Wozu Literatur(-wissenschaft)?: Methoden, Funktionen, Perspektiven [1 ed.] 9783737009430, 9783847109433


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Wozu Literatur(-wissenschaft)?: Methoden, Funktionen, Perspektiven [1 ed.]
 9783737009430, 9783847109433

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Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst

Band 14

Herausgegeben von Uwe Baumann, Michael Bernsen und Paul Geyer

Andreas Haarmann / Cora Rok (Hg.)

Wozu Literatur(-wissenschaft)? Methoden, Funktionen, Perspektiven

Mit 4 Abbildungen

V& R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verçffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Philosophischen FakultÐt der UniversitÐt Bonn.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Stillleben mit brennender Kerze – Pieter Claesz (1596/97–1660),  Blauel/ARTOTHEK Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-610X ISBN 978-3-7370-0943-0

Zu Ehren von Paul Geyer, Willi Jung und Winfried Wehle

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Funktionen und Nutzen der Literatur(-wissenschaft) Karlheinz Stierle Vom Nutzen der Literaturwissenschaft für das Leben oder Der Literaturwissenschaftler als Kanalarbeiter . . . . . . . . . . . . . . .

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Marion Gymnich Wozu Literatur(-wissenschaft)? – Funktionsgeschichtliche Überlegungen unter Bezugnahme auf Beispiele des anglophonen Romans vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Helmut Meter Wider den Zeitgeist. Vom Nutzen der Beschäftigung mit literarischer Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Roland Alexander Ißler Wozu romanische Literaturwissenschaft im Lehramtsstudium? Zur kulturellen und ästhetischen Bildungsverantwortung der Romanistik in der universitären Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Mario Domenichelli Les politiques de la litt8rature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Anne-Marie Bonnet Wozu / Wieso Kunstgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

8

Inhalt

2. Literaturwissenschaft in der Praxis – Methoden und Beispiele Uwe Baumann Grenzgebiete: Repräsentationen von politischer Gewalt und politischer Furcht in der Geschichte, Kultur und Literatur der Englischen Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Wolfgang Matzat Der Roman als Medium des sozialen Imaginären . . . . . . . . . . . . . . 159 Claudia Jünke Jenseits der Logik der Konkurrenz – Literatur und Film über traumatische Geschichte (Laurent Mauvigniers Des hommes und Michael Hanekes Cach8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Patricia Oster-Stierle Aschenbach im Fokus oder vom Nutzen der hermeneutischen Fokalisierungstheorie. Die »seltsame Traumlogik« des Protagonisten in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Michel Delon Nuages sans frontiHres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 G8rard Laudin Ecriture savante et 8criture litt8raire de l’histoire. L’id8e de ‹ Standort › et de ‹ Gesichtspunct › de Johann Christoph Gatterer et ses d8veloppements directs et indirects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

3. Perspektiven auf Autor, Gattung und Leser Michael Neumann Ins Abseits. Vom Genie zur Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Monika Schmitz-Emans Poetikvorlesungen literarischer Autoren als Selbstbefragung, Selbstpositionierung und Selbstinszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Dieter Janik Grenzziehung: Dichtung ist nicht Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Henryk Chudak La litt8rature a besoin de lecteurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Inhalt

9

Michela Landi L’amateur de livres (une r8flexion d’aprHs Charles Nodier) . . . . . . . . 285 Patrizio Collini Die Welt von gestern: das Antiquariat als Wunderkammer

. . . . . . . . 295

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Vorwort

Der Literaturwissenschaftler steht vor der besonderen Herausforderung, einer nicht selten sehr persönlichen Leidenschaft die nötige Nüchternheit beizumengen, um seinem Gegenstand nicht nur mit den Augen des amateur zu begegnen, sondern seinen Blick für Sachverhalte zu schärfen, die ihm als dilettante, im Modus des reinen Genusses, vermutlich entgangen wären. Damit wähnt er sich doch unter Umständen in dem zweifelhaften Ruf, einen Bereich des Menschlichen zu professionalisieren, der im Allgemeinen dem Privaten vorbehalten ist. Zudem scheint es, als müsse der Literaturwissenschaftler – insbesondere als Romanist – für eine zugleich vertiefte und breite Kenntnis mindestens zweier Nationalliteraturen von ihren Anfängen bis zur Gegenwart das weite semantische Feld des Amateurs in all seinen Facetten durchschreiten, von der Liebhaberei bis zur Unzulänglichkeit. Dieser Schwierigkeit versucht man seit einiger Zeit mit Mitteln elektronischer Texterfassung zu entkommen. Auf das aufrichtige Eingeständnis, nicht so viel lesen zu können, wie man gerne wissen wollte, folgt die etwas vermessene Konsequenz, gar nicht allzu viel lesen zu müssen, um dennoch mitreden zu können. Unter dem modischen, zukunftsweisenden Begriff der Digital Humanities, den man provokant mit ›Humanismus auf Knopfdruck‹ übersetzen könnte, wird die Dilthey’sche Einsicht zum Verschwinden gebracht, dass Humanities und Sciences einen von Grund auf unterschiedlichen Weltzugang pflegen. Dem Verständnis ist wohl kaum näherzukommen, indem man sich vor dem (prozesshaften) Verstehen drückt. Die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes wählen durchweg anspruchsvollere Wege, um den Problemen beizukommen, welche sich aus der berufsmäßigen Beschäftigung mit Literatur ergeben. Sie stehen – so verschieden die Forschungstraditionen auch sein mögen, aus denen sie hervorgehen – für das Konzept einer Literatur- als Geisteswissenschaft ein und bieten teils theoretische Rahmungen, teils konkrete Anwendungsbeispiele dafür an, wie eine zeitgenössische Wissenschaft von der Literatur ausgestaltet sein kann. Sie tun dies in Erinnerung an die Tagung 200 – Wozu Literatur(-wissenschaft)?, die im Juni 2015

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Vorwort

an der Universität Bonn zu Ehren der drei Jubilare Paul Geyer, Willi Jung und Winfried Wehle abgehalten wurde, die zu jenem Zeitpunkt zusammengenommen 200 Jahre Lebenszeit auf die Waage der Romanistik brachten. Alle drei Jubilare dürfen als Amateure im ursprünglichen Wortsinn gelten, insofern sie für leidenschaftliche Liebe zum geschriebenen Wort stehen und diese weiterzugeben imstande sind: Die Herausgeber nehmen für sich in Anspruch, aus eigener Erfahrung sprechen zu dürfen. Dem großen Balzacien unter den Geehrten werden die folgenden Worte Stendhals an seinen realistischen Mitstreiter zweifellos vertraut sein; der radikale Neuerer des Stils schreibt an Balzac: »Le mÞme esprit ne dure que deux cents ans«. Dem widersprechen zu wollen, würde vor allem den beiden gefeierten ›Prozessdenkern‹ aufstoßen, doch sei uns die Prognose gestattet, dass das beeindruckende Werk, auf das Paul Geyer, Willi Jung und Winfried Wehle schon heute zurückblicken dürfen, so viel Kraft und Inspiration bereithält, dass es ohne Weiteres noch mindestens zwei Jahrhunderte länger strahlen wird. Bonn im September 2018 Andreas Haarmann und Cora Rok

