG scheitern. Der Betroffene hätte (schuldlos) keine Möglichkeit mehr, die Grundrechtswidrigkeit der ihn nachteilig betreffenden Norm geltend zu machen. Aber auch aus rechtsdogmatischen Gründen ist die Argumentation wenig überzeugend. Der mit einer Normenbeschwerde erfolgende „Gesetzesangriff" kritisiert die Entscheidung des Gesetzgebers zum Erlaß der Norm. Diese ist jedoch in den hier behandelten Fällen nicht Gegenstand der Rüge. Der Beschwerdeführer macht vielmehr geltend, mittlerweile (nach Erlaß der Norm) seien neue Pflichten des Gesetzgebers entstanden, deren Erfüllung dieser (bislang) unterlassen habe. Insoweit wird diese Fallgruppe zu Recht der Unterlassensproblematik zugeordnet. (e) Auch in diesen Fällen ist die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde äußerst problematisch. Wie eine derartige Nachbesserungspflicht, die auch eine Schutz- und Handlungspflicht gegenüber dem Bürger als Grundrechtsträger darstellt, zu erfüllen ist, haben die staatlichen Organe in eigener Verantwortung zu entscheiden. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen 423 Bezug genommen. Es handelt sich i. d. R. um derart komplexe Fragestellungen, daß sich bezüglich der konkreten Zielsetzungen und ihrer Priorität sowie der Bewertung der Eignung, Effizienz und Angemessenheit der denkbaren Mittel und Wege verschiedene Lösungen anbieten. 424 Die Verantwortung für eine der möglichen Entscheidungen liegt beim Gesetzgeber und ist der richterlichen Nachprüfung im allgemeinen entzogen. 425 Aufgrund des Gewaltenteilungsprinzips darf das BVerfG nicht die Sphäre der Legislative tangieren. Es kann somit erst dann einen Verfassungsverstoß feststellen, wenn evident ist, daß die ursprünglich rechtmäßige Regelung inzwischen verfassungsrechtlich untragbar geworden ist und der Gesetzgeber gleichwohl untätig bleibt. 4 2 6 (f) Grundrechtsrüge Dementsprechend erfordert die Grundrechtsrüge in solchen Fällen, daß der Beschwerdeführer sich zunächst auf ein Grundrecht beruft, aus dem sich eine Schutzpflicht ergibt, welche die „Nachbesserung" zwecks verfassungsgemäßer Normadaption an die gegenwärtigen realen Verhältnisse gebietet. Dann muß 423
s. 1. (b). BVerfG NJW 1987, 2287. 425 So schon BVerfGE 56, 54, 81; NJW 1987, 2287; so auch Bugiel / Meyer, NJW 1985, 779. 426 BVerfGE 56, 54, 81; NJW 1987, 2287. Das BVerfG klärt in diesen Fällen die Frage der Zulässigkeit nicht endgültig (Verfassungsbeschwerde ohnehin gemäß § 24 BVerfGG wegen offensichtlicher Unbegründetheit zu verwerfen bzw. gemäß § 93 b Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. BVerfGG mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung anzunehmen), legt dann aber eine rechtliche Konstellation dar, bei der die Verfassungsbeschwerde begründet (und damit dann wohl auch zulässig) wäre, so daß daraus Rückschlüsse zu ziehen sind, welche Rechtslage der Beschwerdeführer im Rahmen der Grundrechtsrüge hinreichend substantiiert darzulegen hat. 424
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
er rügen, daß der Gesetzgeber diese Schutzpflicht evident verletzt habe. 427 In all diesen Fällen der (vermeintlichen) Schutzpflichtverletzung muß der Beschwerdeführer - gewissermaßen als Kehrseite davon - eine besondere Beschwer 428 darlegen können, die den Entscheidungsspielraum des schutzpflichtigen Gesetzgebers ausnahmsweise derart einengt, daß er zur konkret gewünschten Regelung verpflichtet ist. Auch eine derartige Rüge dürfte nur selten gelingen, so daß sich die Auffassung Zweigerts 429 als durchaus „praxisnah" erweist. I V . Drittbegünstigende Normen (Der Beschwerdeführer erstrebt die Einbeziehung in die Begünstigung)430
(1) Da in diesen Fällen 431 kein Unterlassen, sondern richtigerweise die Norm angegriffen wird, besteht das Problem bei der Grundrechtsrüge hier nicht in der Darlegung eines mit Grundrechten des Beschwerdeführers korrespondierenden Verfassungsauftrages. Auch die M. M . 4 3 2 , die gleichwohl die Drittbegünstigungsfälle in die Unterlassensthematik einordnet, gelangt zu keinem anderen Ergebnis. Somit trifft den Gesetzgeber hierbei unstreitig keine sich aus der Verfassung ergebende Handlungspflicht. Vielmehr entscheidet er sich in Ausübung seiner Ermessensfreiheit zum Erlaß der Rechtsnorm. 433 Wenn er aber tätig wird, gebietet es der Gleichheitssatz, gleiche Tatbestände nicht unberücksichtigt zu lassen. 434 (2) Die mit der Grundrechtsrüge in diesen Fällen darzulegende „Möglichkeit" der Verletzung von Art. 3 GG ist jedoch nicht völlig unproblematisch. (a) Keinesfalls reicht es aus zu rügen, der Gesetzgeber habe den Beschwerdeführer durch dessen Nichtbegünstigung schlechter als die Begünstigten gestellt und damit diesen gegenüber in einer Art. 3 GG verletzenden Weise benachteiligt, oder kürzer, der Gesetzgeber habe eine gegen Art. 3 GG verstoßende, sachwidrige Differenzierung (Dntfbegünstigung) getroffen. (b) Das Grundrecht aus Art. 3 GG ist wesensmäßig ein negatives Statusrecht und dient wie die Freiheitsrechte dazu, Eingriffe in die Rechtsgüter des Einzelnen abzuwehren; Es schützt vor ungleichen Belastungen, verbietet aber nicht grundsätzlich ungleiche Begünstigungen. Insoweit verletzt die gleich427 So auch Roth-Stielow, NJW 1984, 1942, der aber beim Waldsterben diese „Evidenz" der Schutzpflichtverletzung bejaht. 428 So die Terminologie bei BVerfG NJW 1987, 2287. 429 s. III. 2. (a). 430 s. 2. Kap., B. II. 3. und 4. 431 s. 2. Kap., B . I I . 2 a). 432 s. 2. Kap., B . I I . 2 a) (a). 433 Vgl. Jülicher, S. 13. 434 Vgl. Seiwert, S. 70.
1. Abschn. : Beschwerdebefugnis der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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heitssatzwidrige Begünstigung eines Dritten den Beschwerdeführer noch nicht unbedingt in seinem Recht aus Art. 3 Abs. 1 G G . 4 3 5 Nur bei ungleich belastenden Normen ist somit die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 3 GG (neben Art. 2 Abs. 1 GG) problemlos möglich. (c) Der Beschwerdeführer muß vielmehr die sich aus dem unterschiedlichen Nebeneinander 436 von leistungsgewährender und leistungsverweigernder Regelung ergebende Verfassungswidrigkeit rügen. Er muß somit geltend machen, zwischen ihm und der begünstigten Gruppe von Normadressaten bestehe kein Unterschied von solcher Art und solchem Gewicht, daß er die ungleiche Behandlung rechtfertigen könne. 4 3 7 Insoweit sei er, der Beschwerdeführer, sach widrig - unter Verstoß von Art. 3 GG - nicht in die günstige Regelung einbezogen worden. 438 Die verletzte Gleichheit lasse sich durch die Einbeziehung des Beschwerdeführers in eine gesetzliche Neuregelung wiederherstellen. 4 3 9 Die Verfassungsbeschwerde muß somit darauf gerichtet sein, die Rechtsstellung des Betroffenen durch Einbeziehung in die gesetzliche Regelung zu verbessern. 440 Eine Grundrechtsrüge ist nur dann hinreichend substantiiert, wenn die Möglichkeit der Einbeziehung des Beschwerdeführers in eine gesetzliche Neuregelung nicht von vornherein völlig ausgeschlossen ist. 4 4 1 Kann der Beschwerdeführer diese Möglichkeit jedoch nicht glaubhaft machen, etwa weil der Gesetzgeber offensichtlich nur eine zahlenmäßig begrenzte Ausnahmegruppe - ohne Erweiterungskapazität - begünstigt hat, so wäre die Verfassungsbeschwerde allenfalls auf die Beseitigung der unterschiedlichen Rechtslage zum Nachteil der begünstigten Gruppe gerichtet. Für eine derartige Verfassungsbeschwerde bestünde jedoch kein „Rechtsschutzbedürfnis". 442
435
Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96. BVerfGE 33, 90,103 ff.; Maurer, S. 354; Schefold / Leske, NJW 1973,1300; Jülicher, S. 102: Erforderlich ist ein Vergleich von begünstigender Regelung mit Ausschlußregelung. So auch Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 641. 437 BVerfGE 70, 230, 240; Zuck, V B Rdn. 330. 438 Scholler / Broß, Rdn. 290. 439 Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 641. 440 Gusy, Rdn. 104. 441 Vgl. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96; Gusy, Rdn. 104; Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 507, 641; Henning, S. 52. 442 So die Rechtslehre, vgl. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 96; Gusy, Rdn. 104. Unabhängig von der fehlenden Rügemöglichkeit des Art. 3 GG scheitert eine derartige Verfassungsbeschwerde bereits am Merkmal der Selbstbetroffenheit: 1) Adressatenprüfung: Der Beschwerdeführer ist nicht Adressat des Ausschlusses, s. 2. Kap., Β. II. 5. 2) Normwirkung: Mangels einer Belastung ist der Beschwerdeführer nicht tangiert. (Anders im 2. Kap., Β. II. 5.) 436
74
1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze V . Belastende Normen (Der Beschwerdeführer erstrebt den Wegfall der Belastung)443
Die Grundrechtsrüge ist hier - abgesehen von dem generellen Problem, eine Verletzung des Grundrechts darlegen zu müssen - vom Grundsatz her unproblematisch, da sowohl Art. 2 Abs. 1 GG als auch Art. 3 G G 4 4 4 Schutz vor ungleichen rechtswidrigen Belastungen bieten. In praxi gestaltet sich die Grundrechtsrüge jedoch in den Fällen fehlender Adressatenstellung des Beschwerdeführers 445 schwierig. Grundsätzlich verletzt eine nicht an den Beschwerdeführer gerichtete Rechtsnorm auch nicht dessen Grundrechte. Insoweit trifft den Bürger gewissermaßen eine gesteigerte Darlegungspflicht, die „Möglichkeit" einer Grundrechts Verletzung trotz fehlender Adressatenstellung aufzuzeigen. 446
443
s. 2. Kap., B . I I . 1., 5. und 6. s. IV. 2. (b). s. 2. Kap.,B. II. 5. 446 s. B. III. 3. (b). 444
2. Abschnitt
Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze 1. Kapitel Grundsätze A . D i e Bedeutung der Subsidiarität
Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, der eine ihrer wesentlichen Besonderheiten bezeichnet,1 wird von der ganz h. M . 2 anerkannt. Danach ist eine Verfassungsbeschwerde nicht erforderlich, wenn anderweitige Möglichkeiten bestehen, die Grundrechtsverletzung zu beseitigen und ohne Inanspruchnahme des BVerfG praktisch dasselbe, nämlich die Korrektur der Verfassungsverletzung, zu erreichen. 3 Dem Beschwerdeführer muß in Bezug auf die von ihm geltend gemachte Grundrechtsverletzung gerade durch die unmittelbar grundrechtsbetreffende Norm ein Rechtsschutz vor den Fachgerichten zuteil werden können, der den sachlichen Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG an einen tatsächlichen und rechtlich wirkungsvollen Rechtsschutz genügt. Das schließt insbesondere ein, daß dieser Rechtsschutz auch gegenüber den unmittelbaren Normwirkungen zeitgerecht erlangt werden kann. 4 Bereits Fachgerichte sind gehalten, Grundrechte zu beachten und Grundrechtsverletzungen zu beseitigen.5 Dementsprechend sind etwaige Grundrechtsverstöße bereits im jeweils sachnächsten Verfahren geltend zu machen, d. h. schon vor den Fachgerichten zu rügen. 6 Die Verfassungsbe1
Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 18, 99 a, 188. 2 BVerfGE 33, 247, 258; 51, 130, 139; 68,143,151; 69,122,125; 72, 39, 43; SchmidtBleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 18, 99 a, 188; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 70; Schenke, NJW 1986, 1456; Zuck, JuS 1988, 371, 374; Motzer, S. 133, 151; Schiaich, S. 113, 116; H. Klein, S. 1333; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 118; Erichsen, Jura 1979, 336; Säcker, S. 29; Huber, S. 12; Scholler / Broß, Rdn. 254; Schuler, S. 195, 199; Zweigert, JZ 1952, 325. 3 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 186, 192; H. Klein, S. 1339; vgl. auch BVerfG NJW 1987, 1689. 4 BVerfGE 71, 305, 335,337. 5 Zuck, JZ 1985, 922; V B Rdn. 51; Scholler / Broß, Rdn. 255. 6 Zuck, JuS 1988, 374; V B Rdn. 35, 55; Scholler / Broß, Rdn. 255; Seuffert, NJW 1969, 1372.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
