Willkür im Rechtsstaat?: Die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen [1 ed.] 9783428507856, 9783428107858


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Willkür im Rechtsstaat?: Die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen [1 ed.]
 9783428507856, 9783428107858

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Fabian

v. Lindeiner

Willkür im Rechtsstaat?

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 894

Willkür im Rechtsstaat? Die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen

Von Fabian v. Lindeiner

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lindeiner, Fabian v.: Willkür im Rechtsstaat? : die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen / Fabian v. Lindeiner. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 894) Zugl.: Potsdam, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10785-3

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10785-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

„Meint Ihr, dem Vaterlande gelt ' es gleich, ob Willkür drin, ob drin die Satzung herrsche ?" Heinrich v. Kleist Prinz Friedrich von Homburg 4. Aufzug, 1. Auftritt

„Uarbitraire, c'est quand c'est tellement faux que même le Tribunal fédéral s ' en aperçoit. " Definition der Willkür auf der 121. Jahresversammlung des Schweizerischen Juristenvereins (1987)

Vorwort Diese Arbeit wäre ohne die vielfältige Förderung, die mir gewährt wurde, nicht zustandegekommen. An erster Stelle danke ich meinen Eltern für ihre andauernde und liebevolle Unterstützung. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Zu Dank verpflichtet bin ich meinem Betreuer, Prof. Dr. Dieter C. Limbach, Potsdam, für die Anregungen, die ich als langjähriger Mitarbeiter an seinen Lehrstühlen in Greifswald und Potsdam erhalten habe, und für die Begleitung im Rahmen des Promotionsverfahrens. Ich bedanke mich ferner bei Prof. Dr. Ralph Jänkel, Potsdam, für die Erstellung des Zweitgutachtens; und bei Herrn Direktor beim Bundesverfassungsgericht a.D. Dr. Karl-Georg Zierlein für seine freundliche Gesprächsbereitschaft und wertvolle Hinweise. Rat, Unterstützung und Ablenkung habe ich von Freundinnen und Freunden erhalten. Ich bedanke mich dafür besonders bei Teresa Huerta Ballesteros, Dr. Peter Bultmann, Isabel v. Klitzing, geb. Schilling, Moritz Graf v. Merveldt und Felix Wasmuth. Berlin und Frankfurt/Main, im Februar 2002 Fabian v. Lindeiner

Inhaltsübersicht 1. Kapitel Vorbemerkung

19

A. Gegenstand der Arbeit

19

B. Gang der Untersuchung

23

2. Kapitel Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes

25

A. Historische Entwicklung des Gleichheitssatzes

25

B. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes

31

3. Kapitel Auswertung der Rechtsprechung des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür

40

A. Der Gleichheitssatz in der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle

40

B. Entscheidungen des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür

43

C. Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür in der Rechtsprechung . . 57 D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

67

E. Zusammenfassung

86

4. Kapitel Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkür verbot?

88

A. Begründung der Willkürinterpretation durch Leibholz

89

B. Umsetzung der Willkürinterpretation durch das BVerfG

94

C. Diskussion der klassischen Argumente

102

D. Ergebnis

116

Inhaltsübersicht

10

5. Kapitel Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

117

A. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

118

B. Der Gleichheitssatz als Garantie richtiger Rechtsanwendung?

119

C. Gleichbehandlung in der Rechtsanwendung

126

D. Problematik des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit

132

6. Kapitel Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit auf ein Verbot richterlicher Willkür

139

A. Materielle Argumente zur Einschränkung auf ein Willkürverbot

139

B. Funktionelle Argumente zur Einschränkung auf ein Willkürverbot

156

C. Ergebnis

172

D. Kriterien der Willkürprüfung

172

E. Ergebnis: Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit als Verbot richterlicher Willkür 183 F. Gleichheitssatz und Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung

184

G. Zusammenfassung

194 7. Kapitel

Weitere denkbare Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

195

A. Das Rechtsstaatsprinzip als Willkürverbot

195

B. Grundrechte als Abwehrrechte gegen willkürliche Rechtsan wendung

200

C. Art. 1 Abs. 1 GG - Menschenwürde und Willkürverbot

213

D. Verfahrensgarantien des Grundgesetzes

215

E. Ergebnis

219 8. Kapitel Ergebnis der Untersuchung

221

Anhang

224

Literaturverzeichnis

231

Sachwortverzeichnis

257

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Vorbemerkung

19

A. Gegenstand der Arbeit

19

B. Gang der Untersuchung

23 2. Kapitel

Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes A. Historische Entwicklung des Gleichheitssatzes I. Gleichheit als Rechtsprinzip II. Der Gleichheitssatz in der Verfassungsgeschichte III. Die Diskussion unter der Weimarer Reichsverfassung B. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes I. Die Beratungen im Parlamentarischen Rat II. Die frühe Rechtsprechung: Art. 3 Abs. 1 GG als allgemeines Willkürverbot III. Kritik am Willkürverbot IV. Vom Willkürverbot zur Neuen Formel V. Stand der Diskussion VI. Heutige Bedeutung des Willkürverbots

25 25 25 27 28 31 31 32 34 35 37 38

3. Kapitel Auswertung der Rechtsprechung des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür A. Der Gleichheitssatz in der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle.... I. Der Gleichheitssatz als „spezifisches Verfassungsrecht" II. Das allgemeine (vergleichsunabhängige) Willkürverbot

40 40 40 42

B. Entscheidungen des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür 43 I. Grundlagen 43 1. Art. 3 Abs. 1 GG als Verbot objektiver Willkür 43 2. Willkürkontrolle bei der Urteils Verfassungsbesch werde: BVerfGE 4, 1 44 3. Weitere Entscheidungen zu Gleichheitssatz und Willkürverbot 46

12

Inhaltsverzeichnis

II. Die Zwangsversteigerungs-Entscheidung: BVerfGE 42, 64 III. Willkür-Rechtsprechung bis 1986 IV. Willkür-Rechtsprechung seit 1986 1. Senatsentscheidungen 2. Kammerentscheidungen 3. Neueste Entwicklung der Willkür-Rechtsprechung V. Ablehnende Entscheidungen 1. Klarstellung 2. Abschreckung 3. Heilung 4. Zweifelsfälle und Willkür der Verwaltung

47 49 53 53 54 54 55 55 55 56 57

C. Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür in der Rechtsprechung I. Willkürformeln und Willkürkriterien 1. „Objektive Willkür" 2. Willkür als qualifizierte Rechtswidrigkeit 3. Willkür als tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit 4. Willkür als Entscheidung aufgrund sachfremder Erwägungen a) „Bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich" b) „Unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar" . . . . 5. Weitere Formeln 6. Willkür-Kriterien 7. Ergebnis II. Fallgruppen richterlicher Willkür 1. Aufklärungspflicht in der Zwangsversteigerung 2. Fehlende Begründung eines abweichenden Urteils 3. Übersehene Änderung der Rechtslage 4. Widersprüchliche Entscheidungen III. „Beruhen" der Entscheidung auf der richterlichen Willkür

61 62 63 63 63 64 64 64 65 65 66

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung I. Ausrichtung an Ermessensleitlinien? 1. Schwere des Fehlers 2. Evidenz des Fehlers 3. Ungerechtigkeit der Entscheidung 4. Intensität des Grundrechtseingriffs II. Schutzbereich und Konkurrenzen des Verbots richterlicher Willkür . . . . 1. Der Schutzbereich des Verbots richterlicher Willkür 2. Spezielle Willkürverbote: Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und 103 Abs. 2 GG 3. Andere Abwehrrechte gegen verfassungswidrige Gerichtsurteile . . . . III. Schwerpunkte der Willkür-Rechtsprechung 1. Rechtsgebiete und Gerichtsbarkeiten

67 67 67 68 69 70 71 71 72 73 74 74

57 58 58 60 61 61

Inhaltsverzeichnis

2. Instanzen 3. Verteilung der Willkür-Rechtsprechung innerhalb des BVerfG a) Verhältnis der Senate zueinander b) Verhältnis der Senate zu den Kammern c) Verhältnis der Kammern untereinander IV. Reaktionen auf die Willkür-Rechtsprechung 1. Das Sondervotum von Geiger zu BVerfGE 42, 64 2. Reaktionen der Gerichte a) Verfassungsgerichte der Länder b) Willkürkontrolle innerhalb der Fachgerichtsbarkeit c) Außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit 3. Kritische Reaktionen der Wissenschaft a) Rechtsdogmatische Kritik b) Praktische Kritik 4. Zustimmung zur Willkür-Rechtsprechung E. Zusammenfassung

75 75 75 76 76 77 77 78 78 80 81 82 82 84 85 86

4. Kapitel Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

88

A. Begründung der Willkürinterpretation durch Leibholz I. Gedankengang in der „Gleichheit vor dem Gesetz" II. Willkürbegriff und Willkürprüfung bei Leibholz 1. Objektive Willkür als qualifizierte Form der Unrichtigkeit 2. Willkür des Gesetzgebers 3. Willkür bei der Rechtsanwendung

89 90 91 91 92 93

B. Umsetzung der Willkürinterpretation durch das BVerfG 94 I. Willkürbegriff und Willkürprüfung - Unterschiede zur „Neuen Lehre" . 94 II. Fehlende Vergleichsprüfung 94 1. Kongruenz von vergleichender und absoluter Willkür? 95 2. Sachliche oder persönliche Rechtsgleichheit 96 3. Ubiquität des Gleichheitssatzes 98 4. Entbehrlichkeit der Vergleichsprüfung? 98 III. „Objektivität" der Willkürkontrolle 99 1. Objektive Willkür im verfassungsgerichtlichen Verfahren 100 2. Vereinbarkeit mit Leibholz' Willkürbegriff 101 IV. Verhältnis von einfachem Recht und allgemeinem Rechtsbewußtsein.. . 101 C. Diskussion der klassischen Argumente 102 I. Das rechtsphilosophische Argument 102 1. Der Gleichheitssatz als Gebot verhältnismäßiger Gleichbehandlung . 103

14

Inhaltsverzeichnis

II.

III.

IV. V.

2. Die Lehre vom richtigen Recht 104 3. Funktion des rechtsphilosophischen Arguments bei Leibholz 105 Das rechtsvergleichende Argument 106 1. Rechtsvergleichung als Mittel zur Auslegung des Gleichheitssatzes . 106 2. Rechtsvergleichung bei Leibholz 107 Heutige Interpretation des Gleichheitssatzes 108 1. Supreme Court of Justice der USA 108 2. Schweizerisches Bundesgericht 109 3. Andere europäische Verfassungsgerichte 110 a) Corte Constitucional 110 b) Österreichischer Verfassungsgerichtshof 111 c) Conseil Constitutionnel 112 d) Corte Costituzionale 112 e) Belgische Obergerichte 112 4. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften 113 5. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 113 6. Ergebnis 114 Weitere Argumente bei Leibholz 114 Ergebnis zu den klassischen Argumenten 115

D. Ergebnis

116

5. Kapitel Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

117

A. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

118

B. Der Gleichheitssatz als Garantie richtiger Rechtsanwendung? I. Materiellrechtliche Einwände 1. Einschränkung des Art. 3 Abs. 1 GG durch staatliche Gliederungen. 2. Nachteil als Voraussetzung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG a) Neutrale Struktur des Gleichheitssatzes b) Begriff des Nachteils c) Nachteil bei der Rechtsanwendung 3. Verhältnis von Rechtmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit 4. Zwischenergebnis II. Begriffliche Einwände 1. Die erste Subsumtion 2. Gleichheit im Unrecht 3. Mehrmalige Anwendung einer Norm auf dieselbe Person 4. Das Robinson-Problem

119 120 120 121 122 122 124 124 124 125 125 125 126 126

Inhaltsverzeichnis

C. Gleichbehandlung in der Rechtsanwendung I. Das Prinzip der Gleichbehandlung in der juristischen Methodenlehre.. . II. Aufgabenverteilung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung . . . . 1. Aufgabe des Gesetzgebers 2. Aufgabe des Rechtsanwenders III. Lösung der begrifflichen Problemfälle IV. Methodische Konsequenz - Zur Vergleichsstruktur des Gleichheitssatzes 1. Prüfungsstruktur bei der Kontrolle des Gesetzgebers 2. Prüfungsstruktur bei der Kontrolle der Gerichte V. Zwischenergebnis: Rechtsanwendungsgleichheit und Gesetzesbindung. .

126 126 128 128 129 129 130 131 131 132

D. Problematik des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit I. Reichweite der Gesetzesbindung und gesetzliche Regelungsdichte II. Reichweite der Gesetzesbindung und richterliche Methode III. Ergebnis IV. Folgeprobleme V. Gegenargument: Der Gleichheitssatz als Auffanggrundrecht? VI. Möglichkeiten der Einschränkung VII. Weiteres Vorgehen

132 133 134 135 136 136 137 138

6. Kapitel Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit auf ein Verbot richterlicher Willkür A. Materielle Argumente zur Einschränkung auf ein Willkürverbot I. Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit 1. Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung und Gerechtigkeit 2. Gerechtigkeit und Gewaltenteilung 3. Gegensatz von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit? 4. „Rechtsmittelunklarheit" als Folge einer Willkürkontrolle? II. Garantie eines Mindeststandards richtiger Rechtsanwendung 1. Effektivitätsprobleme 2. Verdrängung anderer Grundrechte? 3. Verhältnis zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG III. Rechtsdogmatische Probleme einer Willkürkontrolle 1. Wegfall der Willkürkontrolle als konsequenteste Lösung 2. Verhältnis von einfachem Recht und Verfassungsrecht 3. Diskrepanz zwischen materiellem Inhalt und Kontrolldichte 4. Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG 5. Willkürlichkeit der Willkürkontrolle IV. Verfahrensrechtliche Voraussetzungen einer Willkürkontrolle V. Willkürkontrolle durch die Kammern des BVerfG

139 139 139 139 142 143 144 146 146 146 147 148 148 148 150 152 153 154 155

16

Inhaltsverzeichnis

B. Funktionelle Argumente zur Einschränkung auf ein Willkürverbot 156 I. Willkürkontrolle als Aufgabe des BVerfG 157 1. Teilweise Superrevision 157 2. Gesetzliche Aufgaben des BVerfG 158 3. Verhältnis zu anderen Aufgaben des BVerfG 159 II. Tatsächliche Eignung des BVerfG zur Willkürkontrolle 160 1. Verfahrensablauf 160 2. Sachnähe der Fachgerichte 162 III. Praktische Folge: Belastung des BVerfG mit Verfassungsbeschwerden. . 163 IV. Verhältnis von Verfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit 165 1. Aufgabenparallelität beim Grundrechtsschutz 165 2. Edukation der Fachgerichte 166 3. Verbitterung der Fachgerichte? 167 V. Folgen für die Verfassungsbeschwerde 168 1. Funktionen der Verfassungsbeschwerde 168 2. Die Verfassungsbeschwerde als „ordentlicher Rechtsbehelf'? 169 3. Verfassungsbeschwerde und andere Rechtsmittel 169 VI. Tradition und Akzeptanz 170 1. Legitimation durch Tradition? 170 2. Zulässigkeit einer ergebnisorientierten Betrachtungsweise 171 3. Signal Wirkung des Willkürverbots 172 C. Ergebnis

172

D. Kriterien der Willkürprüfung I. Kriterien aus dem Gleichheitssatz II. Kriterien aus dem Begriff der Willkür 1. Subjektive Willkür 2. Ungerechtigkeit der Entscheidung 3. Verstoß gegen verfassungsrechtliche Wertentscheidungen 4. Willkür-Kriterien des Schweizerischen Bundesgerichts III. Verstoß gegen die juristische Methodenlehre als Willkürkriterium IV. Eingriffsintensität als ermessensleitendes Kriterium? 1. Definition und bisherige Verwendung 2. Möglichkeit einer Übertragung auf die Willkürkontrolle 3. Nachteile einer Übertragung V. Evidenz als ermessensleitendes Kriterium

172 173 173 174 175 176 177 178 180 180 181 182 182

E. Ergebnis: Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit als Verbot richterlicher Willkür 183 F. Gleichheitssatz und Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung I. Differenzierungen jenseits der Gesetzesbindung II. Mögliche Wirkungen des Gleichheitssatzes 1. Gleichheit der juristischen Methode oder Präjudizienbindung? 2. Anlehnung an die Bedeutung für den Gesetzgeber

184 184 186 186 187

Inhaltsverzeichnis

3. Unterschiede zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung a) Bindungs- und Breitenwirkung b) Entscheidungsverfahren c) Ergebnis 4. Ansätze in der Literatur a) Die Schumannsche Formel b) Die Auffassung von Riggert c) Ergebnis 5. Die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG für den Gesetzgeber 6. Übertragung auf die Rechtsprechung G. Zusammenfassung

188 188 189 189 190 190 191 192 192 193 194

7. Kapitel Weitere denkbare Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

195

A. Das Rechtsstaatsprinzip als Willkürverbot 195 I. Zusammenhang von Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot 195 II. Der materiale Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes 196 III. Zum rechtsstaatlichen Willkürverbot 198 IV. Verhältnis von gleichheitsrechtlichem und rechtsstaatlichem Willkürverbot 199 B. Grundrechte als Abwehrrechte gegen willkürliche Rechtsanwendung.. . I. Grundrechte in der Rechtsanwendung - Die Auffassung des BVerfG.. . 1. Grundrechte als Rechtmäßigkeitsgarantien 2. Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte 3. Ausstrahlungswirkung und Grundrechtsrelevanz eines Gerichtsurteils 4. Konsequenzen und Problematik II. Die Auffassungen der Literatur 1. Materiellrechtliche Konzepte a) Alexy: Grundrechte als Prinzipien und Regeln b) Bender: Grundrechtliches und nicht-grundrechtliches Recht c) Die Auffassungen von Papier, Schenke und Waldner 2. Funktionell-rechtliche Argumentation III. Die Grundrechte als Willkürverbote? 1. Beschränkung auf spezifische Inhalte der Grundrechte 2. Einschränkung der Richtigkeitsgarantie auf ein Willkürverbot? 3. Abwehr von Willkür als Inhalt jedes Grundrechts? 4. Ergebnis

204 206 207 207 207 208 209 210 211 211 212 212 213

C. Art. 1 Abs. 1 GG - Menschenwürde und Willkürverbot

213

2 v. Lindeiner

200 201 201 203

Inhaltsverzeichnis

18

D. Verfahrensgarantien des Grundgesetzes I. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG II. Grundrecht auf faires Verfahren III. „Verbot prozessualer Willkür"

215 215 217 218

E. Ergebnis

219 8. Kapitel Ergebnis der Untersuchung

221

Anhang Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot richterlicher Willkür

224

1. Senatsentscheidungen zum Verbot richterlicher Willkür

225

2. Kammerentscheidungen zum Verbot richterlicher Willkür

226

3. Willkür-Entscheidungen nach Senaten und Kammern

228

4. Willkür-Entscheidungen nach Rechtsgebieten

229

5. Willkür-Entscheidungen nach Instanzen

229

6. Willkür-Entscheidungen nach zeitlicher Abfolge

230

Literaturverzeichnis

231

Sachwortverzeichnis

257

Abkürzungen Die in Text und Literaturverzeichnis verwendeten Abkürzungen entsprechen - soweit sie sich nicht auf einzelne zitierte Werke beziehen - Kirchner, Hildebert: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auflage, Berlin 1993.

1. Kapitel

Vorbemerkung A. Gegenstand der Arbeit Diese Arbeit befaßt sich mit dem Verbot richterlicher Willkür, das das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in ständiger Rechtsprechung dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" - entnimmt. Das BVerfG entscheidet gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG über Verfassungsbeschwerden, die jedermann mit der Behauptung erheben kann, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten verletzt worden zu sein. Zur öffentlichen Gewalt in diesem Sinn zählen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Allerdings richten sich nahezu alle Beschwerden letztlich gegen eine gerichtliche Entscheidung. Denn eine Verfassungsbeschwerde ist in aller Regel erst zulässig, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg vor den Instanzgerichten erschöpft hat. Verfassungsbeschwerden, mit denen ausschließlich die Verfassungswidrigkeit eines ihm zugrundeliegenden Gesetzes oder vorangegangenen Handelns der Verwaltung geltend gemacht wird, sind aber nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, da das Verbot richterlicher Willkür nur das richterliche Handeln als solches betrifft 1 . Grundsätzlich können alle Arten gerichtlicher Entscheidungen Grundrechte verletzen und damit auch Gegenstand einer Entscheidung des BVerfG sein. Verfassungsbeschwerden gegen Beschlüsse, Eilentscheidungen etc. verwirft das BVerfG aber regelmäßig, weil sie subsidiär zu den jeweiligen Hauptsacheverfahren sind 2 . 1 Die Differenzierung zwischen verfassungswidrigem Handeln der Verwaltung und der Rechtsprechung hat aber im vorliegenden Zusammenhang keine praktische Bedeutung. Gegen Verfassungsverstöße der Verwaltung ist stets der Rechtsweg eröffnet (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG). Werden sie nicht im Instanzenzug beseitigt, so richtet sich eine anschließende Verfassungsbeschwerde auch gegen das ihn abschließende Gerichtsurteil, Rennert in: UC, § 95 Rdnr. 28 ff. 2 BVerfGE 1, 322 (325); 9, 261 (265), 21, 143 f.; Ausnahmen: BVerfGE 34, 205 (207 f.); 34, 238; 62, 189. S. dazu Kley/Rühmann in UC, § 90 Rdnr. 36, 90; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 450 ff. m.w.N.; MSBKU-Schmidt-Bleibtreu, §90 Rdnr. 132. 2*

20

1. Kap.: Vorbemerkung

Soweit das BVerfG in der Sache über eine Verfassungsbeschwerde entscheidet, stellt es häufig fest, die angefochtene Entscheidung verstoße nicht „gegen Axt. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot". Meist geht es nicht näher auf diese Bedeutung ein, sondern entscheidet geradezu „formularmäßig" 3 . Wenn es das Willkürverbot näher beschreibt, erscheinen dessen Voraussetzungen zugleich sehr eng und sehr vage: Willkür soll nur dann vorliegen, wenn ein Urteil „sachlich schlechthin unhaltbar", „nicht mehr nachvollziehbar" oder „bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich" ist. Aber trotz dieser engen Definition ist Art. 3 Abs. 1 GG dasjenige Grundrecht, dessen Verletzung durch eine Gerichtsentscheidung mit am häufigsten - oft wohl ähnlich „formularmäßig" - mit der Verfassungsbeschwerde gerügt wird 4 . Man fragt sich unwillkürlich, warum so viele Beschwerdeführer, trotz der offenbar doch nur geringen Erfolgsaussichten, „Willkür" eines Urteils geltend machen. Ferner fällt auf, daß das BVerfG bei seiner Prüfung, ob eine gerichtliche Entscheidung Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot verletzt, praktisch nie eine Vergleichsbeziehung - beispielsweise zwischen verschiedenen Urteilen, Personen oder Sachverhalten - herstellt. Das erscheint merkwürdig. Wenn Art. 3 Abs. 1 GG, der allgemeine Gleichheitssatz, die rechtliche Grundlage des Willkürverbots ist, so muß sich dies doch in der verfassungsgerichtlichen Prüfung niederschlagen. Die Analyse der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zeigt, daß das BVerfG den Begriff der Willkür in zwei Richtungen interpretiert, einer „vergleichenden" und einer „absoluten". Während es in einer Gruppe von Entscheidungen zu Art. 3 Abs. 1 GG die Willkürlichkeit einer bestimmten Vergleichsbeziehung untersucht, geht es bei einer zweiten Fallgruppe anders vor: willkürlich ist hier das Urteil als solches, ohne daß es dafür auf einen Vergleich ankäme. Daher kennzeichnet der Begriff der „Willkür" heute in Rechtsprechung und Literatur zwei Arten von Gerichtsentscheidungen: solche, die eine Differenzierung oder Gleichbehandlung enthalten, für die kein hinreichender sachlicher Grund vorliegt; und solche, die nicht wegen einer darin enthaltenen

3

So Seuffert, NJW 1969, 1370. Bryde, 468; Huster, 22 Fußn. 34. Benda, NJW 1980, 2098. Art. 3 Abs. 1 GG ist nach Bachof, 75 ff. „das am meisten strapazierte Verlegenheitsargument aller Kläger (und ihrer Anwälte), die keine bessere Begründung zur Hand haben". Nur Art. 103 Abs. 1 GG steht dem mit 40% (Clemens/Umbach in: UC, § 93a Rdnr. 11) bzw. 40 bis 60% der Beschwerden (Bericht der Entlastungskommission, 25) gleich. Stattgaben sind bei Art. 3 Abs. 1 GG aber weitaus seltener (Schoch, DVB1 1988, 864; Rüfner, SGb 1984, 147; Rupp, FS BVerfG, 365). Im Nachschlagewerk der Rechtsprechung des BVerfG (Stand: 1999) nimmt Art. 3 Abs. 1 GG mit über 300 Seiten mit Abstand den größten Raum von allen Normen des GG ein. 4

A. Gegenstand der Arbeit

21

Vergleichsbeziehung, sondern schon als solche schlechthin willkürlich sind. Die vorliegende Arbeit befaßt sich allein mit dieser zweiten Fallgruppe. Was nun macht den Unterschied aus zwischen Entscheidungen, die noch „sachlich haltbar" und solchen, die schon „sachlich unhaltbar" sind: welches sind also die Kriterien, an denen das BVerfG Verletzungen des Willkürverbots tatsächlich mißt? Lassen sich angesichts der vagen Definition der Willkür überhaupt Kriterien ausmachen oder wird dieses Verbot schlicht von subjektiven Wertungen ausgefüllt - liegt die Willkür also letzten Endes beim Bundesverfassungsgericht selbst? Dieser wohl allzu naheliegende Vorwurf hat die Rechtsprechung des BVerfG zum Willkürverbot von Anfang an kritisch begleitet 5 . Trotzdem ist die Willkürkontrolle zu einem festen Bestandteil der verfassungsgerichtlichen Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen geworden. Sie ist heute ein „immer anwendbarer Mindeststandard" 6 der Verfassungsbeschwerde. Immer häufiger hat das BVerfG richterliche Willkür nicht nur geprüft, sondern auch „positiv" festgestellt. Noch 1971 kritisierte die Richterin Rupp-v. Brünneck in ihrem Sondervotum zum Mephisto-Beschluß: „Die in der Senatsentscheidung konzedierte Prüfung auf Willkür hat keine Bedeutung, weil auf sachfremden Erwägungen beruhende Gerichtsentscheidungen so gut wie nie vorkommen" 7 . Zumindest die erste Feststellung trifft heute nicht mehr zu. Dennoch wirft eine eingehende Untersuchung dieser Rechtsprechung methodische Probleme auf. Es liegt nahe, zu vermuten, daß dem Gericht im Umgang mit richterlicher Willkür „nicht Gebote der Logik, sondern lediglich praktische Überlegungen die Feder führen" 8 . Kann eine Zusammenfassung und Aufarbeitung solcher insgesamt nach wie vor seltener Einzelfälle in etwas anderem resultieren als in kasuistischer Aufzählung und dogmatischer Resignation? Rechtfertigen sie mit anderen Worten überhaupt eine eigene Untersuchung, und taugen sie zu deren Gegenstand?

5

So etwa Kromer, JuS 1984, 605; Krauß, 262; Waldner, ZZP 98 (1985), 202; Mauder, 58; Kirchberg, NJW 1987, 1992; Bender, 399; Diederichsen AcP 1998, 177 Fußn. 21. 6 Rupp-v. Brünneck, 181; Steinwedel, 39; Herzog, FS Dürig, 435; BVerfGE 5, 17 (21): „Willkür - die stets im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde nachprüfbar wäre - ...". 7 BVerfGE 30, 173 (221). 8 Eine Vermutung von Herzog, FS Dürig, 431. - „Die Verfassungsjuristen haben versucht, ein System von Verfassungsgrundsätzen und von verfassungsrechtlichen Präzedenzfällen herauszuarbeiten, aber ihre Spitzfindigkeiten können kaum ernster genommen werden als Hexensprüche. Es ist unmöglich, die verfassungsrechtlichen Entscheidungen in ein logisches System zu bringen" - so Seagle, 464.

22

1. Kap.: Vorbemerkung

Die Antwort kann wohl nur lauten: „Selbstverständlich nicht, dann aber wiederum doch" 9 . Sicherlich muß das BVerfG - häufig „das letzte Refugium des um seine Grundrechte kämpfenden Bürgers" 10 - gelegentlich pragmatisch entscheiden. Aber „Willkür" als ein massiver Vorwurf bedarf überzeugender Begründung. Kein Gericht kann sich auf Dauer durchsetzen, wenn seine Rechtsprechung im Ergebnis wie in der Begründung nicht akzeptiert wird - vom Bürger, in der Wissenschaft und von anderen Gerichten. Die Warnung davor, Entscheidungen des BVerfG „zu ernst zu nehmen" 1 1 , darf nicht verfangen: zumindest muß es sich bei seinem eigenen Wort nehmen lassen. Bedeutung und Inhalt des Willkürverbots und die Probleme, die die „Willkür-Rechtsprechung" des BVerfG 1 2 in rechtlicher und praktischer Hinsicht aufwirft, bedürfen der Klärung 13 . Nur so kann ihre materiellrechtliche Berechtigung überprüft und mit ihren praktischen Auswirkungen harmonisiert werden. So kann die Verfassungsbeschwerde ihrer Aufgabe als außerordentlicher Rechtsbehelf zum Schutz der Grundrechte wirklich gerecht werden. Und so kann auch die Stellung des BVerfG im Gefüge der Verfassung bestimmt und gesichert werden. Dabei soll nicht verkannt werden, daß Verfassungsinterpretation schwerlich an der Verfassungsgerichtsbarkeit vorbei betrieben werden kann. Sie ist ihre spezifische Aufgabe; das BVerfG entscheidet darüber als letzte Instanz und mit verbindlicher Wirkung ( § 3 1 BVerfGG) 14 . Eine neue Verfassungsauslegung kann daher nur auf zwei Wegen durchgesetzt werden: durch Änderung des Verfassungstextes, die bei Art. 3 Abs. 1 GG unwahrscheinlich ist - oder vom Gericht selbst. Das entzieht die Rechtsprechung aber nicht der Aufarbeitung und Überprüfung durch die Wissenschaft. Die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit soll die Verfassungsinterpretation konzentrieren, nicht monopolisieren 15 .

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Schuppert/Richter, 7. Geiger, BAnz. 1952, Nr. 30, 7. 11 Davor warnen W. Zeidler, 35. DJT, N 92 ff.; Benda, DöV 1979, 466. 12 Um einem Mißverständnis vorzubeugen: mit diesem Ausdruck ist hier die Rechtsprechung des BVerfG zum Willkürverbot gemeint, ohne daß diesem damit zugleich eine willkürliche Rechtsprechung unterstellt wird. 13 Ziel der Arbeit ist eine in diesem Sinne „gebändigte Willkür", Böttcher, 360. S. aber die nüchterne Einschätzung der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle von Berkemann, DVB1 1996, 1036: „Das Schrifttum sollte sich keine Illusionen machen. Es wird zugegriffen, wenn man es als nötig ansieht". 14 Zur Tragweite des § 31 BVerfGG Schiaich, Rdnr. 446 ff.; Detterbeck, AöR 116 (1991), 391 ff.; Rennert in UC, § 31 Rdnr. 67. 15 Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 299 Fußn. 3, Rdnr. 377, 420; Schlink, Der Staat 19 (1989), 161 ff.; vor einem „Bundesverfassungsgerichtspositivismus" warnt Luetjohann, 99 ff. 10

B. Gang der Untersuchung

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B. Gang der Untersuchung Das BVerfG beruft sich zur Legitimation seiner Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Auslegung als Willkürverbot. Die Arbeit beginnt daher mit einer verfassungshistorischen Betrachtung des Gleichheitssatzes (2. Kapitel). Sie soll den Bezugsrahmen des eigentlichen Themas abstecken, kann aber zugleich erste Hinweise darauf geben, inwieweit sich die heute bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile praktizierte Willkürkontrolle noch im Rahmen der üblichen Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG bewegt. Anschließend wird die Rechtsprechung des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür zusammengefaßt und analysiert (3. Kapitel). Ein solcher Rechtsprechungsbericht begegnet zwar methodischen Schwierigkeiten. Die einschlägigen Entscheidungen ergehen aus Anlaß einzelner Fälle mit ihren Besonderheiten, und ihre Strukturierung nach charakteristischen Gemeinsamkeiten hat oft etwas Beliebiges (um an dieser Stelle einen anderen Ausdruck zu vermeiden). Zudem hat das BVerfG seine Ausführungen zum Verbot richterlicher Willkür mittlerweile so sehr standardisiert, daß sich seinen Entscheidungen kaum noch allgemeine Aussagen entnehmen lassen. Andererseits gibt es keine andere Möglichkeit, der Überprüfung dieser Rechtsprechung eine angemessene Grundlage zu bereiten. Diese Prüfung erfolgt sodann im Hauptteil der Arbeit. Dabei werden zunächst die Argumente untersucht, die die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot unter der Weimarer Reichsverfassung einleiteten (4. Kapitel). Denn das BVerfG übernahm diese Auslegung, ohne sie selbst zu begründen. Diese Interpretation geht aber vom Begriff des Willkürverbots aus, ohne die spezifische Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG für die Rechtsprechung zu beachten. Daher wird anschließend der einzige unumstrittene, auf die Rechtsprechung bezogene Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG, nämlich das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit, näher untersucht (5. Kapitel). Auf diese Weise kann die Überprüfung der Willkür-Rechtsprechung bei der Frage ansetzen, worin seine Bedeutung für die Rechtsanwendung überhaupt besteht. Anschließend wird diskutiert, ob das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit in der praktischen Überprüfung seiner Anwendung vor dem BVerfG auf ein Verbot richterlicher Willkür reduziert werden kann (6. Kapitel). Anschließend werden weitere verfassungsrechtlichen Grundrechte und Grundsätze untersucht, aus denen möglicherweise ein Verbot richterlicher Willkür abgeleitet werden kann (7. Kapitel). Allerdings mußte sich dieser Teil der Arbeit angesichts der Fülle an Rechtsprechung und Literatur, die mittlerweile zu jedem einzelnen dieser Verfassungssätze vorliegt, darauf be-

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1. Kap.: Vorbemerkung

schränken, dasjenige Verständnis, das ihnen heute üblicherweise zugrundegelegt wird, wiederzugeben, ohne ausführlich auf neue oder ältere abweichende Ansätze eingehen zu können. Die Arbeit schließt mit einer Darstellung ihres Ergebnisses und einer zusammenfassenden Betrachtung von Inhalt und Bedeutung des Willkürverbots in der Verfassungsordnung (8. Kapitel).

2. Kapitel

Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes A. Historische Entwicklung des Gleichheitssatzes I. Gleichheit als Rechtsprinzip „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" - auf diesen allgemeinen Gleichheitssatz hat sich wohl jede Rechtsordnung des westlichen Kulturkreises berufen, seit die verfassungsgebende Versammlung von Virginia ihn im Jahr 1776 erstmals zu einem Menschenrecht erklärte 1 . Seit jeher haben rechtliche Gleichheit und tatsächliche Ungleichheit der Menschen ihr Denken beschäftigt. Piaton und Aristoteles entwickelten aus der Idee des Rechts das Prinzip der Gleichbehandlung als Element der Gerechtigkeit - mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen2. Das Christentum begründete mit der Gottebenbildlichkeit der Menschen ihre Gleichheit im Menschsein und vor Gott 3 - und wurde dafür verfolgt. Ständische Ungleichheit war das Fundament der Gesellschaftsordnungen des Mittelalters und prägte ihr Rechtsdenken4. Die Aufklärung schuf mit der Idee einer natürlichen Gleichheit aller Menschen dem modernen Verständnis der Menschenrechte die Grundlage. So hat jede Epoche den Gleichheitssatz auf ihre Weise verstanden, und „was dieser Zeit als eine durch innere und äußere Gründe gebotene rechtliche Verschiedenheit erscheint, darin findet eine folgende vielleicht eine schreiende Ungerechtigkeit vor dem Gesetz" 5 .

1 Section 1: „That all men are by nature equally free and independent ...". Auch die Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte („Les hommes naissent et démeurent libres et égaux en droits") von 1789 und die Hessische Verfassung von 1946 stellen den Gleichheitssatz an ihren Anfang. 2 Piaton, Gesetze, VI. Buch 757 a-d; Aristoteles Politik V. Buch 6. Kapitel, 1131, 1280a. S. dazu Kirchhof, HBStR § 124 Rdnr. 47 f. 3 Matthäus 5, 45; Galater 3, 28; Römer 2, 11; 10, 12; Korinther 12, 13. S. Herzog, EvStLex, 1178. 4 Nach dem Sachsenspiegel verstieße es gegen göttliches Recht, wollte man „den liuten geliche buoze erteilen, daz man dem knehte büeze als dem herren oder dem eigen alse dem vrien" (Landrecht Art. 111).

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2. Kap.: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes

Mit der Entwicklung der Gleichheitsidee zu einer Quelle verbindlicher und justitiabler Forderungen der Bürger an den Staat wurde aus einem philosophischen auch ein juristisches Problem. So selbstverständlich erscheint uns der Gleichheitssatz heute nicht nur als philosophisches Ideal, sondern auch als bindende Rechtsnorm, daß man leicht übersieht, auf welch unterschiedliche Weise er seither in die Praxis umgesetzt wurde. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1789 wie die jakobinische Revolutionsverfassung von 1793, das Bonner Grundgesetz wie die Verfassung der DDR von 1968 verschrieben sich der Idee der Gleichheit, die wohl mehr als jede andere Antrieb menschlichen Wollens und Handelns - vielleicht wirklich „reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten" 6 gewesen ist. Das zeigt, daß das Gebot gleicher rechtlicher Behandlung der Menschen auf sehr verschiedene Art verwirklicht werden kann: durch verhältnismäßige Differenzierung („Jedem das Seine") 7 oder radikale Nivellierung („Allen das Gleiche"), durch aequitas oder égalité. Der Gleichheitssatz wirft viele Fragen auf: verlangt er „absolute" oder „relative" Gleichbehandlung, Gleichheit des Maßstabs oder Gleichheit im Ergebnis? Ist gleiche Behandlung ein Wert an sich oder macht sie stets weitere Weitungen erforderlich 8 ? Sicher ist wohl nur: alle Menschen sind ungleich. Gleich sind sie nur im Hinblick auf einzelne Merkmale 9 . Die Forderung nach rechtlicher 5

v. Jhering, Geist, Teil 1, 96. Ein Beispiel: „Ferner aber ist die Beziehung des Männlichen zum Weiblichen von Natur aus so, daß das erstere das bessere ist, das letztere aber das schlechtere, das eine das Herrschende und das andere das Beherrschte" (Aristoteles, Politik, V. Buch 6. Kapitel, 1254 b). 6 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 325 (zit. n. Kirchhof, HBStR, § 124 Rdnr. 59). 7 Cicero, De legibus 1, 6, 19, zit. nach Sachs-Osterloh, Art. 3 Fußn. 19; Nietzsche, 188 („Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches - das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen"). Und doch wohnt auch wieder „jeder differenzierenden Lösung ein gewisses Maß an Ungleichheit inne" (BVerfGE 38, 154 (167)). Eine vollkommen gerechte Lösung einer Gleichheitsfrage kann es nicht geben (so auch BVerwG NJW 1998, 843 (844); anders Hesse, Rdnr. 462; Stettner, BayVBl 1988, 550). 8 Die Spannung zwischen formaler Gleichheit und sozialer Ungleichheit (Lenin, 400); das Problem der „majestueuse égalité des lois, qui interdit au riche comme au pauvre de coucher sous les ponts, de mendier dans les rues et de voler du pain" France, Kapitel VII) läßt sich daher weder durch gleiche noch durch ungleiche Rechtsanwendung beheben. Auch die Kritik der sozialistischen Rechtstheorie an der formalen Gleichheit (Autorenkollektiv, 86 f.: „Gleichheit vor dem Gesetz heißt also nicht formell gleiche Anwendung des Rechts für alle Bürger unter Mißachtung der konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten, sondern heißt gleiche Behandlung der Bürger, auf die im wesentlichen gleiche Voraussetzungen zutreffen"; „je mehr sich die sozialistischen Züge unserer Strafrechts entwickeln, desto krasser muß der Widerspruch auch zur bürgerlichen formalen Gleichheit werden", Buchholz, NJ 1961, 749) kommt über dieses Dilemma nicht hinweg.

A. Historische Entwicklung des Gleichheitssatzes

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Gleichheit kann die natürliche Verschiedenheit der Menschen nicht überwinden.

II. Der Gleichheitssatz in der Verfassungsgeschichte Die ersten Emanationen der Gleichheitsidee in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts zielten auf staatsbürgerliche Gleichheit in Rechten und Pflichten 10 . Sie war verkörpert im allgemeinen Gesetz, weil es für alle, die ihm unterworfen waren, in gleicher Weise galt. Inhaltliche Maßstäbe, an denen seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen wäre, eine Bindung des Gesetzgebers selbst an und durch den Gleichheitssatz waren dieser Vorstellung fremd. Diese staatsbürgerliche Gleichheit sollten auch Gerichte und Verwaltung bei der Anwendung der Gesetze verwirklichen. Da sich aber die Gleichheit der Gesetze in ihrer Allgemeinheit erschöpfte, mußten sie dazu nur noch die einzelnen Normen in allen Fällen, in denen ihr Tatbestand vorlag, anwenden. Damit deckte sich der Gleichheitssatz letztlich mit einem allgemeinen Prinzip des Rechtsstaats: der Gesetzmäßigkeit von Rechtsprechung und Verwaltung. Um 1900 war dieser Inhalt des Gleichheitssatzes praktisch allgemein akzeptiert 11 . Allerdings gab es damals noch keine umfassend zuständige Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die prozessuale Brisanz einer so weitreichenden Garantie rechtmäßiger Rechtsanwendung wurde daher noch nicht deutlich erkannt.

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„Gleichheit ist immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkt", Radbruch, Rechtsphilosophie (6. Auflage), 126; BVerfGE 6, 273 (280). 10 Zuerst in den „napoleonischen" Verfassungen des Königreichs Westfalen und der bayrischen Konstitution von 1808; später dann u.a. in § 21 der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819; § 37 Satz 1 der Verfassung des Fürstentums Reuß ä.L. v. 28. März 1867. Unter den Bürgern sollte nicht mehr nach Merkmalen des Standes differenziert werden: Stier-Somlo, 108; Giese, 296; v. Rönne/Zorn, (1906), Bd. 2, 3 f.; Preußisches OVG 56, 235. Heute ist der Grundsatz staatsbürgerlicher Gleichheit in Art. 33 Abs. 1 GG normiert. 11 Anschütz, Verfassungsurkunde, 107 ff.; ders., WRV, 522 f.; E. Kaufmann, VVDStRL 3 (1927), 6; Nawiasky VVDStRL 3 (1927), 62; Leibholz, Gleichheit, 31. Da man im Konstitutionalismus von einer umfassenden Bindung des Rechtsanwenders durch das Gesetz ausging, kam dem Gleichheitssatz eine eigenständige Bedeutung nur dann zu, wenn die Normen dem Richter freies Ermessen eröffneten, StierSomlo in Nipperdey, 180 f.

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2. Kap.: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes

III. Die Diskussion unter der Weimarer Reichsverfassung Zu dieser Zeit hatte sich in den USA und der Schweiz bereits eine andere Auffassung durchgesetzt. Hier hatten die Verfassungsgerichte eine Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte, und damit auch an den allgemeinen Gleichheitssatz, postuliert. Wie in Deutschland war zwar auch in diesen Staaten ein Vorrang der Grundrechte vor dem einfachen Gesetzesrecht nicht in der Verfassung normiert. Auch sprach der Wortlaut des Gleichheitssatzes nicht für eine solche Auslegung 12 . Die obersten Gerichte dieser Staaten, Supreme Court und Bundesgericht, rechtfertigten mit ihr aber das richterliche Prüfungsrecht, die Normenkontrolle durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, als die sie beide, nota bene, eigentlich nicht gedacht waren 13 . Den Verfassungsordnungen in Deutschland nach 1919 blieb eine Bindung der Legislative an die Grundrechte zunächst noch fremd. Sie waren ihr zur Handhabung anvertraut, „Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers" 14. Hier gab es auch kein Verfassungsgericht, das sie zur Begründung eines materiellen Prüfungsrechts instrumentalisiert hätte 15 . Aber ab 1924 trat eine „Neue Lehre" in der Staatsrechtswissenschaft dafür ein, den Reichsgesetzgeber zumindest an den Gleichheitssatz in Art. 109 Abs. 1 WRV zu binden. Dies war eine historische Wende, die den weiteren Weg der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland entscheidend prägte. Die Vertreter dieser Lehre waren in erster Linie dem konservativen Spektrum zuzuordnen. Aber ihr schlossen sich auch Stimmen an, die der parlamentarischen Demokratie skeptisch oder ablehnend gegenüberstanden 16. 12

So heißt es im 14. Zusatz zur Verfassung der USA nur: „no State shall ... deny to any person ... the equal protection of the laws". Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der schweizerischen Bundesverfassung (a.F.) lautete: „Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich". 13 Die konkrete Normenkontrolle führte der Supreme Court erstmals in Marbury vs. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137, 2 L. Ed. 60 (1803)) durch; das Bundesgericht im Fall Kägi (1874), zum Gleichheitssatz dann erstmals in BGE 6 S. 178. 14 Krüger, DVB1 1950, 626. Das galt für die Paulskirchenverfassung - ihr vorab verabschiedeter Grundrechtsteil enthielt den allgemeinen Gleichheitssatz in § 137 Satz 4 - ebenso wie (mit wenigen Ausnahmen) für die Weimarer Reichsverfassung. Die WRV stellte den allgemeinen Gleichheitssatz an die erste Stelle ihres Grundrechtsteils (Art. 109 Abs. 1). Zum Grundrechtsdenken der Weimarer Zeit s. etwa Kley (zur Meinungsfreiheit). 15 Der 1921 eingerichtete Staatsgerichtshof verfügte nur über staatsorganisationsrechtliche Kompetenzen (Art. 15 Abs. 3, 18 Abs. 7, 19, 59, 90, 170 Abs. 2, 171 Abs. 2 WRV). 16 Neben Triepel, Leibholz, Aldag, E. Kaufmann und Jellinek zählten dazu auch Poetzsch-Heffter (Art. 109, 399 f.); Schmitt (Verfassungslehre, 155); und v. Freytagh-Loringhoven, passim. S. dazu Stolleis, 130 ff.; Wendenburg, 220 ff.

A. Historische Entwicklung des Gleichheitssatzes

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Denn die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte bedeutete auch eine Abkehr vom positivistischen Rechtsdenken. Die Juridifizierung politischer Entscheidungen zielte auf eine Entmachtung der legislativen Gewalt. Weite Teile der Staatsrechtslehre begrüßten dies, weil sie dem Parlament mißtrauten. So spiegelt sich in der Auseinandersetzung um die Interpretation des Gleichheitssatzes der tiefgreifende Methoden- und Richtungsstreit der Weimarer Zeit wider, der Konflikt zwischen Positivismus und Naturrecht, um parlamentarischen Rechtsstaat und richterliches Prüfungsrecht. Wollte die „Neue Lehre" den Gesetzgeber an Art. 109 Abs. 1 WRV binden, so mußte sie zugleich den Inhalt dieses Grundrechts neu definieren. Das herkömmliche Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit paßte auf die Legislative nicht. Am wirkungsvollsten tat dies Gerhard Leibholz in seiner Dissertation über „Die Gleichheit vor dem Gesetz" (1925) 17 . Er interpretierte den Gleichheitssatz, wie Supreme Court und Schweizerisches Bundesgericht, als ein Gebot gerechter Behandlung der Menschen entsprechend ihrer tatsächlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Aber nicht Gerechtigkeit sollte der Maßstab sein, an dem ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden sollte, sondern Willkür, ihr „gegensätzlicher Korrelatbegriff, deren radikale, absolute Verneinung". Erst in extremen Ausnahmefällen könne ein Gesetz als gleichheitswidrig angesehen werden: wenn sich für einen Rechtsakt „schlechterdings überhaupt kein oder doch jedenfalls nur ein in der Hauptsache unvernünftiger Grund" finden ließ 1 8 . Diese Aussagen entfachten eine intensive wissenschaftliche Kontroverse. Der Gleichheitssatz des Art. 109 WRV wurde zum umstrittensten Grundrecht jener Zeit 1 9 . Wenngleich die Gegner der Willkürlehre erhebliche Zweifel an der Justitiabilität und Kritik an der Wertungsoffenheit des Will17

Zur Person Leibholz' Wiegandt, 17-78; Geiger, NJW 1971, 2059; Smend, AöR 1971, 568 ff.; W. Zeidler, JZ 1982, 218 f.; Link, AöR 108 (1983), 153 ff.; Rinck, JöR 35 1986, 133 ff.; Häberle AöR 1982, 1 ff. Der Auffassung, Leibholz habe durch Diskreditierung der Weimarer Demokratie dem Nationalsozialismus zum Durchbruch verholfen (Sontheimer, 112 ff.) stehen die differenzierten Bewertungen von Wiegandt, 22 ff., 219 f; Friedrich, 161 ff.; Wendenburg, 220 ff.; v. Bülow, 164 und Fußn. 465 entgegen. Unmißverständlich äußerte sich Leibholz in seinem Schlußwort auf der letzten Staatsrechtslehrertagung vor 1933: „Aber der wirkliche Kampf ist heute nicht mehr der traditionelle Kampf der liberal, wenn auch stark sozial, um nicht zu sagen, sozialistisch affizierten Kräfte mit den mehr oder minder auch sozial gebundenen konservativen Mächten, sondern der Kampf zwischen den im weitesten Sinn noch irgendwie massendemokratischen, den Eigenwert der Persönlichkeit bejahenden Kräfte mit den mythisch fundierten, die Freiheit des Individuums in einem mehr oder weniger radikalen Kollektivismus aufhebenden Bewegungen" (VVDStRL 7 (1932), 204). 18 Leibholz, Gleichheit, 87 ff., 92 f. 19 Dies zeigte sich an der intensiven Diskussion auf der Staatsrechtslehrertagung 1926 mit Referaten von E. Kaufmann und Nawiasky. Gegen die „Neue Lehre"

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2. Kap.: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes

kürverbots geltend machten, gewann die „Neue Lehre" besonders in der staatsrechtlichen Literatur erheblich an Boden. Bis zum Ende der Weimarer Republik konnte sie sich aber nicht mehr durchsetzen. Das Reichsgericht, das ab 1925 die materielle Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen überprüfte, berief sich dafür zwar auch auf den Vorrang der Grundrechte vor dem Gesetzesrecht 20. Eine Entscheidung über die Willkürlehre traf es aber nicht. Falls der Gesetzgeber überhaupt an Art. 109 Abs. 1 WRV gebunden sei, so meinte das Gericht, sei es zwar denkbar, daß dieser als Willkürverbot zu verstehen sei. Jedenfalls habe die Legislative aber nicht dagegen verstoßen 21 . Staatliche Willkür, wie sie die „Neue Lehre" der Weimarer Zeit verhindern wollte, charakterisierte dann das Rechtsdenken des Nationalsozialismus. Anknüpfungspunkte für die rechtliche Behandlung waren nun Merkmale „arischen" Wesens oder „völkischer" Zugehörigkeit 22 . Auf diese Weise unterlag auch der Gleichheitssatz dem furchtbaren Mißbrauch des Gesetzes- wie des Verfassungsrechts. Der nationalsozialistische Staat setzte seine ideologischen Vorstellungen von Gleichheit und Ungleichheit bis zur Mißachtung aller Würde, bis zur Vernichtung menschlichen Lebens um. Das verdeutlicht in schrecklicher Deutlichkeit ein besonderes Dilemma des Gleichheitssatzes, dem auch die „Neue Lehre" nicht entkommen konnte. Denn wenn man bei seiner Interpretation auf inhaltliche Kriterien verzichtet, wie es der Positivismus der Weimarer Zeit wollte, so genügt ein Gesetz seinen Anforderungen schon dann, wenn es alle Menschen gleich äußerten sich vor allem Anschütz, WRV, Art. 109 Rdnr. 522 ff.; Giese, Art. 109 Anm. 1; Stier-Somlo in: Nipperdey, 158 ff. 20 RGZ 111, 320 (vom 4.11.1925). Vorher prüften die Gerichte nur die formelle Reichsverfassungsmäßigkeit von Gesetzen, E. R. Huber, 562 ff. RGZ 111, 320 behandelte mit der unterschiedlichen Aufwertung von nominell gleichen Verbindlichkeiten nach der Inflation natürlich eine besonders gleichheitsrelevante Materie. 21 Eine hypothetische Willkürkontrolle von Gesetzen erfolgte z.B. in RGZ 111, 320 (328 ff.); 113, 6 (13); 128, 165 (180 f.); 136, 211 (221); 139, 6 (11 f.); a.A. noch der StGH in RGZ 122, Anhang, 35 f.: nur „Anweisung an die Gerichte und Behörden". Verwaltungsakte wurden nur im Zusammenhang mit Art. 131 WRV (Amtshaftung) auf Willkür überprüft, d.h. ob „das Verhalten einer Behörde in so hohem Maße fehlsam sei, daß es mit den an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen schlechterdings unvereinbar sei" oder „unter keinem möglichen Gesichtspunkt den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Verwaltung genügen kann" (RGZ 121, 225 (233); 147, 179 (183)). 22 Scheuner, ZStW 99 (1939), 253, 265 ff.; Maunz in: Maunz/Höhn/Swoboda, 83 f.; Buchholz, Gleichheit und Gleichberechtigung, 26 ff.; Poetzsch-Heffter, JöR 22 (1935), 265; Wegener, 30 ff.; Lösener, RVB1 1935, 930, der sich gegen „die ölige, liberalistische Parole von der Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt", wendet. Carl Schmitt nannte aber auch das Willkürverbot eine „Fiktion des Liberalismus" (Der Neuaufbau des Staats- und Verwaltungsrechts, DJT 1933, 242 (248) (zit. nach Henning/Kestler 194).

B. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes

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ungerecht behandelt. Öffnet man den Gleichheitssatz aber materiellen Wertungen, wie Leibholz es tat, orientiert man sich an dem „jeweiligen Rechtsbewußtsein einer Gemeinschaft", so können dies auch Auffassungen wie die jener Zeit sein.

B. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes I. Die Beratungen im Parlamentarischen Rat Es ist erstaunlich, daß die intensive Kontroverse über die „Neue Lehre", die 1933 ohne Ergebnis abgebrochen war, bei der Entstehung des Grundgesetzes nicht wiederauflebte. Nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit waren war die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz wohl zu selbstverständlich geworden 23 . Zudem setzte sich der Streit um materiale Werte im positiven Recht, der den philosophischen Hintergrund zur Debatte unter der WRV gebildet hatte, nach 1945 generell unter anderen Vorzeichen fort. Der Rechtspositivismus war diskreditiert, die Ausrichtung des Grundgesetzes an „gewissen überzeitlichen, fundamentalen Sätzen, die keine Rechtsordnung ignorieren kann, wenn man nicht an die Stelle von Recht Gewalt und Willkür setzen w i l l " 2 4 , nahezu unumstritten. Aber die Errichtung eines Verfassungsgerichts mit weitreichenden Kompetenzen, das praktisch jeden staatlichen Akt am Maßstab der Verfassung überprüfen konnte, gab der Problematik des Willkürverbots doch eine neue Dimension. Im Bereich des Gleichheitssatzes diskutierte der Parlamentarische Rat vor allem über die Gleichstellung der Frauen im Berufs- und Arbeitsleben. Außerdem war erwogen worden, die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz ausdrücklich auszusprechen (Art. 14 Abs. 2 HChE). Hierauf wurde aber letztlich verzichtet, wohl weil Art. 1 Abs. 3 GG dies bereits tat 2 5 . In dieser Debatte mag zwar noch eine Nachwirkung der Weimarer 23

Der Parlamentarische Rat hatte sogar erwogen, die Verfassungen der Länder auf die Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit zu verpflichten (JöR 1 (1951), 250). Zur Entstehungsgeschichte JöR 1 (1951), 66 ff.; BK-Rüfner, Art. 3, Rdnr. 1; Starck, Praxis, 105 ff.; Rohlfs, 115 ff.; Gusy, JuS 1982, 33 m.w.N. 24 Mit diesen Worten gab Leibholz in DVB1 1951, 197 f. seinen früheren Wertrelativismus, seine Überzeugung von der „Verabsolutierung des Wandelbaren" (Gleichheit, 1. Auflage, 60 f.) auf; vgl. dazu auch die Diskussion bei Link, 86. Das materiale Gleichheitsdenken hatte die Erfahrung der NS-Zeit überstanden, s. etwa Arndt FS Leibholz, 179 ff.; BVerfGE 1, 14 (LS 21a); Radbruch, SJZ 1946, 105 ff., der seine berühmte „Formel" maßgeblich damit begründete, daß das nationalsozialistische Recht sich „der wesensbestimmenden Anforderung der Gerechtigkeit, der gleichen Behandlung des Gleichen", habe entziehen wollen; BVerfGE 1, 208 (233). 25 Der Parlamentarische Rat, 2. Band, 1981, 142, 224, 515; weitere klare Nachweise bei Rohlfs, 117. Dennoch wurde und wird bestritten, daß der Gesetzgeber an

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2. Kap.: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes

Diskussion gesehen werden. Aber weder aus dem Wortlaut des Grundgesetzes noch aus den Materialien zur Verfassungsgebung war zu ersehen, daß Leibholz' Willkürverbot binnen kurzem die Interpretation des Gleichheitssatzes dominieren würde 26 . Willkürliches Handeln des Staates war nur bei Art. 2 Abs. 2 und Art. 16 GG Gegenstand der Beratungen. Der Vorschlag, willkürliche Verhaftungen und Ausbürgerungen zu verbieten, wurde aber abgelehnt: zum einen biete das Willkürverbot keinen Schutz gegen das Handeln der Verwaltung, zum anderen sei der Begriff der Willkür nicht präzise genug und gebe der Rechtsprechung keinen Anhalt 2 7 .

II. Die frühe Rechtsprechung: Art. 3 Abs. 1 GG als allgemeines Willkürverbot Gleichwohl übernahm der Zweite Senat des BVerfG bereits in seinem ersten Urteil (1951) die Auslegung des Gleichheitssatzes als Willkürverbot, die „Quintessenz der Neuen Lehre" 2 8 : „Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für eine gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß." (BVerfGE 1, 14 (52)) Der Senat hielt dies offenbar für selbstverständlich; er begründete seine Auffassung mit keinem Wort. Leibholz, der dem Zweiten Senat angehörte, dürfte dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben. Bald darauf schloß Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sei (W. Zeidler, DöV 1952, 4 f.: „leerer Programmsatz", der aber eine Willkürprüfung mit „dem inneren Zusammenhang von Art. 3 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG" begründet; Apelt JZ 1951, 357; Paulick, ZStW 109 (1953), 496 ff., 502; H. P. Ipsen, 157; Thoma, Materialien, 11: „verbreitete Irrlehre", „offensichtlich falsch") oder zumindest, daß Art. 1 Abs. 3 dies belege (Thoma, DVB1 1951, 458; Zippelius, VVDStRL 47 (1989), 11; Paehlke-Gärtner, 49). Die Formulierung: „Alle Menschen sind vor dem Recht gleich" hätte das vielleicht verhindert. 26 Die zwischenzeitlich vorgesehenen Fassungen des späteren Art. 3 Abs. 1 GG lauteten: „Der Grundsatz der Gleichheit bindet auch den Gesetzgeber"; „Im übrigen ist es Aufgabe des Gesetzgebers, im Streben nach Gerechtigkeit und im Dienste des Gemeinwohls Gleiches gleich, Ungleiches nach seiner Verschiedenheit zu behandeln"; und „Der Gesetzgeber muß Gleiches gleich, Ungleiches nach seiner Verschiedenheit behandeln"; JöR 1 (1951), 67 f. 27 So der Allgemeine Rechtsausschuß, Nachw. in JöR 1 (1951), 65. Hier fiel auch die Bemerkung, Willkür des Gesetzgebers sei „bereits durch die Fassung des Artikels über die Gleichheit ausgeschlossen", doch wird der Begriff bei der Diskussion um den späteren Art. 3 nicht erwähnt. Die Aufnahme eines Willkürverbots in Art. 2 Abs. 2 GG betrieb allein - erfolglos - v. Mangoldt. 28 Hesse, AöR 103 (1984), 186. - Berichterstatter im Verfahren um die föderale Neugliederung des Südwestens der Bundesrepublik war Geiger, Wiegandt 146 Fußn. 28.

B. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes

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sich der Erste Senat der Willkürinterpretation an 2 9 . Sie wurde rasch zu einer ständigen Rechtsprechung. Leibholz' Einfluß blieb auch weiterhin spürbar. Viele der Kriterien, an denen das BVerfG staatliche Differenzierungen überprüfte, ließen sich auf seine Diskussionsbeiträge zur Zeit der WRV zurückführen 30 . Zugleich beschränkte das BVerfG seine Beanstandungen wie seinerzeit Leibholz - jedenfalls "Verbal auf besonders schwere Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, um durch Zurückhaltung bei der Gesetzeskontrolle die Aufgabenverteilung des Grundgesetzes zu respektieren. Immer wieder wies es darauf hin, daß der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum belasse 31 . Andererseits eröffnete das Willkürverbot natürlich auch dem BVerfG selbst einen Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen es die Prüfungsintensität von Fall zu Fall regulieren konnte. Hinter der Formulierung, nicht irgendein, sondern nur ein „zureichender" Grund könne eine Differenzierung rechtfertigen, verbarg die scheinbar starre Willkürformel Variationen der Kontrollschärfe 32 . Zudem modifizierten die speziellen Ausprägungen, die das Gericht dem Gleichheitssatz für einzelne Rechtsgebiete gab, gegebenenfalls auch seine inhaltlichen Anforderungen 33 . Immerhin hob das BVerfG bis 1978 45 Bestimmungen in Bundesgesetzen als willkürlich auf 3 4 . Vielleicht deswegen stellte Gerhard Leibholz 1959 im Vorwort zur zweiten Auf29

BVerfGE 1, 117 (140 f.) (aus dem Jahr 1952). Das gilt etwa für die „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft", BVerfGE 1, 264 (276); 3, 58 (135 f.); 86, 81(87); die Sachlichkeit oder Vernünftigkeit der Rechtfertigungsgründe (BVerfGE 1, 264 (276); 2, 119 f.; 9, 130 (146); 21, 84; 52, 263; oder die Natur der Sache als Willkürkriterium (3, 381; 6, 236; 11, 280; 13, 203). 31 BVerfGE 3, 225 (240); 12, 326 (333); 14, 142 (150); 19, 101 (115); 25, 400; 52, 277 (281); 55, 72 (90); 89, 132 (142). „Die Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG ist gekennzeichnet durch das Bestreben, die dem BVerfG als einem Gericht gesetzten Schranken nicht zu übersteigen und dem Gesetzgeber nicht ins Handwerk zu pfuschen", Rupp-v. Brünneck, 166. 32 Bender, 399; Sachs-Osterloh Art. 3 Fußn. 20; AK-Bäumlin/Ridder, Art. 20 Rdnr. 65. Geiger sprach schon in BAnz. 1952, Nr. 30, 7 von einer „sehr elastischen Formel". 33 Eine strengere Prüfung auf „schematische Gleichbehandlung" findet z.B. im Wahlrecht statt (BVerfGE 8, 51 (68 f.); 12, 73 (77); 34, 81 (101), eine „weichere" häufig im Steuerrecht (Sachs-Osterloh, Art. 3 Rdnr. 134; BVerfGE 6, 55 (70); 13, 331 (338); 26, 302 (310); 43, 108 (118 f.); 61, 319 (343); 74, 182 (199 f.); 82, 60 (86)). Weitere Konkretisierungen des Gleichheitssatzes in BVerfGE 9, 20 (31 ff.); 20, 265 (275 f.) (Typisierung); BVerfGE 16, 137 (177); 48, 210 (116) (Härteklauseln); BVerfGE 13, 331 (340 f.); 20, 374 (377); 34, 103 (115) (Systemgerechtigkeit). 34 Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, 63 ff. Bis 1983 kamen weitere 11 hinzu, allerdings teilweise schon unter der Geltung der „Neuen Formel", Hesse, AöR 103 (1984), 193 Fußn. 70. 30

3 v. Lindeiner

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2. Kap.: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes

läge der „Gleichheit vor dem Gesetz" zu Recht fest, daß sich die Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG durch das BVerfG „sowohl in der Form wie im Inhalt ... mit der theoretischen Grundrechtskonzeption der vorliegenden Abhandlung in nahezu völliger Übereinstimmung" befand 35 . Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG als Willkürverbot auch außerhalb des BVerfG durchgesetzt. Die Verfassungsgerichte der Länder legten die Gleichheitssätze der Landesverfassungen ebenso aus 36 . Auch in der Wissenschaft stieß das Willkürverbot auf breite Zustimmung 37 .

III. Kritik am Willkürverbot Unumstritten war die Willkürlehre allerdings nicht. Vor allem um zwei Aspekte kreiste die wissenschaftliche Kritik: die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Verwirklichung gesellschaftlicher Gleichheit. Einerseits sah man im Willkürverbot eine „Aufblähung" des Gleichheitssatzes, die es dem BVerfG ermögliche, seine Weitentscheidungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Die abstrakten Kriterien der Gerechtigkeit und der Natur der Sache seien für juristische Subsumtion ungeeignet; „richterlicher Fall-Dezisionismus" die Folge, in dem gerade das Gegenteil richterlicher Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber liege 3 8 . Mit der Verankerung in Art. 3 Abs. 1 GG erhalte das Willkürverbot die „völlig überflüssige Qualität eines Grundrechts", obwohl es als Element des Rechtsstaatsprinzips nur ein objektiv-rechtlicher Verfassungssatz sein könne 39 . Auf der anderen Seite wurde die Beschränkung auf eine Willkürkontrolle aber auch als Verharmlosung und Substanzentleerung des Gleichheitssatzes kritisiert, die ihn zu einem „Schattendasein" verurteile. Der „Minimalismus" und „Quietismus" der Rechtsprechung sollte durch intensivere Kontrolle des Gesetzgebers insbesondere dort abgelöst werden, wo das Sozialstaatsprinzip ein aktives Hinwirken des Staates auf tatsächliche oder zumindest auf Chancengleichheit fordere 40 . 35

Leibholz, Gleichheit, 2. Auflage, Vorwort, 8. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hatte Art. 118 Abs. 1 der Bayerischen Verfassung ohnehin schon vor BVerfGE 1, 14 als Willkürverbot verstanden (BayVerfGHE 1, 29 (31) und 1, 64 (79) aus dem Jahre 1948). Ebenso dann BGHSt 24, 15 (23); BVerwGE 18, 254 (257). 37 Allein sechsundzwanzig Nachweise bei Martini, 79 Fußn. 2. 38 Hamann/Lenz, 160; Forsthoff, Rechtsstaat, 248: das Willkürverbot sei eine „Vortäuschung juristischer Subsumtion" zwecks „Verschleierung der Dezision". Ferner H. P. Ipsen, 154 ff.; Apelt, JZ 1951, 357; Forsthoff, Staat, 136; Starck in: von Mangoldt/Klein (4. Auflage) Art. 3 Rdnr. 12; Ridder, Soziale Ordnung, 148 f., 152 f.: „zur antidemokratischen und antirichterlichen Waffe pervertiert". 39 Schweiger, 56 mit Fußn. 9; Eyermann, 45 ff. 36

B. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes

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Auch in methodischer Hinsicht forderte die Lehre vom BVerfG zunehmend eine Überarbeitung der Gleichheitsrechtsprechung. Im Vergleich zu den variabler gehandhabten Freiheitsrechten erschien die Willkürformel vielen als zu starr und ungenau und letztlich als veraltet. Der „verführerischen Kraft des übergreifenden Willkürverbots", so wurde moniert, sei der eigentliche Inhalt des Gleichheitssatzes zum Opfer gefallen. Er sollte durch eine Art Verhältnismäßigkeitsprüfung, deren Intensität mit Hilfe anderer grundgesetzlicher Wertentscheidungen wie den Freiheitsrechten oder dem Sozialstaatsprinzip bestimmt werden sollte, wiederbelebt werden 41 .

IV. Vom Willkürverbot zur Neuen Formel Diese Wiederbelebung des Gleichheitssatzes erfolgt dann Anfang der achtziger Jahre. Etwa ab diesem Zeitpunkt ergänzte das BVerfG die Gleichheitsinterpretation um eine sogenannte „Neue Formel". Hiernach verbiete Art. 3 Abs. 1 GG in erster Linie, daß „eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen den beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten." Auf den ersten Blick unterschied sich diese Neue Formel deutlich vom Willkürverbot. Sie betonte das personale Element des Gleichheitssatzes, indem sie die Prüfungsintensität unter anderem daran ausrichtete, ob es im konkreten Fall eher um persönliche oder um sachliche Rechtsgleichheit ging. Ferner prüfte das BVerfG nunmehr explizit unterschiedliche Behandlungen und rechtfertigende Unterschiede zwischen den relevanten Fallgruppen und machte so die Vergleichsstruktur des Gleichheitssatzes wieder deutlich. Schließlich nahm die Neue Formel auch andere Verfassungsprinzipien in sich auf: die Anforderungen an gleichheitsgerechte Gesetzgebung variierten jetzt danach, wie stark sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann. Sie sind um so strenger, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, daß eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt 4 2 . 40 Häberle VVDStRL 30 (1972), 43 ff.; Zacher, AöR 93 (1968), 341 ff.; Hartmann (1972), passim; Scholler (1969), passim; Burmeister, 44; Suhr, Gleiche Freiheit, Vorwort: „Das allgemeine Gleichheitsprinzip verkümmert weitgehend zum Willkürverbot". Aus der Rechtsprechung die abw.M. von Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 36, 237 (247 ff.) und Katzenstein BVerfGE 62, 249 (289 f.). 41 Kloepfer, 59 ff.; AK-Stein Art. 3 Rdnr. 33 ff.; Huster, JZ 1994, 540 ff. Diese Frage ist von der nach „verhältnismäßiger Gleichheit" (im Sinne relativer Gleichbehandlung) zu unterscheiden.

3*

3 6 2 .

Kap.: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes

Hingegen läßt sich darüber streiten, ob die Neue Formel auch eine generelle Verschärfung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs mit sich brachte. Der meist zitierten Leitentscheidung BVerfGE 55, 72 gingen einige ähnliche voraus 43 und auch nach der Willkür-Rechtsprechung konnte ja nicht irgendein, sondern nur ein „hinreichender" sachlicher Grund eine Differenzierung rechtfertigen 44 . Neu war jedenfalls die Offenheit, mit der sich das BVerfG nun ausdrücklich zu einer flexiblen Gleichheitsprüfung bekannte und die Kontrolldichte von Fall zu Fall variierte. Damit griff es zwar nicht die Struktur, aber einen wesentlichen Grundgedanken des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf: die Anforderungen an das Gewicht der rechtfertigenden Gründe steigen mit wachsender Intensität des Grundrechtseingriffs bzw. der staatlichen Differenzierung. Allerdings verdrängte die Neue Formel das Willkürverbot keineswegs vollständig 45 . Die Rechtsprechung wurde vielmehr uneinheitlich: mal standen beide Maßstäbe beziehungslos nebeneinander, mal wurde das Willkürverbot in die Neue Formel integriert. Auch die Senate des BVerfG entwikkelten keine einheitliche Linie. Der Erste Senat versuchte zunächst, klar zwischen Willkürverbot und Neuer Formel zu trennen. Er führte eine strengere Prüfung durch, wenn es um eine Behandlung von Personen oder Personengruppen ging, und wählte den Willkürmaßstab, wenn nur zwischen Sachverhalten differenziert wurde. Der Zweite Senat formulierte gleitende Übergänge, faßte auch evidente Ungleichbehandlungen unter die Neue Formel und handhabte die Gleichheitsprüfung explizit als Problem „sach- und regelungsbereichsspezifischer Abwägung" 4 6 . Bis heute sind Schwankungen zwischen Senaten und selbst innerhalb der Senate sichtbar. 42

BVerfGE 88, 87 (96); 92, 53 (69) (Erster Senat). Die Neue Formel lehnt sich in manchem an die Rechtsprechung des Supreme Court der USA an, Brugger, 162 ff. Eine weitere Fallgruppe strenger Prüfung ist gegeben, wenn die Differenzierung an Merkmale anknüpft, die der Betroffene schwer beeinflussen kann, Sachs, JuS 1997, 126 ff.; Jarass, NJW 1997, 2547 jeweils m.w.N. Kurz und treffend BVerfG NJW 2000, 859: „Der Gleichheitssatz ist um so strikter, je mehr er den Einzelnen als Person betrifft, und um so mehr für gesetzgeberische Gestaltungen offen, als allgemeine, für rechtliche Gestaltungen zugängliche Lebensverhältnisse geregelt werden". 43 Zumal bei der Überprüfung von Gerichtsentscheidungen: Elemente und Ansätze der Neuen Formel finden sich z.B. schon in BVerfGE 1, 264 (276); 4, 219; 40, 65 (81). 44 S. etwa BVerfGE 33, 44 (51); 51, 1 (28). Daher sehen im Ergebnis keine Unterschiede: BK-Rüfner, Art. 3 Rdnr. 27; Riggert, 36 f.; Lepa, Art. 3 Rdnrn. 4, 20. Anders die h.M., Sachs-Osterloh Art. 3 Rdnr. 14; Gubelt in v. Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 14; Maaß, NVwZ 1988, 14 ff.; „der erhöhten Kontrolldichte korrespondiert eine Einschränkung der vom Bundesverfassungsgericht ständig betonten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers", abw.M. Katzenstein, BVerfGE 74, 9 (28 f.). 45 BVerfGE 89, 365 (375) (Erster Senat); 91, 118 (122 f.); 93, 386 (400) (Zweiter Senat); BVerfG NJW 1998, 591.

B. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes

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In der Staatsrechtslehre ist die Neue Formel dennoch zu Recht als inhaltlicher und methodischer Fortschritt begrüßt worden 47 . Daß das BVerfG selbst den „Betonmantel einer ständigen Rechtsprechung" durchbrochen 48 und die Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG aus der „Umklammerung durch die Diskussion in der Weimarer Republik" 4 9 gelöst hat, hat zugleich eine Welle wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Gleichheitssatz ausgelöst 5 0 . Zwei Landesverfassungen - die nur kurze Zeit in Kraft befindliche Verfassung von Ost-Berlin und die Verfassung des Landes Brandenburg haben den Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatz sogar entsprechend der neuen Rechtsprechung definiert: er sollte „jede Willkür und jede sachwidrige Ungleichbehandlung" verbieten.

V. Stand der Diskussion Dies belegt, daß die Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG nach wie vor in Bewegung ist. Allzu lange hat die pauschale Willkürformel vom eigentlichen Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG abgelenkt. So ist die Zukunft von Neuer Formel und Willkürlehre auch heute noch offen. Das Willkürverbot könnte aus dem Gleichheitssatz verdrängt und dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnet werden; es könnte als separates Prüfungselement innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG beibehalten werden. Denkbar ist auch eine Integration der beiden Maßstäbe, bei der das Willkürverbot als Stufe unterster Prüfungsintensität innerhalb der Neuen Formel Verwendung finden könnte: Willkür wäre nur noch eine Frage der Terminologie 51 . 46 Sachs-Osterloh Art. 3 Rdnr. 37; gleitende Abgrenzungen etwa in BVerfGE 55, 72 (89); 84, 348 (361); 90, 46 (57); 91, 389 (401); 92, 53 (68 f.) (Erster Senat); BVerfGE 71, 39 (58 f.); 76, 256 (329 f.); 90, 145 (195 f.); 96, 1 (6) (Zweiter Senat). Manchmal werden Willkürverbot und Neue Formel ganz zur Deckung gebracht, BVerfGE 93, 386 (397); BVerfG (K) NJW 1997, 2444. Umstritten ist aber auch, ob überhaupt Unterschiede zwischen den Senaten bestehen (Böckenförde VVDStRL 47 (1989), 96 f.); oder ob nicht ganz andere Unterschiede auftreten, so Heußner in Link, 107 (Erster Senat vergleicht immer, Zweiter Senat nicht) und Hesse, ebenda 77 und Gleichheitssatz, 126 f. 47 Hesse, FS Lerche, 128; Huster, JZ 1994, 541; Sachs, JuS 1997, 124. 48 K. Vogel, VVDStRL 47 (1989), 67. 49 Robbers, DöV 1988, 749. 50 Der Gleichheitssatz war ein Thema der Staatsrechtslehrertagung 1988 (Referate von Zippelius und Georg Müller, Bericht von Lücke, JZ 1988, 1111 ff.) und der sie begleitenden Aufsätze von Gusy, Maaß, Robbers, Sachs, Schoch, Stettner und Wendt. Neuere Dissertationen stammen von Riggert, Ziegler und Huster (1993) sowie Martini (1997), und Herzog ergänzte 1994 im Maunz-Dürig die Kommentierung Dürigs von 1973. 51 Herzog, MDHS, Art. 3 Anhang Rdnr. 8; Rodi, DöV 1989, 755 („veraltete Worthülse ... funktionsloses Fossil aus anderen Zeiten". Zutreffend BK-Rüfner,

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2. Kap.: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes

VI. Heutige Bedeutung des Willkürverbots Dennoch gehört das Willkürverbot weiterhin zu den prägenden Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung. Gleichheitssatz und Willkürverbot sind nicht nur in Art. 3 Abs. 1 GG als subjektive Grundrechte verkörpert. Die herrschende Ansicht sieht in ihnen auch objektive Prinzipien des Verfassungsrechts und Elemente des Rechtsstaatsprinzips 52. Das hat zu erstaunlichen Weiterungen dieser Rechtsgrundsätze geführt. So fand das Willkürverbot auch im Verhältnis von Hoheitsträgern untereinander (die sich nicht auf Art. 3 Abs. 1 GG berufen können) Anwendung 53 . Das BVerfG nutzte das Willkürverbot gelegentlich, um seine eigenen Kompetenzen, etwa gegenüber außen- und verteidigungspolitischen Einschätzungen und Wertungen der Bundesregierung, zu definieren 54 . Auch bei der Interpretation des Rechts auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, kam der Willkürmaßstab zur Geltung 55 . Art. 3, Rdnr. 19: „Willkürliche Ungleichbehandlung ist immer ein Gleichheitsverstoß, aber nicht jeder Gleichheitsverstoß ist Willkür". 52 Das Willkürverbot z.B. in BVerfGE 49, 168 (184); 86, 148 (150); der Gleichheitssatz in BVerfGE 26, 228 (244); 78, 232 (248); 84, 239 (270 f.) und als „ungeschriebener Verfassungssatz" (!) in BVerfGE 1, 208 (243); 6, 84 (91); 35, 263 (272); beide in BVerfGE 55, 72 (89). Die Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip betonen BVerfGE 21, 362 (382); „allgemeiner Rechtsgrundsatz, der bereits aus dem Wesen des Rechtsstaats, dem Prinzip der allgemeinen Gerechtigkeit, folgt"; 26, 228 (244); 38, 225 (228); 49, 168 (184); 83, 363 (393); 84, 90 (121) (im ersteren Sinne) gegenüber BVerfGE 86, 148 (150); 89, 132 (141); dazu Stern, II, § 20 IV 2b. Unklar ist aber, ob beide in diesem Fall im Wege einer Vergleichsprüfung oder „eindimensional" gehandhabt werden sollen (BVerfGE 89, 132 (141) 83, 363 (393); 72, 330 (331) gegenüber BVerfGE 2, 225 (237); 34, 149 (146); 38, 225 (228); 75, 192 (200 f.); 76, 130 (136 ff.). 53 Notfalls könnte man das wohl auch damit begründen, daß eine Ungleichbehandlung von Bundesländern zu einer von Landesbürgern führt; Jarass/Pieroth, Art. 3 Rdnr. 4a und BVerfGE 21, 362 (372); 56, 298 (313); 89, 132 (141); BVerwGE 75, 318 (327). Jedenfalls folgt daraus nicht, daß juristische Personen des öffentlichen Rechts sich auf Grundrechte berufen könnten, BVerfGE 75, 192 (200 f.); 76, 130 (136 ff.); a.A. Hendrichs in v. Münch/Kunig, Art. 19, Rdnr. 38; Mattey ebda. Art. 131, Rdnr. 12; Schnapp ebda., Art. 19 Rdnr. 30 meint, das Willkürverbot gelte unabhängig von der Frage der Grundrechtsfähigkeit. Nach Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 233 Fußn. 1 beruhte die Verwendung des Art. 3 Abs. 1 GG als „Anspruchsgrundlage" in BVerfGE 1, 14 (wo es um die Gleichbehandlung von Ländern ging) auf einer „Verwechslung" mit dem objektiven, bundesstaatlichen Gleichheitsprinzip. 54 BVerfGE 55, 349 (366, 368); 68, 1 (97). 55 Hier fing das BVerfG mit Hilfe des Willkürverbots dessen tatbestandliche Ausweitung zu einem „Recht auf den gesetzmäßigen Richter" auf. „Grobes prozessuales Unrecht" im Sinne des Willkürverbots eröffnet auch die Möglichkeit einer Gegenvorstellung beim BVerfG gegen dessen eigene (Kammer-) Entscheidungen: BVerfGE 72, 84 (88). Auch die Handhabung der EMRK durch deutsche Gerichte

B. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes

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Das Willkürverbot prägt aber nicht nur das Verfassungsrecht, sondern auch das einfache Gesetzesrecht. Willkür als Rechtsbegriff findet heute in allen Bereichen des öffentlichen wie des Zivilrechts Anwendung. Sie markiert die Grenze, bis zu der die Urteile der DDR-Justiz Bestand haben und ihre Richter straffrei bleiben sollen 56 ; die Verwaltung ihre Beurteilungsspielräume nutzen darf 5 7 ; Verkehrszeichen beachtet werden müssen 58 ; Erkenntnisse verdeckter Ermittler im Strafverfahren verwendet werden dürfen 5 9 ; private Vereine ihre Satzungen autonom gestalten dürfen 60 ; Ermittlungsrichter Anträgen der Staatsanwaltschaft auf richterliche Vernehmungen Folge leisten müssen 61 ; Nachbarn ihre Baufreiheit verwirklichen dürfen 62 ; die Anwendung von Landesrecht nicht revisibel ist 6 3 : die Zivilgerichte Beweisanträgen und aus der Luft gegriffenen Tatsachenbehauptungen nachgehen müssen 64 ; gerichtliche Verweisungsbeschlüsse Bindungswirkung entfalten 6 5 ; und die Festlegung von Anflugrouten auf Flughäfen überprüft werden kann 6 6 .