Einleitung

Das Problem, das sich aus dem Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft ergibt, könnte man einerseits umschreiben als Müßigkeit zweiten Grades: Ce vice impuni, la lecture, wie Valery Larbaud es genannt hat, wird gleichsam nur sündhafter, indem man sich mit dem Zeitvertreib die potentiell ›produktive‹ Zeit vertreibt. Damit wäre Literaturwissenschaft in gewisser Weise nur Dichtung über Dichtung, wenn diese verfremdende Anleihe bei Winfried Wehle erlaubt ist. Andererseits steht schnell als Spielverderber da, wer sich leidenschaftslos dem Vergnüglichen annähert. Gerade die Wirkung von Dichtung nämlich, so hört man vielfach von Studenten, die der Literatur grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen, leide darunter, wenn diese mit staubigen Begriffen aus der rhetorischen Mottenkiste malträtiert würde. Die Literaturwissenschaft steht in beiden Fällen im Verdacht, nichts ›Nützliches‹ zu erbringen: einmal, weil der Text für sich selbst stehe und spreche, ein andermal, weil die wissenschaftliche Auslegung der ästhetischen Qualität des Textes ohnehin nur schade. Beide Vorwürfe lassen sich jedoch leicht entkräften. So besteht im ersten Fall die Macht der Philologie eben darin, besonders ältere Texte für das Verständnis freizulegen, die aus einem dem gegenwärtigen Leser in der Regel fremden und nicht ohne Weiteres zugänglichen Zusammenspiel von epochentypischen ästhetischen, gesellschaftlichen, modischen und anderen Faktoren entstanden sind. Insofern man hier mit Gumbrecht von Präsenzproduktion sprechen möchte, darf der Literaturwissenschaftler also durchaus für sich reklamieren, ›produktiv‹ zu sein. Wer schon miterlebt hat, wie sich Museumsbesucher bei unterschiedlichsten Ausstellungen um die das jeweilige Exponat begleitende ›Einordnung‹ scharen, ist wohl eher geneigt anzuerkennen, dass dem kundigen Literaturexperten doch die schwierige Aufgabe zusteht, das dichte und sich in verschiedensten Schichten überlappende Zeichengeflecht einer nicht-bildlichen, per se also hoch abstrakten Kunstform auszudeuten. Im zweiten Fall ist zunächst schlicht zu entgegnen, dass vermeintliche Trockenheit wohl der Preis für jede Art wissenschaftlichen Arbeitens ist. Auch dem Ingenieur wird das Fahrgefühl, das ihm ein Sportwagen vermittelt, womöglich mehr Ver-

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Einleitung

gnügen bereiten als die langwierige und kleinteilige Entwicklung eines neuen Getriebes. Wiederum mag es auch genau umgekehrt zugehen, dass erst durch das Herantasten an ein Schriftstück mit literaturwissenschaftlichem Handwerkszeug die Raffinesse des dann als solchen erkannten Kunstwerks oder die Intention eines Autors zutage tritt und also ein erhabener Genuss durch mühsam erarbeitetes Verständnis ermöglicht wird. In all der Verunsicherung über den Sinn des Literaturstudiums schwingt auch die Furcht um den völligen Wertverlust des Mediums selbst mit. Dass Film, Comic, Computerspiel und die Millionen von Zuschauern bannenden Angebote von Streamingdiensten der Literatur als »Leitmedium, in dem sich moderne Gesellschaften über sich selbst verständigen«1, den Rang abgelaufen haben; dass die Dekonstruktion eines dynamischen Kanons, an der die Literaturwissenschaft im Übrigen selbst am stärksten mitgewirkt hat, dem Ansehen von Literatur nachhaltig Schaden zugefügt hat; dass sich wandelnde Aufmerksamkeitsstrukturen dazu beitragen, dass die Rezeption ästhetisch und intellektuell anspruchsvoller Texte immer mehr als Zumutung empfunden wird – all dies sind Gemeinplätze, die inzwischen nicht mehr nur das Feuilleton ausgesuchter Zeitungen füllen, sondern es in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit geschafft haben. Wer aber darauf hinweist, dass die Literatur ihren Rang als zentrales Medium eines kulturellen Gedächtnisses schon längst abgetreten hat, kommt doch nicht umhin anzuerkennen, dass sie eben diese Scharnierstellung über etliche Jahrhunderte allein innehatte. Ihr Studium, als ein zutiefst geschichtliches, ist nichts weniger als eine Reise in teils weit entlegene Gebiete der menschlichen Verfasstheit. Hier ist mit Paul Geyer am treffendsten von ›literarischer Anthropologie‹ zu sprechen. Grund zur Verzweiflung gibt es angesichts der Frage nach der Relevanz literaturwissenschaftlicher Arbeit nicht, wie die hier versammelten Beiträge auf je unterschiedliche Weise zeigen. Zwar wird die Art der Wissensproduktion wohl nie den (klein-)bürgerlichen Vorstellungen von Produktivität entsprechen, weil »das philologische Wissen nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen kann und nicht zum Wissen von Fakten gerinnen darf«2. Dem Archäologen gleich kann der Literaturwissenschaftler aber – Werk um Werk, Epoche für Epoche – mit der ihm eigenen Sorgfalt die Schichten freilegen, aus denen sich der Boden zusammensetzt, worauf heutige Identitätskonstruktionen zwangsläufig aufbauen. Die Literaturwissenschaft ist dabei wie neben ihr vielleicht nur die Geschichtswissenschaft und die Kunstgeschichte in der Lage, 1 Paul Geyer, »Romanistik als europäische Kulturwissenschaft«, in: Romanische Forschungen 3 (2008), S. 344–349, S. 346. 2 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 172, (Herv. d. Verf.).

