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German Pages 32 [64] Year 1911
Zerstört die historisch-kritische Theologie den Wert der neutestamentlichen Schriften als Geschichtsquellen? Vortrag, gehalten auf der Allgemeinen Schlesischen
Predigerkonferenz zn Breslau 1910
von
Lic. theol. Albert Freitag Pastor in Prausnitz (Bez. Liegnitz).
Verlag von Alfred Töpelmann (vormals I. Ricker) ♦ Gießen ♦ 1911
Werlag von Alfred Töpetmann in Kießen Der Konfirmanden- und der Religionsunterricht in der Schule in ihrem gegenseitigen Verhältnis. Von Senior Prof. D. W. Bornemann. Geh. M. 1.80.
Johann Calvin.
Von A. Bossert.
Deutsche Übersetzung
von Prof. Dr. H. Krollick. Mit dem Bilde des Reformators. Geh. M. 3.60, in Leinen geb. M. 4.50. Schillerpredigten. Von Pastor Julius Burggraf. 2. verm. Aufl. Geh. M. 4.—, in Leinen geb. M. 5.—.
Ouellenbuch zur praktischen Theologie. Von Prof. D. Dr. Carl Clemen. I. Teil: Lehre vom Gottesdienst (Liturgik). Geh. M. 4.—, kart. M. 4.50. — II. Teil: Lehre vom Re ligionsunterricht (Katechetik). Geh. M. 2.40, kart. M. 2.80. — III. Teil: Lehre von der Kirchenverfassung (Kybernetik). Geh. M. 4.—, kart. M. 4.50.
Unsere Großstadtgemeinden, ihre Not und deren Über
windung. Von Pastor Die. Dr. Otto Dibelius. Geh. M.—.50. Die Predigt im 19. Jahrhundert. Von Prof. D. P. Drews. Kritische Bemerkungen und praktische Winke. Geh. M. 1.—.
Evangelische Jugendlehre. Von Prof. D. Karl Eger. Ein Hülfsbuch zur religiösen Jugendunterweisung nach Luthers Kleinem Katechismus (1. u. 2. Hauptstück). Geh. M. 4.80, in Leinen geb. M. 5.50.
Die Religion der Zukunft. Von Charles W. Eliot, AltersPräsident der Harvard-Universität. Geh. M. —.70. Die Evangelisationsarbeit in der belgischen Missionskirche. Von Pastor Georg Fritze. Geh. M. 1.60.
Haeckels Welträtsel und Herders Weltanschauung. Prof. Dr. A. Hansen. Geh. M. 1.20.
Von
Grenzen der Religion und Naturwissenschaft. Von Prof. Dr. A. Hansen. Zur Kritik von Haeckels monistischer Re ligion und Naturphilosophie. Geh. M. 1.20.
Zerstört die historisch-kritische Theologie den Wert der neutestamentlichen Schriften als Geschichtsquellen? Vortrag, gehalten auf der Allgemeinen Schlesischen Predigerkonferenz zu Breslau 1910
Lic. theol. Albert Freitag Pastor in Prausnitz (Bez. Liegnitz).
Verlag von Alfred Töpelmann (vormals I. Ricker) * Gießen * 1911
Vorwort. Die hier dargebotene Schrift ist ein Vortrag, der auf der kirchlichen Festwoche dieses Jahres in Breslau unter kürzender Zusammenfassung verschiedener Einzelausführungen gehalten wurde. Über die Veranlassung zu ihm gibt er selbst
Aufschluß. An ihn schloß sich eine Debatte, die als Ergebnis doch die Anerkennung der Notwendigkeit und des Wertes
historisch-kritischer Bearbeitung des Neuen Testaments nach rein wissenschaftlichen Grundsätzen zeitigte. Die von mir auf gestellten Thesen sind dieser Schrift als Inhaltsangabe voran gestellt. Erwähnt mag sein, daß der Vorsitzende der All gemeinen Schlesischen Predigerkonferenz im Rückblick auf Vortrag und Debatte es als einen Ruhmestitel der Schlesischen Pastorenschaft bezeichnen durfte, daß auch so heikle Fragen, wie die hier verhandelten, mir solch aufgeschlossenem Ver ständnis und solch brüderlicher Gesinnung besprochen werden
konnten, wie es hier geschah. Die Veröffentlichung dieses Vortrages möchte ich mit folgenden Gründen rechtfertigen: Um eine Antwort auf die Frage des Titels zu gewinnen,
habe ich möglichst kurz und doch in den Hauptsachen erschöpfend ein Bild von dem gegenwärtigen Stand der neutestamentlichen Forschung zugrunde zu legen versucht. Es sind dafür die neuesten Veröffentlichungen sowohl der kritischen, wie der traditionell gerichteten Forscher herangezogen und vom kriti schen Standpunkt aus besprochen worden. Auf diese Weise, scheint mir, wird einmal deutlich, in wie weitem Umfang wirklich sachliche Übereinstimmungen zwischen den beiden wissenschaftlichen Richtungen bestehen.