schwerde kann nicht erhoben werden, wenn der Beschwerdeführer in zumutbarer Weise einen wirkungsvollen Rechtsschutz zunächst durch Anrufung der Fachgerichte erlangen kann, 7 weil der behauptete Verfassungsverstoß noch innerhalb der einfachen Rechtsprechung heilbar ist. 8 Sie kommt somit erst in Betracht, wenn der Bürger alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat 9 und keine anderweitige Möglichkeit mehr besteht, das Ziel effektiven Grundrechtsschutzes ohne Inanspruchnahme des BVerfG zu erreichen. 10 B. Kritik
(I) Arndt 1 1 hingegen leugnet den Subsidiaritätscharakter der Verfassungsbeschwerde. Seiner Meinung nach ist die Verfassungsbeschwerde zwar ebenfalls unzulässig, solange andere Möglichkeiten bestehen, den Verfassungsverstoß zu beseitigen, da diese vorrangig zu nutzen seien; dies sei aber keine Frage der Subsidiarität, vielmehr fehle dem Beschwerdeführer in diesen Fällen das spezifische verfassungsgerichtliche Rechtsschutzbedürfnis. (II) Stellungnahme Inhaltlich unterscheidet sich Arndts Auffassung nicht von der h. M. Auch Arndt bringt den oben 12 dargestellten Subsidiaritätsgedanken exakt zum Ausdruck, 13 subsumiert ihn aber unter den Begriff des „Rechtsschutzbedürfnisses". 14 Er unterscheidet sich durch die Verwendung eines anderen Termini somit lediglich formal von der h. M . 1 5 (III) Auch Ridder 16 spricht sich gegen die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde aus. Zur Begründung verweist er auf den Wortlaut des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Der Grundsatz der Subsidiarität komme dort nicht zum Ausdruck. 17 Vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde sei lediglich der gegen den angegriffenen Hoheitsakt zur Verfügung stehende Rechtsweg zu beschrei7
BVerfGE 71, 305, 336; 75, 108, 145. « Seuffert, NJW 1969, 1372. 9 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 186; H. Klein, S. 1339. 10 BVerfGE 74, 102, 113; NJW 1988, 477. 11 A. Arndt, NJW 1969, 808. 12 s. A . 13 Nämlich den Vorrang fachgerichtlicher Rechtsschutzmöglichkeiten. 14 In diesem Sinn, gegen A. Arndt, auch Motzer, S. 45. 15 Vgl. näher das Verhältnis des Rechtsschutzbedürfnisses zur Subsidiarität, 3. Kap., E. V. 4. 16 Ridder, JZ 1968, 378. 17 So auch Zuck, VB Rdn. 39, 43, der aber die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde anerkennt.
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: usiir
der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
ten. Anderweitige, über § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG hinausführende Möglichkeiten kämen nicht in Betracht. Dies würde eine - dem Wortlaut zuwiderlaufende - Verschärfung der Zulässigkeitssperre bedeuten. Insofern sei auch keine Analogie möglich. (IV) Stellungnahme Die Auffassung Ridders wird der heutigen rechtspolitischen Entwicklung nicht mehr gerecht. Das immer verfeinertere und ausgeklügeltere Rechtssystem schafft zahlreiche, von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG einzeln gar nicht erfaßbare Möglichkeiten, bereits ohne Inanspruchnahme des BVerfG Grundrechtsverletzungen zu korrigieren. Es erscheint wenig plausibel, wenn vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen einen Verwaltungsakt zwar der dagegen mögliche Rechtsweg gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zunächst zu beschreiten ist, nicht aber auch dann, wenn der Beschwerdeführer eine Norm angreift und wirkungsvollen fachgerichtlichen Rechtsschutz in gleicher Weise, nämlich durch Anfechtung eines Norm Vollziehungsaktes, zu erlangen vermag. Darüber hinaus verdeutlichen auch die unten 18 erläuterten Charakteristika der Verfassungsbeschwerde, daß diese kein „primäres" Rechtsmittel ist. Sie liefern gewissermaßen die Begründung für das über § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG hinausführende Subsidiaritätsprinzip. C. D i e rechtliche Zuordnung der Subsidiarität
(I) Die Rechsprechung 19 hat im Laufe der Zeit der Vorschrift des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG den Gedanken entnommen, daß die Verfassungsbeschwerde erst als allerletzte Möglichkeit („ultima ratio") in Betracht kommt, Grundrechtsverletzungen zu korrigieren. Die Verfassungsbeschwerde sei subsidiär, sofern anderweitige fachgerichtliche Möglichkeiten bestünden, wirksamen Rechtsschutz zu erlangen. (II) Zuck 2 0 hingegen bezweifelt, ob die in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG normierte Verfahrensvoraussetzung „Erschöpfung des Rechtsweges" wirklich einer allgemeinen Begründung für die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde dienen kann. Da die Subsidiarität gerade über diese Verfahrensvoraussetzung hinausreiche, liege ihr rechtfertigender Grund allein in der beson18
s. unten 2. Kap. BVerfGE 8, 222, 225; 22,287,290; 33, 247, 258; 51,130,139; 68,143,151; 68, 376, 379 f.; 71, 305, 336; 72, 39, 43; 74, 102, 113; 77, 275, 282; schon BVerfGE 1, 97, 103, spricht den Grundgedanken des § 90 Abs. 2 BVerfGG an. Zum Teil, BVerfGE 55, 244, 247, wird auch Bezug auf Art. 94 Abs. 2 GG (gelegentlich kumulativ zu § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, BVerfGE 42, 252, 255) genommen. Dieser legitimiert den Gesetzgeber zu § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, ohne jedoch einen weiterführenden bzw. anderen Gedanken zum Ausdruck zu bringen. 20 Zuck, VB Rdn. 39.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
deren Gliederung der gerichtlichen Zuständigkeiten für die Behandlung von Grundrechtsverstößen zwischen Fachgerichten und BVerfG. Zunächst hätten die Fachgerichte sich mit dem behaupteten Grundrechtsverstoß zu beschäftigen. 21 (III) Stellungnahme Diese Argumentation verkennt Ursache und Wirkung. Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde findet ihre Grundlage nicht - losgelöst von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG - in der grundgesetzlichen Kompetenzordnung über die Aufgabenverteilung zwischen BVerfG und Fachgerichten; 22 das Grundgesetz weist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a die Entscheidung über Grundrechtsverstöße gerade ausdrücklich dem BVerfG - und nicht den Fachgerichten - zu. Erst die (anerkannte) Subsidiarität verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes bedingt die Verlagerung verfassungsrichterlicher Aufgaben auf Fachrichter zwecks Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes.23 Damit läßt sich der rechtfertigende Grund der Subsidiarität noch nicht in der historischen Ausprägung, die im Zuge des Gewaltenteilungsgrundsatzes der Verfassungsgerichtsbarkeit im Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit eingeräumt ist, finden. 24 Er wurzelt vielmehr in der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG normierten Verfahrensvoraussetzung „Erschöpfung des Rechtsweges". Diese Vorschrift begründet nicht nur die entsprechende Verpflichtung des Beschwerdeführers, sondern weist zugleich auch die Korrektur der (behaupteten) Grundrechtsverletzung vorrangig den Fachgerichten zu, bringt somit in den Fällen eines gegen die gerügte Verletzung möglichen Rechtsweges exakt den von Zuck 2 5 prägnant formulierten Subsidiaritätsgedanken zum Ausdruck. Insoweit läßt sich kaum leugnen, daß das Subsidiaritätsprinzip in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zumindest ausschnittsweise kodifiziert ist, diese Vorschrift somit die normative Grundlage der Subsidiarität darstellt. Gerade die Evidenz des sich aus dem zur Rechtswegerschöpfung verpflichtenden Wortlaut ergebenden Rechtsgedankens der Subsidiarität gebietet die Analogie. Er steht auch insoweit im Einklang mit der Gesetzesintention des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, als er in gewissen Fällen dem Beschwerdeführer zwar die Verfassungsbeschwerde, nicht aber zugleich effektiven Rechtsschutz verweigert. Das BVerfG 2 6 betont immer wieder, daß Rechtsschutz entweder bereits durch die Fachgerichte erfolge oder 21
Zuck, V B Rdn. 41. So aber Zuck, V B Rdn. 44. 23 Vgl. Pestalozza, NJW 1978, 1782 ff., der diese Entwicklung beschreibt und ausführt, daß sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in zunehmendem Umfang der Verfassungskontrolle bemächtige, S. 1784. 24 So aber Zuck, V B Rdn. 44. 25 Zuck, V B Rdn. 41: Zunächst sollen die Fachgerichte sich mit dem behaupteten Grundrechtsverstoß beschäftigen, s. II. 26 BVerfGE 69, 122, 125; 74, 69, 74. 22
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diese das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aussetzen und das BVerfG mit dem Rechtsproblem konfrontieren, sofern sie die verfassungsrechtlichen Bedenken des Beschwerdeführers teilen. In jedem Fall bestehe aber die Möglichkeit, gegen eine letztinstanzliche Entscheidung die Urteilsverfassungsbesch werde zu erheben. D . Ausblick
Die Erkenntnis des Rechtsgedankens des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG löst das Subsidiaritätsproblem weder rechtsdogmatisch 27 noch definiert es dessen konkreten Anwendungsbereich. 28 Zur eindeutigen Bestimmung der Subsidiarität - und damit Entwirrung der uneinheitlichen Judikatur und Rechtslehre 29 - ist ein umfassendes, alle Subsidiaritätsgesichtspunkte berücksichtigendes, 30 und klares „Subsidiaritätskonzept" zu entwickeln. 31 2. Kapitel Begründung für das Subsidiaritätsprinzip A . D i e Sach- und Rechtsnähe des fachgerichtlichen Verfahrens
Charakteristisch für die Verfassungsbeschwerde ist ihr auf Grundrechtsverletzungen beschränkter Anwendungsbereich. Das zeigt einwandfrei, daß sie kein ordentliches Rechtsmittel (im Instanzenzug der Gerichte) darstellt, sondern vielmehr nur ein außerordentlicher, letzter und äußerster Rechtsbehelf zur Verteidigung elementarer, höchster Rechte, der Grundrechte, ist. 32 (I) Insoweit ist sie von den ordentlichen Rechtsmitteln wegen Verletzung einfachen Rechts im Instanzenzug der Gerichtsbarkeit abzugrenzen. 33 Auch Fachgerichte haben Grundrechte zu beachten und sollen vorrangig Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen gewähren, 34 insoweit nach Möglichkeit schon Grundrechtsverstöße korrigieren. 27 Der Rückgriff auf die analog anzuwendende Vorschrift des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erfordert zunächst eine eindeutige Definition sowohl ihres normierten Anwendungsbereiches als auch der unmittelbaren Betroffenheit und des Rechtsschutzbedürfnisses als Subsidiaritätskriterien, s. 3. Kap., B. und D. 28 So ist festzustellen, welcher fachgerichtliche Rechtsschutz generell in Betracht kommt, welcher effektiv und welcher dem Beschwerdeführer zumutbar ist. 29 s. 3. Kap., B. 30 s. 2. Kap. 31 s. 3. Kap., G. II. 32 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 191; Zuck, JuS 1988, 371; Bettermann, AöR 86, 148; Pfeiffer, S. 28; vgl. BVerfGE 68, 376, 379. 33 Schiaich, S. 106. 34 BVerfGE 68, 376, 380; 69, 122, 125.