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Einleitung

einem der vermutlich drängendsten Bedürfnisse eben jener Kreise, aus denen ihr die harscheste Kritik entgegenschlägt, zu entsprechen: Mögliche Antworten auf die Frage nach der kulturellen Identität einer ›imagined community‹ geben zu können. *

Eingeleitet wird die erste der drei Sektionen dieses Bandes (Funktionen und Nutzen der Literatur[-wissenschaft]) mit einem Beitrag Karlheinz Stierles (S. 23–29), der den Literaturwissenschaftler als einen »Textdienstleister« erfasst, der für die gelingende literarische Kommunikation zwischen Text und Leser verantwortlich ist; als eine Art »Kanalarbeiter« hat er dafür Sorge zu tragen, dass auch noch bei anspruchsvoller Lektüre der ›Sinn fließen‹ könne. Darüber hinaus erinnert Stierle an den zu pflegenden Dialog der Literaturwissenschaft mit der Literaturkritik, die ihrerseits von einer kaum mehr vorhandenen literaturhistorischen Perspektive profitieren würde. Marion Gymnichs (S. 31–46) Ausführungen ergänzen das Bild des sinnstiftenden Literaturwissenschaftlers. Unter Bezugnahme auf Zapfs triadisches Modell, nach dem Literatur sowohl soziale Missstände aufzudecken als auch einen »imaginativen Gegen-« sowie »reintegrativen Interdiskurs« aufzustellen imstande sei, und das von Erll und Nünning herausgearbeitete Konzept von Literatur als kulturellem Gedächtnis werden verschiedene Funktionsweisen von Literatur vorgestellt, um abschließend an die immer drängender werdende Aufgabe des Literaturwissenschaftlers zu erinnern, literarische Zitate, die zu inflationär gebrauchten Floskeln verkommen sind (›to be or not to be‹) oder von der Populärkultur zweckentfremdet wurden, in ihren literaturgeschichtlichen Kontext und ihre eigene sprachlich-stilistische Dimension zurückführen zu können. Wie es um das gesellschaftliche Interesse für die nationalspezifische sowie gesamteuropäische literarische Tradition bestellt ist, lotet Helmut Meter (S. 47–59) aus und liefert einen bildungspolitischen Vorschlag, wie durch die Bearbeitung und den Vergleich kurzer literarischer Texte unterschiedlicher Sprach- und Kulturräume im Schulunterricht schon früh die Weichen nicht nur für die Erkenntnis transnationaler narrativer Erzählmuster, sondern einer gemeinschaftlichen Identität gelegt werden könnten, um dem gegenwärtigen und zukünftigen Europadiskurs die ›verloren gegangene inhaltliche Substanz‹ zurückzugeben. Vertieft wird die bildungspolitische Perspektive von Roland Ißler (S. 61– 81), der die durch den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GeR) und schulische Lehrpläne festgelegten Lehrinhalte im Sprachunterricht kritisch betrachtet, die immer weniger einem humanistischen Bildungsgedanken folgen, sondern sich auf verwertbares, zweckgebundenes Wissen reduzieren. Das

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Einleitung

Schiller’sche Ideal einer ästhetischen Bildung im Hinterkopf, werden Argumente für den Erwerb von Lesekompetenzen durch ›literarisches Lesen‹ geliefert. Für Mario Domenichelli (S. 83–92) ist die Frage nach dem Zweck von Literaturwissenschaft mit der Frage nach der Rolle des Intellektuellen verbunden. Seit Edward Said, so Domenichelli, gebe es keine ›engagierten‹ Literaturwissenschaftler mehr, es seien beinah ausschließlich bekannte Historiker und Soziologen, die sich in gesellschaftliche Debatten einschalteten. Die Aufgabe des Intellektuellen, der wie schon der antike Philosoph eine Randstellung einnimmt, wird in diesem Beitrag beschrieben als ein fort- und ausdauernder Kampf gegen das Vergessen, welches dem kulturellen Gedächtnis in der Massenkultur droht. Der Literaturwissenschaftler ist hier ein (glücklicher?) Exilant, der sich den Blick von außen vorbehält. Beendet wird die Sektion mit einem Beitrag von Anne-Marie Bonnet (S. 93–107), die die Leitfrage des Sammelbandes auf die Kunstgeschichte überträgt und die Aufgaben des Kunsthistorikers seit der Entstehung von Museen vor allem in der Rekontextualisierung und Einbettung in neue Ordnungssysteme von vormals in religiösen Zusammenhängen entstandenen und präsentierten Werken erkennt. Komplementär zu Karlheinz Stierle erinnert Bonnet an die Rolle der Kunstkritik, die sich eher der Bewertung aktueller Produktionen zuwendet, während die Kunstgeschichte vornehmlich historisch arbeitet. Zugleich verweist sie auf die Rolle der Museumskuratoren, die den Kanon der Kunstgeschichte zwar verwalten, aber auch Marktgesetzen und Kulturpolitik unterliegen und daher von einer unabhängigen Kunstgeschichtsschreibung korrigiert werden könnten. Die zweite Sektion (Literaturwissenschaft in der Praxis – Methoden und Beispiele) wird von Uwe Baumann (S. 111–157) eingeleitet, der anhand politischer Epigramme Thomas Mores, sogenannter ›Römerdramen‹ und politischer Tragödien, Christopher Marlowes Tamburlaine, William Shakespeares Macbeth und Colley Cibbers Xerxes, sowie weiterer kultureller Repräsentationen zeigt, wie von der klassischen Antike geprägte Darstellungstopoi der Angst, Gewalt und Furcht in der Englischen Renaissance variiert und politisch funktionalisiert werden; durch die lyrische oder publikumswirksame, dramatische Inszenierung entfaltet Literatur eine subversive Kraft und war imstande, Tyrannen zu demaskieren und sie in Angst um ihre Stellung zu versetzen. Wolfgang Matzat (S. 159–171) geht es in seinem Beitrag nicht um den Zweck von Literatur allgemein, sondern um die besondere Rolle, die der moderne Roman seit seiner Herausbildung in der Frühen Neuzeit für die Modellierung eines ›sozialen Imaginären‹ spielt. Am Beispiel des Don Quijote führt er einerseits vor, wie durch soziale Markierungen von Figuren und Milieu eine Regionalisierung des Romans einsetzt, der sich allmählich aus seiner gesamteuropäischen Rahmung löst, um – in diesem Fall – spezifisch spanische Frage-