4 Sodann: Durch die Anordnung des Stoffes, die nicht jede Einzelschrist für sich betrachtet, sondern die zusammen gehörigen Schriften als Gruppen überschaut, treten die ge meinsamen Eigentümlichkeiten stärker hervor und befestigen das Urteil über die einzelne Schrift im Rahmen der gleich artigen. Das betrifft besonders die katholischen Briefe. Ich
bitte auch, zu dem Johannesevangelium die auf dasselbe zielenden Bemerkungen in der Besprechung der Synopse
hinzuzunehmen. Endlich hoffe ich, an einzelnen, scheinbar geringfügigen Punkten das kritische Urteil sachlich gestärkt zu haben. Ich rechne hierher die Beobachtungen über die Schreibergrüße bei den echten PauÜnen, über die geschichtliche Unmöglichkeit einer Zurücklassung des Timotheus in Ephesus und des Titus in Kreta in der ganzen Zeit vor den „Pastoralen" sowie über die damit zugleich erwiesene Ungeschichtlichkeit einer Reise des Paulus nach dem Osten oder gar nach Spanien zwischen der ersten Apologie und diesen „zweiten" Gefangenschafts briefen, endlich über die genaueste Nachbildung des Situations rahmens der Pastoralen nach den Situationen der echten
Paulusbriefe. Im übrigen glaube ich, die gestellte Frage in hinlänglich deutlichem positiven Sinne beantwortet zu haben.
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Thesen zur Allgemeinen Schlesischen Predigerkonferenz am 5. Oktober 1910. 1. Das Neue Testament unterliegt als geschichtlich ge
wordenes Dokument des Christentums der historisch-kritischen Forschung, die, wie bei jeder anderen Urkunde, ihre Arbeit nach der in ihr selbst liegenden Methode tut.
2. In der Tat ist alle wissenschaftliche Arbeit am Neuen Testament heutzutage historisch-kritisch, wenn auch eine mehr
kritisch
und
eine mehr traditionell gerichtete Gruppe von
Forschern unterschieden werden muß. 3. Die von der kritischen unter teilweiser Zustimmung der traditionellen Gruppe spät angesetzten Schriften des Neuen Testaments (die Johannesschriften, die Pseudopaulinen und die dem Urapostelkreis sonst noch zugeschriebenen Briefe) be
halten trotzdem ihren Wert als Dokumente des schweren und doch so wichtigen Kampfes der Christenheit gegen die nieder drückende Wucht der ersten Verfolgungen, gegen den lähmen den Einfluß der entstehenden Gnosis auf das christliche Glaubens- und Sittenleben und gegen die zersetzende Wir kung einströmender Weltförmigkeit und erkaltender Parusieerwartung auf das christlich-brüderliche Gemeindeleben. 4. Paulus bleibt trotz der von beiden Theologen gruppen anerkannten Verwandtschaft seiner Theologie mit den 'spätjüdischen Messtaserwartungen und trotz seiner ebenfalls beiderseits als Kampfeslehre erkannten Rechtfertigungslehre doch von unendlicher Bedeutung für die Geschichte des Christen tums als derjenige, welcher die von Jesus gebrachte Weite und Freiheit der Religion geschichtlich realisiert und die Be
deutung Jesu für den Glauben durch eine Theologie gesichert hat, die doch zugleich für ihn durchaus Religion war. 5. Das Lebensbild Jesu nach der Synopse behält trotz der wiederum von den beiden theologischen Gruppen gemeinsam bis in die allererste Überlieferung hinein voll zogenen kritischen Sonderung doch die klare Übersichtlichkeit
und die Seelen bezwingende Gewalt.