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
(II) Die Sachnähe des Verfahrens bietet den Vorteil, daß hierbei die Grundrechtsinterpretation nicht losgelöst von der Sach- und Rechtsambience erfolgt, sondern vielmehr die Realisierung von Grundrechten in Verbindung mit einfachem Recht im Rahmen des konkreten Rechtsstreits geschieht.35 Das BVerfG hingegen kann die verfassungsrechtliche Frage, ob eine Norm gegen bestimmte Grundrechte verstößt, nur abstrakt beantworten. (III) Das Gebot, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde den fachgerichtlichen Instanzenzug zu erschöpfen, führt dazu, daß etwaige Grundrechtsverletzungen in einer Vielzahl von Rechtsschutzverfahren überprüft werden können. 36 Auf diese Weise ist die Wahrscheinlichkeit einer frühen fachgerichtlichen Abhilfe erhöht, so daß das Risiko verfassungswidriger, aber rechtskräftiger Entscheidungen verringert wird. Somit brauchen formell rechtskräftige Entscheidungen nur ausnahmsweise in Frage gestellt bzw. mit einer dann folgenden erfolgreichen Verfassungsbeschwerde durchbrochen zu werden. 37 (1) Diese Begründung hat Kritik erfahren. Die - nach Möglichkeit nicht zu durchbrechende - formelle Rechtskraft entstehe überhaupt erst dadurch, daß der Rechtsweg vorab zu erschöpfen sei. Könnte die Verfassungsbeschwerde direkt beim BVerfG eingelegt werden, so bestünde nicht die Gefahr, eine zwar rechtskräftige, aber gleichwohl verfassungswidrige Entscheidung aufheben zu müssen.38 (2) Stellungnahme Die Kritik vermag das eigentliche Argument, daß eine Vielzahl von Verfahren die Wahrscheinlichkeit verfassungsmäßiger Entscheidungen erhöht, nicht zu entkräften. Vielmehr bezieht sie sich global auf das Gebot der Rechtswegerschöpfung, greift somit § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG an und stellt damit eine der tragenden Säulen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in Frage. Sinnvollerweise kann sie sich insoweit nur an den Gesetzgeber richten. B . D i e umfassende Vorprüfung durch die Fachgerichte
Auch das BVerfG selber ist zur Beurteilung auf eine umfassende Vorprüfung der Fachgerichte angewiesen.39 Aufgrund der Jahresfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG sind mit der Normenbeschwerde nur neue Rechtsnormen angreifbar, so daß es noch an Erfahrung mit der Auslegung und Anwendung fehlt, 40 35
Gusy, Rdn. 119; Motzer, S. 27. Motzer, S. 28. 37 Motzer, S. 24; vgl. BVerfGE 68, 376, 379. 3 « Ridder, JZ 1968, 379. 39 E. Klein, S. 1318. 40 H. Klein, S. 1326. 36
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eine abstrakte Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm insoweit Schwierigkeiten bereitet. Deshalb greift das BVerfG bei seiner Entscheidung nicht nur auf die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch auf das regelmäßig in mehreren Instanzen geprüfte Tatsachenmaterial zurück. 41 Auf diese Weise wird ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Fachgerichte - insbesondere der obersten Bundesgerichte - vermittelt und somit nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht unterbreitet. 42 Das BVerfG braucht somit eine Rechtsnorm im Verfassungsbeschwerdeverfahren in aller Regel erst dann auf Grundrechtsverstöße zu prüfen, wenn die Gerichte den Norminhalt und seine Bedeutung für den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Sachverhalt geklärt haben. 43 Auf diese Weise enthält der Grundsatz der Subsidiarität auch eine generelle Aussage über die Aufgabenverteilung zwischen dem BVerfG und den Fachgerichten, die vorrangig Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren. Er trägt insoweit dazu bei, den Rechtsschutz den besonderen Funktionen von BVerfG und Fachgerichten entsprechend auszugestalten.44 C. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit und Effektivität des B V e r f G
Weiterhin dient der Subsidiaritätsgrundsatz dazu, die Funktionsfähigkeit und Effektivität des BVerfG zu sichern. 45 Zuck 4 6 bezweifelt die Tragfähigkeit dieser Subsidiaritätsbegründung. Wenn „jedermann" das Recht habe, Verfassungsbeschwerde zu erheben, müsse auch der Gesetzgeber die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen für die Einlösung dieses Rechtes schaffen oder den Zugang zum BVerfG beschränken. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß bereits die in § 90 Abs. 1 BVerfGG kodifizierten Beschwerdebefugnisvoraussetzungen selber die „jedermann"-Generalklausel einengen, um zu gewährleisten, daß das BVerfG nicht durch zahlreiche mißbräuchliche Inanspruchnahmen daran gehindert wird, „jedermann", der verfassungsgerichtlicher Grundrechtshilfe bedarf, auch tatsächlich wirksamen Rechtsschutz zuteil werden zu lassen. Der dominierende Gedanke dieser Subsidiaritätsbegründung besteht somit darin, das BVerfG vor unnötigen Verfassungsbeschwerdeverfahren zu entlasten, sofern dem Betroffenen bereits durch die Inanspruchnahme der Fachgerichte Grundrechtsschutz zuteil werden kann. Angesichts der Fülle von an das BVerfG herangetragenen, im Regelfall unbegründeten 41 Vgl. näher bei Gerontas, D Ö V 1982, 442; Erichsen, Jura 1979, 336; schon Zweigert, JZ 1952, 325; vgl. auch BVerfGE 74, 102, 113, und Schenke, NJW 1986, 1458. 42 BVerfGE 72, 39, 43; 74, 69, 75; 74, 102, 113. 43 BVerfGE 55, 244, 247; Zuck, V B Rdn. 36, 49. 44 BVerfGE 72, 39, 43; 74, 69, 75; 74, 102, 113. 45 Gusy, Rdn. 119; Motzer, S. 25; Zweigert, JZ 1952, 325. 46 Zuck, V B Rdn. 38.
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Verfassungsbeschwerdeverfahren ist eine Entlastung zwingend erforderlich, 47 um das Schwergewicht auf die wirklich wichtigen Fälle, in denen effektiver Rechtsschutz geboten ist, zu konzentrieren und damit gerade dem Gebot, „jedermann" Schutz vor Grundrechtsverletzungen zu gewährleisten, entsprechen zu können. Eine Lähmung des BVerfG würde zugleich auch den „staatsintegrierenden Effekt ,il y a des juges à Karlsruhe'" beeinträchtigen. 48 Der Entlastungsgedanke dient somit der Erhaltung der Effektivität des BVerfG. Eine größere Anzahl von Senaten und dementsprechend mehr Bundesverfassungsrichtern könnte zwar mehr Verfahren bewältigen, würde aber der Institution des BVerfG zu keinem wirkungsvollen Erfolg verhelfen. 49 Das BVerfG hat neben der Wiederherstellung des Grundrechtsschutzes für den Bürger auch gesamtstaatliche Aufgaben; auch die Verfassungsbeschwerde selber erfüllt eine objektive Funktion. 50 Nur die kleine Anzahl von Spruchkörpern und der einheitlich überschaubare Richterkreis gewähren eine einheitliche, kontinuierliche Rechtsprechung. Dadurch kann das BVerfG den sogenannten „Edukationseffekt" erzielen, d. h. objektives Verfassungsrecht wahren und seiner Auslegung und Fortbildung dienen. 51 Insoweit sichert der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde die Funktionsfähigkeit des BVerfG als Hüter der Verfassung. 52 D . D i e Begrenzung der Judikative
Speziell bei der Normenbeschwerde dient der Subsidiaritätsgedanke der Aufrechterhaltung der Gewaltentrennung von Legislative und Judikative. Könnte jede Norm mit der Verfassungsbeschwerde problemlos vor dem BVerfG angegriffen werden, d. h. müßte jede Entscheidung des Gesetzgebers zunächst auf den Prüfstand des höchsten Judikativorgans, würde eine Machtverschiebung von den gesetzgebenden Organen zum „gouvernement des juges" 53 , zur „Aristokratie der Robe" 5 4 , drohen.
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Gusy, Rdn. 307. 48 Schenke, NJW 1986, 1455, 1460. 49 Vgl. Motzer, S. 26. 50 Zuck, V B Rdn. 65 ff. Dies wird bei §§ 90 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. und 93 c Satz 2 1. Alt. BVerfGG deutlich. 51 Zuck, VB Rdn. 57; Motzer, S. 26; Wintrich / Lechner, S. 669; Zweigert, JZ 1952, 321. 52 Stern, S. 1019. 53 Motzer, S. 26, 27. 54 Zweigert, JZ 1952, 322.