Einleitung

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stellungen zu fokussieren; anderseits wird uns der Roman als dasjenige Medium vorgestellt, in welchem dem Leser Erfahrungen und Gefühle eines anderen Individuums zugänglich gemacht werden, das sich in einer Welt bewegt, die auch die seine ist. Es wird dabei deutlich, welch große Bedeutung der Roman seit seinen Anfängen für die Selbstreflexion moderner Gesellschaften hat. Nach Claudia Jünke (S. 173–188) stehen auch die Funktionen und die gesellschaftliche Relevanz des Mediums Film zur Debatte; in ihrem Beitrag zeigt sie anhand der Analyse zweier zeitgenössischer Werke, Laurent Mauvigniers Roman Des hommes und Michael Hanekes Film Cach8, wie sich Literatur und Film mit unterschiedlichen sprachlichen und visuellen Darstellungsverfahren demselben Thema mit einer ähnlich aufklärerischen Intention nähern und imstande sind, das individuelle und kollektive Trauma der französischen Bevölkerung angesichts des Algerienkriegs ›erzählbar‹ zu machen und damit zu einer (selbst-)kritischen Vergangenheitsbewältigung beitragen können. In ihrem Beitrag führt Patricia Oster-Stierle (S. 189–206) an Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig vor, wie mit dem von G8rard Genette stammenden Begriff der Fokalisierung, der durch eine hermeneutische Perspektive ergänzt wird, verschiedene Blickkonstellationen und Bewusstseinsebenen des Protagonisten offengelegt werden können. Durch einen abschließenden Vergleich der Schlussszene der Novelle mit jener in Luchino Viscontis gleichnamiger filmischer Adaption wird die sprachlich realisierte Form der Aufmerksamkeitssteuerung einer technischen, kameraspezifischen Realisierungsform gegenübergestellt. Wie es möglich ist, Literaturgeschichte an einem scheinbar wenig bedeutsamen Motiv entlang zu orientieren, zeigt der Beitrag von Michel Delon (S. 207–219) auf eindrucksvolle Weise. Wolken als Symbol von Wandel und Bewegung schlechthin erlauben ihm den Nachvollzug eines epochalen, aber eben doch ›wolkenhaft‹ gleitenden Übergangs von Aufklärung zu Romantik. An ihrer mal stark verwissenschaftlichten, mal mystisch-transzendentalen Darstellung in der Literatur wird der Bruch, der sich zur Sattelzeit vollzieht, besonders augenfällig. Es gelingt Delon damit, der vermeintlich ›wolkigen‹ Beschäftigung des Literaturwissenschaftlers, die dem ›soliden‹ Handwerk so vieler anderer Professionen gegenübersteht, ausgerechnet anhand eines Sinnbilds des Ephemeren zu ihrem Recht zu verhelfen. Ausgehend von Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Dichtung und Historiographie, verfolgt Gérard Laudin (S. 221–236) durch die Jahrhunderte hindurch die Aus- und Neudeutungen des wechselvollen Verhältnisses, in welchem die beiden Begriffe zueinander stehen. Ging es zunächst noch darum, einer der beiden ›literarischen‹ Formen den Vorrang zu geben, so setzt sich mit Gatterer die Überzeugung durch, dass beide einander zutiefst durchdringen – und dies

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Einleitung

auch sollen. Ein sich allmählich entwickelndes Bewusstsein von der Standortabhängigkeit des Betrachters führt zu einer Engführung, ja Verwandtschaft von Geschichtsschreibung und literarischer Erzählung, der Laudin bis in die Gegenwartsliteratur nachspürt. Die dritte Sektion (Perspektiven auf Autor, Gattung und Leser) wird eingeleitet von einem Beitrag von Michael Neumann (S. 239–253), der die Stellung des Künstlers, Philosophen und Schriftstellers zur Gesellschaft in Sturm und Drang, Romantik und Moderne betrachtet; und der Frage nachgeht, ob sie sich mit ihren Werken dem Volke mitteilen wollen oder vielmehr damit begnügen und auch selbst erheben, dass ihr oftmals bewusst opak gestalteter Ausdruck nur einen kleinen, elitären Kreis Auserwählter anspricht, die mit einem ähnlichen Genius und ästhetischen Gefühl wie sie selbst begabt sind. Monika Schmitz-Emans (S. 255–270) richtet ihren Blick auf die seit 1959 etablierten Frankfurter Poetikvorlesungen als poetisches und zugleich poetologisches ›Kommunikationsspiel‹ zwischen Autoren und Publikum, in dem Einblicke in die dichterische Arbeit gewährt sowie ›Selbstexplikationen‹ angeboten werden. Diese können aber wiederum der Selbststilisierung dienen und eine Beantwortung der impliziten Frage nach der Funktion von Literatur sowie nach den Motiven und Methoden des Schreibens ironisch und satirisch verweigern. Wie selbstverständlich gehört zum Literaturstudium auch die Beschäftigung mit Dichtung. Eine Unterscheidung, wie sie etwa schon Croce zwischen letteratura und poesia getroffen hat, erscheint da zunächst erklärungsbedürftig. Eine solche Erklärung liefert Dieter Janik (S. 271–278), der die ›Sonderrolle‹ der Dichtung als existentieller Form der Innerlichkeit gegenüber einer mimetischen und somit Distanz schaffenden Literatur verteidigt. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei auch dem zeitgenössischen Feuilleton, in dem Dichtung dankenswerterweise zwar präsent ist, jedoch, wie Janik aufzeigt, in zumeist unterkomplexer Form. Sprachkunst und Formwille sind es, die dem Gedicht seine Einzigartigkeit verleihen. Die Bedeutung von Literatur und Literaturwissenschaft gleichermaßen verteidigt Henryk Chudak (S. 279–284) in einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Pflege eines anspruchsvollen Kanons. Er sieht in der Universität den Ort, an dem die Voraussetzungen für Kontinuität geschaffen werden können, indem dort ›gute Leser‹ ausgebildet werden, denen ausweislich einer polnischen Studie bislang die Orientierung in der Literaturgeschichte fehle. Wenn die Literatur des Lesers bedarf, um am Leben zu bleiben, so ist es die Aufgabe der universitären Ausbildung, einen gebildeten Leser zu dieser Rettung überhaupt erst zu befähigen.