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Dieses mir von dem Ausschuß der Allgemeinen Schlesi schen Predigerkonferenz gestellte Thema geht seiner Entstehung
nach zurück auf die jüngste Bestreitung, welche die Geschicht lichkeit Jesu erfahren hat.*) Mit Artur Drews selbst aller dings haben wir es nicht zu tun.
Anderen voran hat ihn
bereits Weinel in Wort und Schrift?) nach Gebühr abgefertigt
und über ihn und andere „Forscher" seines Schlages das Urteil gefällt: „Alle diese Bücher sind Werke eines krassen Dilettantismus. Ich sage das nicht im Sinne eines theolo gischen Zunftbewußtseins, obwohl man doch diesen frechen
Anfällen von Drews gegenüber auch einmal sagen darf, daß
er das meiste und jedenfalls, was richtig an seinem Buch ist, von Theologen und gerade von uns, die wir die religions vergleichende Arbeit mit den Philologen zusammen getan haben, abgeschrieben hat. Ich meine mit Dilettantismus dies, daß den Verfassern dieser Bücher nicht nur die Einsichten fehlen, die sich nur aus intimer, wiederholter und eindringen der Arbeit an irgendeinem Stoff gewinnen lassen — jeder ernstlich wissenschaftlich arbeitende Mensch weiß, daß man solche Einsichten nur durch lange hingebende Arbeit gewinnt
unterläßt Husarenritte in fremde Gebiete —, sondern diese Leute haben auch oft nicht einmal die elementarsten und
(theologischen) Kenntnisse." Aber gerade dies, was Weinel hier auch hervorhebt, daß
nämlich Drews das meiste und jedenfalls das Richtige in
seinem Buch von Theologen und gerade von den kritischen Theologen, welche die religionsvergleichende Arbeit mit den Philologen zusammen getan hätten, abgeschrieben habe, — das ist es, was, wie auch früher schon, nun bei Gelegenheit
*) Artur Drews, Die Christusmythe, 2. Aufl. 1910 und die Vor träge desselben in Jena, Berlin usw. im selben Jahr. 2) Weinel, Ist das liberale Jesusbild widerlegt? 1910. Die zitierte Stelle: S. 6 f.
7 des Drewsschen Auftretens aufs neue der historisch-kritischen Theologie zum Vorwurf gemacht wurde. „Ich begreife es, daß die Vertreter der radikalen Theologie unruhig werden, wenn ein Professor der Philosophie nicht nur in einem so genannten wissenschaftlichen Buche, das wenig Beachtung findet, sondern als Agitator in öffentlichen Volksversamm lungen die letzten Konsequenzen eben dieser radikalen historischkritischen Theologie zieht," — so hieß es in einer Rede der Berliner Protestversammlung gegen Artur Drews am 20. Februar d. I?) Wenn hier auch in sachlicher Überein stimmung mit Weinel das Buch von Drews nur als ein „so
genanntes wissenschaftliches" und dieser selbst als „Agitator" richtig charakterisiert werden, so wird doch ebenso deutlich die
„radikale historisch-kritische Theologie" als die Wurzel des Drewsschen Angriffs auf die Geschichtlichkeit Jesu gekenn zeichnet. Und diese Stimme war nur eine neben anderen?)
Von diesem Vorwurf zwar ausgehend, läßt unser Thema nun doch den besonderen Anlaß zu demselben beiseite und erweitert das Problem über das Leben Jesu hinaus, indem es, aufs Ganze schauend,
die Frage stellt: „Zerstört die historisch-kritische Theologie den Wert der neutestamentlichen Schriften als Geschichtsquellen?" Eine solche Unter suchung ist zweifellos von ebenso großer Bedeutung für eine zutreffende Beurteilung der historisch-kritischen Theologie wie für diese selbst: Sie liefert ein Bild von der gesamten historisch kritischen Arbeit am Neuen Testament und von den Nötigungen, die zu ihr geführt haben und immer wieder zu ihr führen. Und sie gibt andrerseits, als eine große Revue, die sie ist, eben dieser Theologie Gelegenheit, sich selbst zu prüfen. Zweierlei ist aber noch vorauszuschicken.