2. Abschn. : Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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£ . Die Artgleichheit zur Feststellungsklage Nach all diesen Begründungen für den Subsidiaritätsgrundsatz läßt die Verfassungsbeschwerde den Vergleich zur Feststellungsklage zu. Diese ist immer dann ausgeschlossen, wenn der Kläger sein Ziel schneller und besser mit einer Leistungs- bzw. Gestaltungsklage erreichen kann. Übertragen bedeutet dies, daß der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde fachgerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten, etwa Normvollziehungsakte anzufechten, vorrangig ausnutzen muß. 55 3. Kapitel Die einzelnen Lösungsansätze A. Normative Grundlage: § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Die normative Verankerung der Subsidiarität einer Verfassungsbeschwerde findet sich in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. 5 6 I. Grundsätze
Nach dieser Vorschrift ist die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des gegen die behauptete Verletzung möglichen Rechtsweges zulässig. (1) Rechtsweg ist jeder in einer Norm vorgesehene Instanzenzug,57 sofern er im konkreten Verfahren zulässig ist. 58 Ein Gericht muß somit durch Prozeßgesetze zur Entscheidung verpflichtet sein. 59 (2) Der Rechtsweg ist grundsätzlich solange nicht erschöpft, als die Möglichkeit besteht, im Verfahren vor den Gerichten des zuständigen Gerichtszweiges die Beseitigung des Hoheitsaktes, hier der Rechtsnorm, zu erreichen, dessen Grundrechtswidrigkeit geltend gemacht wird. 6 0 Der Beschwerdeführer muß somit von den Rechtsmitteln Gebrauch machen. 61 Eine formell rechts55
Motzer, S. 141. Scholler / Broß, Rdn. 294: „in Verbindung mit Art. 94 Abs. 2 G G " ; H. Klein, S. 1333; vgl. auch Schenke, NJW 1986,1456; Zweigert, JZ 1952, 325; BVerfGE 68, 376, 379 f. Anderer Ansicht ist Ridder, JZ 1968, 378, s. 1. Kap., B. III. Gleichwohl sind die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 BVerfGG zu prüfen. 57 Gusy, Rdn. 134. 5 8 Gusy, Rdn. 135. 59 Gusy, Rdn. 137, der darauf hinweist, Rdn. 135, daß ausnahmsweise der Rechtsweg auch durch richterliche Rechtsfortbildung möglich ist. Sonstige Rechtswegmöglichkeiten brauchen nicht erschöpft zu werden. 60 BVerfGE 8, 222 LS; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 70. 61 Gusy, Rdn. 144. 56
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kräftige Entscheidung eröffnet den Weg zum BVerfG nicht, sofern der Instanzenzug nicht durchlaufen wurde. 62 Dementsprechend darf der Beschwerdeführer kein gesetzlich zugelassenes Rechtsmittel unterlassen oder (etwa wegen Fristablaufs) versäumt haben. 63 Die Verfassungsbeschwerde ist vielmehr erst nach einer letztinstanzlichen Entscheidung möglich, kann allenfalls nachträglich zulässig werden, wenn diese während des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ergeht. 64 (3) Einzelfälle (a) Die Anrufung des Lflndesverfassungsgerichts zählt nicht zum Rechtsweg, da gemäß § 90 Abs. 3 BVerfGG die Grundrechtsklage vor dem Landesverfassungsgericht neben die Verfassungsbeschwerde tritt. 6 5 (b) Der Vorbescheid eines höchsten (Bundes-)Gerichts bedeutet keine Erschöpfung des Rechtsweges.66 (c) Umstritten ist, ob eine letztinstanzliche Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren bereits das Gebot des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erfüllt. (aa) Dies wird vom BVerfG 6 7 in jüngster Rechtsprechung mittlerweile bejaht. (bb) Nach einem Teil der Rechtslehre 68 ist der Rechtsweg jedoch solange nicht erschöpft, als die Möglichkeit besteht, das Hauptsache verfahren anzustrengen. (cc) Stellungnahme Es ist zu berücksichtigen, daß es sich bei dem vorläufigen Rechtsschutz- und dem Hauptsacheverfahren um selbständige Verfahren handelt. 69 § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG spricht nicht die Verfahrensart an, sondern beschränkt sich auf das Gebot der Erschöpfung des Rechtsweges. Dieser ist aber bereits 62 Wintrich, S. 10. 63 Zuck,, JuS 1988, 374; Gusy, Rdn. 146; Schiaich, S. 118. 64 Gusy, Rdn. 148; Zuck, V B Rdn. 629, 630. 65 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 195; Zuck, JuS 1988, 374; Gusy, Rdn. 136; Geiger, D R i Z 1969, 141. 66 Vgl. Herden / Gmach, NJW 1986, 2021: Die Verfassungsbeschwerde gegen den Vorbescheid des V I I . Senats des BFH ist unzulässig. 67 BVerfGE 70, 180, 187; 75, 318, 325; 76, 1, 39; 77, 381, 401; so auch E. Klein, S. 1307, und Zuck, V B Rdn. 43, allerdings widersprüchlich zu JuS 1988, 374. Anderer Ansicht ist noch BVerfGE 51, 130, 138: Der Rechtsweg ist noch nicht erschöpft. Vgl. auch E. Klein, AöR 108, 594. 68 Zuck, JuS 1988, 374; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 120; so auch noch BVerfGE 51, 130, 138, s. Fn. 67. Unentschieden Pieroth / Schlink, Rdn. 1265. 69 BVerfGE 75, 318, 325.
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erschöpft, wenn der Instanzenzug in einem der (beiden) möglichen Verfahren durchlaufen wurde. Danach ist diese Vorschrift nicht mehr einschlägig. Die Frage, ob der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gleichwohl das noch mögliche Hauptsacheverfahren beschreiten muß, fällt somit nicht unter den Wortlaut des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, sondern greift darüber hinaus das Subsidiaritätsproblem auf. I I . Rechtsweg gegen Rechtsnonnen
Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Normenbeschwerde gegen eine Verletzung durch ein Gesetz. Fraglich ist, ob unmittelbar gegen Rechtsnormen als verletzende Hoheitsakte überhaupt ein Rechtsweg besteht. 1. Grundsatz Grundsätzlich ist gegen Gesetze kein Rechtsweg eröffnet. Fachgerichte sollen nicht die politischen Entscheidungen der frei gewählten Legislative in Frage stellen und ggf. sogar kassieren können. Es steht einfachen Gerichten nicht zu, gegenüber dem unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament den Vorwurf eines verfassungswidrigen Verhaltens ohne Einschaltung eines Verfassungsgerichts auszusprechen. 70 Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen stellt nach der grundgesetzlichen Ordnung primär die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit dar. 71 Gegen förmliche Gesetze existiert kein Rechtsweg.72 2. § 47 VwGO Eine Ausnahme bedeutet jedoch § 47 VwGO für nicht-förmliche Gesetze. Früher war umstritten, ob der Beschwerdeführer erst auf den nach § 47 VwGO eröffneten Rechtsweg zu verweisen war. 73 Nach der Neufassung dieser Vorschrift ist heute unstreitig, daß die nach § 47 VwGO eingeräumte oberverwaltungsgerichtliche Normenkontrolle als (eininstanzlicher) „Rechtsweg" i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG vorab zu „erschöpfen" ist und das BVerfG die Norm im Normenbeschwerde verfahren dann nachprüfen kann. 74 70
Schenke, DVB1 1985, 1369. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 194; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 70; Büsser, S. 88; Lerche, S. 377. 72 Meyer, in: v. Münch, Art. 93 Rdn. 59; Gusy, Rdn. 138. 73 Dagegen BVerfGE 38, 139, 145: zweifelhafte Möglichkeiten sind nicht zumutbar; Büsser, S. 88; Laubinger, JA 1971, 597. Dafür Bachof NJW 1968, 1066. 74 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 202a; Zuck, JuS 1988, 374; Motzer, S. 112; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 121; vgl. auch BT-Drucksache 7/4324 S. 10. 71
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
(a) Nach jüngster Rechtsprechung des BVerfG 7 5 ist der Rechtsweg nach § 47 VwGO auch gegen förmliche Gesetze zu erschöpfen, die materiell der Gesetzesqualität im Sinne dieser Vorschrift entsprechen, somit ζ. B. auch gegen förmliche Bebauungsplangesetze. (b) Nach Zuck 7 6 eröffnet § 47 VwGO hier keinen gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG vorab zu erschöpfenden Rechtsweg. Dieser sei erst im Zuge der „Selbsthilferechtsprechung" des BVerfG neu geschaffen worden. Die erst auf „Anweisung" des BVerfG begründeten Rechtsschutzmöglichkeiten würden mangels eines vorhandenen, in einer Norm ausgewiesenen Rechtsweges77 nicht unter § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, sondern den darüber hinausreichenden Subsidiaritätsgrundsatz fallen. (c) Stellungnahme Das BVerfG schafft hier keine neue Rechtsschutzmöglichkeit und damit keinen neuen Rechtsweg gegen (formelle) Gesetze, sondern erweitert einen bisher schon vorhandenen durch eine extensive Auslegung des in § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO normierten Begriffes „Satzung". Insofern sollte die Erörterung dieses Problems bei § 90 Abs. 2 BVerfGG verbleiben. 78 (d) Das BVerfG 7 9 begründet in diesem Fall die Notwendigkeit, vor Einlegung der Normenbeschwerde die oberverwaltungsgerichtliche Normenkontrollklage nach § 47 VwGO zu erheben, mit Art. 3 Abs. 1 GG. Fehle diese Möglichkeit für formelle Bebauungsplangesetze, sei gleicher Rechtsschutz im Verhältnis zu anderen Bundesländern, in denen Bebauungspläne als Satzungen erlassen werden und folglich gemäß § 47 VwGO überprüft werden können, aber auch im Hinblick auf andere, innerhalb desselben Bundeslandes als Satzung erlassene Bebauungspläne,80 nicht mehr gewährleistet. Für den Bürger sei es ein zufälliges - und somit nicht mehr als sachgerechte Differenzierung i. S. d. Art. 3 Abs. 1 GG bezeichenbares - Ergebnis, ob nun ein nicht angreifbares formelles Gesetz oder eine der oberverwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle unterliegende Satzung erlassen werde. Die dann ausschließlich in Betracht kommende Verfassungsbeschwerde zum BVerfG könne dem Beschwerdeführer nicht die Fülle des Rechtsschutzes wie eine oberverwaltungsgerichtliche Normenkontrolle bieten. Das BVerfG sei nämlich in seiner 75 BVerfGE 70, 35, 54 ff.: Bebauungsplangesetze der Freien und Hansestadt Hamburg sind als Satzungen i. S. dieser Verfahrensbestimmung (§ 47 VwGO) zu behandeln, S. 57. 7 6 Zuck, JZ 1985, 1050. 77 Vgl. die Anforderungen an den „Rechtsweg", s. I. 78 So auch E. Klein, S. 1310 Fn. 34. 79 BVerfGE 70, 35, 55 ff. 80 In Hamburg können Bebauungspläne sowohl als Satzung als auch als formelles Gesetz ergehen. (Regelung in § 3 Abs. 2 des Gesetzes über die Feststellung von Bauleitplänen und ihrer Sicherung.)
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Prüfungskompetenz auf Bundesverfassungsrecht beschränkt. Gleicher Rechtsschutz dürfe aber nicht von der bloßen Gesetzesform abhängen. Somit müsse das Normenkontrollverfahren auch gegen (formelle) Bebauungsplangesetze zulässig sein. (e) Diese Entscheidung hat Kritik 8 1 erfahren. Das BVerfG habe den eindeutigen Wortlaut des § 47 VwGO überschritten. 82 (aa) Die Notwendigkeit einer oberverwaltungsgerichtlichen Normenkontrollklage auch gegen (formelle) Bebauungsplangesetze könne nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG begründet werden. Danach erforderten weder Art. 3 Abs. 1 GG noch Art. 19 Abs. 4 GG oder andere Normen des Verfassungsrechts, daß jenseits des verfassungsrechtlich gebotenen Mindeststandards an Rechtsschutz, gleichartige Lebenssachverhalte innerhalb eines Bundeslandes oder im Vergleich zwischen mehreren Bundesländern stets in der Weise zu regeln seien, daß gegen die Regelungsakte dieselbe Art von Rechtsschutz erlangt werden könne. Dieser Mindeststandard sei hier aber gegeben. ((1)) Zunächst gebiete Art. 19 Abs. 4 GG nach einhelliger Meinung nicht die oberverwaltungsgerichtliche Normenkontrolle gegenüber Bebauungsplänen. 83 ((2)) Darüber hinaus bestünden Rechtsschutzmöglichkeiten durch inzidente Normenkontrollen. 84 ((3)) Effektiver (prinzipaler) Rechtsschutz werde durch die Normenbeschwerde zum BVerfG hinreichend gewährleistet. 85 ((4)) Im übrigen beruhe auch die die für Bebauungspläne unterschiedliche Gesetzesformen regelnde Vorschrift des § 32 Abs. 1 (Hambg. Gesetz über Feststellung von Bauleitplänen und ihrer Sicherung) unstreitig auf sachgerechten Erwägungen. 86 Insoweit bedürfe es keines nach § 47 VwGO erweiterten Rechtsschutzes gegenüber formellen Gesetzen. (bb) Durch die ausdrückliche Bestimmung von Satzungen wollte der Gesetzgeber Bebauungspläne in Form von Gesetzen von der oberverwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle ausnehmen.87 (cc) Im übrigen könne das Oberverwaltungsgericht auch die Ungültigkeit derartiger Bebauungspläne nicht feststellen, da das Verwerfungsmonopol für si Schenke, DVB1 1985, 1368 f.; Steinberger, diss, op., in: BVerfGE 70, 59 ff., 64. 82 Steinberger, in: BVerfGE 70, 64. 83 Steinberger, in: BVerfGE 70, 61; Pestalozza, NJW 1978, 1787; so auch BVerfGE 70, 35, 56. 84 In gerichtlichen Streitverfahren über Ausführungsakte (ζ. B. Baugenehmigungen), Steinberger, in: BVerfGE 70, 61. ss Schenke, DVB1 1985, 1368. 86 Steinberger, in: BVerfGE 70, 61, 62. 87 Schenke, DVB1 1985, 1369.