Einleitung

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Michela Landi (S. 285–294) betrachtet Literatur zunächst unter dem Gesichtspunkt ihrer reinen Materialität, insofern Bibliophilie/-manie immer auch auf den Besitz von etwas gerichtet ist. Der Konsumcharakter des Lesevorgangs selbst wird nicht zuletzt durch das Aufkommen von Büchern ohne Einband begünstigt. Landi unterscheidet zwei Arten von Büchern, die, indem sie sich in ihrer Wirkung ergänzen, dem Kanon zuzurechnen sind: »Livres pour« wären einem allgemeineren Kanon zuzuordnen, der den Verständigungsrahmen für die »Livres contre« abgibt, an denen sich der Leser reibt und die zum Raffinement seiner ästhetischen und intellektuellen Anschauungen beitragen. Eines aber darf Literatur nicht: dienen. Zur Verteidigung der Bibliophilie hebt Patrizio Collini (S. 295–302) an, wenn er in sehr persönlichen Erinnerungen an Schatzsuchen und Begegnungen in europäischen Antiquariaten ihren menschlich verbindenden Charakter herausstreicht. In seinem Erfahrungsbericht wird die Bedeutsamkeit der auratischen Dimension von Büchern als Kunstwerken mit eigener Geschichte spürbar, deren haptische und olfaktorische Beschaffenheit auf einem digitalisierten Buchmarkt in Vergessenheit zu geraten drohen. Vor allem aber beweist Collini, dass die ›Wunderkammer‹ Antiquariat ein prädestinierter Ort für den Austausch zwischen den Kulturen ist.

1. Funktionen und Nutzen der Literatur(-wissenschaft)

Karlheinz Stierle

Vom Nutzen der Literaturwissenschaft für das Leben oder Der Literaturwissenschaftler als Kanalarbeiter

Das Thema dieses Kolloquiums zu Ehren unseres Literaturwissenschaftlichen Dreigestirns schließt zwei grundsätzliche Fragen zu einer zusammen: »Wozu Literatur-(Wissenschaft)?« Mir scheint freilich, die beiden Fragen zielen in ganz unterschiedliche Richtung. »Wozu Literatur?« Was wäre der Zweck der Literatur, der sich in einer Antwort zusammenschließen ließe? Hat die Literatur überhaupt einen Zweck? Und wenn nicht, würde dies ihren Wert als Literatur in Frage stellen? Wie auch immer es mit der Rechtfertigung der Literatur für diesen oder jenen Zweck aussehen mag, eines scheint unbestreitbar : Literatur gehört wesentlich zu dem, was Cicero bene et beate vivere nennt. Ein Leben des Umgangs mit Literatur war einmal, im Zeitalter des handgeschriebenen Manuskripts, ein Privileg der Wenigen. Victor Hugo hat in seinem Roman Notre Dame de Paris den Umbruch aller Lebensverhältnisse evoziert, den am Ausgang des Mittelalters der Buchdruck, die mechanische Vervielfältigung des Buchs bedeutete. Seitdem ist die Teilhabe an der Welt der Literatur zu einer immer allgemeiner zugänglichen Chance geworden. Im Zeitalter des Buchdrucks oder der Moderne kommt der Literatur ein wesentlicher Sitz im Leben zu. Das Buch, ließe sich heute sagen, ist ein Luxus, der den Ärmsten reich macht und ohne den der Reichste arm ist. Wer ohne Literatur lebt, lebt an der intellektuellen Armutsgrenze. Das Buch ist Teilhabe: Teilhabe an vergangenen und gegenwärtigen Depots der Erfahrung, Teilhabe aber auch am Sozialimaginären einer Sprach- und Kulturgemeinschaft. Wer heute die Maxime: »Lese!« missachtet, verfällt dem Urteil ihres buchstäblichen Gegensinns. Wenn Sprache als höchste Manifestation des Gemeinsinns, des sensus communis, den Montesquieu als esprit verstand, die Mitte der Kultur ist, so ist die Mitte der Sprache die Literatur, in der die in der Sprache angelegte Virtualität zu ihrer reichsten Gestalt kommt. Literatur eröffnet die Teilhabe an dem, was sich sonst für immer entziehen müsste. In seinem großen Essay Quûestce que la litt8rature fragt Jean-Paul Sartre nach dem Grund des Schreibens und des Lesens von Literatur in einer Gesellschaft, die er prinzipiell als eine Gesellschaft von Freien, das heißt als demokratische Gesellschaft versteht. Sartre geht dabei von der idealen Voraussetzung aus, dass die Kommunikation zwischen

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Karlheinz Stierle

Autor und Leser sich problemlos vollzieht und sich einzig ihrem pacte de g8n8rosit8 verdankt. Doch gerade hier stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit der Literaturwissenschaft als einer dritten Instanz zwischen Autor und Leser. Die Literaturwissenschaft ist die institutionelle Kompensation dessen, dass die Verwandlung des geschriebenen in den gelesenen Text nicht selbsttätig geschieht, sondern zahlreiche Probleme birgt, die nach kompetenten Lösungen verlangen. Mehr als eine Wissenschaft im Sinne eines modernen Wissenschaftsbegriffs ist die Literaturwissenschaft eine pragmatische Wissenschaft, die ihre Wissenschaftlichkeit in ihrer Nützlichkeit für das Gelingen der literarischen Kommunikation erweist. Sie erweist damit aber zugleich ihre Nützlichkeit für ein Leben im Sinne jenes bene vivere, das Cicero vor Augen steht. Ihre praktische Aufgabe schließt indes ein eigenes Erkenntnisinteresse an der Natur jener spezifischen Sinnbildungsprozesse nicht aus, die wir Literatur nennen. Doch ist dies nicht ihr Hauptgeschäft, zumal es sich immer wieder als außerordentlich konjunkturanfällig erwiesen hat. Von Nietzsche gibt es den gedankenreichen Aufsatz Über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, dessen Titel die hier vorgetragenen Gedanken inspiriert hat. Doch lässt der Nutzen der Literaturwissenschaft für die Literatur anders als Nietzsches Historie einen Nachteil nicht erkennen. Es liegt im Wesen der Literatur, dass sie nicht einfach vorhanden ist. Die Materialität des Textes ist eine Illusion. Der Text, wie er uns noch immer zumeist in der Form des gedruckten Buchs entgegentritt, ist ein Residuum, ein toter Rückstand, der erst noch seine Auferstehung als lebendiger, sinntragender Vollzug erfahren muss. Rede vollzieht sich in der Zeit, dagegen sind die litterae der Schrift tote Buchstaben, die erst durch den Blick des Lesers zum Leben erweckt werden müssen. Der Leser muss sich dem Text übereignen, um ihn sich aneignen zu können. Während der Hörer der gesprochenen Rede unmittelbar folgt, ist die Realisierung des Textes aus seinen litterae eine Praxis, die unendlich optimierbar bleibt. In dieser Hinsicht ist der literarische Text der musikalischen Partitur vergleichbar. Eine Partitur muss man nicht nur lesen können, man muss sie umsetzen und vollziehen können. Nur dass die musikalische Partitur vernehmbar in wirkliche Musik umgesetzt werden muss, während die Verwandlung des Texts in seinen Vollzug sich immer nur indirekt erschließen lässt. Der Text ist eine Einheit von Partitur und Realisierung, während die musikalische Partitur von ihrer Realisierung als Klang klar unterschieden ist. Gerade weil die Verwandlung des Textresiduums in die Aktualität des realisierten Texts nicht selbstverständlich ist, bedarf es der vermittelnden dritten Instanz der Literaturwissenschaft. Geschriebener und gelesener Text stehen in einem prekären, vielfältigen Irritationen ausgesetzten Verhältnis. Der Nutzen der Literaturwissenschaft besteht in erster Linie darin, den Fluss des Sinns zwischen geschriebenem und gelesenem Text zu sichern. Literaturwissenschaft hat Literatur nicht