Einmal dies, was eigentlich deutlich genug aus unserm Thema hervorgeht, was aber doch noch ausdrücklich festgestellt ’) In dem Flugblatt des „Reichsboten": „Jesus lebt!", S. 6. 2) In der „Reformation" 1910 Nr. 11 S. 172 f.; Nr. 12 S. 179 f.; im „Reichsboten" (vgl. „Chronik der christl. Welt" 1910 Nr. 19 S. 221).
8 sein möge: Wir wollen in unserm Vortrag nichts über die Religion aussagen, die sich auf den im Neuen Testament niedergelegten Glaubensanschauungen aufbaut. Darüber hat jüngst v. Soden gehandelt, indem er die Frage untersuchte:
„Steigert oder schwächt die historisch-kritische Behandlung des Neuen Testaments dessen Bedeutung für das religiöse Leben?"*)
Wir hier haben es lediglich mit einer Darstellung historischen Arbeit am Neuen Testament zu tun.
der
Darin liegt aber auch das andere: Unsere Untersuchung darf sich durch keinerlei Rücksicht auf das Religiöse
irgendwie bestimmen lassen. Das eben liegt in dem Begriff der historisch-kritischen oder man kann auch allein
sagen: der historischen Theologie. Wir rühren hier an eine prinzipielle Frage. Die theologische Wissenschaft steht durch aus auf dem gleichen Boden wie jede andere Wissenschaft. Mit der längst als unhaltbar dahingesunkenen Wortinspiration
der Heiligen Schrift hat sie jeden Anspruch auf eine Sonder stellung im Kreis ihrer Schwestern aufgegeben. Wie wir die katholische Theologie für gebunden halten, weil sie zu keinen
anderen Resultaten kommen darf, als die Kirche sie vorge schrieben hat, so würde die evangelische Theologie ebenso gebunden sein, sobald sie nicht ausschließlich nach den in ihr
als Wissenschaft selbst liegenden Voraussetzungen, Gmndsätzen, Richtlinien arbeiten wollte. Es ist doch ein sehr beachtens wertes Zeichen für den vorschreitenden Sieg dieser eigentlich selbstverständlichen Erkenntnis, daß jüngst wieder aus dem Kreise der wirklich gelehrten katholischen Theologen ein Buch erschienen ist wie das des Professors Schnitzer: „Hat Jesus das Papsttum gestiftet?^), in welchem für den neutestamentlichen Teil des Problems die Arbeiten der historisch-kritischen pro testantischen Theologie zugrunde gelegt werden. Da wir die Urkunde unseres Glaubens, das Neue Testament, in der Form einer geschichtlichen Überlieferung besitzen, so unterliegt *) Auf dem „Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt" in Berlin 1910. 2) Verlag von Lamport & Komp., Augsburg. 2. Aufl. 1910.
9 sie gleich jedem andern profangeschichtlichen Dokument zu nächst der historischen Forschung und ihrer Kritik. Danach kann die Religion, der es unbenommen bleibt, unter den von der Wissenschaft aufgezeigten verschiedenen Stufen der reli giösen Entwicklung zu wählen oder sie zu verbinden, auf ihren
historischen Grundlagen sicher bauen. Tut aber die Theologie diese ihre wissenschaftliche Pflicht nicht oder leistet sie ihre Arbeit nach anderen Grundsätzen als nach denen der Profan
geschichtsforschung, so tritt diese auf den Plan und bemächtigt sich der historischen Dokumente und Überlieferungen der Reli gion.