überprüft es nur auf Willkür; richtigerweise ist dies aber eine Frage der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde (so auch BVerfGE 34, 384 (393); 41, 126 (149); anders BVerfGE 64, 135 (157); 74, 102 (128)). 56 BGHSt 40, 30 (41); NJW 1999, 3347 (Fall Havemann); BVerfG 7.4.1998 2 vR 2560/95. Rechtsbeugung i.S.v. § 336 StGB setzt ganz in diesem Sinne voraus, daß „die Auffassung des Richters nicht einmal vertretbar erscheint", KG NStZ 1988, 557 oder „ihre Rechtswidrigkeit so offensichtlich war und sie Menschenrechte derart schwerwiegend verletzt, daß sie sich als Willkürakt darstellt"; subjektiv ist bedingter Vorsatz des Richters erforderlich (BGH NJW 1998, 249). BGHSt 41, 247 (251) will gar - kaum haltbar - noch weiter verschärfte Anforderungen damit begründen, daß „die Annahme von Unvertretbarkeit gerichtlicher Entscheidungen etwa bei der Willkürkontrolle nicht auf extreme Ausnahmefälle beschränkt" sei. 57 Kopp, VwGO, § 137 Rdnr. 13; § 42 Rdnr. 70; ders., VwVfG, § 40 Rdnr. 63 m. w.N. 58 OLG Düsseldorf 5 Ss (OWi) 336/98; hinzukommen muß noch, daß die Willkür (für wen?) offensichtlich ist. 59 BGHSt 42, 203 (207). 60 KG NJW 1962, 1917; LG Berlin, MDR 1974, 134. 61 OLG Düsseldorf NStZ 1990, 144. 62 Kopp, VwGO, § 42 Rdnr. 70. 63 Kopp/Schenke, VwGO, § 137 Rdnr. 13. 64 BGH VersR 1976, 386; Zöller, ZPO, § 287 Rdnr. 6. 65 BGH NJW 1995, 2111; NJW 1999, 2604 m.w.N. Die Auffassung, das ohnehin problematische Willkürverbot habe „im einfachen Recht nichts zu suchen (Sangmeister, NJW 1998, 728 Fußn. 98), erscheint illusionär. 66 BVerwG, DVB1 2000, 1858 (1860).

3. Kapitel

Auswertung der Rechtsprechung des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür Das BVerfG entnimmt dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG - neben anderen Inhalten - ein „Verbot richterlicher Willkür". Es hat bis heute fast einhundert Gerichtsentscheidungen aufgehoben, weil sie gegen dieses Verbot verstießen.

A. Der Gleichheitssatz in der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle Im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen prüft das BVerfG, ob die Entscheidung den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt. Dabei sind zwei Prüfungsschritte zu unterscheiden. Zum einen untersucht das BVerfG, ob das Gericht in seiner Entscheidung die Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts grundlegend verkannt hat. Eine solche Verkennung bezeichnet es als Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts" l . Sie kann natürlich auch in einer Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 1 GG liegen. Zum anderen prüft das BVerfG, ob das Gericht gegen das Verbot richterlicher Willkür verstoßen hat.

I. Der Gleichheitssatz als „spezifisches Verfassungsrecht" Die Prüfung, ob ein Gericht Art. 3 Abs. 1 GG grundlegend verkannt hat, erfolgt anhand der für den Gesetzgeber entwickelten Prüfungskriterien. Auf Unterschiede zwischen Legislative und Judikative, auf die spezifische Be1 Gemeint ist wohl eher eine spezifische Verletzung von Verfassungsrecht, denn ein „unspezifisches Verfassungsrecht" gibt es nicht. Diese „goldene Regel" (Faller, AöR 115 (1990), 195), eine „aufrichtig-derbe Formel" (Lerche, 41 f.), die sich bis nach Herrenchiemsee zurückverfolgen läßt (Abg. Beyerle, s. Bender, 96 Fußn. 123) gibt denn auch bis heute Rätsel auf. Gemeint waren wohl ursprünglich nur die Grundrechte (BVerfGE 2, 336 (339)); in BVerfGE 6, 7 (10); 6, 32 (43) aber auch objektives Verfassungsrecht. Jedenfalls sollen Verstöße „nur" gegen einfaches Recht vom BVerfG nicht aufgehoben werden. „Rein defensiv" (Bender 97) muß die Formel aber nicht verstanden werden, s. dazu 7. Kapitel, II.

A. Der Gleichheitssatz in der Urteilskontrolle

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deutung des Art. 3 Abs. 1 GG für die Rechtsanwendung ging das BVerfG nur selten ein. Daher entsprach die verfassungsgerichtliche Urteilskontrolle lange Zeit der generellen Interpretation des Gleichheitssatzes. Zunächst prüfte das BVerfG nur, ob ein Gericht willkürlich entschieden hatte, indem es verschiedene Personen ohne sachlichen Grund verschieden behandelt hatte. Später setzte sich auch hier die Neue Formel durch 2 . Der Schwerpunkt der Rechtsprechung lag dabei auf dem Gebiet des Zivilverfahrensrechts 3. Das BVerfG statuierte einen prozessualen Gleichbehandlungsgrundsatz, mit dem es die Rechtsschutzmöglichkeiten „armer" und „reicher" Parteien einander anglich 4 , und einen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit, der auf eine generelle Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter zielte 5 . Im materiellen Recht übte das BVerfG größere Zurückhaltung. Während in der Literatur oft geäußert wurde, Art. 3 Abs. 1 GG verlange eine Selbstbindung der Rechtsprechung an frühere Entscheidungen6, meinte das BVerfG, abweichende Auslegungen durch verschiedene Gerichte könnten den Gleichheitssatz nicht verletzen, weil die Rechtsprechung wegen der Unabhängigkeit der Richter 2

Die Übernahme der für den Gesetzgeber entwickelten Kontrollinstrumente begründete das BVerfG nur mit der apodiktischen Behauptung, die Gerichte dürften nicht zu Differenzierungen gelangen, die dem Gesetzgeber verwehrt seien. Sie hätte durchaus einmal genauerer Erörterung bedurft. Eine erfolgreiche Prüfung vergleichender Willkür etwa in BVerfGE 13, 46; 19, 1; 23, 98; 23, 327; 27, 142; der Neuen Formel z.B. in BVerfGE 40, 65 (81 f.); 58, 369 (374); 65, 377 (384); 70, 230 (240). 3 Erstaunliche Zahlen bei Schumann, NJW 1985, 1134 ff. und Krauß, 265. Auf die Kritik („Superrevision in Präklusionssachen", „BVerfG als Beschwerdegerichtshof 4 (Schumann, NJW 1982, 1609 ff.; Kopp, AöR 106 (1981), 611 ff.) reagieren BVerfGE 60, 305 (310); 75, 302. Es ist kein Zufall, daß Überschneidungen zwischen Willkürkontrolle und Ausstrahlungsrechtsprechung meist bei Art. 103 Abs. 1 GG vorkommen; hier stehen beide der „Superrevision" am nächsten. 4 Das BVerfG beanstandete gleichheitswidrige Auslegungen der Vorschriften über die Prozeßkostenhilfe (das damalige „Armenrecht"), BVerfGE 2, 336 (340); 23, 83 (86); 56, 139 (144); 81, 347 (357); BVerfG (K) NJW 1997, 2745. Das Kriterium, wonach der armen Partei die Rechtsverfolgung nicht unverhältnismäßig erschwert werden durfte, bedeutete aber nicht, daß Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz miteinander gekoppelt worden wären; in der Sache wurde eine normale vergleichende Willkürprüfung durchgeführt. 5 Waffengleichheit zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem fordern z.B. BVerfGE 38, 105 (111); 63, 45 (61). Außerdem wird daraus abgeleitet, daß sich auch juristische Personen auf Verletzungen der Prozeßgrundrechte berufen können, Sachs-Krüger, Art. 19 Rdnr. 102 m.w.N.; BVerfGE 6, 45 (49); 21, 362 (373); BGHZ 98, 295 (299). Dieser Grundsatz kann aber „gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang" herbeiführen (so aber die abw.M., BVerfGE 52, 131 (144); BVerfGE 74, 78 (94 f.); dagegen Sachs-Osterloh Art. 3 Rdnr. 209 m.w.N.). 6 S. etwa AK-Stein, Art. 3, Rdnr. 33 ff.; Gusy, DöV 1992, 468; Riggert und Ziegler.

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

(Art. 97 Abs. 1 GG) konstitutionell uneinheitlich sei 7 . Gleichheitsverstöße durch richterliches Handeln stellte das BVerfG daher noch seltener fest als solche durch Gesetze8.

II. Das allgemeine (vergleichsunabhängige) Willkürverbot Neben das gleichheitsbezogene Willkürverbot trat schon in der frühen Rechtsprechung ein zweiter Gesichtspunkt. Auch hier prüfte das BVerfG, ob das Gericht willkürlich gehandelt hatte. Aber während es sonst um die Willkürlichkeit einer Vergleichsbeziehung, also einer konkreten Differenzierung oder Gleichbehandlung ging, untersuchte das BVerfG hier die unsachliche Begründung einer Entscheidung schlechthin9. Das Verhältnis dieses „vergleichsunabhängigen Willkürverbots" zur Anwendung des Gleichheitssatzes als „spezifischem Verfassungsrecht" unterlag einigen Schwankungen 10 . Auch in der Literatur wurde zwischen den beiden Fallgruppen nicht immer deutlich getrennt. Der Ausdruck „Willkür" bezeichnet daher häufig sowohl Gerichtsentscheidungen, die eine Differenzierung oder Gleichbehandlung enthalten, für welche kein hinreichender sachlicher Grund vorhanden ist; als auch Entscheidungen, die nicht wegen einer darin enthaltenen Vergleichsbeziehung, sondern als solche willkürlich sind. Das Verbot richterlicher Willkür, das Gegenstand dieser Untersuchung ist, 7

St. RSpr. seit BVerfGE 1, 332 (345); 78, 123 (126); 87, 273 (278); Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 48 f., 410. Diese defensive Haltung dürfte (wie das Willkürverbot) aus der Furcht der frühen Rechtsprechung vor den Gefahren des Art. 3 Abs. 1 GG herrühren. Nur vorsichtig ging das BVerfG auf den Aspekt des Vertrauensschutzes ein (BVerfGE 18, 224 (240); 19, 38 (47); 78, 123 (125); 84, 121 (227)). Immerhin hat es eine gleichmäßige Strafpraxis „bei einem so schwerwiegenden Verbrechen wie dem Mord" als ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit bezeichnet, BVerfGE 45, 187 (260 f.), dies dann aber in BVerfGE 57, 29 (39) auch auf das außerdienstliche Tragen von Uniformen (§§ 15 Abs. 3, 23 Abs. 1 SG) angewandt (!). 8 Zu Recht stellt Herzog, MDHS, Art. 3 Anhang, Rdnr. 16, fest, daß der Gleichheitssatz bei der Kontrolle der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung durch die Gerichte letztlich eine untergeordnete Rolle spielt. 9 In der Literatur wird diese Variante der Willkürprüfung auch als „isolierte", „eindimensionale" oder „absolute" (Kloepfer, 60) Willkür bezeichnet. Der Schwerpunkt lag hier bei der Kontrolle der Rechtsanwendung durch die Gerichte; gegenüber Gesetzen griff das Verbot absoluter Willkür bislang nicht durch (BVerfGE 6, 174 (187); 68, 237 (250)). Gelegentlich wurde diese Prüfung aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, so in BVerfGE 1, 208 (233); 56, 99 (107); 84, 90 (121); 86, 148 (250 f.); BVerwGE 95, 252 (260). 10 Die beiden Arten der Willkürprüfung werden z.T. vermischt (BVerfGE 18, 85; 36, 174 (187 ff.)), z.T. deutlich getrennt (BVerfGE 68, 237 (247 f., 250). Auch in der Literatur wird nicht immer klar unterschieden (Schuppert/Richter, 129; DreierHeun, Art. 3 Rdnr. 57; Geddert-Steinacher, 49 f. Fußn. 147).

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bezeichnet allein die zweite Fallgruppe. Wo eine bestimmte Vergleichsbeziehung beanstandet wird, wäre es im übrigen präziser, statt von Willkür von einer „ungerechtfertigten Differenzierung" oder schlicht von einer „Diskriminierung" zu sprechen.

B. Entscheidungen des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür Die Grundlagen seiner Willkür-Rechtsprechung legte das BVerfG bereits in den Anfangsjahren seiner Rechtsprechung. Doch erst 1976 stellte es erstmals Willkür eines Gerichtsurteils fest.

I. Grundlagen 1. Art. 3 Abs. 1 GG als Verbot objektiver

Willkür

Mit seinem ersten Urteil übernahm der Zweite Senat des BVerfG, wie erwähnt, die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot. Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß." (BVerfGE 1, 14 (Leitsatz 18)). In BVerfGE 1, 117 schloß sich der Erste Senat dieser Auslegung an: „Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) liegt nicht vor. Ein solcher Verstoß könnte darin liegen, daß der Bundesgesetzgeber von dem ihm durch Art. 106 Abs. 4 eingeräumten Ermessen willkürlich Gebrauch gemacht hätte, indem er ohne zureichende sachliche Gründe ein Land im Gegensatz zu anderen mit unverhältnismäßig hohen Beiträgen belastet hätte. Davon kann hier nicht die Rede sein." Beide Senate führten die Willkürkontrolle noch klar vergleichsbezogen durch. Zugleich verstanden sie Willkür in einem „objektiven Sinn". Die Motivation des Recht setzenden oder anwendenden Organs, ob es „vorsätzlich" oder „fahrlässig" willkürlich gehandelt habe, sei unerheblich 11 : „Dabei kommt es auch nicht darauf an, daß der Gesetzgeber ... seinerzeit die heutige Massenflucht noch nicht einmal erwartet hatte; nicht subjektive Willkür führt zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, sondern objektive, d.h. die tat11 BVerfGE 2, 266 (281). Die zu Art. 11 GG ergingene Entscheidung zeigt, daß das BVerfG seine Kompetenzen und die Inhalte der Grundrechte zunächst sehr eng definierte (Willkürverbot als Inhalt der Freiheitsrechte). „Auch" Verfahrensnormen, so das BVerfG, könne es nur für grundrechtsverletzend erklären, wenn sie eindeutig unangemessen seien.

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sächliche und eindeutige Unangemessenheit der gesetzlichen Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, deren sie Herr werden soll." Auch Gerichtsentscheidungen wurden auf diese Weise überprüft. BVerfGE 2, 336 erklärte die herrschende Auslegung des § 172 StPO, wonach im Klageerzwingungsverfahren kein „Armenrecht" gewährt wurde, für willkürlich 1 2 : „(Der Gleichheitssatz) verbietet, daß wesentlich Gleiches ohne sachlichen Grund ungleich behandelt wird (vgl. BVerfGE 1, 52). Auf den vorliegenden Fall angewendet, ergibt er, daß kein sachlicher Grund es rechtfertigt, die Gewährung des Armenrechts auszuschließen und damit dem Minderbemittelten das Verfahren nach § 172 StPO zu versperren. Die grundsätzliche Ablehnung des Armenrechts benachteiligt willkürlich den Beschwerdeführer als Minderbemittelten ..." 2. Willkürkontrolle

bei der Urteilsverfassungsbeschwerde: BVerfGE 4, 1

Der eigentliche Ursprung des Verbots richterlicher Willkür war der Beschluß des Ersten Senats vom 1.7.1954 (BVerfGE 4, 1). Der Beschwerdeführer in diesem Verfahren hatte eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG gerügt, weil der BFH in einem Revisionsverfahren von ständiger Rechtsprechung und zudem von einem eigenen Urteil in derselben Sache abgewichen war. Das BVerfG führte aus, zwar sei möglicherweise der prozessuale Grundsatz der Bindung des Revisionsgerichts an die eigene rechtliche Beurteilung mißachtet worden. Dieser Grundsatz habe aber keinen Verfassungsrang. Und selbst wenn der BFH insofern (sozusagen: nach „einfachem Recht") fehlerhaft entschieden habe, liege darin noch kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG: „Es ist allgemein anerkannt und entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Urteile nicht zur Nachprüfung im vollen Umfange, wie bei einer Revisionsinstanz, sondern nur zur Nachprüfung auf verfassungsrechtliche Verstöße führen kann (BVerfGE 1, 4 (5); 1, 7 (8); 1, 418 (428, 429); BVerfGE 3, 213 (219, 220). Ein solcher Verstoß liegt bei gerichtlichen Urteilen unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots des Art. 3 Abs. 1 GG nicht schon dann vor, wenn die RechtsanWendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Hinzukommen muß vielmehr, daß diese bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschen12 Kurz vor dieser Entscheidung war § 172 StPO ohnehin entsprechend geändert worden; für Verfassungswidrigkeit der alten Fassung plädierte schon Dahs, NJW 1952, 1269 f. Da die bisherige Auslegung dem Wortlaut dieser Vorschrift entsprochen hatte, handelte es sich hier eher um eine „mittelbare" Normenkontrolle. Allerdings bemängelte das BVerfG, daß das OLG die Norm nicht durch verfassungskonforme Auslegung korrigiert hatte. Kritisch zu BVerfGE 2, 336 Fuss JZ 1959, 334 (falsche Vergleichsgruppen, fiskalische Rechtfertigungsgründe).

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den Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich daher der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhen." Mit diesem Satz hatte das BVerfG das entscheidende Kriterium für richterliche Willkür gefunden. Allerdings entsprach das so definierte Willkürverbot seiner bisherigen Rechtsprechung nur dem Namen nach. Denn das BVerfG griff hier weder das objektive Verständnis von Willkür noch deren Umschreibung als „tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit" auf. Erstmals wandte es zudem Art. 3 Abs. 1 GG an, ohne dabei einen Vergleich vorzunehmen. A l l dies veranlaßte den Senat aber nicht zu einer Begründung seiner neuen Auslegung. Über die Hintergründe der Entscheidung läßt sich daher nur mutmaßen. Dabei ist zum einen zu vermerken, daß das BVerfG hier erstmals einen grundrechtlichen Abwehranspruch gegen in diesem Sinne willkürliche Gerichtsurteile anerkannt hatte 13 . Andererseits reduzierten seine engen Kriterien die Erfolgschancen einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung des Willkürverbots durch eine gerichtliche Entscheidung geltend machte, erheblich. Solche Beschwerden waren seit Beginn der Tätigkeit des BVerfG sehr häufig erhoben worden. Es spricht viel dafür, daß der Senat mit seiner Entscheidung die Auslegung des Gleichheitssatzes grundsätzlich und restriktiv klären wollte, um die Anzahl der Verfassungsbeschwerden zu reduzieren 14 . Unsicherheiten über die generelle Rolle der 13

Und zwar noch vor der weiten Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG durch BVerfGE 6, 32 (Elfes), die es ermöglicht hätte, ein aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitetes Verbot richterlicher Willkür für jedermann einklagbar zu machen. Die „Vergrundrechtlichung" des Willkürverbots durch seine Ableitung aus Art. 3 Abs. 1 GG spricht das BVerfG gelegentlich ausdrücklich an: NJW 1990, 3191 (3192); NJW 1990, 3193 („durch Art. 3 Abs. 1 GG verfassungskräftig verbürgten Anspruch ... auf eine willkürfreie Entscheidung"); MDR 1990, 980 und NJW 1991, 1285: „Grundrecht auf eine willkürfreie Entscheidung". Art. 3 Abs. 1 GG wirkt also als „Transformator" eines Rechtsverstoßes zum Verfassungsverstoß (Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 37; Mauder, 52). 14 Die Hälfte der vor BVerfGE 4, 1 veröffentlichten Verfassungsbeschwerden betraf Art. 3 GG, davon rügten zehn seine Verletzung durch ein Gesetz, zwölf durch die Rechtsanwendung (und zwar z.T. ausdrücklich nur wegen „falscher Subsumtion", BVerfGE 1, 418). S. Röhl, JZ 1957, 107 f.: „mit dem Argument: ,Ein falsches Urteil verletzt den Gleichheitssatz' glaubt man, ein jedes Urteil dem BVerfG unterbreiten zu können". Weil eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG in 42% aller Verfassungsbeschwerden gerügt worden sei, erwog er sogar, dieses Grundrecht von der Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde auszunehmen. Deutlich wird die restriktive Motivation in späteren Äußerungen eines der beteiligten Richter: die Verfassungsbeschwerde habe gedroht, den Ersten Senat „lahmzulegen", Art. 3 GG sei „offen und umfassend" wie § 242 BGB, was offene Auslegungskriterien erforderlich mache (Kurt Zweigert, 117). Dieser „generalpräventive" Ansatz kommt auch in der Überschrift der Entscheidung zum Ausdruck: sie erging allgemein „zur Frage einer Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG durch gerichtliche Urteile".

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Grundrechte in der Rechtsanwendung mögen hinzugekommen sein. Die Entscheidung stieß jedenfalls auf erhebliche K r i t i k 1 5 . Es überzeugt in der Tat nicht ohne weiteres, daß dem BFH mit der unterschiedlichen Beurteilung desselben Sachverhalts nur „im äußersten Falle eine gewisse Nachlässigkeit" unterlaufen sein sollte, weil „der Umfang der Selbstbindung ... im Einzelfall zweifelhaft" sein könne. Die neuen Voraussetzungen richterlicher Willkür hatte er damit aber nicht erfüllt. 3. Weitere

Entscheidungen zu Gleichheitssatz und Willkürverbot

Mit BVerfGE 4, 1 war das Prüfungsschema bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile - Willkür einerseits, Verletzungen spezifischen Verfassungsrechts andererseits - etabliert. Inhaltlich entwickelten sich diese Kriterien durchaus unterschiedlich. So hob das BVerfG einige gerichtliche Entscheidungen wegen Verstoßes gegen das vergleichende Willkürverbot auf 1 6 . Es berief sich dafür gelegentlich auf allgemein-rechtsstaatliche Erwägungen, so in BVerfGE 23, 9 8 1 7 und BVerfGE 34, 325 1 8 . In BVerfGE 29, 45 konstatierte es erstmals eine willkürliche Rechtsanwendung, ohne eine Vergleichsprüfung durchzuführen. Allerdings betraf die Entscheidung nicht das allgemeine Willkürverbot, sondern das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), das durch eine „offensichtlich unhaltbare" Zuständigkeitsbestimmung verletzt worden war. Die Willkürkontrolle hingegen führte lange Zeit nicht zum Erfolg einer Verfassungsbeschwer15

Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 189 Fußn. 1: „sicherlich falsch (und in der edukatorischen Wirkung schlimm)"; Hesse, in: Link, 77; Dörr, Faires Verfahren, 124. 16 Das betraf meist Entscheidungen höherer Gerichte: des BGH (BVerfGE 13, 46; 22, 83; 23, 327), des BVerwG (BVerfGE 27, 142; 99, 129); des BSG (BVerfGE 40, 65) und des BFH (BVerfGE 35, 324; Kammerbeschlüsse (!) NJW 1996, 833 und 834). 17 Hier machte das Willkürverbot einen Verstoß gegen Art. 116 Abs. 2 GG justitiabel, der kein rügefähiges Grundrecht darstellt. Das BVerfG bezeichnete eine Ungleichbehandlung zwischen während der nationalsozialistischen Herrschaft ausgebürgerten Deutschen, die vor dem 8.5.1945 verstorben waren, und denen, die den 23.5.1949 (sie) erlebten, als unerträglichem Widerspruch zur Gerechtigkeit. Allerdings erkannte Art. 116 Abs. 2 GG selbst den Verlust der Staatsangehörigkeit an, verstieß also seinerseits gegen Art. 3 Abs. 3 GG. Dazu Sachs-Kokott, Art. 116, Rdnr. 29 ff.; abw.M. Hirsch BVerfGE 54, 53 (75); Robbers, Gerechtigkeit, 33 ff.; Rupp, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951-1971, 123 f. 18 Der von nationalsozialistischer Verfolgung betroffene Beschwerdeführer hatte in einem Entschädigungsverfahren Berufung eingelegt. Sie wurde als unzulässig abgewiesen, da er bereits als Rechtsanwalt zugelassen, aber noch nicht vereidigt war. Das BVerfG hielt dies - unter eindringlicher Betonung des Gebots materialer Gerechtigkeit - nicht für einen sachlich vertretbaren und einleuchtenden Grund (328 f.); anders Hirsch, abw.M., 332 ff.

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de 1 9 . Erst 1976 stellte der Zweite Senat in der Entscheidung BVerfGE 42, 64 eine eigenständige Verletzung des Verbots richterlicher Willkür fest.

II. Die Zwangsversteigerungs-Entscheidung: BVerfGE 42, 64 In dieser Entscheidung gab das BVerfG einer Verfassungsbeschwerde statt, mit der die Beschwerdeführerin den drohenden Verlust ihres Teileigentums an einem Grundstück abwenden wollte. Die geschiedene Frau hatte die Zwangsversteigerung des gemeinsam mit ihrem Ehemann gehaltenen Grundstücks mit einem Wert per saldo von D M 124.000 zum Zweck der Auseinandersetzung beantragt. Im Termin setzte der Rechtspfleger das geringste Gebot auf D M 1.785,42 fest. Dennoch nahm die aus Kostengründen ohne Anwalt erschienene Frau ihren Antrag nicht zurück. Ihr Mann erhielt den Zuschlag für D M 2.000. Die Beschwerde der Frau gegen den Zuschlagsbeschluß blieb erfolglos. Landgericht und Oberlandesgericht wiesen darauf hin, der Rechtspfleger habe wegen seiner richterlichen Unabhängigkeit nicht einschreiten und die Frau auf die ihr drohenden Folgen hinweisen dürfen. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügte die Frau eine Verletzung der Art. 14 Abs. 1 und 103 Abs. 1 GG. Der hessische und der Bundesjustizminister nahmen zu ihren Gunsten Stellung und hielten neben den genannten Grundrechten auch das Recht der Beschwerdeführerin auf ein faires Verfahren für verletzt. Das BVerfG setzte in einer Eilentscheidung vom 4.11.1975 (BVerfGE 40, 294) alle Rechtswirkungen aus dem Zuschlagsbeschluß des Amtsgerichts aus. In der Hauptsache gab es dann der Verfassungsbeschwerde statt und konstatierte eine Verletzung des Gleichheitssatzes. Zur Begründung führte es zunächst die Kriterien seiner Gleichheitsprüfung an. Darunter waren auch einige, die es bisher nur bei der Kontrolle des Gesetzgebers verwendet hatte: „Die Gesetzlichkeiten, die in der Sache selbst liegen ... die fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft ... (die) in den Grundrechten konkretisierten Wertentscheidungen und fundamentalen Ordnungsprinzipien der Grundgesetzes ... All das gilt nicht nur bei der Anwendung und Auslegung materiellen Rechts; es gilt auch für die Handhabung des Verfahrensrechts. Das Verfahrensrecht dient der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Blickpunkt 19

Das gilt neben den Senatsentscheidungen, die explizit das Verbot richterlicher Willkür prüften (z.B. BVerfGE 18, 85 (96 f.); 18, 224 (240); 59, 63 (93 f.)), insbesondere für zahlreiche Beschlüsse der Vorprüfungsausschüsse, s. Geiger, abw.M. BVerfGE 42, 64 (79, 82); Seuffert, NJW 1969, 1371.

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richtiger, aber darüber hinaus auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechter Entscheidungen." Aber nur an einer einzigen Gleichheitsaspekte im engeren bindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nach Auflösung einer Ehe. Im aus BVerfGE 4, 1 (6 f.):

Stelle der Entscheidung sprach das BVerfG Sinn an. Es führte aus, Art. 3 Abs. 1 in Verfordere eine gleichmäßige Vermögensteilung übrigen wiederholte es die abstrakte Formel

„Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Verletzung des Willkürverbots setzt nicht bei jedem Fehler in der Auslegung und Anwendung des einfachen materiellen und formellen Rechts durch die Fachgerichte ein. Hinzukommen muß vielmehr, daß die fehlerhafte Anwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruht (BVerfGE 4,1 (7), ständige Rechtsprechung)." Das aber sei hier der Fall. Der Zuschlagsbeschluß und die anschließenden Entscheidungen der Gerichte hätten den Einfluß von Art. 14 Abs. 1 und 6 Abs. 1 GG auf die Rechtsanwendung nicht im gebotenen Umfang berücksichtigt. Sie verletzten daher das Willkürverbot. Dieses wurde hier erstmals bei der Urteilskontrolle in einem objektiven Sinn verstanden: „Dabei enthält die verfassungsrechtliche Feststellung von Willkür auch in diesem Zusammenhang keinen subjektiven Schuldvorwurf, sondern will in einem objektiven Sinne verstanden sein; nicht subjektive Willkür führt zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, sondern objektive, das heißt die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, derer sie Herr werden soll." In diesem Sinne unangemessen sei insbesondere die „Auffassung, trotz des Unterbleibens der Aufklärung der Beschwerdeführerin über die Tragweite des sofortigen Zuschlags habe die Versteigerung nicht an einem erheblichen Verfahrensmangel gelitten, welcher dem Zuschlag entgegengestanden habe ... Für sie lassen sich keine Gründe finden, die vor den das Grundgesetz beherrschende Gedanken bestehen könnten." Dieser Mangel stehe gem. §§83 Nr. 6, 100 Abs. 3 ZVG der Erteilung des Zuschlagsbeschlusses entgegen. Er habe daher nicht ergehen dürfen. Schließlich subsumierte das BVerfG diese Verletzung des einfachen Rechts unter seinen Willkürbegriff: „Diese fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts ist bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich. Die angegriffenen Entscheidungen haben nicht ausreichend berücksichtigt, daß der Rechtspfleger es unterlassen hat, vor Erteilung des Zuschlags die Bedeutung des Eigentums im sozialen Rechtsstaat und die Ausstrahlung des Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidender Grundsatznorm in angemessenem Umfang in seine Überlegungen einzubeziehen. Sie beruhen deshalb auf in diesem Sinne sachfremden Erwägungen."

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Die Reaktionen auf die Zwangsversteigerungs-Entscheidung waren gemischt. Schon das Ausgangsverfahren hatte Schlagzeilen gemacht. Einschlägige Presseartikel 20 könnten eine Neigung im Gericht, zugunsten des praktischen Ergebnisses über dogmatische Probleme hinwegzusehen, verstärkt haben. In der juristischen Literatur wurden Zweifel an den Ausführungen des BVerfG zum Zwangsversteigerungsrecht geäußert 21 und darauf hingewiesen, daß die Beschwerdeführerin unter Umständen auch Regreß bei ihrem Anwalt hätte nehmen können 22 . Im Ergebnis stimmte man der Entscheidung aber überwiegend zu 2 3 .

III. Willkür-Rechtsprechung bis 1986 Die Zwangsversteigerungs-Entscheidung war auch mit der Bemerkung kommentiert worden, dabei habe es sich wohl um einen Sonderfall gehandelt, dessen Begründung kaum wiederholt werden würde 24 . In der Tat griff das BVerfG das Verbot richterlicher Willkür erst vier Jahre später wieder auf. In BVerfGE 54, 117 war die Erwiderung des Beschwerdeführers auf ein neues Vorbringen des Klägers in einem Zivilprozeß mit der Begründung präkludiert worden, er hätte sie schon in der Klageerwiderung vortragen müssen. Der Beklagte sah hierin eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Der Zweite Senat des BVerfG ließ offen, ob Art. 103 Abs. 1 GG verletzt worden sei, denn das Urteil habe schon im Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG keinen Bestand: „(Art. 3 Abs. 1 GG) gewährleistet im Zivilverfahren die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter ... und gebietet Gleichheit der Rechtsanwendung durch den Richter im Interesse materialer Gerechtigkeit. Die 20 „Haus für ein Siebzigstes seines Werts versteigert" (FR v. 2.6.1976); „Ein Haus für zweitausend Mark" (FAZ v. 5.6.1976); „Wie ein Mann die Geschiedene hereinlegte - mit Hilfe der Justiz", Quick Heft Nr. 29/76). S. Stöber, RPfl 1976, 392. 21 Stöber meinte, der Erlös habe in Wahrheit 36.000 DM betragen, weil der Restbetrag einer Grundschuld auf dem Grundstück (Nennwert 34.000 DM, aber offenbar in Höhe von 14.000 DM abgelöst) zu den DM 2.000 hinzugerechnet werden müsse (RPfl 1976, 392). E. Schneider, MDR 1977, 355 bezeichnete dies allerdings als „Milchmädchenrechnung", weil die Beschwerdeführerin Sozialhilfe bezog und ohnehin keine Ablöse hätte zahlen müssen. Auch Stöber verrechnet sich (er meint, 2000 DM seien 15,3% vom Grundstückswert in Höhe von DM 124.000, es sind nur

1,61%). 22

Schiedermair, VVDStRL 47 (1989), 87; kritisch auch Däubler, ZZP 1976, 192 (194), der eine eingehende einfach-rechtliche Argumentation vermißt. 23 Weitzel, JuS 1976, 722; Vollkommer, RPfl 1976, 393 ff.; E. Schneider MDR 1977, 355; Zöller u.a. stellen ein Zitat aus BVerfGE 42, 64 (73) als Vörspruch an den Anfang ihres ZPO-Kommentars. 24 Gusy, JuS 1982, 35. 4 v. Lindeiner

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

das Urteil des Amtsgerichts tragende Auffassung, das Vorbringen des Beschwerdeführers habe gemäß § 296 Abs. 1 ZPO zurückgewiesen werden müssen, ist willkürlich. Es lassen sich hierfür keine Gründe finden, die vor den das Grundgesetz beherrschenden, auch für den Zivilprozeß geltenden Wertvorstellungen und Gedanken bestehen könnten.. Die Anwendung der Präklusions Vorschrift verstößt gegen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG und verletzt zugleich die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des fairen Verfahrens." In dieser Entscheidung belegt das Bemühen, die Entscheidung auf spezifische Aspekte der Verfahrensgleichheit und zudem auf andere Grundrechte zu stützen, noch eine gewisse Vorsicht im Umgang mit dem Willkürverbot. Sie wich bald der Routine. Das BVerfG sah die Voraussetzungen richterlicher Willkür nun immer häufiger als erfüllt an. Meist verzichtete das Gericht nunmehr auf eine ausführliche Herleitung und verwies nur noch auf seine Leitentscheidungen BVerfGE 4, 1 und 42, 64. In BVerfGE 57, 39 hatte der Besteller im Streit um eine mangelhafte Werkleistung vorgebracht, nachdem er eine andere Firma beauftragt habe, hätten „die neuen Meßergebnisse gute Werte ergeben". Das Ausgangsgericht schloß daraus, schon die ursprüngliche Leistung sei mangelfrei gewesen. Für das BVerfG war „die Würdigung des von dem Beschwerdeführer vorgelegten Schreiben sachlich schlechthin unhaltbar ... offensichtlich sachwidrig und damit objektiv willkürlich. Ohne daß es auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts ankäme, stellt eine derartige willkürlich Würdigung ... einen Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitende Verbot dar, offensichtlich unsachliche Erwägungen zur Grundlage einer staatlichen Entscheidung zu machen." In BVerfGE 58, 163 hatte das Amtsgericht von der Beklagten einen Auslagenvorschuß eingefordert. Als dieser nicht einging, wies es die Klage ab. Das war „sachlich schlechthin unhaltbar und mithin objektiv willkürlich. Ohne daß es auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts ankäme, stellt eine derartige willkürliche Entscheidung einen Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitende Verbot dar, offensichtlich unsachliche Erwägungen zur Grundlage einer staatlichen Entscheidung zu machen." In BVerfGE 59, 98 hatte der Staatsanwalt auf eine Revision des Beschwerdeführers hin die teilweise Aufhebung eines Strafurteils befürwortet. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision in vollem Umfang „auf Antrag der Staatsanwaltschaft". Diese erhob Gegenvorstellung; das OLG bezeichnete die Verwerfung zwar als Versehen, sah sich aber an einer Abänderung gehindert. Das BVerfG hob den Beschluß auf: „Die Verwerfung der Revision zur Straffrage ohne vorherige Hauptverhandlung, die - wie das Oberlandesgericht in seinem Beschluß ... dargelegt hat - auf ein Versehen zurückzuführen ist, entbehrt der sachlichen Rechtfertigung. Sie ist in

B. Entscheidungen zum Verbot richterlicher Willkür

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Rücksicht auf die das Grundgesetz beherrschenden Gedanken schlechthin unvertretbar und mithin objektiv willkürlich (Art. 3 Abs. 1 GG)." In BVerfGE 62, 189 (1982) hob erstmals der Erste Senat des BVerfG eine Gerichtsentscheidung als willkürlich auf. Dies betraf einen Kostenfestsetzungsbeschluß, nach dem (bei einer Teilung von 1/3 zu 2/3) der Erstattungsanspruch einer Partei höher war als die ihr entstandenen Kosten. Beide Seiten hatten die Berichtigung beantragt; Rechtspfleger und Amtsgericht halfen nicht ab. Das BVerfG nannte die Berechnung und die Zurückweisung der Beschwerden „offensichtlich fehlerhaft ... nicht mehr verständlich ... eindeutig unangemessen." In BVerfGE 62, 324 hatte ein Amtsgericht in einem Strafverfahren dem Verteidiger die Einsicht in die Zentralregisterauszüge des Angeklagten versagt, weil § 42 BZRG (der die Einsichtnahme durch Behörden regelt) dem Einsichtsrecht des Verteidigers vorgehe. Diese „Gesetzesauslegung ist schlechterdings unhaltbar, mithin objektiv willkürlich. (Die Entscheidungen) können daher vor der Verfassung keinen Bestand haben ... Rechtsprechung und Schrifttum haben sich einmütig zu der Auffassung bekannt, daß sich das Einsichtsrecht des Verteidigers auch auf den Strafregisterauszug erstrecke ... Für seine Auslegung kann (das Gericht) sich auf keine nachvollziehbare sachliche Begründung stützen; sie tritt deshalb über den Rahmen dessen hinaus, was verfassungsrechtlich hingenommen werden kann." In BVerfGE 66, 198 war der Antrag eines Strafgefangenen auf Freistellung von der Arbeitspflicht abgelehnt worden, weil er wegen eines Arrests drei Tage der Arbeit ferngeblieben war. Er habe nicht „ein Jahr" i.S.v. § 42 StVöllzG gearbeitet, denn dies bedeute „ein Jahr hintereinander an allen Werktagen". „Eine solche Auslegung des § 42 StVöllzG ist angesichts des eindeutigen Regelungszwecks dieser Vorschrift schlechthin unhaltbar, mithin objektiv willkürlich ... und nicht mehr verständlich." In BVerfGE 66, 324 hatten unterschiedliche Berechnungsweisen für einen Versorgungsausgleich dazu geführt, daß der Ehefrau, bei einer Differenz der Versorgungsbezüge von D M 50,56 monatlich, ein Ausgleichsanspruch i.H.v. D M 464,62 im Monat zustehen sollte. Eine Korrektur wegen Unbilligkeit (§ 1587 c BGB) lehnte das Gericht ab, weil diese erst dann in Frage komme, wenn einem Ehegatten nicht mehr als der Eigenbedarf verbleibe. Dies stand „eindeutig im Gegensatz zu den tragenden Prinzipien des Versorgungsausgleichs ... Dieses Ergebnis ist nicht mehr verständlich, wenn es formal auch nachvollziehbar ist. Soweit das Oberlandesgericht davon ausgegangen ist, § 1587c Nr. 1 BGB könne erst dann angewandt werden, wenn dem Ehemann nicht mehr als der notwendige Eigenbedarf verbliebe und die Ehefrau bereits eine ausreichende Ver4*

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

sorgung hätte, wird diese Begründung der Härteklausel als eines Regulativs zur Vermeidung von grundrechtswidrigen Entscheidungen offensichtlich nicht gerecht." In BVerfGE 69, 248 wies ein Landesarbeitsgericht die Berufung des Beschwerdeführers zurück, ohne eine Zeugin zu hören, weil deren Anschrift nicht rechtzeitig vor einem Termin vorlag. Der Termin war aber inzwischen aufgehoben worden. Das BVerfG meinte: „Sachlich zureichende Gründe für die Nichtvernehmung der Zeugin ... lassen sich somit nicht finden. Die Verfahrensweise des Landesarbeitsgerichts stellt sich vielmehr als objektiv willkürlich zum Nachteil des Beschwerdeführers und zugleich als Verletzung der dem Gericht von Verfassungs wegen obliegenden Pflicht zur Gleichbehandlung aller an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten dar. Die Entscheidung des Landesarbeitsgericht ist daher unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG." In BVerfGE 70, 93 hatte das Amtsgericht den Beschwerdeführer entgegen dem klaren Gesetzeswortlaut dazu verurteilt, eine an seiner Grundstücksgrenze befindliche Zypressenhecke zurückzuversetzen. Das Landgericht wies die Berufung mit einer in sich widersprüchlichen Begründung zurück. Das BVerfG hielt die Entscheidungen für „nicht mehr verständlich., mithin objektiv willkürlich ... in offenkundigem Widerspruch zu seiner eigenen Feststellung ... offensichtlich fehlerhaft ... schlechterdings unverständlich und im Ergebnis eindeutig sachwidrig." BVerfGE 71, 122 hob einen Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs auf, der einem Asylbewerber ohne Begründung die Prozeßkostenhilfe versagte, obwohl er in erster Instanz im wesentlichen obsiegt hatte. Das BVerfG meinte zwar, es gebe keine allgemeine verfassungsrechtliche Pflicht zur Begründung gerichtlicher Entscheidungen. Es verlangte aber „mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gebundenheit des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) eine Begründung auch der letztinstanzlichen Entscheidung jedenfalls dann und insoweit, als von dem eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen werden soll und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den den Beteiligten Bekannten oder für sie ohne weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergibt. Vorliegend fehlte es an einem derartigen Grund für das Abweichen. Angesichts dieser Lage der Dinge ist die nicht mit einer aussagefähigen Begründung versehene Entscheidung ... bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht nachvollziehbar und damit objektiv willkürlich." In BVerfGE 71, 202 legte der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers „namens des Klägers" Berufung ein; das Landgericht wies „die Berufung des Klägers" ab, weil der Schriftsatz nicht erkennen lasse, für und gegen welche Partei das Rechtsmittel eingelegt worden sei. Zum Tenor der Entscheidung stand

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Verbot richterlicher Willkür

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„seine Folgerung, es lasse sich nicht erkennen, für und gegen wen das Rechtsmittel eingelegt sei, ... in unauflösbarem Widerspruch. Diese Beurteilung ist offensichtlich sachwidrig und damit objektiv willkürlich."

IV. Willkür-Rechtsprechung seit 1986 Mit der Neufassung der §§ 93a-c BVerfGG 1986 erhielten auch die Kammern des BVerfG die Befugnis, Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsurteile stattgeben. Die Kammern machten hiervon - nach anfänglicher Zurückhaltung - regen Gebrauch. Bei der erneuten Änderung des BVerfGG 1993 sprach der Gesetzgeber dann offen davon, die Willkür-Fälle sollten nunmehr von den Senaten auf die Kammern verlagert werden 25 . Das BVerfG hielt sich daran: seit 1986 ergingen nur noch vier Senatsentscheidungen, aber über achtzig stattgebende Kammerbeschlüsse zum Verbot richterlicher Willkür. 1. Senatsentscheidungen In BVerfGE 80, 48 äußerte ein Landgericht die Auffassung, der Vermieter einer Wohnung dürfe den Mietvertrag erst dann kündigen, wenn auf ein rechtskräftiges Urteil wegen Mietzahlungsverzugs erneut nicht gezahlt werde. Dies „findet im Gesetzeswortlaut keine Stütze ... Die Praxis des Landgerichts ist ... nicht mehr verständlich ... sachwidrig und damit willkürlich ... widerspricht nicht nur eindeutig dem Gesetzes Wortlaut. Sie führt darüber hinaus auch zu einer ... unangemessenen Lösung des Konflikts zwischen den Mietparteien. Der darin liegende Widerspruch zum klaren Regelungssystem des Gesetzes entbehrt jeder Grundlage." In BVerfGE 83, 82 hatten Mieter gegen eine Eigenbedarfskündigung eingewandt, eine andere, freie Wohnung im Haus sei nicht berücksichtigt worden. Das Landgericht ließ dies nicht gelten, da die Wohnung mittlerweile anderweitig vermietet sei. Das BVerfG vermißte eine Entscheidungsfindung, „welche auch den Belangen des Mieters Rechnung trägt ... Eine Rechtsfindung, welche diesen Gesichtspunkt nur in einer Weise beachtet, welche die Mieterbelange nicht ernst nimmt, ist der Situation, der (sie) sie Herr werden soll, nicht mehr angemessen und daher willkürlich." 25

Als Fälle „unverständlichen richterlichen Verhaltens", BT-Drucks. 12/3628, 14. Außerdem sollte die Rechtsprechung zu Art. 103 Abs. 1 GG den Kammern übertragen werden, nachdem die Einführung einer zivilprozessualen Anhörungsrüge gescheitert war, BT-Drucks. 10/2951; 10/4105; BR-Drucks. 603/92, S. 31. S. dazu Zuck, NJW 1990, 2450; Mahrenholz, 1366; MSBKU-Schmidt-Bleibtreu/Winter, § 93 a Rdnr. 7.

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

BVerfGE 86, 59 hob ein landgerichtliches Urteil auf, das die Zusammenlegung zweier Wohnungen zu Wohnzwecken als Zweckentfremdung angesehen hatte: „Die Auslegung des Landgerichts verfehlt das gesetzgeberische Anliegen grundlegend ... Ihm ist es verwehrt, dem Gesetz einen Sinn zu unterlegen, den der Gesetzgeber offensichtlich nicht hat verwirklichen wollen, den er nicht ausgedrückt hat und den das Gesetz auch nicht im Verlaufe einer Rechtsentwicklung aufgrund gewandelter Anschauungen erhalten hat." In BVerfGE 86, 288 (338) hatte eine Strafvollstreckungskammer einen Doppelmord als „kaltblütige Hinrichtung zweier völlig schuldloser junger Menschen" bezeichnet 26 . Die darin zum Ausdruck kommende „suggestive Akzentuierung" hielt das BVerfG in einem obiter dictum ebenfalls für willkürlich. 2. Kammerentscheidungen Wie es der 1993 geäußerten Absicht des Gesetzgebers entsprach, haben die Kammern des BVerfG in zahlreichen Beschlüssen willkürliche Entscheidungen der Fachgerichte aufgehoben. Neue Akzente gegenüber der Senatsrechtsprechung setzten sie dabei allerdings nicht. Auf eine Darstellung der einzelnen Entscheidungen kann daher verzichtet werden.

3. Neueste Entwicklung

der Willkür-Rechtsprechung

Seit Mitte der neunziger Jahre ist die Zahl der Willkür-Beschlüsse des BVerfG stark zurückgegangen 27. Das hängt mit personellen Veränderungen im Gericht zusammen, kann aber auch eine Folge der heftigen Kritik am BVerfG in den Jahren 1996 und 1997 sein. Eine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung liegt darin nicht. Neben den weiterhin ergehenden Entscheidungen belegen dies vor allem Äußerungen aktiver Richter, die sich ausdrücklich zur Willkür-Rechtsprechung bekennen 28 . Die Zurückhaltung des Gerichts zeigt aber, daß es die Willkürkriterien in den letzten Jahren deutlich strenger handhabt als zuvor.

26 Das hierzu ergangene Sondervotum von Mahrenholz (340 ff.) äußert sich nicht zum Willkürverbot. 27 S. die Aufstellung im Anhang, Ziffer 6. Allerdings werden nicht alle Willkürbeschlüsse veröffentlicht, so daß die dortige Zusammenstellung unter Umständen nicht vollständig ist. 28 Seidl, 61. DJT, O 19 ff.; ferner haben die Verfassungsrichter Haas, Henschel, Kirchhof und Winter in den Jahren 1992-1998 Aufsätze zum Willkürverbot veröffentlicht.

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Verbot richterlicher Willkür

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V. Ablehnende Entscheidungen Mehrere zehntausend Entscheidungen des BVerfG verneinen eine Verletzung des Verbots richterlicher Willkür. Meist bedienen sie sich dazu nur der üblichen Standardformeln und erlauben deshalb keine weiteren Rückschlüsse auf Inhalt und Praxis dieses Verbots. Gelegentlich werden aber auch in solchen Entscheidungen allgemeine Aspekte der Willkür-Rechtsprechung deutlich. 7. Klarstellung BVerfGE 89, 1 präzisierte den Willkürbegriff. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen eine Entscheidung, mit der einer Räumungsklage wegen Eigenbedarfs nach ausführlicher Würdigung der widerstreitenden Interessen stattgegeben worden war. Das BVerfG wies die Beschwerde zurück: Willkür liege erst vor, wenn die Rechtslage „in krasser Weise verkannt" worden sei. Zugleich ging es näher auf seine eigene Formulierung „tatsächlich und eindeutig unangemessen" ein, die leicht im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung verstanden werden konnte: „Soweit es in früheren Entscheidungen hieß, willkürlich sei eine Maßnahme, die im Verhältnis zu der Situation, der (sie) sie Herr werden soll, tatsächlich und eindeutig unangemessen sei, ist mit dieser Wendung keine weitergehende Prüfung, etwa im Sinne einer Art Angemessenheitsprüfung, gemeint und gewollt. Sicher müssen die Fachgerichte den Belangen der Beteiligten Rechnung tragen und sie in einer Weise ernst nehmen, die der rechtlichen und tatsächlichen Situation angemessen ist. Die Grenze zur Willkür ist aber erst überschritten, wenn die Auslegung und die Anwendung einfachen Rechts unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr verständlich ist, es sich also um eine krasse Fehlentscheidung handelt". Hier wurde also kein neuer Maßstab eingeführt, sondern nur eine Unschärfe in den Willkürformeln beseitigt.

2. Abschreckung Ablehnende Entscheidungen zeigen bisweilen recht deutlich, wie zweifelhaft die Unterscheidung zwischen falschen und willkürlichen Gerichtsurteilen sein kann. Dies gilt gerade dann, wenn das BVerfG seine Entscheidung ausführlich begründet. In BVerfGE 67, 90 hatte ein OLG eine Konkursanfechtung nicht durchgreifen lassen, weil der Begünstigte vom Eröffnungsantrag nichts gewußt habe. Das L G hatte allerdings die in § 30 KO gesetzlich vermutete Begünstigungsabsicht des Gemeinschuldners ausdrücklich bejaht. Dies hätte bereits die Anfechtbarkeit begründet. Hierauf war das OLG mit keinem Wort

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

eingegangen. Das sei aber, so das BVerfG, allenfalls ein Versehen gewesen, das jedenfalls nicht auf Willkür beruhe. In BVerfGE 87, 273 verweigerte eine Kammer eines L A G in ständiger Rechtsprechung entgegen dem Gesetzeswortlaut Prozeßvertretern die Erörterungsgebühr. Sie begründete dies mit Motiven des Gesetzgebers. Obwohl das BVerfG dahinter eher eigene rechtspolitische Überzeugungen der Kammer vermutete, unterstellte es, das L A G habe sich um eine zutreffende Auslegung der BRAGO bemüht, und verneinte deshalb Willkür. Es ist nicht ersichtlich, warum das BVerfG aus der Masse der Willkür verneinenden Beschlüsse gerade diese beiden in der Amtlichen Sammlung veröffentlichte. Zudem hatte der Beschwerdeführer in BVerfGE 67, 90 gar keine Willkür gerügt. Schließlich kommt der Leitsatz dieser Entscheidung, wonach „auch eine zweifelsfrei fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts ... allein noch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz" begründet, in den Gründen selbst nicht vor. A l l dies deutet darauf hin, daß diese Entscheidungen vorrangig der Abschreckung potentieller Beschwerdeführer dienten. 3. Heilung Auch BVerfGE 81, 132 verneinte Willkür des Ausgangsgerichts. Die Beschwerdeführer waren zur Zahlung eines Bußgeldes nach dem Fahrpersonalgesetz verurteilt worden. Allerdings hatte nach der Tat zeitweilig eine Ahndungslücke bestanden, so daß das Verhalten der Beschwerdeführer vorübergehend nicht ordnungswidrig gewesen war. Bei Anwendung des mildesten Gesetzes (§ 4 Abs. 3 OWiG) hätte dies zum Freispruch führen müssen. AG und OLG hatten dies zwar erkannt, die Beschwerdeführer aber ohne Begründung gleichwohl verurteilt 29 . Diese Abweichung von der „einhelligen Auffassung in der veröffentlichten Rechtsprechung und Literatur" hielt das BVerfG aber nicht für willkürlich, denn es sei „möglich, daß für die Aufrechterhaltung des Urteils durch das OLG die Erwägung bestimmend war, § 4 Abs. 3 OWiG betreffe nicht den Fall einer Ahndungslücke, die wie hier nur durch ein Versäumnis des Gesetzgebers entstanden ist. Das mag eine fehlerhafte Anwendung des Gesetzes sein; sie wäre aber nachvollziehbar. Es drängt sich daher nicht der Schluß auf, daß die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht." Wie das BVerfG zu dieser Vermutung gelangt, ist aus den Urteilsgründen nicht ersichtlich. Daher muß wohl festgehalten werden, daß auch eine nicht 29

Art. 103 Abs. 2 GG griff hier nicht durch, weil die Tat zum Tatzeitpunkt bußgeldbewehrt gewesen war.

C. Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür

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begründete Abweichung von einer einhelligen Auffassung noch nicht willkürlich sein muß, wenn sie letztlich nachvollziehbar ist. 4. Zweifelsfälle

und Willkür

der Verwaltung

Einige Entscheidungen sind nicht eindeutig der Kategorie „richterlicher Willkür" zuzuordnen. BVerfGE 50, 115 und 55, 205 gaben Beschwerden gegen Entscheidungen des BGH statt, die mangels einer entsprechenden Begründung nicht erkennen ließen, ob der BGH die Revisionen der Beschwerdeführer aus gleichheitswidrigen Gründen nicht angenommen hatte 30 . In BVerfGE 66, 331 war ein Rechtsstreit zu Unrecht als normale Zivilsache und nicht als Familiensache beurteilt worden, weswegen die Revision nicht zugelassen worden war. Die sehr subtile Vergleichserwägung des BVerfG lief darauf hinaus, daß die Beschwerdeführer willkürlich anders behandelt worden seien als andere Kläger, deren Verfahren richtig beurteilt worden waren. BVerfGE 69, 161 schließlich beanstandete als bislang einzige Entscheidung Willkür der Verwaltung. Der hessische Justizminister hatte den Urlaubsantrag eines wegen nationalsozialistischer Verbrechen inhaftierten Strafgefangenen jahrelang verschleppt. „Den vom Willkürverbot gezogenen äußersten Grenzen für die Gestaltung und Förderung des Verwaltungsverfahrens genügte das Vorgehen der Völlzugsbehörde ... nicht mehr ... Insgesamt war die verzögerliche Verfahrensweise der Vollzugsbehörde durch keinen vernünftigen, sich aus der Sache ergebenden oder sonstwie einleuchtenden Grund gerechtfertigt."

C. Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür in der Rechtsprechung Trotz erheblicher Schwankungen im einzelnen lassen sich der Rechtsprechung bestimmte Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür entnehmen. 30

Der BGH ließ unter anderem seine Arbeitsbelastung darüber entscheiden, ob er Revisionen gem. § 554 b ZPO zur Entscheidung annahm. Der Zweite Senat des BVerfG hatte entsprechende Beschlüsse teils aufgehoben (BVerfGE 49, 148; 50, 115), teils bestehen lassen (BVerfGE 50, 287). Der Erste Senat meinte hingegen, daß Revisionen ohne grundsätzliche Bedeutung abgelehnt werden dürften, wenn sie keine Aussicht auf Erfolg hätten. Der Plenumsbeschluß BVerfGE 54, 277 sah in dieser Auffassung dann einen Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzip und Gleichheitssatz. - Sogar der Rechtsausschuß des Bundestags war der Ansicht gewesen, die Belastung des Revisionsgerichts sei ein zulässiges Annahmekriterium, Lässig, NJW 1976, 270 f.

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

I. Willkürformeln und Willkürkriterien In den meisten Willkür-Entscheidungen verwendet das BVerfG einheitliche Umschreibungen der Willkür. Nach der Erörterung seiner Prüfungsbefugnis bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile nennt es mit den „Willkürformeln" abstrakte Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür; dann subsumiert es die konkrete Rechtsanwendung unter die „Willkürkriterien" 3 1 . Formeln und Kriterien sind zwar nur bedingt aussagekräftig, weil die tatsächliche Entscheidungspraxis des BVerfG durchaus davon abweichen kann. Sie lassen dennoch einige Rückschlüsse auf die Maßstäbe des Willkürverbots zu. Das BVerfG umschreibt den Begriff der Willkür mit verschiedenen Formulierungen. Es versteht Willkür „ i m objektiven Sinn". Sie lasse sich daher feststellen, „ohne daß es auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts ankommt". Gemeint ist die „tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer staatlichen Maßnahme im Verhältnis zu der Situation, derer sie Herr werden soll". Solche Willkür liegt „nicht schon bei jedem Fehler in der Rechtsanwendung" vor, sondern erst dann, wenn letztere „bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich" ist, so daß sich „der Schluß auf sachfremde Erwägungen aufdrängt". 1. „Objektive

Willkür"

Der Ausdruck „objektive Willkür" wirkt sprachlich mißglückt. Er widerspricht dem üblichen Verständnis von Willkür als einem Handeln nach eigenem Belieben 32 . Zwar gibt es keinen einheitlich Rechtsbegriff der Willkür; das geltende Recht verwendet den Begriff selten und in unterschiedlicher Weise 33 . Dennoch führt die objektive Definition zu Verwirrung und 31

Bis auf einige sehr kurze Entscheidungen, in denen das BVerfG unmittelbar nach Schilderung des Sachverhalts darlegt, warum es das konkrete Urteil für willkürlich hält (BVerfGE 57, 39; 58, 163; 59, 98; 62, 338; 71, 202), findet sich stets ein solcher einleitender Teil, insbesondere auch in allen Kammerbeschlüssen. 32 Willkür bedeutet ursprünglich die Wahl (Kür) nach Wollen, also schlicht eine freie Entscheidung, HRG V, Sp. 1438 ff. In diesem Sinne definiert Kant das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann", Metaphysik der Sitten, B 230. Für die Aufklärung bezeichnet sie ein prinzipienloses, unberechenbares Handeln, das im Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit des Vernünftigen steht. In der Rechtssprache meint sie nun auch das Ungerechte schlechthin, das Hinwegsetzen über das geltende Recht, so bei v. Jhering, Zweck, 351 f. Ab diesem Zeitpunkt wird der Ausdruck „Willkür" auch als Bezeichnung für Gleichheitsverstöße verwendet. 33 Z.B. §§ 918, 2075 BGB, 639 HGB; 92 Nr. 6 StGB (vgl. BGHSt 13, 32); bei der „gewillkürten" Prozeßstandschaft in Abgrenzung zur gesetzlichen. Nach Pa-

C. Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür

59

Unmut in der Literatur 34 . Hinzu kommt, daß das BVerfG bei der Willkürprüfung anders vorgeht als Leibholz, von dem es den objektiven Willkürbegriff übernahm. Leibholz interpretierte Art. 109 Abs. 1 WRV in seiner Dissertation zwar durchaus als Verbot objektiver Willkür. Er meinte damit aber, daß es bei einer Willkürprüfung nicht auf die tatsächliche, sondern auf die objektiv denkbare Begründung für einen Rechtsakt ankommen müsse. Das BVerfG geht anders vor. Ob eine gerichtliche Entscheidung gerechtfertigt ist, untersucht es nur anhand der veröffentlichten Urteilsgründe; sonstige, objektiv denkbare Argumente oder Rechtsgrundlagen prüft es nicht nach. Damit stellt es zwar nicht direkt auf die tatsächliche Motivation des Rechtsanwenders ab, die ja eine andere sein kann als die in den Urteilsgründen angegebene. Es beschränkt seine Nachprüfung aber auf die Gründe, die der Richter zur Veröffentlichung und damit zur Rechtfertigung seiner Entscheidung ausgewählt hat. Die Feststellung „objektiver" Willkür ist daher sprachlich wenig überzeugend. Dies gilt erst recht, wenn das BVerfG zugleich ausdrücklich feststellt, die Argumente des Richters seien „sachfremde Erwägungen" 35 . Die Auffassung des BVerfG kann, wenn die Formel überhaupt einen Sinn haben soll, wohl nur so verstanden werden, daß ein Vorsatz des Rechtsanwenders, eine absichtlich falsche und mißbräuchliche Rechtsanwendung, nicht vorliegen muß. Immerhin umgeht das BVerfG so die Schwierigkeit, eine vorsätzlich willkürliche Rechtsanwendung nachweisen zu müssen. Zugleich mildert es den Vorwurf an den Richter ab. Es betont, die Feststellung richterlicher Willkür enthalte keinen subjektiven Schuldvorwurf 36 . Schließlich hält es sich die landt, BGB, § 918, Rdnr. 1, liegt Willkür vor „bei Aufhebg der Verbindg ohne verständ Berücksichtigg der ordngsmäß GrdstBenutzg; Versch nicht maßgebl". 34 „Juristisches Unwort des Jahres", Günther, DRiZ 1996, 157; „in sich widersprüchlich", Benda/Klein Rdnr. 603. Gelegentlich wird auch auf „subjektive" Willkür geprüft: „bewußt" falsche Rechtsanwendung (BVerfGE 87, 282), ob das Willkürverbot „mißachtet" (BVerfGE 62, 338) oder „grundlegend verkannt" wurde (BVerfG NJW 1992, 359); ebenso OLG Celle NdsRpfl 1972, 92 („bewußte Manipulation"). Nach Henschel, FS Kleinert 29, enthält das Willkürurteil „immer eine subjektive Komponente". 35 BVerfGE 57, 39; 58, 163; 71, 202; NJW 1995, 124 f. (125); NVwZ 1996, 1199 f. Es präzisiert aber gegenüber der Definition der objektiven Willkür von Leibholz (Gleichheit, 93), daß der Schluß sich nur „aufdrängt" (BVerfGE 4, 1 (7); 42, 64 (74); 54, 117 (125); 62, 189 (192); 69, 248 (255); 70, 93 (97)) und nicht „begründet" ist; sonst würde es doch wieder einen subjektiven Vorwurf erheben. 36 Auch dann ist gerade eine „objektive", sozusagen „unstreitige" Willkür ein schwerer Vorwurf, der wohl allenfalls „kaschiert" werden kann (Günther, DRiZ 1996, 157): „Rechtsbeugung bei bewußter, juristische Unfähigkeit bei unbewußter Willkür" (Kirchhof, FS Geiger, 109; Winter, FS Merz, 612). Der Vorwurf einer „willkürlichen Bestrafung" ist übrigens eine strafbare Beleidigung, Schönke-Schrö-

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

Möglichkeit offen, Entscheidungen aufzuheben, die gar nicht oder nur zum Schein begründet sind 37 . Eine Willkürprüfung kann ohnehin nur begrenzt objektiv sein. Gerade hier werden persönliche Einschätzungen und Wertungen der Verfassungsrichter eine große Rolle spielen. In der Objektivierung kommen somit wohl eher das Bemühen des BVerfG um eigene Objektivität und die Hoffnung auf ein allgemein überzeugendes Ergebnis zum Ausdruck. 2. Willkür

als qualifizierte

Rechtswidrigkeit

Neben der Beschränkung auf „objektive" Willkür läßt sich ein weiteres Kriterium der verfassungsgerichtlichen Prüfung ausmachen. Das BVerfG überprüft bei der Willkürkontrolle in aller Regel zunächst, ob das Urteil den Vorschriften des einfachen Rechts entspricht, auf denen es ausweislich seiner Begründung beruhen soll. Es formuliert dementsprechend, Willkür komme „nicht schon bei jedem Fehler bei der Rechtsanwendung" in Betracht. Ein solcher Fehler, genauer gesagt, ein Verstoß gegen einfaches Recht, stellt somit ein Tatbestandsmerkmal der Willkür in der Rechtsprechung des BVerfG dar. Allerdings reicht die bloße Rechtswidrigkeit für Willkür noch nicht aus; es muß stets noch ein qualifizierendes Merkmal hinzukommen, das ein willkürliches Urteil aus der Menge rechtswidriger Gerichtsentscheidungen heraushebt 38. Zugleich stellt sich die Frage, ob eine Entscheidung auch dann willkürlich sein kann, wenn sie nicht rechtswidrig ist. Das betrifft etwa den wohl eher unrealistischen Fall, daß der Richter ausweislich der Begründung zwar mißbräuchlich entscheiden wollte, das Urteil objektiv aber dem Gesetz entspricht 39 . Eigentlich dürfte das BVerfG hier keine Willkür annehmen, was der-Lenckner, § 185 Rdnr. 13; OLG Köln OLGSt 13, 27, wenn er nicht im Rahmen einer sachgerechten Verteidigung erhoben wird (OLG Düsseldorf, NJW 1998, 3214 f.), sowie Ungebühr i.S.v. § 178 GVG (OLG Koblenz, VRS 1961, 356) An den Reaktionen in der Öffentlichkeit ändert die Objektivierung kaum etwas, s. zu BVerfG NJW 1997, 46: „Sehr grüner Tisch", FAZ v. 8.6.1996; „Willkür-Abschiebung verhindert", Neues Deutschland v. 14.8.1996; Wesel, „Nicht zu halten", DIE ZEIT Nr. 34/1996; „kräftige Watschn" (SZ v. 10.8.1999, S. 34 zu 1 BvR 346/99 v. 7.7.1999). 37 So in BVerfGE 76, 93 (97 f.) (zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), wo das LG die Frage seiner Vorlageverpflichtung nicht erörtert hatte, obwohl eine Partei und der vom LG selbst zitierte Kommentar darauf hinwiesen hatten. 38 BVerfGE 96, 189 (203): „Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Rechtsanwendung noch nicht willkürlich". Auch Leibholz (Gleichheit, 76) meinte, der Unterschied zwischen Unrichtigkeit und Willkür sei ein rein quantitativer. 39 Bei Ermessensakten der Verwaltung führt eine subjektiv willkürliche, z.B. mißbräuchliche Motivation stets zur objektiven Rechtswidrigkeit (§ 40 VwGO):

C. Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür

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unwahrscheinlich ist. Stellt man darauf ab, daß subjektiv willkürliche Erwägungen eine Entscheidung stets auch objektiv unvertretbar machen, hebt man die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Willkür auf. Ferner wird der Willkürmaßstab auch in Rechtsgebieten, wo einfachgesetzliche Regelungen fehlen, wo sich die Gesetzwidrigkeit eines Urteils also nicht ohne weiteres feststellen läßt, gelten. Hier kommt es darauf an, ob die Begründung des Gerichts seine Entscheidung ohne die zwischengeschaltete Ebene des einfachen Rechts trägt. Festzuhalten ist aber, daß das BVerfG, soweit gesetzliche Entscheidungsgrundlagen vorhanden sind, Urteil und Begründung zunächst an ihnen mißt. 3. Willkür

als tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit

Das BVerfG umschreibt die objektive Willkür häufig als „tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit"40. Diese Formel ist insofern mißverständlich, als sie auf die „Angemessenheit", also die Verhältnismäßigkeit einer Entscheidung im Hinblick auf die davon betroffenen Rechtsgüter abstellt. Das BVerfG prüft aber, wie es mit BVerfGE 89, 1 klargestellt hat, gerade nicht die rechtliche, sondern die tatsächliche Unangemessenheit. Es kommt also nicht auf eine Abwägung von Rechtsgütern, sondern auf das Verhältnis des rechtlichen Ergebnisses zur tatsächlichen Situation an. Willkürlich sind also Urteile, die nach Auffassung des BVerfG in krasser Weise nicht zum entschiedenen Sachverhalt passen. 4. Willkür

als Entscheidung aufgrund sachfremder

Erwägungen

Willkür bejaht das BVerfG ferner, wenn sich ihm der Schluß aufdrängt, daß ein Urteil auf sachfremden Erwägungen beruht. Diese Formel erläutert es in zwei Varianten. a) „Bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich" Zum einen ist dies der Fall, wenn das Urteil bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist. Welche Gedanken damit gemeint sind, bleibt allerdings offen. Manchmal verweist das BVerfG auf andere Grundrechte, wie auf Art. 6 und 14 GG (in Stelkens/Bonk/Sachs, § 40 Rdnr. 39; Kopp, VwVfG, § 40 Rdnr. 17; Kopp, VwGO, § 114 Rdnr. 15; Redeker/v. Oertzen, VwGO § 114, Rdnr. 31; anders wohl BVerwGE 64, 33 (36 f.): subjektive Motive und Vorstellungen nicht erheblich. 40 BVerfGE 2, 266 (281); 42, 64; 58, 163; 62, 189; 66, 324; 70, 93.

62

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

BVerfGE 42, 64), das Recht auf ein faires Verfahren (in BVerfGE 54, 117) oder auf das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit. Meist erwähnt es in diesem Zusammenhang aber nur das Willkürverbot selbst. Diese Wendung bedeutet also nicht etwa, daß Willkür nur dann vorliegt, wenn das Urteil außer Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot noch andere Verfassungsgrundsätze verletzt. Sie soll wohl nur dabei helfen, den Rechtsanwendungsfehler auf die verfassungsrechtliche Ebene zu heben 41 . Das hat nicht verhindert, daß gerade diese Formulierung in der Literatur besonders kritisiert worden ist. Wenn das BVerfG verfassungsrechtliche Gedanken aufführte, hielt man diese für vorrangig gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG. Tat es dies nicht, vermißte man die verfassungsrechtliche Relevanz des rechtswidrigen Urteils 42 . b) „Unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar" Sachfremde Erwägungen des Gerichts vermutet das BVerfG auch dann, wenn ein Urteil unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar ist 4 3 . Das erinnert an Leibholz' Definition der Willkür, wonach ein Akt willkürlich sei, wenn dafür kein irgendwie vernünftiger Grund geltend gemacht werden könne. Es bedeutet aber, wie erwähnt, nicht, daß das BVerfG wie ein Berufungs- oder Revisionsgericht prüfen würde, ob sich eine Entscheidung auch aus Gründen rechtfertigen läßt, die das Ausgangsgericht selbst nicht erwogen hatte. Bis auf seltene Ausnahmen untersucht es nur, ob die veröffentlichten Gründe das Urteil tragen.

41

Das gleiche gilt für die Formulierung, was Willkür sei, ergebe sich vor allem aus den in den Grundrechten konkretisierten Weitentscheidungen und den fundamentalen Ordnungsprinzipien des Grundgesetzes, die nur in BVerfGE 42, 64 (73) über „die Bedeutung des Eigentums im sozialen Rechtsstaat und die Ausstrahlung des Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidender Grundsatznorm" konkretisiert wird. Ansonsten wird nur das Willkürverbot selbst als verfassungsrechtlicher Gedanke erwähnt: die Formel ist redundant. - Die „verständige Würdigung" weist auf das „rationalistische" Element des Willkürbegriffs hin, sie meint also nicht, daß die Entscheidung sprachlich, sondern daß sie sachlich unverständlich ist (Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 184 Fußn. 1). 42 Krauß, 240; Winter, FS Merz, 624; Schiaich, Rdnr. 290 Fußn. 677 hält die Formel für „ziemlich unsinnig". 43 BVerfGE 80, 48; 83, 82; 86, 59; 96, 189 (203); ein Vorläufer in BVerfGE 62, 338. Ähnlich Seuffert, NJW 1969, 1370: die Entscheidung muß „aus keinem in der Sache möglichen Grund verständlich sein" bzw. „keine verständlichen, sachlich in Betracht zu ziehenden Rechtsgründe erkennen lassen".

C. Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür

5. Weitere

63

Formeln

In zwei Willkür-Entscheidungen hat das BVerfG die materiale Gerechtigkeit und das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit44 angesprochen. Das wirkt sich aber auf die Willkürprüfung nicht aus. Zwar stehen Gerechtigkeitsgedanken sicher mit hinter der Willkür-Rechtsprechung. Aber als Kriterium für Willkür wird diese jedenfalls nicht ausdrücklich verwendet. Auch das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit hat in der Willkür-Rechtsprechung keine eigenständige Bedeutung. Es wird nur vereinzelt erwähnt und bleibt dann ohne Bezug zur eigentlichen Willkürprüfung. 6. Willkür-Kriterien In der fallbezogenen Begründung der Willkürbeschlüsse legt das BVerfG dar, weswegen es das konkrete Urteil für willkürlich hält. Das ist z.B. der Fall, wenn dieses „sachlich schlechthin unhaltbar" 45 , „schlechterdings unhaltbar" 46 , „nicht mehr verständlich" 47 , „unverständlich" 48 , „nicht nachvollziehbar" 49 oder „schlechthin unvertretbar" 50 ist. Diese Willkür-Kriterien lassen sich wohl dahingehend zusammenfassen, daß nur besonders falsche Urteile unter den Begriff der Willkür fallen sollen. Zudem ist eine gewisse Wertungsoffenheit der Prüfungskriterien erkennbar. Den Anspruch auf Objektivität behält das BVerfG aber bei („schlechthin", „schlechterdings"). 7. Ergebnis Insgesamt ist die Aussagekraft der Formeln und der Kriterien, mit denen das BVerfG den Begriff der Willkür umschreibt, gering. Zum Teil werden sie auch durch das tatsächliche Entscheidungsverhalten des BVerfG widerlegt. Zwar ist zu erkennen, daß Willkür nach Auffassung des BVerfG einen besonders schweren Fehler bei der Anwendung des einfachen Rechts voraussetzt. Aber was genau das Willkürliche und was das verfassungsrechtlich Relevante an einem Willkürurteil ausmacht, läßt sich den Formeln und Kriterien nicht entnehmen. Wollte man sie auf einen gemeinsamen Nenner 44 45 46 47 48 49 50

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

54, 117 (125); 69, 248 (254). 57, 39; 58, 163; 59, 98. 62, 338. 62, 189; 66, 324. 69, 248. 71, 122; 82, 83. 59, 98.

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

bringen, so müßte dieser lauten: Willkür ist, was das BVerfG für besonders falsch hält.

II. Fallgruppen richterlicher Willkür Neben den Formeln und Kriterien haben sich in der Rechtsprechung des BVerfG auch einige Fallgruppen richterlicher Willkür herausgebildet. Allerdings handelt es sich dabei nicht um echte Präjudizien, die unmittelbar zur Aufhebung eines darunter fallenden Urteils führen würden. Denn zum einen kommen sowohl die Willkürentscheidungen allgemein als auch diese speziellen Fallkonstellationen eher selten vor. Vor allem aber sind keine zwei Urteile exakt gleich, geschweige denn gleich falsch. Zur Ähnlichkeit mit einem bereits entschiedenen Fall muß also stets noch das Überschreiten der ominösen Willkürgrenze kommen. 1. Aufklärungspflicht

in der Zwangsversteigerung

Ähnlich wie in BVerfGE 42, 64 verlief ein Zwangsversteigerungsverfahren in BVerfG (K) v. 23.7.1992 (NJW 1993, 1699). Beschwerdeführerin war hier die Gläubigerin von erstrangigen Lasten eines Grundstücks, deren Sohn im Termin den Verlauf offenbar nicht übersehen und die Erteilung des Zuschlags zu einem niedrigen Gebot beantragt hatte, ohne selbst mitzubieten. Das BVerfG stellte fest, es gebe zwar keine generelle richterliche Frage- und Aufklärungspflicht und § 139 ZPO gehe über das verfassungsrechtlich gebotene Minimum schon hinaus. Aber wenn der Rechtspfleger einen Beteiligten nicht über die drohende Verschleuderung eines Rechts aufkläre, sei dies sachlich nicht mehr verständlich und somit willkürlich. 2. Fehlende Begründung eines abweichenden Urteils In mehreren Entscheidungen stellte das BVerfG Willkür fachgerichtlicher Urteile fest, die keine Begründung enthielten. Zwar fordert weder das einfache Prozeßrecht noch das GG, daß jede gerichtliche Entscheidung begründet wird 5 1 . Das BVerfG verlangt dies aber dann, wenn vom eindeutigen Wortlaut einer Norm abgewichen wird und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den den Beteiligten bekannten oder für sie ohne weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergibt 52 . Später beanstandete es 51 So die h.M., BVerfGE 40, 276 (286); 50, 287 (289); Sachs-Sachs, Art. 20 Rdnr. 111 m.w.N. 52 BVerfGE 71, 122 (136), unter Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG (Bindung des Richters an Gesetz und Recht); BVerfG (K) NJW 1997, 1683; NJW 1998, 3484.

C. Voraussetzungen des Verbots richterlicher Willkür

65

auch Entscheidungen, in denen das Fachgericht ohne Begründung von einer einhelligen Auffassung der Rechtsprechung abgewichen war 5 3 . Es setzte so mit Hilfe des Willkürverbots eine wohl eher rechtsstaatlich als gleichheitsrechtlich begründete Forderung durch. Zu dieser Fallgruppe gehören außer BVerfGE 71, 122 zwei Kammerentscheidungen. In BVerfG (K) v. 24.2.1993 (NJW 1993, 1909) hatte ein Oberverwaltungsgericht seine vom Wortlaut abweichende Auslegung einer ausländerrechtlichen Norm mit einer eigenen Entscheidung und einem Urteil des BVerwG belegt. In beiden wurde aber gerade die gegenteilige Auffassung vertreten: „Fehlt es demnach für die Rechtsansicht des OVG an jeglicher tragfähigen Begründung, ist nach den dargelegten Grundsätzen von einer objektiv willkürlichen Rechtsanwendung auszugehen." In BVerfG (K) v. 19.7.1995 (NJW 1995, 2911 f.) war ein Amtsgericht bewußt von der neueren Rechtsprechung des BGH abgewichen. Es zitierte zur Unterstützung eine ältere Kommentarstelle. Dort wurde aber eine dritte Meinung vertrat, die über die Auffassung des BGH noch hinausging. „Weitere Nachweise" im Kommentar, auf die das Urteil verwies, trugen seine Entscheidung ebenfalls nicht. 3. Übersehene Änderung der Rechtslage Mehrmals konstatierte das BVerfG Willkür von Urteilen, in denen das Fachgericht eine Änderung der Rechtslage durch den Gesetzgeber oder das BVerfG übersehen hatte 54 . 4. Widersprüchliche

Entscheidungen

Eine weitere Fallgruppe richterlicher Willkür sind Entscheidungen mit widersprüchlicher Begründung 55 . Sie berühren zugleich das Recht auf ein 53

Das widerspricht natürlich der „konstitutionellen Uneinheitlichkeit" der Rechtsprechung, s. z.B. den Kammerbeschluß v. 7.6.1989: das Gericht ist „nur dem Gesetz und nicht einer hierzu entwickelten allgemeinen Rechtsauffassung verpflichtet". Kritisch Baumbach u.a., ZPO, Einl. III Rdnr. 31. 54 Unveröffentlichte Kammerbeschlüsse vom 14.1.1993, 2 BvR 926/88; 14.10.1994, 1 BvR 602/94; 10.2.1995, 1 BvR 2315/94; auch im Kammerbeschluß vom 30.1.1996, 1 BvR 2388/95 wurde Willkür bejaht, aber die Annahme der Verfassungsbeschwerde war nicht angezeigt, weil der Beschwerdeführer die übersehene Änderung der ZPO erst vor dem BVerfG gerügt hatte. 55 Neben der Entscheidung des LG in BVerfGE 70, 93 die Kammerbeschlüsse v. 9.11.1993, Az. 1081/93; und v. 20.7.1989, 2 BvR 1086/88. Ein Vorläufer in BVerfGE 6, 7 (10), wo das BVerfG Willkür für möglich hält, wenn trotz erwiesener Unschuld nur mangels Beweises freigesprochen wird. 5 v. Lindeiner

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

faires Verfahren, aus dem das BVerfG unter anderem herleitet, daß der Richter sich nicht widersprüchlich verhalten dürfe 56 . Welche der beiden konkurrierenden Gewährleistungen den Vorrang haben soll, ist den wenigen Entscheidungen nicht zu entnehmen.