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formelle Gesetze ausschließlich beim BVerfG liege. Es stehe einfachen Gerichten nicht zu, gegenüber dem unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament den Vorwurf eines verfassungswidrigen Verhaltens ohne Einschaltung eines Verfassungsgerichts auszusprechen. 88 (f) Stellungnahme Das BVerfG hat hier die Interpretation des § 47 VwGO in nicht mehr nachvollziehbarer Weise überdehnt. Sie ist auch nicht erforderlich, da die Normenbeschwerde ausreichenden Rechtsschutz bietet. Ein den Beschwerdeführer belastender (rechtswidriger) Bebauungsplan, der gegen irgendwelche (auch landesrechtliche) höherrangige Rechtsvorschriften verstößt, verletzt zugleich zumindest das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (und damit Bundesserfassungsrecht), so daß eine Beschränkung des Prüfungsumfanges des BVerfG nicht stattfindet. 89 Der Betroffene braucht zwar im oberverwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren nur einen „Nachteil'' schützenswerter Individual wter&sseAz und keine „Rechtsverletzung" geltend zu machen, erhält dadurch aber keinen verbesserten Rechtsschutz. Insoweit vermag die Argumentation des BVerfG, die Normenbeschwerde biete nicht die Fülle desjenigen Rechtsschutzes wie die oberverwaltungsgerichtliche Normenkontrolle, nicht zu überzeugen. Im übrigen kann kein deutsches Gericht verbindlicher und endgültiger als das BVerfG über Rechtmäßigkeit und Gültigkeit von Gesetzen entscheiden. Dem Beschwerdeführer würde mit der (in diesem Fall ansonsten zulässigen und begründeten) Normenbeschwerde optimaler Rechtsschutz gewährleistet. Wie das BVerfG 9 0 selber einräumt, konnte der Beschwerdeführer mit dieser Auslegung des § 47 VwGO nicht rechnen, durfte vielmehr auf die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde vertrauen. Die Zurückweisung kostet Zeit und mindert möglicherweise die Effektivität des Rechtsschutzes.91 Durch derart unkalkulierbare Erwägungen büßt das BVerfG an Autorität ein; das Vertrauen in die Effektivität auch berechtigter Verfassungsbeschwerden schwindet. Die restriktive Auslegung der Zulässigkeitsvoraussetzungen soll das BVerfG vor unnötiger Inanspruchnahme entlasten, nicht aber zugleich
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s. oben unter 1. Schenke, S. 365; JuS 1981, 87: ureigenster Bereich materieller Verfassungsgerichtsbarkeit; Ossenbühl, S. 491; Zeidler, EuGRZ 1988, 208, der an der Entscheidung aber mitgewirkt hat. 90 BVerfGE 74, 218 f. (Nachfolgeentscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers auf Kostenerstattung): Insoweit wurde gemäß § 34 a Abs. 3 BVerfGG dem Antrag auf Kostenerstattung trotz unzulässiger Verfassungsbeschwerde stattgegeben, da abgesehen von der fehlenden Rechtswegerschöpfung - die Verfassungsbeschwerde Erfolg gehabt hätte. 91 Eventuell entscheidet das Oberverwaltungsgericht rechtskräftig anders, so daß zunächst gemäß den Bebauungsplanbestimmungen gebaut werden kann - mit möglicherweise irreparablen Folgen. 89
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das berechtigte Verlangen des Beschwerdeführers nach Grundrechtsschutz beschneiden. 3. Feststellungsklage Möglicherweise eröffnet eine nach § 43 VwGO mögliche Feststellungsklage einen i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu erschöpfenden Rechtsweg gegen Gesetze. Diese Klage ist grundsätzlich zwar auf die Feststellung von Rechten und Pflichten, die sich aus einer Rechtsnorm angesichts eines konkreten Sachverhalts für die Beteiligten ergeben, 92 gerichtet, und nicht auf die Feststellung der Nichtigkeit einer Norm; 9 3 an der Zulässigkeit ändert aber nichts, daß die Entscheidung des Rechtsstreits allein davon abhängen kann, ob ζ. B. eine Rechtsverordnung gültig ist. 9 4 Zu berücksichtigen ist jedoch, daß dort, wo das Gesetz eine Nachprüfung landesrechtlicher Bestimmungen im Wege der Normenkontrolle nicht zuläßt, Klagebegehren, die im Ergebnis darauf hinauslaufen, die Rechtmäßigkeit einer Norm zum eigentlichen Gegenstand eines Verwaltungsstreitverfahrens zu machen, unzulässig sind, gleichgültig, in welche Form sie gekleidet werden. 95 Eine Feststellungsklage ist keine prinzipale Normenkontrolle 96 und damit - etwa als „verkappte Normenkontrolle" - kein vorab zu erschöpfender Rechtsweg unmittelbar gegen das Gesetz. 97 Auch das in neueren Entscheidungen des BVerfG 9 8 aufgestellte Postulat, vor Einlegung der Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde sei zunächst - wenn möglich - eine Feststellungsklage zu erheben, bedeutet keinen Widerspruch dazu, da diese Prüfung im Rahmen des über das Gebot der Rechtswegerschöpfung hinausführenden Subsidiaritätsgrundsatzes der Verfassungsbeschwerde erfolgt.
4. Sekundäransprüche Sekundäransprüche wie ζ. B. Amtshaftungsansprüche, Dienstaufsichtsbeschwerden 99 gehören nicht zum Rechtsweg i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, 1 0 0 da sie gegenüber der Rechtsnorm selber keinen effektiven Rechtsschutz gewährleisten; 101 derartige Klagen lassen die angegriffene Maß92 93 94 95 96 97
BVerwG NJW 1983, 2208; Kopp, § 43 Rdn. 8. O V G Münster NJW 1976, 2038; Kopp, § 43 Rdn. 8. BVerwG NJW 1983, 2208; Schenke, NJW 1986, 1457. BVerwG NJW 1983, 2208; Kopp, § 43 Rdn. 14. Schenke, S. 151, 246 f. Vgl. schon BVerfGE 10, 89, 98; Henning, S. 233 ff.
98 B V e r f G E 71, 305, 347; 74, 69, 76. 99
Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 120. 100 So schon Röhl, M D R 1954, 389. ιοί Schenke, S. 303; NJW 1986, 1458.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
nähme (hier das Gesetz) unberührt. 102 Dieser normbezogene „Primäranspruch" ist nur mit der Verfassungsbeschwerde weiterverfolgbar. 103 Speziell für den Amtshaftungsprozeß stellt die Normenbeschwerde einen anderweitigen Rechtsweg i. S. d. § 839 Abs. 3 BGB dar. 1 0 4
I I I . Ergebnis
Als Ergebnis bleibt somit festzustellen, daß grundsätzlich das BVerfG das für prinzipale Normenkontrollen ers/zuständige Gericht ist. 1 0 5 Nur unter den engen Voraussetzungen des § 47 VwGO besteht (ausnahmsweise) ein (eininstanzlicher) Rechtsweg, der vor Erhebung der Normenbeschwerde zu erschöpfen ist. I V . Ausnahmen
Von dem Gebot der Rechtswegerschöpfung gibt es Ausnahmen. 1. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG - die „Ausgleichsnorm zur Verwirklichung der Grundrechte im Einzelfall" 106 - bestimmt, unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise die Beschreitung eines möglichen Rechtsweges entbehrlich ist. Zwar sind auch Fachgerichte schon gehalten, Grundrechte zu wahren und zu verwirklichen; 107 die Vorschrift greift aber dann ein, wenn ausnahmsweise aus besonderen, noch näher zu erläuternden Umständen der Verweis des Beschwerdeführers auf den vorab zu erschöpfenden Rechtsweg nicht geboten ist. (a) Anwendbarkeit Grundsätzlich spielt § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG bei Normenbeschwerden keine Rolle. Da, abgesehen von der erst in jüngerer Zeit allgemein anerkannten Ausnahme des § 47 VwGO, gegen Rechtsnormen kein Rechtsweg i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG existiert, findet dementsprechend die sich auf Satz 1 beziehende Ausnahmevorschrift des Satzes 2 ebenfalls keine Anwen-
102 Gusy, Rdn. 137; im Ergebnis auch Erichsen, Jura 1979, 336; Zweigert, JZ 1952, 326, mit der (unpräzisen) Begründung, es handle sich um kein grundrechtssptzifisches Verfahren. 103 Zuck, JuS 1988, 374; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 120. i° 4 Schenke, DVB1 1975, 127. 105 Motzer, S. 113. Zacher, S. 416, 426. 107 Vgl. Scholler / Broß, Rdn. 255.
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dung. 108 Ist jedoch § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ausnahmsweise einschlägig, kann für § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nichts anderes gelten. 109 Voraussetzung für eine im pflichtgemäßen Ermessen des BVerfG stehende Vorabentscheidung i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist aber immer, daß der Rechtsweg noch offensteht oder bereits partiell beschritten wurde. 110 (b) § 90 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. BVerfGG Die Vorschrift enthält objektive („Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung") und subjektive („schwerer und unabwendbarer Nachteil") Elemente. 111 Die Verfassungsbeschwerde ist von „allgemeiner Bedeutung", wenn die Entscheidung des BVerfG grundsätzlich verfassungsrechtliche Fragen aufwirft 1 1 2 und über den Einzelfall hinaus Klarheit über die Rechtslage in einer Vielzahl gleichgelagerter (akuter, nicht erst in Zukunft denkbarer) Fälle schafft. 113 Das Merkmal der allgemeinen Bedeutung ist aber nur ein Moment der Abwägung für und wider die sofortige Sachentscheidung.114 Es besteht insoweit in einem derartigen Fall keine Verpflichtung, vor Erschöpfung des Rechtsweges zu entscheiden. Das BVerfG kann vielmehr auch andere, für oder gegen eine vorzeitige Entscheidung sprechende Umstände pflichtgemäß abwägen. 115 (c) § 90 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. BVerfGG Die zweite Alternative spricht mit dem dem Beschwerdeführer drohenden „schweren und unabwendbaren Nachteil" subjektive Zumutbarkeitsgedanken an. 1 1 6 Diese Voraussetzung läßt sich nur anhand der Verhältnisse des Beschwerdeführers beurteilen; insoweit ist bei der Prüfung ein individueller Maßstab anzulegen. (aa) Es muß ein Nachteil dadurch drohen, daß die Angelegenheit vom BVerfG nicht vor, sondern erst nach Ausnutzung aller möglichen Rechtsbe108
Es war einhellige Meinung, daß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf Normenbeschwerden nicht anwendbar ist, BVerfGE 2, 292, 295; 3, 34, 36; 15, 126, 132; SchmidtBleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 194; Leibholz / Rupprecht, § 90 Rdn. 87; Zuck, V B 1973 S. 61; H. Klein, S. 1340. 109 Schenke, S. 309, 310; NJW 1986, 1459, 1460; Bettermann, AöR 86, 148, 149; Pieroth, DVB1 1974, 196. 110 Gusy, Rdn. 156, 159; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 126; Herzog / Schick, S. 79; A. Arndt, NJW 1965, 808; Echterhölter, BB 1954, 894. in E. Klein, S. 1307; H. Klein, S. 1340. 112 Zuck, VB Rdn. 634. 113 Geiger, § 90 Nr. 8; Gusy, Rdn. 159. 114 BVerfGE 76, 248, 251. 115 BVerfGE 76, 248, 252; vgl. schon Zuck, V B 1973 S. 60 Fn. 36 und jetzt V B Rdn. 642. 116 E. Klein, S. 1307; H. Klein, S. 1340.