Gar leicht gerät dann mit den erdenen Gefäßen zu
gleich der religiöse Ewigkeitsinhalt in Gefahr, als wertlos beiseite geschoben zu werden. Diese Sachlage wird genügend
durch die Zusammenstellungen: Babel und Bibel, Buddha und Christus und neuerdings: Gilgamesch und Christus ge kennzeichnet. In der Tat ist historische Kritik auch heute der Charakter
aller wirklich wissenschaftlichen Arbeit an den neutestamentlichen Schriften. Daß dabei eine große Mannigfaltigkeit der Auffassungen möglich und auch tatsächlich vorhanden ist, be darf kaum eines Hinweises. Gerade für das Neue Testa
ment haben die letzten Jahre eine Fülle neuer Probleme ge
bracht und neue tauchen auf. Es ist kein Wunder, daß gegenwärtig alles im Fluß zu sein scheint. Mehr als früher tritt hier ein stärkeres oder schwächeres Abbiegen von der Tradition, dort ein erheblicheres oder geringeres Zurück
kommen von dem oder jenem kritischen Standpunkt hervor. Es liegt in der Art der wissenschaftlichen Arbeit, in ihrer weiteren Entfaltung sich selbst an den notwendigen Punkten zu korrigieren.
Man wird, — und damit schließen wir unsere Vor bemerkungen, — wie eben angedeutet, zwei Gruppen in dieser historisch-kritischen Arbeit am Neuen Testament unterscheiden
müssen, — dieselben, die sich auf jedem wissenschaftlichen Arbeitsgebiet, es sei, welches es wolle, auch finden: eine mehr traditionell, eine mehr kritisch gerichtete.
Hier und da grenzen
10 sie sich scharf gegeneinander ab, auf weite Strecken ist die
Grenzlinie nicht stark markiert oder die Schranken sind ganz gefallen. Das Wichtige aus diesem Verhältnis der beiden Gruppen zueinander wird die Einzelausführung aufzeigen. Hier möge nur als Zeichen, wie sich solche Verständi
gungen anbahnen, ganz kurz eine Inhaltsübersicht über die beiden neuesten Theologien des Neuen Testaments hergestellt sein, welche auf feiten der traditionell gerichteten Gruppe im gegenwärtigen Jahr erschienen sind: Feine behandelt in
der seinigen: Die Lehre Jesu nach der Synopse; Theologische Gedanken der Urgemeinde; Theologie des Paulus; Theologie der nachpaulinischen Christen (Hebr. Jak. 1. Petr. Jud. 2. Petr. Mark. Matth. Luk. Apostelgesch.); Die Lehre der johanneischen Christen. Selbst der Biblizist Schlatter teilt den zweiten Band seiner Theologie des Neuen Testaments in eine Darstellung der Lehre der „Gefährten Jesu", und zwar in der Reihenfolge: Matthäus, Jakobus, Judas, Johannes,
Petrus; sodann des Paulus, endlich der Mitarbeiter der Apostel: Lukas, des Verfassers des Hebräerbriefs und desjenigen des zweiten Petrusbriefs.
Die andere, weniger traditionelle, mehr kritische Gruppe, der man leicht eine zu große Hinneigung zur Skepsis zu schreiben könnte, finde ich eben gerade in diesem grundsätzlichen Punkt am besten charakterisiert durch ein noch junges Wort Wernles: „Skepsis ist für die Wissenschaft nie mehr als ein
methodisches Hilfsmittel, das dann gebraucht werden muß, wenn der gegebene Tatbestand durch seine Widersprüche die
Skepsis herausfordert."*)
Für die Beantwortung unserer Frage, vor der wir nun stehen: „Zerstört die historisch-kritische Theologie den Wert der neutestamentlichen Schriften als Geschichtsquellen?" haben wir unser Augenmerk vor allem auf die Aufstellungen dieser zuletzt genannten Gruppe zu richten, da von ihr als der kritischeren am ehesten eine eventuelle Zerstörung im Sinne
') .In der „Christi. Welt" 1910 Nr. 19 Sp. 442.
11 unserer Frage zu erwarten steht.
Die Auffassungen der mehr
traditionellen Gruppe werden in Ablehnung oder Zustimmung dabei herangezogen werden. Daß vielerlei von dem, was eine unkritische Betrachtung für geschichtlich hält, allerdings dahinfällt, ist bei einer historisch-kritischen Behandlung des Neuen Testaments selbstverständlich. Aus dem Folgenden
wird sich ein Urteil bilden lassen, ob der Verlust oder der Gewinn das Größere ist. Wir versuchen unsern Stoff nach Komplexen zu ordnen, von dem Späten zum Frühesten, von dem Peripherischen zum
Kern schreitend. I.