Vom Nutzen der Literaturwissenschaft für das Leben

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zu ihrem Gegenstand, sie steht im Dienst der Literatur. Der Literaturwissenschaftler ist ein Textdienstleister oder anders gesagt, ein Kanalarbeiter, der dafür sorgen muss, dass der Sinn fließt. Seine Aufgabe ist zweifach: er ist Sachwalter des Lesers beim Text und Sachwalter des Texts beim Leser. Beides setzt intensive Kenntnis des Textes selbst voraus. Der Literaturwissenschaftler als Textdienstleister muss seinen Text bewohnt haben und auch die abgelegenen Zimmer kennen, aber er muss auch in besonderer Weise mit der Sprache des Textes vertraut sein. Im Zeichen einer von turn zu turn gejagten Literaturwissenschaft ohne Grenzen, die vielfach zur kulturwissenschaftlichen Beliebigkeitswissenschaft geworden ist, scheint es notwendig, dass die Literaturwissenschaft sich erneut auf ihr Kerngeschäft besinnt, das aus den Gegebenheiten der Literatur selbst hervorgeht. Die anwachsende Distanz von Jetzt des Textes und Jetzt seiner Rezeption macht die Intervention der Literaturwissenschaft immer dringlicher. Nur die Institution Literaturwissenschaft als Institution eines kulturellen Langzeitgedächtnisses kann es verhindern, dass der Text, auch der beste, dem Vergessen verfällt und sich der Partizipation des Lesers verschließt. Die Literaturwissenschaft ist aus der humanistischen Philologie hervorgegangen, in der die Einheit von langue und parole noch eine unbefragte Selbstverständlichkeit war. Aber auch heute noch ist die Philologie die Mitte einer Literaturwissenschaft als Textwissenschaft.1 Noch immer ist die Sicherung der Textgestalt die erste Aufgabe der Literaturwissenschaft angesichts der vielfältigen Unwägbarkeiten ihrer Überlieferung. Während die mittelalterliche Textüberlieferung oft erstaunlich sorglos der ersten besten Textfassung vertraute, war die humanistische Philologie zuerst um die Herstellung einer zuverlässigen Textgestalt insbesondere der klassischen Texte bemüht, die so erst oft dem kulturellen Gedächtnis zurückgegeben wurden. Aber schon der mittelalterliche Umgang mit dem Text trägt seiner Schriftlichkeit besonders Rechnung. Der mittelalterliche Text ist nur dann Text in einem prägnanten Sinn, wenn er geeignet ist, Gegenstand des Studiums zu werden und damit der prinzipiellen Mehrfachlektüre. Frucht des Studiums ist der Kommentar, der den Leser seiner Lektüre entzieht, um ihn bereichert zu ihr zurückzuführen. Das bedeutet zugleich, dass Text in einem ausgezeichneten Sinn nur der Text ist, der des Kommentars würdig ist, in dem sich das Fortleben des Textes bezeugt. So heißt es noch in Antoine FuretiHres Dictionnaire universel von 1690: »Texte: terme relatif oppos8 / commentaire.«2 Der Kommentar ist die erste Brücke zwischen geschriebenem und gelesenem Text, aber auch die erste Brücke zwischen divergenten Textlektüren. Die frühen Dante-Kommentare könnten dies exemplarisch 1 Vgl. Stierle (2014). 2 FuretiHre (1690), Bd. III, Art. »texte«; vgl. Stierle (1990).

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Karlheinz Stierle

illustrieren. Dem Kommentar entspringt schließlich die Auslegung, die ein dynamisches Verhältnis zwischen divergenten Stellen desselben Textes herstellt und so den Leser in eine dynamische Verstehensbewegung zieht. Mehr als der bloße summative Kommentar ist die Auslegung eine Möglichkeit, den Text in einer neuen Weise als Kopräsenz des Sinns gegenwärtig zu halten und Aufmerksamkeitsreserven des Lesers für die Sinnreserven des Textes zu mobilisieren. Jede gelungene Interpretation setzt den Text in Bewegung und bringt seine Lesbarkeit zur Darstellung. Sie ist damit zugleich eine Schule des Lesens und der Aufmerksamkeitssteigerung. Gerade bedeutende Texte können langweilig erscheinen, wenn ihre Komplexität zu große Anforderungen an ihre Realisierung stellt. Auch erstarrte Bewunderung ist der Lebendigkeit des Textes schädlich. Die Auslegung ist bezogen auf den je einzelnen Text. Die Sorge um den je besonderen Text ist das Hauptgeschäft der Literaturwissenschaft. Ihre Nützlichkeit erweist sich darin, dass dieser konkrete Text dem Vergessen entrissen wird. Gewöhnlich gilt die Konzentration auf den einzelnen Text als werkimmanente Interpretation und damit als Ladenhüter einer längst überholten Literaturwissenschaft nach Art von Staigers Kunst der Interpretation. Freilich ist die Bezeichnung »immanente Interpretation« eine pure Gedankenlosigkeit. Durch die zweifache Medialität von Sprache und Schrift ist jede Auslegung, ob sie es will oder nicht, notwendig in die Dialektik von Sprache und Text verstrickt. Indem der interpretierende Literaturwissenschaftler sich dem einen konkreten Text zuwendet, muss er notwendig das Ganze der Sprache ins Spiel bringen, die den Text trägt. Eben dadurch wird die Interpretation zu einer unendlichen Aufgabe. Ganz besonders gilt dies für die Vermittlung von fremdsprachiger Literatur. Aber ist nicht jede Sprache eine Fremdsprache? Zumindest lässt sich nicht verhindern, dass mit dem Abstand der Zeit jede Sprache sich in eine Fremdsprache verwandelt. Die Interpretation des je konkreten Texts muss der Fokus einer Literaturwissenschaft im Dienst der Literatur sein. In welchem Verhältnis steht dann aber die Literaturwissenschaft zu Literaturtheorie? Wozu Literaturtheorie? Ist sie nicht ein gefährlicher Abweg vom Konkreten des literarischen Texts zu einer Abstraktheit, die gerade das Einmalige des Texts verfehlt? Literaturtheorie kann die Erfassung des konkreten Textes nicht ersetzen. Dies ist auch ebenso wenig ihre Absicht wie ihre Aufgabe. Literaturtheorie erschließt die Orientierungsrahmen, die jedem Text zugrunde liegen und seinen Ort im Ganzen des literarischen Systems bestimmen. Literaturtheorie gibt keine Antworten, sie entlastet nicht von konkreter Analyse. Aber sie erlaubt es, in systematischer Ordnung Fragen an den Text zu stellen und so die Aufmerksamkeit zu positionieren. Gerade der allgemeine Bezugsrahmen kann das jeweils Besondere in ein umso helleres Licht stellen. Ein schönes Beispiel für den Nutzen der Theorie wäre die