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1. Teil: Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
helfe entschieden wird. Die zeitliche Bevorzugung unter Berücksichtigung der Dringlichkeit der übrigen Verfahren muß offensichtlich geboten sein. 117 Das ist nicht der Fall, wenn der dem Beschwerdeführer drohende Nachteil auch durch eine sofortige (Vorab-)Entscheidung nicht mehr abgewendet werden kann. 1 1 8 (bb) Der Nachteil ist schwer, wenn der Beschwerdeführer in einer Weise betroffen ist, die ihn über das Maß der gewöhnlichen Belastung durch das Risiko rechtwidriger Eingriffe hinaus trifft. 1 1 9 (cc) Der Nachteil ist unabwendbar, wenn eine Erledigung des Anspruchs wegen Zeitablaufs droht, d. h. die Durchführung der Maßnahme (Vollzug des Gesetzes120) bevorsteht, so daß faktisch ein Rechtsverlust eintreten kann. 1 2 1 Es muß somit die Gefahr bestehen, daß ein Nachteil nicht mehr rückgängig zu machen ist, mag er auch noch ausgeglichen werden können. 122 (dd) Genau genommen drückt § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nur sekundär Zumutbarkeitsgedanken aus, will vielmehr den Beschwerdeführer vor im Einzelfall ineffektiven (und dadurch erst unzumutbaren) Rechtsschutzmöglichkeiten bewahren. 123 Es bleibt aber festzustellen, daß diese Voraussetzung 124 nur sehr selten erfüllt ist. 1 2 5 2. Nicht normierte Ausnahmen Über die in § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gesetzlich geregelten Fälle sind unter ganz engen Voraussetzungen 126 - weitere (ungeschriebene) Ausnahmen vom Gebot der Rechtswegerschöpfung anerkannt. (a) Einordnung (aa) Das BVerfG 1 2 7 weist darauf hin, daß auch von § 90 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. BVerfGG abweichende objektive Kriterien (weitere) Ausnahmen begründen können. Es handelt sich hierbei primär um am Grundsatz der Subsidiarität orientierte (Praktikabilitäts-)Erwägungen. 117
Gusy, Rdn. 155. Zuck, V B Rdn. 641; vgl. auch BVerfGE 8, 38, 40; 14, 192, 194. 119 Gusy, Rdn. 157. 120 Ζ. B., wenn entsprechend dem (grundrechtswidrigen) Bebauungsplan gebaut wird, s. Fn. 91. 121 Gusy, Rdn. 158. 122 Geiger, § 90 Nr. 8; vgl. die Beispiele bei Zuck, V B Rdn. 638, 639. 123 s. untenC. IX. 1. 124 Aus den drei Komponenten aa) bis cc) bestehend. 125 Gusy, Rdn. 158, spricht zu Recht von einer „seltenen Ausnahme". ™ Vgl. dazu BVerfGE 68, 376, 380. i 2 7 BVerfGE 68, 376, 380, 381. 118
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(bb) Auch beschwerdeführerbezogene (subjektive) Gründe können im Einzelfall die Entbehrlichkeit fachgerichtlicher Inanspruchnahme rechtfertigen. Nach überwiegender Ansicht der Rechtslehre 128 handelt es sich hierbei um Zumutbarkeitsüberlegungen. ((1)) Diese globale Klassifizierung ist nicht unproblematisch, da Zumutbarkeitsgedanken bereits (sekundär 129 ) in § 90 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. BVerfGG Ausdruck gefunden haben. Insofern bedarf es einer Differenzierung. § 90 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. BVerfGG dient der Abwehr irreparabler Nachteile, die dem Beschwerdeführer durch den Vollzug der angegriffenen Maßnahme, d. h. der Rechtsnorm, drohen und berücksichtigt die durch „nur" fachgerichtlichen Rechtsschutz entstehenden möglichen nachteiligen Auswirkungen der Norm auf den Betroffenen. Die ungeschriebenen Kriterien orientieren sich hingegen ausschließlich an der persönlichen Situation des Beschwerdeführers, unabhängig von der angegriffenen Maßnahme; sie sind somit „echte" Zumutbarkeitskriterien. ((2)) Nach Ansicht Arndts 1 3 0 handelt es sich hingegen nicht um Zumutbarkeitserwägungen, sondern um objektive Kriterien des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzbedürfnisses. ((3)) Stellungnahme Die letztgenannte Meinung vermag nicht zu überzeugen. Arndt ist zwar im Ergebnis zuzustimmen, daß Gründe des Rechtsschutzinteresses im Einzelfall Ausnahmen von den jeweiligen Zulässigkeitskriterien gebieten können; 131 der von ihm aufgestellte Gegensatz zur Zumutbarkeit läßt sich jedoch nicht nachvollziehen. Ist dem Bürger im Einzelfall aus schwerwiegenden - noch näher zu erläuternden - Gründen der ordentliche Rechtsweg nicht zumutbar, so kann er in diesem Fall ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Verfassungsbeschwerde darlegen. Insoweit lassen sich Zumutbarkeitsfragen nur als (Teil-)Aspekt des Rechtsschutzbedürfnisses auffassen. (b) Einzelfälle (aa) Objektive (Praktikabilitäts-)Erwägungen ((1)) Der Rechtsweg braucht dann nicht erschöpft zu werden, wenn von einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung keine abweichende Ent-
128 Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 70; Gusy, Rdn. 150; Zuck, VB Rdn. 644; E. Klein, S. 1321; Laubinger, JA 1971, 598; Pfeiffer, S. 30; Redelberger, NJW 1953, 365; Zweigert, JZ 1952, 323, 325. 1 29 s. 1. (c) (dd). 130 A. Arndt, NJW 1965, 809. 131 s. 1. Abschnitt, 2. Kap., C. III.
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
Scheidung zu erwarten ist. 1 3 2 Insoweit wäre das Beschreiten des Rechtsweges ein bloßes Kostenrisiko, ohne daß der Beschwerdeführer tatsächlich effektiven Rechtsschutz erlangen könnte. 133 ((1.1)) Für Röhl 1 3 4 handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein die Ausnahme von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG rechtfertigendes Kriterium. Dieselbe Einsicht, die der Beschwerdeführer vom BVerfG erwarte, könne er auch von den Rechtsmittelgerichten erwarten. Insoweit habe er den Rechtsweg zu erschöpfen. ((1.2)) Stellungnahme Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß es unwahrscheinlich erscheint, daß ein Gericht ohne „äußeren" Anlaß, ζ. B. eine Entscheidung des BVerfG, seine gefestigte Rechtsprechung aufgibt. Im übrigen konzentriert sich Röhl zu sehr auf die subjektive Komponente, d. h. auf Zumutbarkeitsgedanken, während speziell in jüngster Rechtsprechung 135 (weitere) objektive (beschwerdeführerunabhängige) Gründe für die Entbehrlichkeit der Rechtswegerschöpfung betont werden. In diesen Fällen ist bereits der Subsidiaritätszweck, eine fachgerichtliche Klärung der Sach- und Rechtsfragen herbeizuführen 136 erreicht worden. Da effektiver fachgerichtlicher Rechtsschutz nicht zu erwarten ist, kann die Verfassungsbeschwerde sofort zugelassen werden. ((2)) Eine Rechtsnorm ist weiterhin sofort mit der Normenbeschwerde angreifbar, wenn im Einzelfall das Gebot der vorrangigen Rechtswegerschöpfung keine Entlastung des BVerfG 1 3 7 bewirken würde. Derartige Fälle sind denkbar, wenn aufgrund des Fehlens einer verbindlichen (Sofort-)Entscheidung des BVerfG zahlreiche Verfassungsbeschwerden gegen ebenso zahlreiche oberverwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die im Grunde nur ein- und dasselbe Gesetz betreffen, drohen. 138 Muß grundsätzlich jeder Beschwerdeführer selber den Rechtsweg erschöpfen, 139 so reicht u . U . aus, daß nur einer 132
BVerfGE 9, 3, 7; 18, 1, 16; 68, 143,152; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / SchmidtBleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 192; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 70; Zuck, V B Rdn. 646; Laubinger, JA 1971, 598; Pfeiffer, S. 31; Redelberger, NJW 1953, 365; Zweigert, JZ 1952, 326. 133 Gusy, Rdn. 150. 134 Röhl, M D R 1954, 384, 390. 135 BVerfG NJW 1988, 2292. 136 s. 2. Kap., B. 137 s. 2. Kap., C. 138 f ü r Normenbeschwerden jedoch wenig aktuell: Für die (landesrechtlichen) Bestimmungen - vgl. § 47 Abs. 1 VwGO - ist i. d. R. auch jeweils nur ein (Landes-) Oberverwaltungsgericht zuständig und damit zu einer verbindlichen Entscheidung befugt. Entscheiden mehrere Oberverwaltungsgerichte, wird die Rechtsprechung zumindest durch eine verbindliche Entscheidung des BVerwG (nach § 47 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 VwGO) koordiniert. Vgl. BVerfGE 65, 1, 38. 139
Gusy, Rdn. 147; Zuck, V B Rdn. 624.
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von mehreren Betroffenen ihn beschreitet, wenn mehrere Personen dasselbe Grundrecht gegen dieselbe Maßnahme geltend machen können. 140 Die Rechtswegerschöpfung wird dann den anderen Beschwerdeführern gewissermaßen „zugerechnet." 141 Hinzukommen muß aber wohl, daß Rechtsfragen von grundsätzlich verfassungsrechtlicher Bedeutung zu klären sind. 142 (bb) (Subjektive) Zumutbarkeitserwägungen ((1)) Auch finanzielle Erwägungen können ausnahmsweise die Rechtswegerschöpfung entbehrlich werden lassen. Sie dürfen sich nur auf die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers, nicht aber auch auf die Dauer und Kosten der vorrangigen Verfahren beziehen. 143 Diese sind dem Beschwerdeführer grundsätzlich zuzumuten. Als Ausnahmefall kommt ζ. B. in Betracht, daß dem Betroffenen Armenrecht wegen der Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung versagt und der Beschwerdeweg dagegen erfolglos beschritten wurde. 1 4 4 ((2)) Denkbar ist auch noch, die Verfassungsbeschwerde sofort zuzulassen, wenn der Beschwerdeführer sich über den möglichen, vorab zu erschöpfenden Rechtsweg irrt. So kommt in Betracht, daß er irrtümlich, wenngleich ohne Verschulden, einen nicht gegebenen Rechtsweg beschreitet, 145 aufgrund des Zeitverlustes aber eine Verfristung der Verfassungsbeschwerde droht. 1 4 6 Beschreitet er hingegen irrtümlich den möglichen Rechtsweg nicht, 1 4 7 so wird i. d. R. ein Verschulden zu bejahen sein, so daß eine Vorabentscheidung nicht in Betracht kommt. 1 4 8 (cc) Im Einzelfall mögen weitere Ausnahmen denkbar sein, 149 in praxi spielen sie kaum eine Rolle. Wenn überhaupt schon ein Rechtsweg gegen eine Norm unter den Voraussetzungen des § 47 VwGO in Betracht kommt, wird das BVerfG angesichts seiner ohnehin restriktiven Rechtsprechung kaum auf 140
Gusy, Rdn. 147; Zuck, VB Rdn. 624. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 122. 142 Vgl. Zuck, JuS 1988, 374 Fn. 98 mit Verweis auf BVerfGE 51, 130, 143. 143 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 206; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 93 Rdn. 71; vgl. BVerfGE 22, 349, 355. 144 Zuck, V B Rdn. 648: Verweigerung der Prozeßkostenhilfe; Laubinger, JA 1971, 598. 145 Wenn er ζ. B. eine „Normenkontrollklage" vor dem Landesverfassungsgericht statt dem zuständigen Oberverwaltungsgericht erhebt. 146 Gusy, Rdn. 153; Zuck, VB Rdn. 651: Bei Unklarheiten vorsorglich Verfassungsbeschwerde erheben. 147 Wenn er ζ. B. in Unkenntnis von § 47 VwGO eine prinzipale Normenkontrolle nur vor dem BVerfG für möglich hält. 148 Gusy, Rdn. 154; Zuck, V B Rdn. 653. 149 Vgl. bei BVerfGE 22, 349, 359, den für Normenbeschwerden wohl kaum denkbaren Fall (Gesetze enthalten generelle, nicht individuelle Regelungen), daß der Beschwerdeführer einen besonderen Vertrauensschutz genießt. 141
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die oberverwaltungsgerichtliche (prinzipale) Normenkontrolle verzichten wollen, zumal diese die Gewähr wirkungsvollen Rechtsschutzes bietet. V . Problem