Die spaten Schriften des Neuen Testaments. Fünfzehn von den siebenundzwanzig Schriften des neu« testamentlichen Kanons werden von der kritischen Richtung der neutestamentlichen Forschung als Pseudepigraphen be
urteilt, d. h. sie erfahren eine andere Ansetzung und Einschätzung, als sie selbst (und die Tradition) es beanspmchen. Es sind dies die fünf Johannesschriften, der zweite Thessalonicher-, der Epheser- und die drei Pastoralbriefe, der Hebräerbrief und die Briefe von Petrus, Jakobus und Judas. Auf den ersten Blick scheint es vermessen zu sein, so viele
Schriften für „unecht" zu erklären und ihren Verfassern damit zugleich den Vorwurf der „Fälschung" zu machen. Aber für das Altertum, — das sei zunächst festgestellt, — haben die
Begriffe „geistiges Eigentum" und „literarische Fälschung" nicht in der gleichen Weise wie für uns Heutige bestanden. Das berühmteste Beispiel dafür ist Plato, der seinem Sokrates
im Unterschied zu dem des Xenophon unbedenklich seine eigenen Ideen in den Mund gelegt hat. Dasselbe beweist die außer ordentlich große Zahl der sofort als pseudonyme erkennbaren
Schriften, welche gerade zu der Zeit, als das Neue Testament entstand, im Judentum eben erst entstanden waren und im Christentum fortwährend entstanden. Über sie wird gleich noch einiges zu sagen sein.
Und auch das moderne Empfinden
söhnt sich wohl unschwer mit derartigen „Fälschungen" aus,
12 wenn es erkannt hat, wie diese „Fälscher" nicht etiba aus irgendwelchem Hochmut sich die Namen berühmter Apostel anmaßen, sondern nur dazu, um ihren ihrer Zeit so bitter notwendigen Mahnungen oder Tröstungen eine Autorität zu geben, die sie selbst nicht besaßen. Auf die Frage, wie der artige fingierte Apostelschriften in die Öffentlichkeit eingeführt
sein mögen, darf man wohl auf den Bericht von der Ein führung des Deuteronomiums (2. Kön. 22,3 ff.) verweisen: Als im achtzehnten Jahre des Josias, 621, der Kanzler Saphan einmal amtlich im Tempel zu tun hatte, überreichte ihm der Priester Hilkia ein Gesetzbuch, welches man im Tempel
gefunden habe.
Saphan nahm das Buch an sich und brachte
es dem König, dem er es sofort vorlas. Der Eindruck dieser Vorlesung auf den König muß ein ganz gewaltiger gewesen
fein,1) — denn von da ab datiert jene berühmte Kultusreform,
welche die in Form eines heiligen Buches dem König dar gebotenen Gedanken der solange unterdrückten Prophetenpartei zur Ausführung brachte. In ähnlicher Weise mag ein reisender Bruder, ein Wanderlehrer, ein Vorsteher der Gemeinde, der entweder der Verfasser selbst ist oder den Brief von anderswoher zugesendet erhalten oder selbst entliehen hatte, das Schriftstück plötzlich in der Gemeindeversammlung vorgelesen haben. Ein großer Teil dieser Briefe sind ja Rundschreiben; der Austausch von Gemeinde zu Gemeinde wird früh geübt worden sein (Kol. 4,16); im allgemeinen war die Entwicklung im Innern der Ge meinden, vielfach auch ihr äußeres Schicksal gleichartig, so daß ein Brief in der Regel vielen dienen konnte. Die Briefe
selbst muten ja wie Variationen nur einiger Themen an. Schon in dem alten Namen „katholisch" spricht sich diese Beobachtung aus. In einigen Fällen, wo konkrete Angaben in einem Briefe sich
etwa mit der tatsächlichen Gegenwart oder Geschichte der in ihm genannten Gemeinde nicht decken, z. B. in der Fiktion, daß Timotheus in Ephesus (1. Tim. 1,3) und Titus in Kreta (Tit. 1,5) geblieben sei, wird der Brief an einem andern Orte als dem in ihm genannten aufgetaucht
*) Nach Cornill, Der israelitische Prophetismus, 3.9IufI.1900,