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Beschreibung. Da die Beschreibung im Gegensatz zur Erzählung kein vorgängiges Ordnungsschema hat, kann die Theorie der Beschreibung behilflich sein, die jeweilige Beschreibungsstrategie zu erfassen. Auch die Erzähltheorie, wie sie vor allem im französischen Strukturalismus maßgeblich entwickelt wurde, hat wesentliche Einsichten in den mehrschichtigen Aufbau narrativer Texte erbracht, an denen sich die konkrete Erzählanalyse orientieren kann. In seiner Ästhetik hat Friedrich Hegel zum ersten Mal den Begriff einer »Wissenschaft der Kunst« entwickelt, der zum Vorbild des Konzepts der »Literaturwissenschaft« werden sollte. »Die Kunst«, sagt Hegel dort, »ladet uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.«3 Hegels Programm der »denkenden Betrachtung« will, um Wissenschaft zu sein, vom Phänomen zu seinem Begriff oder seiner Theorie führen. Aber dabei bleibt es nicht. Die Theorie soll ihrerseits auf das Phänomen und seine Betrachtung zurückgelenkt werden. Denkende Betrachtung im Sinne Hegels ist zugleich Partizipation und Distanz, Arbeit des Begriffs und Versenkung ins Werk. Die Funktion der Theorie für das betrachtende Erfassen des einzelnen Werks wird hier unmittelbar sinnfällig. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft, Mittlerin zwischen dem geschriebenen und dem gelesenen Text zu sein, ist von einer luxurierenden, mit fliegenden Pulsen von turn zu turn eilenden Literaturwissenschaft immer mehr marginalisiert worden. Ihr Ansehen, das einmal im Kontext der Kulturwissenschaften höchste Geltung hatte, ist durch die neuen Öffnungstendenzen der Literaturwissenschaft, die bis zu dem Versuch reichen, sich den Neurosciences dienstbar zu machen, um endlich wissenschaftliche Dignität zu erreichen, nicht gefördert, sondern geschwächt worden. Dies erweist sich schlagend am Verhältnis von akademisch institutionalisierter Literaturwissenschaft und publizistischer Literaturkritik. Inzwischen hat die Literaturwissenschaft in den Feuilletons der großen Tageszeitungen ihren Platz so gut wie verloren. Die Literaturkritik scheint die Idee der Bildung und der literarischen Partizipation aufgegeben zu haben. Sie sucht das Aparte, sie ist rasch, laut und um historische Zusammenhänge, gar Auslegungsprobleme, vor allem aus der Vergangenheit sprechender Texte, kaum noch bemüht. Der Literaturkritiker ist sich seines Urteils sicher, wie wenig es auch in der Sache begründet sein mag. Vor einiger Zeit schrieb der im Übrigen kulturpolitisch höchst verdienstvolle Herausgeber der FAZ Jürgen Kaube zum Ruhm des neuen Georg-Büchner-Preisträgers Rainald Goetz: Doch was ist das, Literatur? Vor 1750 nahm noch kaum ein Europäer wahr, dass es zwischen Romanen, Dramen und Gedichten eine Ähnlichkeit geben sollte. Und warum 3 Hegel (1965), Ästhetik, S. 22.

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auch sollten Opern weiter von Dramen entfernt sein als Sonette? oder Novellen weniger mit Zeitungsberichten der Abteilung ›Vermischtes‹ zu tun haben als mit Komödien? Mitunter hieß es von dem, was uns heute als erzählte Fiktion vorkommt, es handele sich um ›schöne Wissenschaft‹.4

An diesen raschen Bemerkungen ist literarhistorisch gesehen so gut wie alles falsch. Doch geht es hier nicht um literaturwissenschaftliche Erbsenzählerei, sondern um eine Symptomatik. Der Dialog zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik scheint so gut wie zusammengebrochen. Die Literaturkritik wird zu einer feinen Gesellschaft von Selbstpflückern. So konnte man in derselben Zeitung zu Ehren von Dantes 750. Geburtstag lesen, Dante sei »der frechste Dichter aller Zeiten« gewesen. Das ist apart und dümmlich und zeigt genügend Bildungsverachtung, um den mit Wichtigerem beschäftigten Leser zufriedenzustellen. Hölderlins Hoffnung, »Daß gepfleget werde / Der feste Buchstab, und Bestehendes gut / Gedeutet«5, taugt noch immer für eine Literaturwissenschaft, die Literatur nicht zu ihrem Gegenstand macht, der sie nicht ist, sondern sich in den Dienst der Literatur stellt. Die Literaturwissenschaft kann die je eigene Erfahrung der Literatur weder ersetzen noch erzwingen. Aber sie kann die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Literatur nicht abstirbt, in der durch die Jahrhunderte die großen Depots an menschlicher Erfahrung der Zeit widerstehen. Unser literaturwissenschaftliches Dreigestirn hat das Seine dafür getan. Deshalb danken wir ihm und wünschen ihm weiterhin Glück – im Dienst der Literatur und dass durch die Literaturwissenschaft, in deren Dienst es sich gestellt hat, der Sinn fließt.

Bibliographie Furetière, Antoine (1690), Dictionnaire universel, contenant g8n8ralement tous les mots franÅois, 3 Bde, Den Haag / Rotterdam: Leers. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (21965), Ästhetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, 2 Bde, Berlin / Weimar : Aufbau Verlag. Hölderlin, Friedrich (1953), Sämtliche Werke, hrsg. von Friedrich Beissner, Stuttgart: Kohlhammer. Kaube, Jürgen (2015), »Büchnerpreis für Rainald Goetz: Abfall für manche, Irritation für alle«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung am 11. 07. 2015. Stierle, Karlheinz (2014), »Philologie – die Mitte der Literaturwissenschaft«, in: Dieter Burdorf (Hg.): Die Zukunft der Philologien, Heidelberg: Winter Verlag, S. 29–49.