In den meisten Fällen löst § 90 Abs. 2 BVerfGG nicht das Subsidiaritätsproblem der Normenbeschwerden. (1) I. d. R. besteht kein Rechtsweg unmittelbar gegen die Norm, so daß § 90 Abs. 2 BVerfGG nicht einschlägig ist. Es widerspräche aber dem „Wesen der Verfassungsbeschwerde" 150, wenn in diesen Fällen die Normenbeschwerde - mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung - sofort zulässig wäre, obwohl durch eine mögliche inzidente Normenkontrolle 151 dem Beschwerdeführer bereits durch die Instanzgerichte effektiver Rechtsschutz zuteil werden könnte. (2) Auch in den Fällen, in denen ausnahmsweise § 47 VwGO einen gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG vor Erhebung der Rechtssatz-Verfassungsbesch werde zu beschreitenden Rechtsweg eröffnet, ergeben sich noch gesetzlich ungelöste Probleme. Wurde der Rechtsweg (nur) im einstweiligen Rechtsschutzverfahren - nach § 47 Abs. 8 VwGO - erschöpft, ist fraglich, ob die Normenbeschwerde trotz des noch möglichen Hauptsacheverfahrens, entsprechend dem Wortlaut des nicht die einzelnen Verfahrensten regelnden § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG 1 5 2 zulässig ist. (3) Das Problem läßt sich derart zusammenfassen, daß in den meisten Fällen unmittelbar gegen die angegriffene Rechtsnorm zwar kein Rechtsweg existiert oder aber bereits erschöpft wurde, § 90 Abs. 2 BVerfGG somit nicht (mehr) einschlägig ist, gleichwohl aber (noch) anderweitiger fachgerichtlicher Rechtsschutz in Betracht kommt. Dann ist eine Normenbeschwerde (noch) nicht erforderlich, um dem Betroffenen wirksamen Rechtsschutz gegenüber grundrechtswidrigen Gesetzen zu gewährleisten. Somit wird deutlich, daß § 90 Abs. 2 BVerfGG den Subsidiaritätsgrundsatz nur ausschnittsweise erfaßt. 153 Insbesondere bei der Normenbeschwerde müssen anderweitige, rechtsdogmatisch befriedigende Lösungsmöglichkeiten gefunden werden, um das Subsidiaritätsprinzip auch in diesen Fällen in einer sinnvollen Weise zu berücksichtigen. Die Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde muß dann - aber auch nur dann - zulässig sein, wenn sie als einziges effektives und zumutbares Rechtsmittel in 150
s. 2. Kap. Bei vollziehbaren Normen durch Anfechtung des Norm Vollziehungsaktes, s. C. I., bei nicht vollziehbaren Normen durch eine Feststellungsklage, s. C. IV. Diese gehört nicht zum Rechtsweg i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, s. II. 3. 152 s. I. 3. (c) (cc). 153 s. 1. Kap., C. I I I . 151
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der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
Betracht kommt. Unter diesem Aspekt sind geeignete Zulässigkeitskriterien zu entwickeln. B. Unmittelbar betroffen Insbesondere die Rechtsprechung hat zur Lösung des Subsidiaritätsproblems das Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit entwickelt. Der Begriff selber zeigt bereits die formale Zugehörigkeit zur Beschwerdebefugnis auf. So ist die Betroffenheitsprüfung über den Wortlaut des § 90 Abs. 1 BVerfGG derart erweitert worden, daß der Beschwerdeführer nicht nur selbst und gegenwärtig, sondern auch unmittelbar durch die angegriffene Rechtsnorm betroffen sein muß. I. Die frühe Rechtsprechung des BVerfG
Das BVerfG 1 5 4 hat dieses Merkmal häufig „negativ" formuliert. (1) Es hat den Grundsatz aufgestellt, daß der Beschwerdeführer dann nicht unmittelbar betroffen sei, wenn das Gesetz zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis einen besonderen, vom Willen der vollziehenden Gewalt beeinflußten Vollziehungsakt voraussetze. 155 Dies gelte unabhängig davon, ob der Vollziehungsakt im Ermessen der Verwaltung stehe oder nicht. 1 5 6 (2) Der Beschwerdeführer ist danach dann nicht unmittelbar durch die Rechtsnorm betroffen, wenn diese nur die Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß eines Verwaltungsaktes darstellt, somit vollziehungsfähig ist, auch wenn sie selber mit Rechtsfehlern behaftet sein sollte. 157 Vollziehungsakt i. S. d. Rechtsprechung kann auch ein öffentlich-rechtlicher Vertrag sein. 158 A n der unmittelbaren Betroffenheit fehlt es nach dieser Auffassung aber auch, wenn das Gesetz erst noch der Ergänzung und Ausfüllung durch eine untergesetzliche Rechtsnorm 159 bedarf. 154 „ N e g a t i v f o r m u l i e r u n g " seit B V e r f G E 1, 97, 102, 103; vgl. B V e r f G E 2, 292, 295;
3, 34, 36; 16, 147, 158 f.; 59, 1, 17 f.; 74, 69, 74; s. auch Ridder, JZ 1968, 378; Zuck, JuS 1988, 374; Gusy, Rdn. 121. 155 A n diesem „Unmittelbarkeitserfordernis" orientiert sich der Wortlaut der novellierten österreichischen Verfassung. (Vgl. die Wiedergabe bei Raschauer, D Ö V 1976, 698). 156 Vgl BVerfGE 18, 310, 314; auch die in Fn. 154 genannten Entscheidungen stellen nicht auf „Ermessen" ab. 157 BVerfGE 17, 381, 386; 57,70, 90; vgl. auch BVerfGE 14,25, 28; Gusy, Rdn. 122. 158 BVerfGE 68, 193, 215. 159 BVerfGE 53, 366, 389; 74, 297, 321, für Rechtsverordnungen; BVerfGE 61, 260, 274, für Satzungen; so auch Gusy, Rdn. 122. 7 van den Hövel
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
(3) Diese, das Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit mit dem Vollzugsproblem verknüpfende Meinung wird materiell-rechtlich derart zu begründen versucht, daß der Eingriff 160 in die Rechtssphäre des Bürgers erst durch den Vollziehungsakt und nicht unmittelbar durch die vollziehungsbedürftige und vollziehungsfähige Norm selber erfolge. 161 So bestimme ζ. B. erst eine untergesetzliche Rechtsnorm, nicht aber die Ermächtigungsnorm, den Inhalt der ins Auge gefaßten Regelung konkret und lege den Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens fest. 162 (a) Gegen einen bereits vor Erhebung der Rechtssatz-Verfassungsbesch werde erlassenen, fachgerichtlich anfechtbaren Vollzugsakt 163 sei somit zunächst der zur Verfügung stehende Rechtsweg zu beschreiten und die Verfassungsbeschwerde aufgrund der nur mittelbaren Betroffenheit des Beschwerdeführers unzulässig. 164 (b) Räume der Rechtssatz der Verwaltung die Möglichkeit zum Erlaß von Vollzugsakten ein, von der aber bis zur Erhebung der Normenbeschwerde noch kein Gebrauch gemacht worden sei, 165 so könne dem Beschwerdeführer (konsequenterweise) zugemutet werden, den Erlaß des Einzelaktes und damit die Anwendung der Norm auf sich, d. h. den erst durch den Vollzugsakt bedingten Eingriff in den Schutzbereich der Grundrechte, abzuwarten; gegen den Vollziehungsakt stehe dann der vorrangig zu erschöpfende Rechtsweg offen. 166 (4) Stellungnahme (a) Die Fehlerhaftigkeit dieser Definition, jeder Vollzugsakt schließe, unabhängig von seinem Regelungsgehalt, die unmittelbare Betroffenheit durch die Rechtsnorm selber aus, läßt sich problemlos an dem Beispielsfall verdeutlichen, daß der Anwendungsakt lediglich „feststellenden", quasi „normwiederholenden" Charakter hat. Auch ohne Einzelakt bleibt die Rechtslage mangels eines eigengestaltenden Regelungsgehaltes des Vollziehungsaktes materiell identisch. Insoweit läßt sich der bereits unmittelbar durch die Rechtsnorm verursachte Grundrechtseingriff schwerlich leugnen. Somit ist evident, daß die 160 BVerfGE 29, 407; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 99 a; Wintrich / Lechner, S. 679, verwenden den Begriff der „Beschwer", Gallwas, GR S. 140, spricht von „Berührung", Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 117, von „Beeinträchtigung". 161 E. Klein, S. 1309; vgl. auch Henning, S. 97, der die Auffassung des BVerfG referiert. 162 BVerfGE 53, 366, 389; 74, 297, 321. 1 63 Verwaltungsakt/öffentlich-rechtlicher Vertrag/untergesetzliche Rechtsnorm. 1 64 s. Fn. 154. 165 BVerfGE 55, 37, 53. 1 66 BVerfGE 14, 25, 30; 43, 291, 386; 55, 185, 195; so auch Umbach, S. 1246; vgl. auch Henning, S. 102, der die Rechtsprechung referiert.
2. Abschn. : Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
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ältere Rechtsprechung das maßgebliche Abgrenzungskriterium dafür, ob die angegriffene Rechtsnorm den Beschwerdeführer in Grundrechten unmittelbar betrifft - somit selber (ipso iure) die Beeinträchtigung bewirkt - , nicht dem materiellen Regelungsgehalt der Norm (und ihren Auswirkungen auf den Rechtskreis des Normadressaten), sondern ihrer Vollziehungsbedürftigkeit entnimmt. 1 6 7 Das Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit ist danach untrennbar mit dem Vollziehungsakt verknüpft. 168 Deswegen ist es auch unerheblich, ob der Vollziehungsakt im Ermessen der Verwaltung steht oder nicht, da er jedenfalls (vorrangig) fachgerichtlich angreifbar ist, insoweit die unmittelbare Betroffenheit ausschließt.169 Das Zulässigkeitskriterium der unmittelbaren Betroffenheit läßt sich somit ausschließlich als Subsidiaritätsmerkmal auffassen, 170 bildet gewissermaßen das „Pendant" zu dem bei Normenbeschwerden i. d. R. nicht einschlägigen § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG 1 7 1 und fungiert als (notwendiges (?) 1 7 2 ) Korrektiv, um die Zulässigkeit derartiger Verfassungsbeschwerden auf ein sinnvolles Maß zu beschränken. Insoweit leitet es sich weder aus § 90 Abs. 1 BVerfGG ab, 1 7 3 noch bringt es materiell Aspekte der Beschwerdebefugnis zum Ausdruck. (b) Auch aus dogmatischen Gründen läßt sich dieser Argumentationsansatz nicht vertreten. „Berührt" nämlich erst der Vollziehungsakt die Grundrechtssphäre des Beschwerdeführers, 174 so fragt sich, was diese insbesondere von der Rechtsprechung vertretene Meinung eigentlich bei der Prüfung der persönlichen, aktuellen Betroffenheit 175 feststellt, wenn nicht die „Berührung" der Grundrechtssphäre bereits durch die Rechtsnorm selber. 176 Insoweit besteht zwischen den Merkmalen der eigenen, aktuellen und der unmittelbaren Beschwer ein Widerspruch. Da das Kriterium der Selbst- und gegenwärtigen Betroffenheit normativ durch § 90 Abs. 1 BVerfGG „abgesichert" ist, 1 7 7 läßt 167 E. Klein, S. 1309; H. Klein, S. 1329. 168 H. Klein, S. 1332; Henning, S. 97. 169 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 99 a. 170 Das Merkmal legt somit fest, ob der Beschwerdeführer zunächst anderswo (fachgerichtlichen) Rechtsschutz suchen muß, vgl. Gusy, Rdn. 119; Battis / Gusy, S. 168; Erichsen, Jura 1979, 336. 171 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 90 Rdn. 99 a, 194; Zuck, JuS 1988, 374; Schiaich, S. 113, 116, 120. 172 s. unten G. 173 Gusy, Rdn. 120; Zuck, JuS 1988, 374; Schenke, NJW 1986,1459; Gerontas, D Ö V 1982, 440; Battis / Gusy, S. 168; Schneider, AöR 89, 28; Schiaich, S. 106; Scholler / Broß, Rdn. 293; E. Klein, S. 1309, bezeichnet den Subsidiaritätsgedanken als maßgebliches Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit. 1 74 s. Fn. 160. 175 Andere Bezeichnung für selbst und gegenwärtig betroffen. 176 BVerfGE 77, 308, 326, führt zutreffend aus, daß die Beschwerdeführer selbst betroffen seien, da die angegriffenen Gesetze Rechtspositionen nachteilig veränderten. 177 s. 1. Abschnitt, 2. Kap. *
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
sich dieser Widerspruch nur durch den Wegfall oder die Neudefinition Zulässigkeitskriteriums der unmittelbaren Betroffenheit auflösen.