III. „Beruhen" der Entscheidung auf der richterlichen Willkür Eine Stattgabe im Verfassungsbeschwerde-Verfahren setzt neben der Erfüllung des Willkür-Tatbestandes voraus, daß das Urteil auf der Willkür beruht 57 . Grundsätzlich reicht hierfür, wie im Revisionsrecht, aus, daß die willkürlichen Erwägungen möglicherweise für die Entscheidung kausal waren. Das BVerfG formuliert dies allerdings recht uneinheitlich. So soll ein Beruhen dann vorliegen, wenn nicht auszuschließen ist, daß das Gericht ohne den Fehler eine dem Beschwerdeführer günstigere oder nur eine „andere" Entscheidung getroffen hätte, oder wenn ersterer „auch materiell für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht ist" 5 8 . Das eröffnet der Handhabung im einzelnen Fall Spielräume. Wenn unklar ist, ob eine sachgerechte Begründung vorlag, sucht das BVerfG gelegentlich doch nach Argumenten, die ein Urteil im Ergebnis rechtfertigen können 59 . Wenn mehrere Gründe, 56

BVerfGE 38, 105 (111 ff.) und öfter. In BVerfG (K) 15.8.1996 (2 BvR 2600/ 95) wurde Willkür gerügt, der Verfassungsbeschwerde aber wegen Verletzung der Artt. 20 Abs. 3, 2 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG stattgegeben. 57 Das BVerfG trennt also Entscheidungsvorgang und -ergebnis. Nur ausnahmsweise sind Konstellationen denkbar, in denen ein Beruhen nicht erforderlich ist. So, wenn der Verfassungsverstoß schon in der Begründung selbst (BVerfGE 6, 7 (10)) oder im Tenor einer Entscheidung liegt (BVerfGE 15, 256 (262 f.); 24, 289 (295)); etwa bei einer Verurteilung zur Todesstrafe). Meist wird der Fehler allerdings zugleich im Prozeß der Entscheidungsfindung sichtbar sein (Waldner ZZP 98 (1985), 205)); unrichtig daher Dietlein, NVwZ 1994, 10, und Schiaich, Rdnr. 289, der einen besonderen Zusammenhang zwischen Beruhen und Willkürverbot vermutet. S. allgemein MSBKU-Schmidt-Bleibtreu, § 90 Rdnr. 154 m.w.N.; Schumann, DRiZ 1963, 388 ff.; Sommer, abw.M. BVerfGE 94, 115 (164 ff.); Scherer, 227, die in einer Verletzung der Art. 101, 103, 104 GG „absolute Beschwerdegründe" sieht, bei deren Vorliegen das Beruhen vermutet werden soll. 58 BVerfGE 90, 27 (39); 54, 117 (129); 57, 39 (42); 58, 163 (168) einerseits, BVerfGE 18, 85 (95); 34, 269 (280); 42, 143 (148) andererseits; BVerfG (K) v. 24.10. 1988 1 BvR 1321/88: könnten die verfassungswidrigen Gründe weggedacht werden, ohne das Ergebnis der gerichtlichen Entscheidung zu beeinträchtigen, beruhe die Entscheidung nicht auf dem Verfassungsverstoß. Klar BVerfGE 13, 123 (145): „wenn es nicht ausgeschlossen ist, daß (eine Anhörung) zu einem anderen, für ihn günstigeren Ergebnis geführt hätte". 59 BVerfGE 81, 132 (137); BVerfGE 50, 287 gegenüber BVerfGE 50, 115; in BVerfG NJW 1997, 1693 waren die „rettenden" Gründe - so das BVerfG - immerhin „erkennbar".

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

67

von denen nur einer willkürlich ist, eine Entscheidung einzeln tragen, verneint es das Beruhen meist, aber nicht immer 6 0 . Ist sowohl eine verfassungsmäßige als auch eine verfassungswidrige Begründung möglich, bemüht es sich mal um eine Art „verfassungskonformer Auslegung" des Urteils, dann wieder wird im Zweifel für den Beschwerdeführer entschieden 61 . Grundsätzlich ist aber potentielle Kausalität der Willkür für das Urteil notwendige und hinreichende Voraussetzung einer Aufhebung.

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung Neben der rechtlichen Argumentation gibt auch das tatsächliche Entscheidungsverhalten des BVerfG Aufschluß über rechtliche und praktische Aspekte der Willkür-Rechtsprechung.

I. Ausrichtung an Ermessensleitlinien? Die Abgrenzung von falschen und willkürlichen Gerichtsurteilen fällt offensichtlich schwer. Wirklich trennscharfe Kriterien sind nicht auszumachen. Das eröffnet dem BVerfG - untechnisch gesprochen - Ermessen. Dies wiederum legt nahe, daß das BVerfG sich bei der Entscheidung im Einzelfall an bestimmten Leitlinien orientiert. Solche ermessensleitenden Kriterien könnten insbesondere die Schwere des fachgerichtlichen Fehlers; seine Evidenz; die besondere Ungerechtigkeit einer Entscheidung; und die Intensität des damit einhergehenden Grundrechtseingriffs sein. 1. Schwere des Fehlers Nur ein Willkür-Kriterium erscheint in allen Entscheidungen des BVerfG: das Fachgericht bei der Rechtsanwendung einem besonders schweren Fehler begangen haben. Dieses Kriterium sagt allerdings für sich genommen wenig aus. Eine solche Beurteilung unterliegt weitgehend individuellen Wertungen. Dementsprechend sind auch die negativen Umschreibungen in der Rechtsprechung uneinheitlich. Mal wird Willkür - scheinbar subjektiv von Versehen 62, mal von unsorgfältigem Arbeiten oder einer gewissen 60

BVerfG (K) v. 24.10.1988, 1 BvR 1321/88 gegenüber BVerfGE 3, 213 (221); 4, 52 (58 f.) und BVerfGE 94, 115 mit abw.M. Sommer (146 ff.). 61 BVerfGE 81, 97 (106); 50, 115 (124); BVerfG (2S 1K) DVB1 1999, 165. Anders BVerfGE 50, 287 und nach BVerfGE 54, 277 dann BVerfGE 55, 105 wieder wie BVerfGE 50, 115. 62 BVerfGE 67, 90; NJW 1996, 1531; vgl. aber auch BVerfGE 59, 98. 5*

68

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

Nachlässigkeit 63 abgegrenzt. Diese Formulierungen bedeuten aber nicht, daß Willkür ein vorsätzlich rechtswidriges Handeln des Rechtsanwenders voraussetzen würde. Eine Abgrenzung von schweren und weniger schweren Fehlern bei der Rechtsanwendung führt das BVerfG auch bei seiner Rechtsprechung zum „spezifischen Verfassungsrecht" durch. Hier sind die entscheidenden Kriterien die generelle Bedeutung der verletzten Norm und das Maß, in dem das Fachgericht von der Auffassung des BVerfG abweicht und die verfassungsrechtliche Frage gerichtlich geklärt ist 6 4 . A l l dies spielt bei der Willkürkontrolle keine Rolle: das Urteil kann theoretisch jede Norm des einfachen Rechts verletzen und eine Auffassung des BVerfG zu den einschlägigen Problemen existiert überhaupt nur bei den wenigen Willkür-Fallgruppen. Das zeigt, daß das Kriterium der Schwere eines Fehlers die Frage nach dem Inhalt des Willkürverbots im Grunde erst stellt und nicht beantwortet. 2. Evidenz des Fehlers Einige Willkür-Entscheidungen erwähnen die Evidenz des Rechtsfehlers als ein wichtiges Willkürkriterium 6 5 . Das erscheint im Hinblick auf Arbeitsanfall und Entscheidungsabläufe im BVerfG plausibel. Häufig ist die Begründung des Willkürverdikts recht knapp. Allerdings ist die Rechtsprechung uneinheitlich: nicht nur die Willkür-Entscheidungen betreiben einen sehr unterschiedlichen argumentativen Aufwand 6 6 , auch die offensichtliche Unbegründetheit einer Verfassungsbeschwerde (§ 24 BVerfGG) stellt das BVerfG gelegentlich erst nach längerer Erörterung fest 67 . Dem üblichen 63

BVerfGE 4, 1 (6 f.); 82, 286 (299); 87, 282 (285). So Scherzberg, 68 ff., der resümiert: „Handhabbare Unterscheidungskriterien für die danach erforderliche Qualifizierung des Gewichts eines Verfassungsverstoßes benennt das Gericht nicht. Die Einschätzung ... entzieht sich deshalb weitgehend rationaler Nachprüfung". 65 BVerfGE 57, 39; 58, 163; 62, 189; 66, 324; 69, 248; 70, 93; 71, 202; 86, 59; 96, 189 (203). Schön BVerfGE 85, 337 (342): „Diese Auffassung, die der herrschenden Meinung entspricht, ist jedenfalls nicht offensichtlich unhaltbar". Die tatsächliche Prüfungspraxis des BVerfG, die sich an der Begründetheit und nicht der Begründbarkeit des Urteils orientiert, entspricht dem: je besser begründet es ist, desto weniger evident - weil schwerer zu erkennen - ist seine Unhaltbarkeit. 66 Für die Frage, ob eine Revision als „offensichtlich unbegründet" verworfen werden darf, soll es auch nicht darauf ankommen, „ob die Sach- und Rechtslage schwierig erscheint", BVerfGE 59, 98 (103). 67 So begründet BVerfGE 61, 82 die Abweisung als „offensichtlich unbegründet" nach § 24 BVerfGG auf 18 Druckseiten. Nach BVerfGE 82, 312 (316) setzt § 24 BVerfGG nicht voraus, daß die „Unbegründetheit auf der Hand liegt; sie kann auch das Ergebnis vorgängiger gründlicher Prüfung sein"; ebenso Stelkens/Bonk/Sachs, § 44, Rdnr. 59 ff.: „bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Um64

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

69

Verständnis dieses Begriffs - evident ist eine offensichtliche und ohne eingehende Prüfung mögliche Wertung 68 - entspricht die Praxis des BVerfG also nur teilweise. Die uneinheitliche Handhabung dieses Kriteriums wird auch dadurch belegt, daß das BVerfG unterschiedliche Konsequenzen aus seinen Feststellungen zieht. In manchen Entscheidungen erscheint die Evidenz als ausschlaggebendes Willkürelement 69 , dann wieder soll sie allein ausdrücklich noch nicht die Aufhebung einer Gerichtsentscheidung rechtfertigen 70 . Die Evidenz des Rechtsfehlers spielt also im Rahmen der Willkür-Rechtsprechung wohl eher eine faktische und jedenfalls keine einheitliche Rolle. 3. Ungerechtigkeit

der Entscheidung

Gleichheitssatz und Willkürverbot weisen vielfältige Bezüge zur Idee der Gerechtigkeit auf 7 1 . Es liegt daher nahe, die besondere Ungerechtigkeit einer Gerichtsentscheidung als Kriterium für Willkür zu verwenden. Auch wenn denkbar ist, daß die Richter des BVerfG ihre Entscheidung durchaus auf subjektive Gerechtigkeitswertungen stützen, findet der Begriff hier aber nur selten Verwendung. Möglicherweise versucht das BVerfG so, sich nicht zu sehr dem Vorwurf eigener Willkür auszusetzen.

stände". Solche Evidenz liegt um so eher vor, je eingehender die vorausgehende Prüfung ist; Zöbeley in UC, § 24 Rdnr. 8: „der übliche Sprachgebrauch irritiert". 68 So werden z.B. §§ 291 ZPO, 44 Abs. 1 VwVfG verstanden; Köbler, 122; Achterberg DöV 1963, 336; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2105. Das „Evidenz-Erlebnis" hängt in besonderer Weise von Erfahrung und Sachgefühl des Richters ab, MayerMaly, FS Verdross, 267. 69 BVerfGE 71, 202 (205) „offensichtlich sachwidrig und damit objektiv willkürlich"; BVerfGE 87, 273 (276): „wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht angewendet wird". 70 BVerfGE 70, 93 (98) „nicht nur ... offenkundig fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts ... darüber hinaus sachlich schlechthin unvertretbar und damit objektiv willkürlich". Ausdrücklich soll evidente Unrichtigkeit nicht ausreichen in BVerfG (K) v. 7.11.1988, 1 BvR 1287/88. 71 Kromer, JuS 1984, meint in Fußn. 54, „objektiv willkürlich" meine „nichts anderes als ungerecht"; Gerechtigkeitserwägungen spielen bei dieser Rechtsprechung „immer eine Rolle", Steinwedel, 159; Bryde, 160; W. Zeidler, JZ 1982, 218 f. meint, daß Leibholz' Ideen „zu der griffigen Faustregel geführt hätten, daß das Ungerechte weil ungleich auch zugleich verfassungswidrig sei". Als Kriterium verwendet das BVerfG den Begriff z.B. bei der „am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise" (BVerfGE 2, 118 (119 f.)), beteuert aber, daß ihm dies „keine Möglichkeit biete, ein Gesetz unter dem Gesichtspunkt »allgemeiner Gerechtigkeit4 nachzuprüfen und damit seine Auffassung von Gerechtigkeit derjenigen des Gesetzgebers zu substituieren" (st. Rspr. seit BVerfGE 3, 85 (182)).

70

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

Allerdings existieren in der sonstigen Rechtsprechung des BVerfG durchaus nähere Konkretisierungen des Begriffs der Gerechtigkeit. So greift das Gericht häufig auf die „Sachgerechtigkeit" eines staatlichen Aktes zurück oder definiert Gerechtigkeit über die Regelungen des einfachen Rechts 72 . Beides hilft für die Analyse der Willkür-Rechtsprechung allerdings nicht weiter. Denn nicht sachgerecht ist, was tatsächlich unangemessen ist; und die am einfachen Recht gemessene Rechtswidrigkeit eines Urteils stellt ohnehin ein Willkürkriterium dar. Hieraus lassen sich also keine zusätzlichen Erkenntnisse ableiten. 4. Intensität des Grundrechtseingriffs Ein weiterer denkbarer Gesichtspunkt zur Steuerung des „Willkür-Ermessens" ist die Intensität, mit der das fachgerichtliche Urteil in Grundrechte der Beschwerdeführer eingreift 73 . Denn diese reguliert häufig die vom BVerfG gegenüber Urteilen in Anspruch genommene Prüfungsreichweite. Verletzungen spezifischen Verfassungsrechts werden bei intensiven Eingriffen auch intensiv überprüft; geringfügige Belastungen unterliegen nur einer gröberen Kontrolle. Die Willkür-Rechtsprechung läßt sich in dieses Schema nicht einordnen; sie liegt gewissermaßen quer dazu. Einerseits greift die verfassungsgerichtliche Überprüfung hier weit ins einfache Recht hinein, sie müßte also eigentlich ein hohes Maß an Eingriffsintensität voraussetzen. Andererseits läßt sich richterliche Willkür auch als ein besonders schwerer Rechtsverstoß ansehen, der gerade umgekehrt bei jeder noch so „banalen" Rechtsanwendung beanstandet werden sollte. In der Praxis des BVerfG spielt die Eingriffsintensität bei der WillkürRechtsprechung denn auch keine Rolle. Die davon betroffenen Gerichtsurteile sind von sehr unterschiedlicher Intensität. Insgesamt stellen viele Entscheidungen wohl keine gravierenden Belastungen der Adressaten dar 7 4 . 72

S. die eingehende Untersuchung von Robbers, Gerechtigkeit, 165 ff. Die Definition der Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur ist uneinheitlich; meist wird sie aber mit dem materiellen Schaden, der dem Beschwerdeführer infolge des Urteils entstanden ist, gleichgesetzt. Andere Auffassungen bestimmen sie anhand des Ausmaßes der mit dem Urteil verbundenen Minderung der grundrechtlichen Freiheit (ob sie z.B. „im Kern" oder „am Rande" betroffen ist) oder anhand des Gewichts des betroffenen Grundrechts (Scherzberg, 63; Herzog, FS Dürig, 439; Lincke, EuGRZ 1986, 72; Benda, ZZP 1985, 369; Schulte, DVB1 1996, 1015). Das würde in den Willkürfällen aber nicht weiterhelfen, weil hier kein Grundrecht außer dem Willkürverbot einschlägig ist. 74 BVerfGE 57, 39 (DM 129,36 Werklohn); 58, 163 (DM 323,62). Gerade die Kammern haben einige wenig intensive Eingriffe zu dem Zeitpunkt behoben, als die Reform der §§ 93 a ff. BVerfGG die objektive Bedeutung der Verfassungsbe73

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

71

Daraus läßt sich schließen, daß das Willkürverbot als Mindeststandard richterlichen Handelns bei jeder Rechtsanwendung gilt, unabhängig davon, wie schwer der dadurch verursachte Grundrechtseingriff wiegt. Ein intensiver Grundrechtseingriff ist also nicht Voraussetzung der Willkür.

II. Schutzbereich und Konkurrenzen des Verbots richterlicher Willkür Das Verbot richterlicher Willkür kommt in der Rechtsprechung des BVerfG einem eigenen Grundrecht gleich. Zum einen ist es als subjektives Recht aller Menschen in Art. 3 Abs. 1 GG verbürgt. Zum anderen weichen seine Tatbestandsvoraussetzungen von denen der vergleichenden Gleichheitsprüfung wesentlich ab. Das macht es erforderlich, seinen Schutzbereich und sein Verhältnis zu anderen Abwehrrechten gegen verfassungswidrige Gerichtsentscheidungen zu bestimmen. 1. Der Schutzbereich des Verbots richterlicher

Willkür

Der Schutzbereich des Verbots richterlicher Willkür läßt sich recht klar von den anderen Grundrechten abgrenzen. Wie vorstehend beschrieben, umfaßt er alle Gerichtsurteile, die in besonders schwerer Weise gegen Normen des einfachen Rechts verstoßen. Eine besondere Belastung des Betroffenen durch das Urteil ist ebensowenig erforderlich wie eine Verletzung anderer Verfassungsgrundsätze. Anders als bei den eigentlichen Grundrechten ist zudem nicht Voraussetzung, daß das Urteil thematisch einen bestimmten Freiheitsbereich oder bestimmte Differenzierungskriterien betrifft. Für die besondere Schwere des Rechtsverstoßes existieren keine festen Prüfungsmaßstäbe. Feststellen läßt sich nur, daß das Verbot nur in seltenen Fällen durchgreift. Der Schutzbereich des Verbots richterlicher Willkür erscheint daher einerseits - thematisch - als sehr breit, andererseits aber - inhaltlich - als eher eng begrenzt.

schwerde stärker betonte: Kammerbeschlüsse vom 21.1.1991 (112 DM Bausparprämie), vom 24.2.1992 (100 DM Geldbuße), vom 31.8.1993 (20 DM Geldbuße); NJW 1994, 847 (20 DM Geldbuße). Eine konsequente Ausrichtung an der Eingriffsintensität hätte allerdings die schöne Entscheidung BVerfGE 16, 27 verhindert, in der das BVerfG auf 37 Druckseiten begründet, warum die Botschaft des Kaiserreichs Iran eine Rechnung über DM 292,76 für eine Heizungsreparatur bezahlen muß.

72

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

2. Spezielle Willkürverbote: Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und 103 Abs. 2 GG Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG hat das BVerfG zwei weitere Grundrechte mit Hilfe des Verbots richterlicher Willkür interpretiert. Da diese gegenüber dem allgemeinen Verbot den engeren Schutzbereich aufweisen, lassen sie sich als „spezielle Willkürverbote" charakterisieren. So beanstandete das BVerfG lange Zeit Verstöße gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, durch eine gerichtliche Entscheidung nur dann, wenn das Gericht dabei willkürlich gehandelt hatte 75 . Mittlerweile hat es seine Prüfungsdichte aber erhöht. Es kontrolliert die entsprechenden Gerichtsentscheidungen nicht nur auf Willkür, sondern auch auf Verletzungen spezifischen Verfassungsrechts, prüft also, ob das Gericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur „grundsätzlich verkannt" hat 7 6 . Das Analogieverbot in Art. 103 Abs. 2 GG bezeichnet das BVerfG als eine „spezielle Ausgestaltung des Willkürverbots für die Strafgerichtsbarkeit" 7 7 . Es prüft seine Verletzung häufig anhand der Willkür-Kriterien, die es auch bei Art. 3 Abs. 1 GG anwendet. Aber auch eine Gesetzesauslegung, die zwar noch nicht willkürlich ist, aber den möglichen Wortsinn der Sanktionsnorm überschreitet, kann gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen 78 . 75 BVerfGE 29, 45 (49); 31, 145 (165); 58, 1 (45); NJW 1991, 2893 f. BVerfGE 87, 282 begründet die Beschränkung auf Willkür damit, „andernfalls würde die Anwendung einfachen Rechts auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben". Die Beschränkung auf Willkür führte zu Unsicherheiten über die materielle Tragweite des Grundrechts. Das BVerfG neigte offenbar zu der Auffassung, daß die Willkürformeln auch den materiellen Schutzbereich des Grundrechts bezeichneten (BVerfGE 3, 359 (365); 13, 132 (144); Wipfelder,'VBlBW 1982, 36; Rinck, NJW 1964, 1652; Arndt DRiZ 1959, 201). Anders jetzt BVerfGE 95, 322 (329): „Das Gebot des gesetzlichen Richters wird nicht erst durch eine willkürliche Heranziehung im Einzelfall verletzt". 76 BVerfGE 75, 223 (die aber verbal noch beim Willkürmaßstab bleibt); 82, 282 (299) - wo trotz weiter Formulierung in der Sache nur Willkür geprüft wird. Strenger geprüft wird bei Art. 100 Abs. 2 GG, BVerfGE 23, 288 (320), 96, 68 (77); und bei Vorlagen an den EuGH (BVerfG (K) NJW 1988, 1456 ff. und danach (!) BVerfGE 82, 159). Die Literatur begrüßt die strengere Prüfung, Proske, NJW 1997, 352 ff.; Rodi, DöV 1989, 750 ff. Bei Verletzungen durch Gesetzgeber und Verwaltung hatte das BVerfG ohnehin seit jeher nicht nur eine Willkürkontrolle durchgeführt, BVerfGE 22, 49 (73). 77 BVerfGE 64, 389 (394); (K) NJW 1998, 810. Auch das strafrechtliche Legalitätsprinzip ist eine „Aktualisierung des Willkürverbots als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des GG", BVerfG (VPrA) NStZ 1983, 130. 78 BVerfGE 92, 1; 87, 209 (229). Mit Hilfe dieses Kriteriums kann die Gefahr der Superrevision (s. Jarass/Pieroth, Art. 103 Rdnr. 47: „jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht"), gebannt werden.

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

73

Auch hier ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle also nicht mehr auf Willkür beschränkt. Das BVerfG greift bei diesen beiden Verfassungsnormen eher verbal auf das Willkürverbot zurück, um deren rechtsstaatlichen Rang zu betonen. 3. Andere Abwehrrechte gegen verfassungswidrige

Gerichtsurteile

Neben dem Verbot richterlicher Willkür kommen grundsätzlich noch weitere Verfassungsprinzipien als Abwehrrechte gegen willkürliche Rechtsanwendung in Betracht. Dies gilt insbesondere für das Rechtsstaatsprinzip und für die anderen Grundrechte, die in der Literatur häufig als Alternativen zur Ableitung eines allgemeinen Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG vorgeschlagen werden. Besonders häufig nennt die Literatur das Rechtsstaatsprinzip als richtige Grundlage eines allgemeinen Willkürverbots. Auch das BVerfG bringt gelegentlich den rechtsstaatlichen Charakter der Rechtsprechung und die Abwehr von Willkür miteinander in Verbindung. Das betrifft aber nicht die Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile. Hier bleibt das Gericht bei der Herleitung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG und erwähnt das Rechtsstaatsprinzip nur nebenbei. Denkbar wäre auch, richterliche Willkür über die einzelnen Grundrechte abzuwehren. Beispielsweise könnte ein willkürliches Urteil, das thematisch die Meinungsfreiheit berührt, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen. Das BVerfG trennt aber das Willkürverbot und die einzelnen Grundrechte bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gerichtsentscheidungen deutlich voneinander. Wenn ein Grundrecht bei der Rechtsfindung eine Rolle spielte, überprüft das BVerfG zunächst, ob das Fachgericht seine Bedeutung und Tragweite grundsätzlich verkannt hat. In solchen Fällen spricht es zwar gelegentlich davon, ein Urteil sei „nicht nachvollziehbar" oder „offenkundig unrichtig", es überschreite „die Grenze sachgerechter, noch vertretbarer Interpretation" oder es fehle an einem „verfassungsrechtlich zureichenden Grund" dafür 79 . Diese Formulierungen klingen zwar nach WillDas entspricht der Intention des Art. 103 Abs. 2 GG sicher besser als der pauschale Verweis auf den historischen Zusammenhang von Willkürverbot und Analogieverbot. Kritisch Tröndle/Fischer, StGB, § 240 Rdnr. 2C, wonach Art. 103 Abs. 2 GG in der Tat nur Willkür verbietet. 79 BVerfG (K) NVwZ-Beilage 2000, 121 (122) zu Art. 16 a Abs. 1; BVerfG (K) v. 17.12.1990 (1 BvR 963/90) und NJW 1996, 309 zum effektiven Rechtsschutz; BVerfG (K) v. 15.1.1991 und EuGRZ 1985, 432 zu Art. 103 Abs. 1 GG; InfAuslR 1991, 85 und 1992, 231 zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG; BVerfG (K) v. 21.11.1989, 2 BvR 1089/89, zu Art. 19 Abs. 4 GG; BVerfGE 82, 18 (28) zu Art. 12 Abs. 1 GG; BVerfGE 56, 99 (Rechtsstaatsprinzip); BVerfGE 91, 176 (181). Echte Überschneidungen sind selten, BVerfGE 42, 64; 83, 82: Art. 14 Abs. 1 GG; BVerfGE 42, 64:

74

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

kür, ändern aber nichts an der generellen Abgrenzung: das Willkürverbot greift nur, wo kein spezielles Grundrecht einschlägig oder verletzt ist.

III. Schwerpunkte der Willkür-Rechtsprechung Das Willkürverbot gilt grundsätzlich für jede Gerichtsentscheidung, unabhängig davon, auf welchem Rechtsgebiet sie ergeht und welches Gericht entschieden hat. Angesichts der Unwägbarkeiten der Willkürformeln und des weiten Ermessens der Richter des BVerfG dürfte eine gleichmäßige Durchführung der Willkürkontrolle schwierig sein. Dennoch ergeben die Entscheidungen, unterteilt nach Rechtsgebieten, Gerichtsbarkeiten und Entscheidungsgremien, insgesamt ein recht ausgewogenes Bild. 1. Rechtsgebiete und Gerichtsbarkeiten Die Verteilung der Willkür-Rechtsprechung auf die Gerichtsbarkeiten entspricht weitgehend deren Anteil an der Gesamtzahl der Gerichtsentscheidungen. Lediglich die Strafgerichte sind leicht überrepräsentiert 80. Das läßt sich wohl damit erklären, daß insbesondere im Strafvollzug die Betroffenen häufig zur Ausschöpfung des Rechtswegs neigen. Es könnte aber auch daran liegen, daß einzelne Verfassungsrichter einen größeren Gebrauch von der Willkürkontrolle machen als andere. Weil die Zuständigkeiten der Richter des BVerfG nach Sachgebieten verteilt sind, wirkt sich dies unmittelbar auf Umfang und Ausmaß der Willkürkontrolle auf einzelnen Rechtsgebieten aus. Im Zivilrecht greift die Willkürkontrolle hauptsächlich auf den „alltäglichen" Gebieten, insbesondere dem Zivilprozeßrecht und dem Mietrecht, durch. Hingegen entstammen nahezu alle beanstandeten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen dem Asyl- oder Asylverfahrensrecht. Auch hier dürfte der Grund vor allem darin liegen, daß die Beschwerdeführer und ihre Anwälte alle prozessualen Möglichkeiten bis hin zur Verfassungsbeschwerde ausschöpfen wollen.

Art. 6 Abs. 1 GG; BVerfG (K) v. 23.8.1989. Sie kommen am ehesten bei Art. 103 Abs. 1 GG vor, wo auch die „Beachtungskontrolle" der Superrevision am nächsten steht, BVerfGE 54, 117; 58, 163; 59, 98; 69, 248; 71, 122. Wie hier Schumann, BVerfG, 25 f: Willkürprüfung als „subsidiärer verfassungsrechtlicher Beschwerdegrund sui generis"; Benda/Klein Rdnr. 598. 80 Die Zivilgerichte erlassen 65% aller fachgerichtlichen Entscheidungen und 57% der Willkürurteile, die Strafgerichte 20% (32%) und die Verwaltungsgerichte 14% (11%). Urteile der Verwaltungsgerichte werden zwar bei der Verfassungsbeschwerde insgesamt seltener korrigiert, Steinwedel, 28 Fußn. 41; für die Willkürkontrolle gilt das aber nicht.

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

75

2. Instanzen Willkürurteile finden sich auf allen Ebenen der Instanzenzüge vom Amtsgericht bis zum Landesarbeitsgericht und zum Verwaltungsgerichtshof. Die obersten Bundesgerichte blieben bisher - anders als bei der Prüfung vergleichender Willkür - fast völlig unbeanstandet. Vergleicht man die Statistik mit den Entscheidungen der Gerichte insgesamt, zeigen sich keine nennenswerten Abweichungen. Daß etwa Entscheidungen der Landgerichte überdurchschnittlich häufig beanstandet werden, läßt sich sicher damit erklären, daß hier in vielen Fällen der Instanzenzug endet. Auch der 1990 eingeführte § 495 a ZPO, der das Verfahren bei Streitwerten unter D M 1200,- in das billige Ermessen der Amtsgerichte stellt, hat nicht, wie befürchtet, zu einer signifikanten Zunahme willkürlicher Entscheidungen der Amtsgerichte geführt. Diese sind nach wie vor eher unterrepräsentiert. 3. Verteilung

der Willkür-Rechtsprechung

innerhalb des BVerfG

Innerhalb des BVerfG ist die Willkür-Rechtsprechung weitgehend ausgewogen verteilt. a) Verhältnis der Senate zueinander Die Entscheidung BVerfGE 42, 64 (1976) und somit der eigentliche Beginn der Willkür-Rechtsprechung war Teil einer Kontroverse zwischen den Senaten. Der Erste Senat hatte in den Jahren zuvor die prozedurale Dimension der materiellen Grundrechte, also ihre Bedeutung für die Ausgestaltung und Durchführung staatlicher Verfahren, herausgearbeitet und entwikkelt. Der Zweite Senat betrachtete diese Entwicklung zurückhaltend. Die Zwangsversteigerungs-Entscheidung mag als Ausdruck dieser Zurückhaltung zu verstehen sein, denn der Fall hätte auch über die Bedeutung der Art. 14 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG in Zwangsversteigerungsverfahren gelöst werden können. Auf diesen Gesichtspunkt ging der Zweite Senat aber nur mit wenigen Worten ein. Mit der Zwangsversteigerungs-Entscheidung war diese Kontroverse aber noch nicht beendet. Der Erste Senat löste in der Folgezeit mehrere Sachverhalte aus dem Zwangsversteigerungsrecht betont deutlich, geradezu schulmäßig, über die Bedeutung des Art. 14 Abs. 1 GG für die Verfahrensgestaltung. Eine Stellungnahme zum Willkürverbot vermied er 8 1 . Erst 1982 (mit 81

BVerfGE 46, 325 (dazu Suhr, NJW 1979, 145 f.); 49, 225; 51, 150. Wenngleich auch diese Entscheidungen sich auf das Gebot gerechter Rechtsprechung als Ziel des Verfahrensrechts berufen (BVerfGE 49, 225 (226); 46, 325 (333)), argumentieren sie insgesamt präziser und näher am einfachen Recht als BVerfGE 42, 64.

76

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

BVerfGE 62, 189) schloß er sich dann kommentarlos der Willkür-Rechtsprechung an. Heute lassen sich kaum noch Unterschiede in der Haltung der beiden Senate zum Willkürverbot ausmachen. Zwar entstammen rund zwei Drittel aller Willkürentscheidungen dem Zweiten Senat. Dies ist aber auf die besonders ausgeprägte Willkür-Rechtsprechung einer einzelnen Kammer dieses Senats zurückzuführen. Davon abgesehen, wenden heute beide Senate das Verbot richterlicher Willkür in gleicher Weise an 8 2 . b) Verhältnis der Senate zu den Kammern Die Kammern des BVerfG sind erst seit 1986 dazu befugt, Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsurteile stattzugeben. Sie haben diese Kompetenz zunächst zurückhaltend gehandhabt. Ihre Willkür-Entscheidungen beginnen, mit zwei Ausnahmen, erst 1988. Das muß nicht heißen, daß es damals nicht mehr solche Beschlüsse gegeben hat; sie könnten auch zunächst nicht veröffentlicht worden sein, z.B. weil man ihre Bedeutung für zu gering hielt. Vielleicht haben die Kammern aber aus Unsicherheit über die Eignung des Kammerverfahrens für die Willkürfälle in der Tat erst vorsichtiger entschieden 83 . Mittlerweile wird die Willkürkontrolle aber ausschließlich von den Kammern durchgeführt 84 . Dies entspricht - wie bereits erwähnt - der Absicht des Gesetzgebers, die Willkür-Rechtsprechung von den Senaten des BVerfG auf die Kammern zu verlagern. c) Verhältnis der Kammern untereinander Auf die einzelnen Kammern des BVerfG verteilen sich die Willkürbeschlüsse recht ausgewogen. Ausnahme ist die 2. Kammer des Zweiten Senats, in der über die Hälfte aller zwischen 1990 und 1992 eruierten Willkürbeschlüsse erging. Diese Kammer traf zudem den größten Teil der Ent82

Die Vermutung, der Zweite Senat greife besonders häufig auf das Willkürverbot zurück, weil er neben seinem Anteil an Verfassungsbeschwerden auch noch die staatsorganisationsrechtlichen Verfahren bewältigen müsse und das Willkürverbot eine leicht zu handhabende Abwehrwaffe gegen Verfassungsbeschwerden darstelle (Wiegandt 147, der vom „Leibholz" - Senat spricht), trifft also nicht zu; s. auch Kirchberg, NJW 1987, 1988 f. zu den Unterschieden bei Art. 103 Abs. 1 GG Mauder, 45 ff. 83 S. etwa Mahrenholz, 1366 Fußn. 16 zu der Frage, wann die „maßgebliche verfassungsrechtliche Frage" von den Senaten vorentschieden ist. Auch daß das Willkürurteil nun nicht mehr mit der Autorität des ganzen Senats gefällt wurde, mag eine Rolle gespielt haben. 84 S. hierzu und eingehend zur Rechtsprechung der Kammern Höfling/Rixen, AöR 2000, 428 ff., 613 ff. (634 f.).

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

77

Scheidungen auf dem Gebiet des Strafrechts. Sie ist die einzige, deren Besetzung (mit den Verfassungsrichtern Mahrenholz, Kruis und Winter) in diesem Zeitraum unverändert blieb 8 5 .

IV. Reaktionen auf die Willkür-Rechtsprechung Die Willkür-Rechtsprechung des BVerfG hat positive und negative Reaktionen erfahren. Einerseits haben zahlreiche andere Gerichte sie übernommen oder nutzen sie in anderem Kontext. Andererseits sind sowohl die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot als auch dessen konkrete Handhabung im Verfassungsbesch werde-Verfahren seit jeher kritisiert worden. 1. Das Sondervotum von Geiger zu BVerfGE

42, 64

Die Zwangsversteigerungs-Entscheidung BVerfGE 42, 64, Grundlage der heute praktizierten Willkürkontrolle, war schon im Zweiten Senat heftig umstritten. Die kontroverse Diskussion mündete in das prägnant formulierte Sondervotum von Geiger (BVerfGE 42, 79 ff.). Geiger sprach hier bereits alle wesentlichen Kritikpunkte an der Willkür-Rechtsprechung an. Er betonte die Subsidiarität des allgemeinen Willkürverbots gegenüber anderen Abwehrrechten: „Die rechtsstaatliche Verfassung der Bundesrepublik Deutschland besteht nicht nur aus dem Willkürverbot; will sagen: Nicht alles, was rechtsstaatlich unerträglich ist, ist verfassungsrechtlich wegen Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG zu beanstanden ... Es gibt eben eine Reihe von Verfassungsbestimmungen, die je für ihren Anwendungsbereich eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips darstellen. Dieser Anwendungsbereich umschreibt die typische Konstellation von Unrecht, die unter dem spezifischen Verfassungsrechtssatz gewürdigt werden und diskriminiert sein soll und nicht beliebig unter einen allgemeineren rechtlichen Gesichtspunkt gebracht werden darf" (BVerfGE 42, 79 f.); forderte eine Beschränkung der Willkürkontrolle auf Vergleichssituationen: „Man darf den aus Art. 3 GG entwickelten Satz vom Willkürverbot nicht so verselbständigen, daß man ihn nun zum Gegenstand der Auslegung macht, ohne Rücksicht darauf, daß verfassungsrechtlich seine Grenzen durch die Ableitung aus dem Gleichheitssatz festliegen. Genauer heißt das: Der Satz vom Willkürverbot ist als Maßstab beschränkt auf Fälle, in denen die rechtliche Operation darin besteht, zwei Tatbestände miteinander zu vergleichen, um zu dem Schluß zu gelangen zu können: es ist mangels eines plausiblen Grundes „willkürlich", sie verschieden zu behandeln (oder sie gleich zu behandeln)." (BVerfGE 42, 80); 85

Die Kammer wies von 1990 bis zum Ausscheiden von Mahrenholz (24.3.1994) diese Besetzung auf. Er hatte schon 1987 angekündigt, die Rechtsprechung der Kammern zum Willkürverbot verdiene „genaue Beobachtung" (FS Zeidler, 1362 ff. (1365)).

78

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

und nannte das Rechtsstaatsprinzip als richtigen Sitz eines allgemeinen Willkürverbots: „Wo nur die Überlegung durchgreift, „so wie in diesem Fall darf niemals von Rechts wegen gehandelt werden; deshalb ist dieses Ergebnis in jedem Fall unerträglich", mag man im allgemeinen Sprachgebrauch ebenfalls von „Willkür" reden; im Rechtssinn ergibt sich die Verfassungswidrigkeit nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG, sondern aus einer anderen Verfassungsvorschrift oder im System der Verfassung möglicherweise am Ende mangels einer spezielleren Regelung aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG), das u.a. auch in Art 3 GG eine wichtige, aber nur begrenzte Ausprägung oder Konkretisierung erfährt." (BVerfGE 42, 81 f.). Geiger meinte, der Zuschlagsbeschluß verletzte zwar nicht das Willkürverbot, wohl aber Art. 103 Abs. 1 GG, weil „unter (sie) den mehreren möglichen ,sonstigen Gründen4, die zur Versagung des Zuschlags führen können, jedenfalls auch gehört der unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG herzuleitende Grund, daß einer der Beteiligten nicht in der Lage gewesen ist, sich effektiv rechtliches Gehör zu verschaffen - gleichgültig, ob die Umstände, die das verhinderten, in der Sphäre des Gerichte oder in der Sphäre des Prozeßbeteiligten gelegen haben."86 2. Reaktionen der Gerichte Verfassungs- und Fachgerichte sind der Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes als Verbot richterlicher Willkür nahezu ausnahmslos gefolgt. Gelegentlich geht die Bedeutung des Willkürverbots über die Beanstandung willkürlicher Gerichtsentscheidungen noch hinaus. So leiten einige Landesverfassungsgerichte daraus ihre Kompetenz her, die Anwendung von Bundesrecht durch Landesgerichte zu überprüfen. Die Zivilgerichte haben zudem ein der Willkür-Rechtsprechung vergleichbares Institut, die außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit, geschaffen. a) Verfassungsgerichte der Länder In mehreren Bundesländern ist die Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile als Rechtsbehelf zu den Verfassungsgerichten der Länder eröffnet 8 7 . Sie tritt dann neben die Verfassungsbeschwerde auf Bundesebene. 86 Geigers Auffassung, daß der Rechtspfleger zwar nicht habe aufklären müssen, der Zuschlag aber trotzdem nicht ergehen durfte, ist allerdings auf Kritik gestoßen; ebenso seine verfassungsrechtlichen Argumente (Weitzel, JuS 1976; E. Schneider, MDR 1977, 353 ff.). Geiger selbst äußert sich hierzu knapp in Selbstverständnis,

18.

87 Ein echtes Beschwerderecht gibt es in Bayern (Art. 120 BayVerf), Hessen (Art. 131 Abs. 1, 3 HessVerf), Sachsen (Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 SächsVerf) und Thüringen (Art. 80 Abs. 1 Nr. 1 ThürVerf). Im Saarland ist die Verfassungsbeschwerde

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

79

Allerdings stellt sich hier das Problem, daß das einfache Bundesrecht den Grundrechten der Landesverfassung im Rang vorgeht. Es war daher umstritten, ob und inwieweit die Landesverfassungsgerichte zur Überprüfung von Gerichtsentscheidungen berechtigt und verpflichtet sind, die auf Bundesrecht beruhen. Lange Zeit legten die Landesverfassungsgerichte ihre Kompetenzen sehr zurückhaltend aus. In letzter Zeit haben einige Gerichte ihre Rechtsprechung aber deutlich ausgedehnt und dafür inzwischen auch die Zustimmung des BVerfG gefunden 88 . Alle Länderverfassungen enthalten in ihrem Grundrechtsteil den allgemeinen Gleichheitssatz. Bei der Interpretation dieser Gleichheitssätze haben die Landesverfassungsgerichte die Rechtsprechung des BVerfG aufgegriffen. Diejenigen Gerichte, die zur Überprüfung von Gerichtsurteilen auf ihre Vereinbarkeit mit der Landesverfassung berechtigt sind, haben auch das Verbot richterlicher Willkür als Inhalt des Gleichheitssatzes übernommen. So prüft der Bayerische Verfassungsgerichtshof im Rahmen der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen nur Verstöße gegen Landesverfahrensgrundrechte und gegen das Willkürverbot. Er begründet dies damit, bei willkürlicher Anwendung von Bundesrecht habe sich der Richter so weit außerhalb des Rechts gestellt, daß er in Wahrheit gar kein Bundesrecht mehr angewandt habe; daher greife der Vorrang des Bundesrechts gegenüber der Landesverfassung nicht 8 9 . Das kann sprachlich und inhaltlich kaum überzeugen, zumal der Verfassungsgerichtshof ebensowenig präzise Willkür-Kriterien entwickelt hat wie das BVerfG. Allerdings handhabt das Gericht diese Kompetenz ohnehin sehr restriktiv; es hat erst drei Gerichtsentscheidungen als willkürlich aufgehoben 90. Das Willkürverbot bewirkt hier also als Kompetenzbegründung mehr denn als inhaltlicher Maßstab. Auch der Hessische Verfassungsgerichtshof hielt sich bis vor kurzem nur dann für entscheidungsbefugt, wenn hessische Gerichte bei der Anwendung

subsidiär zu derjenigen zum BVerfG (§ 9 Nr. 13 VerfGHG). In Berlin (Art. 84 Abs. 2 Nr. 5 BerlVerf) und in Brandenburg (Art. 6 Abs. 2 BbgVerf) kann der Beschwerdeführer wählen, an welches Gericht er sich wenden will. 88 BVerfGE 96, 345 ff. Ein ähnliches „Entlastungsmanöver" (Lenz, NJW 1999, 34 f.) betrifft nunmehr den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, dessen Verletzung bei Wahlen zu den Landesparlamenten nach BVerfGE 99, 1 nicht mehr vor dem BVerfG geltend gemacht werden kann. Das BVerfG gab hierzu ausdrücklich (S. 9) die auf Leibholz zurückgehende Prüfung anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes (statt von Art. 28 Abs. 1 Satz 2, 38 Abs. 1 Satz 1 GG) auf. 89 Ständige Rechtsprechung seit BayVerfGH 1, 29. 90 BayVerfGH NJW 1988, 1372; NJW 1994, 2946; NJW 1994, 3177. Dabei hält der BayVerfGH vergleichende und allgemeine Willkür als Inhalte des Gleichheitssatzes klar getrennt, s. z.B. BayVerfGH, NJW 1986, 1096 f.

80

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

von Bundesrecht das Willkürverbot verletzt hatten 91 . Seine Praxis ist noch restriktiver als die des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs: er hat noch nie Willkür eines Fachgerichts festgestellt. Mit einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 nimmt er nun aber über die reine Willkürkontrolle hinaus auch die Kompetenz zur Überprüfung aller letztinstanzlichen Entscheidungen hessischer Gerichte an den Verfahrensgrundrechten der Hessischen Verfassung in Anspruch 92 . Der seit 1992 bestehende Berliner Verfassungsgerichtshof hat mit der Entscheidung, die zur Einstellung des Strafverfahrens gegen Erich Honekker vor dem Kammergericht führte, seine Kompetenzen besonders weit interpretiert 93 . Er überprüft seither generell die Anwendung von Bundesrecht durch Berliner Gerichte am Maßstab der Landesverfassung. Dabei verwendet er auch ein allgemeines Willkürverbot 94 . Dieses hat allerdings noch nie zur Aufhebung eines Urteils geführt. Aus den anderen Ländern ist die Rechtsprechung des Brandenburgischen Verfassungsgerichtshofs besonders interessant, weil die Brandenburgische Landesverfassung als einzige heute geltende deutsche Verfassung den Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes näher definiert hat. Art. 12 der Verfassung unterscheidet, entsprechend der neueren Rechtsprechung des BVerfG, ausdrücklich die sachwidrige Ungleichbehandlung und das allgemeine Willkürverbot als zwei Arten von Gleichheitsverstößen. Daß eine solche Kodifizierung von Rechtsprechungsergebnissen nicht unproblematisch ist, belegt eine Entscheidung des Gerichtshofs, die beides doch wieder vermischt und von „willkürlicher Ungleichbehandlung" spricht 95 . b) Willkürkontrolle innerhalb der Fachgerichtsbarkeit Die Fachgerichte unterliegen nicht nur der Willkürkontrolle des BVerfG, sie führen eine solche auch selbst durch. Dies geschieht allerdings nicht in 91 92

17 ff.

ESVGH 22, 13 (17); 31, 174 (175); 40, 75 (LS). HessStGH NJW 1999, 49 f.; zu den Konsequenzen v. Zezschwitz, NJW 1999,

93 BerlVerfGH NJW 1993, 515 ff. Honni soit qui mal y pense! Eine weitere Ausdehnung nunmehr in BerlVerfGH NJW 1999, 47 f.: auch die bundesrechtlichen Rechtsgrundlagen dürfen an den mit dem GG inhaltsgleichen Grundrechten der Berliner Verfassung überprüft werden. 94 BerlVerfGH NJW 1999, 47 f.; LVerfGE 1, 68; 2, 16; jeweils mit den WillkürFormeln aus BVerfGE 4, 1. 95 BbgVerfGH, LVerfGE 2, 105. Kritisch zu Art. 12 BbgVerf. daher Sachs, in: Simon/Franke/Winter, 95 ff. Die Intention des Verfassungsgebers war, einen möglichst modernen Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Allerdings wird hiergegen eingewandt, Schutz vor Willkür werde unter der Brandenburgischen Landesverfassung schon durch das Grundrecht auf Menschenwürde gewährleistet, Iwers, 348 ff.

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

81

einem besonderen Verfahren, sondern im Rahmen der normalen Rechtsmittel. Das gilt vor allem für das Bundesverwaltungsgericht, das über die Rechtmäßigkeit des Handelns der Verwaltung, auf das das Willkürverbot uneingeschränkt Anwendung findet, entscheidet. Es leitet das Willkürverbot vorzugsweise aus dem Rechtsstaatsprinzip ab und prüft den Gleichheitssatz sorgfältig vergleichsorientiert 96 . Auch die übrigen Fachgerichte haben die beschränkte Prüfung bei Art. 3 Abs. 1 dankbar aufgegriffen 97 . Eine willkürliche, weil besonders falsche Rechtsanwendung wird aber vorzugsweise anhand einfachgesetzlicher prozessualer Handhaben und nicht anhand des Art. 3 Abs. 1 GG beseitigt 98 . Daß seltener der Begriff der Willkür verwendet wird, belegt sicher auch eine gewisse Zurückhaltung der Fachgerichte untereinander. c) Außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit Deutliche Parallelen zur Willkür-Rechtsprechung weist die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur außerordentlichen Beschwerde analog § 567 ZPO auf. Dieses präter legem entwickelte Rechtsmittel ermöglicht es, unanfechtbare Beschlüsse aufzuheben, wenn sie „greifbar gesetzwidrig" sind, d.h. „jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehren und inhaltlich dem Gesetz fremd sind". Diese Kriterien hatte der BGH schon in einigen frühen Leitentscheidungen aufgestellt. Sie griffen allerdings über lange Zeit hinweg nie durch. Erst in den letzten Jahren hatten solche außerordentlichen Beschwerden gelegentlich Erfolg. Mittlerweile hat sich diese Rechtsprechung verfestigt und wird auch in den unteren Instanzen praktiziert 99 . Bis heute 96

BVerwGE 15, 149; 15, 226; 17, 353; 98, 286 (288); 97, 188 (202 f.); 245 (261); 85, 194 (200); 81, 159 (164). Die Verbindung von Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot betonen BVerwGE 42, 148 (156); 56, 254 (260); 57, 112 (119); NJW 1998, 1578 (1578); schulmäßig BVerwGE 95, 252 (260). 97 BGH NJW 1993, 1273; BGH NJW-RR 1992, 902; BGHSt 38, 212; BGHSt 26, 206 (210 f.); BFH NJW 1992, 1062; BGH StV 1994, 414; inklusive aller „Willkürformeln" BGHSt 42, 205 (207 f.). Die Neue Formel hat sich hier noch nicht völlig durchgesetzt; BGHZ 116, 360; weitere Nachweise in Zöller u.a., ZPO, § 281 Rdnr. 17; Günther, DRiZ 1996, 157. Der BFH hat im Zusammenhang mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sogar eine Steigerungsform der Willkür, nämlich die „krasse Willkür", kreiert (NJW 1998, 478; BFH/NV 1989, 442 (443) und BFH/NV 1994, 721). 98 BayObLG NJW 1994, 3177; BGH NJW 2000, 590; NJW 1999, 2604, NJW 1999, 1876 und NJW 1997, 204 zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; OLG Köln MDR 1983, 762; KG, MDR 1998, 735; OLG Düsseldorf, NJW 1999, 2055. 99 BGHZ 119, 372 und NJW 1993, 1856; OLG Karlsruhe NJW-RR 1996, 58 und 1536; ähnlich KG NJW-RR 1996, 58. BGH, NJW 2000, 590 und OLG Köln, NJWRR 1987, 1088, berufen sich direkt auf das Willkürverbot bzw. eine „tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit". 6 v. Lindeiner

82

3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

ist sie in der ZPO nicht geregelt. Das Willkürverbot bzw. Art. 3 Abs. 1 GG werden aber nur selten zu ihrer Rechtfertigung herangezogen. Die Verwaltungsgerichte haben sich der Auffassung der Zivilgerichte überwiegend angeschlossen; mittlerweile ist die außerordentliche Beschwerde auch im Verwaltungsprozeß anerkannt 100 . Eine außerordentliche Beschwerde im Strafprozeß lehnt der BGH bislang a b 1 0 1 . Die Literatur zeigt ähnlich unterschiedliche Reaktionen auf diese Rechtsprechung wie zur verfassungsgerichtliche Willkürkontrolle. Sie schwankt zwischen leidenschaftlicher Kritik einerseits und Akzeptanz der praktischen Ergebnisse andererseits 102 . 3. Kritische

Reaktionen der Wissenschaft

Die Wissenschaft hat die Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes als Willkürverbot seit jeher kritisch begleitet. Die Kritik verstärkte sich, als mit der vergleichsunabhängigen Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile praktische Folgerungen aus dieser Interpretation gezogen wurden. Allerdings zeigt die Reaktion der Lehre eine gewisse Inkonsequenz. Einerseits werden zwar zahlreiche rechtliche und praktische Einwände gegen die Willkür-Rechtsprechung geltend gemacht. Andererseits wird aber nur selten ihre völlige Abschaffung gefordert. Häufig heißt es, die dogmatischen Bedenken seien zugunsten einer Art „Notkompetenz" des BVerfG zurückzustellen. a) Rechtsdogmatische Kritik Nach der fast allgemeinen Meinung verstößt eine vergleichsunabhängige Willkürkontrolle gegen die Struktur des Art. 3 Abs. 1 GG: „Es ist schon logisch nicht möglich, eine Sache mit sich selbst zu vergleichen" 103 . Ein 100 BVerwGE 33, 209; 43, 367; DVB1 1994, 821; NVwZ-RR 1998, 685; ablehnend OVG Greifswald, NVwZ 2001, 211 m.w.N. 101 BGH NJW 1999, 2290 unter Verweis auf ein mögliches Vorgehen analog §§ 33 a, 311a StPO. 102 Chlosta, NJW 1993, 2160 ff.: „entfesselte Justiz"; „unbegriffen-unbegreiflich"; Büttner, FamRZ 1989, 130: „Für Greifer gilt daher: Hands off!"; Lötz, NJW 1996, 2130 ff.; Jauernig, 179. Weniger kritisch Zöller-Gummer, ZPO, § 567 Rdnrn. 18 ff. m.w.N., der aber auch vor „Willkür im Namen der Billigkeit" warnt; Baumbach, § 567 Rdnr. 7 („die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen ... decken sich insoweit mit der Rechtsprechung des BVerfG zur richterlichen Willkür"); Voßkuhle NJW 1995, 1377 ff.; Ebbeier, passim. Eine Entlastung des BVerfG, wie von Haas, 27 ff., erhofft, wird die außerordentliche Beschwerde nicht leisten können; dazu greift sie zu selten durch.

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

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allgemeines Verbot richterlicher Willkür sei allenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten, auch wenn es dann kein eigenes Grundrecht mehr wäre 1 0 4 . Als denkbare Grundlagen eines allgemeinen Willkürverbots werden ferner die Grundrechte 105 oder ein prozessuales Fairneßgebot 106 genannt - falls die Willkür-Rechtsprechung nicht durch Änderungen im einfachen Prozeßrecht überhaupt überflüssig gemacht werden könne 1 0 7 . Jedenfalls, so ein weiterer Kritikpunkt, müsse das Willkürverbot zu anderen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen subsidiär sein. Sonst werde die Effektivität des Grundrechtsschutzes reduziert, nicht erhöht; denn das BVerfG werde dazu neigen, sich auf den praktikableren Maßstab des Willkürverbots zurückzuziehen und die anderen Grundrechte zu vernachlässi-

103 Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 125; Weitzel, JuS 1976, 723; Geiger, abw.M. BVerfGE 42, 64 (79 ff); Dürig MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 337; Sachs, JuS 1997, 125. Die Ableitung aus Art. 3 Abs. 1 GG hält Diederichsen AcP 1998, 177 Fußn. 21, für „sinnwidrig"; Benda/Klein Rdnr. 602 für „sehr gekünstelt"; Basdorf, 177 ff. hält BVerfGE 59, 98 und 62, 338 für eine „erstaunliche Überstrapazierung des Art. 3 Abs. 1 GG". BVerfGE 64, 389 aber für eine „andererseits ebenso erstaunliche Vermeidungsstrategie". 104 Geiger, abw.M. BVerfGE 42, 64 (79 ff.); Schweiger, 55 ff.; Robbers, Gerechtigkeit, 40; und verstärkt seit der „Neuen Formel", Umbach/Clemens in UC, § 93 b Rdnr. 521 Fußn. 40; Gusy, JuS 1982, 35; Sangmeister NJW 1996, 827 (829); Höfling, JZ 1991, 955; Zuck, MDR 1986, 724; Mauder, 54; Wank, JuS 1980, 551; Kirchberg, NJW 1987, 1996; Georg Müller, VVDStRL 47 (1989), 43 f.; K. Vogel, HBStR, § 87 Rdnr. 93 m.w.N.; Wendt, NVwZ 1988, 786; Rodi, DöV 1989, 761; Eyermann/Fröhler/Kormann VwGO § 86 Rdnr. 30 a (der Verstoß gegen den Rechtsstaatsgrundsatz wäre „stets leicht, klar, überzeugend und ohne Jein-Entscheidung zu begründen". Ebenso Winter, FS Merz, 615, (aber „vergrundrechtlicht" durch Art. 3 Abs. 1 GG); wohl auch Herzog, MDHS, Art. 3 Anhang, Rdnr. 5, der allerdings die Konstruktion eines Abwehranspruchs gegen Willkür aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip für „nicht besonders ästhetisch" hält; Steinwedel, 40 („vielleicht"); Sachs-Osterloh, Art 3, Rdnr. 34: „zwangloser". Daß das Willkürverbot dann kein eigenes Grundrecht mehr wäre, begrüßen ausdrücklich Eyermann/ Fröhler/Kormann, VwGO § 86 Rdnr. 30a; Eyermann, 45 ff.; Schweiger, 55 ff. 105 Weitzel, JuS 1976, 725, Kromer, JuS 1984, 605; Höfling, JZ 1991, 958 ff; Kloepfer, 59; Kirchberg, NJW 1987, 1996 f.; Bryde, 319; Robbers, DVB1 1988, 755; Krauß, 250. 106 Krauß, 400; ähnlich Zuck, JZ 1986, 921 („Verbot prozessualer Willkür"). 107 Voßkuhle, Rechtsschutz, passim; Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdnr. 276 und DVB1 1979, 383; anders aber jetzt ders. in Lechner/Zuck (1997), Vor § 90; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 39. 108 Krauß, 244; Schmidt-Aßmann, in: MDHS, Art. 103 Abs. 1 Rdnr. 11; Höfling, JZ 1991, 961; Mauder, 55; Kirchberg, NJW 1987, 1992; Schumann, BVerfG, 24; Weitzel, JuS 1976, 725; Derleder WuM 1993, 517; „subsumtionsunwillige Routine", „Ganzheitsbetrachtung mit negativem Ergebnis", Stürner, JZ 1986, 532. 6*

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

Die Willkürkontrolle sei ferner systemwidrig, weil die damit beanstandeten Urteile ausschließlich gegen einfaches Recht verstießen. Das BVerfG benutze Art. 3 Abs. 1 GG lediglich dazu, sie seiner Prüfungskompetenz zu unterwerfen. Die grundsätzliche Trennung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht werde so gerade in Fällen, in denen sie ausnahmsweise klar zutage liege, aufgehoben 109 . Damit überschreite das BVerfG zugleich die Grenzen, die ihm im Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit gesetzt seien, und betreibe echte Superrevision 1 1 0 . Indem es Einzelfallgerechtigkeit über Rechtssicherheit stelle, setze es sich in Widerspruch zu den Wertungen des Prozeßrechts, das die Behebung einfach-rechtlicher Rechts verstoße abschließend regele 1 1 1 . Darüber hinaus überspiele das BVerfG in der eindimensionalen Sichtweise des Verfassungsprozesses die größere Sachnähe der Fachgerichte 112 . b) Praktische Kritik Der wohl häufigste Vorwurf an das BVerfG ist aber, daß die Kriterien, die es bei der Willkürkontrolle anwendet, vage und unbestimmt seien. Daher entscheide das Gericht letztlich nach eigenem Belieben und gefährde Rechtssicherheit und Rechtsfrieden 113 . Denn das Willkürverbot sei nicht justitiabel, die Willkür-Rechtsprechung letztlich eine „allgemeine Gerechtigkeitsjudikatur" 114 . 109

Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 90; Manssen, 192; Schiaich, Rdnr. 290 „vorgeschobener Prüfungsmaßstab"; Heun, Grenzen, Fußn. 99; Winter, FS Merz, 620; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 37; Burmeister, DVB1 1969, 605 ff. 110 Weyreuther, DVB1 1997, 930; bei der Willkürkontrolle ist „ein prinzipieller Unterschied zur Tätigkeit eines Revisionsgerichts nicht mehr auszumachen", Winter, FS Merz, 621. 111 Deubner, NJW 1980, 263; Berkemann JR 1980, 268; Seetzen, NJW 1984, 347 ff.; Kahlke, NJW 1985, 2231 f.; Sendler, NJW 1995, 3293: „Sucht nach Einzelfallgerechtigkeit, wie sie sein »Dritter Senat4 versteht"; ders., NJW 1994, 1519. 112 Hesse, JZ 1995, 268; Krauß, 263; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 37; AK-Stein Art. 3 Rdnr. 3. Auch das BVerfG meint gelegentlich, die Fachgerichte seien „sachnäher" zur Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts (BVerfGE 40,88 (94)). 113 Weyreuther, DVB1 1997, 930; Winter, FS Merz, 624; Stürner, JZ 1986, 532; Höfling, JZ 1991, 961; Stern, III/l, 1496; Schumann, BVerfG, 25: „beliebige Austauschbarkeit des Prüfungsmaßstabs". AK-Stein, Art. 3 Rdnr. 30; Gerhardt, ZZP 95 (1982), 475; „Verfassungsroulette 44, Leisner, NJW 1989, 2448. Vgl. auch BGH NJW 1997, 205 (207): „Ungeachtet der klaren Maßstäbe des BVerfG zum Willkürbegriff kann es im Einzelfall erheblichen Schwierigkeiten begegnen zu bestimmen44, ob Willkür vorliegt. 114 H. P. Ipsen, 147; Waldner, ZZP 98 (1985), 206; Kirchberg, NJW 1987, 1990; Schiaich, Rdnr. 291; Kromer, JuS 1984, 605; Mauder, 53 f.; Dreier-Heun, Art. 3

D. Weitere Aspekte der Willkür-Rechtsprechung

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Auch die einzelnen Willkürkriterien werden beanstandet. Das betrifft schon die Feststellung des BVerfG, daß das Fachgericht einfaches Recht fehlerhaft angewandt habe 1 1 5 . Es könne nie mit der erforderlichen Sicherheit gesagt werden, ob ein Urteil richtig oder falsch sei 1 1 6 . Ferner wird kritisiert, daß das BVerfG Entscheidungen aufhebt, die die Beschwerdeführer nur geringfügig belasten 117 . Auch die Evidenz als Willkürkriterium sei abzulehnen; dann hänge die Entscheidung davon abhängig, wieviel der Senat oder die Kammer vom jeweiligen Rechtsgebiet verstünden. Willkür liege überhaupt nur dann vor, wenn das Fachgericht neben dem Willkürverbot noch andere verfassungsrechtliche Wertentscheidungen verkannt habe 1 1 8 . Schließlich sei die Willkürkontrolle zumindest mitursächlich für die Belastung des BVerfG mit Verfassungsbeschwerden. Denn wegen ihrer vagen Kriterien sei eben auch eine Stattgabe nie ganz ausgeschlossen. Wer vor einem Fachgericht unterlegen sei, werde das gegen ihn ergangene Urteil meist ohnehin für sachlich schlechthin unhaltbar halten und daher das BVerfG anrufen 119 . 4. Zustimmung zur Willkür-Rechtsprechung Insgesamt aber hat die Literatur die Rechtsprechung des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür weitgehend akzeptiert. Das gilt weniger für die Rdnr. 53; Krauß, 406 resümiert: „Das Willkürverbot taugt nicht als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Überprüfung eines Zivilurteils". 115 Zu BVerfGE 42, 64: Stöber, RPfl 1976, 392, anders aber Vollkommer, RPfl 1976, 395; E. Schneider, MDR 1977, 356. Zu BVerfGE 62, 189: Lappe, RPfl 1983, 84. Zu BVerfGE 66, 324: Wagenitz, FamRZ 1986, 20. 116 Benda/Klein, Rdnr. 598; ähnlich Sangmeister NJW 1996, 828; Winter, FS Merz, 623; Weyreuther DVB1 1997, 925 (926 mit Fußn. 18). 117 Diederichsen, Der Staat 34 (1995), 39 („lächerlich"); Benda/Klein Rdnr. 604, 606; Sendler, NJW 1994, 1519; Roth, AöR 1996, 545 ff.; Schumann hingegen verteidigt das BVerfG (17: „minima non curat praetor" dürfe hier nicht gelten). - Eine generelle „Banalisierung der Grundrechte" durch Entscheidungen wie VGH Mannheim DöV 1978, 509 (Badekappenzwang in Freibädern); BVerwGE 31, 236 (ö und oe in Telephonrechnungen); BVerwGE 82, 29 (30) (Zusendung einer Werbebeilage zusammen mit dem Postgirokontoauszug)) kritisieren Schulte, DVB1 1996, 1020; Hesse, JZ 1995, 268. Doch bedeutet es noch kein „Grundrecht auf Taubenfüttern" (so aber Knies, FS Stern, 1158), wenn die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) alles menschliche Tun umfaßt (richtig Sachs-Murswiek, Art. 2 Rdnr. 50); die Folgen sind eher prozessualer Art. 118 Die Verletzung anderer Wertentscheidungen verlangen Winter, FS Merz, 625; Werner Böckenförde, 53 f.; eine solche der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte Kromer, JuS 1984, 605; Weitzel, JuS 1976, 725; Kirchhof, Verschiedenheit, 59 ff. bezieht die „Wertungen der gesamteuropäischen Rechtstraditionen" mit ein. 119 Schultz, MDR 1986, 546; Schumann, NJW 1982, 1615; Kirchberg NJW 1992, 3201; Benda NJW 1997, 560.

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3. Kap.: Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür

rechtliche Begründung als für ihre praktischen Ergebnisse. Bezeichnend hierfür ist die Auffassung von Schiaich, der meint, Art. 3 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab sei zwar nur vorgeschoben. Aber angesichts eines völligen Versagens der Gerichte nehme das BVerfG eine gute Gelegenheit wahr, offenbare Unrichtigkeiten zu beseitigen; „Kritik dafür verdient es dafür nicht" 1 2 0 . Noch deutlicher stellen einige Stimmen in der Wissenschaft, die den Prüfungsumfang des BVerfG bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile generell neu bestimmen wollen, dogmatische Bedenken gegenüber der Willkür-Besprechung zurück. Sie nehmen manchmal erhebliche Brüche in der eigenen Argumentation in Kauf, um eine Grundkontrolle gerichtlicher Entscheidungen aufrechtzuerhalten 121 .

E, Zusammenfassung Die Rechtsprechung des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür ist heute ein fester Bestandteil der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle. Dabei prüft das BVerfG die Willkürlichkeit von Gerichtsentscheidungen und sichert so einen Mindeststandard an richtiger Rechtsanwendung. Die Kriterien, die das BVerfG dabei verwendet, sind allerdings unbestimmt und vage. Im Grunde läßt sich aus ihnen nur eine tatsächliche Voraussetzung des Verbots richterlicher Willkür ableiten: die einfachrechtliche Rechtswidrigkeit einer Gerichtsentscheidung. Die nähere Prüfung steht im Ermessen der Richter des BVerfG. Wo die Grenze zwischen falschen und willkürlichen Urteilen liegt, ist ein Arkanum des Gerichts 122 , und es darf bezweifelt werden, ob schärfere Konturen angesichts der rechtlichen und begrifflichen 120 Schiaich, Rdnr. 290 f.; ebenso Stern, III/2, 1360 f.; Berkemann, DVB1 1996, 1037; Ossenbühl, FS Ipsen, 141; Bryde, 313; Kirchberg, NJW 1987, 1990; Franke, NJW 1986, 3050; Zuck, JZ 1986, 924 Fußn. 48; Lechner/Zuck, Vor § 93 a Rdnr. 46; Roth, AöR 1996, 574 f. („unverzichtbar"); Löwer, HBStR § 56 Rdnr. 165 „dogmatisch nicht vermittelbarer, aber pragmatisch wertvoller Kontrollzugriff auf einfaches Recht"; Robbers, NJW 1998, 939; Krey, JZ 1995, 225 „immerhin vertretbar"; Krugmann, JuS 1998, 12; Huster, 51 meint zwar, das BVerfG verstoße hier „gegen alle methodischen Regeln der Verfassungsinterpretation", attestiert ihm aber immerhin, dies führe in Einzelfällen zu einem befriedigendem Ergebnis. 121 Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 38, bei „grobem prozessualen Unrecht"; Waldner bei „Entscheidungen, die nur unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots verfassungsrechtliche Relevanz gewinnen können" (ZZP 98, 202 ff.). Wank, JuS 1980, 550 will eine „Grundkontrolle" zulassen, wenn es einer Entscheidung an einer „sachlichen, den anerkannten Regeln der juristischen Methodenlehre entsprechenden Argumentation" fehle. Nicht bruchlos auch Bender, 398 und Bryde, 319. Wohl nur Menger, VerwArch 1980, 175 ff. hält die Willkür-Rechtsprechung (ohne weitere Begründung) dogmatisch für unproblematisch; s. aber auch Schumann, Verfassungsbeschwerde, 209.

E. Zusammenfassung

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Offenheit des Willkürverbots überhaupt möglich sind. Der Unterschied zwischen rechtswidrigen und willkürlichen Gerichtsentscheidungen ist rein quantitativ. So erweist sich das Willkürverbot als Einbruchsteile des einfachen Rechts in die Verfassung. Aber nicht nur die konkrete Anwendung, auch die dogmatische Herleitung des Verbots richterlicher Willkür unterliegt Zweifeln. Sein Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG war nur solange einsichtig, wie dieser selbst ausschließlich als Willkürverbot verstanden wurde. Seit die neuere Rechtsprechung des BVerfG mit der Neuen Formel den spezifisch vergleichsbezogenen Inhalt dieses Grundrechts deutlicher herausstellt, wachsen die Bedenken gegen ein allgemeines Willkürverbot. Die große Bedeutung dieser Rechtsprechung in der Praxis verschärft die Problematik des Verbots richterlicher Willkür. Es bedarf der Überprüfung mit den Mitteln der Verfassungsinterpretation.

122

So die treffende Bezeichnung Böckenfördes für das „spezifische Verfassungsrecht" (Der Staat 29 (1990), 9).

4. Kapitel

Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot? Enthält das Grundgesetz - wie es das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung annimmt - ein Verbot richterlicher Willkür? Diese Frage zu stellen heißt beinahe schon, sie zu bejahen. Es erscheint selbstverständlich, daß eine rechtsstaatliche Verfassung wie die der Bundesrepublik Willkür der Gerichte verhindern muß. Andererseits waren sowohl die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot als auch dessen praktische Anwendung bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile von Anfang an umstritten. Heute sind sie es vielleicht mehr denn je: seit die Neue Formel den gleichheitsbezogenen Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG wieder in den Vordergrund gerückt hat, sind auch die Zweifel an der Willkürtheorie erstarkt. Sie bedarf daher der Überprüfung. Die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG als allgemeines Willkürverbot hatte zur direkten Folge, daß Willkür der Gerichte untersagt war. Denn der allgemeine Gleichheitssatz bindet die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG). Auf diese Weise hat die ältere Interpretation des Gleichheitssatzes, zurückgehend auf Gerhard Leibholz, die Herleitung eines Verbots richterlicher Willkür begründet. Sie soll im folgenden Kapitel einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Trotz der weitreichenden Folgen, die diese Interpretation in theoretischer wie in praktischer Hinsicht hatte, hat das BVerfG nämlich nie begründet, warum es sich ihr nach 1951 angeschlossen hat. Die Wissenschaft hat die Rechtsprechung des BVerfG eher hingenommen, als eigene Begründungen dafür zu erarbeiten. Das macht es auch heute noch erforderlich, zur näheren Untersuchung der „herkömmlichen" verfassungsrechtlichen Begründung des Willkürverbots auf die Arbeiten der „Neuen Lehre" der Weimarer Zeit zurückzugreifen. Dabei sind allerdings auch die Modifikationen, die das BVerfG an dieser Auslegung vorgenommen hat, zu beachten. Denn es ist bei der Anwendung des Willkürverbots im Rahmen der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile in verschiedener Hinsicht vom „klassischen" Willkürverbot abgewichen. Inbesondere war es erst das BVerfG, das eine Verletzung des Willkürverbots prüfte und feststellte, ohne verschiedene Urteile miteinander zu vergleichen. Dies und einige andere Modifikationen, die das BVerfG bei der

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der Willkürinterpretation durch

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Willkürprüfung im Rahmen der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile im Vergleich zur älteren Lehre vornahm, bedürfen möglicherweise einer eigenen Begründung. Daher ist in einem zweiten Schritt zu untersuchen, ob auch die derzeitige Willkürkontrolle bei der Urteilsverfassungsbeschwerde noch mit den Argumenten der „Neuen Lehre" gerechtfertigt werden kann.

A. Begründung der Willkürinterpretation durch Leibholz Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG zum Verbot richterlicher Willkür ist die Auslegung des Gleichheitssatzes als allgemeines Willkürverbot. Sie geht auf die „Neue Lehre" der Weimarer Zeit zurück. Es war vor allem Gerhard Leibholz, der in seiner 1925 erschienenen Dissertation über Art. 109 Abs. 1 WRV („Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich") diese Lehre in Deutschland eingeführt hatte. Dies war nicht das erste Mal, daß eine Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz und dessen Auslegung als Willkürverbot vertreten wurden. Leibholz' Doktorvater Triepel hatte 1924 in einem Gutachten die Auffassung geäußert (S. 30) „Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet die Forderung, daß die einzelnen Rechtssätze alles als gleich zu behandeln haben, was ungleich zu behandeln Willkür bedeuten, d.h. auf dem Mangel einer ernsthaften Erwägung beruhen würde. Das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz wird durch Unterscheidungen verletzt, für welche sich entweder kein oder doch kein bei vernünftig und gerecht denkenden Menschen verfangender Grund anführen läßt." Leibholz verwendete in seiner Dissertation weitgehend dieselben Argumente wie Triepel. Er begründete diese These aber weit ausführlicher als dieser. Zudem veröffentlichte Leibholz neben der „Gleichheit vor dem Gesetz" mehrere Aufsätze zum Gleichheitssatz, in denen er seine Ansicht wiederholte und den jeweiligen Stand der Debatte erörterte 2. Der Gedanken1

Das Gutachten Triepels zur Verfassungsmäßigkeit der Goldbilanzenverordnung erschien kurz vor Leibholz' Dissertation (am 31.3.1924, Leibholz wurde am 8.12.1924 promoviert). Leibholz meinte zwar, er sei von Triepel „inspiriert" worden (in: Recht, Philosophie und Politik, S. 6, vgl. Wiegandt, 20 Fußn. 31), zitiert ihn aber in der „Gleichheit" kaum (im Hauptteil nur auf S. 34, 72, 77). In seiner Entscheidung über die GoldbilanzenVO ließ RGZ 113, 6 (13) dann die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz offen und verneinte jedenfalls Willkür. S. dazu Wendenburg, 143, Wiegandt, 142 ff.; Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 7 Fußn. 1. 2 Leibholz nahm zwar nicht an der Staatsrechtslehrertagung 1926 teil, auf der die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz diskutiert wurde; er habilitierte sich erst 1928. Er veröffentlichte aber noch mehrere Beiträge zur Gleichheitsdiskussion in Verwaltungsarchiv XXXI, 1926, 234 f.; AöR 12 (1927), 1-36; AWRP 22 (1928/1929), 489-^95; AöR 19 (1930), 428 ff. und in einem Referat auf dem Juri-

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4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

gang der „Neuen Lehre" soll daher anhand ihrer grundlegenden Arbeit, der „Gleichheit vor dem Gesetz" von Gerhard Leibholz, nachgezeichnet werden.

I. Gedankengang in der „Gleichheit vor dem Gesetz" Bei seiner Interpretation des Art. 109 Abs. 1 WRV befaßte Leibholz sich zunächst mit der Frage, welche staatlichen Gewalten durch dieses Grundrecht verpflichtet sein sollten. Leibholz lehnte die bisher ganz herrschende Auslegung, wonach der allgemeine Gleichheitssatz nur ein Gebot gleicher Rechtsanwendung, also nur eine Forderung an Gerichte und Verwaltung enthalte, nicht ab. Er meinte aber, darin könne er sich nicht erschöpfen; ansonsten laufe er neben dem Legalitätsprinzip leer. Zudem würde ein über Art. 109 Abs. 1 WRV judizierenden Gerichtshof sonst zum eigentlichen Gesetzgeber und - in der heutigen Terminologie - zur „Superrevisionsinstanz" (S. 77 f.). Leibholz schloß aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Art. 109 Abs. 1 WRV sowie aus der Tatsache, daß auch die in der Schweiz und den USA herrschenden Auffassungen den Gesetzgeber an den Gleichheitssatz banden, daß dieser auch in Deutschland für alle staatlichen Gewalten, einschließlich des Gesetzgebers, gelten müsse (S. 34 ff.). Sodann erörterte Leibholz den Inhalt des Gleichheitssatzes, und zwar zunächst einheitlich für alle staatlichen Gewalten. Er diskutierte und verwarf einige bisher vertretene Interpretationen: die im französischen Verwaltungsrecht vertretene quantitative Gleichheit (S. 38 f.); die Forderung nach grundsätzlicher Rechtsgleichheit mit verfassungslegitimierten Ausnahmen, wie sie in der Schweiz anerkannt war (S. 41 ff.); die Orientierung an der Billigkeit im französischen Entschädigungsrecht (S. 44 f.). Bei seiner nun folgenden eigenen Auslegung ging er zunächst davon aus, daß der Gleichheitssatz eine „verhältnismäßige Gleichbehandlung" verlange. Das Recht müsse die Menschen also entsprechend ihrer tatsächlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede behandeln (S. 45 ff.). Wann letztere für eine gleiche oder ungleiche rechtliche Behandlung ausschlaggebend sein dürften, lasse sich aber nicht dem Gleichheitssatz selbst entnehmen. Es folge vielmehr aus der Bindung der Rechtsordnung an Rechtsidee und Gerechtigkeit (S. 53 ff.). Leibholz schloß sich hier Stammlers Lehre vom stentag 1931 (Gleichheit, 2. Auflage, 216 ff.). Daß er heute allgemein als Urheber der Lehre vom Willkürverbot gilt („Hauptvertreter", H. P. Ipsen, 119; „eigentlicher Apostel", Hill, 107; „wesentlicher Promotor", Hecker, AöR 121 (1996), 313), ist wohl in erster Linie auf den großen Einfluß zurückzuführen, den Leibholz in der Bundesrepublik als Verfassungsrichter und Hochschullehrer hatte, während Triepel 1949 starb.

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der Willkürinterpretation durch

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„richtigen Recht" an, die Burckhardt in Verbindung mit dem Gleichheitssatz der Schweizerischen Bundesverfassung gebracht hatte. Der Begriff der Gerechtigkeit ließe sich allerdings nicht abschließend definieren, weil er zeitlich und kulturell jeweils unterschiedlich verstanden worden sei (S. 56 ff.). Daher könne bei der Frage, ob ein staatlicher Akt dem Gebot verhältnismäßiger, gerechter Gleichbehandlung entspreche, nicht darauf abgestellt werden, ob er gerecht sei. Eine solche „positive" Prüfung könne niemals zu einem weithin akzeptierten Ergebnis führen. Vielmehr müsse geprüft werden, ob ein Akt willkürlich sei; denn Willkür sei der gegensätzliche Korrelatbegriff zur Gerechtigkeit und gleichbedeutend mit deren völligem Fehlen (S. 72 ff.). Willkür in diesem Sinne liege dann vor, wenn für die staatliche Maßnahme „schlechterdings überhaupt kein oder doch nur ein in der Hauptsache unvernünftiger Grund" angeführt werden könne. Über eine solche Wertung so meinte Leibholz, sei viel eher Einigkeit zu erzielen als über die Gerechtigkeit eines staatlichen Aktes. Eine solche Willkürprüfung sei auch praktisch durchführbar. Die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts und des Supreme Court bewegten sich in genau der gleichen Richtung. Sie überprüften staatliche Akte anhand des Gleichheitssatzes ebenfalls nur auf die Willkürlichkeit von Differenzierungen und betonten damit zugleich ihre Zurückhaltung gegenüber den anderen staatlichen Gewalten (S. 78-82; Beispiele S. 101 ff., 112 ff.). Daher berechtige Art. 109 Abs. 1 WRV als subjektives öffentliches Recht (S. 115 ff.) den Einzelnen zur Abwehr willkürlicher Rechtsetzung durch den Gesetzgeber und willkürlicher Rechtsanwendung durch vollziehende Gewalt und Justiz (S. 118 ff.).

II. Willkürbegriff und Willkürprüfung bei Leibholz Anschließend bestimmte Leibholz den Willkürbegriff näher. Als gegensätzlicher Korrelatbegriff der Gerechtigkeit sei er zwar wie diese selbst wandelbar und könne daher nicht in eine material gebundene Definition gepreßt werden. Aber jede Rechtsordnung müsse solche nicht formulierbaren Elemente in sich aufnehmen. 1. Objektive

Willkür

als qualifizierte

Form der Unrichtigkeit

Leibholz definierte Willkür als eine gesteigerte Form der Unrichtigkeit. Eine solche quantitative Unterscheidung sei zwar logisch nicht berechtigt. Gemessen am Rechtsideal könne es nur Recht und Unrecht geben. Sie sei aber aus Gründen der Zweckmäßigkeit gerechtfertigt. Dabei komme es - so die zentrale These - für das Vorliegen von Willkür darauf an, ob für einen

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4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

staatlichen Akt eine sachliche Begründung möglich sei. Was falsch, aber noch sachlich begründbar sei, sei nur unrichtiges Recht; willkürlich sei, was sich sachlich überhaupt nicht begründen lasse. Ersteres „wäre etwa der Fall, wenn die Norm sich infolge ihrer zu weiten Fassung auf Tatbestände erstreckt, die infolge ihrer Verschiedenheit nicht gleichbehandelt werden dürfen, oder wenn umgekehrt infolge der zu engen Fassung Fälle durch die Norm nicht getroffen werden, die an sich der gleichen Feststellung unterliegen sollten; eine solche Feststellung hat stets nur rechtspolitische Bedeutung. Wenn sich andererseits ein vernünftiger Grund für das in der Norm für maßgeblich erachtete Kriterium überhaupt nicht finden läßt, wenn der von dem Rechtssatz normierte Tatbestand mit der an denselben geknüpften Rechtsfolge schlechthin unvereinbar ist, wenn überhaupt kein innerer Zusammenhang zwischen der getroffenen Bestimmung und zwischen (sie) dem durch dieselbe erstrebten Zweck besteht, oder wenn ein solcher zwar besteht, aber in einem völlig unzulänglichen Verhältnis, so kann man diese Norm als willkürlich charakterisieren." (S. 76) Entscheidend seien dabei nicht die Gründe, die tatsächlich für den Erlaß des staatlichen Aktes ausschlaggebend gewesen waren. Vielmehr komme es auf die „objektiv erschließbare Motivation" an, also auf die Gründe, die allgemein dafür und dagegen sprächen. Denn die persönliche Motivation des Urhebers spiele auch sonst keine Rolle für die Wirksamkeit eines Rechtsaktes. Sie müsse vor allem dann irrelevant sein, wenn ein unsachlich motivierter Akt objektiv rechtmäßig sei. Natürlich sei unter anderem auch die tatsächliche Motivation in die Prüfung einzubeziehen, etwa dort, wo der Wortlaut eines Aktes keinen Aufschluß über seine Willkürlichkeit gebe. Eine mißbräuchliche Begründung nachzuweisen, sei aber oft nur schwer möglich und im übrigen auch nicht erforderlich (S. 92 ff.).

2. Willkür

des Gesetzgebers

Diese einheitliche Definition der Willkür als „objektives Fehlen jedes denkbaren sachlichen Grundes" sollte im Prinzip für alle staatlichen Rechtsakte gelten. Sie wirkte sich aber bei den einzelnen Gewalten unterschiedlich aus. Leibholz meinte, weil der Spielraum des freien Ermessens für den Gesetzgeber größer sei, könnten hier auch die Kriterien nur ganz allgemein sein: einem Gesetz müsse „unter objektiver Würdigung aller Umstände im Widerspruch zu unserem Rechtsbewußtsein ein objektiv erschließbares Motiv zugrunde liegen, dem Maßgeblichkeit für die Determinierung des Gesetzgebers im konkreten Fall durch die Verfassung nicht eingeräumt" sei (S. 98), und konkretisierte dies noch dahingehend, ein solches Motiv sei in der Regel ein personelles (S. 106). Willkür könne aber auch dann vorliegen, wenn das Gesetz kein konkretes Verfassungsprinzip verletze. Denn neben den Weitentscheidungen der Verfassung stehe die „offensichtliche, objektiv er-

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der Willkürinterpretation durch

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schließbare, inhaltliche Unvereinbarkeit mit den Anforderungen der Gerechtigkeit". Auch ein Verstoß gegen diese Anforderungen mache ein Gesetz willkürlich. So öffnete Leibholz seine Definition materialen, überpositiven Wertungen 3. Die Frage, wer dazu berufen sein sollte, solche Wertungen mit rechtlich verbindlicher Wirkung vorzunehmen, beantwortete Leibholz, in dem er ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber dem positiven Gesetzesrecht bejahte. Leibholz übertrug also den Gerichten die Befugnis, zu entscheiden, ob ein Gesetz dem allgemeinen Rechtsbewußtsein entsprach oder nicht. 3. Willkür

bei der Rechtsanwendung

In bezug auf die Gesetzesanwendung zog Leibholz andere Folgerungen aus seiner Definition der Willkür. Rechtsprechung geschieht in der Regel anhand von gesetzlichen Vorschriften, Urteile werden an ihren Rechtsgrundlagen gemessen. Folgerichtig meinte Leibholz (S. 90 ff.): „Die Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage, wann im konkreten Fall eine Entscheidung, eine Verfügung als willkürlich bezeichnet werden kann, kann somit nicht einheitlich gegeben werden, sondern hängt von der zugrundeliegenden Ermächtigungsnorm ab" (S. 96 f.). Da diese aber einen Rechtsakt nie völlig determiniere, entscheide letzten Endes „das aus dem Kulturbewußtsein herausgeschnittene Rechtsbewußtsein der zu einer Einheit zusammengefaßten Gemeinschaft, das sich in den zum Schutze der individuellen Freiheit und zur Wahrung der Rechtsordnung bestellten Gerichten äußert" (S. 96). Trotz seiner Bindung an das positive Recht sollte der Willkürbegriff also auch bei der Kontrolle der Rechtsanwendung durch Gerechtigkeitswertungen der Gerichte ausgefüllt werden. Das wirkt sich z.B. dann aus, wenn die Rechtsgrundlage selbst willkürlich oder unrichtig ist. So könne, nach Leibholz, die Nicht-Anwendung einer willkürlichen Norm dann nicht als willkürlich bezeichnet werden, wenn die Entscheidung im Ergebnis tatsächlich gerecht sei. Und es sei „selbst das Verhalten eines Richters, der unrichtigem, aber nicht willkürlich gesetztem Recht den Gehorsam aufkündigt, nur dann als willkürlich zu beurteilen, wenn der Entscheid sich selbst wieder inhaltlich als ein mit unserem Rechts3

Leibholz, AöR 12 (1927), 1 ff. (= Gleichheit, 2. Auflage, 163 (193)). Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus hat Leibholz dies noch verstärkt: in DVB1 1951, 193 (197) vertrat er „die Existenz gewisser fundamentaler Prinzipien und überstaatlicher Normen, die keine Rechtsordnung mißachten darf" und meinte, erst diese würden „den Willkürbegriff zu einem mit einem bestimmten Inhalt begabten Rechtsbegriff machen".

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4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

bewußtsein überhaupt nicht vereinbarer reiner Willkürakt darstellen würde" (S. 98). Damit stellte Leibholz den Begriff der Willkür und das in den Gerichten verkörperte „allgemeine Rechtsbewußtsein" über das positive Gesetzesrecht.

B. Umsetzung der Willkürinterpretation durch das BVerfG Bei der Untersuchung, ob die klassischen Argumente der „Neuen Lehre" die Interpretation des Gleichheitssatzes als allgemeines Willkürverbot tragen, muß berücksichtigt werden, daß das BVerfG diese Interpretation nicht unverändert übernommen hat. Es hat vielmehr bei ihrer Umsetzung in die Praxis einige Modifikationen vorgenommen. Diese Modifikationen sind keineswegs unwesentlich; sie prägen seine Rechtsprechung zum Verbot richterlicher Willkür ganz entscheidend. Sie bedürfen daher möglicherweise einer besonderen Begründung.

I. Willkürbegriff und Willkürprüfung Unterschiede zur „Neuen Lehre" Das BVerfG definiert Willkür, wie Leibholz, als eine gesteigerte Form der Unrichtigkeit. Es mißt die Vereinbarkeit staatlicher Akte mit dem Gleichheitssatz daran, ob hinreichende sachliche Gründe sie rechtfertigen. Bei der praktischen Durchführung der allgemeinen Willkürkontrolle bestehen aber Unterschiede zwischen der „Neuen Lehre" und der Rechtsprechung des BVerfG. Denn dieses geht methodisch nicht im Wege einer Vergleichsprüfung vor. Zudem untersucht es bei der Kontrolle von Gerichtsurteilen allein die veröffentlichten Urteilsgründe und mißt diese an den im Urteil genannten einfachrechtlichen Rechtsgrundlagen. Die „Neue Lehre" hingegen äußerte sich nicht klar zu der Frage, ob ein Willkürverstoß im Wege eines Vergleichs oder isoliert festzustellen sei, setzte für Willkür voraus, daß generell kein denkbarer Grund den staatlichen Akt rechtfertigen könne, und prüfte Gerichtsentscheidungen nicht nur am Maßstab des einfachen Rechts, sondern zusätzlich an dem des allgemeinen Rechtsbewußtseins.

II. Fehlende Vergleichsprüfung Die Praxis des BVerfG, bei der Willkürprüfung keinen Vergleich zwischen verschiedenen Urteilen oder verschiedenen Rechtsadressaten vorzunehmen, läßt sich nicht auf die „Neue Lehre" zurückführen. Deren Veröffentlichungen lassen nicht klar erkennen, ob sie den Gleichheitssatz nur

B. Umsetzung der Willkürinterpretation durch das BVerfG

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als vergleichendes oder auch als ein allgemeines Willkürverbot verstand. Das Gutachten Triepels betonte noch deutlich die Vergleichsstruktur des Art. 109 Abs. 1 WRV. Leibholz hingegen äußerte sich ambivalent. In der „Gleichheit vor dem Gesetz" sprach er teils davon, daß an diesem Grundrecht nur Differenzierungen und Gleichbehandlungen zu messen seien, dann wieder erörterte er allgemein die Willkürlichkeit „staatlicher Maßnahmen" 4 . Die wissenschaftliche Diskussion der Willkürlehre kreiste um andere Aspekte als ihren Vergleichsbezug. Soweit die Gerichte bereits eine Verletzung des Willkürverbots untersuchten, taten sie das klar in Form eines Vergleiches verschiedener Tatbestände5. Da der fehlende Vergleichsbezug ein sehr naheliegender Einwand gegen die Willkürlehre ist, spricht dies dafür, daß nicht schon Leibholz die Willkürprüfung von einem Vergleich löste, sondern daß dies erst in BVerfGE 4, 1 geschah6. Es ist daher besonders nachteilig, daß der Erste Senat den Verzicht auf eine Vergleichsprüfung weder in dieser Entscheidung noch später begründete. Auch das BVerfG hatte vorher eine Verletzung des Gleichheitssatzes durch die Rechtsprechung im Wege eines Vergleiches verschiedener Rechtsbetroffener geprüft 7 . Es scheint, als habe der Senat sich hier in erster Linie vom absoluten Begriff der Willkür leiten lassen und wenig Rücksicht auf dessen Verbindung zu Art. 3 Abs. 1 GG genommen. 7. Kongruenz von vergleichender

und absoluter Willkür?

Allerdings ist denkbar, daß sich vergleichende und absolute Willkür im Ergebnis ohnehin entsprechen. Dann stünde das vergleichsunabhängige Willkürverbot zwar immer noch im Widerspruch zur Vergleichsstruktur des Gleichheitssatzes. Eine Vergleichsprüfung wäre dann aber ein entbehrlicher Umweg bei der Willkürprüfung und könnte unter Umständen entfallen. Voraussetzung für eine Kongruenz von vergleichender und absoluter Willkür ist zunächst, daß beide denselben Anwendungsbereich haben. Das 4 Vergleichsbezug etwa auf S. 76, 78 f., 82 f., 84, 106, 111; neutral S. 77, 92, 95; er fehlt etwa auf S. 83, 84 und in seiner Definition der Gleichheit vor dem Gesetz als „die nach dem jeweiligen Rechtsbewußtsein nicht willkürliche Handhabung des an die Adresse von Rechtssubjekten gerichteten Rechts durch den Gesetzgeber und die Vollziehung (Justiz und Verwaltung", S. 87. In DVB1 1951, 193 ff. tritt die Vergleichsstruktur aber deutlich zutage (S. 194, 195, 199). 5 RGZ 128, 165 (170): „Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz kann nur die Bedeutung haben, daß Tatbestände vom Gesetz als gleich zu behandeln sind, die ungleich zu behandeln Willkür bedeuten würde". 6 Ebenso Wiegandt, 114 f.; anders allerdings Bender, 398, dessen Verweis auf Triepel aber nicht zutrifft. Dieser verlangte in VVDStRL 3 (1927), 52 ausdrücklich für „Differenzierungen" einen vernünftigen Grund. 7 BVerfGE 1, 118 (140 f.); 2, 336 (339).

96

4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

erscheint zweifelhaft, weil das absolute Willkürverbot für jeden Rechtsakt schlechthin gilt, während das vergleichende nur Differenzierungen und Gleichbehandlungen betrifft. 2. Sachliche oder persönliche Rechtsgleichheit Dieses Problem berührt die Unterscheidung zwischen sachlicher und persönlicher Rechtsgleichheit, ein klassisches Problem des Gleichheitssatzes. Die Frage, ob dieser nur eine gleiche Behandlung von Personen - die persönliche Rechtsgleichheit - oder auch eine gleiche Behandlung gleicher Sachverhalte verlange, war gerade zur Zeit der WRV intensiv diskutiert worden. Sie wurde von der Neuen Lehre, auch von Leibholz selbst, unterschiedlich beantwortet. Meist wurde aber vertreten, daß diese Abgrenzung gar nicht durchzuführen sei, weil letztlich jede Rechtsnorm auch Personen treffe 8 . Dies ist auch heute noch die herrschende Auffassung. Das BVerfG war lange nicht auf diese Frage eingegangen, setzte aber stillschweigend voraus, daß Art. 3 Abs. 1 GG auch Differenzierungen zwischen Sachverhalten betreffe 9. Dies ist auch die überwiegende Auffassung in der Literatur 10 . 8 Triepel, VVDStRL 3 (1927), 51; Stier-Somlo in Nipperdey, 193; Leibholz (AöR 12 (1927), 1 ff.), der in Gleichheit, 84, 86 noch gemeint hatte, Art. 109 Abs. 1 WRV betreffe nur staatliche Akte, die „in irgendeiner Weise auf das Verhalten der Individuen Bezug nehmen" (s. aber auch 152 ff. zum Willkürverbot im Bundesstaat). Persönliche Rechtsgleichheit vertraten nur v. Hippel, AöR 10 (1926), 124 ff., 143 ff.) und Nawiasky VVDStRL 3 (1927), 30-43. Noch auf dem Symposion zu Leibholz' 80. Geburtstag (1982) brach zwischen Leibholz und Geiger ein offener Streit zu dieser Frage aus, der aber wohl auf einem Mißverständnis von Geigers Ausführungen beruhte; Leibholz lehnte es ab, den Gleichheitssatz (105 f.) „sozusagen zu personalisieren", Geiger war es aber nur um die Vergleichsstruktur des Art. 3 Abs. 1 GG gegangen (dort 100 ff. und abw.M. BVerfGE 42, 64 (79 ff. (81)). Zum Verhältnis zwischen Leibholz und Geiger noch Häberle, AöR 107 (1982), 12; Ley, 532. 9 St. Rspr. seit BVerfGE 1, 14, Leitsatz 18, wo Differenzierungen zwischen Ländern (52 f.), aber auch zwischen den Abstimmungsberechtigten in den drei alten Ländern (53 ff.) durch die Neuordnungsgesetze geprüft wurden. 10 Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 306; Werner Böckenförde, 35, Eyermann, 48, Winter, FS Merz, 614 f. Die Literatur definiert persönliche und sachliche Rechtsgleichheit z.T. anders: teils geht es um persönliche oder um sachliche Differenzierungsgründe (Rennert, NJW 1990, 12; s. aber Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 310); danach, ob derselbe oder ob verschiedene Bürger ungleich behandelt werden (Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 468); ob an Eigenschaften angeknüpft wird, die man nicht ändern kann (Huster, 26) oder die generell gruppencharakteristisch sind (Sachs, JuS 1997, 127); ob die Menschen nach Eigenschaften oder nach Situationen beurteilt werden (Martini, 140). Unstreitig schützt Art. 3 Abs. 1 GG aber nicht nur natürlich, sondern auch juristische Personen, weil hinter ihnen stets natürliche Personen stehen (Stier-Somlo in Nipperdey, 159 f.; BK-Rüfner Art. 3

B. Umsetzung der Willkürinterpretation durch das BVerfG

97

Mit der Neuen Formel erlangt diese Abgrenzung neue Bedeutung. Das BVerfG richtet seine Prüfungsdichte nun unter anderem daran aus, wie stark der personale Bezug einer staatlichen Regelung ist. Je mehr eine Differenzierung die persönliche Rechtsgleichheit berührt, desto strenger wird also die verfassungsgerichtliche Prüfung. Das entspricht dem personalen Leitmotiv des Grundgesetzes, das im Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG und in den besonderen Diskriminierungsverboten in Art. 3 Abs. 2, Abs. 3, 33 GG zum Ausdruck kommt 1 1 . Andererseits wirft die Unterscheidung zwischen persönlicher und sachlicher Rechtsgleichheit in der Tat Schwierigkeiten auf. Rechtliche Regelungen beziehen sich stets auf menschliches Verhalten. Eine gesetzliche Differenzierung und Gleichbehandlung von Sachverhalten wirkt sich also zumindest mittelbar immer auch auf Personen aus 12 . Sachliche und persönliche Rechtsgleichheit lassen sich nicht klar trennen. Das gilt besonders in der Rechtsanwendung: an Gerichts- und Verwaltungsverfahren sind stets natürliche oder juristische Personen beteiligt. Bei der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle geht es daher stets um die persönliche Rechtsgleichheit 13 .

Rdnr. 131; Starck in v. Mangoldt/Klein, Art. 3 Rdnr. 159; BVerfGE 3, 383 (390); NJW 1997, 1975 (1979) mit gleitender Abgrenzung). 11 Das Wertsystem der Grundrechte geht von der Würde und Freiheit des einzelnen Menschen als natürlicher Person aus, BVerfGE 21, 362 (369 ff.); Dürig, MDHS, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 36 ff; Krebs in v. Münch/Kunig, Art. 19 Abs. 3, Rdnr. 37 ff. - Eine Formulierung des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 GG im Sinne sachlicher Rechtsgleichheit („Der Gesetzgeber muß Gleiches gleich, er kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln") wurde im Parlamentarischen Rat verworfen (JöR 1 (1951), 71 f.). - Kritisch zur sachlichen Rechtsgleichheit Bettermann, Hypertrophie 63: „So wurde aus der radikal-demokratischen Bürgergleichheit ein Verbot willkürlicher Egalisierung und willkürlicher Differenzierung. Damit geht die égalité der französischen Revolution im allgemeinen Willkürverbot als einem Gerechtigkeitspostulat auf ... Nutznießer dieser Verwandlung sind die Richter und hier zumal die des BVerfG. Mit dem so verwandelten Gleichheitsartikel 3 schufen sie sich ein willfähriges Instrument zu weitgehender Kontrolle und Korrektur von Legislative und Exekutive". 12 Heute nahezu allgemeine Meinung, Dreier-Heun, Art. 3, Rdnr. 16 ff.; Podlech, 100 f.; BK-Rüfner, Art. 3 Rdnr. 5, 45 ff.; Sachs-Osterloh, Art. 3 Rdnr. 25 ff.; Martini, 49 ff.; Hesse, FS Lerche, 129; Remmert, DVB1 1995, 224; Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 308; Gubelt in v. Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 14; Sachs, JuS 1997 124 f.; ders., NWVB1 1988, 295 (299); Huster, 17 Fußn. 22 und S. 29; anders hinsichtlich - sind rein staatsorganisationsrechtliche Regelungen Herzog, MDHS, Art. 19 Abs. 1 Rdnr. 23. 13 Eine Ausnahme gilt aber, wenn daran ausschließlich juristische Personen des öffentlichen Rechts beteiligt sind, sie sind zwar rechtsfähig, aber in der Regel nicht grundrechtsfähig (BVerfGE 31, 314 (322); 39, 302 (314); 61, 82 (103); Sachs-Krüger, Art. 19, Rdnr. 81 ff.). Ein Urteil in einem Verfahren zwischen zwei Gemeinden würde also nur die sachliche Rechtsgleichheit betreffen. 7 v. Lindeiner

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4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

3. Ubiquität des Gleichheitssatzes Wenn der Gleichheitssatz sachliche Rechtsgleichheit, also die gleiche Behandlung von gleichen Tatbeständen verlangt, dann gilt er ausnahmslos für jede Rechtsnorm und jede Gerichtsentscheidung. Denn jeder gesetzliche Tatbestand, genauer sogar jedes einzelne seiner Merkmale, ordnet für alle Fälle, in denen er in der Realität vorliegt, eine bestimmte Rechtsfolge an. Schon dadurch behandelt die Norm diese Fälle, trotz ihrer sonstigen Verschiedenheit, untereinander gleich, und ungleich gegenüber allen anderen Fällen. Bei jeder Anwendung einer Rechtsnorm wird einem konkreten Einzelfall deren Rechtsfolge zugeordnet; dieser Fall wird dadurch mit allen übrigen Anwendungsfällen gleichbehandelt. Weil jede Norm und jedes Urteil differenziert, ist der Gleichheitssatz immer einschlägig 14 . 4. Entbehrlichkeit

der Vergleichsprüfung?

Das wiederum könnte bedeuten, daß die Anwendung des Gleichheitssatzes gar keinen Vergleich voraussetzt. Denn unterstellt man, daß eine willkürliche Norm immer zumindest eine willkürliche Differenzierung oder Gleichbehandlung enthält, und daß umgekehrt eine willkürliche Differenzierung durch eine Norm stets zur Willkürlichkeit der ganzen Norm führt, so würden eine vergleichende und eine nicht vergleichende Prüfung zwingend zum selben Ergebnis führen. Dann könnte statt der Rechtfertigung einer Differenzierung ebensogut die Rechtfertigung der Norm oder des Urteils insgesamt geprüft werden 15 . Wegen der Ubiquität des Gleichheitssatzes kann man jedenfalls von allgemeiner Willkür eines staatlichen Aktes auf die Willkürlichkeit zumindest einer darin enthaltenen Differenzierung schließen. Gibt es keinen sachlichen Grund für die Norm, so gibt es auch keine sachlichen Gründe für die Differenzierung, die sie in ihren Anwendungsfällen durch die Kombination von Tatbestandsmerkmalen und Rechtsfolgenanordnung bewirkt. A m deutlichsten wird dies bei fiktiven Normen mit nur einem Tatbestandsmerkmal. Hier decken sich Rechtsfolge und Differenzierung unmittelbar. Es gilt aber auch, wenn mehrere Merkmale miteinander kombiniert werden. 14

Martini, 118, 142; Kloepfer, 36, 60; AK-Stein, Art. 3 Rdnr. 34; Dreier-Heun, Art. 3 Rdnr. 124; Badura, 98; Sachs-Osterloh Art. 3 Rdnr. 1 f.; Riggert, 107; Huster, 24: „es ist alles Differenzierung"; Werner Böckenförde, 73; Luhmann, ARSP 1991, 439: „Kein Rechtsfall kann so gestaltet sein, daß er weder gleich noch ungleich ist im Hinblick auf andere Fälle". 15 So in der Tat Kloepfer, 60; Rennert, 12 (für die Urteilskontrolle); Bleckmann, Grundrechte, 139 ff.: „Die Allgemeinheit des Gesetzes bewirkt, daß das Problem des Willkürverbots fast immer in das Schema eines Vergleichs zweier Lebenssachverhalte gepreßt werden kann, obwohl dieses Schema häufig recht gequält wirkt".

B. Umsetzung der Willkürinterpretation durch das BVerfG

99

Allerdings folgt umgekehrt aus der Willkürlichkeit einer Differenzierung nicht zwingend die Willkürlichkeit der gesamten Norm. Denn die Gründe, die für eine bestimmte Differenzierung sprechen, können andere sein als die, welche die Norm insgesamt rechtfertigen. Beispiel für diese These sei eine Norm, die betrunkenen Männern das Autofahren verbietet. So sinnvoll wie ein Verbot der Teilnahme am Straßenverkehr in Zustand der Trunkenheit, so wenig sachgerecht ist die Beschränkung dieses Verbots nur auf Männer. Andererseits liegt ein sachlicher Grund für die Norm selbst vor, denn sie würde die Zahl der Verkehrsunfälle bereits reduzieren. Eine solche Vorschrift also insgesamt nicht willkürlich. Das wird besonders deutlich, wenn man sie mit einem Rechtszustand vergleicht, in dem Autofahren in Trunkenheit überhaupt nicht verboten ist. Es spielt keine Rolle, daß die Zahl der Unfälle noch weiter reduziert werden könnte, wenn man Frauen in den Tatbestand der Vorschrift einbeziehen würde. Die Verfassungswidrigkeit dieser Norm ergibt sich nur unter dem Gesichtspunkt vergleichender, nicht aber allgemeiner Willkür. Die Prüfung, ob eine Norm oder eine in ihr enthaltene Differenzierung oder beide - sachgerecht oder willkürlich sind, erfolgt also unter verschiedenen Gesichtspunkten. Willkürliche Normen enthalten stets willkürliche Differenzierungen; aber auch sachlich begründete Normen können willkürliche Differenzierungen enthalten. Absolute Willkür führt daher stets zu vergleichender Willkür, nicht aber umgekehrt. Folglich führen eine vergleichende und eine nicht vergleichende Prüfung des Gleichheitssatzes nicht zwingend zum gleichen Ergebnis. Das bedeutet, daß die Praxis des BVerfG, bei der Anwendung des Gleichheitssatzes auf eine vergleichende Prüfung zu verzichten, von den Argumenten der „Neuen Lehre" nicht mehr getragen wird. Sie bedarf daher einer eigenen Begründung.

III. „Objektivität" der Willkürkontrolle Ein weiterer denkbarer Unterschied zwischen der Willkür-Rechtsprechung des BVerfG und ihrer theoretischen Grundlage in der „Neuen Lehre" liegt in der Art und Weise, in der dieses die objektive Willkür eines staatlichen Aktes prüft. Im Gegensatz zur „Neuen Lehre" untersucht das BVerfG in aller Regel nicht alle denkbaren Gründe für ein Gerichtsurteil, sondern nur diejenigen Rechtsgrundlagen und Argumente, die in dem Urteil selbst angefühlt sind. Damit weicht es in zwei Richtungen von Leibholz' Willkürbegriff ab. Zum einen prüft es nicht noch andere Gründe und Normen, die das Urteil rechtfertigen könnten; zum anderen ist es gezwungen, gegebenenfalls die Willkürlichkeit der richterlichen Erwägungen positiv festzustellen. 7*

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4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

7. Objektive Willkür

im verfassungsgerichtlichen

Verfahren

Eine Willkürprüfung, wie sie Leibholz in der „Gleichheit vor dem Gesetz" beschrieb, wäre allerdings unter den Rahmenbedingungen der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile nicht durchführbar. Würde das BVerfG Leibholz' Definition der Willkür unverändert anwenden, so müßte es, streng genommen, jedes angefochtene Urteil anhand aller denkbaren Rechtsgrundlagen überprüfen. Eine solche Prüfung würde einen enormen Aufwand verursachen. Wie groß dieser Aufwand wäre, würde zwar letztlich davon abhängen, welche rechtfertigenden Gründe oder Argumente im Einzelfall überhaupt in Betracht kommen. Eine solche Prüfung wäre aber der Sache nach eine echte Revisionsprüfung, die dem BVerfG aus funktionellen und prozessualen Gründen versagt ist. Denn Streitgegenstand bei Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsurteile ist nur das angefochtene Urteil „wie es ist" 1 6 . Neue einfachrechtliche Entscheidungsgründe, die das Ausgangsgericht nicht erwogen hatte, würden den Streitgegenstand unzulässigerweise erweitern. Eine solche Erweiterung des Streitgegenstandes kann bei der Normenkontrolle durch den objektiven Zweck des Verfahrens gerechtfertigt werden 17 . Bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile besteht diese Möglichkeit nicht. Auch sie dient zwar - unter anderem - objektiven Zwecken. Diese bestehen aber in der Klärung grundsätzlicher und bedeutender Fragen des Verfassungsrechts, und nicht in einer Revisionsprüfung von Gerichtsentscheidungen.

16

St. Rspr. seit BVerfGE 7, 275 (281 f.). Unabhängig davon erstreckt das BVerfG seine Prüfung „von Amts wegen" und nach eigenem Ermessen auf Verfassungsverletzungen, die der Beschwerdeführer nicht gerügt hat, dazu Rennert, UC, § 95 Rdnr. 15. 17 Hier ist das BVerfG sogar verpflichtet, zu prüfen, ob andere als die vom Gesetzgeber erwogenen Gründe eine Vorschrift rechtfertigen können, Rennert in: UC § 95, Rdnr. 37 f.; MSBKU-Schmidt-Bleibtreu, § 95 Rdnr. 17 m.N.; Wendt, NVwZ 1988, 779 Fußn. 16 f. m.w.N., der dem BVerfG „große Phantasie im Aufstöbern von sachlichen Gründen" attestiert. Ein gutes Beispiel BVerfGE 51, 1 mit abw.M. Katzenstein, 31 ff. (der meint, die so gefundenen, rechtfertigenden Gründe liefen der Absicht des Gesetzgebers zuwider); und abw.M. Faller/Niemeyer, 37 ff. (es habe ohnehin hinreichende sachliche Gründe gegeben). Kritisch Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, 19, der meint, das BVerfG dürfe sich nicht darauf zurückziehen, „der Gesetzgeber werde in seiner wenn auch unerforschlichen Weisheit gewiß etwas Kluges gedacht haben"; Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 339 (zu BVerfGE 9, 291 (294 ff.)), wo das BVerfG „grübelt und grübelt, ob sich nicht doch der Sinn des Feuerwehrgeldes finden läßt".

B. Umsetzung der Willkürinterpretation durch das BVerfG

2. Vereinbarkeit

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mit Leibholz 1 Willkürbegriff

Das BVerfG prüft Willkür aber nicht anhand aller objektiv denkbaren Rechtsgrundlagen, sondern nur anhand der in den Entscheidungsgründen ausgesprochenen Motivation des Richters. Eine solche Prüfung ist nicht nur rechtlich, sondern auch in praktischer Hinsicht sinnvoll. Der „objektive" Willkürbegriff eröffnet ihm die Möglichkeit, in Ausnahmefällen auch eine objektivierte Prüfung vorzunehmen. So etwa, wenn ein Urteil objektiv rechtmäßig ist, der Richter aber willkürliche Entscheidungsgründe formuliert hat. Das gleiche gilt in Fällen, in denen ein Urteil keine Begründung enthält, in der subjektive Willkür in diesem Sinne also nicht festgestellt werden kann. Hier ist also Prüfungsgegenstand nur die isoliert betrachtete Anwendung der Norm auf den Sachverhalt, das reine Ergebnis der Rechtsfindung. Letztlich entspricht die Praxis des BVerfG aber dem Willkürbegriff der „Neuen Lehre". Leibholz äußerte sich zur Frage einer objektiven oder subjektiven Willkürprüfung im vorstehend beschriebenen Sinn zwar mehrdeutig. Er schloß aber nicht aus, daß dabei - etwa bei der Prüfung von Ermessensentscheidungen der Verwaltung - auf die tatsächlich erkennbaren Motive des Rechtsanwenders zurückgegriffen werden müsse 18 . Eindeutig äußerte er lediglich die Auffassung, ein Nachweis sachfremder Motivation sei keine Voraussetzung für Willkür. Das kann bedeuten, daß dann, wenn ein solcher Nachweis gelingt, weil die Urteilsgründe eine sachfremde Motivation aufzeigen, erst recht Willkür gegeben ist. Mit der Prüfung objektiver Willkür in diesem Sinne weicht das BVerfG also nicht in einer Weise von der „Neuen Lehre" ab, die einer eigenen Begründung bedürfte.

IV. Verhältnis von einfachem Recht und allgemeinem Rechtsbewußtsein Zweifel an der Vereinbarkeit der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle mit Leibholz' Willkürbegriff bestehen ferner hinsichtlich des Verhältnisses von einfachem Recht und allgemeinem Rechtsbewußtsein. Denn das BVerfG mißt die Willkürlichkeit eines Urteils in erster Linie an seiner kon18

Auf die im Urteil angeführten Gründe komme es ferner an, wenn der Wortlaut nicht erkennen lasse, ob der Akt willkürlich sei. - Andererseits meinte Leibholz, es komme nur auf den objektiven Bestand des Aktes, losgelöst von aller behördlichen Motivation, an. Liege Willkür vor, komme es nicht darauf an, ob „das staatliche Organ sich gar nicht willkürlich hat motivieren lassen" (S. 94). - Auch heute werden gebundene Verwaltungsakte im Verwaltungsprozeß nur daraufhin überprüft, ob sie „in der Rechtsordnung insgesamt eine Stütze finden", Kopp, VwGO, § 113 Rdnr. 67.

102

4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

kreten Rechtsgrundlage. Es greift dabei nicht, wie die „Neue Lehre", auf Gerechtigkeitserwägungen oder auf das „allgemeine Rechtsbewußtsein" der Gemeinschaft zurück. Leibholz bezog zwar die Rechtsgrundlagen einer Entscheidung in die Willkürprüfung mit ein. Entscheidend sollten aber letztlich nicht sie, sondern die Anforderungen der Gerechtigkeit sein. Allerdings meinte Leibholz explizit nur, daß „letzten Endes" das Rechtsbewußtsein entscheide. Man kann ihn also so verstehen, daß vorrangig die Vereinbarkeit einer Entscheidung mit dem positiven Recht zu prüfen sei und erst dann, wenn Willkür danach in Frage komme, auf Gerechtigkeitswertungen zurückzugreifen sei. Das BVerfG hat allerdings noch nie eine rechtmäßige Entscheidung deshalb als willkürlich bezeichnet, weil sie mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein nicht vereinbar war. Daher ist festzuhalten, daß das Verhältnis von positivem Recht und überpositiver Gerechtigkeit - oder dem „allgemeinen Rechtsbewußtsein" - in der verfassungsgerichtlichen Praxis von den theoretischen Grundlagen der Willkür-Rechtsprechung abweicht.

C. Diskussion der klassischen Argumente Als nächstes ist zu untersuchen, ob die Argumente, die bislang für die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot angeführt wurden, diese Auffassung auch heute noch stützen können. Da das BVerfG hat die Übernahme der Willkürlehre bis heute nicht selbst begründet hat, muß dabei auf die Arbeiten der „Neuen Lehre" der Weimarer Zeit und insbesondere ihres Hauptvertreters, Gerhard Leibholz, zurückgegriffen werden. In Leibholz' Gedankengang lassen sich zwei Hauptargumente ausmachen: Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung. Er stützte sich auf die Lehre vom richtigen Recht in der Version Burckhardts, um die Verbindung von Gleichheitssatz und Willkürverbot zu begründen; und auf die Handhabung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes in der Schweiz und den USA, um die Justitiabilität des Willkürverbots zu belegen.

I. Das rechtsphilosophische Argument Leibholz ging mit der damals vorherrschenden rechtsphilosophischen Lehre davon aus, daß der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz keine absolute, sondern nur eine verhältnismäßige Gleichbehandlung der Menschen durch die staatlichen Organe verlange. In welcher Hinsicht ihre tatsächliche Gleichheit zu gleicher rechtlicher Behandlung führen müsse, ergebe sich aus der Lehre vom richtigen Recht.

C. Diskussion der klassischen Argumente

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1. Der Gleichheitssatz als Gebot verhältnismäßiger Gleichbehandlung Daß der Gleichheitssatz nur eine relative Gleichbehandlung der Menschen verlangt, kann man auch heute als die absolut herrschende Auffassung bezeichnen 19 . Die Menschen sind verschieden, das Recht muß differenzieren; nur „Gleiches ist gleich, Ungleiches nach seiner Verschiedenheit zu behandeln". Die heute vertretenen Gegenpositionen liegen gewissermaßen auf einer Skala zu beiden Seiten dieser Auffassung. Zu nennen sind zum einen absolute Konzepte der Gleichbehandlung, die die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Menschen so weit wie irgend möglich ignorieren und auf eine eher schematische Gleichbehandlung zielen. Auf der anderen Seite stehen gestaltende Konzepte, die bestehende Differenzen gerade beseitigen und so größere Gleichheit im Ergebnis herstellen wollen. Allerdings stehen diese Auffassungen nicht in einem strikten Gegensatz zueinander. Das liegt vor allem daran, daß die Forderung nach verhältnismäßiger Gleichheit nur ein Ausgangspunkt der Gleichheitsinterpretation sein kann. Denn natürlich dürfen nicht alle tatsächlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten unmittelbar zu unterschiedlicher oder gleicher rechtlicher Behandlung führen. Der Grundsatz verhältnismäßiger Gleichbehandlung führt stets zu einer weiteren Wertungsfrage. Welche Differenzierungskriterien ausschlaggebend sein sollen, unter welchem Bezugspunkt die relevante Gleichheit sich ergibt: ob Äpfel und Birnen als Obst gleich, oder als Äpfel einerseits und Birnen andererseits ungleich zu behandeln sind, vermag er nicht zu sagen. Das klassische Suum cuique ist eine Tautologie 20 . Es wäre daher sogar möglich, die Forderungen nach absoluter oder gestaltender Gleichbehandlung in das Konzept verhältnismäßiger Gleichbehandlung zu integrieren. Man muß dazu nur die Relevanz der Differenzierungskriterien oder das Ausmaß erlaubter Differenzierung so beurteilen, daß sich die Grenze des gleichheitsrechtlich Zulässigen in die gewünschte Rich-

19

BVerfG in st. Rspr. seit BVerfGE 1, 14 (52); Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 332; Kloepfer, 29; Starck in: Link, 52; Werner Böckenförde, 46; Kelsen, 146, 391; Podlech, 44 f.; Huster, 21; Alexy, Grundrechte 359 f.; zu Konzeptionen „lokaler" Gerechtigkeit Bultmann, 17 ff.; Thoma, DVB1 1951, 458 meint gar, alles andere sei „flagranter Unsinn"; Plato, Gesetze, VI. Buch, 757; Aristoteles Politik III, 1280a, S. 92; 1282b, S. 100 f.; Politik V, 1301a. Weitere Nachweise bei Sachs, DöV 1984, 415 Fußn. 52 f. 20 S. Leibholz, Gleichheit, 48: „Mit derartigen Redewendungen ist das Problem aber nicht gelöst, sondern nur angeschnitten, weil die Frage gerade ist, wann und unter welchen Voraussetzungen die Verschiedenheiten als rechtlich relevant, wesentlich usw. bezeichnet werden können und wann nicht".

104

4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

tung verschiebt. Wo die maßgeblichen Wertungen keinerlei Differenzierung erlauben, ist dann eine strenge Gleichbehandlung geboten. Es liegt wohl an dieser systematischen Kongruenz der verschiedenen Gleichheitskonzepte, daß man sich über das Ziel verhältnismäßiger Gleichheit recht schnell einigen kann. Wichtiger ist, zu untersuchen, wie die Lehre vom Willkürverbot beurteilen wollte, ob ein mögliches Differenzierungskriterium mit dem Gleichheitssatz vereinbar sei. 2. Die Lehre vom richtigen Recht Hierzu berief sich Leibholz auf die von Stammler entwickelte Lehre vom richtigen Recht. Diese Lehre nahm in der rechtsphilosophischen Diskussion der Weimarer Zeit eine mittlere Position ein 2 1 . Sie lehnte ein absolutes Naturrecht als übergesetzlichen Maßstab der Gerechtigkeit ebenso ab wie einen strikten Positivismus. Stammler benannte vielmehr formale Prinzipien, an denen sich der Vorgang des Rechtsetzens und Rechtsprechens orientieren solle. Er versuchte also nur, eine Art „Denkform" bereitzustellen, um so größtmögliche Richtigkeit des Rechts und seiner Anwendung zu erzielen. Die von ihm aufgestellten Prinzipien verwiesen zwar ihrerseits wieder auf die Idee der Gerechtigkeit. Stammler meinte aber, da dieser Begriff in den einzelnen Rechtsgemeinschaften verschieden verstanden werde, sei stets nur eine relative Gerechtigkeit zu verwirklichen. Leibholz übernahm in der „Gleichheit" (S. 53 f.) aber nicht den eigentlichen Kern dieser Lehre, die primär formale Gewährleistung richtigen Rechts. Stattdessen kritisierte er, Gerechtigkeit könne nicht nur formal definiert werden, und verwarf Stammlers Willkürbegriff 2 2 . Leibholz ging es in erster Linie um den Bezug des Gleichheitssatzes zur Idee der Gerechtigkeit. Dieser allerdings ging eher auf Burckhardt zurück, der den Gleichheitssatz in Anlehnung an Stammlers Lehre als eine Gewährleistung des „richtigen 21 Stammler entwickelte seine Lehre in der „Theorie der Rechtswissenschaft" (1911) und in „Die Lehre vom Richtigen Rechte" (1902). Sein „Naturrecht mit wechselndem Inhalt" setzte sich nicht durch, wird aber häufig als ein Auslöser der „Renaissance des Naturrechts" angesehen, die in den dreißiger Jahren begonnen hatte und dann die frühe Nachkriegszeit prägte. S. die Darstellungen bei Henkel, 513; Kaufmann/Hassemer, 90 und 243 f.; Schlosser, 233; ältere Nachweise bei Leibholz, Gleichheit, 54 Fußn. 3. 22 Stammler hatte Unrichtigkeit und Willkür danach unterschieden, ob die Norm, gegen die verstoßen werde, auch die normsetzenden Organe selbst oder nur die ihr unterstellten Individuen binde. Daß Leibholz Stammler gerade durch Radbruch (Rechtsphilosophie, 1. Auflage 1914, S. 23) widerlegte, ist interessant; dieser war im Gegensatz zu Leibholz Positivist. Auch Leibholz' Kritik daran, daß Stammler Willkür und Gerechtigkeit als „mit variablen Inhalten begabt" ansah (76), geht fehl (s. Gleichheit, 60 f.).

C. Diskussion der klassischen Argumente

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Rechts" interpretiert und dabei „formelle" und „materielle" Rechtsungleichheit unterschieden hatte 23 . Leibholz diskutierte allerdings nicht, wie genau und warum Burckhardt sich Stammler angeschlossen hatte. Zudem lehnte er Burckhardts Auffassung im übrigen ab: die Unterscheidung von formeller und materieller Rechtsungleichheit sei falsch, weil die erstere nur eine Folge der letzteren sei 24 . 3. Funktion des rechtsphilosophischen Arguments bei Leibholz Damit bleibt bei Leibholz von den Lehren Stammlers und Burckhardts recht wenig übrig: die Relativität und Wandelbarkeit des Gerechtigkeitsbegriffs einerseits, sein Bezug zum Gleichheitssatz andererseits. Die Berufung auf sie macht Leibholz' Argumentation beinahe fragwürdig: sie scheinen eher zur formalen Legitimierung seiner These zu dienen, als daß sie inhaltlich wirklich nachvollzogen würden. Zudem decken sie nur einzelne Aspekte der Lehre vom Willkürverbot ab. Die letztlich entscheidende Kopplung von Gleichheitssatz und materieller Gerechtigkeit nahm erst Leibholz vor. Inkonsequent ist im übrigen auch, wie dieser seine eigene Position im Streit zwischen Positivismus und Naturrecht einordnete. Seiner Aussage, materielle Wertungen seien immer nur für konkrete Gegebenheiten denkbar, folgt ein ausdrückliches Bekenntnis gegen einen „Wertrelativismus"; unmittelbar im Anschluß daran heißt es wieder, daß „die Absolutheit der Rechtsidee nur in der Verabsolutierung des Relativen und inhaltlich Wandelbaren bestehen kann" 2 5 . Auch der heutige Stand der rechtsphilosophischen Diskussion liefert kein Argument für die Willkür-Rechtsprechung. Wie in den zwanziger Jahren stehen sich auch heute materiale, wertorientierte Lehren einerseits und positivistische Theorien andererseits gegenüber. Daneben werden einige Lehren vertreten, die versuchen, auf eine formale Weise - etwa indem sie den juristischen Diskurs oder das Verfahren, in dem rechtliche Entscheidungen zustande kommen, analysieren - einen Maßstab für die Richtigkeit der 23 Erstere liege in einem „inneren Widerspruch der Gesetzgebung oder Rechtsanwendung zu sich selbst"; letztere in inhaltlicher Unvereinbarkeit mit den höherrangigen Vorgaben, d.h. für den Gesetzgeber mit dem „richtigen Recht", für den Rechtsanwender mit dem positiven Recht, Burckhardt, 69. 24 Leibholz meinte nur, Burckhardt „bewege sich in der Richtung, von der allein aus sich eine Klärung dieses problematischen Begriffs erwarten lasse" (53). Seine Wiedergabe von Stammlers Unterscheidung übersieht zudem, daß dieser mit formeller Ungleichheit innere Widersprüche, nicht solche im Verhältnis zu Dritten meinte. 25 Gleichheit, 60. Kritisch hierzu auch Wiegandt, 103; Sauer, LZdR 19 (1925) Sp. 1229; Nawiasky VVDStRL 3 (1926), 41.

4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

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positiven Rechtsordnung zu finden. Hinzugekommen sind auch sogenannte „Vereinigungslehren", die angesichts der Tatsache, daß naturrechtliche Inhalte heute recht weitgehend im Verfassungs- und Gesetzesrecht niedergelegt sind, einen vorsichtigen Positivismus vertreten. Damals so wenig wie heute läßt sich aber aus der Vorherrschaft einer rechtsphilosophischen Richtung und noch weniger aus dem Bekenntnis zu ihr ein Ergebnis gewinnen, das eine bestimmte Auslegung objektiv begründen könnte. Hinzuzufügen ist, daß sich gerade das BVerfG nie einer bestimmten rechtsphilosophischen Schule angeschlossen hat. Zwar ist seine frühe Rechtsprechung eher von einem Geist des Naturrechts charakterisiert. Eindeutige Festlegungen vermeidet das Gericht aber schon seit längerem. Im Zusammenhang mit der Willkür-Rechtsprechung hat es ohnehin niemals eine bestimmte rechtsphilosophische Lehre zu seiner Rechtfertigung herangezogen. Daher kann die Berufung auf Rechtsphilosophie nicht entscheidend für oder gegen die Willkürlehre ins Gewicht fallen.

II. Das rechtsvergleichende Argument 7. Rechtsvergleichung

als Mittel zur Auslegung des Gleichheitssatzes

Ferner ist zu prüfen, ob das rechtsvergleichende Argument die Lehre vom Willkürverbot entscheidend unterstützen kann. Rechtsvergleichung ist zwar als Mittel der Verfassungsinterpretation anerkannt 26 . Welche Rolle sie bei der Auslegung des Gleichheitssatzes spielen kann, ist aber umstritten. Einerseits kann sie bei einem so weit verbreiteten und bedeutenden Grundrecht auf umfangreiches Material zurückgreifen 27 . Andererseits bezieht sich der Gleichheitssatz in besonderem Maße auf seinen rechtlichen Kontext. Er ist ein derart variabler Verfassungssatz, daß Rechtsvergleichung wohl eher methodische Parallelen aufzeigen, als inhaltliche Maßstäbe vermitteln kann 2 8 .

26

Hesse, Rdnr. 71; Ossenbühl, NJW 1976, 2100 ff. Weswegen E. Kaufmann, VVDStRL 3 (1927), 5, 61, sie gerade hier für geboten hielt: „Wenn irgendwo, ist also hier die rechtsvergleichende Methode am Platze". 28 H. P. Ipsen, 114, und schon Nawiasky VVDStRL 3 (1927), 25 (27). Diese Äußerungen sind allerdings insofern zu relativieren, als sie ihrerseits im Zusammenhang mit der Diskussion um das Willkürverbot fielen. Leibholz meinte (Repräsentation, 105): „So kann ein Verfassungssatz wie der von der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz in einer Reihe von Staaten gleichzeitig eine ganz verschiedene Auslegung finden". 27

C. Diskussion der klassischen Argumente

2. Rechtsvergleichung

107

bei Leibholz

Leibholz maß der Rechtsvergleichung erhebliches argumentatives Gewicht bei. Mit ihr wollte er sowohl die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz als auch dessen Auslegung als Willkürverbot und die Praktikabilität des Willkürbegriffs belegen 29 . Allerdings ist nicht erstaunlich, daß gerade dieses Argument schon zur Weimarer Zeit besonders heftige Kritik erfahren hat 3 0 . Zum einen zeugt es von einer gewissen Inkonsequenz, wenn Leibholz einerseits gerade die Kulturabhängigkeit und Relativität von Gleichheitssatz und Gerechtigkeitsbegriff betonte, dann aber zu ihrer Interpretation gerade Rechtsvergleichung heranzog (wenngleich er den konkreten Inhalt des Willkürverbots dem jeweiligen Rechtsbewußtsein einer Kulturgemeinschaft entnehmen wollte). Zum anderen verzichtet seine kurze Darstellung der Rechtsprechung von Schweizerischem Bundesgericht und Supreme Court (S. 78-81) völlig darauf, deren verfassungsrechtliches und -prozessuales Umfeld zu schildern und geht auch nicht auf die erheblichen Unterschiede zwischen der Judikatur dieser beiden Gerichte ein. Denn das Bundesgericht betrieb seit jeher eine explizit so bezeichnete „WillkürRechtsprechung", die zudem deutlich zwischen einem vergleichenden und einem absoluten Willkürverbot unterschied. In der amerikanischen Rechtsprechung hingegen war ein Willkürverbot als eigenständiges Element der Gleichheitsinterpretation nicht anerkannt. Soweit der Begriff gelegentlich verwendet wurde, bezeichnete er stets nur einen Teilaspekt der Gleichheitsprüfung, die zudem streng vergleichsbezogen durchgeführt wurde. Rechtsvergleichung war daher kein so zugkräftiges Argument für die Willkürlehre, wie Leibholz annahm. Die Handhabung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes in der Schweiz und den USA konnte sicher einige Elemente seiner Thesen unterstützen: die Zurückhaltung der Rechtsprechung bei seiner Anwendung; die Möglichkeit, den Willkürbegriff juristisch zu verwenden; vielleicht auch noch die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz. Eine argumentative Fundierung seiner Hauptthese, der Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot, konnte sie aber nicht leisten.

29

„Aber was vor allem für die hier gegebene Bestimmung des Gleichheitssatzes ins Gewicht fällt, ist die Tatsache, daß die Judikatur der Schweiz und der Vereinigten Staaten sich in genau der gleichen Richtung bewegen", Leibholz, Gleichheit 78. 30 Anschütz, WRV, 527; Mainzer, 12 ff.: „wilde Rechtsvergleichung, die in fremde Rechtsgebiete nur auszieht, um für eine Doktrin den Anschein zu erbeuten".

108

4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

III. Heutige Interpretation des Gleichheitssatzes Allerdings ist denkbar, daß das rechtsvergleichende Argument heute bessere Unterstützung für die Willkürkehre leisten kann als 1925. Die Verfassungsordnungen anderer Staaten können das Willkürverbot als Element der Interpretation des Gleichheitssatzes entwickelt oder aufgegriffen haben. Allerdings ist hier nicht mehr als ein Überblick möglich, denn der Gleichheitssatz ist nicht nur fester Bestandteil aller modernen Verfassungen, sondern auch in ihrer Praxis von großer Bedeutung 31 . 7. Supreme Court of Justice der USA In den USA ist die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit staatlicher Akte nicht, wie in der Bundesrepublik, bei einem Verfassungsgericht konzentriert. Sie erfolgt in den normalen Rechtsmittelverfahren und obliegt daher allen Gerichten. Der Supreme Court ist lediglich das oberste von ihnen und somit, als höchstes Gericht in einfachrechtlichen und verfassungsrechtlichen Streitigkeiten, das Musterbeispiel einer Superrevisionsinstanz 32. Seit 1803 führt der Supreme Court eine inzidente Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch. Sie ist heute weit wichtiger als die Kontrolle von Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen. Das liegt zum einen daran, daß letztere einem freien Annahmeverfahren unterliegen. Das amerikanische Grundrechtsdenken kennt aber auch nicht, wie das deutsche, eine subtile Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in die Anwendung einfachen Rechts hinein. Das Schwergewicht der Gleichheitsrechtsprechung des Supreme Court lag auf dem Gebiet der besonderen Differenzierungsverbote. Den allgemeinen Gleichheitssatz, die „equal protection clause", die erst 1868 mit dem 14. Verfassungszusatz eingeführt wurde, handhabte er dagegen sehr restriktiv. Er entnahm ihm bis Ende der sechziger Jahre lediglich eine „doctrine of reasonable Classification", wonach vernünftige Gründe eine Differenzierung rechtfertigen konnten. Diese Lehre führte in keinem einzigen Fall zur Aufhebung eines Gesetzes. Mittlerweile stuft er seine Kontrolle ab: eine strenge Prüfung („strict scrutiny") nimmt er vor, wenn intensive Grundrechtseingriffe in Frage stehen oder der Gesetzgeber „verdächtige Klassifizierungen" verwendet; im übrigen, etwa im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, führt er nur einen „rationality test" durch. Der Gleichheitssatz weist also zwar einen Bezug zu Rationalität und Sachgerechtigkeit 31

v. Brünneck, 118. Sog. „diffuse Verfassungsgerichtsbarkeit", v. Brünneck, 28 ff. Nur etwa die Hälfte der Fälle, über die der Supreme Court entscheidet, sind verfassungsrechtlicher Natur (Rau, 212; Millgramm, 23 ff.). 32

C. Diskussion der klassischen Argumente

109

auf. Seine Anwendung steht aber der Neuen Formel weit näher als dem Willkürverbot 33 . Bei der Kontrolle von Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen findet zwar durchaus eine Art Willkürprüfung statt, bei der Entscheidungen aufgehoben werden, wenn sie „arbitrary", „capricuous" oder „an abuse of discretion" sind. Doch bedient sich der Supreme Court dazu des normalen Appelationsverfahrens und nicht eines speziellen verfassungsrechtlichen Hebels wie der equal protection clause 34 . Seine Rechtsprechung weist daher allenfalls im Ergebnis Parallelen zur Willkür-Rechtsprechung des BVerfG auf. 2. Schweizerisches Bundesgericht Das Schweizerische Bundesgericht überprüft die Anwendung kantonalen Rechts durch staatliche Organe im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde (Art. 113 Abs. 1 Satz 3 BV a.F., 84 Abs. 1 OG). Es legt den allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 4 der Bundesverfassung a. F. traditionell als Willkürverbot aus. Dieses Willkürverbot hat verschiedene Funktionen. In prozessualer Hinsicht dient es der Kognitionsbeschränkung. In bestimmten Fällen nimmt das Bundesgericht nur eine auf Willkür beschränkte Prüfung vor 3 5 . Inhaltlich ersetzte es als Auffangtatbestand solche Grundrechte, die in der alten Bundesverfassung nicht enthalten waren, wie den Anspruch auf rechtliches Gehör. Daneben machte es besonders krasse Rechtsverstöße der Rechtsprechung und Verwaltung anfechtbar. Willkür i.d.S. liegt etwa vor, wenn ein Entscheid „offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft" 36 . Schon unter der Geltung der alten Bundesverfassung hatte das Bundesgericht klar zwischen der rechtsungleichen Behandlung im engeren Sinne und dem allgemeinen Willkürverbot unterschieden 37. Daß letzteres anhand des 33 Kommers, in: Link, 31 ff.; Cho, 193 ff., 261 ff.; Schefer, 48 ff.; Sacksofsky, 210 ff. 34 Rau, 122. 35 So bei der Kontrolle der gerichtlichen Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellung und der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dem steht die „freie" Prüfung in vollem Umfang gegenüber - auch das Bundesgericht ist eine Superrevisionsinstanz. Zu Kompetenzen und Rechtsprechung Spühler, 56 f; Haller, 200; Habscheid, FS Benda, 110. 36 Dazu Spühler, 149; Hangartner, 179 ff.; H. Huber, 135 ff.; J. P. Müller, 238 ff.; Thürer, 482 ff.; Fritzen, 64 ff. Die Verknüpfung von Gleichheit und Willkür beginnt mit der Entscheidung im Fall Jäggi vom 2. April 1880, BGE 6 S. 173, noch im Sinne „vergleichender Willkür"; um die Jahrhundertwende löst sich dann die Willkürprüfung von einem Vergleich, H. Huber 135 ff.

110

4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

Gleichheitssatzes geprüft wurde, erklärt die Literatur meist mit der historischen Entwicklung der Rechtsprechung. Im allgemeinen stimmt sie der Ableitung eines Willkürverbots aus Art. 4 BV aber zu 3 8 . Nach der 1999 erfolgten Revision der Bundesverfassung ist der allgemeine Gleichheitssatz nun in Art. 8 Abs. 1, das allgemeine Willkürverbot in Art. 9 enthalten 39 . Da das Willkürverbot in der bundesgerichtlichen Praxis eine noch größere Rolle spielt als in der Rechtsprechung des BVerfG, ist es nicht erstaunlich, daß die Willkürbeschwerde schon 1935 als „Unkraut, das den bisher wohlgepflegten Garten der Staatsrechtspflege überwuchert hat", bezeichnet wurde 40 . Bis heute wird das Willkürverbot im Hinblick auf das Verhältnis zum Gleichheitssatz, die erwähnten Kognitionsbeschränkungen und auf die auch der Schweizer Rechtsordnung zugrundeliegende Trennung von einfachem Recht und Verfassungsrecht problematisiert 41 . Wie dem BVerfG wird auch dem Bundesgericht vorgeworfen, keine griffigen Maßstäbe entwickelt zu haben und kasuistisch zu entscheiden. Allerdings ist insgesamt, wohl vor allem aufgrund der langen Tradition, die Akzeptanz der Willkür-Rechtsprechung in der Staatsrechtslehre erheblich größer als in der Bundesrepublik. 3. Andere europäische Verfassungsgerichte a) Corte Constitucional Der spanische Verfassungsgerichtshof, die Corte Constitucional, ist das einzige westeuropäische Verfassungsgericht außer Bundesgericht und 37 BGE 110 Abs. l a 13: „Ein Erlass verstösst gegen das Willkürverbot, wenn er sich nicht auf ernsthafte sachliche Gründe stützen kann oder sinn- und zwecklos ist; er verletzt das Gebot der Rechtsgleichheit, wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder Unterscheidungen unterläßt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen". S. Arioli, 27 f. und passim. 38 J. P. Müller, Grundrechte in der Schweiz, 469 f. Das Bundesgericht sah zunächst in der „formellen" Rechtsverweigerung (des Zugangs zum gesetzlichen Richter) einen Verstoß gegen die Rechtsgleichheit. Später entschied es dann, der Rechtsuchende werde nicht weniger um sein Recht gebracht, wenn der gesetzliche Richter zwar entscheide, dabei das anwendbare Recht aber kraß mißachte (materielle Rechtsverweigerung). 39 Er lautet nunmehr: „Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden." 40 Ziegler (Richter am Bundesgericht) auf dem Juristentag 1935, zitiert bei Imboden, 150 Fußn. 16. 70% der staatsrechtlichen Beschwerden unter der alten Bundesverfassung stützen sich allein auf eine Verletzung des Art. 4 BV; seine Bedeutung ist „quantitativ und qualitativ überragend" (J. P. Müller, 241). 41 Hangartner, Mélanges A. Grisel, 122; Gygi, FS Huber, 210; J. P. Müller, 145 ff.

C. Diskussion der klassischen Argumente

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BVerfG, das nicht nur über Normenkontrollen, sondern auch über Individualverfassungsbeschwerden gegen Gerichtsurteile entscheidet (sog. recurso de amparo, Art. 161 Abs. l b der Verfassung von 1978). Die Beschwerden rügen meistens Verletzungen des Gleichheitssatzes (Art. 14) oder des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 24) durch staatliches Handeln. Das Kriterium für Verletzungen des allgemeinen Gleichheitssatzes ist, ob hinreichende vernünftige Gründe gesetzliche und judikative Differenzierungen rechtfertigen 42 . Darüber hinaus enthält die spanische Verfassung in Art. 9 Abs. 3 ausdrücklich ein Willkürverbot für alle öffentlichen Gewalten. Daraus werden aber nur sehr begrenzte Folgerungen abgeleitet: für die Verwaltung das Prinzip der Gesetzmäßigkeit, für die Rechtsprechung eine Pflicht zur sachlichen Begründung von Rechtsprechungsänderungen 43. Auch hier bestehen also eher Parallelen zur Neuen Formel als zur Willkür-Rechtsprechung des BVerfG. b) Österreichischer Verfassungsgerichtshof Der österreichische Verfassungsgerichtshof ist als Sonderverwaltungsgerichtshof zuständig für Beschwerden gegen Akte der Verwaltung (Bescheide und verfahrensfreie Verwaltungsakte), aber nicht gegen Gerichtsentscheidungen (Art. 144 Bundes-Verfassungsgesetz). Da eine Beschwerde nicht voraussetzt, daß der Beschwerdeführer vorher den Rechtsweg vor den Verwaltungsgerichten erschöpft hat, kontrolliert der Verfassungsgerichtshof hier tatsächlich nur die Rechtsanwendung durch die Exekutive. Der Gleichheitssatz in Art. 2 StGG; Art. 7 Abs. 1 B - V G hat auch hier von allen Grundrechten die größte Bedeutung 44 . Seine Interpretation weist in zwei Richtungen. Er verbietet einerseits unsachliche Differenzierungen, andererseits - vergleichsunabhängig - unsachliche Maßnahmen generell 45 . In bezug auf die Rechtsanwendung sind drei Fallgruppen von Gleichheitsverstößen anerkannt: die Anwendung eines gleichheitswidrigen Gesetzes, die gleichheitswidrige Interpretation eines Gesetzes, und Willkür. Sie wird angenommen, wenn ein Akt nicht bloß fehlerhaft, sondern „geradezu gesetzlos" ist. Die vielfältige Kasuistik der Willkür-Rechtsprechung belegt zwar eine etablierte Rechtsprechungstradition 46. Auch hier bestehen aber 42 Urteil 49/1982 zur Rechtsanwendung; 81/1982 zur Kontrolle von Gesetzen; kritisch Rubio Lloriente in: Starck/Weber 269 f. 43 Hofmann u.a., 189 ff. 44 Walter/Meyer, Rdnr. 1342. 45 VerfGH Slg. Nr. 3197, Nr. 3265; Rinck, DVB1 1961, 5 f.; Hofmann u.a., 102. 46 Willkürlich sind schwere Verletzungen materiellen oder prozessualen Rechts, Walter/Meyer, Rdnr. 1354. Bespiele: subjektive Willkür 2088, 9206; leichtfertige, dem Gesetz gegenüber gleichgültige Entscheidung 4480, 6155; gehäuftes Verkennen

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4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

Unsicherheiten über die Handhabung der Maßstäbe des Willkürverbots, sein Verhältnis zu anderen Grundrechten und andere dogmatische Fragen 47 . c) Conseil Constitutionnel Der französische Conseil Constitutionnel entscheidet nur im Verfahren der präventiven Normenkontrolle, die nicht von einzelnen Bürgern beantragt werden kann. Der allgemeine Gleichheitssatz ist hier mit Abstand der wichtigste Prüfungsmaßstab. Der Conseil Constitutionnel prüft daran gesetzliche Differenzierungen auf ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf den Zweck des Gesetzes48. d) Corte Costituzionale Das italienische Verfassungsgericht, die Corte Constituzionale, ist ebenfalls nur für die Normenkontrolle zuständig, Art. 134 der Verfassung von 1947. Sie legt den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 der Verfassung) zur Kontrolle gesetzlicher Differenzierungen mit Hilfe von Kriterien der Rationalität und Konsistenz aus. Mehr als die Hälfte der erfolgreichen Normenkontrollen beriefen sich darauf 49 . e) Belgische Obergerichte Der Gleichheitssatz in Art. 10 Satz 2 der belgischen Verfassung wird von den drei Obergerichten so ausgelegt, daß unterschiedliche rechtliche Behandlungen dann verfassungsgemäß sind, wenn sie durch objektive und sachliche Gründe gerechtfertigt werden können. Bei insgesamt deutlicher Zurückhaltung beziehen sie auch die Verhältnismäßigkeit der Regelung in die Prüfung mit ein 5 0 . der Rechtslage 7107, 9147; Verletzung von Treu und Glauben 6258, 8606, 8725; qualifizierte Verletzung von Verfahrensvorschriften 9005, 12570; keine Willkür bei gutem Willen, auch wenn die Entscheidung rechtswidrig ist 12.281, 13.16. Benders Auffassung (88), in Österreich sei ein umfassendes vergleichsunabhängiges Willkürverbot für die gesamte Rechtsanwendung nicht anerkannt, trifft also heute nicht mehr zu. 47 Öhlinger, 267 ff.; Schäffer/Jahnel, ÖZöR 1999, 71 ff. So führt der Gleichlauf von einfachem und Verfassungsrecht zu einer Überschneidung der Zuständigkeiten von Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof. 48 Bauer, 168 ff.; Favoreu, 99; Starck, AöR 113 (1988), 643. Der Gleichheitssatz ist enthalten in Art. 1 Satz 2 der Verfassung der V. Republik (1958), der Präambel der Verfassung von 1946 und Art. 1 Satz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschen» und Bürgerrechte von 1789. 49 Favoreu, 99.

C. Diskussion der klassischen Argumente

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4. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Der allgemeine Gleichheitssatz war in den EG-Verträgen nicht enthalten; sie enthielten nur einzelne Diskriminierungsverbote. Der Gerichtshof entnahm dieses Grundrecht aber, unter Zustimmung der europarechtlichen Literatur, der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten 51 . Inzwischen ist der Gleichheitssatz in Art. F Abs. 2 EUV ausdrücklich normiert. Der Gerichtshof legt ihn dahingehend aus, daß vergleichbare Sachverhalte nur dann ungleich behandelt werden dürfen, wenn es dafür hinreichende objektive Gründe gibt. Dafür verwendet er gelegentlich auch den Begriff der Willkür. Er versteht diesen aber synonym zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung 52 . 5. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Der in Art. 14 EMRK enthaltene Gleichheitssatz ist akzessorisch, also nur in Verbindung mit anderen Konventionsrechten einklagbar. Er ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verletzt, wenn eine Unterscheidung keine objektive und vernünftige Rechtfertigung findet. Das beschränkt sich nicht auf die in Art. 14 selbst genannten Diskriminierungsverbote, sondern gilt auch beim zusätzlich entwickelten generellen - aber stets vergleichend geprüften - Verbot von Willkür 5 3 .

50

Alen, 190 ff. Leitentscheidung war die Rechtssache 117/76 und 16/77 - Ruckdeschel - Slg. 1977, 1753 (1769 f). S. dazu und zu dogmatischen Problemen Bleckmann, Europarecht Rdnr. 111; Rengeling, 137 ff.; Mohn, 106; Kischel, EuGRZ 1997, 9; Pernice, in Grabitz/Hilf, Art. 164 Rdnr. 63 f.; Zuleeg, FS Börner, 479 f. 52 Kischel, EuGRZ 1997, 9; EuGH Rs. 17 und 20/61, Klöckner und Hoesch/ Hohe Behörde, Slg. 1962, 653 (692); Rs. 279, 280, 285, 286/84 Rau/Kommission Slg. 1987, 1069. EuGH Rs. 106/81 Kind Slg. 1982, 2885 (2921: „eine unterschiedliche Behandlung ist nur dann als durch Art. 40 Abs. 3 EWG-Vertrag verbotene Diskriminierung anzusehen, wenn sie sich als willkürlich darstellt oder wenn sie, wie es in anderen Urteilen heißt, nicht hinreichend gerechtfertigt und nicht auf objektive Gründe gestützt ist"). 53 Leitentscheidung war das Urteil v. 23. 7 1968, Serie A, Erw. 10; Thürer, 435 f.; Hofmann u.a., 302 ff.; zur „fair balance" (Waffengleichheit) EGMR NJW 1995, 1413. Die Akzessorietät wird heute schon bejaht, wenn andere Konventionsrechte berührt werden, Sachs, FS Friauf, 315 Fußn. 27; kritisch - für ein „striktes Unterscheidungsverbot" ders., ÖZöR 34 (1984), 333 ff. Auch bei Art. 5 EMRK (Freiheit der Person) wird mit dem Willkürverbot gearbeitet. 51

8 v. Lindeiner

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4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

6. Ergebnis Die Interpretation und praktische Handhabung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes in den hier untersuchten Rechtsordnungen entspricht in der Regel seiner Vergleichsstruktur. Auch soweit ein Willkürverbot als Element der Gleichheitsrechtsprechung anerkannt ist, steht dieses meist im Zusammenhang mit der Rechtfertigung von gesetzlichen oder judikativen Differenzierungen. Inhaltlich stellen tatsächliche Unterschiede und die Rationalität, Sachlichkeit, Sachgerechtigkeit etc. der Differenzierungskriterien die verbreitetsten Maßstäbe dar. Ein allgemeines, vergleichsunabhängiges Willkürverbot wird nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus dem Gleichheitssatz abgeleitet 5 4 . Was Willkür der Gerichte anbelangt, sind der Rechtsvergleichung dadurch Grenzen gesetzt, daß ein spezifischer verfassungsrechtlicher Rechtsbehelf gegen Gerichtsurteile nur selten eröffnet ist. Man kann zwar vermuten, daß „sachlich schlechthin unhaltbare" Gerichtsurteile meist aufgehoben werden können. Dazu dienen aber in aller Regel der normale Instanzenzug und die üblichen Rechtsmittel. Parallelen zum Verbot richterlicher Willkür, wie es in der Rechtsprechung des BVerfG erscheint, sind mithin nur in der Schweiz und Österreich zu erkennen. Ein solches Verbot wird heute also länderübergreifend im deutschsprachigen Rechtsgebiet anerkannt und praktiziert. Allerdings wird dieses Verbot seit der Reform der schweizerischen Bundesverfassung nur noch in Deutschland und Österreich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet. Zudem dürften diese Parallelen in erster Linie auf eine gegenseitige Beeinflussung der Verfassungsrechtsprechung dieser Länder zurückzuführen sein. Rechtsvergleichung ist daher kein tragfähiges Argument für die Interpretation des Gleichheitssatzes als Verbot richterlicher Willkür.

IV. Weitere Argumente bei Leibholz Neben Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung verwendete Leibholz noch andere Argumente, um seine Interpretation des Gleichheitssatzes zu belegen. Da sie allein die Bindung des Gesetzgebers an Art. 109 Abs. 1 WRV belegen sollten, brauchen sie hier nicht ausführlich erörtert zu werden. Aufschlußreich ist aber, daß Leibholz diese Bindung unter anderem aus dessen Wortlaut und Entstehungsgeschichte herleitete. Den Wörtlaut 54

v. Brünneck, 120 f. hält zwar ein für alle Bereiche des staatlichen Handelns geltendes Willkürverbot in der Verfassungsjudikatur der Schweiz, Österreichs, Deutschlands, der USA und Frankreichs für anerkannt, unterscheidet dabei aber nicht zwischen vergleichender und absoluter Willkür.

C. Diskussion der klassischen Argumente

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muß man dafür - etwas gezwungen - quasi-zeitlich verstehen; im Sinne von: „Alle Menschen sind vor Erlaß von Gesetzen gleich" 5 5 . Vor allem die Entstehungsgeschichte kann aber keinesfalls als Argument herhalten. Leibholz selbst konstatiert nur, es habe einen „Bedeutungswandel" der Grundrechte gegeben, weil eine Reihe anderer Verfassungsbestimmungen in der ausdrücklichen Tendenz geschaffen worden seien, „das Individuum nicht nur gegen Willkürakte der Verwaltung, sondern auch des Gesetzgebers zu schützen" 56 . Das trifft in dieser Allgemeinheit für die von ihm angeführten Art. 110 Abs. 2, 129 Abs. 1, 153 WRV vielleicht zu, sagt aber über den Gleichheitssatz nichts aus. Zudem hatte der allgemeine Gleichheitssatz einen solch tiefgreifenden Wandel bei den Beratungen in der Weimarer Nationalversammlung nicht erfahren. Über ihn wurde weder im Verfassungsausschuß noch im Plenum diskutiert; der Abgeordnete Beyerle begründete die Aufnahme in die Verfassung mit den schlichten Worten: „Es ist ein alter Satz, den alle früheren Grundrechte enthalten haben" 57 .

V. Ergebnis zu den klassischen Argumenten Insgesamt können die Argumente, die die „Neue Lehre" für die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot anführte, nicht überzeugen. Das rechtsphilosophische Argument, mit dem die Bindung des Gleichheitssatzes an Rechtsidee und Gerechtigkeit belegt werden sollte, entwertete Leibholz dadurch, daß er jeweils nur einzelne Elemente anderer Arbeiten übernahm und sie im übrigen ablehnte. Bei der Rechtsvergleichung unterstützen die Belege aus der Rechtsprechung anderer Staaten die Willkür-Interpretation weder auf dem Stand von 1925 noch heute. Darüber hinaus liefern die klassischen Argumente aber auch keine hinreichende Begründung der Abweichungen des BVerfG gegenüber dem ursprünglichen Willkürverbot. In den meisten Rechtsordnungen wird der Gleichheitssatz streng vergleichend geprüft. Unklar bleibt schließlich auch das Verhältnis von einfachem Recht und den generellen Anforderungen der Gerechtigkeit bei Leibholz und in der Rechtsprechung des BVerfG. Mit den klassischen Argumenten läßt sich die Herleitung eines Verbots richterlicher Willkür aus dem Gleichheitssatz daher nicht begründen 58 . 55

Ein „Taschenspieler-Kunststückchen", so Hill, 110. Gleichheit, 34 f. und Vorwort, 15. 57 Sten. Berichte, 370; vgl. Hesse, AöR 103 (1984), 175 f., Nawiasky, 28. 58 Diese Bewertung der Leibholzschen Argumentation fügt sich übrigens - auch wenn man die Polemik der Weimarer Zeit beiseite läßt - in das Gesamtbild, das die ausführliche Untersuchung Wiegandts vom Wissenschaftler Leibholz zeichnet. Wiegandt meint, seine Stärke habe eher in der Vorgabe einer „großen Linie" als in methodischer Sauberkeit oder Detailversessenheit gelegen; seine Verdienste gründeten 56

8*

116

4. Kap.: Der Gleichheitssatz als allgemeines Willkürverbot?

D. Ergebnis Die Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG als allgemeines Willkürverbot kann nach alledem durch die bislang dafür vorgebrachten Argumente nicht gestützt werden. Das bedeutet zwar, daß die bisherige Begründung seiner Handhabung als Verbot richterlicher Willkür nicht tragfähig ist. Es eröffnet aber zugleich die Möglichkeit, die spezifische Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsanwendung neu zu erörtern. Denn sie wurde sowohl bei der Begründung der Willkürtheorie durch Leibholz als auch bei deren Umsetzung durch das BVerfG von allgemeinen rechtsstaatlichen Erwägungen in den Hintergrund gedrängt. Denkbar ist, daß eine solche Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG zum Ergebnis haben wird, daß sich die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile auf andere Weise als bisher überzeugender rechtfertigen läßt.

sich eher auf die Prägnanz der von ihm geprägten Begriffe und die Praktikabilität seiner Ergebnisse. Die Bewertung seines Wirkens steht heute zwischen den Extremen eines „grand old man" des Bundesverfassungsgerichts (Benda in Link, 22) und eines „Verhängnisses" für die Bundesrepublik (Hennis, 8); ähnlich Sangmeister, JuS 1999, 25. Letztere Wertung bezieht sich aber nicht auf das Willkürverbot, sondern auf Leibholz' Parteienlehre.

5. Kapitel

Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit Bei seiner Interpretation des Gleichheitssatzes erörterte Leibholz nur am Rande, ob dieser für alle staatlichen Gewalten dieselbe Bedeutung habe. Er erarbeitete seinen Inhalt unabhängig von seiner Reichweite und machte erst bei der Auslegung des Willkürverbots Unterschiede zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Aber auch in der Rechtsprechung des BVerfG spielt die spezifische Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsprechung nur eine geringe Rolle. In den meisten seiner Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit von Gerichtsentscheidungen geht es nicht näher darauf ein, was Art. 3 Abs. 1 GG konkret vom Richter verlangt. Es zitiert nur die ursprünglich für die Normenkontrolle entwickelten Prüfungskriterien, das Willkürverbot und die Neue Formel, und begründet dies lediglich damit, die Gerichte dürften „nicht zu Differenzierungen gelangen, die dem Gesetzgeber versagt sind" 1 . Ob diese Kriterien die Anforderungen, die der Gleichheitssatz an die Rechtsprechung stellt, überhaupt zutreffend wiedergeben, ob also Judikative und Legislative wirklich dieselben oder ganz unterschiedliche Differenzierungen erlaubt und verboten sind, bleibt dabei offen. Damit entfernt sich das BVerfG nicht nur von der dogmatischen Struktur des Gleichheitssatzes. Es verzichtet auch auf die Möglichkeit, eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen stringenter zu begründen als mit Hilfe seiner umstrittenen Auslegung als allgemeines Willkürverbot. Sie führt über das in seiner Rechtsprechung nur beiläufig erwähnte Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit, das zwar als ein traditioneller Inhalt des Gleichheitssatzes anerkannt ist, dessen Bedeutung und Tragweite aber nur selten erörtert werden. Falls wirklich - wie häufig vertreten wird - jede rechtswidrige Gerichtsentscheidung gegen dieses Gebot verstößt, so eröffnet dies die Möglichkeit, die Willkürkontrolle dadurch schlüssig zu rechtfertigen, daß man die Beanstandung solcher Verstöße durch das BVerfG auf die Aufhebung willkürlicher Urteile beschränkt. Eine solche speziell auf die

1

BVerfGE 58, 369 (374); 65, 377 (384); 67, 70 (80); 70, 230 (240); 74, 129 (149); 84, 197 (199).

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

Rechtsanwendung bezogene Interpretation muß den Vorrang haben vor der pauschalen Umsetzung der Willkürtheorie auf die Urteilsverfassungsbeschwerde.

A. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit ist seit der Zeit des Konstitutionalismus als ein wesentlicher Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes anerkannt. Diese Auffassung ist allerdings in rechtsdogmatischer Hinsicht problematisch. Denn sie bedeutet letztlich, daß sich der Gleichheitssatz mit dem rechtsstaatlichen Legalitätsprinzip, der Forderung nach Rechtmäßigkeit jeder Rechtsanwendung, deckt. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit verlangt, daß alle Rechtsnormen, auf alle Menschen in gleicher Weise angewandt werden. Diese Wendung kann zum einen negativ umschrieben werden: eine Norm darf nicht aus Gründen, die in der Person eines einzelnen Menschen liegen, auf ihn anders angewandt werden als auf andere 2. Auf dieser persönlichen Rechtsanwendungsgleichheit lag das Augenmerk der Interpretation des Gleichheitssatzes zur Zeit der Aufklärung und des Konstitutionalismus. Erst später wurde die eigentliche Tragweite dieser Forderung deutlich. Positiv formuliert, bedeutet gleiche Rechtsanwendung doch, daß „auf die gleichgelagerten Tatbestände generell die gleiche Rechtsnorm zur Anwendung gelangt und auch in dieser Weise dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung Genüge getan wird" 3 . Der Richter darf also, wegen seiner Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG, nicht nach persönlichen, sondern nur nach sachlichen Gründen differenzieren. Die sachlichen Differenzierungsgründe entnimmt er - das folgt aus seiner Bindung an das Gesetz - den Normen, die in einem bestimmten Fall anwendbar sind. Wenn der Richter diese Normen falsch anwendet, also rechtswidrig entscheidet, differenziert er daher ohne einen sachlichen Grund. Bedeutet dies: der allgemeine Gleichheitssatz als Gebot persönlicher oder sachlicher Rechtsanwendungsgleichheit wird durch jedes rechtswidrige Gerichtsurteil verletzt? Das wäre paradox: er würde umfassend richtige Rechtsprechung garantieren - und doch ohne spezifischen Gehalt im allgemeinen Grundsatz der Bindung an das Gesetz aufgehen.

2 Genau genommen enthält zwar auch der gesetzliche Tatbestand „Gründe, die in der Person liegen". Irrelevant soll aber sein, um welche konkrete Person es sich handelt. 3 Leibholz, Gleichheit, 30; Hatschek, Bd. I S. 241 f.