des
I I . Die Neudefinition der unmittelbaren Betroffenheit durch die Rechtslehre
Diese Divergenz zwischen formalem Beschwerdebefugnis- und materiellem Subsidiaritätsmerkmal hat zu Kritik und einer Neudefinition des Zulässigkeitskriteriums der unmittelbaren Betroffenheit geführt. Ein großer Teil der Literatur 178 lehnt die Verknüpfung der unmittelbaren Betroffenheit mit dem Vollzugsproblem ab. Diese lasse sich nicht damit begründen, daß vollziehbare Normen noch nicht in die Rechtssphäre des Bürgers eingriffen. 179 Vielmehr sei die unmittelbare Beschwer unabhängig vom Erlaß etwaiger Vollziehungsakte materiell entsprechend ihrer Zugehörigkeit zur Beschwerdebefugnis zu bestimmen. 180 (1) Für den Regelfall wird hingegen in Übereinstimmung mit der Judikatur anerkannt, daß die (mögliche) Grundrechtsverletzung erst im Zusammenspiel einer lediglich eine unvollständige Regelung enthaltenden, sogenannten „imperfekten" Norm mit einem normergänzenden, sogenannten „perfektionierenden" Gestaltungsakt entstehe. 181 Norm und Normvollziehungsakt bildeten gewissermaßen eine Art grundrechtsverletzendes Komplementärverhältnis. 1 8 2 In diesen Fällen ist somit unstreitig, daß der Beschwerdeführer erst durch den Gestaltungsakt und noch nicht durch das Gesetz selber unmittelbar betroffen wird. (2) Die Diskrepanz zwischen dem materiell-rechtlichen Verständnis und der Auffassung der Rechtsprechung wird aber bei den sogenannten „self-executing"-Normen 183 evident. So gebe es Regelungen, die bereits auf der Gesetzgebungsstufe inhaltlich „perfekt" gestaltet seien, d. h. die Grundrechtsverletzung konstituierten. 184 Der Beschwerdeführer sei schon unmittelbar durch den Rechtssatz betroffen, wenn bereits das Gesetz in dessen Rechtskreis einwirke und seinem Inhalt nach die Freiheit des Bürgers beschränke oder beseitige, 185 indem es ge- oder verbiete, Pflichten auferlege, Rechte oder Rechtspositionen 178 Geiger, § 90 Nr. 5; Bettermann, AöR 86,134; Büsser, S. 70; Motzer, S. 118, 126; Henning, S. 94; Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 579, 580; H. Klein, S. 1334, 1335; Raschauer, D Ö V 1976, 703; vgl. auch Schenke, NJW 1986, 1453. 179 Schenke, NJW 1986, 1453. 180 Nach H. Kleins Meinung, S. 1332, verkennt dies das BVerfG. Vgl. auch Ridder, JZ 1968, 378: Das Merkmal stellt mehr auf die Betroffenheit als auf die Subsidiarität ab. 181 Büsser, S. 69. 182 Büsser, S. 66. 183 Vgl. H. Klein, S. 1334 f.; Büsser, S. 70. 184 Büsser, S. 70, 76. 185 Geiger, § 90 Nr. 5; H. Klein, S. 1338.
. Abschn. : u i
der Verfassungsbeschwerde gegen G e s e t z e 1 0 1
entziehe, verändere oder begründe, zumindest aber beeinträchtige. 186 Daß die Vorschrift der Vollziehung oder Anwendung fähig oder bedürftig sei, schließe keineswegs die Möglichkeit aus, daß bereits das Gesetz selber und nicht erst der Anwendungsakt dem Bürger Pflichten auferlege oder Rechte entziehe. 187 Wenn Einzelakte zwar denkbar seien und auch praktiziert würden, aber keinen eigengestaltenden, sondern nur feststellenden Charakter besäßen, d. h. die bereits eingetretene Grundrechtsverletzung nur in deklaratorischer Form wiederholten, allenfalls verschlimmerten, zeige sich gerade, daß schon die Norm entschieden habe; sie selbst könne bereits die behauptete Grundrechtsverletzung verwirklicht haben. 188 Nach dieser Meinung des Schrifttums beurteilt sich somit die Frage der unmittelbaren Betroffenheit nach der Struktur des Gesetzes, nicht aber danach, ob faktisch irgendein Vollziehungsakt ergangen ist oder noch ergehen wird. 1 8 9 (3) Im praktischen Unterschied zur frühen Rechtsprechung des BVerfG läßt nach dieser Meinung eine Norm, die den Erlaß irgendeines auf ihr fußenden Einzelaktes ermöglicht, lediglich die Vermutung zu, durch den Normsetzungsakt selbst sei noch keine perfekte (gegenwärtige) Grundrechtsverletzung eingetreten. 190 (4) Normkategorien (a) Büsser 191 will in Anlehnung an das differenzierte Normenverständnis Flumes 192 das problematische Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit entsprechend der obigen Unterscheidung in perfekte und imperfekte Gesetze 193 durch die Normkategorien der sogenannten Sachentscheidungs- und Handlungsnormen ersetzen, zumindest aber konkretisieren. So konstituieren „Sachentscheidungsnormen" als „perfekte" Rechtssätze bereits die Grundrechtsverletzung, während „Handlungsnormen" erst eine unvollständige „imperfekte" Regelung enthalten. (b) Stellungnahme Diese plausibel klingende Unterscheidung vereinfacht das Problem nur scheinbar. Zur sachgerechten Zuordnung in die entsprechende Kategorie bedarf jede Norm (weiterhin) der materiell-rechtlichen Prüfung, ob sie den Beschwerdeführer unmittelbar betrifft, d. h. bereits selber die gerügte Grund186 187 188 189 190 191
1 92
Bettermann, AöR 86, 133 f.; H. Klein, S. 1335; Stern, in: B K , Art. 93 Rdn. 580. Bettermann, AöR 86, 134; Motzer, S. 118; H. Klein, S. 1334 f. Büsser, S. 70, 71; Flume, S. 86; vgl. auch Raschauer, D Ö V 1976, 703. Raschauer, D Ö V 1976, 703; Gerontas, D Ö V 1982, 446; Motzer, S. 118. Büsser, S. 70. Büsser, S. 73, 76. Flume, S. 85, 86.
1 9 3 s. 1.
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1. Teil : Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze
rechtsverletzung vollends verwirklicht haben kann. Insoweit verwendet Büsser lediglich (andere) formal-präzisere Begriffe für dasselbe Problem, ohne dieses materiell zu lösen oder auch nur zu verändern. (5) Unmittelbar betreffende Gesetze Als Sachentscheidungs- und damit den Beschwerdeführer unmittelbar betreffende Normen lassen sich ζ. B. Steuergesetze 194 qualifizieren, ferner Strafgesetze 195, Eingriffsnormen 196 , Versorgungsbestimmungen 197, Normen, die Zulassungs- oder Genehmigungspflichten einführen, sowie Rechtssätze des materiellen Zivilrechts. 198 (6) Einzelfälle Die Auswirkungen dieser Rechtslehre, die das Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit vom materiellen Gehalt her zu bestimmen sucht, lassen sich anhand von Einzelfällen verdeutlichen. (a) Beschwerdeführer nicht unmittelbar betroffen (aa) Wird die Grundrechtsverletzung erst durch den (normergänzenden) Gestaltungsakt perfektioniert, so begründet die ganz überwiegende Meinung 199 die Unzulässigkeit der Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde mit der mangelnden unmittelbaren Betroffenheit des Beschwerdeführers, während Holtkotten 2 0 0 in diesen Fällen dem Beschwerdeführer ein Wahlrecht zugesteht, sowohl die Norm als auch den Einzelakt mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen. (bb) Stellungnahme Die Auffassung Holtkottens ist abzulehnen. Die Verfassungsbeschwerde ist in diesem Fall nicht erforderlich, da bereits Fachgerichte durch die Aufhebung des Vollziehungsaktes der (grundrechtswidrigen) Beschwer abhelfen können. 194
Bettermann, AöR 86, 134; Büsser, S. 81: Die Steuerschuld entsteht schon durch die Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes. So auch Flume, S. 86. Vgl. aber auch die Differenzierung, 6. (b) (dd), die auch bei Schenke, NJW 1986, 1453, schon anklingt: Der Beschwerdeführer ist nur „in der Regel" unmittelbar betroffen. 195 Bettermann, AöR 86, 167; Büsser, S. 83; Bachof, AöR 86, 189; vgl. Schumann, S. 36 Fn. 5. 196 Büsser, S. 83; ζ. B. Legalenteignungen, vgl. Geiger, § 90 Nr. 5; Zweigert, JZ 1952, 323; Entziehung von Titeln, wohlerworbenen Berufspositionen, vgl. Redelberger, NJW 1953, 362; Zweigert, JZ 1952, 323; Bebauungspläne, vgl. Henning, S. 112 f. m. w. N. 1 97 Büsser, S. 83. i 9 « Gusy, Rdn. 121. 199 Vgl. nur Büsser, S. 66 f., Motzer, S. 117; Henning, S. 119. 200 Holtkotten, NJW 1952, 529.
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der Verfassungsbeschwerde gegen G e s e t z e 1 0 3
Da i.d.R. die gesamte, den Bürger belastende Exekutivtätigkeit auf normativen (Ermächtigungs-)Grundlagen beruht, könnte andernfalls in nahezu allen Fällen die Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde gegen die erst diese Handlungen ermöglichenden Gesetze erhoben werden. Ein derartiges Ergebnis ist jedoch mit dem Subsidiaritätsprinzip unvereinbar. (b) Fraglich, ob Beschwerdeführer unmittelbar betroffen Verpflichtet das Gesetz bereits die Verwaltungsbehörden zu Eingriffen in die Grundrechte des Bürgers, läßt den Zeitpunkt des Eingriffs aber offen, so ist innerhalb der Rechtslehre umstritten, ob der Beschwerdeführer unmittelbar betroffen ist. Als Beispiel lassen sich Steuergesetze anführen, die zwar selber schon die Steuerpflicht des Bürgers allgemein begründen, die Fälligkeit der Steuer aber von der Zustellung eines Steuerbescheides abhängig machen. 201 (aa) Zum Teil 2 0 2 wird auch in diesen Fällen schon die unmittelbare Betroffenheit des Beschwerdeführers bejaht. Bereits die „Pflichtigkeit", d. h. der Umstand, daß die Steuerschuld entstehe, sobald der Tatbestand verwirklicht sei, an den das Gesetz die Steuer knüpfe, begründe die mögliche Grundrechtsverletzung und nicht nur eine bloße Gefährdung. (bb) Nach anderer Ansicht 2 0 3 fehlt die unmittelbare Beschwer, da die Grundrechtsverletzung erst mit dem Einzelakt perfektioniert werde, im Beispielsfall erst der Steuerbescheid die Steuerpflicht konkretisiere. (cc) Stellungnahme Der letztgenannten Ansicht ist zuzustimmen. Die bloße „Pflichtigkeit" wirkt sich noch nicht konkret auf die Grundrechtssphäre des Beschwerdeführers aus. Erst der Gestaltungsakt setzt in diesen Fällen die gesetzliche Vorschrift durch, fixiert die der Gestaltung zugrunde liegende Rechtslage für den Einzelfall 204 und belastet damit den Beschwerdeführer. Insoweit bedarf es keines vorbeugenden ver/