B. Der Gleichheitssatz als Garantie richtiger RechtsanWendung?

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B. Der Gleichheitssatz als Garantie richtiger Rechtsanwendung? Dennoch ist das so verstandene Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit als Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes in der juristischen Literatur weithin anerkannt 4. Das BVerfG verhält sich - wie übrigens auch Leibholz in der „Gleichheit" 5 - ambivalent. Einerseits zitiert es dieses Gebot gelegentlich und apostrophiert es dann als eine Grundforderung des Rechtsstaats oder gar als die „Seele der Gerechtigkeit" 6 . Aber es scheut verständlicherweise die Konsequenz, daß dann jedes rechtswidrige Gerichtsurteil den Gleichheitssatz verletzt und meint ausdrücklich, nicht jeder Fehler in der Rechtsanwendung sei für Art. 3 Abs. 1 GG relevant 7 . Die Möglichkeit, die Willkürkontrolle mit Hilfe des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit zu begründen, deutet es allenfalls an. So selbstverständlich, wie der Schluß von der Rechtsanwendungsgleichheit auf die Gesetzmäßigkeitsgarantie meist gezogen wird, ist er aber in der Tat nicht. In einer Reihe von Fällen bestehen Zweifel, ob jedes rechtswidrige Urteil wirklich schon aufgrund seiner Rechtswidrigkeit zugleich gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Diese Zweifel betreffen zum einen materiellrechtliche, zum anderen begriffliche Aspekte. 4

Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 398; Bettermann, Der Staat 1 (1962), 80; Maunz/Zippelius (29. Auflage), 207; Papier, 434; Bryde, 314; Dreier-Dreier Vorb. Rdnr. 54; Martini, 13; Seidl, 61. DJT, O 14; Dreier-Heun Art. 3 Rdnr. 39 Fußn. 227; Kloepfer, 26; Rennert, NJW 1990, 12; Götz, DVB1 1968, 93 ff.; Krugmann JuS 1998, 9. Gewisse Zweifel („streng genommen") äußern Starck in v. Mangoldt/ Klein, Art. 3, Rdnr. 190; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 38. Luhmann, Institutionen, 167 hält den Gleichheitssatz daher für „leerlaufend"; Braczyk, 143 gar für „überflüssig". Nur Welding, ARSP 1986, 53 meint, falsche Gesetzesanwendung verletze nie das Gleichheitsprinzip, sondern stets nur den Geltungsanspruch des Gesetzes. 5 Er stellte fest, „in diesem Sinne würde das Prinzip der Gleichheit der Rechtsanwendung auf nichts anderes hinauslaufen als auf die verfassungsmäßige Garantie, daß die Rechtsanwendung in inhaltlicher Übereinstimmung mit den Gesetzen gehalten wird oder kürzer auf die Gewährleistung der ,Rechtsrichtigkeit' der Rechtsanwendung" (30), meinte dann aber, so solle Art. 109 Abs. 1 WRV doch offenbar nicht verstanden werden. 6 BVerfGE 54, 277 (296): „seit den Anfängen unseres Rechtsdenkens (vgl. 3 Mose 19, 15)". Wo es heißt: „Ihr sollt in der Rechtsprechung kein Unrecht tun. Du sollst weder für einen Geringen noch für einen Großen Partei nehmen; gerecht sollst Du ... richten ..."; BVerfGE 69, 248 (254); 54, 117 (125) „Gleichheit der Rechtsanwendung durch den Richter im Interesse materialer Gerechtigkeit" (Hervorhebung im Original). 7 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 4, 1 (6), die auch bei sachlicher Rechtsgleichheit gilt, BVerfGE 78, 104 (121). Eine vorsichtige Verbindung von der Rechtsanwendungsgleichheit zum Willkürverbot in BVerfG NJW 1988, 1456 (1457): „Gleichheit der Rechtsanwendung ist nicht zuletzt Element des Willkürmaßstabs".

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

I. Materiellrechtliche Einwände In materiell-rechtlicher Hinsicht ist die Schlußfolgerung von der Rechtswidrigkeit auf die Gleichheitswidrigkeit eines Urteils unter drei Aspekten zweifelhaft. Zum einen bindet der Gleichheitssatz die Träger hoheitlicher Gewalt nach herrschender Ansicht nur an ihre eigenen Entscheidungen, und nicht an die anderer Instanzen. Zum anderen verletzt eine Gerichtsentscheidung nach verbreiteter Auffassung nur dann Art. 3 Abs. 1 GG, wenn sie einen Nachteil für den Betroffenen bewirkt. Entscheidungen, die nach beiden Seiten neutral sind, unterfallen daher möglicherweise nicht diesem Grundrecht. Schließlich erscheint zweifelhaft, ob auch die Nichtanwendung einer verfassungswidrigen Norm automatisch einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach sich zieht. 1. Einschränkung des Art. 3 Abs. 1 GG durch staatliche Gliederungen Nach allgemeiner Ansicht bindet der Gleichheitssatz den jeweils zuständigen Hoheitsträger nur an seine eigenen Entscheidungen. Diese Auffassung war ursprünglich nur auf die Verwaltung bezogen; sie gilt aber wegen der „konstitutionellen Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung" auch für die Gerichte 8 . Ein Gericht, das von einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Bundeslandes, Gerichtszweiges oder einer anderen Instanz abweicht, verstößt damit nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Diese Auffassung hat zum einen eine inhaltliche Beschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit zur Folge. Sie reduziert seine Effektivität erheblich, weil Unterschiede in der Rechtsprechung verschiedener 8 Nur beim Vollzug von Bundesgesetzen durch die Landesverwaltung wird eine Grenze dort gezogen, wo eine ungleichmäßige Gesetzesanwendung nicht Einzelfalladäquanz, sondern eine systematische politische Zielsetzung verfolgt, BVerfGE 11, 6 (18) und 76, 1 (77); BK-Rüfner, Art. 3 Rdnr. 178 ff.; Sachs-Osterloh, Art. 3 Rdnr. 81; Dittmann, 221 ff. Vereinzelt heißt es, daß eine Grenze im Willkürverbot liege (BVerfGE 1, 332 (345); Dreier-Heun, Art. 3 Rdnr. 54; Schulte, Rechtsprechungseinheit, 32 ff., 38 ff. Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 410; BK-Rüfner, Art. 3 Rdnr. 185). Die h.M. lehnt eine länderübergreifende Bindung aber ab, SachsOsterloh, Art. 3 Rdnr. 81; Dreier-Heun, Art. 3 Rdnr. 41; Starck in: v. Mangoldt/ Klein, Art. 3, Rdnr. 165 ff.; Schoch, DVB1 1988, 870; Herzog, MDHS, Art. 3 Anhang, Rdnr. 38 ff.; Bethge AöR 110 (1985), 207 f.; BVerfGE 45, 187 (260 f.); 57, 29 (38); 10, 354 (371); 16, 6 (24) (noch weitergehend: „zum Nachweis einer Gleichheitsverletzung durch den Landesgesetzgeber eignen sich nur Vergleichspaare aus dem Land"); zu Kommunen BVerfGE 21, 54 (68); 79, 127 (158); Bund/Länder in BVerfGE 42, 20 (27). Nach v. Münch, AöR 85 (i960), 270 ff., soll sogar nicht der Gesetzgeber schlechthin, sondern nur der jeweils amtierende Bundestag an den Gleichheitssatz gebunden sein.

B. Der Gleichheitssatz als Garantie richtiger Rechtsanendung?

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Spruchkörper nicht mit Hilfe des Gleichheitssatzes beseitigt werden können. Daneben hat diese Auffassung aber auch eine wichtige methodische Konsequenz. Denn sie bedeutet, daß man Gleichheitsverstöße durch Gerichtsurteile und Verwaltungsentscheidungen in aller Regel nicht dadurch feststellen kann, daß man verschiedene Urteile miteinander vergleicht. Ein solcher Vergleich kommt nur dort in Frage, wo die entscheidende Instanz selbst an den Gleichheitssatz gebunden ist. Das ist aber nur ausnahmsweise der Fall, etwa dann, wenn es sich um zwei Entscheidungen derselben Richter, eventuell auch derselben Spruchkörper, handelt. Wo eine solche Bindung nicht besteht, ist ein Vergleich verschiedener Urteile für die Überprüfung einer Gleichbehandlung nicht relevant. Das bedeutet, daß Verstöße gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG enthaltene Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit nicht im Wege eines Vergleichs festgestellt werden können. Soweit daraus inhaltliche Maßgaben an die Gerichte entnommen werden, muß die verfassungsgerichtliche Überprüfung ihrer Beachtung unmittelbar anhand des einzelnen Urteils erfolgen. 2. Nachteil als Voraussetzung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG Zweifel an der Deckung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit mit der Forderung nach rechtmäßiger Entscheidung bestehen auch in inhaltlicher Hinsicht. Nach nahezu allgemeiner Auffassung schützt der Gleichheitssatz eine Person nur dann vor einer ungleichen Behandlung, wenn diese einen Nachteil für den Betroffenen bewirkt 9 . Doch zeigt sich hier eine gewisse Unsicherheit in der Begründung. Häufig wird diese Frage nicht materiell-rechtlich, sondern mit prozessualen Argumenten diskutiert. So heißt es, daß der von einer begünstigenden Entscheidung Betroffene kein Rechtsschutzbedürfnis habe. Zudem ist umstritten, ob diese Einschränkung den Anwendungsbereich oder den Schutzbereich des Gleichheitssatzes oder aber das Maß der Anforderungen an die Rechtfertigung einer Differenzierung betrifft 1 0 9

BVerfGE 67, 239 (244); Sachs-Osterloh, Art. 3 Rdnr. 84; Dreier-Heun, Art. 3 Rdnr. 38; Pietzcker, JZ 1989, 307; Jarass/Pieroth, Art. 3, Rdnr. 8; unzutreffende Gegenbeispiele bei Bleckmann, Struktur: in BVerfGE 18, 38 (48) lag ein Nachteil der Betroffenen in der Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung; in BVerfGE 23, 153 (nicht: 170) ging es um eine Regelung, die sowohl Vorteile als auch Nachteile brachte. 10 Kloepfer, 29 ff. (Eingriff); Dreier-Heun, Art. 3 Rdnr. 38 (Schutzbereich); ebenso Sachs-Osterloh, Art. 3 Rdnr. 84, die außerdem die Kontrollintensität anhand des Ausmaßes des Nachteils steuern will.

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

a) Neutrale Struktur des Gleichheitssatzes Der Gleichheitssatz selbst sagt hierüber nichts aus. Eine gleiche Behandlung verschiedener Personen kann im Guten wie im Schlechten erfolgen. Umgekehrt ist auch für das Vorliegen einer Ungleichbehandlung irrelevant, ob der Betroffene zu schlecht und Dritte zu gut, oder ob er zu gut und andere zu schlecht behandelt werden. In welche Richtung vom Gebot gleicher rechtlicher Behandlung abgewichen wird, spielt für die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 GG verletzt ist, keine Rolle. Der Gleichheitssatz ist, in diesem Sinne, strukturell neutral. Es wäre zwar denkbar, den Nachteil schon in der Ungleichbehandlung selbst zu sehen. Dann wäre jeder, der sich gegenüber einem rechtswidrigen Urteil auf das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit beruft, schon deswegen klagebefugt; der Gleichheitssatz würde zu einem positiv wie negativ wirkenden „allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch" 11. Das allerdings würde logischerweise bedeuten, daß der einzelne auch ein Abwehrrecht gegen eine zu gute Behandlung seiner selbst haben müßte 12 . Dies wäre ein Widerspruch zu den allgemeinen Grundsätzen des Prozeßrechts und zwischen Gleichheitssatz und Freiheitsrechten. Daher versteht die fast einhellige Ansicht das Erfordernis eines Nachteils so, daß eine zusätzliche negative Betroffenheit vorliegen muß, damit jemand sich auf den Gleichheitssatz berufen kann. b) Begriff des Nachteils Dabei ist der Verfassungsbeschwerdeführer sicher beschwerdebefugt, wenn er zugleich in anderen subjektiven Rechten verletzt ist. Aber wie „betroffen" muß er sein, damit sein Anspruch auf Abwehr einer ungleichen Behandlung direkt aus dem Gleichheitssatz selbst folgt? Dies hängt davon ab, wie man den Begriff des Nachteils interpretiert. Die herrschende Auf11 „... dem die Berechtigung jedermanns zugrunde liegen würde, die Befolgung aller normierten Verpflichtungen der öffentlichen Gewalt verlangen und gar im Klagewege (Popularklage) erzwingen zu können", Wolff/Bachof/Stober, § 43 Rdnr. 10. 12 So in der Tat Sachs, in: FS Friauf, 315 ff.; DöV 1984, 411 (417); wohl auch ders. in Stern, III/1, 652 („abgelöst von den jeweils berührten eigenen Sachinteressen und den diesbezüglichen Sekundärwirkungen"). Für die Rechtsprechung ebenso Riggert, 59, ähnlich Dreier-Heun, Art. 3 Rdnr. 38. Dem Abwehrrecht gegen zu gute Behandlung korrespondiert stets das eines anderen gegen zu schlechte Behandlung. Wegen der „Gesamtrichtung des Gleichheitssatzes nach oben" soll aber eine „Popularklage des Neides", die die eigene Besserstellung durch Schlechterstellung des Dritten verwirklichen will, nicht statthaft sein (BVerfGE 49, 1 m.w.N. (mit Fehlverweis auf BVerfGE 18, 1 (16) und 43, 48 (68); BVerfG NJW 1990, 1593; Hessischer VGH DöV 1968, 504; Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 476 ff.; wohl auch Kirchhof, HBStR, § 125, Rdnr. 91).

B. Der Gleichheitssatz als Garantie richtiger R e c h t s a n W e n d u n g ? 1 2 3

fassung versteht ihn sehr weit: schon geringfügige Ungleichbehandlungen und Belastungen reichen dafür aus 13 . Er setzt nicht einmal zwingend voraus, daß der Betroffene selbst an dem Verfahren beteiligt war 1 4 . Nur vereinzelt wird vertreten, daß man nur dann einen Anspruch auf Gleichbehandlung habe, wenn eine gerichtliche Entscheidung außer dem Gleichheitssatz noch ein weiteres subjektives Recht verletzt, wenn man also das erstrebte staatliche Handeln ohnehin aus anderen Vorschriften verlangen könnte 15 . Ein solches akzessorisches Verständnis des Gleichheitssatzes wird aber zu Recht abgelehnt, denn es würde dieses Grundrecht nahezu überflüssig machen. Wo sich ein Anspruch schon aus einer anderen Rechtsnorm ergibt, benötigt man ihn nicht, um den Anspruch einzuklagen; und wo dies nicht der Fall ist, könnte er nicht greifen. Die einzige Funktion des Art. 3 Abs. 1 GG bestünde dann darin, daß er die Abwehrmöglichkeiten gegen Verletzungen anderer subjektiver Rechte verstärkt, indem er über den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten hinaus auch noch den zum BVerfG eröffnet, das nur Verletzungen von Grundrechten untersucht 16 . Dies ist ein denkbar geringer Vorteil, denn Art. 2 Abs. 1 GG erfüllt diese Funktion bereits für alle rechtswidrigen Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit. Diese Auffassung ist daher abzulehnen. Auch andere Nachteile als Verletzungen von Anspruchsnormen berechtigen zur Berufung auf den Gleichheitssatz. 13 Sachs-Osterloh, Art. 3 Rdnr. 84 ff.; Lübbe-Wolff, 258, 240 ff.; P.-M. Huber, 512 ff., 523; Kloepfer, 57, anders aber ders., 26. Das BVerfG hat seine ursprünglich höheren Anforderungen (BVerfGE 13, 331 (341): „nicht jede geringfügige Ungleichbehandlung") gesenkt (BVerfGE 71, 39 (50)). Damit reicht der Nachteilsbegriff weiter als die Eingriffsschwelle der Freiheitsrechte, BVerfGE 66, 39 (57 f.). Hier spielen z.T. auch funktionelle Erwägungen mit hinein, BVerfGE 19, 149 (149) (DM 27,04): „Bagatellsache, deren Bedeutung eine Entscheidung durch das BVerfG nicht rechtfertigt". S. dazu Pieroth/Schlink, Rdnr. 238 ff.; Eckhoff, passim; Bleckmann/Eckhoff, DVB1 1988, 373. 14 Zuck, JZ 1986, 921 Fußn. 5; Schumann, BVerfG, 12 Rdnr. 22; BVerfGE 21, 132 (137); 60, 7; Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 106. Zu Unrecht verlangen BVerfGE 66, 100; 67, 239, für die Zulässigkeit von Richtervorlagen, daß im Ausgangsverfahren bei Anwendung der beanstandeten Norm eine Benachteiligung gerade eines Beteiligten und nicht Dritter entstünde; der Gesetzgeber kann aber selbst wählen, wie er eine Neuregelung vornimmt. Kritisch dazu auch Aretz JZ 1984, 920; Sachs, DVB1 1985, 1109; Benda/Klein Rdnr. 785 ff.; Löwer, HBStR II, Rdnr. 790. 15 Nach BK-Rüfner, Art. 3 Rdnr. 158 soll sogar die Beeinträchtigung eines weiteren Grundrechts erforderlich sein; nach Bleckmann, Struktur, begründet der Gleichheitssatz nur Rechte, wo in ein Freiheitsrecht oder ein „soziales Grundrecht" eingegriffen worden sei. 16 So ausdrücklich - für den Bereich, in dem Ansprüche aus anderem Recht schon vorliegen - Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 467 ff.; er sieht aber auch Auswirkungen für gesetzlich nicht gebundene Entscheidungen. Selbst dann enthielte der Gleichheitssatz übrigens - was vereinzelt offengelassen oder gar verneint wird (Friesenhahn, 50. DJT, G 20; BVerwG 65, 167 (173)) - ein subjektives Recht.

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

c) Nachteil bei der Rechtsanwendung Ein Urteil muß also stets einen Nachteil eines Grundrechtsträgers bewirken, damit es ihn in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Dieser Nachteil wird im allgemeinen sehr weit verstanden. Ein rechtswidriges Urteil, in dem keinerlei Sanktion ausgesprochen wird oder in dem beide Seiten bekommen, was sie wollten, das also keinen Nachteil für einen Betroffenen bedeutet, dürfte auch eher selten sein. Völlig ausgeschlossen ist das aber nicht; so kann z.B. eine Ehe rechtswidrig, aber einvernehmlich und unter Inkaufnahme der belastenden Rechtsfolgen im Hinblick auf Unterhalt etc. geschieden werden. 3. Verhältnis

von Rechtmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit

Schließlich ist zweifelhaft, wie das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit sich zum Verhältnis zwischen Rechts- und Verfassungswidrigkeit bestimmt. So könnte eine Gerichtsentscheidung zwar rechtswidrig, aber verfassungsgemäß sein. Dies ist der Fall, wenn und weil die Norm des einfachen Rechts, gegen die sie verstößt, ihrerseits verfassungswidrig ist. Verletzt die Entscheidung dann das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit? Das Verfassungsrecht geht dem im Rang unter ihm stehenden Recht vor. Daher sind Rechtsnormen, die gegen Verfassungsrecht verstoßen, nichtig und unanwendbar. Keine rechtliche Differenzierung darf auf verfassungswidrigem einfachem Recht beruhen 17 . Anders formuliert, sind nicht nur die Normen des einfachen Rechts, sondern auch die des Verfassungsrechts zwingende Differenzierungskriterien. Allerdings erlauben und verbieten sie aufgrund ihrer Abstraktionshöhe meist keine konkrete Differenzierung. Das bedeutet im Ergebnis, daß das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit zum einen Entscheidungen, die gegen verfassungsmäßiges einfaches Recht verstoßen und zum anderen Entscheidungen, die zwar nicht das einfache Recht, wohl aber Verfassungsrecht verletzen, verbietet. Es verstößt also nicht nur jede rechtswidrige, sondern auch jede verfassungswidrige Gerichtsentscheidung gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Rechtswidrige, aber verfassungsmäßige Urteile verletzen den Gleichheitssatz hingegen nicht. 4. Zwischenergebnis Das im allgemeinen Gleichheitssatz enthaltene Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit wird somit durch jede Entscheidung eines Gerichts verletzt, 17

Anders offenbar Kloepfer, 27, der mit dem „Recht auf Rechtsanwendung" ein Recht auf Anwendung einfachen Rechts meint.

B. Der Gleichheitssatz als Garantie richtiger R e c h t s a n e n d u n g ? 1 2 5

die gegen verfassungsmäßiges einfaches Recht verstößt und einen Nachteil für einen Grundrechtsträger bewirkt. Eine solche Verletzung kann nicht im Wege eines Vergleichs verschiedener Urteile, sondern nur anhand eines einzelnen Urteils festgestellt werden.

II. Begriffliche Einwände Neben diesen rechtlichen Einschränkungen des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit gibt es Fälle, in denen die Anwendung einer Norm begrifflich nicht ohne weiteres als eine Gleichbehandlung verstanden werden kann. Wo dies nicht der Fall ist, stellt ein rechtswidriges Gerichtsurteil keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit dar. 7. Die erste Subsumtion Die erstmalige Subsumtion eines Falles unter eine Norm stellt unabhängig davon, ob sie rechtmäßig oder rechtswidrig ist, keine Gleich- oder Ungleichbehandlung dar. Denn hier fehlt das Vergleichsobjekt, ein anderer Mensch, auf den die Norm anders angewandt wurde 18 . Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß letztlich jede Anwendung einer Norm eine erstmalige sei, weil kein Mensch und kein Fall mit einem anderen identisch sei. Denn wenn man bestreitet, daß Menschen und Sachverhalte überhaupt vergleichbar sind, wird der gesamte Gleichheitssatz sinnlos. 2. Gleichheit im Unrecht Das Problem der Gleichheit im Unrecht entsteht, wenn eine Norm stets falsch und dann ein erstes Mal richtig angewandt wird 1 9 . In der richtigen Anwendung liegt zwar ein Gleichheitsverstoß. Die Entscheidung kann aber nicht als rechtswidrig angesehen werden. Hingegen stellt eine erneute rechtswidrige Anwendung auf den ersten Blick keinen Gleichheitsverstoß dar, denn alle Rechtsunterworfenen, die gleich (wenn auch anders) zu behandeln waren, wurden gleich behandelt.

18 In diesem Sinne heißt es gelegentlich, die Anwendung des Gleichheitssatzes setze voraus, daß der Staat schon gehandelt hat; Friesenhahn, 50. DJT, G 20; Bethge, Problematik, 235; Erichsen, VerwArch 71 (1980), 294 ff.; Schoch, DVB1 1988, 887 f. Kritisch Sachs, FS Friauf, 314. 19 Dazu Götz, DVB1 1968, 93 ff., der über das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit den Satz „Keine Gleichheit im Unrecht" widerlegen will; anders Sachs, FS Friauf, 309 ff.; Kölbel, passim, der richtig präzisiert: „keine Gleichbehandlung im Unrecht"; Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 179 ff.

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

3. Mehrmalige Anwendung einer Norm auf dieselbe Person Wird eine Norm ausschließlich, aber mehrmals auf eine bestimmte Person angewandt, und zwar zunächst rechtmäßig und dann rechtswidrig, stellt die rechtswidrige Anwendung ebenfalls keinen Gleichheitsverstoß dar. In diesem Fall wird nur eine einzelne Person gegenüber sich selbst ungleich behandelt 20 4. Das Robinson-Problem In einer Rechtsordnung mit nur einem Bürger könnte dieser zwar von einem Rechtsanwender rechtmäßig oder rechtswidrig behandelt werden. Darin läge aber keine Ungleichbehandlung im Verhältnis zu einem Dritten 2 1 . Hiermit verwandt ist der Fall eines allgemein formulierten Gesetzes, das nur auf einen einzigen Fall Anwendung findet. Auch seine Anwendung stellt keine Gleichbehandlung des Adressaten mit anderen dar.

C. Gleichbehandlung in der Rechtsanwendung Diese begrifflichen Problemfälle lassen sich aber lösen, wenn man die Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsprechung näher betrachtet.

I. Das Prinzip der Gleichbehandlung in der juristischen Methodenlehre Das Prinzip der Gleichbehandlung des wesentlich Gleichen spielt bei der Rechtsanwendung zweifellos eine große Rolle. Der Richter stellt in vielerlei Hinsicht Vergleiche an, sucht Parallelen, ordnet Fälle in Fallgruppen ein. Subsumtion, Auslegung und Analogie lassen sich alle als Vergleichsoperationen verstehen. Die große Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsanwendung spiegelt sich in der juristischen Literatur wider: Pawlowski stellt das Gleichbehandlungsprinzip in den Mittelpunkt seiner Methodenlehre; nach Larenz/Canaris hat es „hervorragende Bedeutung"; Zippelius nennt es „die Seele der juristischen Hermeneutik" 22 . 20 Hier ist denkbar, das Problem über die sachliche Rechtsgleichheit zu lösen, indem man darauf abstellt, daß derselbe Mensch, aber ein anderer Fall verschieden behandelt wurde. Das ist aber deswegen schwierig, weil hinter der sachlichen Rechtsgleichheit stets die persönliche steht, hinter dem Fall also der (gleiche) Mensch. Für ihn bleibt es bei dem oben dargestellten Problem. 21 Nach Lerche, 30, Fußn. 6; Kirchhof, FS Geiger, 85. 22 Pawlowski, Rdnr. 53 ff. und passim, etwa S. 53 ff., 181 ff., 242 ff.; Larenz/ Canaris, 155, 195; Zippelius, Methodenlehre, 67. In Recht und Gerechtigkeit, 296 will er dies aber „mit einiger Übertreibung" gesagt haben.

C. Gleichbehandlung in der RechtsanWendung

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Gleichheitsaspekte werden bei der Rechtsanwendung besonders in zweierlei Hinsicht deutlich. Zum einen betrifft dies den technischen Akt des Aufeinander-Beziehens von Sachverhalt und Tatbestand. Hier stellt sich das (etwas abstrakte) Problem, daß das eine ein konkretes „Etwas", das andere eine Menge rechtssprachlicher Begriffe darstellt. Eine Lehrmeinung bezeichnet diesen, den eigentlichen Subsumtionsvorgang als eine „Gleichsetzung" 2 3 ; dem stehen „Einordnungslehren" 24 gegenüber, sowie freiere Auffassungen, die das quasi „dezisionistische" Moment in den Vordergrund stellen. Zumindest nach der ersten Auffassung impliziert diese Operation also auch eine Gleichbehandlung. Allerdings versuchen diese Theorien mehr, den Subsumtionsvorgang formal zu beschreiben, und schließen sich auch nicht wirklich gegenseitig aus 25 . Interessanter im Hinblick auf das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit ist die inhaltliche Seite: wie lassen sich die materiellen Voraussetzungen der Subsumtion im Verhältnis von Sachverhalt und Tatbestand beschreiben? Hier treten Gleichheitsaspekte noch deutlicher zutage. Beispielsweise heißt es in der juristischen Methodenlehre, die Subsumtion setze einen neuen Fall mit denjenigen Fällen gleich, deren Einschlägigkeit bereits erwiesen sei 2 6 ; oder der Richter bilde aus der Norm „eine Palette von vorstellbaren Anwendungsfällen, mit der sich der jetzige vergleichen läßt" 2 7 . Aus Sicht der Einordnungslehren enthält der gesetzliche Tatbestand bereits den einschlägigen Lebenssachverhalt als eine Teilmenge, die lediglich in ihn einzuordnen ist; der Tatbestand wird als Regelung einer „Reihe gleich gelagerter Einzelfälle" begriffen 28 . Schließlich wird als Voraussetzung der Subsumtion genannt, Fall und Norm müßten „in der ratio iuris ähnlich" sein; dabei meint Ähnlichkeit die Identität auf verschiedenen Ebenen 29 . Auf dieser Grundlage ist das methodische Modell des Typenvergleichs entwickelt worden 30 . Rechtsanwendung in Zweifelsfällen, insbesondere also bei Auslegung, Lückenfüllung und Rechtsfortbildung, erfolgt hiernach, in23

Kaufmann/Hassemer, 162. Wohl auch Larenz/Canaris, 96; vgl. noch Koch/ Rüßmann, 113 f. 24 Looschelders/Roth, 90 f. m.w.N. Sie nennen dies plakativ den „Sprung vom Leben in die Norm". Zu beidem Fikentscher, 742 ff. 25 Das wird deutlich, wenn sich die Bezeichnungen vermengen, wie bei Larenz/ Canaris, die 95 von „wertender Zuordnung", 96 aber von „Gleichsetzung der Merkmale des zu beurteilenden Sachverhalts mit den im Oberbegriff angegebenen" sprechen. Daßelbe bei Engisch, 55: die Einordnung „gründet sich auf jene Gleichsetzung" etc. 26 Engisch, 55 f., 213 Anm. 45 a; Werner Böckenförde 77. Ablehnend Looschelders/Roth, 90; Larenz, 271 ff. 27 Nachweise bei Engisch, 213; in diese Richtung etwa Esser, 30 ff. 28 Schnapp, 64; Looschelders/Roth, 90 f. 29 Kaufmann/Hassemer, 162.

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

dem aus dem Tatbestand und denjenigen Fällen, die ihm zweifelsfrei unterfallen, ein sozusagen unproblematischer „Typus" gebildet wird. Der zu entscheidende, problematische Fall wird sodann mit diesem Typus verglichen. Bei Übereinstimmung in den wesentlichen Merkmalen können Tatbestand und Rechtsfolge der Norm auch den problematischen Fall erfassen. Bei einem einschränkendem Typenvergleich wird umgekehrt ein als ungleich beurteilter Typus aus der Norm ausgegliedert. Im Typus sind also sowohl rechtliche als auch tatsächliche Elemente enthalten. Die darin erkennbare Gleichheitsbeziehung betrifft demnach nicht nur das Verhältnis verschiedener Fälle zueinander, sondern auch das von Fall und Norm. Verallgemeinert man dies, läßt sich die Rechtsanwendung als eine Gleichsetzung von Sachverhalt einerseits und Tatbestand andererseits darstellen. Gleichbehandlung der Menschen in diesem Sinne verlangt also ihre Behandlung gemäß den Normen, unter die sie fallen.

II. Aufgabenverteilung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung Dieses Verhältnis von rechtlicher und tatsächlicher Seite der Rechtsanwendung wird noch deutlicher, wenn man die Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgeber und Rechtsanwender im Prozeß der Rechtsanwendung analysiert. 1. Aufgabe des Gesetzgebers In der Gewaltenteilung greifen die Aufgaben von Rechtsetzung und Rechtsanwendung ineinander. Der Gesetzgeber wählt einzelne tatsächliche Merkmale der Lebenssachverhalte aus, kombiniert sie zu gesetzlichen Tatbeständen und weist ihnen bestimmte Rechtsfolgen zu. Mit jeder Norm, die er setzt, nimmt er Gleichbehandlungen und Differenzierungen von Menschen vor. Dies kann unmittelbar (durch Anknüpfung an menschliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen) oder mittelbar (durch Regelung von „unpersönlichen" Sachverhalten) geschehen. Der Gesetzgeber behandelt also, indem er regelt, verschiedene Tatbestände und Menschen gleich und bildet automatisch Vergleichsgruppen, die von den Regelungen jeweils erfaßt oder ausgeklammert werden 31 . Dadurch setzt er seine GleichheitsWertungen in normative Tatbestände um. 30

Dazu Pawlowski, Rdnr. 225 ff.; Kaufmann/Hassemer, 281 ff.; Zippelius, Typenvergleich, 482 ff.; ders., Einführung, 62 ff.; Engisch, 255 ff. Rdnr. 118a. Ähnlich F. Müller, 142 ff., 277 ff., nach dem der Normtext erst zusammen mit dem „Normprogramm" und dem „Normbereich" die Rechtsnorm bildet. Der im nationalsozialistischen Rechtsdenken entwickelten Typenlehre wird man heute ohne Bedenken folgen können.

C. Gleichbehandlung in der Rechtsanendung

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2. Aufgabe des Rechtsanwenders Dem Rechtsanwender sind mit der Gesetzesnorm und dem Lebenssachverhalt zwei Arbeitsgegenstände vorgegeben. Das Gesetz gilt nicht nur seinen Adressaten, sondern auch ihm gegenüber: liegen die Voraussetzungen einer Norm im Sachverhalt vor, hat er sie anzuwenden. Dabei vermittelt das Gesetz die Gleichheitswertungen des Gesetzgebers, die darin zum Ausdruck kommen, daß er Menschen und Sachverhalte in bestimmten Hinsichten als gleich angesehen und deshalb ihre gleiche Behandlung angeordnet hat. Mit einem Verstoß gegen das Gesetz, mit einer rechtswidrigen Entscheidung wird also zugleich diese Gleichheitswertung des Gesetzgebers verletzt. Zwar liegt auf der Hand, daß rechtliche Regelungen gerichtliche Entscheidungen unterschiedlich stark determinieren. Der Gesetzgeber kann ganze Rechtsgebiete ungeregelt lassen; er kann sich, innerhalb eines normativen Systems, konkreter Gleichheitsaussagen weitgehend enthalten und dem Richter einen eigenen Wertungs- und Entscheidungsspielraum eröffnen. Aber dort, wo das Gesetz solche Wertungen enthält und diese die Entscheidung des Richters festlegen, entscheidet allein die Relation von Sachverhalt und Tatbestand darüber, ob der Richter ihnen entsprochen hat. In einer fehlerhaften Gesetzesanwendung liegt daher unmittelbar ein Verstoß gegen die GleichheitsWertungen des Gesetzgebers. Es genügt mit anderen Worten, einen Verstoß gegen das Gesetz als „Mittler der Gleichheit" 32 festzustellen, um einen Verstoß gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit zu belegen. Gleichheit der Menschen bedeutet im Bereich der Gesetzesbindung die Gleichbehandlung von Sachverhalt und Tatbestand. Hinter dieser Gleichsetzung von Fall und Norm steht die Gleichheit der Menschen untereinander.

III. Lösung der begrifflichen Problemfälle Diese Feststellung ermöglicht es, die begrifflichen Problemfälle des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit zu beantworten. Die erstmalige Anwendung eines Gesetzes stellt einen ersten Nachvollzug der gesetzgeberischen Wertungen dar. Sie werden daher mit einer rechtmäßigen Anwendung befolgt, mit einer rechtswidrigen verletzt 33 . 31

Kaufmann/Hassemer, 164; Schaumann, JZ 1966, 722 f. So treffend Kirchhof, HBStR § 125, Rdnr. 62 ff.; W. Böckenförde, 75 ff.; illustrativ BVerfGE 60, 16 (39 f); 82, 6 (12). 33 Ähnlich wird die erstmalige Anwendung von Verwaltungsvorschriften, die als Bestandteil des behördlichen Ermessens von den Verwaltungsgerichten überprüft werden, als „antizipierte Verwaltungspraxis" angesehen, so daß bei ihrer Fehlerhaf32

9 v. Lindeiner

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

Ein solcher Verstoß gegen die Gleichheitswertungen des Gesetzgebers liegt auch vor, wenn ein allgemein formuliertes Gesetz nur in einem einzigen Fall Anwendung findet und auf diesen mehrmals und unterschiedlich angewandt wird. Bei der „Gleichheit im Unrecht" liegt in der ersten rechtmäßigen Anwendung zwar ein Gleichheitsverstoß. Er ist aber gerechtfertigt, weil erst die rechtmäßige Anwendung den Gleichheitswertungen des Gesetzgebers entsprochen hat. Wird die Norm hingegen erneut gleichmäßig, also rechtswidrig angewandt, verletzt dies die intendierte Gleichheitswertung, weil die jetzt betroffenen Fälle so zu behandeln waren wie Fälle rechtmäßiger Anwendung. Im Robinson-Fall liegt das Problem darin, daß dieser zwar im Binnenbereich der Rechtsanwendung mit dem Tatbestand des Gesetzes gleichgesetzt werden könnte. Darin kommt aber keine Gleichbehandlung im Verhältnis zu anderen zum Ausdruck. Denn in einer Rechtsordnung mit nur einem Adressaten enthält schon das Gesetz keine Gleichheitswertungen und behandelt daher nicht gleich. Nur wenn die Gesetze Gleichheit und Ungleichheit mehrerer Menschen in Tatbestände formen, kann ein Anwendungsfehler überhaupt einen Gleichheitsverstoß darstellen. Da Gleichheit sich auf eine Mehrzahl von Objekten bezieht, wäre ein Gleichheitssatz für Robinson sinnlos. In allen anderen Fällen ist festzuhalten, daß das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit und damit der allgemeine Gleichheitssatz in der Tat begrifflich durch jede rechtswidrige Gerichtsentscheidung verletzt wird. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit und der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz decken sich also auch in begrifflicher Hinsicht.

IV. Methodische Konsequenz Zur Vergleichsstruktur des Gleichheitssatzes Das im allgemeinen Gleichheitssatz enthaltene Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit wird mithin durch jede Entscheidung eines Gerichts verletzt, die gegen verfassungsmäßiges einfaches Recht verstößt und einen Nachteil für einen Grundrechtsträger bewirkt. Zweifelhaft erscheint allerdings, wie ein Verstoß gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit überprüft werden muß. Oben wurde festgestellt, daß ein solcher Verstoß nicht dadurch festgestellt werden kann, daß man verschiedene Urteile miteinander vergleicht. Die Vergleichsstruktur des

tigkeit ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt. Dazu Maurer, AllgVerwR, 12. Auflage, § 24 Rdnr. 22; Schuppert/Richter, Verwaltungsrecht, 122.

C. Gleichbehandlung in der Rechtsanwendung

131

Gleichheitssatzes ist zwar sprachlich und logisch zwingend. Aber was genau bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung miteinander verglichen werden muß, ergibt sich erst aus der Bedeutung des Gesetzes als Mittler der Gleichheit. 7. Prüfungsstruktur

bei der Kontrolle des Gesetzgebers

Aufgabe des Gesetzgebers ist es, Gleichheitswertungen, die den inhaltlichen Maßstäben des Gleichheitssatzes entsprechen, in rechtliche Regelungen umzusetzen. Ob er dem genügt hat, kann überprüft werden, indem die Vergleichsgruppen, die von den Tatbeständen jeweils erfaßt oder ausgeklammert werden, aufgegriffen werden. Allgemein gesprochen, hat der Gesetzgeber die Anforderungen des Gleichheitssatzes erfüllt, wenn diese Vergleichsgruppen gleich sind und er sie im Gesetz tatsächlich gleich behandelt. 2. Prüfungsstruktur

bei der Kontrolle der Gerichte

Bei der Kontrolle der Rechtsanwendung wirkt sich die Vergleichsstruktur des Gleichheitssatzes anders aus. Hier hat der Rechtsanwender die Gleichheitswertungen des Gesetzgebers nachzuvollziehen, indem er die Rechtsfolgen der Normen bei Vorliegen ihres Tatbestandes eintreten läßt. Dies geschieht mittels einer Gleichsetzung von Tatbestand und Sachverhalt. Um zu überprüfen, ob der Anwender das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit befolgt hat, ist also zu prüfen, inwiefern sich Tatbestand und Sachverhalt entsprechen. Aus diesem Grund kann der häufig erhobenen Forderung, Verstöße gegen den Gleichheitssatz mittels eines Vergleichs des angefochtenen Urteils mit anderen Urteilen in ähnlichen Fällen zu prüfen, nicht gefolgt werden. Zum einen indiziert ein Vergleich von Gerichtsentscheidungen nur dort einen Gleichheitsverstoß, wo ein Spruchkörper ausnahmsweise an eine frühere Entscheidung gebunden ist. Zum anderen widerspräche ein solcher Vergleich verschiedener Urteile der konstitutionellen Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung. Denn wenn ein Urteil allein deshalb verfassungswidrig und daher aufzuheben wäre, weil ein Urteil eines anderen Gerichts einen vergleichbaren Fall anders entschieden hätte, wären die Gerichte indirekt doch an die Entscheidungen anderer Gerichte gebunden. Darüber hinaus sprechen praktische Erwägungen gegen einen Vergleich verschiedener Urteile im Verfassungsbeschwerde-Verfahren. Eine solche Prüfung wäre angesichts der vielen Verfassungsbeschwerden, die einen Gleichheitsverstoß durch die Rechtsprechung rügen, kaum durchführbar. Zwar könnte dem Beschwerdeführer die Substantiierung auferlegt werden, 9*

132

5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

so daß seine Beschwerde nur Erfolg hätte, wenn er Urteile in vergleichbaren Fällen benennen könnte, die anders, und zwar gesetzmäßig entschieden wurden. Doch erscheint dies unbillig, weil der Beschwerdeführer diesen Nachweis kaum führen kann. Zudem könnte diese Prüfung praktisch nie in überzeugender Weise zu einem positiven Ergebnis kommen. Jedes Urteil, das ebenso wie das angefochtene Urteil entschieden hätte, auch wenn es den Beteiligten unbekannt war, und jede Abweichung im Sachverhalt würden das Ergebnis einer solchen Vergleichsprüfung in Frage stellen 34 . Die Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit durch das BVerfG kann daher nicht durch einen Vergleich verschiedener Urteile erfolgen 35 . Sie ist vielmehr allein anhand des angefochtenen Urteils durchzuführen. Hieraus ergibt sich unmittelbar, ob der Richter die gesetzgeberischen Entscheidungen nachvollzogen und Gleiches gleich behandelt hat, indem er rechtmäßig gehandelt hat.

V. Zwischenergebnis: Rechtsanwendungsgleichheit und Gesetzesbindung Der Gleichheitssatz verlangt also als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit eine rechtmäßige Rechtsanwendung durch die Gerichte. Jedes für einen Betroffenen nachteilige, rechts- oder verfassungswidrige Gerichtsurteil verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Prüfung, ob der Richter rechtmäßig und damit gleichheitsgemäß gehandelt hat, ist aber nicht mittels eines Vergleichs zwischen verschiedenen Sachverhalten oder Gerichtsurteilen vorzunehmen. Erforderlich ist vielmehr ein Vergleich des Sachverhalts des angefochtenen Urteils mit dem einschlägigen gesetzlichen Tatbestand.

D. Problematik des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit Es liegt auf der Hand, daß dies nicht das letzte Wort bei der Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit sein kann. Wenn jede für eine bestimmte Person nachteilige, rechtswidrige Gerichtsentscheidung dieses Grundrecht verletzt, würde dieses einen nahezu umfassenden Anspruch auf Vollziehung der Gesetze enthalten. Allerdings hängt die Reichweite des Gebots der Rechtsanwendung von der Reichweite der gesetzlichen Normen ab. Es verbietet jede nachteilige 34

Ebenso Benda/Klein, 606. So auch Rennert, NJW 1990, 12: „kaum praktikabel". Ähnlich Götz, DVB1 1968, 93 ff.: Vergleichsmaßstab müsse das Gesetz sein, Vergleichspaare die Menschen. 35

D. Problematik des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit

133

gerichtliche Entscheidung, die vom Gesetz abweicht: es bindet den Richter an das Gesetz. Diese Bindung kann also nicht weiter reichen als die Bindung des Richters durch das Gesetz 36 . Nur soweit ihm Rechtsnormen als Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung stehen, kann er sie befolgen und umsetzen. Dementsprechend kann auch die Einhaltung dieses Gebots nur überprüft werden, wo die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Urteils anhand von Gesetzesnormen gemessen werden kann. Das bedeutet zum einen, daß das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit auf denjenigen Gebieten nicht greifen kann, auf denen dem Rechtsanwender keine Gesetzesnormen als Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung stehen. Zum anderen ist die Frage aufgeworfen, inwieweit Probleme der richterlichen Methode die Gesetzesbindung zumindest faktisch relativieren.

I. Reichweite der Gesetzesbindung und gesetzliche Regelungsdichte Die Bindung des Richters an das Gesetz kann in denjenigen Bereichen nicht zur Geltung kommen, in denen keine Rechtsnormen vorhanden sind oder wo die vorhandenen Normen die definitive Regelung dem Rechtsanwender überlassen. Typisches Beispiel eines Rechtsgebiets, auf dem der Gesetzgeber keine oder nur rudimentäre Regelungen geschaffen hat, ist das Staatshaftungsrecht. Normen, die den Gerichten einen eigenständigen Ermessensspielraum im technischen Sinn einräumen, sind eher selten 37 . Ein gesetzlicher Entscheidungsspielraum im hier beschriebenen Sinn liegt aber nicht nur dann vor, wenn das Gericht selbst ein Entscheidungsermessen hat, sondern auch dann, wenn das materielle Recht, das einem Urteil zugrunde liegt, solche Spielräume eröffnet. Da der Gesetzgeber in diesen Bereichen keine eigenen Gleichheitswertungen vorgegeben hat, werden die Wertungen der Gerichte eine größere Rolle spielen. Sie brauchen hier jedoch nicht erörtert zu werden.

36

Triepel, 27 f.; Werner Böckenförde, 75 ff. Wohl in diesem Sinne meint v. Münch AöR 85 (1960), 295, beim Gleichheitssatz sei es „vom Recht zum Unrecht nur ein Schritt". 37 Dies ist etwa bei bestimmten Gestaltungsklagen (§§ 315 Abs. 3 Satz 2, 319 Abs. 1 Satz 2, 2048 Satz 3, 2156 Satz 3, 2192 BGB), und bei Schadenersatzklagen der Fall, Rosenberg/Schwab/Gottwald, 528 f., 668; im Strafrecht bei der fakultativen Strafmilderung gem. § 49 StGB oder bei § 142 Abs. 4 StGB n.F. Häufiger ist ein solches Ermessen im Verfahrensrecht; hier besteht zum Teil sogar ein „freies" Ermessen der Gerichte (§ 3 ZPO), Baumbach Einl. Abs. 3 Rdnr. 31. Das Willkürverbot bildet auch hier die Grenze des richterlichen Handelns, vgl. Rosenberg/ Schwab/Gottwald, 528 f. und Baumbach, Einl. Abs. 3 Rdnr. 31.

134

5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

II. Reichweite der Gesetzesbindung und richterliche Methode Die Reichweite der Gesetzesbindung wird außer durch gesetzliche Regelungslücken auch durch Unsicherheiten der juristischen Methode eingeschränkt. Methodisch begründete Zweifel an der Wirksamkeit der Gesetzesbindung sind zwar eine neuere Erscheinung. Die Aufklärung ging noch von einer vollständigen Bindung des Richters durch das Gesetz aus und sah seine Aufgabe lediglich im Nachvollzug der legislativen Entscheidungen. Auslegung als eigenständige Tätigkeit hielt man für überflüssig, ja schädlich 3 8 . Spätere Auffassungen gelangten aber über eine realistischere Analyse der richterlichen Methode zu einer differenzierteren Sicht. Trotz der Zweifel am klassischen Methodenkanon und der anhaltenden Angriffe auf das Subsumtionsmodell der Rechtsanwendung hat sich dieses im großen und ganzen behauptet. Zuletzt ist auch wieder eine Gegenbewegung im Sinne stärkerer Betonung der Bindungskraft des Gesetzes trotz der sprachtheoretischen und methodischen Zweifel zu verzeichnen 39 . Ungeachtet dieser grundsätzlichen Fragen kann die Gesetzesbindung de facto nur eine begrenzte Effektivität haben. Gesetzliche Regelungen weisen stets Unschärfen auf, da sie abstrahieren und mit Sprache arbeiten müssen. Gleich ob sie bestimmte oder unbestimmte Rechtsbegriffe, wertungsbedürftige Typen oder Generalklauseln verwenden: fast alle Wörter eröffnen einen Spielraum möglicher Bedeutungen 40 . Doch jeder Rechtsbegriff schließt stets auch einen Bereich „begrifflicher Sicherheit" ein. Man kann ihn als „Begriffskern" im Gegensatz zu einem „Begriffshof 4 bezeichnen; man kann „positive, negative und neutrale Kandidaten" unterscheiden; jedenfalls lassen sich normativen Formulierungen Sachverhalte auch eindeutig zuordnen 4 1 . Jedenfalls in diesem Bereich begrifflicher Sicherheit kann die Gesetzesbindung ihre Wirkung entfalten. Den soeben konstatierten Unschärfen im Vorgang der Rechtsanwendung entsprechen ähnliche Unschärfen auf der Ebene seiner Kontrolle. Das be38 Das hing auch mit der Sicht des Gesetzes als einer Verkörperung des „Vernünftigen" zusammen, der der Richter nur Folge leistete, wenn er es wie ein „Subsumtions-Automat", als „la bouche qui prononce les paroles de la loi" (Montesquieu, De l'esprit des lois, IX. Buch, 6. Kapitel), anwandte. 39 Schnapp, 1; Picker, JZ 1988, 1 ff. (Fußn. 72, 88 m.w.N.), der BVerfGE 65, 182 für ein „Fanal" der Rückkehr zur Gesetzesbindung hält; Kirchhof, NJW 1986, 2275; Merten, DVB1 1075, 677; Redeker, NJW 1972, 409; Rupp, NJW 1973, 1771; Koch, ARSP LXI (1975), 27; Herzog, Gesetzgeber, 5 f; die Referate von Roellecke und Starck in VVDStRL 34 (1976); AK-Stein, Art. 3 Rdnr. 69; Kloepfer, 27. 40 Heute wohl allgemeine Meinung. Vgl. Zippelius, Recht und Gerechtigkeit, 84 f., 363 f.; Looschelders/Roth, 23 f.; Larenz/Canaris, 133; Engisch, 106 ff. 41 Looschelders/Roth, 23, 134 f., 146 f.; Engisch, 108 f.; Koch/Rüßmann, 195; Zippelius, Recht und Gerechtigkeit, 393 f. m. w. N.

D. Problematik des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit

135

deutet jedoch nicht, daß sich die Richtigkeit der einzelnen Teilschritte der Rechtsanwendung nicht messen ließe. Folgt man dem klassischen Subsumtionsmodell, so sind dabei die relevanten Tatsachen festzustellen, diese im Hinblick auf den Tatbestand zu würdigen, die Norm auszulegen und schließlich Tatsachen und ausgelegte Norm aufeinander anzuwenden. Fehler bei einem dieser Teilschritte führen grundsätzlich zur Unrichtigkeit der gesamten Rechtsanwendung, falls sie sich nicht gegenseitig aufheben, was allerdings eher selten sein wird. In diesem Modell läßt sich die Richtigkeit der Tatsachenfeststellung und der Subsumtion im engeren Sinne, die nur darin besteht, daß die aufbereitete Norm und der gewürdigte Sachverhalt aufeinander bezogen werden, noch einigermaßen sicher feststellen. Bei Würdigung und Auslegung sind die Maßstäbe nicht so griffig; während erstere es immerhin noch mit Tatsachen zu tun hat, deren Vorliegen mit hinreichender Gewißheit feststeht, arbeitet die Auslegung mit Gesetzesbegriffen. Sie schafft erst subsumtionstaugliches Material; dementsprechend sind hier die richterlichen Spielräume innerhalb der Rechtmäßigkeit am größten. Gleichwohl existieren für alle Anwendungsschritte Grenzen und Maßstäbe. Für die Auslegung und die Tatsachenwürdigung kann man auf den möglichen sprachlichen bzw. begrifflichen Sinn der Tatbestands- und Sachverhaltsmerkmale abstellen 42 ; für die Tatsachenfeststellung auf wissenschaftliche Erkenntnisregeln, für die Subsumtion auf logische Prinzipien. Die genauen Maßstäbe sind hier aber nicht entscheidend. Es genügt, festzuhalten, daß die Richtigkeit eines Urteils zumindest in negativer Hinsicht meßbar ist.

III. Ergebnis Die Reichweite der Gesetzesbindung wird zwar durch fehlende normative Regelungsdichte und durch Unschärfen der juristischen Methode eingeschränkt. In den Bereichen, in denen sie nicht greifen kann, verbleibt daher ein Bereich richterlicher Spielräume, für den die Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsprechung separat erörtert werden muß. Wo aber die Gesetzesbindung bei der Rechtsanwendung verwirklicht werden kann, weil die vorhanden gesetzlichen Regelungen die richterliche Entscheidung determinieren, kann auch eine entsprechende Kontrolle durchgefühlt werden. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit weist daher eine erhebliche Reichweite auf. Wo gesetzliche Regelungen existieren und die richterliche Entscheidung hinreichend sicher binden, führt die Rechtswidrigkeit einer Gerichtsentscheidung stets auch zu ihrer Verfassungswidrigkeit. 42 So die h.M., BVerfGE 71, 115; 87, 209 (224); Larenz/Canaris, 145; F. Müller, 183 ff.; Zippelius, Methodenlehre, 43; ders., Recht und Gerechtigkeit, 363. Ausnahmen z.B. in BVerfGE 70, 35 (37); 34, 269; 49, 304; BVerwGE 44, 145.

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

Angesichts dieser Reichweite des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit entstehen Folgeprobleme, die für eine einschränkende Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG sprechen.

IV. Folgeprobleme Wenn Rechtmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit über das Scharnier des allgemeinen Gleichheitssatzes miteinander verkoppelt sind, wird die Trennung von einfachem Recht und Verfassungsrecht, auf der die gesamte Dogmatik des geltenden Verfassungsrechts beruht, aufgehoben 43 . Es würde dazu führen, daß das BVerfG im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile bei der Prüfung, ob eine Entscheidung den allgemeinen Gleichheitssatz verletzt, ihre Rechtmäßigkeit anhand des einfachen Rechts untersuchen müßte. Das widerspräche sowohl der Funktion des BVerfG als auch derjenigen des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens. Das BVerfG ist ein Verfassungsgericht und kein „Superfachgericht" 44 . Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf zum Schutz der Grundrechte und kein Mittel zur Durchsetzung des einfachen Rechts. Damit hängt schließlich ein drittes, praktisches Problem zusammen: mit einer solchen Prüfung wäre das BVerfG schon aus Kapazitätsgründen überfordert. Bei ca. fünftausend Verfassungsbeschwerden pro Jahr erscheint es ausgeschlossen, daß das Gericht die angefochtenen Entscheidungen in einem vertretbaren Zeitraum am Maßstab des einfachen Rechts überprüfen kann.

V. Gegenargument: Der Gleichheitssatz als Auffanggrundrecht? Diesen Nachteilen des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit steht zwar ein geringfügiger Vorteil gegenüber. Die völlige Verknüpfung von Rechtswidrigkeit und Verfassungswidrigkeit würde bedeuten, daß jedermann einen Anspruch auf Gesetzmäßigkeit der Rechtsanwendung vor dem BVerfG einklagen könnte. 43

Ihren ursprünglichen Zweck, die Verfassungsgerichtsbarkeit normlogisch zu legitimieren, zu dem Kelsen sie unter der WRV gegen die herrschende Auffassung von der Einheit von einfachem und Verfassungsrecht (Sachs-Sachs, Art. 20 Rdnr. 61 m.w.N.) durchsetzte, braucht sie heute allerdings nicht mehr zu erfüllen. Angesichts von Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 79 Abs. 1, Abs. 3 GG werden Trennung und Vorrang heute kaum noch bestritten, Isensee, HBStR § 13, Rdnr. 136; Hesse, HBVerfR, § 1 Rdnr. 14; Stern, I, 78, 80 f.; a. A. aber - in bezug auf die Rechtsanwendung - Bender, 130 ff., 318 ff. 44 Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 5; vor einer „Hyperrevision" bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile warnten schon Konrad Zweigert, JZ 1952, 327; Jahrreiß, 121.

D. Problematik des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit

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Allerdings hat jeder Grundrechtsträger bereits jetzt einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtmäßige Gerichtsurteile. Denn ein rechtswidriges Gerichtsurteil verletzt das Freiheitsgrundrecht, in dessen Schutzbereich es eingreift, weil es von dessen Schranken nicht gedeckt ist. Akzeptiert man die herrschende Interpretation von Art. 2 Abs. 1 GG als einem Auffanggrundrecht, dessen Schutzbereich alle Formen menschlichen Handelns umfaßt, so verletzt jegliches belastende rechtswidrige Gerichtsurteil irgendein Freiheitsgrundrecht. Ein Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG ist daher nicht erforderlich. Eine uneingeschränkte Anwendung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen hätte mithin erhebliche Nachteile, die durch den damit verbundenen Vorteil nicht aufgewogen würden.

VI. Möglichkeiten der Einschränkung Der Gleichheitssatz und das darin enthaltene Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit sind daher einschränkend zu interpretieren. Für diese Einschränkung stehen verschiedene Möglichkeiten offen. Zum einen erscheint es sinnvoll, nicht die materielle Bedeutung des Gleichheitssatzes, sondern nur die verfassungsgerichtliche Kontrolle seiner Beachtung einzuschränken. Dies wird durch die Trennung von Handlungsund Kontrollnorm ermöglicht. Der Gleichheitssatz hätte demnach als Handlungsnorm, also als Anweisung an den Richter, das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit zum Inhalt. Auf der Ebene der Kontrollnorm, also als verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab, kann dieses Gebot hingegen einschränkend interpretiert werden. In inhaltlicher Hinsicht wäre es die konsequenteste Lösung, wenn das BVerfG Verstöße gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit überhaupt nicht kontrollieren würde. Möglich wäre aber auch, seine Überprüfung anhand bestimmter Kriterien zu reduzieren. Insbesondere könnte die Prüfung von Verstößen gegen das Rechtsanwendungsgleichheit auf eine Beanstandung von willkürlichen Rechtsverletzungen - in einem noch näher zu erörternden Sinne - zu reduzieren sein. Das würde zum einen den Trägern des Gleichheitsgrundrechts eine Abwehrmöglichkeit gegen richterliche Willkür eröffnen. Zum anderen wäre so die Willkürkontrolle, die das BVerfG bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile durchführt, auf eine sichere dogmatische Grundlage gestellt. Und schließlich würde sich eine solche Einschränkung in die generelle Interpretation des Gleichheitssatzes in der neueren Rechtsprechung und Literatur einfügen. Denn auch bei der Normenkontrolle erfolgt die verfassungsgerichtliche Prüfung

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5. Kap.: Der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

anhand von zwei unterschiedlichen Kriterien. Einerseits überprüft das BVerfG mit der Neuen Formel die Verhältnismäßigkeit gesetzlicher Differenzierung und Gleichbehandlung; andererseits führt es eine Willkürprüfung durch. Beides fände bei der Kontrolle der Rechtsanwendung durch die Gerichte seine Entsprechung, so daß Urteils- und Normenkontrolle anhand des Art. 3 Abs. 1 GG strukturell zur Deckung gebracht wären.

VII. Weiteres Vorgehen Eine Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit auf ein Verbot richterlicher Willkür kann allerdings nicht mit der klassischen Begründung der Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile gerechtfertigt werden. Zwar führt die Interpretation des Gleichheitssatzes als allgemeines Willkürverbot dazu, daß willkürliche Gerichtsurteile unmittelbar gegen dieses Grundrecht verstoßen und daher vom BVerfG aufzuheben sind. Aber die Interpretation des Gleichheitssatzes als allgemeines Willkürverbot kann - wie oben gezeigt - mit den herkömmlichen Argumenten nicht gerechtfertigt werden. Man darf daher nicht, wie das BVerfG, vom Willkürverbot her argumentieren. Die Begründung muß vielmehr beim Gleichheitssatz ansetzen und untersuchen, was für oder gegen die Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit auf ein Verbot richterlicher Willkür spricht. Dabei sind die materiellrechtlichen, funktionellen und praktischen Argumente, die für und gegen eine Reduzierung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit auf ein Verbot richterlicher Willkür sprechen, zu diskutieren.

6. Kapitel

Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit auf ein Verbot richterlicher Willkür A. Materielle Argumente zur Einschränkung auf ein Willkürverbot Ausgangspunkt der Erörterung muß das materielle Verfassungsrecht sein, aus dem sich Inhalte und Funktionen der Grundrechte in erster Linie ergeben.

I. Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit Eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen durch das BVerfG würde deren Rechtmäßigkeit und damit die Gerechtigkeit der Rechtsanwendung fördern. 1. Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung und Gerechtigkeit Mit Gerechtigkeit zu argumentieren, ist problematisch. Das Grundgesetz geht vorsichtig mit ihr um: es hat sich ihr in Artt. 1 Abs. 2, 14 Abs. 3 Satz 3 und 20 Abs. 3 GG verpflichtet und läßt doch Raum für unterschiedliche inhaltliche Ausfüllungen 1 . Keine materielle Theorie der Gerechtigkeit, und noch weniger ein reiner Positivismus 2 , ist unter dem GG verbindliches Ver1

BVerfGE 3, 225 (232); 7, 89 (92); 20, 323 (331); 21, 378 (388) m.w.N.; 52, 131 (144 f.) (abw.M.); Herzog, MDHS, Art 20 Abs. 6 Rdnr. 49, 53 f.; Stern, I, 798 ff.; Schmidt-Aßmann, HBStR, § 24 Rdnr. 41. Auch das einfache Recht verwendet den Begriff der „Gerechtigkeit" selten, etwa in § 1 Abs. 6 BauGB, wo er nicht weiter interpretiert wird. 2 Das folgt aus der materialen Orientierung des Parlamentarischen Rates und aus Art. 79 Abs. 3, 1 Abs. 1, Abs. 2 GG. Das BVerfG übernahm bereits in BVerfGE 3, 225 (232 f.) die Radbruchsche Formel: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat", Radbruch, SJZ 1946, 105 ff.

140

. Kap.:

i

c

h

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Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

fassungsrecht geworden. Eine „Verfassungstheorie der Gerechtigkeit" in diesem Sinne gibt es nicht. Dennoch läßt sich durchaus näher bestimmen, was das GG unter Gerechtigkeit versteht. Art. 1 Abs. 2 GG bezeichnet die Menschenrechte als Grundlage der Gerechtigkeit. Diese Vorschrift steht also als „Brücke" zwischen Art. 1 Abs. 1 GG, der von aller staatlichen Gewalt verlangt, die Menschenwürde zu achten, und Art. 1 Abs. 3 GG, der die Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt statuiert. Es sind also die Grundrechte des GG, die einerseits Gerechtigkeit verkörpern und andererseits die einzelnen Gewalten zu gerechtem Handeln verpflichten 3 . Ist die Vorstellung des Grundgesetzes von Gerechtigkeit also in den Grundrechten verkörpert, so gilt dies auch für das grundrechts- und verfassungskonforme einfache Recht. Denn es ist Aufgabe des Gesetzgebers, gerechte Lösungen von Interessenkonflikten zu normieren. Das Gesetz verkörpert die Wertvorstellungen des Gesetzgebers: es sagt, was der Gesetzgeber für gerecht hält. Zwischen Gesetz und Recht können zwar auch Diskrepanzen bestehen. Ein ungerechtes Gesetz ist ebenso denkbar wie eine gerechte Lösung einer Rechtsfrage, die nicht auf der Grundlage eines formellen Gesetzes erfolgt. Diese Diskrepanzen wirken sich aber auf die Rechtsanwendung nicht aus, weil diese nur an das verfassungsmäßige Gesetz gebunden ist 4 Das bedeutet, daß die grundgesetzlichen Anforderungen der Gerechtigkeit im verfassungskonformen einfachen Recht positiviert sind 5 . Daraus folgt: je rechtmäßiger die Rechtsanwendung, desto mehr Gerechtigkeit wird

3 Dreier-Dreier, Art. 1 Abs. 2 Rdnr. 19 ff.; Heyde, HBVerfR § 33 Rdnr. 94; Robbers, Gerechtigkeit 59; Scherzberg, 112 ff.; Schmidt-Aßmann, HBStR, § 24 Rdnr. 41 ff.; BVerfGE 10, 59 (81); 23, 98 (106); 25, 352 (364), wohl auch in Abgrenzung zur naturrechtlichen Argumentation in BGHZ 11, Anhang 34 ff.; BGHSt 6, 46 (52 ff.). Eine solche Positivierung vorstaatlicher Inhalte verdient sicher den Vorzug vor den Unwägbarkeiten eines rein metagesetzlichen Naturrechts. 4 Allerdings darf die Rechtsprechung nur in bezug auf untergesetzliches und vorkonstitutionelles Recht selbst entscheiden, ob die Entscheidungsgrundlage verfassungsmäßig ist; im übrigen ist sie gem. Art. 100 Abs. 1 GG zur Vorlage der Norm an das BVerfG verpflichtet (konkrete Normenkontrolle). 5 BVerfGE 25, 352 (364); Stern, I, 800 („Legalität indiziert Legitimität"); Robbers, Gerechtigkeit, 59; Herzog, MDHS, Art. 20 Abs. 1 Rdnr. 49, 53 f.; SachsSachs, Art. 20 Rdnr. 64; Schmidt-Aßmann, HBStR, § 24 Rdnr. 41 ff.; Heyde/ Starck, 23. Gerechtigkeit wird also - was in gewisser Weise paradox ist - gerade nicht durch über-, sondern durch unterverfassungsrechtliche Normen verkörpert. In diesem Sinne meint das BVerfG (st.Rspr., etwa NJW 1993, 1699), das GG wolle „gesetzmäßige und unter diesem Blickpunkt richtige, aber auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechte Entscheidungen".

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verwirklicht. Gerechtigkeit durch das Gesetz und durch den Richter ergänzen sich: sie verlangen richtige Rechtsanwendung auf wahre Sachverhalte 6. Durch diese Verknüpfung mit dem einfachen Recht verliert Gerechtigkeit auch nicht ihren Stellenwert als verfassungsrechtliches Argument 7 . Denn damit ist nur gesagt, daß das Verfassungsrecht über seine Forderung nach Gerechtigkeit eine möglichst weitgehende Anwendung und Verwirklichung des Gesetzesrechts verlangt. Beide Rechtsbereiche verschmelzen also nicht etwa miteinander: das einfache Recht steht im Rang weiterhin unterhalb der Verfassung, und Diskrepanzen zwischen beiden sind nicht ausgeschlossen. Eine gesetzmäßige, aber ungerechte Rechtsanwendung ist ebenso denkbar wie ein ungerechtes, aber (noch) verfassungsmäßiges Gesetz. Zudem ist die Gerechtigkeit, die im einfachen Recht verwirklicht wird, nicht nur eine Frage subjektiver Wertung. Denn in richtiger Rechtsanwendung verwirklicht sich auch der objektive Geltungsanspruch der Norm: die Verbindlichkeit des Gesetzes gegenüber Rechtsanwendern und Rechtsunterworfenen 8. Die Bindung des Richters an und durch das Gesetz auf diese Weise zu unterstreichen und einzufordern, entspricht ihrer verfassungsrechtlichen (Artt. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) und gesellschaftspolitischen Bedeutung. Sie macht die richterliche Entscheidung vorhersehbar und bestimmbar und fördert so Rechtssicherheit. Indem sie den Richterspruch an die Entscheidungen des direkt gewählten Gesetzgebers rückkoppelt, vermittelt sie demokratische Legitimation. Die Allgemeinheit und Verbindlichkeit des Gesetzes sichern rechtliche Gleichheit. Alle diese Faktoren erhöhen den Konsens über die Richtigkeit einer Gerichtsentscheidung, der ihr tatsächliche Geltung verschafft. Allerdings ist zweifelhaft, ob es justitiable Kriterien gibt, anhand derer überprüft werden kann, ob die Gerichte dieser Forderung nach gerechter Rechtsanwendung entsprochen haben. Bedient man sich hierzu des Kriteriums der Gerechtigkeit selbst, so eröffnet man damit einen Wertungsspielraum, was der Rechtssicherheit abträglich ist. Greift man darauf zurück, daß Gerechtigkeit im einfachen Recht konkretisiert wird, schließt sich nur der Kreis: dann sind eben alle rechtswidrigen Urteile ungerecht. Dies spricht dafür, als Kriterium für die Willkür einer Gerichtsentscheidung nicht deren Ungerechtigkeit zu verwenden.

6 Schumann, Verfassungsbeschwerde, 114; abw.M. v. Schlabrendorff BVerfGE 35, 41 (60). 7 Der hier drohende Zirkelschluß wird klar erkannt von BVerfGE 15, 126 (146); näher Robbers, 165 f. 8 In diesem Sinne ist ein Kläger, der sich auf Art. 3 Abs. 1 GG beruft, gleichsam „Funktionär der Gesamtrechtsordnung" (Sachs, FS Friauf, 329).

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2. Gerechtigkeit

und Gewaltenteilung

Die grundrechtliche Forderung nach gerechter Rechtsanwendung ist zwar in der Literatur weithin anerkannt. Allerdings ist umstritten, welche kompetenzrechtlichen Folgerungen daraus zu ziehen sind. So meint Robbers, das Willkürverbot ermächtige das BVerfG zur letztinstanzlichen Abhilfe gegenüber unerträglichem Unrecht 9 . Bender sieht zwar in der Herstellung gerechter Lebensverhältnisse in erster Linie eine Aufgabe des Gesetzgebers; die Verfassungsgerichtsbarkeit habe aber über das Willkürverbot Sachlichkeit und Rationalität als Essentiale der Gerechtigkeit zu gewährleisten 10 . Für andere legitimiert das Willkürverbot gerade nicht das BVerfG zur Abwehr von Ungerechtigkeit. Winter etwa meint, ob Gesetze gerecht seien, müsse das BVerfG, was im Einzelfall gerecht sei, müßten die Fachgerichte feststellen 11 . Auch Starck sieht die „fundierten allgemeinen GerechtigkeitsVorstellungen der Gemeinschaft" am ehesten im Parlament repräsentiert, weil ihm im Vergleich zum BVerfG größere demokratische Legitimation zukomme 1 2 . Im Hinblick auf die Willkürkontrolle ist allerdings nicht das Verhältnis des BVerfG zur Legislative, sondern dasjenige zur Fachgerichtsbarkeit ausschlaggebend. Im Vergleich ist dabei die demokratische Legitimation der von Bundestag und Bundesrat gewählten Richter des BVerfG direkter als die der von der Exekutive ausgewählten, ernannten und beförderten Richter der Fachgerichtsbarkeit 13. Ein möglichst hohes Maß an Gesetzmäßigkeit in der Rechtsanwendung entspricht auch deshalb der Aufgabenverteilung des GG, weil so die unmittelbar legitimierten Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers verwirklicht werden 14 .

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Robbers, DVB1 1988, 755. Bender, 398. 11 Winter, FS Merz, 622 f. 12 Starck, in: Heyde/Starck, 23; Kirchhof, FS Geiger, 86; ders., HBStR § 124, Rdnr. 175 ff.; ebenso AK-Bäumlin/Ridder, Art. 20, Rdnr. 42: das BVerfG als „wahrer Souverän"; „geordnete Entthronung der demokratischen Gesetzlichkeit". 13 Bundes- wie Landesrichter werden von Ministern und Richterwahlausschüssen ausgewählt, s. i.E. Wolf, § 16. 14 Zu undifferenziert daher Schiedermairs Kritik in VVDStRL 47 (1989), 84, das BVerfG sei „sicher nicht dazu berufen, mit Art. 3 Abs. 1 GG in der Hand als Hüter materialer Gerechtigkeit aufzutreten". W. Zeidler, JZ 1982, 218 f. meint, daß Leibholz' Ideen „zu der griffigen Faustregel geführt hätten, daß das Ungerechte weil ungleich auch zugleich verfassungswidrig sei. Im Ergebnis folgt daraus, daß massive und evidente Ungerechtigkeit auch positives Verfassungsrecht verletzt mit der Folge der kraft richterlichen Prüfungsrechts festzustellenden Nichtigkeit". 10

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3. Gegensatz von Gerechtigkeit

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und Rechtssicherheit?

Eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen würde also die Gerechtigkeit der Rechtsanwendung fördern. Nachteilig wäre aber, daß sie zugleich die Rechtssicherheit beeinträchtigt. Denn sie führt dazu, daß rechtskräftige Gerichtsurteile vom BVerfG aufgehoben werden. Die Abwägung zwischen den Prinzipien der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers 15. Das Ergebnis kommt in den Normen des Prozeß- und Gerichtsverfassungsrechts zum Ausdruck. Deren Regelungen über Instanzenzüge, richterliche Unabhängigkeit, Verfahrensrechte der Beteiligten etc. enthalten vielfältige Sicherungen gegenüber Fehlentscheidungen der Gerichte. Wie alle Rechtsschutzgarantien stoßen aber auch sie an Grenzen. Hat der einfache Gesetzgeber diese Grenze in einer verfassungskonformen Weise gezogen, ist auch das BVerfG daran gebunden. Indem es eine weitere Instanz gegen einfach-rechtliche Fehlentscheidungen eröffnet, verlagert es diese Grenze. Daher verstößt eine Willkürkontrolle von Gerichtsentscheidungen grundsätzlich gegen den im einfachen Prozeßrecht niedergelegten Grundsatz der Rechtssicherheit. Das ist in mehrseitigen Streitigkeiten für denjenigen nachteilig, der durch ein willkürliches Gerichtsurteil begünstigt wurde, wenngleich die Rechtsordnung diese Begünstigung nicht vorsah. Auf der anderen Seite wäre eine Willkürkontrolle aus Sicht des von einem Urteil nachteilig betroffenen Bürgers zu begrüßen 16 . Zugleich würde eine Willkürprüfung der gesetzgeberischen Tendenz, die Rechtsbehelfe des einfachen Rechts zu beschränken und das System des fachgerichtlichen Rechtsschutzes immer enger zu ziehen, entgegenwirken 17 . Ferner kann die Tatsache, daß die Aufhebung verfassungswidriger Urteile durch das BVerfG in deren Rechtskraft eingreift, nicht entscheidend ins Gewicht fallen. Denn hierbei handelt es sich in erster Linie um ein prozessuales Phänomen, das nur entsteht, weil die Verfassungsbeschwerde als außer15 Obwohl sie meist als gegensätzlich charakterisiert werden (die „Antinomie der Rechtsidee" (Radbruch), zitiert in BVerfGE 3, 225 (232, 237); BVerfGE 2, 380 (403); 6, 123 (189); 7, 194 (196); 15, 313 (319); 22, 322 (329); 41, 323 (326); 65, 377 (380), ist auch der Rechtsfriede ein Element der Gerechtigkeit, Robbers, 60 ff.; Winter, FS Merz, 616 f.; Pernice, 527; Huster, 304 ff. 16 Allerdings hat die Rechtskraft eines Zivilurteils Wirkungen nach zwei Seiten; die obsiegende Partei wird durch sie begünstigt, auch wenn das stattgebende Urteil willkürlich war. 17 Problematisch ist hingegen die Ansicht, wenn es nach dem einfachen Prozeßrecht keine Rechtsbehelfe gebe, müsse man auch grobes Unrecht hinnehmen (Kirchhof, HBStR, § 125, Rdnr. 265; ähnlich Winter, FS Merz, 616 f.); kritisch auch Steiner, FG BVerfG, 630 ff. Hier kann überhaupt nur das BVerfG Rechtsschutz gewähren.

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ordentlicher Rechtsbehelf keinen Suspensiveffekt hat 1 8 . Wäre sie, wie alle ordentlichen Rechtsmittel und selbst der Rechtsbehelf des Widerspruchs im Verwaltungsverfahren, mit aufschiebender Wirkung ausgestattet, so bestünde dieses Problem nicht. Aber mit seiner Entscheidung, daß auch fehlerhaften Urteilen Rechtskraft zukommen soll, kann der einfache Gesetzgeber nicht die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundrechtsschutzes überspielen. Erst die Grundrechte markieren die Grenze, bis zu der das BVerfG fehlerhafte rechtskräftige Urteile hinzunehmen hat. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit, das dazu führt, daß grundsätzlich alle falschen Gerichtsentscheidungen der Kontrolle des BVerfG unterliegen, hat Verfassungsrang. Es steht daher über dem einfachen Prozeßrecht. Im übrigen spricht für eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen, daß auch das einfache Prozeßrecht selbst die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und materieller Richtigkeit nicht strikt zugunsten der ersteren vornimmt. In allen Prozeßordnungen existiert mit der Möglichkeit der Wiederaufnahme eine Ausnahme für Gerichtsentscheidungen, die an besonders schweren Fehlern leiden; §§ 43 Abs. 3, 44 Abs. 1 VwVfG versagen offenkundig falschen Verwaltungsakten von vornherein die Rechtswirksamkeit. Das belegt, daß der Gedanke des Rechtsfriedens nicht zwingend gegen eine „Notkompetenz" des BVerfG spricht. Denn eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, die die Rechtskraft eines Urteils durchbricht, kann dem Rechtsfrieden gerade dadurch dienen, daß sie elementare Rechtsschutzbedürfnisse höher gewichtet als dogmatische Bedenken. Schließlich sind verfassungswidrige Entscheidungen wegen der Bindung der Rechtsprechung an die Grundrechte schon im fachgerichtlichen Instanzenzug - soweit dieser eröffnet ist - zu korrigieren. Das Argument, eine Willkürkontrolle würde die Begrenzungen des einfachen Rechts überspielen, ist gerade in solchen Fällen von zweifelhaftem Wert. Denn hier haben diese Mechanismen versagt: sie haben die falsche Gerichtsentscheidung nicht verhindern oder beheben können. 4. „Rechtsmittelunklarheit"

als Folge einer Willkürkontrolle?

Bei der Abwägung zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit wirken sich die Unschärfen der Willkür-Rechtsprechung allerdings besonders nachteilig aus. Denn eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen durchbricht nicht nur das gesetzlich festgehaltene Resultat dieser Abwägung. Die Schwierigkeit, zwischen falschen und willkürlichen Gerichtsurteilen abzu18 Lechner/Zuck, BVerfGG § 90, Rdnr. 7; oft warten die Beteiligten des Ausgangsverfahrens aber die Entscheidung des BVerfG ab („faktischer Suspensiveffekt").

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grenzen, schadet auch der verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsmittelklarheit und führt so zu einer zusätzlichen Einbuße an Rechtssicherheit. Eine derartige Einschränkung des Prinzips der Rechtssicherheit ist allerdings in allen Prozeßordnungen geläufig. Zwar sind die Regelungen der Wiederaufnahme, die eine Durchbrechung der Rechtskraft ermöglichen, gerade wegen dieser Problematik präzise formuliert und eng auszulegen19. Doch auch sie eröffnen der Anwendung durch den Richter Auslegungsspielräume. Außerdem fließen auch hinsichtlich der ordentlichen Rechtsmittel in gewissem Umfang Wertungen in die Abwägung ein. Im Zivilprozeß bemißt sich die Anfechtbarkeit von Urteilen zwar zunächst nach dem Streitwert. Revisionen können aber unabhängig davon nicht zur Entscheidung angenommen werden, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat (§§ 554b Abs. 1, 546 Abs. 1 ZPO). Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens eröffnet die Berufung (§§ 539 ZPO, § 130 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Im Verwaltungsprozeß ist die Berufung gegen Endurteile der Verwaltungsgerichte zuzulassen, wenn ernsthafte Zweifel an ihrer Richtigkeit bestehen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufwirft (Nr. 2) oder grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 3); letzteres ist auch Revisionsgrund (§ 132 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Im Strafverfahren sind solche Kriterien naturgemäß seltener; aber auch hier können Berufung (§313 Abs. 2 StPO) und Revision (§ 340 Abs. 2 StPO) durch Beschluß als offensichtlich unbegründet verworfen werden 2 0 Darüber hinaus setzen die Gerichte auch dort, wo der Gesetzgeber eine klare Abgrenzung getroffen hat, „weiche" Rechtsbehelfe ein, um Anforderungen der Gerechtigkeit zu entsprechen. Beleg hierfür ist die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur außerordentlichen Beschwerde. Trotz der Vagheit der hier verwendeten Kriterien - und der klaren Entscheidung des Gesetzgebers, außerhalb des § 567 ZPO kein Rechtsmittel gegen zivilgerichtliche Beschlüsse zuzulassen - hat sich diese Rechtsprechung weitgehend durchgesetzt. Dies spricht zwar nicht dafür, die Anzahl unscharfer Abgrenzungen noch zu erhöhen. Es zeigt allerdings, daß ein gewisser Grad an Unschärfe auch im System der Rechtsmittel üblich ist. Stets ist es Aufgabe der Rechtspre19 Baumbach u.a. Vor § 587, Rdnr. 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 359, Rdnr. 1. 20 Das hat in der Praxis erhebliche Bedeutung: der BGH verwirft ca. 80% der Revisionen durch Beschluß, Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 349 Rdnr. 7 ff. m.w.N. Nach Peters, JR 1980, 266 ist es „einhellige Auffassung der Verteidiger, daß die Verwerfung der Revision als offensichtlich unbegründet, unkalkulierbar, unkontrollierbar und nach sachfremden Gesichtspunkten (Ersparnis von Zeit und Mühe) vor sich geht". 10 v. Lindeiner

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chung, mit ihren Befugnissen sachgerecht umzugehen, weil ihr die erforderliche Abwägung im einzelnen Fall obliegt.

II. Garantie eines Mindeststandards richtiger Rechtsanwendung Für eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen spricht, daß sie einen Mindeststandard an richtiger Rechtsanwendung gewährleisten würde. Das ist aus der Sicht des Rechtsschutz suchenden Bürgers zweifellos sinnvoll. Die Willkürkontrolle würde es ermöglichen, grundlegende Anforderungen an die Rechtsprechung verfassungsprozessual abzusichern. 1. Effektivitätsprobleme Allerdings ist fraglich, ob eine solche Kontrolle überhaupt so effektiv sein kann, daß sie die damit einhergehende Arbeitsbelastung des BVerfG rechtfertigt. Die bisherige Willkürkontrolle führte zu maximal sechzehn Stattgaben pro Jahr und gewährleistete somit in der Tat nur einen Mindeststandard. Andererseits kann dies auch heißen, daß dieser Standard in den anderen Entscheidungen von den Gerichten eingehalten worden war. Außerdem bedeutet eine geringe Erfolgsquote nicht zwangsläufig, daß eine derartige Kontrolle nicht sinnvoll und effektiv wäre. Denn schon die Eröffnung einer zusätzlichen Rechtsschutz- und Kontrollmöglichkeit fördert unabhängig davon, wie oft sie durchgreift, richtige Rechtsanwendung. 2. Verdrängung

anderer Grundrechte?

Das Argument, die Willkürkontrolle sichere einen Mindeststandard verfassungsmäßiger Rechtsanwendung, ist allerdings zweischneidig. Denn wenn man diesen Standard mit dem materiellen Inhalt des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit vergleicht, liegt darin eine erhebliche Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle. Mit ihr geht zugleich die praktische Gefahr einher, daß die anderen grundrechtlichen Garantien aus der Rechtsprechung verdrängt oder daß ihre effektive Durchsetzung ebenfalls auf einen geringeren Standard reduziert werden könnten. Bereits heute wird verschiedentlich kritisiert, das BVerfG bevorzuge das Willkürverbot als bequemeren Maßstab gegenüber den einzelnen Grundrechten. Allerdings führt das BVerfG bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen praktisch nie ausschließlich eine Willkürprüfung durch 21 . In aller Regel untersucht es zunächst, ob das Fachgericht die Aus21

Ausnahmen: BVerfGE 30, 173 (Mephisto); 10, 271 (273). Die dort zitierte Passage aus BVerfGE 1, 418 (420), wonach einige Grundrechte „von vornherein nur

A. Materielle Argumente

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Strahlungswirkung eines Grundrechts mißachtet hat, und prüft erst dann Willkür, wenn feststeht, daß dies nicht der Fall war. Entscheidend für seinen Kontrollumfang ist daher, ob bei der Rechtsfindung die Grundrechte zu beachten waren oder ob sie sich allein im Bereich des einfachen Rechts bewegte. Diese Subsidiarität der Willkürprüfung räumt den spezifischen Auswirkungen der Grundrechte auf die Rechtsanwendung zu Recht den Vorrang ein. Dies kann einen generellen Rückzug des BVerfG auf diesen Mindeststandard zumindest tendenziell verhindern. Ohnehin erscheint zweifelhaft, ob der Willkürmaßstab wirklich ein bequemerer Maßstab für die Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde ist. Daß Stattgaben hier generell leichter zu begründen seien als sonst, liegt schon wegen der Schärfe des Willkürvorwurfs fern. In den Fällen, in denen das Willkürverbot durchgriff, ohne daß eine ausführliche Begründung erforderlich war, lag das eher daran, daß die Fehlerhaftigkeit des fachgerichtlichen Urteils klar auf der Hand lag. Schließlich erscheint ein freiwilliger oder ungewollter Rückzug des BVerfG auf die Gewährleistung eines Mindeststandards auch deshalb unwahrscheinlich, weil die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte dem Gericht großen Einfluß auf das einfache Recht und die fachgerichtliche Rechtsprechung eröffnet. Sein Anspruch und seine Kompetenz, die Grundrechte inhaltlich und methodisch zu entwickeln, verschaffen ihm weitreichende Möglichkeiten, die Rechtsordnung zu prägen und das Verfassungsrecht in der Rechtsordnung durchzusetzen. Das gilt ganz besonders für den allgemeinen Gleichheitssatz, seit hier mit der Neuen Formel ein differenzierter und flexibler Prüfungsmaßstab zur Verfügung steht. Auf diese Möglichkeiten wird das BVerfG kaum verzichten. 3. Verhältnis

zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG

Eine verfassungsgerichtlichen Willkürkontrolle widerspricht ferner nicht Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Zwar verbürgt dieser nach fast unbestrittener Auffassung keinen „Rechtsschutz gegen den Richter". Allerdings bedeutet dieser Grundsatz nicht, daß bestehende grundrechtliche Garantien gegen die richterliche Rechtsanwendung beseitigt werden sollen. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG regelt Rechtsschutz gegen den Richter nicht, schließt diesen aber nicht aus 22 . mit der Beschränkung durch eine auf einem verfassungsmäßigen Gesetz beruhende, in einem gesetzmäßigen Verfahren ergangene Entscheidung" gewährt seien, war jedoch mißverständlich und daher schon in BVerfGE 7, 198 (207 f.) zurückgenommen worden. Selbstverständlich sollte das BVerfG auch den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen überprüfen. 22 Sachs-Krüger, Art. 19, Rdnr. 125. 10*

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6. Kap.: Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit

III. Rechtsdogmatische Probleme einer Willkürkontrolle 1. Wegfall

der Willkürkontrolle

als konsequenteste Lösung

Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit wirft dogmatische Probleme auf, weil es vom BVerfG verlangt, die Gesetzmäßigkeit von Gerichtsurteilen zu kontrollieren. Würde man diese Kontrolle „auf Null" reduzieren, hätte dies den Vorteil, daß die dogmatischen Probleme dieses Gebots vollständig gelöst wären. Verfassungsrecht und einfaches Recht wären sowohl im materiellen Recht wie in der verfassungsgerichtlichen Prüfung konsequent getrennt. Hingegen könnte eine teilweise Reduzierung der Kontrolle immer nur mit der Präzision ihrer jeweiligen Kriterien durchgeführt werden. Die Unschärfen, die die bisherige Rechtsprechung des BVerfG aufweist, beeinträchtigen ihre Akzeptanz durch Fachgerichte und Wissenschaft. 2. Verhältnis von einfachem Recht und Verfassungsrecht Materiellrechtlich führt eine Interpretation des Gleichheitssatzes, durch die das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit auf ein Verbot richterlicher Willkür reduziert wird, zu einer teilweisen Deckung von einfachem und Verfassungsrecht. Das ist systemwidrig, denn diese Rechtsmaterien sind grundsätzlich voneinander zu trennen. Allerdings sind derartige Überschneidungen auch in anderen Bereichen zu beobachten. Sie dürften angesichts der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen einfachem und Verfassungsrecht heute unvermeidlich sein. Das gilt insbesondere für die Grundrechte. Als objektive Wertordnung, die Richtlinien und Impulse in alle Bereiche des Rechts gibt, werden sie einerseits vom Gesetzgeber in einfaches Recht umgesetzt und beeinflussen andererseits dessen Anwendung und Auslegung durch Rechtsprechung und Verwaltung. Dabei führen das Verständnis des Grundrechtskatalogs des GG als eines lückenlosen Wert- und Anspruchssystems, die fortschreitende Normierung vieler Lebensbereiche und die vielfältigen interpretatorischen Wechselwirkungen dazu, daß die Grundrechte heute in aller Regel in Verbindung mit einfachem Recht realisiert und verletzt werden - genauer: „in Prozessen der Werdung, Anwendung und Anwendungskontrolle einfachen Rechts" 23 . Eine konsequente Trennung ist heute, wenn man die eben genannten Prämissen akzeptiert, nicht mehr durchführbar. 23

Zacher, FG BVerfG, 399; Dürig, MDHS, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 13; kritisch Hesse, Rdnr. 302. Dies ist dort besonders deutlich, wo die grundrechtliche Gewähr-

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Gleichwohl ist die Vermischung dieser Rechtsmaterien mit Problemen verbunden. Das sind - schlagwortartig - vor allem die „Versteinerung des einfachen Rechts" und die „Gesetzmäßigkeit der Verfassung 24. Erstere entsteht, weil immer mehr einfach-rechtliche Normen mit Verfassungsgehalten angereichert und so mittelbar in Verfassungsrang erhoben werden. Umgekehrt wird die Verfassung über das einfache Recht definiert und so mit Inhalten des einfachen Rechts vermischt. Allerdings würden diese Gefahren durch eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen kaum verstärkt. Zum einen verbietet das Willkürverbot in der Regel kein bestimmtes Ergebnis, sondern stellt auf die Begründung einer Rechtsanwendung ab. Eine rechtliche Lösung für einen bestimmten Sachverhalt ist daher nicht schon deshalb verfassungswidrig, weil das BVerfG sie als willkürlich bezeichnet hat 2 5 . Vielmehr kommt es hier in besonderem Maße auf die Umstände des einzelnen Falles an. Das Willkürverbot greift zudem nur sehr selten und auf alle Rechtsgebiete verteilt durch. Eine Verhärtung seiner Maßstäbe innerhalb des einfachen Rechts erscheint daher unwahrscheinlich. Auf der anderen Seite würde zwar der Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG aus dem einfachen Recht heraus bestimmt. Denn die Anforderungen, die das verfassungsrechtliche Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit an die Rechtsprechung stellt, decken sich mit denen des anzuwendenden einfachen Rechts. Allerdings reicht ein Verstoß gegen dieses Gebot alleine nicht aus, um das Willkürverbot zu verletzen; es muß stets noch ein qualifizierendes Kriterium hinzutreten. Auch wenn dieses schwer zu beschreiben ist, seine verfassungsrechtliche Natur bezweifelt werden kann und der entscheidende Unterschied zwischen Unrichtigkeit und Willkür letztlich im Ermessen des BVerfG liegt, besteht daher keine völlige Deckung dieser Rechtsbereiche. Eine Gesetzmäßigkeit der Verfassung droht eher bei Grundrechten wie Art. 5 Abs. 1 und 14 GG, die in einer besonders intensiven interpretatorischen Wechselwirkung zum einfachen Recht stehen.

leistung gerade in der Gesetzlichkeit besteht, z.B. bei Art. 101 Abs. 1 Satz 2, 103 Abs. 2 GG. 24 Grundlegend Leisner (1964) und JZ 1964, 201 ff. Seine Kritik betraf aber eher das Verhältnis von einfachem Gesetzesrecht und Verfassungsrecht und weniger dessen Folgen für die Rechtsanwendung. S. zur „Versteinerungsgefahr" noch Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 34; Stern, III/1, 1506; Hesse, JZ 1995, 265 ff. 25 Wenngleich die Struktur des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit dazu führt, daß eine willkürliche einfachrechtlich Begründung unmittelbar zu Verfassungsrecht „versteinert".

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5. Diskrepanz zwischen materiellem Inhalt und Kontrolldichte Eine Einschränkung des in Art. 3 Abs. 1 GG enthaltenen Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle würde zu einer Diskrepanz zwischen dem materiellen Inhalt dieses Grundrechts und der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte führen. Denn während das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit vom Richter eine in jeder Hinsicht rechtmäßige Entscheidung verlangt, würde das BVerfG die Beachtung dieses Gebots nur im Wege einer Willkürkontrolle überprüfen. Diese Diskrepanz kann - mit dem gleichen Resultat - auf zwei Weisen dogmatisch gerechtfertigt werden. Entweder reduziert man den materiellen Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG von vornherein auf den prozessual durchsetzbaren Teil. Dies würde bedeuten, daß dieses Grundrecht der Rechtsprechung im Bereich der Gesetzesbindung lediglich Willkür verbieten würde, denn nur dies würde das BVerfG tatsächlich überprüfen. Oder man beschränkt den Gleichheitssatz nur auf der Ebene der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf ein Verbot richterlicher Willkür. Der materielle Grundrechtsinhalt als solcher bliebe dann unverändert. Eine derartige Trennung von Grundrechtsinhalt und verfassungsgerichtlicher Kontrolle im Sinne tritt heute in verschiedenen Bereichen des Verfassungsrechts auf. Insbesondere bei Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG sind unterschiedliche normative Gehalte für Rechtsanwender und Kontrollinstanz sinnvoll, denn beide werden als umfassende Gewährleistungen richtiger Rechtsanwendung interpretiert. Daher folgt die überwiegende Staatslehre der Trennung von Handlungs- und Kontrollnorm, der Aufspaltung dieser Grundrechte in ein Handlungsgebot an die Rechtsanwendung und eine reduzierte Kontrollanweisung an das BVerfG 26 . Grundsätzlich ist eine solche Aufspaltung normativer Gehalte zwar nicht zu begrüßen. Eine Norm sollte jedem Anwender gegenüber mit demselben Inhalt gelten. Im Verfassungsrecht hat sie allerdings einige Berechtigung, denn die Grundrechte mögen zwar brauchbare Handlungsanweisungen enthalten; als Kontrollmaßstäbe sind sie aber nur bedingt praktikabel. Da die 26 Bryde, 306 ff.; Hesse, Rdnr. 439; Dürig MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 278, 394 ff.; Scherzberg, 99 ff., 171; Rupp, AöR 101 (1976), 175; Isensee, HBStR, § 162 Rdnr. 63; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2105 ff.; Murswiek, DöV 1982, 534; Schiaich, Rdnr. 479 ff. m.w.N. Dagegen Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 27; Wahl, Der Staat 20 (1981), 501; Klein, Der Staat 10 (1971), 145 (152 ff.); Sachs, JuS 1997, 124 (125). Die Lehre geht zurück auf Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, 227 ff., der ursprünglich die imperative Funktion des Rechts, als Befehl gegenüber dem Einzelnen, und seine Maßstabsfunktion für die Gerichte unterschied.

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Grundrechte über ihre Gesetzesvorbehalte letztlich jedes rechtswidrige Handeln im Verlauf der Rechtsanwendung sanktionieren 27 , stellt, materiellrechtlich gesehen, nahezu jeder Rechtsverstoß durch ein Gerichtsurteil zugleich einen Verfassungsverstoß dar. Da das BVerfG aus funktionellen Gründen nicht alle diese Verstöße nachprüfen und beheben darf - es soll gerade keine „Superrevision" über den Fachgerichten betreiben besteht eine Diskrepanz zwischen der materiellrechtlichen Gewährleistung und dem tatsächlichen Kontrollumfang. Diese Diskrepanz kann die Lehre von Handlungsund Kontrollnorm erklären: die Grundrechte verlangen zwar als Handlungsnormen die in jeder Hinsicht richtige und verfassungsmäßige Anwendung des Rechts, als Kontrollnormen machen sie aber nur Verletzungen „spezifischen Verfassungsrechts" justitiabel. Die Bedenken, die gegen diese Lehre geltend gemacht werden, greifen nicht durch. So heißt es, die Kluft zwischen Reichweite und Kontrolle entwerte die Verfassungsnormen; die Handlungsnorm sei gerade keine Norm; und in den Augen des Bürgers gehörten Verfassungswidrigkeit und verfassungsgerichtliche Beanstandung längst zusammen 28 . Andererseits bestimmt das BVerfG seinen Kontrollumfang ausdrücklich auch anhand funktioneller und praktischer Gesichtspunkte und bewahrt sich stets einen gewissen Spielraum. Man kann kaum behaupten, daß das BVerfG damit jedes Mal unmittelbar über materielle Grundrechtsgehalte entscheide. Außerdem kann auch das BVerfG selbst eine verfassungswidrige Entscheidung treffen 29 . Die Lehre von Handlungs- und Kontrollnorm entspricht dem Grundsatz der Gewaltenteilung und der Aufgabenparallelität zwischen Verfassungs- und Fachgerichten, weil sie die Grundrechtsinterpretation nicht allein auf das BVerfG fixiert. Die unbefriedigende Konsequenz, daß viele Verfassungsverstöße nicht beanstandet werden, bedeutet keinen entscheidenden Nachteil. Denn die effektive Reichweite der Kontrolle bleibt im Ergebnis gleich. A m Beispiel des Gleichheitssatzes wird der Sinn der Trennung von Handlungs- und Kontrollnorm besonders deutlich. Brächte man hier Grundrechtsinhalt und Kontrollumfang zur Deckung, würde entweder das BVerfG kollabieren - oder aber Art. 3 Abs. 1 GG hätte, jedenfalls vor Einführung der Neuen Formel, ausschließlich Willkür verboten 30 . Die Interpretation des 27

S. dazu im einzelnen im 7. Kapitel, Teil II. Starck, HBStR, § 164, Rdnr. 13 f.: „Gefahr für die Normativität der Verfassung" durch „proklamative Verfassungssätze"; Wahl, Der Staat 20 (1981), 501 f. 29 BVerfGE 72, 84 (88): „grobes prozessuales Unrecht"; BVerfGE 87, 114 (EGMR EuGRZ 1997, 310, 405). 30 „Abdankung des Staatsrechts", Robbers, DöV 1988, 755; eine „Substanzentleerung", bei der man sich fragen muß, „was ... dem Bürger das Grundrecht des Art. 3 GG eigentlich noch nützt", Burmeister 44 f. Hingegen meint Krämer, KritVj 1998, 220, eine frühe Reduzierung aller Grundrechte auf Willkür und Mißbrauch, 28

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Gleichheitssatzes gilt daher als Paradebeispiel 31 für die Trennung von Handlungs- und Kontrollnorm. Art. 3 Abs. 1 GG kann daher als Handlungs- und als Kontrollnorm unterschiedlich interpretiert werden. Als Handlungsnorm verlangt er über das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit die Gesetzmäßigkeit gerichtlicher Entscheidungen, als Kontrollnorm ist er vom BVerfG nur im Wege einer Willkürprüfung zu handhaben 32 . Somit begründet die Diskrepanz von materiellen Grundrechtsinhalt und verfassungsgerichtlicher Kontrolle keinen Einwand gegen eine Willkürkontrolle. 4. Verhältnis

zu Art. 2 Abs. 1 GG

Eine Grundkontrolle gerichtlicher Entscheidungen anhand des Art. 3 Abs. 1 GG ist möglicherweise überflüssig, weil sie auch schon mit Hilfe des Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG durchgeführt werden kann. Nach herrschender Auffassung verstößt jedes rechtswidrige belastende Urteil, das nicht in den Schutzbereich eines anderen Grundrechts eingreift, gegen Art. 2 Abs. 1 GG. Das BVerfG nutzt dieses Grundrecht daher dazu, die Beachtung solcher Verfassungsgebote zu prüfen, die selbst nicht als Grundrechte verbürgt sind 3 3 . Nähme man an, daß das Willkürverbot als objektives Verfassungsprinzip im Rechtsstaatsprinzip enthalten ist, könnte es über Art. 2 Abs. 1 GG „subjektiviert", also zu einem verfassungsprozessual durchsetzbaren Recht jedes Grundrechtsträgers gemacht werden. wie bei Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wäre eine „weise Selbstbeherrschung" des BVerfG gewesen. 31 Schiaich, Rdnr. 481; Heun, Grenzen, 46, der die Trennung aber in Dreier, Art. 3 Rdnr. 40 ablehnt. 32 Ebenso Hesse, FS Huber, 269; Gubelt in v. Münch/Kunig, Art. 3, Rdnr. 8; Georg Müller, VVDStRL 47 (1989), 44; Rümelin (1928), 30, 62 f. Ablehnend Heun, Grenzen, 46; Podlech, 88 f. Das BVerfG ließ offen, ob das Willkürverbot tatsächlich der materielle Inhalt des Gleichheitssatzes sein sollte oder nur eine auf ein praktikables Maß reduzierte Kontrollformel. Mal heißt es, ein gerichtliches Urteil verstoße nur dann gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn es willkürlich sei (BVerfGE 3, 225 (240); 13, 132 (150); in BVerfG (2S 2K) NJW 1996, 1809 sogar als st.Rspr. bezeichnet); dann wieder wird das Willkürverbot ausdrücklich auf die Prüfungsbefugnis des BVerfG bezogen (BVerfGE 11, 343 (349); kritisch hierzu schon Hamann, NJW 1957, 2 (3). Auch in der Literatur bleibt manches unklar, s. die gegensätzlichen Positionen von Herzog, MDHS, Art. 3 Anhang Rdnr. 18 und Dürig MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 293 ff. Im Grunde blieb diese Frage schon bei Leibholz, Gleichheit, 30 f., unbeantwortet. Mit der Neuen Formel ist nun aber geklärt, daß Art. 3 Abs. 1 GG nicht nur Willkür verbietet. 33 Wie die Rechte auf ein faires Verfahren und effektiven Rechtsschutz, SachsMurswiek, Art. 2 Rdnr. 108 ff.

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Allerdings setzt dies zum einen voraus, daß dem Rechtsstaatsprinzip in der Tat ein generelles oder zumindest ein auf die Rechtsanwendung bezogenes allgemeines Willkürverbot zu entnehmen ist 3 4 . Zum anderen ist in Rechtsprechung und Literatur ungeklärt, ob sich das gleichheitsrechtliche und ein mögliches rechtsstaatliches Willkürverbot inhaltlich wirklich dekken. Ferner böte ein rechtsstaatlich begründetes Willkürverbot nur dann den gleichen Schutz vor richterlicher Willkür wie ein gleichheitsrechtlich begründetes, wenn der Schutzbereich der Freiheitsrechte den gleichen Umfang wie derjenige des Art. 3 Abs. 1 GG hätte. Der freiheitsrechtliche Eingriffsbegriff reicht aber, wie gezeigt, weniger weit als der gleichheitsrechtliche Nachteilsbegriff. Schließlich wäre die Subjektivierung eines objektiv-rechtlichen Verfassungsprinzips gerade in dogmatischer Hinsicht weniger stringent als eine Begründung des Willkürverbots als unmittelbar verbürgter Abwehranspruch des Einzelnen. Daher könnte eine Willkürkontrolle zwar theoretisch auch aus dem Rechtsstaatsprinzip des GG in Verbindung mit den einzelnen Freiheitsrechten bzw. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet werden. Diese Lösung weist aber gegenüber einer Herleitung aus Art. 3 Abs. 1 GG keine nennenswerten Vorteile auf. 5. Willkürlichkeit

der Willkürkontrolle

Der Vorwurf, daß die Willkürkontrolle selbst willkürlich sei, daß das BVerfG dabei also nicht nach sachgerechten Gesichtspunkten entscheide, hängt sicher mit der geringen Zahl an Stattgaben zusammen. Entscheidender ist aber, daß die vom BVerfG bei der Willkürkontrolle angewandten Kriterien sehr unbestimmt sind und das Gericht ein weites Entscheidungsermessen für sich in Anspruch nimmt. Es erscheint in der Tat denkbar, daß zahlreiche der mit einer Verfassungsbeschwerde angefochtenen Urteile hinsichtlich ihrer sachlichen Rechtfertigung ernsthafte Bedenken aufwerfen, daß aber aus praktischen Gründen nur ein kleiner Teil davon beanstandet werden kann. Zweifelhaft ist sogar, ob der Mindeststandard des Willkürverbots überhaupt gleichmäßig gewährt werden kann. Gewisse Unterschiede in der Rechtsprechung des BVerfG sind allerdings schon deshalb nicht zu vermeiden, weil das Gericht in Senate und Kammern unterteilt ist, die auch das Willkürverbot durchaus unterschiedlich handhaben. Weil die Willkürkontrolle mittlerweile praktisch nur noch von den Kammern durchgeführt wird, ist die Entscheidungspraxis hier sogar besonders ungleichmäßig.

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Dazu näher im 7. Kapitel unter A.

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Daher ist bei einer Willkürkontrolle unbedingt darauf zu achten, daß die Kontrollmaßstäbe möglichst gleichmäßig gehandhabt werden. Dies bedeutet vor allem, daß es keine Rolle spielen sollte, welche Gerichtsbarkeit oder welches Gericht willkürlich entschieden hat. Zudem ist die Anwendung von Zivilrecht mit gleicher Intensität zu kontrollieren wie die von öffentlichem Recht. Denn die Probleme der grundrechtlichen Drittwirkung wirken sich hier nicht aus, weil der Grundrechtsinhalt den normativen Geboten des einfachen Rechts entspricht. Auch im Zivilprozeß darf der Richter nicht willkürlich entscheiden.

IV. Verfahrensrechtliche Voraussetzungen einer Willkürkontrolle Das BVerfG darf Gerichtsentscheidungen nur dann auf Willkür hin überprüfen, wenn dies mit den Verfahrensregelungen des Verfassungsprozesses vereinbar ist. Nach §§ 93 a ff. BVerfGG darf eine Sachentscheidung über eine Verfassungsbeschwerde nur ergehen, wenn das BVerfG sie zur Entscheidung angenommen hat. Voraussetzung hierfür ist, daß die Annahme zur Durchsetzung von Grundrechten angezeigt ist. Die Senate, nicht aber die Kammern, können eine Verfassungsbeschwerde darüber hinaus auch dann annehmen, wenn sie von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung ist. Die Annahme eines willkürlichen Urteils zur Entscheidung ist zur Durchsetzung von Grundrechten insbesondere angezeigt, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung einer Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht (§ 93 c Abs. 2 b Halbsatz 2 BVerfGG). Hiermit ist nicht nur gemeint, daß das Urteil eine große materielle Belastung beinhaltet; nach der Entstehungsgeschichte sollten auch Fälle „extremer richterlicher Nachlässigkeit/unverständlichen richterlichen Verhaltens" unter diese Vorschrift fallen 35 . Damit sind zweifellos willkürliche Entscheidungen gemeint. Zugleich wollte der Gesetzgeber dem BVerfG mit dem Kriterium des „Angezeigtseins" ein Beurteilungsermessen eröffnen 36 . Dieses Ermessen wird allerdings hinreichend reduziert sein, wenn eine willkürliche Rechtsanwendung vorliegt, denn dann ist in aller Regel auch die Durchsetzung des Willkürverbots angezeigt. Damit ist also auch diese Annahmevoraussetzung in den Willkürfällen erfüllt. Eine Willkürkontrolle ist somit mit dem Annahmeverfahren in den Kammern und den Senaten vereinbar.

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BT-Drucks. 12/3628, 14. MSBKU-Schmidt-Bleibtreu/Winter, § 93 a, Rdnr. 19; bzw. einen „Entscheidungsraum" (BReg in BT-Drucks. 12/3628 S. 1). Im Grunde wäre es dann ehrlicher, ein freies Annahme verfahren einzuführen. 36

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Dagegen erscheint zweifelhaft, ob die Senate eine Verfassungsbeschwerde gegen ein willkürliches Gerichtsurteil auch wegen „grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung" annehmen dürfen. Ob eine Beschwerde grundsätzliche Bedeutung hat, hängt davon ab, ob sie zur Klärung einer Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung führt 3 7 . Sicherlich hat das Willkürverbot große Bedeutung im Verfassungsleben. In den einzelnen Verfassungsbeschwerden geht es aber nur um seine Anwendung im Einzelfall. Die Willkürkontrolle ist eher kasuistisch ausgerichtet und stellt zudem, wie erörtert, weniger auf das Ergebnis als auf die Begründung einer Entscheidung ab. Daher dürften die meisten Willkürbeschwerden keine grundsätzliche Bedeutung haben. Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob das Willkürverbot gerade verfassungsrechtliche Bedeutung hat. Dies hängt davon ab, ob man dem Verbot richterlicher Willkür Verfassungsrang zuschreibt; die Frage kann also nur in einem Zirkelschluß beantwortet werden. Daher ist die grundsätzliche Bedeutung einer einzelnen Willkürentscheidung im Regelfall zu verneinen. Etwas anderes gilt aber, wenn das BVerfG eine Änderung der Willkür-Rechtsprechung, ihrer Kriterien oder Voraussetzungen beabsichtigt. Diese müßte stets von einem Senat des BVerfG vorgenommen werden.

V. Willkürkontrolle durch die Kammern des BVerfG Angesichts der Tatsache, daß die Willkürkontrolle mittlerweile praktisch ausschließlich durch die Kammern des BVerfG durchgeführt wird, ist weiter zu untersuchen, ob dies der gesetzlichen Aufgabenverteilung zwischen Senaten und Kammern entspricht. Gem. § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG darf eine Kammer des BVerfG einer Verfassungsbeschwerde nur stattgeben, wenn die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist. Ersteres bedeutet, daß die verfassungsrechtlichen Obersätze bereits einer Senatsentscheidung zu entnehmen sind, so daß die Kammer nur noch subsumieren muß 3 8 . Es ist nicht erforderlich, daß die 37

So die Auslegung von §§132 Abs. 1 VwGO, 160 Abs. 2 Satz 1 SGG, 115 Abs. 2 Satz 1 FGO, 546 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 554 b ZPO, 137 GVG, die auch für verfassungsgerichtliche Verfahren gilt, MSBKU-Schmidt-Bleibtreu/Winter, § 93 a, Rdnr. 18. Anders Schiaich, Rdnr. 255, wonach es darauf ankommen soll, ob die Verfassungsbeschwerde gewichtige Fragen des Verfassungsrechts aufwirft und dem BVerfG die Gelegenheit zu einer „wegweisenden" Entscheidung gibt. Benders Auffassung, daß mit der Einführung der Verfassungsbeschwerde jede grundrechtliche Frage als „grundsätzlich" anerkannt sei, da sie dazu berechtige, das BVerfG anzurufen (167, 176 f.: „Identität von Grundsätzlichkeit und Grundrechtlichkeit") nimmt dem Argument jeden Wert. 38 MSBKU-Schmidt-Bleibtreu/Winter, § 93 b Rdnr. 2; Mahrenholz, 1364. Die Kammer soll also keine eigenen verfassungsrechtlichen Erwägungen anstellen, sondern nur die Senatsrechtsprechung auf weitere Fälle anwenden.

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betroffenen Sachverhalte identisch oder miteinander vergleichbar sind 3 9 . Da das BVerfG die Kriterien des Verbots richterlicher Willkür bereits in der Zwangsversteigerungs-Entscheidung BVerfGE 42, 64 aufgestellt hat, stellt diese bereits das erforderliche verfassungsgerichtliche Präjudiz dar. Das zweite Kriterium, wonach die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet sein muß, wird meist negativ umschrieben: die Beschwerde ist dann nicht offensichtlich begründet, wenn die frühere Entscheidung des BVerfG vor langer Zeit ergangen ist oder erheblichen Einwänden ausgesetzt war 4 0 . An diesem Kriterium dürfte eine Willkür-Verfassungsbeschwerde nicht scheitern, denn das BVerfG erhält seine Willkür-Rechtsprechung kontinuierlich aufrecht und findet damit ganz überwiegend Zustimmung in der Literatur. Daher liegen die allgemeinen Voraussetzungen einer stattgebenden Kammerentscheidung in den Willkürfällen stets vor. Gleichwohl bestehen Bedenken gegen eine Willkür-Rechtsprechung durch die Kammern des BVerfG. Häufig wird befürchtet, die Kammern würden den Senaten wichtige Kompetenzen entziehen und die Rechtsprechung des BVerfG aufsplittern 41 . Diese Bedenken werden allerdings nicht speziell gegen die Willkürkontrolle durch die Kammern geäußert. Sie greifen hier auch nicht durch. Den einzelnen Willkür-Entscheidungen kommt weder nennenswerte allgemeine Bedeutung zu noch droht hier eine Zersplitterung der verfassungsgerichtlichen Maßstäbe. Soweit man die Willkürkriterien überhaupt als feste Maßstäbe bezeichnen kann, verwenden alle Kammern sie einheitlich.

B. Funktionelle Argumente zur Einschränkung auf ein Willkürverbot Neben materiellen Argumenten sind auch funktionelle Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Sie betreffen insbesondere die Aufgaben des BVerfG, der Fachgerichte und der Verfassungsbeschwerde. Zudem hat eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen auch praktische Folgen: sie dürfte die starke Belastung des BVerfG mit Verfassungsbeschwerden mit verursachen. 39

Es kommt also nicht darauf an, ob ein ähnlicher Sachverhalt bereits Gegenstand einer Willkürentscheidung war, Lechner/Zuck, § 93 a Rdnr. 12; Sangmeister NJW 1996, 827 (828). Das wäre wegen der Heterogenität der Willkürfälle auch gar nicht anders denkbar. 40 Clemens/Umbach in: UC, § 93 b Rdnr. 56; Mahrenholz, 1367; Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 178; anders MSBKU-Schmidt-Bleibtreu/Winter, § 93 c Rdnr. 2, die beide Kriterien verknüpfen. 41 So etwa Sendler, NJW 1995, 3291 m.N.; Benda, NJW 1995, 429; Rupp, JZ 1995, 353.

B. Funktionelle Argumente

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I. Willkürkontrolle als Aufgabe des BVerfG Das BVerfG ist zur Überprüfung von Entscheidungen deutscher Gerichte im Rahmen von Verfassungsbeschwerde-Verfahren zuständig. Eine Willkürkontrolle ist im Hinblick auf die Funktion des BVerfG unter zwei Aspekten problematisch. Sie würde das Gericht zu einer teilweisen Superrevision zwingen und dadurch möglicherweise die Erfüllung anderer Aufgaben beeinträchtigen. 1. Teilweise

Superrevision

Die materielle Vermischung von einfachem und Verfassungsrecht durch das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit führt, funktionell gesehen, zu einem Gleichlauf von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit im Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG. Denn das BVerfG muß, um einen Verstoß gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit festzustellen, die Rechtmäßigkeit eines Urteils anhand des einfachen Rechts nachprüfen. Das führt zu dem gelegentlich geäußerten Vorwurf, bei der Willkür-Rechtsprechung handele es sich um eine „Superrevision für krasse Fälle". Allerdings prüft das BVerfG in Wahrheit nicht, wie ein Revisionsgericht, alle denkbaren Rechtsgrundlagen einer Entscheidung nach. Es beschränkt sich, wie erläutert, zu Recht auf die in den Urteilsgründen genannten Entscheidungsgrundlagen. Zudem ist eine Prüfung einer Gerichtsentscheidung am Maßstab des einfachen Rechts durch das BVerfG nicht generell ausgeschlossen. Es muß eine solche Prüfung immer dann durchführen, wenn dies zur Feststellung eines Verfassungsverstoßes erforderlich ist. 4 2 Ob und wann dies der Fall ist, ergibt sich aber in erster Linie aus der Interpretation des materiellen Verfassungsrechts. Die Vorgaben für das verfassungsgemäße Verständnis der Aufgaben des BVerfG sind aus ihm herzuleiten, weil alle diese Aufgaben in der einen oder anderen Weise den Schutz der Verfassung bezwecken. Hier zeigt sich ein verfassungsrechtliches Paradoxon: die Auslegung der Verfassung ist der Institution anvertraut, deren Kompetenzen sie regelt Die Frage, ob man der Auslegung des Gleichheitssatzes als Willkürverbot folgt, entscheidet nicht nur materiell, sondern auch funktionell über die Zulässigkeit einer Willkürkontrolle gerichtlicher Urteile. Daher ist es erforderlich, die Funktionen des BVerfG unabhängig von dieser Auslegung zu erörtern.

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So z.B. bei der Frage, ob Landesrecht als Grundlage eines Einzelaktes mit einfachem Bundesrecht vereinbar ist (Art. 31 GG).

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2. Gesetzliche Aufgaben des BVerfG Historisch betrachtet gehörte eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen nicht zu den Aufgaben des BVerfG. Die im GG und 1951 im BVerfGG normierten Zuständigkeiten standen unter dem Leitgedanken, daß es nur Verfassungsfragen in einem engen Sinn behandeln solle 43 . Der Parlamentarische Rat hatte durchaus die Errichtung eines Obersten Gerichtshofs erwogen, der nach dem Muster des Supreme Court der USA oberstes Gericht sowohl für einfach-rechtliche als auch für Verfassungsstreitigkeiten sein sollte. Er entschied sich jedoch für ein reines Verfassungsgericht. Diese Beschränkung auf verfassungsrechtliche Fragen kam auch im Statusbericht von 1951 zum Ausdruck, in dem das BVerfG selbst zu seinen Aufgaben im Gefüge des GG Stellung nahm 4 4 . Die derzeit praktizierte Willkürkontrolle steht hierzu in gewisser Weise in Widerspruch. Zum einen wurde dem BVerfG nicht ausdrücklich eine Willkürprüfung als Aufgabe zugewiesen. Das ist allerdings unschädlich, denn die Einführung der Verfassungsbeschwerde gegen Akte der staatlichen Gewalt ermächtigte das BVerfG, Gerichtsentscheidungen am Maßstab des Verfassungsrechts zu überprüfen. Wenn das Verfassungsrechts ein Willkürverbot mit einschließt, so ist das BVerfG zur Durchführung einer Willkürprüfung ermächtigt. Zum anderen aber muß das BVerfG bei der Willkürkontrolle die angefochtenen Gerichtsurteile am Maßstab des einfachen Rechts prüfen. Auch wenn eine ausdrückliche Ermächtigung des BVerfG hierzu kaum in Frage gekommen wäre, hätte die Willkürprüfung durch die Aufnahme eines Willkürverbots in den Verfassungstext legitimiert werden können. Der Parlamentarische Rat nahm aber nicht zu einer solchen Interpretation des Gleichheitssatzes Stellung. Allerdings wurde die Verfassungsbeschwerde 1968 in das Grundgesetz übernommen. Zu dieser Zeit war die Willkür-Rechtsprechung fester Bestandteil der Urteilskontrolle des BVerfG, wenngleich sie noch nicht zu einer Stattgabe geführt hatte. Auch wenn diese konkrete Rechtsprechung offenbar nicht Gegenstand der Erwägungen bei der Änderung des GG war, spricht viel dafür, daß die Verfassungsbeschwerde so in das GG inkorporiert wurde, wie sie damals gehandhabt wurde 45 . Spätestens 1993, als der Gesetzgeber die Fortführung der Willkür-Rechtsprechung bei der Reform 43

Vgl. AöR 1 (1951), 669 (673 ff.), wo unterschieden wird zwischen der „eigentlichen normalen Gerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit als der Gerichtsbarkeit mit einem gewissen politischen Akzent". 44 JöR Bd. 6, 119 ff. 45 So - im Hinblick auf das Verhältnis von objektiver und subjektiver Funktion Schiaich, Rdnr. 264.

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des Kammerverfahrens ausdrücklich als Aufgabe des BVerfG bezeichnete, wurde sie dann auch einfach-gesetzlich normiert. 3. Verhältnis

zu anderen Aufgaben des BVerfG

Die funktionell-rechtliche Frage, ob die Willkürkontrolle zu den Aufgaben des BVerfG zählt, weist zwei Aspekte auf. Zum einen könnte die Willkür-Rechtsprechung mit anderen Aufgaben des Gerichts kollidieren und deren Erfüllung beeinträchtigen. Zum anderen erscheint zweifelhaft, ob das BVerfG dafür überhaupt geeignet ist. Bedenken bestehen im Hinblick auf die - möglicherweise - größere Nähe der Fachgerichte zum einfachen Recht und auf das Verfahren und die Zuständigkeitsverteilung innerhalb des BVerfG. Allgemein gesprochen, ist es Aufgabe des BVerfG, in den ihm zugewiesenen Verfahren bedeutende und grundsätzliche Fragen des Verfassungsrechts zu behandeln. Es erscheint zweifelhaft, ob eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen hierzu zählt 4 6 . Die dort behandelten Fälle weisen nur eine verfassungsrechtliche Dimension auf, nämlich die des Willkürverbots. Bei den zu entscheidenden Fällen handelt es sich häufig um eher alltägliche und geringfügige Sachverhalte. Bedeutende Fragen werden hier nur dann erörtert, wenn man das Willkürverbot schlechthin als einen bedeutenden Inhalt des Verfassungsrechts versteht. Damit läßt sich die eingangs gestellte Frage aber nicht beantworten, weil man in einen Zirkelschluß gerät. Die Aufgaben des BVerfG stehen grundsätzlich gleichrangig nebeneinander. Seine Kompetenznormen in Art. 93 Abs. 1 GG, § 13 BVerfGG enthalten keine Rangfolge. Die Verfahren sind teils mehr subjektiv-rechtlich ausgerichtet, bezwecken also in erster Linie den Schutz der Grundrechte; teils überwiegt die objektiv-rechtliche Dimension, also die abstrakte Klärung bedeutsamer verfassungsrechtlicher Fragen. Die Verfassungsbeschwerde ist der spezifische Rechtsbehelf des Einzelnen, der jedermann die Durchsetzung seiner Grundrechte ermöglichen soll. Sie ist daher in besonderer Weise subjektiv ausgerichtet. Umgekehrt gelangen nicht alle objektiv bedeutsamen Verfahren an das BVerfG. Seine Zuständigkeiten sind in den oben genannten Vorschriften enumerativ aufgezählt, eine Generalklausel gibt es nicht. In allen Verfahren kann das BVerfG erst tätig werden, wenn ein entsprechender Antrag gestellt worden ist. Auch der selbstauferlegte 46

Zweifelnd Winter, FS Merz, 625. Das BVerfG verknüpft diesen Gedanken gelegentlich mit dem Maßstab der Eingriffsintensität: BVerfGE 19, 149 (149) (DM 27,04): „Bagatellsache, deren Bedeutung eine Entscheidung durch das BVerfG nicht rechtfertigt".

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Verzicht auf Entscheidungsmacht (judicial self-restraint) entzieht dem BVerfG objektiv wichtige verfassungsrechtliche Fragen, unabhängig davon, ob man diesen als freiwillige Zurückhaltung oder als eine logische Konsequenz aus verbindlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben ansieht 47 . Die Aufgaben des BVerfG als solche sprechen daher weder für noch gegen eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen.

II. Tatsächliche Eignung des BVerfG zur Willkürkontrolle Eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen durch das BVerfG ist nur sinnvoll, wenn dieses tatsächlich dafür geeignet ist. Häufig wird eingewandt, die Fachgerichte seien näher am einfachen Recht angesiedelt und die Besonderheiten des Verfassungsprozesses benachteiligten den Prozeßgegner des Ausgangsverfahrens. 1. Verfahrensablauf Allgemein hat das BVerfG recht weitgehende verfahrensrechtliche Befugnisse. Der verfassungsprozessuale Untersuchungsgrundsatz (§ 26 Abs. 1 BVerfGG) ermöglicht eine vollständige Erforschung des Tatsachenstoffes, soweit er für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Ausgangsentscheidung relevant ist 4 8 . Eine Verfahrensbesonderheit, die die Eignung des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens für eine Willkürkontrolle erhöht, ist das Annahmeverfahren, das die Möglichkeit eröffnet, aussichtslose Beschwerden zu verwerfen 49 47 Die Entscheidungen BVerfGE 46, 160 (Schleyer), BVerfGE 77, 170 (C-Waffen) und BVerfGE 84, 90 (SMAD-Enteignungen), in denen das BVerfG seine Kontrollkompetenz besonders weit zurücknahm, betrafen sicherlich auch objektiv wichtige Fragen. Vorsichtiger BVerfGE 2, 79 (86): „auch da, wo es über verletzte Rechte und behauptete Pflichten entscheidet, steht es weniger im Dienste subjektiver Rechtsverfolgung als im Dienste objektiver Bewahrung des Verfassungsrechts"; s. dazu Partsch, in: Frowein/Meyer/Schneider, 41. 48 Ein schönes Beispiel eigener Tatsachenermittlung in BVerfGE 87, 209 (222) „Evil Dead-Tanz der Teufel". 49 Gleichwohl sollten Nichtannahmebeschlüsse unbedingt begründet werden, zumal die Kammer den Fall ja ohnehin einmal geprüft hat. Die durch § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG sanktionierte Praxis des BVerfG, mehrere tausend Verfassungsbeschwerden im Jahr ohne jede Begründung nicht zur Entscheidung anzunehmen (Pfitzner NJW 1998, Heft 1, XXVI), ist untragbar. Ebenso Lechner/Zuck, § 93 d Rdnr. 6 f; ders. NJW 1993, 2641 (2646). Pestalozza, DWiR 1992, 431; Klein NJW 1993, 2073 (2075); Kroitzsch, NJW 1994, 1032. Nicht einmal einen Hinweis auf den maßgeblichen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt, wie ihn der Bundesrat verlangte (BT-Drucks. 12/3628 S. 16), ließ das BVerfG zu (Schriftl. Bericht RA-BT, BT-Drucks. 12/4842, 12). Zustimmend MSBKU-Winter, § 93 d, Rdnr. 4.

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Allerdings haben sowohl die Verfassungsbeschwerde selbst als auch die sich anschließende Prüfung durch das BVerfG eine einseitige Perspektive: die Sicht des Beschwerdeführers. Seine Rügen bestimmen prima facie den Prüfungsgegenstand; seine Rechtsschutzinteressen stehen bei der Entscheidung über die Annahme der Verfassungsbeschwerde im Vordergrund. Diese einseitige Ausrichtung des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens wird aber durch einige verfahrensrechtliche Vorkehrungen abgeschwächt. Zum einen kann sich der zuständige Bundes- oder Landesjustizminister gem. § 94 BVerfGG zu der Verfassungsbeschwerde äußern 50 . Das Fachgericht, das die angefochtene Entscheidung getroffen hat, ist zwar nicht am Verfahren beteiligt, das BVerfG kann aber nach §§ 27 a BVerfGG, 41 GO-BVerfG eine Stellungnahme einholen und gegebenenfalls, etwa wenn das Fachgericht aus Versehen willkürlich entschieden hat, auf eine informelle Erledigung des Rechtsschutzbegehrens, etwa durch formlose Aufhebung der Entscheidung, hinzuwirken 51 . Daß die Gerichte in den bisher veröffentlichten Willkürfällen eine Korrektur ihrer Entscheidung ablehnten, spricht nicht dagegen: Fälle, in denen sie das taten, werden naturgemäß nicht veröffentlicht. Die größten Bedenken wirft die Aufhebung eines Gerichtsurteils, das in einem kontradiktorischen Ausgangsverfahren ergangen ist, aber im Hinblick auf den Prozeßgegner des Beschwerdeführers auf. Immerhin wird ein ihn begünstigendes rechtskräftiges Urteil aufgehoben. Daher ist der aus einem solchen Urteil unmittelbar Begünstigte im Verfahren zu hören (§ 94 Abs. 3 BVerfGG). Meist wird er versuchen, den Erfolg der Beschwerde zu verhindern. Ist das nicht der Fall und unterstützt er sie, hat das Fachgericht offenbar in der Tat eine allseits irritierende Entscheidung getroffen 52 . Aber auch wenn das BVerfG einer Verfassungsbeschwerde stattgibt, ist das Verfahren in aller Regel noch nicht beendet. Das BVerfG entscheidet nicht „durch", sondern verweist das Verfahren an ein Fachgericht zurück, das gegebenenfalls mit einer anderen Begründung zum selben Ergebnis kommen kann (§ 95 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG). 50 Dabei nimmt dieser „sein" Fachgericht durchaus nicht immer in Schutz (BVerfGE 62, 189: die Kostenfestsetzung „lasse sich wohl kaum sachlich begründen"; BVerfGE 58, 163: „könnte willkürlich sein"). Nur in vier Senatsentscheidungen wurde ein Verfassungsverstoß explizit verneint. Die Anhörung erfolgt stets in Senatsverfahren, die bei der Willkürkontrolle praktisch nicht mehr vorkommen; im Kammerverfahren ist sie nur vor Stattgaben obligatorisch (§ 93 c BVerfGG), im übrigen fakultativ, § 41 GO-BVerfG. Bei Nichtannahme ist niemand zu hören, weil Gegenstand der Entscheidung dann eine rein prozessuale Frage ist, BVerfGE 3, 261 (264). 51 Voraussetzung ist, daß dies prozeßrechtlich möglich ist; dazu näher Goetze, UC § 94 Rdnr. 19. 52 So in BVerfGE 62, 189; 66, 324. Für eine stärkere Stellung des Gegners im Ausgangsverfahren Goetze, UC, § 94 Rdnr. 19; Redeker, NJW 1971, 1171. 11 v. Lindeiner

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2. Sachnähe der Fachgerichte Eine Willkürkontrolle würde dazu führen, daß das BVerfG über Fragen des einfachen Rechts entscheidet. Daran wird kritisiert, daß das BVerfG von diesem weniger verstehe als die Fachgerichte 53 . Unterstellt, daß dies zuträfe, so bestünden zwei konkrete Gefahren: das BVerfG könnte das einfache Recht falsch anwenden; und es könnte aufgrund seines ausschließlich verfassungsrechtlichen Blickwinkels Besonderheiten und Eigengesetzlichkeiten der anderen Rechtsgebiete nicht gebührend berücksichtigen. Die Gefahr, daß das BVerfG in einfachrechtlicher Hinsicht fehlerhaft entscheidet, ist zweifellos nicht auszuschließen. Diese Gefahr verringert sich umso mehr, je mehr es nur eindeutige und möglichst unstreitige Fehlentscheidungen als willkürlich beanstandet. Die Eröffnung einer weiteren Instanz erhöht aber die Wahrscheinlichkeit einer richtiger Entscheidung. Sie wird dadurch weiter gesteigert, daß das Verfassungsbeschwerde-Verfahren negatorischen Charakter hat. Weil das BVerfG in aller Regel nicht „durchentscheidet", geht es hier primär darum, ein fehlerhaftes Urteil aufzuheben, und nicht darum, selbst eine richtige Entscheidung zu treffen. Die Gefahr, daß das BVerfG als spezialisiertes Verfassungsgericht Besonderheiten der anderen Rechtsgebiete nicht hinreichend würdigt, ist wegen der vielfältigen Wechselwirkungen von Verfassungsrecht und einfachem Recht durchaus ernst zu nehmen. Allerdings tritt sie, ebenso wie das Problem der Gesetzmäßigkeit der Verfassung, eher dort auf, wo mit einer Verfassungsbeschwerde generelle Rechtsentwicklungen und weitreichende Entscheidungssätze der Fachgerichte angegangen werden. Das gilt nicht für Beschwerden, die sich lediglich gegen eine einfachrechtlich fehlerhafte Rechtsanwendung richten. Auch diese Gefahr wird geringer, wenn das BVerfG die Willkürkontrolle auf eindeutige Einzelfälle beschränkt und die allgemeine Entwicklung des einfachen Rechts nur über die grundrechtliche Ausstrahlungswirkung und nicht über die Willkür-Rechtsprechung beeinflußt. Im übrigen kann ein größerer fachrichterlicher Sachverstand schwerlich gerade dort, wo er versagt hat, einer Eingriffsmöglichkeit des BVerfG entgegengehalten werden. Zudem spricht auch die personelle Struktur des Gerichts gegen eine mangelnde Kenntnis des einfachen Rechts. Drei Verfassungsrichter je Senat müssen aus dem Kreis der Richter an obersten Bundesgerichten stammen 54 . Auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter, deren 53 Auch das BVerfG meinte einmal, die Fachgerichte seien „sachnäher" zur Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts (BVerfGE 40, 88 (94)). 54 Wobei umstritten ist, ob dadurch eher richterliche Denkweise oder fachbezogener Sachverstand gefördert werden soll, Lechner/Zuck, § 3 Rdnr. 8. S. noch MSBKU-

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Rolle bei der Willkür-Rechtsprechung man durchaus hoch einschätzen kann, stammen meist aus der Fachgerichtsbarkeit. So kann nicht nur, insbesondere bei Bundesverfassungsrichtern ohne früheres Richteramt, ihre Kenntnis des einfachen Rechts genutzt werden 55 . Möglicherweise bringen sie auch kollegiale Vorsicht gegenüber dem Willkürverdikt ein, was einen zurückhaltenden Umgang damit fördert. Mangelnder Sachverstand spricht nach alledem nicht gegen eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen durch das BVerfG.

III. Praktische Folge: Belastung des BVerfG mit Verfassungsbeschwerden Eine Abschaffung der Willkürkontrolle könnte zu einer Entlastung des BVerfG führen, falls dann entweder weniger Verfassungsbeschwerden eingelegt würden oder deren Bearbeitung weniger Aufwand verursachen würde. Auch dieses Argument wird immer wieder gegen die Willkür-Rechtsprechung ins Feld geführt. Allerdings spricht die Erfahrung eher dagegen, daß der Umfang des Prüfungsmaßstabes die Anzahl an Verfassungsbeschwerden beeinflussen kann. Denn die extrem niedrigen Stattgabezahlen und die engen Maßstäbe für die Überprüfung von Gerichtsentscheidungen müßten schon jetzt jeden abschrecken, der Rechtsschutz beim BVerfG zu erlangen sucht 56 . Gleichwohl steigt die Zahl der Verfassungsbeschwerden seit 1951 nahezu kontinuierlich. Dies mag unter anderem daran liegen, daß die unscharfen verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstäbe dazu ermutigen, eine Beschwerde zu erheben. Eine Verfassungsbeschwerde, die Willkür rügt, ist zudem in gewisser Weise leichter zu begründen als andere Beschwerden, weil ein spezieller Einfluß des Verfassungsrechts auf die Rechtsanwendung nicht belegt werden muß. Andererseits muß hier die besondere Schwere des Rechtsverstoßes aufgezeigt werden. Angesichts dessen liegt nahe, daß die Entscheidung, Maunz, § 2 Rdnr. 5 (für sechs Bundesrichter), Pestalozza, 43 Fußn. 41 (für ein Verhältnis von 1:2). 55 Umbach, UC, Vor §§ 93 a ff., Rdnr. 15, dessen Mitkommentatoren fast nur richterlichen Biographien aufweisen, 1479 ff. Eine gesetzliche Regelung der Tätigkeit der Mitarbeiter ist, falls die Andeutung von Lechner/Zuck, § 15 a Rdnr. 5 zutrifft, überfällig; Zuck, NJW 1996, 1656 f. und Bichelmeir, 99 ff., halten die jetzige Praxis für „klar rechtswidrig". 56 Umbach, UC, Vor §§ 93 a ff., Rdnr. 4 ff., errechnet eine Erfolgsquote von 2,45%; andere Schätzungen liegen eher noch darunter. Auch die Reformen des BVerfGG (z.B. die Stattgabekompetenz der Kammern) haben die Quoten nicht merklich erhöht. Im Gericht selbst betrachtet man die Verfassungsbeschwerde ironisch als „mühelos, kostenlos, aussichtslos" - so Rupp, zitiert bei Rupp-v. Brünneck, 262. il*

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eine Verfassungsbeschwerde einzulegen, relativ unabhängig von den Erfolgsaussichten und der erhobenen Rüge ist. Zweifelhaft erscheint auch, ob eine Abschaffung der Willkürkontrolle zu einer Arbeitserleichterung für das BVerfG führen würde. Jede Verfassungsbeschwerde ist zumindest einmal „durchzuprüfen", und zwar unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer Willkür oder eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts rügt. Beschränkt sich das Willkürverbot auf seltene, besonders schwere Fehlurteile, so dürfte die Prüfung über eine solche einmalige Durchsicht kaum hinausgehen. Die tatsächliche Überprüfung einer Gerichtsentscheidung würde also durch eine Abschaffung der Willkürkontrolle nicht vereinfacht werden. Selbst falls man aber durch eine Abschaffung der Willkürkontrolle die Arbeitslast des BVerfG verringern könnte, sprechen grundsätzliche Bedenken dagegen, diese gerade mit diesem Argument zu begründen. Denn die Arbeitslast eines Gerichts darf in Fragen materiellen Rechtsschutzes kein entscheidender Gesichtspunkt sein. Das BVerfG selbst hat das Vorgehen des BGH, auch seine Arbeitsbelastung über die Zulassung von Revisionen entscheiden zu lassen, als gleichheitswidrig bezeichnet, weil diese kein sachliches Kriterium zur Differenzierung zwischen Gerichtsentscheidungen sei 5 7 . Das muß auch für die Verfassungsbeschwerde gelten. Der Gefahr, daß die seit Jahrzehnten anhaltende Belastung des BVerfG zu einem Verlust an materiellem Grundrechtsschutz führt 5 8 , ist entgegenzuwirken. Im übrigen stehen weitere Möglichkeiten zur Verfügung, die als „mildere Mittel" die Arbeitslast des BVerfG reduzieren könnten: - Rechtsbehelfe bei den ordentlichen Gerichten wie Gegenvorstellungen und Anhörungsrüge, die zumindest tendenziell fachrichterliche Willkür abfangen könnten; - der Ausbau der Verfassungsbeschwerden zu den Landesverfassungsgerichten (falls diese von ihrer Kompetenz effektiven Gebrauch machen) 59 ; - ein freies Annahmeverfahren beim BVerfG, wobei allerdings sicherzustellen ist, daß dieses nicht zu einer Beeinträchtigung des subjektiven Grundrechtsschutzes führt 6 0 . 57

BVerfGE 54, 277. Bedenklich daher BVerfGE 94, 1; 94, 59 ff., 115 ff., 166 ff. 59 Skeptisch etwa H. P. Schneider, NJW 1996, 1517 f.; vgl. jetzt aber BVerfG NJW 1998, 1296 ff. 60 Wenngleich schon die derzeitige Annahmeprüfung einem freien Verfahren recht nahe kommt, Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 266; Berkemann, DVB1 1996, 1034; zur Vorgeschichte Albers ZRP 1997, 198; Rinck, NJW 1959, 170. Die Entlastungskommission betont zu Recht, daß dies nur ein rechtlich gebundenes Ver58

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Insgesamt kommt dem Argument, daß eine Abschaffung der Willkürkontrolle das BVerfG entlasten würde, daher keine entscheidende Bedeutung zu.

IV. Verhältnis von Verfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit Eine Willkürkontrolle erweitert die Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, die die einzige externe Kontrolle der fachgerichtlichen Rechtsprechung darstellt. Anders als Gesetzgeber (Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 100 Abs. 1 GG) und Verwaltung (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) hat die Fachgerichtsbarkeit im Rahmen des Instanzenzuges grundsätzlich selbst für recht- und verfassungsmäßige Ergebnisse zu sorgen. Die Willkürkontrolle wirft daher Probleme im Verhältnis zwischen BVerfG und Fachgerichtsbarkeit auf. 1. Aufgabenparallelität

beim Grundrechtsschutz

Die Aufgabenverteilung zwischen Fachgerichten und BVerfG folgt in erster Linie dem materiellen Recht. Daher korrespondieren der Überschneidung des einfachen und des Verfassungsrechts aufgrund des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit entsprechende Parallelen auf der funktionellen Ebene. In diesem Bereich laufen die Aufgaben von Verfassungs- und Fachrechtsprechung gleich. Dies ist allerdings keine ungewöhnliche Erscheinung; denn die Fachgerichte sind ebenso an die Grundrechte wie an das einfache Recht gebunden (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG). Wo sie über Urteile anderer Gerichte entscheiden, haben sie daher nicht nur Verstöße gegen einfaches Recht, sondern auch solche gegen Verfassungsrecht zu prüfen und gegebenenfalls zu beanstanden. Soweit gegen eine willkürliche Entscheidung der Rechtsweg zu einem Fachgericht gegeben war, war diese also schon in dessen Rahmen zu beseitigen. Das BVerfG ist lediglich das einzige auf Verfassungsverletzungen spezialisierte Gericht. Es besteht daher eine Aufgabenparallelität 61 zwischen dem BVerfG und den Fachgerichten. Möglicherweise gebührt aber bei einer solchen Parallelität einer der Gerichtsbarkeiten der Vorrang. Diese Frage läßt sich nur bedingt vom matefahren sein darf, damit es nicht zu „willkürlichen Annahmeentscheidungen" kommt, Bericht, 51. Ein vernünftiges Konzept bei Böckenförde, ZRP 1996, 284. Kritisch H.-J. Vogel, FS Kleinert, 78. Interessant BVerfG (K) NJW 1998, 3484 f., wo die Verfassungsmäßigkeit des § 93 a Abs. 2 BVerfGG gerade damit begründet wird, daß er dem BVerfG kein freies Annahmeermessen einräume. 61 Bryde, 316 ff.; Krauß, 8 f.; Ossenbühl, FG BVerfG, 495 f.

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riellen Recht her beantworten. Zwar geht das Verfassungsrecht dem einfachen Recht vor. Eine Grundrechtsverletzung ist daher nicht deshalb irrelevant, weil sie gleichzeitig auch einfaches Recht verletzt. Aber diesem materiellen Vorrang entspricht kein vergleichbarer Vorrang des BVerfG gegenüber der Fachgerichtsbarkeit. Denn grundsätzlich stehen beide Rechtszüge getrennt nebeneinander. Andererseits ist das BVerfG als einziges Gericht dazu berechtigt und verpflichtet, Entscheidungen aller anderen Gerichte aufzuheben und Verfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht abschließend zu entscheiden. Daher kommt ihm jedenfalls ein praktischer Vorrang vor den Fachgerichten zu. Dem steht nicht entgegen, daß das BVerfG die Verantwortung der Fachgerichte für die Grundrechtsrealisierung nur ergänzt 62 : dennoch ist es die letzte Instanz. 2. Edukation der Fachgerichte Die Willkür-Rechtsprechung hat auch indirekte Auswirkungen auf das Entscheidungsverhaltens der Fachgerichte. Positiv ist zu berücksichtigen, daß die Willkürkontrolle die Gerichte zu technischer und methodischer Sorgfalt anhält. Diese Effekte werden häufig mit den Begriffen „Damoklesschwert" und „Edukationseffekt" umschrieben 63 . Beide meinen im Grunde dasselbe: durch eine übergeordnete, korrigierende und als Vorbild wirkende Instanz soll verfassungswidrigen Urteilen vorgebeugt werden. Diese Effekte sind im Interesse des Rechtsschutzes gegen Verfassungsverletzungen positiv zu bewerten. Eine weitere Instanz eröffnet eine zusätzliche Abwehrmöglichkeit gegen falsche Urteile, auch wenn diese nur selten durchgreift; der Edukationseffekt erhöht generell die Chancen richtiger Rechtsfindung. Speziell auf die Willkür-Rechtsprechung werden diese Phänomene zwar seltener bezogen. Es wird sogar bestritten, daß sie hier überhaupt auftreten 6 4 . Das könnte man allerdings nur dann annehmen, wenn man vermutet, daß die Fachrichter sich der Edukation gewissermaßen aus Trotz verweigern. Damit unterstellt man ihnen ein bewußt sorgfaltswidriges Handeln. Denn in den Willkürfällen sind, anders als bei den sonstigen grundrecht62

Schiaich, Rdnr. 18 ff. („Aufgabensubsidiarität", „Komplettierung" des fachgerichtlichen Rechtsschutzes durch das BVerfG); Bethge KritVj 1990, 10 (das BVerfG als „Notaggregat" und „judikative Legalitätsreserve"). Ähnlich BVerfGE 49, 252 (259): „kein substantieller Unterschied", „vermeidbarer Umweg". 63 Steinwedel, 19; Rupp, ZZP 82 (1982), 3. Der Edukationseffekt erscheint in der Rechtsprechung erstmals in BVerfGE 6, 55 (80), wo er allerdings das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel bezeichnet, „die Ehefrau ins Haus zurückzubringen". Das hier Gemeinte aber wird bei Konrad Zweigert, JZ 1952, 321 f.; Ossenbühl, FS Ipsen, 140; Berkemann 1039 f.; Benda/Klein Rdnr. 332 diskutiert. 64 Krauß, 259.

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liehen Auswirkungen auf die Rechtsanwendung, unterschiedliche, aber gleichermaßen tragbare Auffassungen über das richtige Ergebnis kaum denkbar. Natürlich ist rechtmäßiges Handeln selbstverständlich; diese Forderung müßte im Grunde nicht besonders betont werden. Wenn dies gelegentlich geschieht, fördert das aber sicher ihre Verwirklichung. 3. Verbitterung

der Fachgerichte?

Auf der anderen Seite kann die Willkür-Rechtsprechung auch negative Folgen für das Verhältnis zwischen Fach- und Verfassungsgerichten haben. Die Schärfe des Willkürvorwurfs - die durch seine Objektivierung nicht wesentlich gemildert werden dürfte - und die Unschärfe seiner Kriterien können zu Distanzierung oder offenem Widerspruch führen 65 . Auch das Vertrauen des Bürgers in die Fachgerichte kann so beschädigt werden. Allerdings werden solche Effekte angesichts der wenigen Stattgaben, die es bei der Willkürkontrolle gab, eher auf genereller Unzufriedenheit der Fachgerichte mit dem BVerfG als auf konkreter eigener Erfahrung beruhen. Jedenfalls sind die Konsequenzen für die Entscheidungsfindung des Richters wenig gravierend. Die Anforderungen, die das BVerfG mit seiner Rechtsprechung an diese stellt, sind eigentlich selbstverständlich. Während die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf die Rechtsanwendung weitreichende Auswirkungen auf die richterliche Argumentation hat, setzt die Willkürkontrolle lediglich das grundlegende Gebot rechtmäßigen Handelns um, dessen Berechtigung ohne weiteres einleuchtet und das die Entscheidungsbegründung nicht komplizierter macht. Umgekehrt läßt sich aus den geringen Erfolgsquoten der Willkürbeschwerden zugleich schließen, daß die mehreren tausend fachgerichtlichen Urteile jährlich, die das BVerfG trotz einer Willkürrüge bestehen ließ, die Schwelle zur Unvertretbarkeit nicht überschritten haben. In solchen Fällen belässt das BVerfG die Rechtslage also im Sinne der Fachgerichte. Die Existenz einer Willkürkontrolle, die Möglichkeit der Willkürprüfung als solche wird im übrigen die Autorität der Fachgerichte noch nicht untergraben. Denn jeder Richter wird für sich in Anspruch nehmen, nicht willkürlich zu entscheiden. Auch vor BVerfGE 42, 64 werden Fachgerichte gelegentlich willkürlich entschieden haben. Ebenso werden nicht alle willkür65 Günther, DRiZ 1996, 157; Steinwedel, 19 m.w.N.; Isensee, 61. DJT, MS S. 15 („Strahlenschäden"). Das gilt für die Urteilskontrolle des BVerfG generell: OLG Bamberg, NJW 1994, 1972 (1973) „da das BVerfG den Beschluß des Senats vom 9.7.1992, warum auch immer, in vollem Umfange aufgehoben hat ..."; BGH NStZ 1993, 134: „ein ordentliches Gericht hätte im Wege der Auslegung nicht zu dem Ergebnis kommen können und dürfen, welches das BVerfG für richtig hält; das positive Recht hätte entgegengestanden".

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liehen Urteile Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Aber die Integrität der Fachgerichte kann als Argument dort nicht greifen, wo diese als Rechtsschutzinstanz versagt haben. Hier wird sie eher durch die fehlerhafte Entscheidungsfindung als durch eine nachfolgende Beanstandung tangiert.

V. Folgen für die Verfassungsbeschwerde Eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen müßte den Funktionen der Verfassungsbeschwerde, ihrem Charakter als einem außerordentlichen Rechtsbehelf sowie ihrem Verhältnis zu den Rechtsmitteln des einfachen Prozeßrechts entsprechen. 7. Funktionen der Verfassungsbeschwerde Die Verfassungsbeschwerde hat zwei Aufgaben: die prozessuale Durchsetzung der materiellen Grundrechte und die Wahrung und Fortbildung des Verfassungsrechts 66. Wie diese Zwecke sich zueinander verhalten, ist umstritten 67 . Jedenfalls tritt aber die subjektive Schutzfunktion nicht gegenüber der objektiven Komponente zurück, denn die Verfassungsbeschwerde wurde gerade deswegen in das GG aufgenommen, um „jeden Versuch unmöglich zu machen, dieses Instrument, das in erster Linie dem Schutz des Bürgers dient, wieder mit einfacher Mehrheit aus dem Gesetz herauszubringen" 68 . 66 Dieser Befund ist Ergebnis einer längeren Entwicklung. Dominierte zunächst der subjektive Zweck (BVerfGE 1, 4 (5); 1, 264 (271); Konrad Zweigert, JZ 1952, 321), diente dann die objektive Funktion dazu, die Prüfungsbefugnis des BVerfG auf Verstöße auch gegen objektives Verfassungsrecht auszudehnen (kritisch Schmidt-Bleibtreu/Klein Art. 90, Rdnr. 39; K. Zeidler, DöV 1954, 420; Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit, 183), hat letztere sich zu einem echten Abwehrinstrument gegen Verfassungsbeschwerden entwickelt, und zwar über das Annahmeverfahren, die Beschränkung auf grundsätzliche Rechtsfragen, das Ausscheiden von Bagatellen etc., s. etwa BVerfG NJW 1997, 1693; dazu Bender, 71. Auch der Gesetzgeber hat die subjektive Funktion geschwächt (auch offensichtlich begründete Verfassungsbeschwerden müssen heute nicht mehr zur Entscheidung angenommen werden; das BVerfG hat einen Ermessensspielraum selbst bei Beschwerden, bei denen die Versagung der Entscheidung zur Sache einen besonders schweren Nachteil mit sich bringt; dieser ist nur noch Indiz für die Annahmewürdigkeit ist (BTDrucks. 12/4842 S. 12); S. MSBKU-Schmidt-Bleibtreu/Winter, § 93a, Rdnr. 8 ff.; Pestalozza, DWiR 1992, 429 f.; Klein, NJW 1993, 2073 (2074). Lechner/Zuck, § 93 a Rdnr. 20 ff. und § 34 Rdnr. 3. 67 Meist wird Gleichrangigkeit angenommen, Schumann, Verfassungsbeschwerde, 100 ff.; Schiaich, Rdnr. 195 ff., 263 f; Ax, 35 ff.; Fröhlinger, 113, 219 f.; Kley in: UC, § 90 Rdnr. 1; Häberle, Grundprobleme, 15 und vor allem das BVerfG selbst. Wofür jedenfalls spricht, daß jede Dimension auch auf die andere zurückwirkt: wie die Durchsetzung der Grundrechte im Einzelfall auch ihre objektiven Inhalte bestätigt oder entwickelt, kann ihre Weiterentwicklung auch in einer Stärkung der diesen korrespondierenden Abwehrrechte resultieren.

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Für die Frage, ob eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen den Funktionen der Verfassungsbeschwerde entspricht, braucht das Verhältnis von objektiver und subjektiver Funktion aber nicht entschieden werden, denn sie würde beiden dienen. In subjektiver Hinsicht entfaltet die Verfassungsbeschwerde mehr individuelle Schutzwirkung, wenn der Gleichheitssatz als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit ein Abwehrinstrument gegen richterliche Willkür darstellt. Zugleich erhöht eine Willkürkontrolle die Wahrscheinlichkeit richtiger und rechtmäßiger Rechtsanwendung, ein objektives Ziel des Rechtsstaats. 2. Die Verfassungsbeschwerde

als „ ordentlicher

Rechtsbehelf' ?

Allerdings widerspricht eine Willkürkontrolle, mit der sowohl Rechts- als auch Verfassungsverletzungen beanstandet werden, in gewisser Weise dem Charakter der Verfassungsbeschwerde als einem außerordentlichen Rechtsbehelf zum Schutz der Grundrechte 69 . Denn die Durchsetzung subjektiver Rechte des einfachen Rechts hat keine spezifisch grundrechtliche Dimension. Dennoch ist die Willkürkontrolle durchaus von den Rechtsmitteln des einfachen Prozeßrechts zu unterscheiden. So ist der durch die Verfassungsbeschwerde eröffnete Kontrollbereich wegen des zusätzlichen Willkürkriteriums und des gegenüber einer Berufungs- oder Revisionsprüfung engeren Prüfungsgegenstandes ein anderer als der einer normalen einfach-rechtlichen Überprüfung. Auch die weitgehend parallele Verwirklichung von einfachem und Verfassungsrecht ist nicht per se unzulässig; alle Grundrechte gewährleisten die Gesetzmäßigkeit der gerichtlicher Entscheidungen, die in ihren Schutzbereich fallen. Die Verfassungsbeschwerde wird daher durch eine Willkürkontrolle nicht zu einem „ordentlichen Rechtsbehelf'. 3. Verfassungsbeschwerde

und andere Rechtsmittel

Die Willkürkontrolle hat ferner mittelbare Auswirkungen auf das Verhältnis der Verfassungsbeschwerde zu den übrigen Rechtsmitteln. So wird es für systemwidrig gehalten, daß die Verfassungsbeschwerde einen einfache68

Nachweis bei Posser, 315 Fußn. 48; Schiaich, Rdnr. 265. Die subjektive Funktion betonen AK-Rinken, Art. 93 Rdnr. 93, 40, 63; Schlink, NJW 1984, 79 ff.; Wagner, NJW 1998, 2638; K. Zeidler, DöV 1954, 422; Scherer, 199; Geiger, BAnz. 1952, Nr. 30, 7; Benda/Klein Rdnr. 322 ff.; Kley/Rühmann in: UC § 99 Rdnr. 2 f; Henschel, FS Zeidler, 1391 (1394); Seibert, 497, 510; Scherzberg, 275; Franßen, 81 ff; Vitzthum, FS Bachof, 313 („Grundrechtsschutzinstrument"); Rozek, DVB1 1997, 521. 69 St. Rspr. seit BVerfGE 1, 344 und wohl allgemeine Meinung.

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ren Rechtsbehelf gegen unanfechtbare Entscheidungen darstelle als die in den übrigen Prozeßordnungen vorgesehenen Rechtsmittel 70 . Falls damit allerdings gemeint ist, daß die Willkürrüge besonders aussichtsreich oder leicht zu begründen sei, so greift dieses Argument nicht. Ihm widersprechen die niedrigen Stattgabequoten und die hohen Anforderungen an ihre Zulässigkeit, die das BVerfG mit Hilfe von Rügepflichten, Substantiierungslasten und dem Gebot der Rechtswegerschöpfung durchgesetzt hat 7 1 . Es trifft - wie ausgeführt - auch nicht zu, daß die Willkürrüge besonders leicht zu begründen sei. Zum anderen wird kritisiert, die Eröffnung der Willkürkontrolle werde den Gesetzgeber dazu bewegen, das Rechtsmittelsystem inadäquat auszugestalten. Dies wiederum würde dem BVerfG eine nicht vorgesehene Auffangfunktion aufdrängen 72 . Es liegt allerdings wegen der geringen Kapazität der Willkürkontrolle eher fern, daß das BVerfG eine Auffangfunktion für die Abschaffung oder Reduzierung anderer Rechtsmittel wahrnehmen könnte. Ohnehin müßte sich diese Kritik eher an den Gesetzgeber wenden. Umgekehrt würde auch eine Abschaffung der Willkür-Rechtsprechung nicht unbedingt eine Ergänzung des einfachrechtlichen Rechtsschutzes nach sich ziehen, sondern eher in die entgegengesetzte Richtung weisen. Gerade dort, wo der Gesetzgeber gerichtliche Entscheidungen von der Überprüfung durch eine zweite Instanz freigestellt hat, stünde kein Rechtsschutz mehr zur Verfügung. Fach- und verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz könnten sich nicht mehr ergänzen abgesehen davon, daß die vorhandenen Mechanismen prozessualen Rechtsschutzes jedenfalls in den Willkürfällen versagt haben 73 .

VI. Tradition und Akzeptanz 1. Legitimation durch Tradition? Die Tradition und die Kontinuität der Willkür-Rechtsprechung sprechen dafür, sie beizubehalten. Zwar haben diese Argumente keinen Eigenwert, weil sie sich ebensogut affirmativ wie ablehnend verwenden lassen. Sie re70

Winter, FS Merz, 625. Kritisch zur Nutzung des (selbst entwickelten) Subsidiaritätsgrundsatzes durch das BVerfG auch Bender AöR 112, 169 ff.; Schiaich, Rdnr. 241. Negativbeispiele etwa BVerfGE 23, 242 (250 ff.) 69, 122 (125 f.); 63, 77 (78); NJW 1997, 1228 und 1301. 72 Voßkuhle, NJW 1995, 2911; Deubner in MüKo-ZPO § 495 a Rdnr. 17; Kuschel-Kunze, DRiZ 1996, 194; Kunze, NJW 1997, 2154. 73 Und zwar in BVerfGE 42, 64 über drei Instanzen; 62, 189 (zwei); 62, 338 (zwei); 66, 199 (drei einschließlich der JVA). 71

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flektieren aber die Akzeptanz dieser Rechtsprechung. Es ist zwar umstritten, ob Verfassungsrecht und Verfassungsgericht eher eine stabilisierende oder eine besonders dynamische Funktion haben 74 . Dennoch muß das BVerfG besonders auf Kontinuität und Stringenz seiner Rechtsprechung achten. Denn nur, wenn seine Entscheidungen weithin akzeptiert werden, kann es integrativ wirken. Natürlich macht die Kontinuität einer Interpretation sie nicht deshalb sachlich richtiger, weil sie seit langem praktiziert wird. Aber es kann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn eine bestimmte Frage bereits Gegenstand einer etablierten Rechtsprechung ist. Denn jedenfalls in der Außenwirkung ist es ein Unterschied, ob eine bestimmte Rechtsprechung eingeführt, modifiziert oder abgeschafft wird. Dementsprechend würde von einer Abschaffung dieser Rechtsprechung ein umgekehrtes Signal ausgehen: ein Verbot richterlicher Willkür könnte prozessual nicht mehr durchgesetzt werden. Es erscheint zumindest fraglich, ob der Zugewinn an dogmatischer Stringenz diese negative Signalwirkung auffangen könnte. Dies verhilft der Rechtsprechung nicht zu größerer dogmatischer Richtigkeit. Es macht aber gute Gründe erforderlich, um von ihr abzukehren. 2. Zulässigkeit einer ergebnisorientierten

Betrachtungsweise

Wie bereits erwähnt, wird die Willkür-Rechtsprechung trotz aller dogmatischen Bedenken (jedenfalls im Hinblick auf ihre praktischen Ergebnisse) weithin akzeptiert. Oft heißt es, bei einer Abwägung zwischen richtiger Dogmatik und richtigen Ergebnissen müßten letztere den Vorrang haben. Denn das BVerfG stehe in besonderer Verantwortung für die Grundrechte des Einzelnen. Dogmatische Einwände und „mit spitzem Griffel gezogene Abgrenzungen" sollten daher im Zweifel zurückstehen 75 . Zunächst erscheint es verfehlt, diese Gesichtspunkte einander entgegenzusetzen; gerichtliche Entscheidungen können doch nur akzeptiert werden, wenn sowohl ihr Ergebnis als auch ihre Begründung überzeugen. Selbst wenn anzunehmen wäre, daß ein solcher Gegensatz besteht, erscheint zweifelhaft, ob den richtigen Ergebnissen wirklich der Vorzug zukommt. Hierzu geben weder die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit noch die der Verfassungsbeschwerde eine klare Antwort. Das BVerfG ist sowohl für die Entwicklung der Gesamtverfassung, also eher für dogmatische Stringenz, als auch für den Grundrechtsschutz im Einzelfall verantwortlich, so wie objektive und subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde nebeneinander ste74

Vgl. Stern, I, 86 f., Hesse, Rdnr. 208; Starck, BVerfG, 11 einerseits; andererseits Schenke AöR 103 (1978), 566 f.; Bryde, passim. 75 „Dogmatik ist kein Maßstab", Gündisch, NJW 1981, 1821.

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hen und sich ergänzen. Daher kann die weitgehende Akzeptanz der Willkür-Rechtsprechung zwar keine stringente Dogmatik ersetzen. Sie zeigt aber, daß es einer weit verbreiteten Auffassung entspricht, die Abwehr von Willkür unter Überwindung systematischer Bedenken zu den spezifischen Funktionen des BVerfG zu zählen. 3. Signalwirkung

des Willkürverbots

Das mag an der besonderen Signalwirkung des Willkürverbots liegen. Sie betont zum einen in nachdrücklicher Weise das rechtsstaatliche Gebot willkürfreier Entscheidung. Zum anderen fördert sie einen zurückhaltenden Gebrauch des Willkürvorwurfs, was dem Charakter des Willkürverbots als einem selten verwirklichten Ausnahmetatbestand entspricht. Die Willkürkontrolle als Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes hat sich im übrigen nicht nur im verfassungsgerichtlichen Verfahren, sondern auch bei den Fachgerichten durchgesetzt.

C. Ergebnis Unter Berücksichtigung aller angeführten, befürwortenden und ablehnenden Argumente ist eine Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen durch das BVerfG zu bejahen. Sie begegnet zwar gewissen Zweifeln, weil sie zu einer Parallelität von Verfassungsrecht und einfachem Recht sowohl in der materiellen Rechtslage als auch in der prozessualen Durchsetzung führt. Auf der anderen Seite gewährt sie aber einen subjektiv wie objektiv bedeutsamen Rechtsschutz, indem sie den Anspruch des Einzelnen auf rechtmäßige Gerichtsentscheidungen einerseits, die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht andererseits verwirklicht. Die mit ihr verbundenen, nachteiligen Folgen sprechen nicht entscheidend gegen sie. Ein durch das Verfassungsgericht garantierter, grundrechtlich abgesicherter Anspruch auf einen Mindeststandard richtiger Rechtsanwendung widerspricht nicht den materiellen und funktionellen Geboten des Verfassungsrechts - er setzt sie durch.

D. Kriterien der Willkürprüfung Die Überprüfung fachgerichtlicher Urteile durch das BVerfG am Maßstab des in Art. 3 Abs. 1 GG enthaltenen Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit ist daher auf eine Willkürprüfung zu reduzieren. Daher ist weiter zu erörtern, anhand welcher Kriterien die Willkürkontrolle richtigerweise durchgeführt werden sollte, wie also Verstöße gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG enthaltene Verbot richterlicher Willkür in der Praxis festgestellt werden sollen.

D. Kriterien der Willkürprüfung

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Da das Verbot richterlicher Willkür aus dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit abgeleitet wurde, steht zunächst fest, daß es voraussetzt, daß das angefochtene Gerichtsurteil gegen das anzuwendende Recht verstößt. Denn das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit verpflichtet als Handlungsnorm alle Gerichte in gleicher Weise zu rechtmäßigen Entscheidungen. Daher ist eine möglichst gleichmäßige Kontrolle auf allen Rechtsgebieten anzustreben. Die bisher vom BVerfG verwendeten Kriterien erscheinen hierfür untauglich. Sie eröffnen ihm ein weites Ermessen und werden eher als topische Argumentationshilfen denn als „harte" Tatbestandsvoraussetzungen eingesetzt. Ferner steht fest, daß die Willkürkontrolle nur besonders schwere Verstöße gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit erfassen sollte. So kann die materielle und funktionelle Problematik der Willkür-Rechtsprechung entschärft und dem BVerfG die zutreffende Position im Verhältnis zur Fachgerichtsbarkeit zutreffende Rolle gegeben werden.

I. Kriterien aus dem Gleichheitssatz Kriterien zur Willkürprüfung sollten in erster Linie dem allgemeinen Gleichheitssatz entnommen werden. Denn er ist die verfassungsrechtliche Grundlage des Verbots richterlicher Willkür. Doch lassen sich aus Art. 3 Abs. 1 GG, jedenfalls in dem Bereich, in dem er sich mit den Anforderungen der Gesetzesbindung deckt, keine derartigen Kriterien herleiten. In diesem Bereich ist das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit der einzige Inhalt dieses Grundrechts, der auf die Rechtsprechung einwirkt. Auch eine Beschränkung auf besonders qualifizierte Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG führt nicht weiter. Denn besonders ungleiche Urteile sind hier, wo sich Gleichheitssatz und Rechtmäßigkeit decken, schlicht besonders falsche Urteile. Daß nur schwere Verstöße gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit mit Hilfe des Verbots richterlicher Willkür aufgehoben werden dürfen, wurde oben bereits festgestellt. Damit ist zwar die Tendenz der Willkürkontrolle richtig umschrieben. Erforderlich ist aber gerade, die Schwere eines Rechtsverstoßes genauer zu definieren.

II. Kriterien aus dem Begriff der Willkür Da das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit auf ein Verbot richterlicher Willkür einzuschränken ist, liegt es nahe, Kriterien zur verfassungsgerichtlichen Prüfung aus dem Begriff der Willkür abzuleiten. Willkür kann zum einen subjektiv definiert werden, wie es dem üblichen Sprachgebrauch

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entspricht. Sie könnte ferner, wie bei Leibholz, als Gegensatz zur Gerechtigkeit verstanden werden. Schließlich ist denkbar, die Definition der Willkür in der umfangreichen und weithin akzeptierten Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts zu übernehmen. 7. Subjektive

Willkür

Eine Kontrolle der Rechtsprechung auf subjektive Willkür würde bedeuten, daß nur noch bewußt falsche und mißbräuchlich motivierte Gerichtsentscheidungen aufgehoben werden würden. Das entspricht dem üblichen Verständnis von Willkür in der Umgangssprache. Eine derartige Willkürprüfung fordert gelegentlich auch die Literatur 76 . Allerdings spielt die subjektive Willkür dabei eher die Rolle einer generellen Leitlinie für das BVerfG, während die eigentliche Prüfung anhand anderer Kriterien durchgeführt werden soll. So meint Rennert, die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz verlange nur die gute Absicht und schließe Fehler und Irrtümer in der Sache nicht aus. Die Gerichte seien in der Intention der Streitentscheidung gebunden, in deren Ergebnis aber frei. Weil eine bewußte Abkehr vom Gesetz „jenseits von Appellen an Evidenz" schwierig festzustellen sei, will Rennert nur die richterliche Methodenwahl als solche überprüfen. Indiz für Willkür sei, wie weit sich die Entscheidung im Ergebnis von der üblichen Auslegung der zugrundeliegenden Normen entferne 77 . Winter will die Willkürprüfung den Voraussetzungen einer Wiederaufnahme angleichen. Wie dort dürfe auch bei der Willkürkontrolle nur beanstandet werden, wenn sich der Richter bewußt von selbst gesetzten Weitentscheidungen habe leiten lassen. Ein Verfassungsverstoß soll aber auch dann vorliegen, wenn das Ergebnis der Rechtsanwendung im Blick auf die „das Grundgesetz beherrschenden Gedanken" unvertretbar ist 7 8 . Mit dem aus Gleichheitssatz und Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten „Objektivitätsgebot" will Kirchhof ein „Sich-Abwenden" des Richters vom Recht beanstanden. Dieses Sich-Abwenden mißt er an objektiven Kriterien: den Wertungen der Gesamtverfassung, der Sachlichkeit, Sachbereichsbezogenheit, und Vernünftigkeit des Urteils. Auch Kirchhof setzt also letztlich keine subjektive Willkür voraus 79 . 76

Gubelt in v. Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 44 („wenn sich das Gericht ... von persönlichen Gründen (Verwandtschaft, Bekanntschaft) leiten ließe", was allerdings nur eine Fallgruppe von Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG sein soll. Ferner BK-Stern, Art. 93, Rdnr. 707; Dürig MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 53 (Willkür als „bewußter" Rechts verstoß). 77 NJW 1992, 16 f. 78 FS Merz, 623 ff.

D. Kriterien der Willkürprüfung

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Diese Auffassungen gehen zwar von subjektiver Willkür als dem leitenden Gesichtspunkt aus. Die verfassungsgerichtliche Prüfung wollen aber auch sie anhand objektiver Kriterien durchführen. Eine Prüfung rein nach subjektiven Gesichtspunkten wäre in der Tat problematisch. Bei einem subjektiven Verständnis im engeren Sinne könnte Willkür nur dann konstatiert werden, wenn der Richter ausdrücklich zugeben würde, vorsätzlich rechtswidrig entschieden zu haben, also in Fällen echter Rechtsbeugung. Das wäre zwar ein eindeutiges Kriterium für Willkür, es wäre aber nur in den seltensten Fällen erfüllt. Gerade eine bewußte Willkür wird kaum bekannt werden, weil ein Richter, der absichtlich rechtswidrig entscheiden hat, dies seltener zugeben wird als ein solcher, der meinte, richtig zu entscheiden, dessen Urteil aber objektiv unvertretbar ist. Im übrigen kann eine echte Rechtsbeugung ohnehin schon mit den Rechtsbehelfen der Prozessordnungen behoben werden 80 . Schließlich wird eine subjektive Willkürprüfung auch in anderen Rechtsordnungen durch objektive Kriterien bei der Beweisführung abgemildert 81 . Eine subjektive Willkürkontrolle in diesem Sinne wäre daher nicht praktikabel. Festzuhalten ist aber, daß eine vorsätzliche Rechtsbeugung, wenn sie festgestellt werden kann, zweifellos eine Kategorie der Willkür darstellt. 2. Ungerechtigkeit

der Entscheidung

Willkür wurde schon bei Leibholz als Gegensatz zur Gerechtigkeit verstanden. Dies wirft die Frage auf, ob die besondere Ungerechtigkeit einer Gerichtsentscheidung als Kriterium der Willkürkontrolle verwendet werden könnte. Dieses Kriterium hat den Nachteil, daß es weitgehend durch subjektiven Weitungen ausgefüllt werden würde. Zwar mag, wie Leibholz meinte, über die Ungerechtigkeit einer Entscheidung leichter Einigkeit zu erzielen sein als über ihre Gerechtigkeit 82 . Gleichwohl ist auffällig, daß diejenigen Willkür-Entscheidungen des BVerfG, die besonders deutlich mit Aspekten der Gerechtigkeit argumentierten, jeweils von abweichenden Meinungen begleitet wurden 83 . 79 Kirchhof, FS Geiger, 82; ders., HBStR § 124, Rdnr. 255; FS Lerche, 139. In diesem Sich-Abwenden liege eine „grobe, schlechthin unvertretbare Ungleichheit". 80 §§ 580 Nr. 5 ZPO, 359 Nr. 5, 362 Nr. 2 StPO. 81 So in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, s. dazu J. P. Müller, 240; H. Huber, 136; Imboden, 151 f; und bei der Kontrolle auf ein „détournement de pouvoir" der Verwaltung durch den französischen Conseil d'état, der grundsätzlich einen subjektiven Willkürbegriff vertritt; dazu Fritzen, 105 f. 82 Leibholz' Auffassung, daß sich das Ungerechte leichter feststellen ließe als das Gerechte, stimmen zu: Wank, Grenzen, 235; Fikentscher, 408.

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Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit

Allerdings sind in Rechtsprechung und Literatur verschiedene Konkretisierungen des Begriffs der Gerechtigkeit anerkannt, die es zumindest erleichtern, ihn als juristisches Prüfungskriterium zu verwenden. Dies sind, wie bereits erörtert 84 , zum einen die Regelungen des verfassungsmäßigen einfachen Rechts, zum anderen die Gleichbehandlung im Sinne relativer Gleichheit 85 . Beides führt hier aber nicht weiter. Denn ein Verstoß gegen einfaches Recht ist ohnehin Voraussetzung für eine Verletzung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit. Und das Verständnis von Gerechtigkeit als gleicher Behandlung führt in einen Zirkelschluß. Dann wäre gerecht, was gleich behandelt - und gleich behandelt, was gerecht ist 8 6 . Zudem wurde bereits oben festgestellt, daß die Anforderungen des Gleichheitsprinzips sich hier mit den Anforderungen der Gesetzesbindung decken und daß aus Art. 3 Abs. 1 GG kein zusätzliches, praktikables Willkürkriterium herzuleiten ist. 3. Verstoß gegen verfassungsrechtliche

Wertentscheidungen

Gerechtigkeit wird in Rechtsprechung und Literatur häufig mit den „in den Grundrechten konkretisierten Weitentscheidungen" und den „fundamentalen Ordnungsprinzipien des Grundgesetzes" identifiziert. Daher wird gelegentlich gefordert, im Rahmen der Willkürkontrolle nur Verstöße gegen Grundrechte und andere verfassungsrechtliche Wertentscheidungen zu beanstanden. Diese Auffassung ist aber aus systematischen Gründen abzulehnen. Denn zum einen wirken die Grundrechte nicht pauschal, sondern nur im Rahmen ihrer spezifischen „Ausstrahlungswirkung" auf die Rechtsanwendung ein. War ein Grundrecht bei der Rechtsfindung zu beachten, so verletzt ein Urteil, das dies nicht erkannt hat, das Grundrecht selbst. Auf Art. 3 Abs. 1 GG darf dann nicht zurückgegriffen werden. Wo Grundrechte nicht zu beachten waren, also allenfalls im Ergebnis durch das Urteil tangiert werden, ist auch die Aufhebung einer Gerichtsentscheidung nicht geboten. Gleiches gilt für die anderen objektiv-rechtlichen Wertentscheidungen des GG. Sie 83

BVerfGE 34, 325 (abw.M. Hirsch) und 42, 64 (abw.M. Geiger). S. im 3. Kapitel unter C. IV. 85 Zum Zusammenhang zwischen Gleichbehandlung und Gerechtigkeit s. Bausch 11 (Gerechtigkeit in gleicher Behandlung verwirklicht zu sehen, „entspricht einer tiefen Intuition und hat folglich Tradition"); Zippelius, Recht und Gerechtigkeit, 39 ff. Aristoteles, Politik, 116, 122; Leibholz, Gleichheit, 57 ff., 72 ff.; Kirchhof, HBStR, § 124 Rdnr. 250 ff.; BK-Rüfner, Art 3, Rdnr. 1 ff.; BVerfGE 54, 117 (125); 86, 81 (87); Kloepfer, 11 zählt das „sehr ursprüngliche Gefühl von Ungerechtigkeit" bei Ungleichbehandlung zu den „tiefsten Erfahrungen menschlichen Gerechtigkeitsempfindens". S. noch Schoch, DVB1 1988, 877 Fußn. 230. 86 Robbers, Gerechtigkeit, 87 Fußn. 408, 88 ff. 84

D. Kriterien der Willkürprüfung

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können im übrigen schon über die Freiheitsgrundrechte mit Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht eingeklagt werden. 4. Willkür-Kriterien

des Schweizerischen Bundesgerichts

Das Schweizerische Bundesgericht verwendet bei seiner Rechtsprechung zu dem aus dem Gleichheitssatz entwickelten Verbot richterlicher Willkür verschiedene Kriterien. Auf sie zurückzugreifen bietet sich an, weil das Bundesgericht über eine lange und gefestigte Rechtsprechungstradition verfügt und in der Literatur große Zustimmung findet 87 . Die wichtigsten Fallgruppen von Willkürverstößen sind offensichtliche Fehler bei der Rechtsanwendung und Verstöße gegen „klares Recht", das sind besonders wichtige Grundsätze wie z.B. der Grundsatz ne bis in idem. Seltener werden auch die „stossende Ungerechtigkeit" eines Urteils, seine Widersprüchlichkeit oder seine Tatsachenwidrigkeit beanstandet. Die Fallgruppe der Verstöße gegen klares Recht weist Parallelen zur Rechtsprechung des BVerfG auf. Ein Verstoß gegen die das Grundgesetz beherrschenden Gedanken spielt auch im Rahmen der deutschen Willkürprüfung eine Rolle. Allerdings bleibt in der Rechtsprechung des BVerfG unklar, auf welche Gedanken es sich dabei bezieht. Die große Bedeutung dieses Kriteriums in der Schweiz rührt daher, daß viele wichtige Verfassungsprinzipien in der Bundesverfassung bis zu deren kürzlich erfolgter Reform nicht ausdrücklich normiert waren. Unter dem GG sind objektive Rechtsgrundsätze von Verfassungsrang hingegen über Art. 2 Abs. 1 GG einklagbar. Dieses Willkürkriterium ist daher auf die Rechtsprechung des BVerfG nicht übertragbar. Hingegen können widersprüchliche Begründungen und schwere Fehler bei der Tatsachenerforschung durchaus als Kriterien für Willkür Verwendung finden. Sie weisen bereits auf das entscheidende Willkürkriterium hin. Wenngleich weder der Gleichheitssatz noch das Willkürverbot selbst Kriterien zur Feststellung richterlicher Willkür enthalten, muß die Ausgestaltung der Willkürkontrolle nicht im Ermessen des BVerfG stehen. Ein sinnvolles Kriterium für richterliche Willkür ist, ob das angefochtene Urteil in besonders schwerer Weise gegen die juristische Methodenlehre verstößt.

87 Zu den Kriterien im einzelnen Thürer, 486 ff.; H. Huber 135 f.; Kirchberg, NJW 1987, 1994 f.; „l'arbitraire, c'est quand c'est tellement faux que même le contraire n'est pas vrai" (in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1987, Bd. II, S. 599). 12 v. Lindeiner

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III. Verstoß gegen die juristische Methodenlehre als Willkürkriterium Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit verlangt vom Richter die richtige Verbindung des konkreten Einzelfalls mit der abstrakten Entscheidung des Gesetzes. Das entscheidende Bindeglied zwischen Gesetz und Sachverhalt ist die juristische Methodenlehre. Eine methodengerechte Anwendung der Normen bedeutet, daß das Gesetz in allen Fällen zur Anwendung kommt, in denen sein Tatbestand vorliegt und deshalb seine Rechtsfolge eintreten sollte. Dies spricht dafür, einen Verstoß gegen die juristische Methodenlehre als Willkür-Kriterium zu verwenden. Denn dies würde die dogmatische Begründung die Willkürkontrolle, die Verbindung von rechtmäßiger und verfassungsmäßiger Entscheidung über das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit, in der konkreten Willkürprüfung reflektieren. Die „Brückenfunktion" der juristischen Methodenlehre bedeutet zwar, daß jede falsche Rechtsanwendung gegen sie verstößt. Das spricht aber nicht dagegen, sie als Willkür-Kriterium zu verwenden. Selbstverständlich sind hier, um einen Gleichlauf von Rechtswidrigkeit und Verfassungswidrigkeit zu vermeiden, nur besonders schwere methodische Fehler zu beanstanden. Das eröffnet zwar Wertungsspielräume, würde diese aber zugleich strukturieren: weil geprüft werden muß, gegen welche Regel der juristischen Methodenlehre verstoßen worden ist, kann und muß der konkrete Vorwurf an den Richter exakt belegt werden. Schon darin läge zweifellos ein Fortschritt gegenüber der derzeitigen Rechtsprechung des BVerfG, das bei der Willkürprüfung keinen festen und einheitlichen Maßstab verwendet. Ein weiterer Vorteil besteht darin, daß die Anforderungen der Methodenlehre auf allen Rechtsgebieten gleich sind. Sie greifen auch in den Bereichen, in denen keine gesetzliche Regelungen vorliegen. Sie ermöglichen es daher auch, einen besonders schweren methodischen Verstoß gegen objektives Verfassungsrecht zu beanstanden. Ferner kann die Willkürkontrolle mit diesem Kriterium weitgehend gleichmäßig durchgeführt werden. Auch vorgeschobene Entscheidungsgründe können beanstandet werden, weil die verbale Berufung auf ein Element der Methodenlehre allein nicht mehr ausreicht, sondern auch seine richtige Anwendung überprüft werden kann. Kein Einwand hiergegen ist, daß die Methodenlehre kein fester Kanon von Regeln ist, dessen Inhalt und dessen Anforderungen im Einzelfall von vornherein feststünden. Denn die Entscheidung über Anwendung und wertende Gewichtung der einzelnen Argumente richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles. Ob dieser adäquat gelöst wurde, läßt sich auch ohne ein festes Schema beurteilen. Ein Beispiel für eine in diesem Sinne willkürliche Rechtsanwendung ist, daß ein Urteil die Grenze des sprachlich möglichen Wortsinns der ange-

D. Kriterien der Willkürprüfung

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wandten Normen überschreitet. Dies ist nur unter den hier nicht zu erörternden Voraussetzungen richterlicher Rechtsfortbildung zulässig. Eine weniger strikte Grenze der Auslegung ist die Absicht des Gesetzgebers. Sie ist aber nur einer unter mehreren Auslegungstopoi und kann zudem durch veränderte Umstände untragbar oder selbst sinnwidrig geworden sein. Daher ist grundsätzlich auch eine Entscheidung gegen den Willen des Gesetzgebers möglich, doch müssen dafür hinreichende Gründe vorliegen. Systematische und logische Argumentation müssen den Denkgesetzen folgen. Daher stellt auch die denkunmögliche und die in sich widersprüchliche Rechtsanwendung eine Fallgruppe der Willkür dar 8 8 . Hier soll aber kein abschließender Katalog methodischer Anforderungen erstellt werden. Daß dieses Kriterium praktikabel ist, beweist die ständige Praxis der Berufungs- und Revisionsgerichte, die Urteile unter anderem auf methodengerechte Anwendung des Rechts hin überprüfen 89 . Auch in der Literatur wird vertreten, daß ein Verstoß gegen die Methodenlehre ein sinnvolles Willkürkriterium sei. So will Wank eine Grundkontrolle gerichtlicher Entscheidungen ausnahmsweise dann zulassen, wenn es einer Entscheidung an einer „sachlichen, den anerkannten Regeln der juristischen Methodenlehre entsprechenden Argumentation" fehle 90 . Rennert will nur die richterliche Methodenwahl überprüfen und sieht ein Indiz für Willkür in der Distanz einer Entscheidung zur anerkannten Rechtsprechung 91. Roth hält eine methodisch besonders falsche Anwendung einfachen Rechts für unmittelbar verfassungswidrig. Eine solche „Grundrechtsverletzung per modum" könne vor allem dann vorliegen, wenn alle Auslegungsmethoden in eine Richtung wiesen und die Entscheidung trotzdem anders ausfalle 92 . 88 Diese Fallgruppe ist in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts als Willkür anerkannt; sie wird auch in der fachgerichtlichen Rechtsprechung verwendet, Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 337, Rdnr. 30; BGH NJW 1998, 752. Ihre Anwendung durch das BVerfG fordern etwa Miebach, 71 ff.; abw.M. Hirsch BVerfG NJW 1978, 936 f.; Redeker, NJW 1978, 938. Solche Fälle sind vom Schutzbereich des Rechts auf ein faires Verfahren abzugrenzen; jenes verbietet widersprüchliches Verhalten, das Verbot richterlicher Willkür, enger, eine widersprüchliche Argumentation. 89 S. etwa BGH NJW 1997, 2233. Verwiesen kann hier ferner auf die ausführliche, nach den Teilschritten der richterlichen Rechtsanwendung gegliederte Untersuchung von Arioli. Die von ihm (51 ff.) für das Verbot objektiver (richterlicher) Willkür gem. Art. 4 BV entwickelten Kriterien lassen sich auch weitgehend auf das deutsche Willkürverbot übertragen. S. auch BVerfG NJW 1998, 1774 (1775); BVerfGE 82, 6 (11). 90 Wank, JuS 1980, 550. 91 Rennert, NJW 1990, 12 ff., der allerdings der Auffassung ist, daß „ein Jurist (fast) jedes Ergebnis methodisch sauber begründen kann". Zu Unrecht will er auf den verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedliche Anforderungen an die Methodenrichtigkeit stellen; das darf allenfalls Frage des Einzelfalls und keine generelle Vorgabe sein. 12*

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Dieses Kriterium für die Willkür eines Urteils eröffnet dem BVerfG zwangsläufig ein Entscheidungsermessen, das es ebenso wie bei der bisherigen Willkürkontrolle nutzen wird. Deshalb ist es sinnvoll, seine Entscheidungen möglichst berechenbar und konsequent zu machen. Dazu ist es zum einen geboten, „positive" Willkür-Entscheidungen nur dann zu fällen, wenn innerhalb des zuständigen Spruchkörpers des BVerfG. Einigkeit über dieses Ergebnis herrscht 93 . Zum anderen ist zu erwägen, das Ermessen des BVerfG mit Hilfe zweier Kriterien zu steuern: der Intensität des durch ein Urteil bewirkten Grundrechtseingriffs und der Evidenz eines Rechtsanwendungsfehlers. Beide sind zwar ihrerseits für Wertungen offen. Doch würden sie das verfassungsgerichtliche Entscheidungsermessen des BVerfG reduzieren und so größere Rechtssicherheit schaffen.

IV. Eingriffsintensität als ermessensleitendes Kriterium? 1. Definition und bisherige Verwendung Die Intensität, mit der ein fachgerichtliches Urteil in Grundrechte der Betroffenen eingreift, spielt bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile eine große Rolle. Mit ihr bestimmt das BVerfG den Umfang seiner Prüfung. Bei hoher Intensität prüft es die Rechtsanwendung bis ins Detail nach, bei geringer Intensität wird die Prüfung gröber bis hin zur reinen Willkürkontrolle 94 . Je intensiver der Eingriff sich für den Beschwerdeführer auswirkt, desto größer sind also seine Chancen, daß das BVerfG auch leichtere Fehler des Fachgerichts korrigiert. Die Eingriffsintensität als Prüfungskriterium findet heute überwiegend Zustimmung in der Literatur. Kritisiert wird eher, wenn das Gericht davon abrückt und sich mit „Bagatellen" befaßt 95 . 92

Roth, AöR 1996, 545 (574 f.). Ähnlich Paehlke-Gärtner („juristischer Kunstfehler", Rdnr. 236). 93 Für die Kammern folgt dies bereits aus §§ 93 c Abs. 1 Satz 1, 93 d Abs. 3 Satz 1 BVerfGG, sollte aber auch für die Senate gelten. Zum einen würde das Willkürverdikt mit der Autorität des ganzen Senats gefällt, zum anderen könnte dies die Beanstandung zumindest tendenziell auf wirklich unzweifelhafte Fälle beschränken. 94 Die Intensivierung der Kontrolle betrifft meist die „fallnäheren" Teilschritte und die fachrichterliche Güterabwägung, die sonst weniger gründlich geprüft werden. Die Eingriffsintensität wurde schon in der frühen Rechtsprechung gelegentlich verwendet (BVerfGE 7, 198; 12, 113; 35, 202), als festen Maßstab entwickelte sie das BVerfG dann in BVerfGE 42, 143 und 42, 163; schön auch BVerfGE 60, 79 (91). Bender meint, diese Rechtsprechung sei dem Schrifttum „wohl nicht ganz geheuer, etwas anderes ist aber offenbar niemandem eingefallen" (56 ff.). 95 Zustimmend Hesse, FS Huber, 267; Ossenbühl, FS Ipsen, 137 f.; Scherzberg, passim; Gündisch, NJW 1981, 1819; Lincke, EuGRZ 1986, 72 f.; Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdnr. 488 ff.; Pieroth/Schlink, Rdnr. 1185; Stern, III/1, 1501. Kri-

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Das BVerfG konkretisiert den Begriff der Eingriffsintensität in verschiedene Richtungen. Grundsätzlich orientiert es sich dabei am Ergebnis der Rechtsanwendung. Es verwendet einen am Einzelfall orientierten, aber objektivierenden Maßstab. In erster Linie sind die Auswirkungen des Urteils, das konkrete Ge- oder Verbot, und die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers maßgebend. Neben der finanziellen Belastung, soweit sie als Folge des Urteils quantifizierbar ist, werden aber auch generelle Aspekte einbezogen. So berücksichtigt das BVerfG auch, auf welchem Rechtsgebiet 96 und zu welchem Grundrecht das Gerichtsurteil ergeht, ob die Entscheidung generell vom Grundrechtsgebrauch abschrecken könnte und inwiefern sie auf „essentielle Bereiche menschlichen Daseins" einwirkt. 2. Möglichkeit einer Übertragung auf die Willkürkontrolle Es erscheint zweifelhaft, ob das Intensitätskriterium begrifflich überhaupt auf die Willkürkontrolle übertragen werden kann. Denn seine Maßstäbe orientieren sich teilweise an spezifisch grundrechtsbezogenen Auswirkungen eines Gerichtsurteils 97 . So wird bei Art. 3 Abs. 1 GG auf das Ausmaß der Differenzierung und darauf abgestellt, ob die verwendeten Differenzierungskriterien den in Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 GG genannten persönlichen Eigenschaften nahe stehen oder dem Einfluß des Betroffenen entzogen sind 9 8 . Die Feststellung dieser gleichheitsbezogenen Eingriffsintensität wirft aber im Bereich der Gesetzesbindung Probleme auf. Denn die Differenzierung liegt hier bereits in der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Urteils. Sie ist also genau dann besonders intensiv, wenn dieses besonders rechtswidrig ist. Die Eingriffsintensität müßte hier also nach Kriterien bestimmt werden, die keine spezifische Grundrechtsbetroffenheit voraussetzen. In Frage kommen daher allein die materiellen Auswirkungen der Gerichtsentscheidung für den Beschwerdeführer. tisch Schiaich, Rdnr. 300 (ganz oder gar nicht prüfen); ders. VVDStRL 39 (1981), 99 (124 f.); Miebach, 106. 96 In einer strafgerichtlichen Verurteilung liegt nach BVerfG NJW 1998, 443 f. immer ein „besonders schwerer Nachteil" im Sinne der Annahmevorschriften. Das spricht dafür, darin auch eine besondere Belastung im Sinne der Intensitätsrechtsprechung zu sehen. 97 Bei den Freiheitsrechten insbesondere daran, inwiefern sich das Urteil auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann, BVerfGE 92, 53 (69); 91, 389 (401 f); 91, 346 (362 f.); 90, 46 (56); 89, 365 (375); 89, 15 (22 f.); 88, 87 (96 f.); 88, 5 (12); 87, 1 (36 f); 82, 126 (146). 98 Ausdrücklich hat das BVerfG diese „gleichheitsrechtliche Nachteilsintensität" aber noch nicht so benannt oder begründet; wie hier aber Sachs, JuS 1997, 129; Pieroth/Schlink, Rdnr. 438.

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3. Nachteile einer Übertragung Auch dann aber wäre die Verwendung des Intensitätskriteriums bei der Willkürkontrolle von Nachteil. Denn wenn diese nur noch bei besonders schwerwiegenden Belastungen durchgeführt würde, würden die Beanstandungen von Urteilen wegen richterlicher Willkür zwar präzisiert und reduziert. Die Prüfung würde jedoch je nach Rechtsgebiet und Wert des Streitgegenstands unterschiedlich ausfallen. Die Anforderungen der Gesetzesbindung und des Willkürverbots sind aber unabhängig von Streitwert und Streitgegenstand; alles Recht ist gleich anzuwenden. Gerade bei geringfügigen Entscheidungen, die die Mindestgrenzen der Rechtsbehelfe des einfachen Prozeßrechts nicht erreichen, ist die Verfassungsbeschwerde das einzige Rechtsmittel gegen die richterliche Rechtsanwendung99. Dies spricht dafür, die Willkürprüfung weiterhin möglichst gleichmäßig durchzuführen. Eine Orientierung der Willkürkontrolle an der Eingriffsintensität eines Gerichtsurteils ist daher abzulehnen.

V. Evidenz als ermessensleitendes Kriterium Ferner kommt die Evidenz des Rechtsanwendungsfehlers als Ermessensleitlinie bei der Willkürprüfung in Frage. Dies erscheint vor allem deshalb sinnvoll, weil es die mit der Willkürkontrolle verbundene Arbeitsbelastung des BVerfG reduzieren könnte. Hier ist damit also nur die „intuitive" Evidenz gemeint, für die es darauf ankommt, ob die Rechtswidrigkeit eines Urteils sich unmittelbar und ohne nähere Prüfung ergibt. Es wird zwar bezweifelt, ob es diese Evidenz in der Rechtswissenschaft überhaupt geben kann 1 0 0 . Die Sicherheit jeder rechtlichen Erkenntnis leidet an der Unschärfe sprachlicher Begriffe und Einigkeit über die Frage, ob etwas „unmittelbar einleuchtet", ist kaum zu erzielen. Eine völlige Einigkeit ist in Gerichtsverfahren aber auch nicht erforderlich. Denn wo Evidenz als Tatbestandsmerkmal verwendet wird, reicht es aus, wenn die fragliche Bewertung den Mitgliedern des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers offensichtlich erscheint. Gegen die Verwendung des Evidenzkriteriums bei der Willkürkontrolle wird vorgebracht, dies führe zu zufälligen Ergebnissen, weil es dann darauf ankomme, welche Vorkenntnisse die entscheidenden Richter auf dem jeweiligen Sachgebiet hätten. Der normal geschulte Jurist sei aber in der Regel 99

Nach Schätzungen sind 43 % der amtsgerichtlichen Urteile nicht rechtsmittelfähig (Bericht der Entlastungskommission, 84); Engels, AnwBl 1997, 492 schätzt diesen Anteil auf 50%, von denen nur 26% mit der Berufung angefochten werden. 100 „Nichts zwingt sich auf ... Evidenz ist im Rahmen natürlicher Fach-Sprachen nur Konstrukt. Alles muß der praktische Jurist selbst entscheiden", F. Müller, 151.

E. Ergebnis

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nur mit einigen Rechtsgebieten vertraut 101 . Andererseits wird die Feststellung besonders schwerer Fehler keine Spezialkenntnisse voraussetzen, wenn das entscheidende Willkürkriterium ein Verstoß gegen die juristische Methodenlehre ist. Auch auf unbekannten Rechtsgebieten können fehlerhafte Tatsachenfeststellungen, Auslegungen jenseits des möglichen Wortsinns oder entgegen dem Willen des Gesetzgebers evident sein. Die Anforderungen der juristischen Methodenlehre sind auf allen Rechtsgebieten gleich. Die Beanstandung gerichtlicher Urteile durch das BVerfG im Rahmen der Willkürkontrolle kann sich somit daran orientieren, ob der für das Willkürverdikt erforderliche Verstoß gegen die juristische Methodenlehre evident zutage tritt, d.h. ohne eingehende Prüfung vom BVerfG festgestellt werden kann 1 0 2 .

E. Ergebnis: Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit als Verbot richterlicher Willkür Die Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsanwendung besteht somit zunächst darin, daß er über das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit die Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung gewährleistet. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Beachtung dieses Gebots ist aber auf willkürliche Rechtsverstöße zu beschränken. Das Kriterium, an dem Verstöße gegen das dem Gleichheitssatz zu entnehmende Verbot richterlicher Willkür gemessen werden sollen, ist, ob das angefochtene Urteil einen besonders schweren Verstoß gegen die juristische Methodenlehre enthält. Das damit eröffnete Entscheidungsermessen des BVerfG kann dahingehend eingegrenzt werden, daß in erster Linie offensichtliche Verstöße gegen das Verbot richterlicher Willkür beanstandet werden sollen. Ist somit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ein Verbot richterlicher Willkür zu entnehmen, so bedeutet dies zugleich, daß jeder Grundrechtsträger einen Anspruch auf willkürfreie Urteile vor dem BVerfG einklagen kann.

101 So erklären Benda/Klein Rdnr. 606 das Phänomen, daß Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit seltener beanstandet werden; sie äußern sich daher kritisch zum Evidenzkriterium. 102 So auch - vor allem aus Praktikabilitätserwägungen - Stern, III/2, 1360 f.; wohl auch Kirchhof, HBStR; Krugmann JuS 1998, 12 will die Evidenz eines Rechtsanwendungsfehlers als „Prüfungsmaßstabsgrundentscheidung" verwenden.

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F. Gleichheitssatz und Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit und damit auch das Verbot richterlicher Willkür erfaßt nur einen Teilbereich der Rechtsprechung. Denn die bindende Wirkung dieses Gebots kann nicht weiter reichen als diejenige der gesetzlichen Normen selbst. Entscheidungsspielräume, die dem Richter jenseits der Gesetzesbindung eröffnet sind, bleiben davon unberührt. Natürlich wäre es möglich, die Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsprechung auf dieses Gebot zu beschränken. Auf den Bereich jenseits der Gesetzesbindung und die dort in unterschiedlicher Weise eröffneten richterlichen Spielräume würde er dann nicht einwirken. Das hätte allerdings den Nachteil, daß Art. 3 Abs. 1 GG dann kaum praktische Auswirkungen auf die Rechtsanwendung hätte. Materiell-rechtlich würde er sich mit der allgemeinen rechtsstaatlichen Forderung nach rechtmäßiger Rechtsanwendung decken und hätte insoweit keinen spezifischen eigenen Gehalt. Zudem ist er, wie gezeigt, auf der Ebene der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Gerichtsentscheidungen auf ein Verbot richterlicher Willkür einzuschränken. Daher soll im Folgenden auch die Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung erörtert werden.

I. Differenzierungen jenseits der Gesetzesbindung Der Gleichheitssatz statuiert grundsätzlich - für alle staatlichen Gewalten und unabhängig von seinem Inhalt - bestimmte Anforderungen an die Rechtfertigung von Differenzierungen oder Gleichbehandlungen durch staatliches Handeln. Bei der Überprüfung von Gerichtsurteilen kann diese Prämisse methodisch ohne weiteres umgesetzt werden, denn diese verwenden und bewirken zahlreiche Differenzierungen und Gleichbehandlungen. Fraglich ist aber, inwiefern sie gerade bei der Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung auftreten. Jenseits der Gesetzesbindung liegen zwei Bereiche der Rechtsfindung: diejenigen, in denen vorhandene Normen die Entscheidung nicht vollständig determinieren oder zu korrekturbedürftigen Ergebnissen führen (also innerhalb des Gesetzes, aber jenseits der Gesetzesbindung); und die Rechtsgebiete, in denen der Gesetzgeber überhaupt nicht gehandelt hat (jenseits des Gesetzes). In beiden Bereichen kann das Gesetz nicht als „Mittler der Gleichheit" wirken. Die legislative Abstinenz führt zu Spielräumen, die der Richter wegen des Verbots der Rechtsverweigerung selbständig ausfüllen muß 1 0 3 .

F. Gleichheitssatz und Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung

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Dabei wirkt das methodische Prinzip der Gleichbehandlung des wesentlich Gleichen auf alle Schritte der Rechtsfindung ein. Nach dem klassischen Methodenkanon sind diese Schritte die Auslegung, Lückenfüllung und die Fortbildung des Rechts 104 . Beispielsweise kann Lückenfüllung zur Ausdehnung des Geltungsbereichs einer Norm oder zu seiner Einschränkung führen. Im ersten Fall werden Tatbestand oder Rechtsfolge einer Norm analog erstreckt auf Fälle, die eigentlich nicht von ihr erfaßt sind; im zweiten wird er durch Ausgrenzung von Fällen, die nicht erfaßt werden sollen, eingeschränkt. Beide Vorgehensweisen stellen letztlich auf die Wesensgleichheit eines nicht erfaßten Falles oder auf die wesentliche Ungleichheit eines erfaßten Falles a b 1 0 5 . Andererseits existieren auch Unterschiede zwischen diesen Methoden. So ist der Auslegung und der Lückenfüllung das Gesetz als Arbeitsmaterial vorgegeben: die Feststellung, daß es die zu treffende Entscheidung nicht vollständig determiniert, befreit nicht von der Gesetzesbindung, sondern zeigt nur ihre Grenzen auf. Die rechtlichen Bindungen der Rechtsfortbildung sind weniger strikt: sie hat vor allem die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zu beachten (Art. 1 Abs. 3 GG). Präjudizien werden bei echter Rechtsfortbildung eine größere Rolle spielen als bei normaler Auslegung; auch in ihrer Anwendung auf einen neuen Fall liegt eine Gleichheitswertung. Wenn die Rechtsprechung gesetzliche Weitungen aufgreift, um mit ihrer Hilfe nicht ausdrücklich geregelte Fälle zu lösen, liegt darin ebenso eine Gleichbehandlung wie dann, wenn sie dies nur mit Hilfe verfassungsrechtlicher oder eigener richterlicher Weitungen unternimmt. In der Anwen103 Diese Ausfüllung wird entweder dadurch legitimiert, daß der Gesetzgeber dem Richter mit auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen die Ermächtigung zur Auslegung erteilt (Stern, II, 583; J. Ipsen, 62 ff.; Riggert, 19; Zippelius, Methodenlehre, 76 f.), oder damit, wo der Gesetzgeber nicht handele, tue er dies bewußt und ermächtige die Rechtsprechung zur Setzung von Richterrecht (Ossenbühl, HBStR, §61 Rdnr. 37 f.; Sachs-Degenhart Art. 70, Rdnr. 21; Stern, II, 584 ff.; III/2, 1669 ff.; Sachs-Sachs, Art. 20, Rdnr. 74; F. Müller, 65 ff.; Söllner, ZG 1995, 1 ff.; ders., ZG 1996, 248; BVerfGE 34, 269; 66, 116 (138); 88, 145 (166 f.); 87, 273 (280 f.)). 104 Die Abgrenzung zwischen ihnen erfolgt nach dem Kriterium des möglichen Wortsinns der Entscheidungsnorm und ihres Regelungszwecks (Larenz/Canaris, 187 ff.; Zippelius, Einführung 77, Kaufmann/Hassemer, 136 f. Looschelders/Roth, 224 ff; BVerfGE 82, 6 (10 ff.). Das BVerfG geht von einem recht weiten Bereich des Normvollzugs aus, BVerfGE 6, 41; 34, 269; 74, 129 (152). 105 Zippelius, Einführung, 77.; Larenz/Canaris, 202 ff.; Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 399 ff. Anhaltspunkte für die Relevanz der unterscheidenden Merkmale sind z.B. der Gesetzeszweck, die Natur der Sache und gesetzesimmanente Prinzipien Larenz/Canaris, 202 ff. Daß das methodische Modell des „Typenvergleichs" bei jeder Unterart der richterlichen Rechtsfindung jenseits der Gesetzesbindung erfolgen kann, zeigt, daß diese im Grunde „eine dogmatische Einheit ohne tiefgreifende Unterscheidungen" darstellt (Larenz, 307).

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dung und Durchsetzung von Gleichheitsaspekten ist das methodische Vorgehen des Richters somit im gesamten Bereich jenseits der Gesetzesbindung ähnlich. Das erlaubt es, die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG für die gesamte Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung einheitlich zu erörtern.

II. Mögliche Wirkungen des Gleichheitssatzes Der Gleichheitssatz könnte sich zum einen auf die spezifische Tätigkeit des Rechtsanwenders jenseits der Gesetzesbindung beziehen. Da ihm hier das Gesetz als Entscheidungsgrundlage fehlt, wird er sich in besonderer Weise auf die juristische Methode und auf vergleichbare Gerichtsentscheidungen stützen. Es liegt daher nahe, dem Gleichheitssatz Maßgaben für die Handhabung dieser Entscheidungshilfen zu entnehmen. 1. Gleichheit der juristischen Methode oder Präjudizienbindung? Ein solches Vorgehen stößt allerdings auf Schwierigkeiten. Zwar wäre denkbar, den Richter an ein System oder eine Rangordnung der einzelnen Methoden zu binden. Ein Spruchkörper könnte seine Methodenwahl stets gleichförmig ausüben müssen; einzelne Rechtsgebiete könnten mit bestimmten Methoden oder Verfahren der Rechtsfindung assoziiert werden. Allerdings erscheint fraglich, ob eine solche Gleichheit der Methode wirklich adäquate Ergebnisse zeitigen würde. Zum einen existieren weder eine unumstrittene Rangfolge der juristischen Methoden 1 0 6 noch allgemeine Regeln, nach denen sich die Brauchbarkeit einer Methode über den Einzelfall hinaus beurteilen ließe 1 0 7 . Zum anderen hängt die Beurteilung, welche juristische Methode im Einzelfall zu einem angemessenen Ergebnis führt, von vielen Faktoren a b 1 0 8 . Eine starre Methoden wähl könnte daher leicht zu gleicheren, aber unbilligen Ergebnissen führen. 106 Rangordnungen finden sich etwa bei Koch/Rüßmann, 176 ff.; F. Müller, 202 ff.; Schlink, Der Staat 19 (1980), 94; Starck, VVDStRL 34 (1976), 72; Säcker, MüKo-BGB, Band 1, Einleitung, Rdnr. 118 ff. Für keine von ihnen besteht aber breitere Zustimmung, Wank, Grenzen, 76 f; Engisch, 82 ff., 93 ff; Esser, 121 ff; Larenz, 334 f.; Larenz/Canaris, 164 ff.; Kriele, 85 ff.; Alexy, Argumentation 303 ff. Einigkeit besteht eher darüber, daß es keine „Meta-Regel der Interpretationsregeln" gibt, Kaufmann/Hassemer, 262 m.w.N.; Rennert, NJW 1990, 16: „das Rechtsstaatsprinzip billigt keine Methodenlehre als solche und verwirft auch keine". 107 Dies wirkte sich bei der Willkürkontrolle nicht nachteilig aus, weil diese nur eine negative Kontrolle ist und keine bestimmte Methode vorgeschrieben, sondern nur ein Verstoß gegen einzelne Methoden festgestellt wird. los vielleicht beurteilt die Wissenschaft deswegen die Handhabung der juristischen Methodenlehre durch die Gerichte so kritisch. So zieht Engisch, 82 das Fazit,

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Eine Bindung der Gerichte an eigene oder fremde Urteile wäre jenseits der Gesetzesbindung zwar sehr sinnvoll, weil das Gesetz allein hier keine gleichmäßigen Entscheidungen herbeiführen kann. Andererseits kollidiert sie mit der richterlichen Unabhängigkeit und dem Grundsatz, daß der Gleichheitssatz einen Hoheitsträger immer nur an seine eigenen Entscheidungen bindet 1 0 9 . Vor allem aber wirft eine solche Prüfung unter dem Gleichheitssatz methodische Probleme auf, denn schon geringe Abweichungen im Sachverhalt stellen die Vergleichbarkeit zweier Gerichtsentscheidungen in Frage. 2. Anlehnung an die Bedeutung für den Gesetzgeber Die spezifischen Wirkungen des Art. 3 Abs. 1 GG für die Rechtsprechung können also jenseits der Gesetzesbindung nicht greifen. Gleichwohl kann dem Gleichheitssatz ein spezieller Inhalt für diesen Bereich der Rechtsanwendung entnommen werden. Im Bericht jenseits der Gesetzesbindung tut der Richter in gewisser Weise das, was ansonsten der Gesetzgeber tun würde. Da gesetzliche Vorgaben fehlen, die die Gleichheitswertungen des Gesetzgebers als Handlungsanweisung verbindlich ausformulieren würden, muß der Richter solche Wertungen selbst vornehmen 110 . Zwar sind auch hier Gesetzesnormen der wichtigste Anhaltspunkt dafür, ob eine wesentliche Gleichheit oder Ungleichheit vorliegt. Doch seine eigenständigen Wertungen beziehen sich gerade auf den Bereich, den sie nicht abdecken. die Gerichte wählten schlicht diejenige Auslegungsmethode, die im Einzelfall zu befriedigenden Ergebnissen führe; Esser, 124 ff. spricht von „willkürlicher Methodenwahr 109 Vgl. die Ansätze einer Präjudizienbindung von Ziegler (1992); Riggert (1992); Robbers, JZ 1988, Köhler, JR 1984, 45 ff. Nach AK-Stein, Art. 3, Rdnr. 33 ff.; Gusy, DöV 1992, 468 soll der einzelne Richter, nach Riggert, 54 f. der einzelne Spruchkörper und nach Ziegler, 169 f. nur die letzte Instanz gebunden sein. Abweichungen von früheren Urteilen sollen z.B. dann zulässig sein, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse in erheblicher Weise geändert haben oder die neue Auslegung den in dem Gesetz oder der Verfassung erkennbaren Zielen besser entspricht als die alte, AK-Stein Art. 3 Rdnr. 33 ff.; vgl. auch Langenbucher, passim. Soweit die Konzepte einer Selbstbindung mit der Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot kombiniert werden, führt das nicht über die herkömmliche Willkürkontrolle hinaus; eine willkürliche Abweichung von früheren Entscheidungen wäre schon in ihrem Rahmen aufzuheben. Ebenso Robbers, JZ 1988, 483; anders aber Riggert, 39 ff.; irrig Ziegler, 116. 110 Dem Richter kommt hier eine „begrenzte Ersatzfunktion" (Bender) zu: er tut, was sonst der Gesetzgeber getan hätte. Ebenso Söllner ZG 1995, 1 (12 ff.); Werner Böckenförde, 75 ff. Auf diesem Gedanken beruht der berühmte Art. 1 Abs. 2 des ZGB der Schweiz: der Richter soll, wenn weder Gesetz noch Gewohnheitsrecht vorliegen, so entscheiden, wie er als Gesetzgeber entscheiden würde.

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Dies spricht dafür, die vom Richter vorgenommenen Differenzierungen an denselben Maßstäben zu messen wie Differenzierungen der Legislative. Das entspricht nicht nur der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, wonach die Gerichte nicht zu Differenzierungen kommen dürfen, die dem Gesetzgeber versagt wären. Entsprechende Auffassungen werden auch in der Literatur vertreten. Ein solches Vorgehen hätte zugleich den systematischen Vorteil, daß der Maßstab der Prüfung, ob Differenzierungen und Ungleichbehandlungen des Gesetzgebers und solche des Richters den Gleichheitssatz verletzen, vereinheitlicht wäre. 3. Unterschiede zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung Eine Übertragung der auf die Legislative bezogenen Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG auf die Kontrolle von Gerichtsurteilen setzt allerdings voraus, daß Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht nur formal, sondern auch qualitativ vergleichbar sind. Dabei ergeben sich aus den bestehenden Unterschieden bereits Vorgaben für die verfassungsgerichtliche Prüfung. a) Bindungs- und Breitenwirkung Während ein Gesetz allgemein und nur durch seine Tatbestandsmerkmale beschränkt gilt, regelt ein gerichtliches Urteil nur einen einzelnen Sachverhalt. Eine Breitenwirkung von Urteilen im Sinne einer rechtlichen Bindung auch für andere Fälle ist nur selten gesetzlich geregelt, im übrigen wird sie verneint 1 1 1 . Andererseits entfalten die abstrakten Entscheidungssätze des Richterrechts durchaus Breitenwirkung. Dies gilt besonders mit steigendem Rang des Gerichts im Instanzenzug, weil sich dann immer mehr Gerichte an ihnen orientieren. Diese Bindung beruht zwar nicht auf einer rechtlichen, sondern nur auf einer psychologischen Verpflichtung des Richters. Dennoch kommt Entscheidungen der Gerichte mit einem höherem Rang im Instanzenzug auch steigende Breitenwirkung zu. Eine Differenzierung eines oberen Gerichts kann in Wirkung und Bedeutung einem differenzierenden Gesetz ähnlich sein 1 1 2 . 111

§§ 319, 565 Abs. 2 ZPO, 358 StPO, 144 Abs. 6 VwGO, 170 Abs. 4 SGG, 126 FGO; Bindung an Vörlagepflichten und die Entscheidung des übergeordneten Gerichts z.B. in § 541 ZPO; § 31 BVerfGG; vgl. BAG DRiZ 1980, 54 (61); J. Ipsen, 60; Kissel, § 1 Rdnr. 129 ff.; BVerfGE 84, 212 (227). 112 Riggert, 88 f.; Pawlowski, Rdnr. 519 ff.; Larenz, 412 („bindungsähnliche Wirkung"); Fikentscher, Präjudizien, 16; Herzog, FS Dürig, 441: „die ständigen Rechtsprechungen der Obergerichte wirken in jeder Hinsicht wie Gesetze"; Köhler, JR 1984, 45; Schlüchter, 51, 118 ff. Ihr „Geltungsanspruch über den Einzelfall hinaus

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Zugleich erhöht diese steigende Breitenwirkung die Intensität, mit der die Entscheidung in Grundrechte eingreift. Denn die Eingriffsintensität bemißt sich nicht nur nach der individuellen Belastung des Betroffenen, sondern auch nach der generellen Wirkung des staatliches Aktes. Besonders intensiv ist ein Eingriff etwa, wenn er über den Einzelfall hinaus die Verwirklichung grundrechtlich geschützter Inhalte beeinträchtigen kann. Differenzierungen in obergerichtlichen Entscheidungen sind also besonders intensive Ungleichbehandlungen. Dies spricht dafür, die Urteilskontrolle in erster Linie auf obergerichtliche Entscheidungssätze zu konzentrieren 113 . b) Entscheidungsverfahren Bestätigt wird dies durch einen Vergleich des richterlichen mit dem legislativen Entscheidungsverfahren. Hier bestehen zwar große Unterschiede: Gesetzgebung erfolgt durch Abstimmung nach ausführlicher Beratung in Ausschüssen unter Einbeziehung von Sachverständigen und Betroffenen. Gerichtsentscheidungen entstehen in der Regel nicht in einem vergleichbar aufwendigen Prozeß, im Zivilprozeß sind Informationsgrad und Berücksichtigungspflicht des Gerichts durch den Beibringungsgrundsatz zusätzlich eingeschränkt. Dies führt dazu, daß die über den einzelnen Fall hinausreichenden Folgen bei der Gesetzgebung eher berücksichtigt werden als bei der Rechtsprechung. Auch hier gilt aber, daß die oberen Gerichte die Folgen ihrer Urteile unter fiskalischen und sozialen Gesichtspunkten, für ein Regelungssystem und für Gestaltungsspielräume der anderen Gewalten besonders bedenken müssen. Insofern muß der Richter in der Tat so entscheiden, daß sein Urteil verallgemeinerungsfähig ist. c) Ergebnis Diese Unterschiede zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung sprechen dafür, besonders Entscheidungen höherer Gerichte auf die Beachtung der Maßgaben des Art. 3 Abs. 1 GG hin zu überprüfen.

beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und Kompetenzen des Gerichts", so BVerfGE 84, 212 (227). Rechtsvergleichend Zweigert/ Kötz, 256. Bisweilen wird deshalb sogar angenommen, der Richter ziele stets auf den allgemeinen „Falltypus" und nicht nur auf den Einzelfall; so Zippelius, Methodenlehre, 73. 113 Im Ergebnis ebenso Kirchhof, HBStR, §124, Rdnr. 247, der dies allerdings mit dem „rechtsstaatlichen Prinzip der Gerechtigkeit" und der Begrenztheit des Instanzenzugs begründet.

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6. Kap.: Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit

4. Ansätze in der Literatur Der Gedanke, die Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Rechtsprechung in Anlehnung an seine Bedeutung für den Gesetzgeber zu bestimmen, ist nicht neu. Die „Schumannsche Formel", die ein Umdenken des richterlichen Entscheidungsobersatzes in eine Norm zum Inhalt hat, entspricht bereits jetzt der Prüfungspraxis des BVerfG bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile. Gestützt wird dieser Ansatz ferner durch die Arbeit von Riggert, der die Zulässigkeit einer Übertragung der inhaltlichen Maßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber auf die Gerichte untersucht hat. a) Die Schumannsche Formel Die Schumannsche Formel gehört zu den wichtigsten Bestandteilen der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle und ist auch in der Literatur weithin anerkannt 114 . Sie beruht auf der Prüfung, ob der angefochtene Richterspruch eine Rechtsfolge annimmt, die der einfache Gesetzgeber nicht als Norm erlassen dürfte. Besonders häufig wird die Formel bei Art. 3 Abs. 1 GG angewandt 115 . Schumann begründete seine Formel damit, daß weder ein Gesetz noch seine Anwendung verfassungsgeprägte Begriffe wie die Grundrechte verletzen dürfte. Deren Handhabung durch Gesetzgeber und Richter seien daher in gleicher Weise zu kontrollieren. Diese Begründung birgt einige Probleme. Einmal können die Grundrechte, wenn schon nicht inhaltlich, so doch in methodischer Hinsicht für die verschiedenen Gewalten Verschiedenes bedeuten 116 . Der Gleichlauf von Normenkontrolle und Urteilsverfassungsbeschwerde wird ferner dort kritisiert, wo die Gleichsetzung von Norm und Richterspruch gerade den Verfassungsverstoß ausmacht: beim Richterrecht 117 . Hier allerdings funktioniert das „Umdenken" gerade beson114

Rennert, NJW 1990, 13 f.; Pieroth/Schlink, Rdnr. 1179 f.; Schiaich, Rdnr. 310; aufschlußreich der Hinweis von Steinwedel, 67 Fußn. 140 auf ein „Zwei-TaktSystem" der damaligen Vorprüfungsausschüsse mit zahlreichen Nachweisen in Fußn. 139, die allerdings schon mit BVerfGE 2, 336 (341) (1952) beginnen, also vor Schumann (1963). 115 BVerfGE 58, 369 (374); 59, 52 (59) und 231 (257); 69, 188 (205); 70, 230 (240); 74, 129 (149): „Eine Grundrechtsverletzung liegt nicht nur dann vor, wenn der Gesetzgeber mehrere Personengruppen ohne hinreichenden sachlichen Grund verschieden behandelt, sondern ebenfalls dann, wenn die Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften zu einer solchen, dem Gesetzgeber verwehrten Differenzierung gelangen". 116 Daher die Kritik Benders, der Gesetzgeber habe einen weiten Gestaltungsspielraum, die Gerichte allenfalls einen „Irrtumsspielraum" und das auch nur, damit das BVerfG funktionsfähig bleibe ( 200 f.).

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ders gut, weil Richterrecht stets normersetzenden oder -ergänzenden Charakter hat. Für die inhaltliche Prüfung ist dieses Problem auch nicht relevant. Denn das Ergebnis eines Urteils kann getrennt von der Frage, ob das Gericht zu eigener Rechtsetzung befugt war, erörtert werden 1 1 8 . Bei der Kontrolle richterlicher Rechtsfortbildung ergänzen sich also die inhaltliche und die kompetenzielle Prüfung. Zudem wirkt sich eine unterschiedliche methodische Bedeutung der Grundrechte für beide Gewalten nur in dem Bereich aus, in dem ihre Maßgaben für die Rechtsanwendung bereits durch den Gesetzgeber umgesetzt sind. Hier sind Gestaltung und Nachvollzug klar abzugrenzen. Im übrigen muß die Rechtsprechung die Grundrechte selbst anwenden und umsetzen. Der Richter steht hier also vor denselben Problemen der grundrechtlichen Inhalte und Wirkungsweisen wie der Gesetzgeber. Wenngleich die „Schumannsche Formel" sich primär am Ergebnis der Rechtsfindung orientiert, eignet sie sich daher auch zur Überprüfung der methodisch richtigen Handhabung der Grundrechte. Denn dieses Ergebnis beruht auf einem Entscheidungsprozeß, in dessen Verlauf die grundrechtlichen Auswirkungen auf die Rechtsprechung bereits zu berücksichtigen waren. Die „Schumannsche Formel" ist daher eine sinnvolle Leitlinie der verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Rechtsanwendung jenseits der Gesetzesbindung. b) Die Auffassung von Riggert Riggert hat richterrechtliche Entscheidungssätze und Gesetze im Hinblick auf Struktur, Wirkvermögen, Entscheidungslage, Qualität (d.h. insbesondere Beseitigungsmöglichkeit) und Legitimation miteinander verglichen. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß beide Arten von Rechtsakten weitgehende Parallelen aufweisen 119 . Lediglich die demokratische Legitimation der Judikative hält er für geringer. Daher überträgt Riggert die inhaltlichen Maßstäbe des Gleichheitssatzes vom Gesetzgeber auf die Rechtsprechung. Er erörtert zwar nicht, ob die methodische Wirkungsweise des Gleichheitssatzes für beide Gewalten die gleiche ist. Auch er fordert aber einen Gleichlauf der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzen und Gerichtsentscheidungen. 117

Steinwedel, 75 f.; Bender, 195 f. Die inhaltliche Prüfung wird dann durch eine Untersuchung von „Kompetenz und Verfahren" zur Rechtsetzung ergänzt werden, Steinwedel, 75 f. Die Befugnis der Rechtsprechung, Richterrecht zu setzen, ist auf echte Gesetzeslücken begrenzt und setzt voraus, daß die richterliche Methode in Bezug auf das Ergebnis vertretbar war, BVerfGE 34, 269; 65, 182. 119 Riggert, 87 ff. Er interpretiert Art. 3 Abs. 1 GG allerdings (nur) als Verbot vergleichender Willkür. 118

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6. Kap.: Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit

c) Ergebnis Die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG für die Rechtsprechung im Bereich jenseits der Gesetzesbindung kann daher anhand der Schumannschen Formel in Anlehnung an seine Bedeutung für den Gesetzgeber bestimmt werden. Dabei sind die selbständigen Gleichheitswertungen des Richters besonders dort zu kontrollieren, wo Breitenwirkung und Eingriffsintensität besonders hoch sind: bei den Entscheidungen der oberen Gerichte. 5. Die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG für den Gesetzgeber Die Aufgabe des Gesetzgebers im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz ist hier dieselbe wie im Bereich der Gesetzesbindung. Zur Bildung von Normen wählt er einzelne Anknüpfungsmerkmale aus und faßt sie zu Tatbeständen zusammen, denen er dann Rechtsfolgen zuordnet. Die Gesetzesnormen enthalten also seine Gleichheitswertungen, die sich in einzelnen Differenzierungen und Gleichbehandlungen äußern. Die Überprüfung dieser Wertungen erfolgt, indem die mit den Rechtsnormen gebildeten Vergleichsgruppen aufgegriffen und darauf untersucht werden, ob sie in relevanter Hinsicht gleich sind und ob sie tatsächlich gleich behandelt wurden; sodann ist zu prüfen, ob die gleiche oder ungleiche Behandlung gerechtfertigt ist. Die inhaltlichen Anforderungen an gesetzgeberische Differenzierungen und Gleichbehandlungen richten sich nach der jeweiligen Interpretation des Gleichheitssatzes. Dabei prüft die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur anhand der Neuen Formel des BVerfG, ob hinreichende sachliche Gründe die gesetzlichen Differenzierungen und Gleichbehandlungen rechtfertigen. Die Anforderungen im einzelnen werden dabei mit Hilfe der Unterscheidung von persönlicher und sachlicher Rechtsgleichheit sowie der Intensität der Differenzierung bestimmt. Die Zustimmung der Literatur zur Neuen Formel mag darauf zurückzuführen sein, daß sie ein differenzierter und flexibler Prüfungsmaßstab ist und es so ermöglicht, die Intensität der Prüfung mit Hilfe anderer verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen zu bestimmen 120 und das Verhältnismäßigkeitsprinzip in die Gleichheitsjudikatur zu integrieren 121 . Das vereint 120

Dürig, AöR 81, 117 ff. (143 ff.)), der Art. 3 Abs. 1 GG über Art. 1 Abs. 1 GG, das „absolut gesetzte tertium comparationis jedes rechtlichen Gleichbewertens'4, konkretisiert; H. P. Ipsen (in Neumann/Nipperdey/Scheuner, 111 ff. (137 ff., 177 ff., 183)), der Rechtsstaatsprinzip und Sozialstaatsprinzip aufgreift; Starck in: v. Mangoldt/Klein, Art. 3 Rdnr. 1 ff. und ders. in Link, 51, 58 ff.). Anders aber die Lehre vom „modalen Abwehrrecht", nach der der Gleichheitssatz lediglich „gleiches", nicht auch ein inhaltlich bestimmtes Handeln des Staates verlange. Sachs und Schwabe haben ihre Ansicht aber mittlerweile aufgegeben (in Grundkurs Staatsrecht

F. Gleichheitssatz und Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung

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selbst Ansätze, die Art. 3 Abs. 1 GG als Gebot absoluter Rechtsgleichheit verstehen, mit der herkömmlichen Eingriffsdogmatik 122 . Die gemeinsamen Grundlinien dieser Interpretationen des Gleichheitssatzes 123 rechtfertigen es, die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG für die Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung in Anlehnung an die Neue Formel des BVerfG zu bestimmen. 6. Übertragung auf die Rechtsprechung Art. 3 Abs. 1 GG verlangt somit neben dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit, daß die Gerichte in Bereichen richterlicher Spielräume nicht zu Differenzierungen gelangen dürfen, die dem Gesetzgeber versagt wären. Wann derartige Differenzierungen vorliegen, bemißt sich nach der Neuen Formel des BVerfG. Ausgangspunkt ist das Gebot, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Konkret bedeutet dies, daß die Gerichte keine Differenzierungen vornehmen dürfen, wenn Art und Ausmaß der denkbaren Gründe, also gruppenspezifische tatsächliche Unterschiede, Regelungsziele oder andere verfassungsgemäße Gründe diese nicht rechtfertigen. Dabei kann diese Kontrolle von unterschiedlicher Prüfungsdichte sein, die sich im Einzelfall danach bemißt, von welcher Intensität die relevante Differenzierung ist, inwieweit dadurch die persönliche oder die sach(1995) wird sie nicht mehr erwähnt; Sachs gab seine Abkehr, die sich NWVB1 1988, 295 ff. schon abzeichnete, in VVDStRL 47 (1989), 76 zu Protokoll). 121 Kloepfer, Passion 1980; Huster, Rechte und Ziele; JZ 1994, 541 ff.; AK-Stein Art. 3, Rdnr. 34 ff. 122 So mildert Martini, der Art. 3 Abs. 1 GG als „Optimierungsgebot absoluter Gleichheit" im Sinne Alexys versteht, die Konsequenz seiner Auffassung - daß jede Ungleichbehandlung den Gleichheitssatz verletzt - durch einen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt ab und gelangt so zur normalen Eingriffsdogmatik und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „Schranken-Schranke". - Auch das BVerfG hat einmal einen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt des Gleichheitssatzes angenommen (BVerfGE 49, 89 (126)). Das kann nur im Sinne der „Wesentlichkeitstheorie" (dazu Umbach, FS Faller, 111 ff.) für Regelungen ab einer bestimmten Differenzierungsintensität gemeint sein, wurde aber später nicht wieder aufgegriffen. - Alexy selbst sieht in Art. 3 Abs. 1 GG nur ein Verbot willkürlicher (nicht auf zureichende Gründe gestützte) Ungleichbehandlung (Grundrechte, 364 ff.); wie Podlech, 45 ff., läßt er den Gleichheitssatz nur als „Argumentationslastregel" wirken: wenn eine Begründung für die Erlaubtheit der Differenzierung nicht gelingt, soll Willkür vorliegen. 123 Allein Kirchhofs Interpretation des Gleichheitssatzes weicht deutlich von diesen Konzepten ab (in: NJW 1987, 2354 f.; ders., FS Geiger, 1989; ders., in Mußgnug, 33 ff. (45); ders., HBStR §§ 124, 125; ders., FS Lerche, 1993; ders., Verschiedenheit). Das Verhältnis von Rechtsstaatsprinzip, Gleichheitssatz, Objektivitätsgebot und Willkürverbot zueinander bestimmt Kirchhof uneinheitlich (vgl. HBStR § 124, Rdnr. 249 gegenüber Verschiedenheit, 42 ff.; HBStR § 124, Rdnr. 106; § 125, Rdnr. 245, 259). 13 v. Lindeiner

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6. Kap.: Einschränkung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit

liehe Rechtsgleichheit betroffen ist und ob sie den besonderen Differenzierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG nahesteht.

G. Zusammenfassung Der Gleichheitssatz statuiert somit zwei verschiedene Anforderungen an die Rechtsprechung. Soweit die Gesetze die richterliche Entscheidung determinieren, also im Bereich der Gesetzesbindung, verlangt er vom Richter, die vom Gesetzgeber normierten Gleichheitswertungen methodisch richtig auf den einzelnen Fall anzuwenden. Hier wirkt sich der Gleichheitssatz auf der Ebene der verfassungsgerichtlichen Kontrolle als Verbot willkürlicher Rechtsanwendung aus. Willkürlich in diesem Sinne sind Gerichtsentscheidungen, die in besonders schwerer Weise gegen die Anforderungen der juristischen Methodenlehre verstoßen. Im Bereich jenseits der Gesetzesbindung verlangt Art. 3 Abs. 1 GG von den Gerichten, bei der Ausfüllung der ihnen eröffneten Entscheidungsspielräume keine Differenzierungen oder Gleichbehandlungen vorzunehmen, die nicht durch hinreichende verfassungsmäßige Gründe gerechtfertigt sind. Dies hat das BVerfG im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile ebenfalls zu überprüfen, wobei es seine Kontrolle wegen der höheren Eingriffsintensität auf Entscheidungssätze obergerichtlicher Urteile konzentrieren sollte. Dabei sind die Urteile anhand der Neuen Formel des BVerfG daraufhin zu untersuchen, ob die Gleichheitswertungen der Rechtsprechung eine Gleichbehandlung oder Differenzierung bewirken, die nicht durch hinreichende verfassungsmäßige Gründe gerechtfertigt ist.

7. Kapitel

Weitere denkbare Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür Mit der Feststellung, daß Art. 3 Abs. 1 GG ein Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit enthält, das in der praktischen Anwendung durch das BVerfG auf ein Verbot richterlicher Willkür zu reduzieren ist, kann die vorliegende Untersuchung noch nicht schließen. Denn ein solches Willkürverbot kann außer aus dem Gleichheitssatz möglicherweise noch aus anderen Verfassungssätzen hergeleitet werden. Dabei ist sowohl denkbar, daß deren Anforderungen an verfassungsgemäße Rechtsprechung sich von dem gleichheitsrechtlichen Willkürverbot unterscheiden als auch, daß diese sich damit überschneiden. Folgende Verfassungsnormen kommen außer Art. 3 Abs. 1 GG zur Herleitung eines Verbots richterlicher Willkür in Betracht: das Rechtsstaatsprinzip; die Grundrechte; die in Art. 1 Abs. 1 GG enthaltene Verpflichtung des Staates, die menschliche Würde zu achten und zu schützen; und die prozessualen Garantien des Grundgesetzes.

A. Das Rechtsstaatsprinzip als Willkürverbot Das Rechtsstaatsprinzip erscheint als verfassungsrechtliche Grundlage eines allgemeinen Willkürverbots besonders geeignet. Zum einen hängen die Rechtsstaatlichkeit einer Verfassung und ein Verbot staatlicher Willkür inhaltlich eng miteinander zusammen. Zum anderen entspricht die vom BVerfG praktizierte Willkürkontrolle der Struktur des Rechtsstaatsprinzips eher als der des Gleichheitssatzes. Während sein methodisches Vorgehen, bei der Willkürprüfung keinen Vergleich durchzuführen, bei Art. 3 Abs. 1 GG einer eingehenden Begründung bedarf, erfordert die Anwendung des Rechtsstaatsprinzips von vornherein keine Vergleichsprüfung.

I. Zusammenhang von Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot Literatur und Rechtsprechung betonen denn auch einen Zusammenhang von Rechtsstaatlichkeit und Willkürabwehr auf unterschiedlichen Gebieten des Verfassungsrechts. Dies gilt zunächst unabhängig davon, in welcher 13*

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

Norm des Grundgesetzes das Rechtsstaatsprinzip niedergelegt ist 1 . Der häufig genannte Art. 20 Abs. 1 GG bezeichnet die Bundesrepublik ausdrücklich nur als demokratischen und sozialen Bundesstaat, nicht aber als Rechtsstaat. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt zwar eine rechtsstaatliche Verfassung, richtet sich aber nur an die Länder. Letztlich wird aber kaum bezweifelt, daß das Grundgesetz ein Rechtsstaatsprinzip enthält und daß dieses einer seiner zentralen Grundsätze ist. Zu den Inhalten des Rechtsstaatsprinzips gehört nach verbreiteter Auffassung ein Willkürverbot für bestimmte Bereiche der Verfassungsordnung. Dieses Willkürverbot greift beispielsweise im Verhältnis von Hoheitsträgern untereinander (wo der allgemeine Gleichheitssatz nicht gilt). Auch Willkür des Gesetzgebers soll gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen 2. Besonders deutlich ist der Zusammenhang von Rechtsstaatlichkeit und Willkürabwehr aber in der Diskussion um das Verbot richterlicher Willkür. Die Literatur nennt das Rechtsstaatsprinzip häufig als richtige Grundlage dieses Verbots und als bessere Alternative zu seiner Ableitung aus Art. 3 Abs. 1 GG 3 . Das BVerfG hat gelegentlich einen generellen Zusammenhang von Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot bejaht 4 . Auf die Forderung, die Willkürkontrolle gerichtlicher Entscheidungen anhand von Art. 20 Abs. 3 GG und nicht von Art. 3 Abs. 1 GG durchzuführen, ist es bislang aber nicht eingegangen.

II. Der materiale Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes Das gewichtigste Argument der Befürworter eines rechtstaatlichen Willkürverbots ist, daß das Grundgesetz nach der Vorstellung seiner Verfasser einen materiellen Rechtsstaat errichten sollte 5 . Dieser materielle Rechtsstaat steht bewußt im Gegensatz zum formalen Rechtsstaat der Weimarer Reichsverfassung 6. Während dieser eine gerechte Verfassungsordnung vor allem 1 Genannt werden Art. 20 Abs. 2, 3, vor allem aber Artt. 19 Abs. 4, 28 Abs. 1 Satz 1 und 1 Abs. 3 GG. Relevant wird dies aber nur bei der Frage, ob das Rechtsstaatsprinzip als einer der „in Artikel 1 und 20 niedergelegten Grundsätze" an der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG teilhat. 2 BVerfGE 86, 148 (250 f.) m.w.N. 3 Nachweise im 3. Kapitel, Fußn. 104. S. auch BGH NJW 2000, 590: Verstoß gegen das Grundrecht auf ein objektiv willkürfreies Verfahren und damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. 4 Nachweise in 68. 5 JöR 1 (1951), 195 ff., 244 ff.; BVerfGE 52, 131 (144); Stern, I, § 20 II, III; Herzog, MDHS, Art. 20 VII, Rdnr. 25; Kunig, 24 ff.; v. Mangoldt-Klein Bd. 1, 2. Auflage, 600 ff.; Benda, HBVerfR § 17 Rdnr. 1 ff.; Sdimidt-Aßmann, HBStR, § 24 Rdnr. 18; Sachs-Sachs, Art. 20, Rdnr. 49; Maunz/Zippelius, 87; E.-W. Böckenförde, FS Arndt, 53 ff. Zur historischen Entwicklung Hofmann, Der Staat 34 (1995), 1 ff.

A. Das Rechtsstaatsprinzip als Willkürverbot

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durch verfahrensbezogene Sicherungen - wie eine Trennung der staatlichen Gewalten, die Gesetzesbindung der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte - verwirklichen will, bekennt sich der materielle Rechtsstaat zu materialen Grundwerten: die gesamte Rechtsordnung soll auf Gerechtigkeit, auf menschliche Würde, Freiheit und Gleichheit hin ausgerichtet sein. Das äußert sich in der Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG), in der Möglichkeit überpositiven, der Verfassung vorgelagerten Rechts (Art. 20 Abs. 3 GG), und in der inhaltlichen Begrenzung selbst der verfassungsändernden Gewalt (Art. 79 Abs. 3 GG). Es ist zwar nicht unproblematisch, den Charakter der bundesdeutschen Verfassungsordnung als materiellen Rechtsstaat historisch zu begründen, wie es Rechtsprechung und Staatslehre nach 1949 taten 7 . Die verfassungsrechtliche Katastrophe der NS-Zeit lag nicht zuletzt gerade in der Auflösung der Rechtssicherheit und Verbindlichkeit des positiven Rechts durch ungeschriebene Grundsätze und Generalklauseln, in einer Entwicklung „vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat"8, gewissermaßen einer „Materialisierung" des Verfassungsrechts. Daß das Grundgesetz eine gerechte Verfassung sein will, und daß es sich dazu sowohl formeller als auch materieller Vorkehrungen bedient, ist aber aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und der vorstehend genannten, positiv darin niedergelegten Verfassungsprinzipien nicht zu bestreiten. Aus der Annahme, daß das Grundgesetz einen materiellen Rechtsstaat errichtet hat, folgt, daß Willkür - in einem inhaltlich noch offenen Sinn verboten sein muß, denn dies macht, neben anderem, das Wesen eines solchen aus. Ein Staat, der Gerechtigkeit zum Ziel hat, muß Willkür verhindern 9 . Da das (materielle) Rechtsstaatsprinzip alle staatliche Gewalt bin6

Zu den Begriffen Schmidt-Aßmann, HBStR, § 24 Rdnr. 18; Stern, I, § 20 II, III; Herzog, MDHS, Art. 20 Abs. 7, Rdnr. 25; v. Simson, Der Staat 21 (1982), 100 ff. Die WRV enthielt den Begriff „Rechtsstaat" übrigens ebensowenig wie das GG. 7 BVerfGE 3, 225 (233) sprach von der „frischen Erfahrung der geschichtlichen Katastrophe, die durch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat herbeigeführt worden war". 8 Titel einer 1934 erschienenen Schrift von Heinrich Lange. E. R. Huber, AöR 23 (1933), 32 f. plädierte gleichzeitig für „eine materielle, inhaltlich gerechte Wertordnung". Auch das Rechtsstaatsprinzip kann mit zeitspezifi sehen Wertungen angereichert werden; so interpretiert Carl Schmitt es 1934 (JW 1934, 716), „vom Nationalsozialismus her". Das Dilemma, „die ewige Frage, was hinter dem positiven Recht steckt", ist letztlich nicht zu lösen: macht der Positivismus die Rechtswissenschaft zu einer „Hure, die für alle und zu allem zu haben ist" (E. Kaufmann, VVDStRL 3 (1927), 22)), findet, wer nach dem Naturrecht sucht, wer den Schleier hebt und sein Auge nicht schließt, ... das Gorgonenhaupt der Macht" - so der Positivist Kelsen, VVDStRL 3 (1927), 53 ff. 9 Herzog, MDHS, Art. 3 Anhang Rdnr. 5; Katz, Rdnr. 161; Schmidt-Aßmann HBStR, § 24 Rdnr. 18; Scherzberg, 112 ff.; Leibholz, Gleichheit, 2. Auflage, 11;

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

det, ist in einem materiellen Rechtsstaat auch der Rechtsprechung willkürliches Handeln untersagt. Dabei ist nicht ausgeschlossen, daß auch in einem formellen Rechtsstaat Willkür verboten sein könnte; auch formale Gesetzlichkeit und Gewaltenteilung zielen wenn schon nicht auf eine absolute naturrechtliche, so doch auf eine wenigstens relative inhaltliche Gerechtigkeit.

III. Zum rechtsstaatlichen Willkürverbot Gleichwohl begegnet die Ableitung eines Willkürverbots aus dem Rechtsstaatsprinzip Bedenken. Zwar besteht zwischen diesen Begriffen ein deutlicher inhaltlicher Zusammenhang. Beide betreffen thematisch die Grundfragen gerechter Staatsordnung. Das Rechtsstaatsprinzip ist auch ein besonders weiter und unbestimmter Verfassungssatz, aus dem viele einzelnen Inhalte abgeleitet werden können. Andererseits erschwert gerade dies die weitere Interpretation, denn es setzt sie Vörverständnissen aus. Nähere Konkretisierungen rechtsstaatlicher Grundsätze sind dem Rechtsstaatsprinzip selbst kaum zu entnehmen. Die Ableitung konkreter Inhalte aus abstrakten Grundsätzen wird gar als „eine der obskursten Formen der juristischen Begründung" bezeichnet 10 . Solche Bedenken gipfeln in der Untersuchung Kunigs, der das Rechtsstaatsprinzip vollständig „entlastet", indem er alle seine anerkannten Gehalte auf andere Verfassungsbestimmungen zurückführt 1 1 . So entnimmt Kunig ein Verbot willkürlicher Rechtsanwendung allein dem allgemeinen Gleichheitssatz. Dieser methodische Einwand erweist sich als berechtigt, wenn man versucht, dem Rechtsstaatsprinzip selbst Hinweise auf den Inhalt des darin enthaltenen Willkürverbots zu entnehmen. In der Literatur wird die rechtsstaatliche Forderung nach Willkürfreiheit lediglich durch allgemeine Gebote der Sachlichkeit und Neutralität staatlichen Handelns konkretisiert 12 . Diese wären auch für die Urteilskontrolle ein sinnvoller Maßstab. Allerdings decken

Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 1998, 89; Kunig, 302 (allerdings in kritischer Absicht). So wird der Rechtsstaatsbegriff auch in Staaten, die Willkür auf andere Weise erfahren haben als Deutschland, verstanden, s. Hofmann et al. m.N. aus der Rechtsprechung Portugals (152), Spaniens (174) und Sloweniens (245). Ein Zusammenhang von Rechtsstaatlichkeit und Willkürverbot ist häufiger anzutreffen als der zwischen Gleichheitssatz und Willkürverbot. 10 Alexy, Der Staat 29 (1990), 58. 11 Kunig meint daher, das Rechtsstaatsprinzip sage nichts aus und sei allenfalls als Zusammenfassung von Einzelprinzipien Grundlage für einen „affirmativen Rekurs", 302 ff., 454 ff.; Schnapp in v. Münch/Kunig, Art. 20 Rdnr. 20. 12 Berkemann, DVB1 1996, 1035 m.w.N.; BVerfGE 34, 269 (für die Rechtsprechung).

A. Das Rechtsstaatsprinzip als Willkürverbot

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sie sich mit dem Gebot methodisch richtiger Anwendung des einfachen Rechts, das bereits Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes ist. Dieser Befund wird in der Diskussion um das Verbot richterlicher Willkür bestätigt. Die meisten derjenigen Auffassungen, die es statt Art. 3 Abs. 1 GG dem Rechtsstaatsprinzip zuordnen, sehen inhaltlich keine Unterschiede. In der Tat ließen sich alle seine denkbaren Konkretisierungen auch aus dem Rechtsstaatsprinzip heraus begründen. Dessen historische Entstehung und Zielrichtung spräche für ein Verbot subjektiver Willkür; die dann auftretenden Beweisschwierigkeiten für eine Objektivierung der Urteilskontrolle; dies zusammen mit der Verkörperung von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit im einfachen Recht für einen Rechtsverstoß als Voraussetzung; und das Abstraktionsniveau des Prinzips für eine Beschränkung auf schwere Fehler bei der Rechtsanwendung. Die Kriterien des gleichheitsrechtlichen Willkürverbots werden also nicht dadurch präziser, daß man sie aus dem Rechtsstaatsprinzip heraus begründet. Spezifische Gesichtspunkte, die ein rechtsstaatliches Willkürverbot vom gleichheitsrechtlichen abgrenzen könnten, sind nicht ersichtlich. Auf der anderen Seite wäre denkbar, daß das rechtsstaatliche Willkürverbot in bezug auf die Rechtsanwendung gerade umgekehrt im allgemeinen Gleichheitssatz als der spezielleren Vorschrift zum Ausdruck gekommen ist.

IV. Verhältnis von gleichheitsrechtlichem und rechtsstaatlichem Willkürverbot Diese Frage braucht aber nicht abschließend erörtert zu werden. Neben diesen inhaltlichen und methodischen Problemen spricht noch ein weiterer Gesichtspunkt dafür, dem in Art. 3 Abs. 1 GG enthaltenen Willkürverbot den Vorrang gegenüber einem rechtsstaatlich begründeten Verbot einzuräumen. Denn der allgemeine Gleichheitssatz ist ein subjektives Grundrecht und prozessual für jedermann einklagbar. Dieses subjektive Recht entfaltet Wirkung auf allen Rechtsgebieten und bei jeder Rechtsanwendung und ermöglicht daher einen umfassenden Schutz vor richterlicher Willkür. Hingegen ist das Rechtsstaatsprinzip nur ein objektiv-rechtliches Verfassungsprinzip. Es kann daher nicht als solches eingeklagt werden. Prozessuale Wirkung entfaltet es nur, wenn zusätzlich ein subjektives Grundrecht betroffen ist und das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit diesem eingeklagt wird. Zwar schützen die Grundrechte des Grundgesetzes nach heute herrschendem Verständnis als ein lückenloses Wert- und Anspruchssystem vor allen belastenden Eingriffen der staatlichen Gewalt. Sie ermöglichen es auch, die Verletzung objektiver Verfassungsprinzipien im Wege der Verfassungsbeschwerde zu rügen. Diese lückenlose Auslegung der Freiheitsrechte ist jedoch nach wie vor umstritten. Ferner setzt die Berufung auf ein Frei-

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

heitsgrundrecht voraus, daß ein staatlicher Eingriff in dieses Recht erfolgt ist; der Begriff des Eingriffs ist deutlich enger als der des Nachteils, der zur Geltendmachung einer Ungleichbehandlung berechtigt. Es erscheint daher zweifelhaft, ob das rechtsstaatliche Willkürverbot ebenso effektiv sein kann wie das gleichheitsrechtliche. Schließlich ist eine Lösung über Art. 3 Abs. 1 GG auch dogmatisch stringenter als die Kombination eines objektivrechtlichen Verfassungsprinzips mit dem thematisch jeweils einschlägigen Freiheitsgrundrecht. A l l dies spricht dafür, daß dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes zwar ebenfalls ein Verbot richterlicher Willkür entnommen werden kann. Dieses Willkürverbot tritt jedoch in der prozessualen Durchsetzung gegenüber dem aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden zurück. Festzuhalten ist, daß richterliche Willkür theoretisch auch mit Hilfe des Rechtsstaatsprinzips abgewehrt werden könnte. Dabei deckt sich der Inhalt des rechtsstaatlichen Willkürverbots als einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung willkürfreier Rechtsprechung mit dem Inhalt des gleichheitsrechtlich begründeten Verbots richterlicher Willkür.

B. Grundrechte als Abwehrrechte gegen willkürliche Rechtsanwendung Neben dem Rechtsstaatsprinzip kommen ferner die Grundrechte als Abwehrrechte gegen willkürliche Rechtsanwendung in Betracht. In der Literatur wird gelegentlich gefordert, willkürliche Gerichtsentscheidungen sollten nicht anhand eines allgemeinen Willkürverbots, sondern mit Hilfe der einzelnen Grundrechte aufgehoben werden 13 . Solche Forderungen zielen offenbar nicht darauf, die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile abzuschaffen. Sie soll vielmehr in der Sache unverändert, aber anhand der Gesamtheit der Grundrechte statt des Art. 3 Abs. 1 GG durchgeführt werden. Dies wäre nur dann möglich, wenn die Grundrechte des GG zumindest auch als Abwehrrechte gegen willkürliche Gerichtsentscheidungen fungieren können. Dies wiederum ließe sich auf zwei Wegen begründen. Entweder man nimmt an, daß jedes Grundrecht, innerhalb seines Schutzbereichs, den Gerichten willkürliche Entscheidungen verbietet; daß also jedes Grundrecht gewissermaßen ein thematisch begrenztes Willkürverbot enthält. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG würde etwa verbieten, willkürlich über einen Fall zu entscheiden, der in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die Grundrechte so zu interpretieren, daß sie die Rechtmäßigkeit jeder Rechtsanwendung garantieren, die in 13

Nachweise im 3. Kapitel, Fußn. 105.

B. Grundrechte als Abwehrrechte

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ihren Schutzbereich fällt. Die Beanstandung rechtswidriger Urteile durch das BVerfG könnte dann, ähnlich wie dies oben im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG und das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit begründet wurde, auf willkürliche Entscheidungen beschränkt werden. Da die Grundrechte nach herrschender Sicht der Grundrechte ein lückenloses Anspruchssystem darstellen, das jegliches menschliche Handeln vor staatlichen Eingriffen schützt, würden beide Argumentationen jede richterliche Willkür vor dem BVerfG justitiabel machen und so eine umfassende Willkürkontrolle der Rechtsprechung gewährleisten. Nähere Aussagen zur systematischen Begründung einer anhand der Grundrechte durchgeführten Willkürkontrolle finden sich in der Literatur nicht. Zur Klärung dieser Fragen ist es daher erforderlich, die Bedeutung der Grundrechte für die Rechtsanwendung allgemein zu untersuchen.

I. Grundrechte in der Rechtsanwendung Die Auffassung des BVerfG Die herrschende Auffassung zur Bedeutung der Grundrechte für die Rechtsanwendung beruht weitgehend auf der Rechtsprechung des BVerfG. Dieser wiederum liegen zwei nicht ganz widerspruchsfreie Annahmen zugrunde. Einerseits sollen die Grundrechte die Rechtmäßigkeit jeglicher Rechtsanwendung garantieren, die ihre Schutzbereiche tangiert. Andererseits sollen ihre spezifischen Inhalte die Anwendung des einfachen Rechts kraft einer besonderen „Ausstrahlungswirkung" beeinflussen 14 . 1. Die Grundrechte als Rechtmäßigkeitsgarantien Obwohl das BVerfG dies bis heute nicht ausdrücklich ausgesprochen hat 1 5 , ist es eine logische Konsequenz seiner Rechtsprechung, daß die Grundrechte die Rechtmäßigkeit jeder Anwendung einfachen Rechts garantieren, die thematisch in ihre Schutzbereiche fällt. 14 Aus seiner flexiblen und stets auf Spielräume bedachten Entscheidungspraxis lassen sich die Einzelheiten dieser Annahmen allerdings nur schwer herausfiltern, zumal die Folgeprobleme die eigentlich nachrangige Frage, wo die Grenzen seiner Prüfungsbefugnis bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile unter funktionellen Gesichtspunkten zu ziehen sind, in den Vordergrund gerückt haben. Auch die kontrollorientierte „Patentformer (BVerfGE 18, 85 (92)) - die mit 4:4 Stimmen ergangene, wohl meistzitierte Entscheidung des BVerfG - enthält kein „Patentrezept". 15 Es hat dies sogar ausdrücklich bestritten (BVerfGE 35, 311 (316); weniger deutlich BVerfGE 21, 209 (216); 54, 143 (144); 65, 196 (210)), kann aber dadurch den Konsequenzen seiner Rechtsprechung nicht ausweichen. Näher am Problem BVerfGE 56, 90 (107); 61, 68 (74).

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

Die Rechtsprechung ist sowohl an die Grundrechte als auch an das einfache Recht gebunden (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG). Eingriffe in ein Grundrecht, d.h. belastendes staatliches Handeln, sind nur durch oder aufgrund eines verfassungsmäßigen Gesetzes zulässig. Ein belastendes Gerichtsurteil, das rechtswidrig ist, ergeht nicht „aufgrund eines Gesetzes". Es stellt daher einen unzulässigen Eingriff dar und verletzt das jeweils einschlägige Grundrecht. Jedes Grundrecht garantiert mithin die Richtigkeit gerichtlicher Entscheidungen, soweit sein Schutzbereich reicht. Darüber hinaus stellen die Grundrechte (jedenfalls nach ganz herrschender Meinung) ein lückenloses Anspruchssystem dar, das jegliches menschliche Handeln vor staatlichen Eingriffen schützt. Art. 2 Abs. 1 GG, die allgemeine Handlungsfreiheit, dient als Auffanggrundrecht, wo die Schutzbereiche der speziellen Grundrechte enden 16 . Das bedeutet in der Konsequenz, daß jede rechtswidrige gerichtliche Entscheidung zugleich verfassungswidrig ist. Die Grundrechte verleihen ihren Trägern einen Anspruch gegen das BVerfG auf Aufhebung aller sie belastenden rechtswidrigen Urteile 1 7 . Daraus resultieren vor allem zwei Probleme. Erstens darf das BVerfG nicht das tun, wozu das materielle Recht es verpflichtet, nämlich jedes Urteil einfachrechtlich überprüfen und gegebenenfalls aufheben. Denn es ist keine „Superrevisionsinstanz" über den Fachgerichten, sondern ein spezialisiertes Verfassungsgericht. Deshalb hat es die Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" entwickelt, mit der es die allein auf der einfachen Rechtswidrigkeit beruhende Verfassungswidrigkeit eines Urteils aus seiner Prüfungskompetenz ausschließt; sie ist sozusagen nur eine Verletzung von unspezifrschem Verfassungsrecht 18. 16

Seit BVerfGE 6, 32; bestätigt von BVerfGE 80, 137 (152) mit abw.M. Grimm. A.A. etwa Hesse, Rdnr. 427 f.; W. Schmidt, AöR 91 (1966), 42 ff. Allerdings wird in der Literatur vorgeschlagen, den Begriff des „Eingriffs" bei Art. 2 Abs. 1 GG enger, z.B. im Sinne des „klassischen" Eingriffsbegriffs, zu verstehen (Pietzcker, FS Bachof, 145 f.; Dreier-Dreier Art. 2 Rdnr. 35; Sachs-Murswiek, Art. 2 Rdnr. 83; dazu Jarass, AöR 110 (1985), 381 ff.). 17 Dasselbe Ergebnis kann auch damit begründet werden, daß das BVerfG seit BVerfGE 1, 264 (271) eine zulässige Verfassungsbeschwerde von Amts wegen auch auf Verstöße gegen objektives Verfassungsrecht prüft. Zu diesem zählt u. a. der Vorbehalt des Gesetzes (so Pieroth/Schlink, Rdnr. 1170 ff.; Bender, 2 f., 44; Schumann, Verfassungsbeschwerde, 196; Sachs-Sachs, Art. 20 Rdnr. 70; Schiaich, Rdnr. 213 verbindet beides). Im Ergebnis (Deckung von Rechtswidrigkeit und Verfassungswidrigkeit) herrscht jedenfalls Einigkeit: Pestalozza, § 12 Rdnr. 29 ff.; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, 27; Hesse, Rdnr. 427; Wank, JuS 1980, 545; Henke, DöV 1984, 9; Steinwedel, 52 ff; Bryde, 314, 317; Bender AöR 112, 183 Anm. 70; Sachs-Murswiek, Art. 2 Rdnr. 57 f.; Scholz, AöR 100 (1975), 80 ff; Pietzcker, FS Bachof, 149; Berkemann DVB1 1996, 1028 f. Kritisch zu diesem „nirgendwo geschriebenen Arbeitsbeschaffungsprogramm" für das BVerfG H.-P. Schneider, NJW 1996, 2632.

B. Grundrechte als Abwehrrechte

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Zweitens ist weiterhin unklar, wie denn nun die Grundrechte auf die Rechtsanwendung einwirken. Hier helfen auch die Formeln, mit denen das BVerfG seine Kontrolldichte beschreibt, nicht weiter: Wenn es prüft, ob ein Urteil auf einer „grundsätzlich unrichtigen Auffassung von Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts" beruht, läßt es offen, worin diese Bedeutung und Tragweite in bezug auf die Rechtsprechung besteht. Sicher ist aber, daß die Grundrechte sich nicht nur darauf beschränken können, rechtswidrige Urteile abzuwehren. Denn das würde ihren Wirkungsbereich enorm ausdehnen - und ihnen zugleich jede eigene Bedeutung nehmen. Wenn Verfassungswidrigkeit und Rechtswidrigkeit so gekoppelt wären, würden die Grundrechte nichts aussagen, was sich nicht schon dem einfachen Recht entnehmen ließe. Das konnte mit ihnen nicht gemeint sein. 2. Ausstrahlungswirkung

der Grundrechte

Zu Recht nahm das BVerfG daher seit seiner frühen Rechtsprechung an, das GG habe die Geltungskraft der Grundrechte „prinzipiell verstärkt". Von ihnen gingen Richtlinien und Impulse für alle staatliche Gewalten und in alle Rechtsgebiete hinein aus. Die Grundrechte sollten sich nunmehr als Verkörperung einer objektiven Werteordnung auch in der Rechtsanwendung verwirklichen. Das verlangte vom Richter, in jedem Fall zu prüfen, ob die einschlägigen Normen des einfachen Rechts grundrechtlich beeinflußt seien. Dann habe er bei Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften die hieraus sich ergebende Modifikation zu beachten. Diese Wirkung der Grundrechte nannte das BVerfG, erstmals 1958 im Lüth-Urteil, ihre „Ausstrahlungswirkung" 19 . Neu im Vergleich zu früheren Interpretationen der Grundrechte war dabei nicht, daß ihnen überhaupt eine objektive Bedeutung in bezug auf die Rechtsprechung zukommen sollte. Die Funktionen der Grundrechte in der Rechtsanwendung waren bereits während der Weimarer Republik thematisiert worden: Smend entwickelte die Idee eines in den Grundrechten normierten „Wert- oder Gütersystems" und sah sie als Auslegungsregeln an 2 0 ; Hensel nahm an, eine Rechtsanwendung entspreche nur dann dem Verfas18

Zu dieser Formel näher im 3. Kapitel 1. mit Fußn. 1. Erst seit BVerfGE 24, 278 (282) wird dieser Begriff ohne Anführungszeichen verwendet; gelegentlich aber auch als „sog. Ausstrahlungswirkung" (BVerfGE 73, 261 (269)); als „Einwirkung" (BVerfGE 25, 256 (263); 51, 131 (166); 66, 116 (135)), oder nur als „Einfluß" (BVerfGE 42, 143 (147); 76, 143 (161 f.)). 20 Smend (1928), 163: „selbst wenn sie ... ohne alle unmittelbare Geltung sind, beanspruchen sie doch wenigstens als Auslegungsregel für das spezielle Recht aus dem ihm normativ im Grundrechtskatalog zugrunde gelegte Kultursystem heraus zu gelten". 19

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

sungsrecht, wenn sie die „die in der Norm getroffene, durch das Grundrechtssystem geforderte Wertentscheidung gebührend berücksichtigt" 21 . Aber weder hatten sich diese Auffassungen damals durchsetzen können noch entsprachen den objektiven Wirkungen unter der WRV (soweit diese das nicht ausdrücklich aussprach) subjektive Abwehransprüche. Auch das BVerfG hatte den Gedanken einer in und mit den Grundrechten errichteten „objektiven Weitordnung" ebenso wie die Pflicht der Fachgerichte zur verfassungskonformen Auslegung schon in früheren Entscheidungen aus dem GG hergeleitet 22 . So erlangte das Lüth-Urteil seine eigene „Ausstrahlungswirkung" als grundrechtliche Leitentscheidung eher deshalb, weil das BVerfG hier, nach nahezu sechsjähriger Beratung, sein wertorientiertes Grundrechtsverständnis prägnant zusammenfaßte und ausformulierte. Zudem sicherte es in dieser Entscheidung erstmals, wenn auch ohne Begründung, die objektiven Grundrechtswirkungen prozessual ab: der Ausstrahlungswirkung in das einfache Recht sollte unmittelbar ein Anspruch des Grundrechtsträgers auf ihre Beachtung korrespondieren 23 . 3. Ausstrahlungswirkung und Grundrechtsrelevanz eines Gerichtsurteils Der in der frühen Rechtsprechung gefundene Begriff der Ausstrahlungswirkung ist bis heute weithin verbreitet und akzeptiert 24 . Dennoch zeigt er 21

Hensel (1931), 10. BVerfGE 6, 32 (49) und 6, 55 (72). Heute spricht das BVerfG von „objektiven Grundentscheidungen" (BVerfGE 81, 214 (229); BVerfGE 89, 242 (255)). BVerfGE 2, 266 (282) und 4, 7 (22) leiten die verfassungskonforme Auslegung aus dem allgemeinen Grundsatz her, daß ein Gesetz dann nicht für verfassungswidrig erklärt werden dürfe, wenn es so ausgelegt werden könne, daß es mit der Verfassung in Einklang stehe; in BVerfGE 2, 336 (340) aus Art. 1 Abs. 3, der bestimme, daß die Grundrechte „auch bei der Auslegung sonstiger Bestimmungen (zu) beachten" seien. 23 BVerfGE 7, 198 (206 f.); wortgleich BVerfGE 84, 192 (195). Das gleiche gilt heute für die anderen objektiv-rechtlichen Grundrechts Wirkungen, BVerfGE 35, 79 (116); 77, 170 (214). 24 Stern, III/1, 923; Schuppert/Richter, 44; Sachs-Sachs, Vor Art. 1, Rdnr. 20. Dreier-Dreier Vorb. Rdnr. 57. Ob die Ausstrahlungswirkung auch den Einfluß der Grundrechte auf die Gesetzgebung umfaßt, kann hier offenbleiben; das BVerfG greift jedenfalls bei der Normenkontrolle nur selten darauf zurück. Es verwendete den Begriff im Rahmen der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile auf allen Rechtsgebieten, vor allem, wohl wegen der besonderen konstruktiven Schwierigkeiten, bei der Kontrolle der Anwendung von Privatrecht BVerfGE 7, 198 (205 f.); 42, 143 (148 f.); 89, 1 (11); 89, 214 (229 f.); 89, 276 (285); 90, 27 (33); aber auch zum Verwaltungsrecht (BVerfGE 90, 1 (18)); und zum Strafrecht (BVerfGE 76, 1 (49 f.); 85, 1 (13); 89, 276 (285 f.)). Die Ausstrahlungswirkung greift also nicht nur im Rahmen der Drittwirkung der Grundrechte. 22

B. Grundrechte als Abwehrrechte

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eine bemerkenswerte Offenheit: im Grunde sagt er nur, daß, nicht aber, wann und wie die Grundrechte die Rechtsanwendung beeinflussen. Einzelheiten müssen daher der Rechtsprechung des BVerfG entnommen werden, das sein Konzept immer weiter ausdifferenziert und ausgebaut hat. Zwar kann man aus seinen Entscheidungen bei weitem nicht immer auf materielle Grundrechtsinhalte schließen, weil es seine Prüfungsdichte häufig auch an funktionellen und neutralen Gesichtspunkten ausrichtet 25 . Doch hat die Rechtsprechung insgesamt zu einer weitreichenden Durchdringung des einfachen Rechts und seiner Anwendung mit verfassungsrechtlichen Inhalten geführt. Die Grundrechtsrelevanz einer Gerichtsentscheidung bemißt sich zunächst nach dem Inhalt der zugrundeliegenden Normen des einfachen Rechts 26 . Sie sind inhaltlich und strukturell in unterschiedlichen Ausmaß offen für grundrechtliche Einflüsse: Strafvorschriften oder eine Enteignungsermächtigung berühren Grundrechte intensiver als die Planzeichenverordnung, und die Regelungsdichte der einzelnen Vorschriften variiert von kasuistischer Präzision bis zur Weite von Generalklauseln und Ermessensnormen. Auch mehrpolige Verfahren, wie im Zivilprozeß oder bei verwaltungsrechtlichen Nachbarstreitigkeiten, können in besonderem Maße grundrechtliche Abwägungen erfordern, weil es hier häufig zu Kollisionen verschiedener Grundrechte kommt. Umfang und Inhalt der Ausstrahlungswirkung hängen weiter davon ab, welches Grundrecht im konkreten Verfahren betroffen ist. Eine mehr oder weniger intensive Ausstrahlungswirkung kann aus speziellen Eigenheiten des Grundrechts folgen, etwa weil sein Schutzbereich besonders verletzungsanfällig oder stark einfach-rechtlich geprägt ist 2 7 . Auch die einzelnen methodischen Schritte der Rechtsanwendung sind unterschiedlich grundrechtsrelevant. Aus einer fehlerhaften Tatsachenfeststellung kann zwar im Ergebnis dieselbe Beeinträchtigung eines Grundrechts resultieren wie aus falscher Gesetzesauslegung. Der Einfluß der Grundrechte wird aber auf der Normseite stärker sein als auf der Fallseite; sie sind eher materielle Interpretations- als technische Arbeitsprinzipien 28 . In bestimmten Bereichen, wie 25 Solche Aspekte sind etwa die Eingriffsintensität und die Evidenz einer Fehlentscheidung, die mit materiellen Grundrechtsinhalten nichts zu tun haben. Nicht alle Schwerpunkte des BVerfG überzeugen, etwa die mittlerweile vierzehn Entscheidungen zu Parabolantennen an Miethäusern (s. dazu Mehrings, NJW 1997, 2273). 26 Hierauf stellte auch das Lüth-Urteil in erster Linie ab, s. BVerfGE 7, 198

(206).

27 Wenngleich dies die Unterschiede in der Intensität der verfassungsgerichtlichen Behandlung - bis ins Detail bei Art. 103 Abs. 1 GG, kaum jemals zu Art. 14 GG nur zum Teil erklärt. BVerfGE 81, 278 (289) stellt explizit auf die Eigenart der einzelnen Grundrechte, hier: die „kommunikative Struktur" des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ab.

206

7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

der Kunst- und der Meinungsfreiheit, können Tatsachenfeststellung, -Würdigung und Auslegung zudem eng miteinander verbunden sein. 4. Konsequenzen und Problematik Die Grundrechte wirken somit auf zwei Weisen auf die Rechtsanwendung ein. Zum einen garantieren sie mittels ihrer Gesetzesvorbehalte die Rechtmäßigkeit jeder belastenden Gerichtsentscheidung. Zum anderen üben sie eine besondere Ausstrahlungswirkung aus, die ihre spezifischen Inhalte in den Prozeß der Rechtsprechung integriert und sie dort verwirklicht. Das Verhältnis dieser Wirkungsweisen zueinander wird in der Rechtsprechung selten erörtert. Es liegt aber nahe, auch im Hinblick auf die einzelnen Grundrechte entsprechend der Lehre von Handlungs- und Kontrollnorm den Inhalt des materiellen Verfassungsrechts und die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Prüfung getrennt zu betrachten 29 . Das BVerfG soll nicht die Gesetzmäßigkeit der Rechtsanwendung, sondern nur die Beachtung der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte kontrollieren. Denn nur sie verwirklicht - was in der Kontrollformel vom „spezifischen Verfassungsrecht" nur anklingt - das Spezifische der Grundrechte. Dieses liegt mit anderen Worten nicht so sehr in ihrem Vorrang vor dem einfachen Recht, sondern vor allem in ihren Inhalten. Das Gebot an den Richter, rechtmäßig zu handeln, ist dagegen bereits in der Bindung der Rechtsprechung an das einfache Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) enthalten und daher nur ein unspezifischer Inhalt der Grundrechte. Allerdings war die Auffassung des BVerfG von der Wirkungsweise der Grundrechte für die Rechtsprechung nie unumstritten. Das verwundert nicht: die verfassungsrechtliche Durchdringung der gesamten Rechtsordnung, die Abstraktionshöhe der materiellen Vorgaben und die Unbestimmtheit der selbstgeschaffenen Kontrollformeln eröffnen dem BVerfG einen umfassenden Zugriff auf die Entscheidungen der Fachgerichtsbarkeit und 28

Berkemann, DVB1 1996, 1031 ff.; Herzog, FS Dürig, 442; Schumann, Verfassungsbeschwerde, 239; Steinwedel, passim; Schuppert, 43 ff. Die Forderung, das BVerfG solle die Tatsachenfeststellung der Fachgerichte bis zur Willkürgrenze tolerieren (Starck JZ 1996, 1037; Schulte, DVB1 1996, 1016) geht aber zu weit, wenngleich auch das BVerfG gelegentlich entsprechende Andeutungen macht (BVerfG 4, 294 (297); NJW 1998, 131; s. aber auch BVerfGE 93, 266 mit abw.M. Haas (296 ff.)). Die Fachgerichte haben hier lediglich das „Recht des ersten Zugriffs", Ossenbühl, FG BVerfG, 495 (Fußn. 44). 29 Bryde, 315 ff.; Papier, FS BVerfG, 436 ff. Das BVerfG äußert sich nicht klar zu dieser Frage. Mal heißt es, Verfassungsrecht sei „nicht schon dann verletzt" (BVerfGE 30, 173), wenn ein Urteil nur gegen den Vorbehalt des Gesetzes verstößt; mal grenzt es seine Kontrollreichweite mit funktionellen Argumenten von den materiellen Grundrechtsinhalten ab (BVerfGE 18, 85).

B. Grundrechte als Abwehrrechte

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damit zugleich auf das einfache Recht. Das mag erklären, warum das Gericht eine Belastung mit Verfassungsbeschwerden in Kauf nimmt, die es an den Rand der Funktionsfähigkeit gebracht hat: Kompetenzfragen sind auch Machtfragen 30 . Auf der anderen Seite führt insgesamt gesehen nur ein sehr geringer Teil der erhobenen Verfassungsbeschwerden auch zum Erfolg; das BVerfG korrigiert die fachgerichtliche Rechtsfindung also eher in der Tiefe als in der Breite.

II. Die Auffassungen der Literatur Die materiellrechtlichen Annahmen, die der Auffassung des BVerfG von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte zugrunde liegen, sind mittlerweile weitgehend akzeptiert. Dennoch ist die Diskussion um Theorie und Praxis dieser Auffassung nach wie vor in Bewegung. Allerdings weichen nur wenige Konzepte auch inhaltlich von der Ausstrahlungslehre ab. Meist kreist die Diskussion um die Befugnis des BVerfG zur Überprüfung und Aufhebung von Gerichtsurteilen und wird daher mit funktionell-rechtlichen Argumenten geführt. 1. Materiellrechtliche

Konzepte

Neben den älteren Ansätzen Papier, Schenke und Waldner haben zuletzt vor allem Alexy und Bender Konzepte der Grundrechtswirkung in der Rechtsanwendung, die materiellrechtlich von den Annahmen des BVerfG abweichen, erarbeitet. a) Alexy: Grundrechte als Prinzipien und Regeln Die Theorie der Grundrechte Alexys 3 1 basiert auf der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien. Prinzipien sind Optimierungsgebote: Normen, die gebieten, daß etwas in einem möglichst hohen Maße realisiert wird, aber nur relativ zu den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten. Regeln dagegen sind definitiv, sie können nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden. Die Grundrechte des GG sind Prinzipien, die aber mit Hilfe 30

Roellecke, 33 ff. äußert gar den Verdacht, das BVerfG habe wirksame Reformen des Zugangsverfahrens verhindert, weil ihm die Verfassungsbeschwerde eine „populistische Legitimation" verschaffe. Die Offenheit des Prüfungsmaßstabs beruht aber mehr auf der Furcht vor ungewollter Präjudizienbildung (Bender 16; ähnlich Berkemann, DVB1 1996, 1031 ff.). Der Andrang an Verfassungsbeschwerden setzte schon vor BVerfGE 6, 32 und 7, 198 ein, die Richtigkeitsgarantie und Ausstrahlungswirkung etablierten. Bis zum 30.11.1954 waren beim Ersten Senat 2725, beim Zweiten Senat 27 Verfahren anhängig gemacht worden, Faller AöR 115 (1990), 193. 31 Theorie der Grundrechte (1986); ders., Der Staat 29 (1990), 49 ff.

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

von Abwägungsklauseln zu subsumtionsfähigen Normen vervollständigt werden können. Alexy stimmt der Theorie der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte grundsätzlich zu, formuliert aber die Werttheorie des BVerfG in eine Prinzipientheorie um. Er zieht daraus drei Konsequenzen: eine Begrenzung der möglichen Inhalte des einfachen Gesetzesrechts; die Notwendigkeit von Abwägungen, die nicht in jedem Fall zu genau einer Lösung führten, sowie die Offenheit des Rechtssystems für die Moral. Den Inhalt der Grundrechte gewinnt er mittels einer dreifachen Abstraktion: vom Grundrechtsträger, vom „Grundrechtsgegner" und vom einzelnen Fall aus 32 . Verwirklicht wird dieser Inhalt durch ein „Recht des Bürgers gegenüber dem Zivilrichter darauf, daß er dem grundrechtlichen Prinzip, das für die vom Bürger geltend gemachte Position spricht, im gebotenen Maße Rechnung trägt". Praktische Folge dieser Grundrechtstheorie wäre wohl vor allem eine Ausweitung grundrechtlicher Abwägungen, bei der Rechtsanwendung wie bei deren Überprüfung 33 . Denn die Vervollständigung der Grundrechte zu Regeln kann in der Praxis nicht allein durch eine Erweiterung der Gesetzesnormen erfolgen. Was davon der Rechtsprechung überlassen bliebe, muß auch der Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts unterfallen. b) Bender: Grundrechtliches und nicht-grundrechtliches Recht Ausgangspunkt von Benders Theorie der Grundrechte in der Rechtsanwendung 34 ist die Kritik an der herkömmlichen Trennung von einfachem Recht und Verfassungsrecht, die er für unpraktikabel und unzutreffend hält. Zudem enthielten die Grundrechte für die staatlichen Gewalten unterschiedliche Vorgaben, während der Gesetzgeber sie im einfachen Recht konkretisiere, solle die Rechtsanwendung das Recht wahren und nachvollziehen. 35 32 Für Art. 3 Abs. 1 GG gelangt er so zu zwei „Normen": „wenn es keinen zureichenden Grund für die Erlaubtheit einer Ungleichbehandlung gibt, dann ist eine Gleichbehandlung geboten" und „wenn es einen zureichenden Grund für die Gebotenheit einer Ungleichbehandlung gibt, dann ist eine Ungleichbehandlung geboten". Wie in der Rechtsprechung wird also eine Abwägungsklausel eingefügt (hier „zureichend", dort „hinreichend"). 33 Zumal wenn man wie Alexy die Prinzipienkollisionen mit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung lösen will. Auch das BVerfG hat gelegentlich gemeint, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebe sich „im Grunde schon aus dem Wesen der Grundrechte" (BVerfGE 19, 342 (348 f.); 65, 1 (44)). 34 Bender, Die Befugnis des BVerfG zur Prüfung gerichtlicher Entscheidungen (1991); insbesondere 78 ff., seine Kritik an der herrschenden Auffassung 130 ff., 199 ff.; eine Aufgaben Verteilung 269 ff.; zur Prüfungsbefugnis 360 ff. Ablehnend nur Starck, 61. DJT. O 115; im übrigen hat sich die Wissenschaft mit Ausnahme von Schiaich, Rdnr. 670 ff., noch nicht zu Benders Konzept geäußert.

B. Grundrechte als Abwehrrechte

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Daraus schließt Bender, daß das verfassungsmäßige Gesetz die Grundrechte in der Rechtsanwendung zugleich begrenzt und verkörpert. Letzteres tue es stets dann, wenn es selbst der Verwirklichung von Grundrechten dient. Wann dies der Fall sei, richte sich nach dem Ausmaß seiner Bedeutung für den Grundrechtsschutz, insbesondere der Intensität des von ihm geregelten Eingriffs. Sei ein Gesetz nicht vorhanden oder nicht verfassungsgemäß, verpflichte Art. 1 Abs. 3 GG die Gerichte, selbst die grundrechtsgemäße Lösung zu realisieren. Das Entscheidende an den Grundrechten sei daher nicht ihr Vorrang vor dem einfachen Recht, sondern ihr Inhalt, ihre „harten abwehrrechtlichen Gehalte", deren Beachtung mit Hilfe der Schumannschen Formel kontrolliert werden könne. Bender konstruiert also die Wirkung der Grundrechte auf die Rechtsanwendung anders als das BVerfG. Inhaltlich erscheinen die Resultate seiner Theorie denen der Rechtsprechung aber recht ähnlich; denn die „harten abwehrrechtlichen Gehalte" der Grundrechte werden nach beiden Auffassungen verwirklicht. Daher braucht hier nicht erörtert zu werden, ob die Unterscheidung von „dienendem" und „nicht dienendem" Recht praktikabler wäre als diejenige zwischen einfachem Recht und „spezifischem Verfassungsrecht". c) Die Auffassungen von Papier, Schenke und Waldner Die älteren Konzepte von Papier, Schenke und Waldner versuchen, die Prüfungskompetenz der BVerfG gegenüber Gerichtsurteilen enger zu bestimmen 36 . Papier unterscheidet zwischen direkten Verfassungsverstößen der Rechtsprechung und indirekten, durch das Gesetz vermittelten, Verstößen. Erstere sollen nur noch bei Willkür und bei grundrechtswidriger Gesetzesauslegung in einem engen Sinn vorliegen; nur sie soll das BVerfG aufheben dürfen 37 . Schenke sieht Parallelen zwischen grundrechtsbezogener Rechtsanwendung und Ermessensentscheidungen der Verwaltung. Das 35 Da eine solche getrennte Betrachtung in der Regel nicht stattfinde, verstelle die Fixierung auf den Gesetzgeber - „die ganze Pathologie kontinentalen Grundrechtsdenkens" (S. 198) - ihre spezifische Bedeutung für die Rechtsanwendung. 36 Einige Auffassungen in der Literatur wollen die Grundrechtsrechtsprechung insgesamt auf das Niveau des Willkürverbots zurückfahren, so wenn gefordert wird, das BVerfG solle nur eine „Sicherung der Grundrechte nur in echten Extremfällen" gewährleisten, Diederichsen, Jura 1997, 64; tendenziell auch Robbers, NJW 1998, 935 (938 f.: nur wenn die Fachgerichte „unvertretbar" oder „nicht mehr nachvollziehbar" entschieden haben. 37 Papier, FG BVerfG, 432 ff., insbesondere 454 ff. Für indirekte Verletzungen stehe die Normenkontrolle zur Verfügung. Da Papier auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und grundrechtliche Abwägungsgebote der Gesetzesebene zurechnet, reduziert das den Umfang der verfassungsgerichtlichen Urteilskontrolle erheblich. 14 v. Lindeiner

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

BVerfG solle daher die Rechtsprechung nur in dem Umfang korrigieren dürfen, in dem § 114 VwGO dies für Ermessensentscheidungen ermögliche 3 8 . Nach Waldner soll das BVerfG nur „unmittelbare" Grundrechtsverletzungen beanstanden, die vorlägen, wenn bei der Rechtsanwendung eine fehlerhafte Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten stattgefunden habe 39 . 2. Funktionell-rechtliche

Argumentation

Insgesamt aber verlagerte sich die Diskussion um Grundrechtswirkungen für die Rechtsprechung allmählich auf funktionell-rechtliche Fragen. Die Auffassung Ossenbühls, wonach es im materiellen Recht „vor einem Abrutschen in die Superrevision keinen sicheren Halt mehr" gibt, hat sich heute weitgehend durchgesetzt 40. Daher standen nunmehr Gesichtspunkte einer zweckmäßigen Aufgabenverteilung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit im Vordergrund. Erfreulich ist das nicht: wenn die Steuerungsfunktion des materiellen Verfassungsrechts erhalten bleiben soll, sollte zunächst der Inhalt der Grundrechte über die Prüfungsbefugnis des BVerfG entscheiden 41 . Mit einer funktionellen Begründung argumentiert etwa Wank, der meint, die Aufgaben des BVerfG beschränkten sich auf die Überprüfung grundsätzlicher Rechtsfragen und normähnlicher Entscheidungssätze42. Krauß meint, die Funktionen der Verfassungsbeschwerde eröffneten nur dort eine Prüfungsbefugnis des BVerfG, wo der Beschwerdeführer besonders schutzbedürftig oder eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Frage zu klären sei 43 . 38

Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, passim. In der Tat sind solche Parallelen zu erkennen (Berkemann, DVB1 1996): wenn ein Gericht grundrechtliche Implikationen ganz übersieht, liegt ein Ermessensausfall vor; die „grundsätzliche Verkennung" von Grundrechten entspricht der Ermessensüber- bzw. -unterschreitung, und die Willkür-Rechtsprechung verhindert einen Ermessensmißbrauch. 39 Waldner, ZZP 98 (1985), 200 ff. Er greift damit den Ansatz von Rupp-v. Brünneck, abw.M. BVerfGE 42, 143 auf; ebenso Schiaich, JuS 1982, 281; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, § 17 III; Papier, 455; Mauder, 64. 40 Ossenbühl, FS Ipsen, 137. 41 Bender, 68 f. Herzog meinte dennoch in AöR 86 (1961), 212 Fußn. 77: „Es wäre einer Überlegung wert, ob nicht die deutsche Rechtslehre bei der Frage, wo die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen liegen, deshalb so sehr im Dunkeln tappt, weil sie nach materiellrechtlichen Grenzen sucht, statt formellrechtlich aus der Funktion des BVerfG zu argumentieren"; als sei die funktionelle Diskussion wirklich weiter gekommen. 42 Wank, JuS 1980, 550 ff., in Anlehnung an das Revisionsrecht und die „Schumannsche Formel". Ähnlich verlangen Steinwedel und Schuppert, jeweils passim, daß das BVerfG die „Normseite" der Rechtsanwendung intensiver nachprüfen müsse, da nur dort „grundsatzähnliche Entscheidungsobersätze" zu überprüfen seien.

B. Grundrechte als Abwehrrechte

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Wahl und Böckenförde schließlich wollen die Ausstrahlungswirkung auf einen „Rahmen" für die richterliche Entscheidungsfindung beschränken, innerhalb dessen die Rechtsprechung frei sei; das BVerfG dürfe nur überprüfen, ob der Richter diesen Rahmen nicht überschreite 44 .

III. Die Grundrechte als Willkürverbote? Die Frage, ob die Grundrechte als Abwehrrechte gegen willkürliche Urteile fungieren können, kann allerdings letztlich beantwortet werden, ohne einer der vorstehend genannten Auffassungen zur Bedeutung der Grundrechte für die Rechtsanwendung den Vorrang zu geben.

7. Beschränkung auf spezifische Inhalte der Grundrechte Alle dargestellten Auffassungen stimmen darin überein, daß das BVerfG bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen nur überprüfen soll, ob das Gericht die spezifische Ausstrahlungswirkung der Grundrechte beachtet hat, nicht aber, ob die in ihnen enthaltene Rechtmäßigkeitsgarantie verwirklicht wurde. Wie erörtert, kann dieses Ergebnis unschwer mit der Lehre von Handlungs- und Kontrollnorm begründet werden. Eine umfassende Superrevisionsbefugnis, aufgrund derer das BVerfG auch kontrollieren müßte, ob ein Gericht Grundrechte allein dadurch verletzt hat, daß es rechtswidrig entschieden hat, wird nirgendwo gefordert. Dabei wird zugleich ein weiterer Aspekt der Grundrechtswirkung auf die Rechtsprechung deutlich. Das allgemeine Gebot an den Richter, rechtmäßig zu handeln, stellt keinen spezifischen Inhalt der Grundrechte dar 4 5 . Dem widerspricht nicht, daß sowohl Art. 2 Abs. 1 GG als auch Art. 3 Abs. 1 GG 43

Krauß, passim. Böckenförde NJW 1974, 2089; Der Staat 29 (1990), 1 ff.; Wahl, Der Staat 20 (1981), 485; ders., NVwZ 1984, 401. Zur Zeit arbeitet vor allem der Verfassungsgeber gegen ihre Lehre von der Verfassung als „Rahmenordnung", indem er die Verfassung mit „Normen" wie Artt. 16 a, 23 GG auf das Niveau ihrer eigenen Durchführungsverordnung bringt. Das BVerfG wird sich dadurch - hoffentlich nicht aushebeln lassen (Brenner, AöR 1995, 248 ff.; Zuck, NJW 1999, 1519). Heute erscheint eher eine Art „umgekehrter Wesentlichkeitstheorie" angebracht: nur noch das wirklich Wesentliche gehört in das Grundgesetz. 45 Papier, 436 ff.; Stern, III/1, § 75 IV 6; Bryde, 317, Schuppert, AöR 103 (1978), 50 f.; Dürig, MDHS, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 118 ff. Ähnlich Steinwedel, 58 ff., Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 9. Auch das BVerfG versteht das „spezifische Verfassungsrecht" manchmal ganz in diesem Sinne, BVerfGE 60, 305 (310); abw.M. BVerfGE 81, 29; abw.M. Simon BVerfGE 63, 266 (298); abw.M. Kunig, LVerfGE 3, 50 (60 ff.). 44

14*

212

7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

gerade als umfassende Gewährleistungen richtiger Rechtsanwendung zu interpretieren sind. Denn diese unspezifische Auslegung resultiert nach einhelliger Auffassung nur theoretisch, nicht aber praktisch in einem Anspruch auf rechtmäßige Gerichtsentscheidungen. 2. Einschränkung der Richtigkeitsgarantie

auf ein Willkürverbot?

Damit scheidet zunächst die Möglichkeit aus, einen grundrechtlichen Abwehranspruch gegen richterliche Willkür damit zu begründen, daß das BVerfG dazu verpflichtet sei, jede rechtswidrige Gerichtsentscheidung aufzuheben. Denn die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, deren Beachtung durch die Rechtsprechung das BVerfG nur überprüfen darf, erfaßt nicht ihre Dimension als Garantien richtiger Rechtsanwendung. Sie können als Kontrollnormen nur dort greifen, wo sie im Verlauf der Rechtsanwendung zu beachten waren. Bei Urteilen, die nur im Ergebnis gegen die grundrechtliche Rechtmäßigkeitsgarantie verstoßen, war dies nicht der Fall. 3. Abwehr von Willkür

als Inhalt jedes Grundrechts?

Denkbar wäre allerdings immer noch, einen grundrechtlichen Abwehranspruch gegen richterliche Willkür damit zu begründen, daß das Willkürverbot ein spezifischer Inhalt der einzelnen Grundrechte wäre. Wäre dem so, dann würde dieses Verbot auch an ihrer Ausstrahlungswirkung auf die Rechtsprechung teilhaben und seine Verletzung wäre im Wege der Verfassungsbeschwerde zu korrigieren. Diese Auffassung, wonach jedes Grundrecht schon als solches Willkür abwehre, wird zwar gelegentlich vertreten 46 . Dafür spricht, daß die Grundrechte sich, historisch gesehen, unter anderem auch gegen staatliche Willkür richteten. Allerdings wurde diese Wirkung seit jeher vor allem durch das Gebot gesetzlicher Rechtsanwendung und sachlicher Differenzierungen verkörpert. Zudem wäre ein Willkürverbot in jedem Fall kein spezifischer Inhalt der einzelnen Grundrechte. Es wäre unabhängig davon, was die Grundrechte sachlich regeln, sondern würde allein aus ihrer Grundrechtsqualität resultieren. Schließlich erscheint zweifelhaft, ob den Grundrechten angesichts ihrer thematischen und strukturellen Unterschiede ein einheitlicher Willkürbegriff entnommen werden könnte. Dies spricht dagegen, die Grundrechte unmittelbar als Willkürverbote anzusehen. 46

Wenn auch eher en passant: Kloepfer, 59; Robbers, DöV 1988, 749 ff.; SachsKühne, Art. 13 Rdnr. 6 (zur Abwehr wenig belastender Eingriffe durch Art. 13 GG); wohl auch Bryde, 319: Durchgriff auf krasse Rechtsverstöße besser anhand der Grundrechte „als eines konturenlosen Willkürbegriffs".

C. Art. 1 Abs. 1 GG - Menschenwürde und Willkürverbot

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Das gleiche gilt in Hinblick auf die Bedeutung der materiellen Grundrechte als Verfahrensgarantien 47. Auch insoweit wirken sie nur im Rahmen ihrer Ausstrahlungswirkung, also mit ihren spezifischen Inhalten, auf die Rechtsfindung ein. Ihr Einfluß auf die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts erstreckt sich zwar auf die Gestaltung des Verfahrens, in dem es angewandt wird 4 8 . Das bedeutet aber nicht, daß jede unrichtige oder willkürliche Rechtsanwendung in einem gerichtlichen Verfahren schon deshalb die grundrechtliche Ausstrahlungswirkung verletzt 49 . Eine verfassungsgerichtliche Beanstandung der Rechtsanwendung kann nur erfolgen, wenn die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte im Einzelfall zu beachten war, und nicht bei jeder unrichtigen Handhabung des Verfahrensrechts. 4. Ergebnis Aus den materiellen Grundrechten läßt sich kein Verbot richterlicher Willkür ableiten. Denn sie wirken auf die Rechtsfindung nur kraft ihrer spezifischen Inhalte und nicht mit der in ihnen ebenfalls enthaltenen allgemeinen Richtigkeitsgarantie ein. Die Abwehr von Willkür ist kein spezifischer, sondern allenfalls ein allgemeiner Inhalt der Grundrechte. Soweit die Grundrechte allerdings im Wege der Ausstrahlungswirkung ihre spezifische Bedeutung für die Rechtsanwendung entfalten, muß das BVerfG deren Beachtung durch die Gerichte überprüfen. Dies ist neben der Willkürkontrolle der zweite Prüfungsschritt im Rahmen der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile.

C. Art. 1 Abs. 1 GG - Menschenwürde und Willkürverbot Als verfassungsrechtliche Grundlage eines Verbots richterlicher Willkür kommt ferner die in Art. 1 Abs. 1 GG niedergelegte Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, in Betracht. 47 Dazu BVerfGE 24, 367; 49, 225 mit abw.M. Böhmer; 53, 30. Das BVerfG ursprünglich Schrittmacher dieser Entwicklung - geht seit der Wende in BVerfGE 60, 253 (296) (mit der Warnung vor einem „aktionenrechtlichen Verfahrensgeflecht") nicht mehr allzu häufig auf die Verfahrensdimension ein. S. noch Bethge, NJW 1982, 1 ff.; Ossenbühl, FS Eichenberger, 183 ff. 48 Sachs-Sachs, Vor Art. 1, Rdnr. 21. 49 Verfahren dienen zwar der Herbeiführung materiell richtiger Ergebnisse; die prozeduralen Auswirkungen der Grundrechte sind in diesem Sinne „Vorposten der materiellen Grundrechtspositionen", Jarass/Pieroth, Vor Art 1, Rdnr. 11; Habscheid, FS Benda, 105 ff. Aber weder wirkt sich eine unrichtige Handhabung des Verfahrensrechts zwingend auch materiell aus noch stellt die grundrechtliche Richtigkeitsgarantie hier einen „spezifischeren" Inhalt dar als im materiellen Recht.

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

Diese Verfassungsbestimmung enthält sowohl Elemente der Gleichheitsidee als auch des Willkürverbots. Zum einen garantiert sie allen Menschen eine „elementare Basisgleichheit", gewissermaßen das unverzichtbare Substrat an Würde, das allen Menschen gleichermaßen eigen ist 5 0 . Zum anderen schützt Art. 1 Abs. 1 GG, unter anderem, vor staatlicher Willkür: vor „willkürlicher Ungleichbehandlung, Diskriminierung und Demütigung", oder vor einer Behandlung, in der „eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt" 5 1 . Art. 1 Abs. 1 GG bindet auch die Rechtsprechung; er ist zudem ein prozessual wirksames Abwehrrecht 52 . A l l dies spricht dafür, Art. 1 Abs. 1 GG auch ein Verbot willkürlicher Rechtsanwendung zu entnehmen. Andererseits werden aus diesem Grundrecht nur sehr grundlegende Folgerungen an die Rechtsprechung abgeleitet: etwa das Verbot von Folter als Vernehmungsmethode oder das Prinzip des „nemo tenetur se ipsum accusare". Auch das Verbot richterlicher Willkür ist sicher ein grundlegendes Gebot für gerichtliche Verfahren. Andererseits liegt es eher fern, anzunehmen, daß die vom BVerfG als willkürlich aufgehobenen Gerichtsurteile stets die Menschenwürde der Beschwerdeführer verletzt hätten. Würde man hingegen nur noch solche Entscheidungen erfassen, die so schwer wiegen, daß mit ihnen zugleich die Menschenwürde berührt ist, so wäre eine gleichmäßige Überprüfung der angefochtenen Gerichtsurteile noch weniger möglich als im Rahmen der bisher vom BVerfG durchgeführten Willkürkontrolle. 50 Sachs-Höfling, Art. 1 Rdnr. 27.; AK-Podlech, Art. 1, Rdnr. 19, 29 ff; Kirchhof, HBStR § 124 Rdnr. 99 ff.; die wertorientierte Grundrechtstheorie Dürigs sieht in ihr das „tertium comparationis" des Gleichheitssatzes überhaupt, vgl. Dürig, MDHS, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 3; ders., AöR 81 (1956), 117 ff.; Geddert-Steinacher, 45 ff; Kant, Metaphysik der Sitten, 45 („die Eigenschaft, die jedem Menschen kraft seiner Menschheit zugehört"; Art. 1 Satz 1 der UN-Deklaration der Menschenrechte („Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren"). 51 Dreier-Dreier, Art. 1 Rdnr. 44; ähnlich AK-Podlech, Art. 1, Rdnr. 21, 29 ff; BVerfGE 30, 1, 25. Das BVerfG hat die zusätzliche Voraussetzung, daß die Verletzung „Ausdruck der Verachtung des Werts, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine »verächtliche Behandlung' sein" müsse, nach heftiger Kritik (abw.M. BVerfGE 30, 1 (33 ff.); Dürig, MDHS, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 3; Häberle JZ 1971, 145 ff.; Pieroth/Schlink, Rdnr. 360; Dreier-Dreier, Art. 1 Rdnr. 39) nicht wieder aufgegriffen: BVerfGE 45, 187 (228); 50, 166 (175); 69, 1 (34). 52 Es wäre widersinnig, wenn das Grundgesetz seinen höchsten Wert nicht auch einen gegenüber dem Staat durchsetzbaren Inhalt verliehen hätte. Anders aber Dürig, MDHS, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 4 ff.; Dreier-Dreier, Art. 1 Rdnr. 68 ff. m.w.N. in Fußn. 183; v. Mangoldt-Klein, Art. 1 Abs. 2 Rdnr. 148; Doehring, 280 f. Art. 142 GG spricht aber ausdrücklich davon, daß auch Art. 1 ein Grundrecht enthält. Das BVerfG hat Art. 1 Abs. 1 GG stets als Grundrecht angesehen (BVerfGE 1, 332 (347 f.)), einen Verstoß aber immer nur in Verbindung mit einem anderen Grundrecht bejaht.

D. Verfahrensgarantien des Grundgesetzes

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Es kommt hinzu, daß Art. 1 Abs. 1 GG kein praktikabler Willkürbegriff zu entnehmen ist. Die herrschende subjektive Definition, wonach staatliches Handeln Art. 1 Abs. 1 GG nur dann verletzt, wenn der Staat damit seine Mißachtung menschlicher Würde ausdrückt, ist für die Kontrolle von Gerichtsentscheidungen nicht praktikabel. Gegen die Interpretation des Menschenwürdegebots als Verbot richterlicher Willkür spricht ferner, daß es grundsätzlich geboten ist, damit zurückhaltend zu argumentieren und umzugehen. Gerade weil es den „obersten Wert der freiheitlichen Demokratie" (BVerfGE 5, 85 (204)), den „Mittelpunkt des Weitsystems des GG" (BVerfGE 7, 198 (205)) darstellt, geriete es in die Gefahr einer Banalisierung, wenn man es gegenüber jedem fehlerhaften Gerichtsurteil heranziehen würde 53 . Art. 1 Abs. 1 GG ist somit keine geeignete Grundlage eines eigenständigen Verbots richterlicher Willkür. Er kann zur Abwehr solcher Willkür lediglich dann herangezogen werden, wenn eine gerichtliche Entscheidung zugleich das darin enthaltene Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde verletzt.

D. Verfahrensgarantien des Grundgesetzes Schließlich kommen auch die auf die Rechtsprechung bezogenen Grundrechte und grundrechtsähnlichen Rechte des Grundgesetzes als Abwehrrechte gegen willkürliche Rechtsanwendung in Betracht. Dies gilt insbesondere für die eigentlichen Verfahrensrechte, wie den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG). Auch diese Rechte nehmen, wie die materiellen Grundrechte, an der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte teil. Soweit sie die Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung garantieren, gilt daher das oben unter B. Gesagte. Nur diejenigen dieser Rechte, zu deren innerem Sinngehalt unmittelbar die Abwehr von Willkür gehört, kommen daher als Verbote richterlicher Willkür in Betracht.

I. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eröffnet und garantiert den Rechtsweg gegen jede Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt. „Öffentliche Gewalt" in diesem Sinne ist - nach ganz herrschender Meinung - nur die Verwaltung. Gegen Entscheidungen der Rechtsprechung kann man sich nicht auf 53

Davor warnen etwa Sachs-Höfling, Art. 1 Rdnr. 34; Dreier-Dreier, Art. 2 Rdnr. 75; Dürig, MDHS, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 16 a.E.

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7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

dieses Grundrecht berufen; gewährleistet wird nur „Rechtsschutz durch den Richter, nicht gegen den Richter" 5 4 . Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verschafft dem Grundrechtsträger also nur einen Anspruch auf Überprüfung von Entscheidungen der Exekutive. Insoweit ließe sich die Ableitung eines Verbots richterlicher Willkür aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zwar damit begründen, daß bei krassen Fehlentscheidungen von „Rechtsschutz" durch den Richter schwerlich gesprochen werden kann. Die Argumente, die die herrschende Ansicht für ihre Auslegung dieses Grundrechts vorbringt, sprechen nicht unbedingt dagegen. So wird unter anderem angeführt, das Rechtsstaatsprinzip fordere die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen als Garantie der Rechtssicherheit, es habe schon immer unanfechtbare erstinstanzliche Entscheidungen gegeben und es drohe Rechtsschutz „ad infinitum" 5 5 . Allerdings würde Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur vor Willkür schützen, wo zuvor eine Rechtsverletzung durch die Verwaltung stattgefunden hat. Gegen Rechtsverletzungen in bürgerlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen eröffnet dieses Grundrecht, wie dargelegt, nicht einmal eine einzige Instanz. Das bedeutet, daß nur ein Schutz vor willkürlichen Entscheidungen der Verwaltung und der Verwaltungsgerichte gewährleistet werden könnte. Insofern wäre aufgrund der verwaltungsprozessualen Generalklausel (§ 40 Abs. 1 VwGO) zwar in der Tat eine umfassende Willkürkontrolle möglich. Eine solche Beschränkung der Willkürkontrolle wäre aber in systematischer Hinsicht nicht zu rechtfertigen 56 .

54

BVerfGE 11, 263 (265) und st. Rechtsprechung, basierend auf einem „einfachen Zirkelschluß Dürigs von 1958", so Dreier-Schultze-Fielitz, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 34. Wie das BVerfG Schmidt-Aßmann, MDHS, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 96 ff., AK-Wassermann, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 35; Papier, HBStR, § 154, Rdnr. 15, 37; Sachs-Krüger, Art. 19 Rdnr. 125; BK-Schenke, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 275; zweifelnd Krebs in v. Münch/Kunig, Art. 19 Rdnr. 50 ff., 57; Dreier-Schultze-Fielitz, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 35. 55 BVerfGE 4, 74 (95); Schmidt-Aßmann, MDHS, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 96; all das verhält sich etwas seltsam zu dem Pathos, mit dem Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG meist kommentiert wird („Königlicher Artikel des GG", Jellinek, VVDStRL 8 (1950), 3; „Schlußstein im Gewölbe des Rechtsstaats"). Auch Kritiker bemühen drastische Bilder: „Hypertrophie der Justizstaatlichkeit", Weber, Spannungen 92 f.; „totaler Rechtsstaat" (Bettermann). 56 Nichts anderes gilt im Hinblick auf die Erweiterung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG als Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (BVerfG NJW 1997, 2163; Pieroth/ Schlink, Rdnr. 1006 ff., Krebs in v. Münch/Kunig, Art. 19 Rdnr. 62; AK-Wassermann, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 16 f.; Bachof DRZ 1950, 246). Ausführlich BKSchenke, Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 383 ff. Auch insofern kann die Schutzwirkung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur gegen vorherige Rechtsverletzungen durch die Verwaltung greifen.

D. Verfahrensgarantien des Grundgesetzes

217

Auch die von der herrschenden Meinung abweichenden Interpretationen von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eröffnen keine Möglichkeit einer umfassenden Willkürkontrolle. So meint Lorenz 5 7 , weil Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Ausübung von Herrschaftsmacht rechtlicher Kontrolle unterwerfen wolle und diese Macht bei der Handhabung des Verfahrensrechts beim Richter liege, müsse stets ein Rechtsbehelf gegen Verfahrensfehler eröffnet sein. Hierdurch könnten also Verstöße gegen das materielle Recht nicht behoben werden. Voßkuhle 58 leitet aus der Kontrollidee des Gewaltenteilungsgrundsatzes einen Anspruch des Bürgers auf eine einmalige Nachprüfung der rechtlichen Seite einer gerichtlichen Entscheidung ab. Folgt man dem, könnte der auf die Tatsachen bezogene Teil der Entscheidung nicht überprüft werden. Zudem zielt der Grundsatz der Gewaltenteilung auf eine gegenseitige Kontrolle der Gewalten ab; eine Willkürprüfung würde aber im Wege einer quasi internen Selbstüberwachung der Rechtsprechung erfolgen. Weder nach der herrschenden Auffassung noch nach den abweichenden Meinungen ist Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG also als Abwehrrecht gegen willkürliche Rechtsanwendung zu interpretieren.

II. Grundrecht auf faires Verfahren Die verfassungsrechtliche Garantie eines fairen Verfahrens ist heute als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips weitgehend anerkannt. Ursprünglich fand sie nur im Strafprozeß Anwendung; heute verwendet die Rechtsprechung des BVerfG den im Grunde universalen Fairneßgedanken als allgemeines Prozeßgrundrecht 59. Allerdings werden daraus nur einzelne Folgerungen abgeleitet, die sich darüber hinaus „tunlichst im Rahmen der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens zu halten" haben. Der Fairneßgrundsatz wird zudem in Bezug auf die Rechtsprechung sehr eng interpretiert: eine Verletzung durch die Rechtsprechung soll nur dann vorliegen, wenn rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich 57

Lorenz, Rechtsschutz (1973), insbesondere § 33. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993. 59 Die dem anglo-amerikanischen Recht entlehnte Garantie erscheint erstmals in BVerfGE 26, 66 (71); als eigenes Grundrecht dann seit BVerfGE 41, 246 (249); 91, 176 (181); s. aber BVerfGE 78, 123 (126); 93, 99 (107). Vgl. Sachs-Sachs, Art. 20 Rdnr. 110; Dreier-Dreier, Art. 2 Rdnr. 24; Tettinger, Fairneß. Das BVerfG grenzt die prozessualen Garantien oft nicht sauber voneinander ab: BVerfGE 53, 115 (127), 88, 118 (123 ff.); 80, 103 (107) zu fairem Verfahren und effektivem Rechtsschutz; BVerfGE 49, 220 und 51, 150: Art. 14, 20 Abs. 3 GG; BVerfGE 46, 325: Anspruch auf faire Verfahrensführung unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 GG. 58

218

7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

Unverzichtbares preisgegeben worden ist 6 0 . Begrifflich ist es sicher nicht „fair" gegenüber den Beteiligten, wenn ein Gericht willkürlich handelt. Andererseits verlangt Fairneß eher ein neutrales, distanziertes Verhalten des Richters gegenüber den Betroffenen und nicht, wie das Willkürverbot, methodische Sorgfalt. Zudem besteht kein direkter Zusammenhang zwischen Unfairneß im Verfahren und materieller Unrichtigkeit einer Entscheidung. Denn weder liegt in jeder materiellen Unrichtigkeit eines Urteils ein unfaires Handeln - sie kann auf vielen Gründen beruhen, meist aber schlicht auf falscher Rechtsanwendung - noch führt jede prozessuale Unfairneß auch zu einer im Ergebnis unrichtigen Entscheidung. Das Recht auf ein faires Verfahren erfaßt also schon begrifflich andere Arten von Rechtsverletzungen als das Verbot richterlicher Willkür. Einen spezifischen Abwehrgehalt gegen willkürliche Entscheidungen weist es nicht auf.

III. „Verbot prozessualer Willkür" Zuck hat das vom BVerfG praktizierte Willkürverbot aufgegriffen und in ein materielles und ein prozessuales Verbot untergliedert. Ersteres entnimmt er Art. 20, 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG und übernimmt dabei aus der Rechtsprechung die Kriterien der Schwere und Evidenz eines Rechtsverstoßes, aber auch das seiner besonderen Ungerechtigkeit. Das „Verbot prozessualer Willkür" gründet sich auf eine Zusammenschau von Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 20 GG und verbietet die willkürliche Anwendung von Verfahrensrecht und falsche Sachverhaltsfeststellungen 61. Allerdings beschränken sich die Unterschiede dieser Theorie von der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG auf die verfassungsrechtliche Herleitung. Denn wie das BVerfG setzt Zuck für einen Willkürverstoß zunächst voraus, daß ein Urteil zunächst gegen einfaches Recht verstößt, und greift sodann auf die soeben genannten, vom BVerfG entwickelten Kriterien zurück. Ihm wurde daher auch entgegengehalten, seine „amorphe Gerechtigkeitsmaxime" trage nichts zur Klärung des Willkürproblems bei und gehöre 60 BVerfGE 86, 288 (317). Parallelen zu Waffengleichheit und Willkürverbot erscheinen in BVerfGE 64, 135 (145 f.); 78, 126; 69, 387 und bei Kunig, 379 („Unfairneß kann Willkür bedeuten"); Benda, ZZP 98; Wolf, Rdnr. 280; Vollkommer, GS Bruns, 96. Eine Andeutung, daß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auch als Willkürverbot fungieren könnte, findet sich bei Sachs-Osterloh, Art. 3 Rdnr. 125. 61 JZ 1985, 921 ff.; MDR 1986, 723 f. Zuck, schließt aber - jedenfalls in diesen eher kurzen Aufsätzen - eher vom Willkürverbot auf die Verfassungsinterpretation als umgekehrt: „I. Wann sind die Sachvoraussetzungen für die „Beseitigung groben prozessualen Unrechts gegeben? II. Wie läßt sich die allgemeine Beseitigungspflicht verfassungsrechtlich rechtfertigen?" (JZ 1986, 923).

E. Ergebnis

219

in die Kategorie „additiver Ganzheitsbetrachtungen" 62. Letztlich kommt es Zuck auch vor allem darauf an, eine „prozessuale Superrevision" zu verhindern. Denn während er einerseits ein Verbot prozessualer Willkür ableitet, will er zugleich über einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß im Sinne der Effektivität des Rechtsschutzes Gegenvorstellungen zur Beseitigung groben prozessualen Unrechts eingesetzt werden müssen, die fachgerichtliche Selbstkontrolle gegenüber der Verfassungsrechtsprechung stärken. Obwohl das BVerfG diesen Gedanken selbst gerne anspricht, hat es das „Verbot prozessualer Willkür" nur selten aufgegriffen. Mittlerweile hat Zuck seine Idee offenbar fallengelassen 63. Nennenswerte Vorteile gegenüber der bisherigen Willkür-Rechtsprechung wies sie nicht auf.

E. Ergebnis Neben Art. 3 Abs. 1 GG enthält somit auch das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ein allgemeines Willkürverbot. Doch existiert kein eigenständiger rechtsstaatlicher Willkürbegriff, der einen gegenüber dem gleichheitsrechtlichen Willkürbegriff abgrenzbaren, praktikablen Inhalt hätte. Zum anderen müßte ein rechtsstaatlich begründetes Verbot richterlicher Willkür als objektives Verfassungsprinzip erst prozessual durchsetzbar gemacht werden, was gegenüber der Ableitung eines Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG, die unmittelbar ein eigenes Abwehrrecht dieses Inhalts zur Verfügung stellt, nachteilig ist. Das rechtsstaatliche Willkürverbot ist daher gegenüber dem gleichheitsrechtlichen Verbot richterlicher Willkür subsidiär. Die einzelnen Grundrechte wirken zwar über ihre Ausstrahlungswirkung in vielerlei Hinsicht auf die Rechtsanwendung ein. In Fällen, in denen die Rechtsfindung sich allein im einfachen Recht bewegte, Grundrechte also nur im Ergebnis verletzt sind, können aber auch sie nicht zur Abwehr richterlicher Willkür dienen, da sie zwar die Rechtmäßigkeit einer solchen Rechtsanwendung garantieren, insofern aber keine spezifische „Ausstrahlungswirkung" auf die Rechtsprechung ausüben. Umgekehrt gehört ein Willkürverbot auch nicht zu den spezifischen Inhalten, mit denen sie die Rechtsprechung beeinflussen, da es eine allgemeine grundrechtliche, aber keine inhaltliche Forderung der Grundrechte verkörpert. Unspezifische Grundrechtsinhalte unterliegen aber nicht der Judikatur des BVerfG.

62

Krauß, 249; Stürner, JZ 1986, 532; Kirchberg, NJW 1987, 1995. In NJW 1990, 2449 und Lechner/Zuck, BVerfGG, erscheint das Verbot prozessualer Willkür nicht mehr. Seine Erwähnung in BVerfG NJW 1997, 46 (zu Art. 3 Abs. 1 GG) kam also nur posthum. 63

220

7. Kap.: Weitere Grundlagen eines Verbots richterlicher Willkür

Das Gebot, die menschliche Würde zu achten und zu schützen, ist aufgrund seines Inhalts und seines Ranges innerhalb der Verfassung als Verbot richterlicher Willkür nicht praktikabel. Auch die speziellen verfahrensbezogenen Garantien des Grundgesetzes scheiden hierfür aus, weil sie entweder nur einzelne Aspekte oder fachliche Bereiche der Rechtsprechung betreffen oder richterliche Willkür begrifflich nicht erfassen. Das von Zuck entwickelte Verbot prozessualer Willkür unterscheidet sich inhaltlich nicht von dem in der bisherigen Rechtsprechung praktizierten Verbot. Ein Verbot richterlicher Willkür kann somit allein aus dem Rechtsstaatsprinzip einerseits und aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG andererseits abgeleitet werden. Dabei genießt das gleichheitsrechtliche Willkürverbot als das prozessual effektivere Recht den Vorrang.

8. Kapitel

Ergebnis der Untersuchung Die Untersuchung hat gezeigt, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot richterlicher Willkür nach dem heutigen Stand der Verfassungsinterpretation mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Diese Rechtsprechung wirft zwar verschiedene Probleme auf. Ihre verfassungsrechtliche Begründung in Art. 3 Abs. 1 GG ist unklar, weil das BVerfG bei der Willkürkontrolle keine Vergleichsprüfung vornimmt, was auf den ersten Blick der methodischen Struktur dieses Grundrechts widerspricht. Ihre praktische Durchführung ist von Ambivalenzen und geprägt. Das Verbot richterlicher Willkür bindet einen wesentlichen Teil der Arbeitskraft des Bundesverfassungsgerichts - und führt doch nur äußerst selten zum Erfolg. Es sichert die Objektivität der Rechtsprechung - und öffnet sich in bedenklicher Weise subjektiven Einflüssen und persönlichen Wertungen. Es realisiert eine der wichtigsten Forderungen des Bürgers an den Staat - und doch ist es hier nur ein Schritt vom Erhabenen zum Unbedeutenden, vom Willkürverbot als einem überragend Prinzip des Verfassungsrechts zum Nachbarstreit um eine Zypressenhecke an der Grundstücksgrenze. Vom Verfassungsrecht her betrachtet, setzt diese Judikatur ein selbstverständliches Gebot der Rechtsstaatlichkeit um; aus der Sicht des einfachen Rechts und der Gerichte, die es anwenden, maßt sich das Bundesverfassungsgericht damit eine Kompetenz an, die ihm nach der Aufgabenverteilung des GG nicht zusteht. Vor allem aber können die Argumente, die bisher für diese Rechtsprechung vorgebracht wurden, diese heute nicht mehr rechtfertigen. Die Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatz als allgemeines - vergleichsunabhängiges - Willkürverbot kann heute weder durch Rechtsvergleichung noch durch Rechtsphilosophie gestützt werden. Dies aber waren die entscheidenden Gründe, die bislang für sie vorgebracht wurden. Eine überzeugendere Begründung dieser Willkürkontrolle kann aber gleichwohl anhand des Art. 3 Abs. 1 GG erfolgen. Denn dieser enthält als einen wesentlichen, auf die Rechtsprechung bezogenen Inhalt ein Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit. Dieses verleiht jedem Menschen ein Recht darauf, daß er bei der Anwendung des Gesetzesrechts durch die Gerichte nicht gegenüber seinen Mitmenschen ungleich behandelt wird, ohne daß

222

8. Kap.: Ergebnis der Untersuchung

das Gesetz selbst dies rechtfertigt. Dieses Gebot verwirklicht zugleich einen zentralen objektiv-rechtlichen Grundsatz des Rechtsstaats: den Geltungsanspruch des Gesetzes gegenüber dem Richter, die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung. Ein derart umfassender Anspruch auf rechtmäßige Rechtsprechung kann aber nicht ohne Einschränkung verwirklicht werden. Zum einen ist es nicht Aufgabe des BVerfG, eine „Superrevision" über den Gerichten zu betreiben. Dies aber würde es tun, wenn es alle Gerichtsurteile, die möglicherweise gegen das einfache Recht verstoßen, schon deshalb umfassend nachprüfen und gegebenenfalls aufheben würde. Zum anderen würde eine solche Prüfung das Gericht - jedenfalls an seiner jetzigen Kapazität gemessen - auch in praktischer Hinsicht überfordern. Daher muß Art. 3 Abs. 1 GG als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit einschränkend ausgelegt werden. Diese Einschränkung ist sinnvollerweise dahingehend vorzunehmen, daß im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile nicht alle rechtswidrigen, sondern nur willkürliche Fehlurteile aufzuheben sind. Indem er die Möglichkeit eröffnet, Willkür der Gerichte abzuwehren, sichert Art. 3 Abs. 1 GG eine grundlegende Forderung des Bürgers an den Staat. Auf diese Weise können besonders schwere Verstöße gegen die juristische Methodenlehre, die das entscheidende Bindeglied zwischen konkretem Sachverhalt und abstrakter Norm darstellt, beanstandet werden. Dabei setzt die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG in dem Bereich, in dem der Richter die Gleichheitswertungen des Gesetzgebers umzusetzen hat, nicht voraus, daß das angefochtene Urteil mit anderen Gerichtsentscheidungen verglichen wird. Das Gesetz ist hier Mittler der Gleichheit. Entscheidend ist daher allein der Vergleich zwischen Fall und Norm, da schon dieser Aufschluß darüber gibt, ob der Richter den Gleichbehandlungsbefehl des Gesetzes befolgt hat. Das so begründete Verbot willkürlicher Rechtsanwendung ist nicht der einzige Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes in bezug auf die Rechtsprechung. Vielmehr enthält Art. 3 Abs. 1 GG auch ein Gebot verhältnismäßiger Differenzierung durch die Gerichte. Letzteres wirkt sich dort aus, wo die Rechtsprechung jenseits der Gesetzesbindung agiert, wo also die anzuwendenden Normen dem Richter einen eigenen Entscheidungsspielraum belassen. Die Einhaltung dieser beiden Inhalte des Art. 3 Abs. 1 GG durch die Gerichte hat das BVerfG im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile zu überwachen. Aus anderen Verfassungssätzen kann dagegen ein prozessual wirksames Verbot richterlicher Willkür nicht abgeleitet werden. Zwar verbietet auch das Rechtsstaatsprinzip staatliche Willkür. Doch ist es nur ein objektives Verfassungsprinzip, das als solches nicht eingeklagt werden kann. Das aus

8. Kap.: Ergebnis der Untersuchung

Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitende Verbot genießt daher den Vorrang vor dem rechtsstaatlichen Willkürstaat. Man kann gegen die Ableitung eines Verbots richterlicher Willkür aus dem Grundgesetz einwenden, daß staatliche Willkür in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik nur sehr selten vorkommt und daß auch außerhalb des Bundesverfassungsgerichts vielfältige Sicherungen dagegen bestehen. Man kann weiter einwenden, daß das Willkürverbot aufgrund seiner Nähe zu überpositiven Prinzipien und seiner absoluten Tendenz gerade besondere Gefahren für die Verfassungsinterpretation wie für die Verfassungswirklichkeit in sich birgt. Aber dieser Gefahr kann dadurch begegnet werden, daß man das Willkürverbot auf positive Regelungen wie den allgemeinen Gleichheitssatz zurückführt und ihm so für die Handhabung in einzelnen Rechtsfällen konkrete Konturen verleiht. Das Verbot richterlicher Willkür verwirklicht elementare Anforderungen der Gerechtigkeit. Und doch ist es bereits heute Bestandteil der positiven Ordnung des Grundgesetzes. Es ist daher nicht erforderlich, auf einen überpositiven Rechtsgrundsatz zurückzugreifen, um seine Geltung für die Rechtsordnung der Bundesrepublik zu belegen. Wollte man aber deshalb auf ein Willkürverbot verzichten, weil es in einem Rechtsstaat nicht mehr erforderlich sei - man nähme diesem damit die Berechtigung, sich als einen solchen zu bezeichnen.

Anhang Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot richterlicher Willkür 1. Senatsentscheidungen zum Verbot richterlicher Willkür 2. Kammerentscheidungen zum Verbot richterlicher Willkür 3. Willkür-Entscheidungen nach Senaten und Kammern 4. Willkür-Entscheidungen nach Rechtsgebieten 5. Willkür-Entscheidungen nach Instanzen 6. Willkür-Entscheidungen nach zeitlicher Abfolge In dieser Zusammenstellung sind nur solche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt, die eine Verletzung des Verbots richterlicher Willkür durch das angefochtene Gerichtsurteil bejahen und der Verfassungsbeschwerde deshalb stattgeben. Haben mehrere Gerichte innerhalb eines Instanzenzuges willkürlich entschieden, so wird nur die letzte Instanz erfaßt.

Anhang

225

1. Senatsentscheidungen zum Verbot richterlicher

Datum

Aktenzeichen

Willkür

Fundstelle in der Stichwort Amtlichen Sammlung

24.03.1976 2 BvR 804/75

BVerfGE 42, 64

Zwangsversteigerung

29.04.1980 2 BvR 1441/79

BVerfGE 54, 117

Präklusion 1 (Aufrechnung)

07.04.1981 2 BvR 911/80

BVerfGE 57, 39

Heizungswartung

06.10.1981 2 BvR 1290/80 BVerfGE 58, 163

Auslagenvorschuß

10.11.1981 2 BvR 1060/81 BVerfGE 59, 98

Revisionsverwerfung

03.11.1982 1 BvR 710/82

BVerfGE 62, 189

Kostenfestsetzung

07.12.1982 2 BvR 900/82

BVerfGE 62, 338

Akteneinsicht

21.02.1984 2 BvR 1242/80 BVerfGE 66, 199

Arbeitsversäumnis im Strafvollzug

04.04.1984 1 BvR 1323/82 BVerfGE 66, 324

Versorgungsausgleich

24.04.1985 2 BvR 1248/82 BVerfGE 69, 248

Präklusion 2 (Zeugenbeweis)

04.06.1985 1 BvR 1222/82 BVerfGE 70, 93

Grenzhecke

05.11.1985 2 BvR 1434/84 BVerfGE 71, 122

Prozeßkostenhilfe

26.11.1985 2 BvR 851/84

BVerfGE 71, 202

Berufung „namens des Klägers"

15.03.1989 1 BvR 1428/88

BVerfGE 80, 48

Mietrecht 1 (Räumungsanspruch)

13.11.1990 1 BvR 275/90

BVerfGE 83, 82

Mietrecht 2 (Eigenbedarf)

07.04.1992 1 BvR 1772/91 BVerfGE 86, 59

Mietrecht 3 (Zweckentfremdung)

03.06.1992 2 BvR 1041/88 u.a.

Doppelmord

BVerfGE 86, 288

Insgesamt: 17 Senatsentscheidungen

15 v. Lindeiner

Anhang

226

2. Kammerentscheidungen

zum Verbot richterlicher

Datum

Senat/Kammer Aktenzeichen

07.05.1986

IS 3K

1 BvR 1117/84

17.12.1986

IS 3K

1 BvR 697/96

Willkür

Fundstelle JagdrEntsch. Nr. 45

31.05.1988

2S 3K

2 BvR 1124/87

09.03.1989

IS 2K

1 BvR 914/88

02.05.1989

2S 1K

2 BvR 6998/87

07.06.1989

IS 3K

1 BvR 1202/88

20.07.1989

2S 2K

2 BvR 1086/88

23.08.1989

2S 2K

2 BvR 685/89

11.09.1989

2S 3K

2 BvR 1566/88

Juris

13.11.1989

IS 3K

1 BvR 1249/85

Juris

Juris

Juris

27.11.1989

2S 3K

2 BvR 1333/87

NStE 4, § 467 StPO

09.01.1990

2S 3K

2 BvR 1631/88

Juris

18.01.1990

2S 1K

2 BvR 676/89

29.01.1990

2S 2K

2 BvR 184 und 185/89

23.03.1990

IS 1K

1 BvR 22/90

21.05.1990

2S 2K

2 BvR 1499/89

NJW 1990, 3191

23.05.1990

2S 2K

2 BvR 1686/89

NJW 1990, 3191

20.06.1990

2S 2K

2 BvR 1110/89

NJW 1990, 3193

23.06.1990

2S 2K

2 BvR 417/88

NJW 1991, 690

27.08.1990

2S 2K

2 BvR 781/89

NStE 13, § 359 StPO

28.08.1990

2S 2K

2 BvR 1413/87

NJW 1992, 2076

09.10.1990

2S 2K

2 BvR 157/90

19.10.1990

2S 2K

2 BvR 761/90

11.12.1990

IS 2K

1 BvR 1634/89

11.12.1990

2S 2K

2 BvR 1892/89

19.12.1990

IS 2K

1 BvR 289/90

21.01.1991

IS 2K

1 BvR 976/90

NJW 1991, 2622

01.03.1991

IS 1K

1 BvR 1100/90

NJW 1991, 2273

29.04.1991

IS 2K

1 BvR 7/90

NJW 1991, 3023

NJW 1991, 1285

12.11.1991

2S 2K

2 BvR 281/91

NStZ 1992, 238

24.02.1992

2S 2K

2 BvR 700/91

NJW 1992, 2811

16.04.1992

2S 2K

2 BvR 877/89

NJW 1993, 382

26.05.1992

IS 1K

1 BvR 1435/91

Anhang

2. Kammerentscheidungen

Datum

227

zum Verbot richterlicher

Willkür

(Fortsetzung)

Senat/Kammer Aktenzeichen

Fundstelle

23.07.1992

IS 3K

1 BvR 14/90

NJW 1993, 1699

06.08.1992

2S 2K

2 BvR 89/92

NJW 1993, 1380

22.09.1992

2S 3K

2 BvR 1035/92

WuM 1993, 36

14.01.1993

IS 1K

1 BvR 926/88

02.02.1993

2S 3K

2 BvR 1241/92

24.02.1993

2S 1K

2 BvR 1959/92

JW 1993, 1909

26.05.1993

2S 1K

2 BvR 20/93

BayVBl 1993, 623

18.06.1993

2S 1K

2 BvR 1815/92

DVB1 1993, 1002

30.06.1993

2S 3K

2 BvR 459/93

ZMR 1993, 409

19.07.1993

IS 3K

1 BvR 389/91

NJW 1994, 1645

31.08.1993

2S 2K

2 BvR 843/93

NJW 1994, 847

26.10.1993

2S 2K

2 BvR 1004/93

09.11.1993

IS 1K

1 BvR 1081/93

08.12.1993

2S 3K

2 BvR 1173/93

29.12.1993

2S 1K

2 BvR 65/93

NJW 1994, 1210

09.02.1994

IS 1K

1 BvR 937/93

11.02.1994

2S 2K

2 BvR 1883/93

NJW 1994, 1855

25.02.1994

2S 3K

2 BvR 122/93

NJW 1994, 2279

24.05.1994

2S 2K

2 BvR 862/94

NJW 1995, 124

09.06.1994

2S 2K

2 BvR 2096/93

NJW 1995, 124

21.06.1994

2S 1K

2 BvR 368/94

09.08.1994

2S 1K

2 BvR 2576/93

09.09.1994

2S 1K

2 BvR 1089/94

14.10.1994

IS 3K

1 BvR 602/94

10.02.1995

IS 3K

1 BvR 2315/94

15.02.1995

2S 2K

2 BvR 383/94

NJW 1996, 116

19.07.1995

IS 1K

1 BvR 1506/93

NJW 1995, 2911

04.09.1995

2S 2K

2 BvR 1453/94

12.09.1995

2S 2K

2 BvR 2475/94

08.11.1995

2S 2K

2 BvR 1885/94

27.11.1995

IS 1K

1 BvR 1063/95

18.12.1995

IS 3K

1 BvR 1115/95

NVwZ 1996, 1199

NJW 1996, 1049

(Fortsetzung 15*

Seite 228)

228

Anhang

2. Kammerentscheidungen

zum Verbot richterlicher

Willkür

(Fortsetzung)

Datum

Senat/Kammer Aktenzeichen

Fundstelle

15.01.1996

IS 1K

1 BvR 1181/95

NJW-MietRE 96,54

19.01.1996

IS 1K

1 BvR 662/93

10.07.1996

2S 3K

2 BvR 65-74/95

NJW 1997, 649

26.07.1996

2S 1K

2 BvR 521/96

DVB1 1996, 1190

30.07.1996

2S 1K

2 BvR 394/95

BayVBl 1997, 82

15.08.1996

2S 2K

2 BvR 662/95

NJW 1997, 46

29.10.1997

2S 3K

2 BvR 1390/95

NJW 1998, 745

29.04.1998

2S 2K

2 BvR 2939/93

NJW 1998, 2810

16.10.1998

2S 1K

2 BvR 1328/96

DVB1 1999, 165

03.12.1998

IS 2K

1 BvR 592/97

NJW 1999, 2031

17.12.1998

2S 1K

2 BvR 1556/98

NJW 1999, 1387

07.07.1999

IS 1K

1 BvR 346/99

NJW 34/1999, XII

28.09.1999

2S 2K

2 BvR 1897/95 u.a.

NJW 2000, 273

07.04.1999

IS 2K

1 BvR 2205/99

NJW 2000, 2494

08.06.2000

2S 1K

2 BvR 2279/98

NVwZ-Beilage 9/2000

20.09.2000

IS 2K

1 BvR 441/00

NJW 2000, 1200

19.12.2000

IS 3K

1 BvR 1684/99

NJW 2001, 1125

Insgesamt: 82 Kammerentscheidungen

3. Willkür-Entscheidungen

nach Senaten und Kammern

Erster Senat: 35 Entscheidungen Senatsentscheidungen: Kammerentscheidungen:

6 29

1. Kammer

11 Entscheidungen

2. Kammer

8 Entscheidungen

3. Kammer

10 Entscheidungen

Zweiter Senat: 64 Entscheidungen Senatsentscheidungen:

11

Kammerentscheidungen:

53

¡.Kammer

14 Entscheidungen

2. Kammer

28 Entscheidungen

3. Kammer

11 Entscheidungen

Anhang

4. Willkür-Entscheidungen Rechtsgebiet

229

nach Rechts gebieten

Senate

Kammern

Insgesamt

41

16

57

davon Mietrecht

13

3

16

davon Zivilprozeßrecht

16

4

20

27

4

31

5

1

6

Zivilrecht

Strafrecht davon Strafvollzug davon Strafprozeßrecht

14

-

14

Öffentliches Recht

11

-

11

davon Asylrecht

10

-

10

5. Willkür-Entscheidungen Gerichtsbarkeit/Instanz Ordentliche Gerichtsbarkeit

nach Instanzen

Senate

Kammern

Insgesamt

69

15

84

Amtsgericht

19

3

22

Landgericht

32

7

39

5

20

Bezirksgericht Oberlandesgericht

1

1

-

15

Oberstes Landesgericht

1

-

1

Bundesgerichtshof

1

-

1

Arbeitsgerichtsbarkeit

1

-

1

Landesarbeitsgericht

1

-

1

Verwaltungsgerichtsbarkeit

12

Verwaltungsgericht

9

Oberverwaltungsgericht/ Verwaltungsgerichtshof

3

Sozialgerichtsbarkeit Landessozialgericht

1

13 9

-

1

4

1

-

1

1

-

1

230

Anhang

6. Willkür-Entscheidungen

Jahr

Entscheidungen der Senate

in zeitlicher Abfolge

Entscheidungen der Kammern

1976

1

1977

-

1978

-

1979

-

1980

1

1981

3

1982

2

1983

-

1984

2

1985

4

1986

-

1987

-

1988

-

1

1989

1

8

1990

1

15

1991

-

2 -

4

1992

2

1993

-

12

1994

-

9

1995

-

8

1996

-

6

1997

-

1

1998

-

4

1999

-

3

2000

-

3

6

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