4 Kaube (2015). 5 Hölderlin (1953), Bd. II, »Patmos«, S. 180.

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Stierle, Karlheinz (1990), »Les lieux du commentaire«, in: GisHle Mathieu-Castellani / Michel Plaisance (Hgg.), Les commentaires et la naissance de la critique litt8raire, Paris: Aux Amateurs de Livres, S. 19–29.

Marion Gymnich

Wozu Literatur(-wissenschaft)? – Funktionsgeschichtliche Überlegungen unter Bezugnahme auf Beispiele des anglophonen Romans vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart

1.

Der Status quo: Literatur in Konkurrenz mit audiovisuellen Medien?

Die für jede Philologie zentralen (Sinn-)fragen ›wozu Literatur?‹ und ›wozu Literaturwissenschaft?‹ sind zu den unterschiedlichsten Anlässen immer wieder gestellt worden und müssen auch weiterhin – nicht zuletzt angesichts sich stetig wandelnder gesellschaftlicher Herausforderungen – Gegenstand kritischer Reflexion bleiben. Abhängig vom disziplinären Standpunkt, der theoretischen Verortung und dem Erkenntnisinteresse können die Antworten auf diese beiden, unmittelbar zusammenhängenden Fragen stark divergieren. Dies demonstriert exemplarisch der von Rüdiger Ahrens und Laurenz Volkmann herausgegebene Sammelband Why Literature Matters: Theories and Functions of Literature aus dem Jahr 1996, der 25 Beiträge renommierter Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen beinhaltet und ein Spektrum sehr unterschiedlicher Annahmen zum Funktionspotential von Literatur gegenüberstellt. Motiviert ist der Band durch die Überzeugung, dass Literatur im »electronic age«1, d. h. in Konkurrenz mit den sogenannten ›neuen Medien‹, nach wie vor von großer Bedeutung ist, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort unterstreichen. Wenngleich die nachfolgenden Überlegungen zum Funktionspotential von Literatur sicherlich nicht den Anspruch erheben können und wollen, die Breite der Antworten auf die Frage ›wozu Literatur?‹ in dem Band von Ahrens und Volkmann auch nur annähernd zu imitieren, sollen doch zumindest einige Facetten des komplexen Funktionspotentials von Literatur skizziert werden. Zur Veranschaulichung der Funktionshypothesen dienen dabei Beispiele aus dem Bereich des anglophonen Romans vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Etwa 20 Jahre nach dem Erscheinen von Why Literature Matters scheint die Bilanz für die anglistische Literaturwissenschaft auf den ersten Blick nicht allzu

1 Ahrens/Volkmann (1996), S. 10.

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rosig auszufallen, orientiert man sich an mehr oder weniger ›messbaren‹ Kriterien, die nahelegen, dass die Relevanz einer (wissenschaftlichen) Beschäftigung mit Literatur heute vielleicht noch weniger als Mitte der 1990er Jahre als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. In anglistischen Studiengängen scheinen literaturwissenschaftliche Anteile in den letzten Jahren eher ab- als zugenommen zu haben. Literatur konkurriert zunehmend mit Themen und Phänomenen aus dem Bereich der Populärkultur (insbesondere mit Film und Fernsehen sowie vermehrt auch mit Internetformaten), aber oft ebenso mit historischen, politischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Themen und Studieninhalten. Den Akzent auf British Studies statt auf eine Anglistik im traditionellen Sinne (also im Wesentlichen die Kombination von Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Sprachpraxis) zu legen, scheint Studiengänge zu versprechen, die eine höhere Auslastung zu erreichen vermögen und stärker berufsorientiert (aus)bilden. Im Zuge einer vermehrten kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der anglistischen Literaturwissenschaft, die sich seit den 1990er Jahren deutlich abzeichnet, mag man zunächst annehmen, dass der Stellenwert literarischer Texte auch innerhalb der anglistischen Forschung tendenziell sinkt. So wirkt etwa die Bedeutung, die der Literatur im Kontext der Postcolonial Studies beigemessen wird, auf den ersten Blick vergleichsweise gering, sieht man sich an, wie der Gegenstandsbereich dieser Forschungsrichtung in einschlägigen Überblicksdarstellungen aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre umrissen wurde. Ania Loomba beispielsweise definiert den Gegenstandsbereich der Postcolonial Studies wie folgt: »a wide range of cultural texts and practices such as art works, atlases, cinema, scientific systems, museums, educational institutions, advertisements, psychiatric and other medical practices, geology, patterns of clothing, ideas on beauty«2, und Gareth Griffiths betrachtet den literarischen Text als »one kind of document in the larger archive (the total body of material by which we designate and investigate an event or cultural phenomenon) of the post-colonial«3. Trotz dieser scheinbar eher negativen Vorzeichen hat sich die postkoloniale Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zu einem prominenten Zweig der anglistischen Literaturwissenschaft entwickelt, in dem zwar Literatur in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext situiert wird, in dem aber auch die genuin literaturwissenschaftliche Betrachtung der ästhetischen Dimension von literarischen Texten eine zentrale Rolle spielt. In anderen Bereichen der anglistischen Literaturwissenschaft hat der cultural turn ebenfalls die kontextualisierende Betrachtung von Literatur betont und den Blick durch die Berücksichtigung audiovisueller Medien und diverser kultureller Phänomene erweitert, 2 Loomba (1998), S. 48. 3 Griffiths (1996), S. 164.

Wozu Literatur(-wissenschaft)?

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hat aber bisher sicherlich nicht per se zu einem schwindenden Interesse an Literatur geführt. Geht man von der Prämisse aus, dass der universitäre Teil der Lehrer/-innenausbildung zu den zentralen Aufgaben der Anglistik zählt, dann ist bei Überlegungen zur Relevanz von Literatur auch zu berücksichtigen, dass eine Beschäftigung mit literarischen Texten im schulischen Englischunterricht seit den 1990er Jahren an Bedeutung verloren hat. Sie hat längst nicht mehr jenen vergleichsweise prominenten Stellenwert inne, den sie früher einmal hatte, spielt sie doch inzwischen in den Lehrplänen eine eher marginale Rolle. So wird folgerichtig beispielsweise in Wolfgang Gehrings Publikation Englische Fachdidaktik: Eine Einführung (2004) Literatur lediglich im Kapitel »Unterrichtsmaterialien« in einem Unterkapitel (8.3.4. »Literarische Texte«) auf etwa sechs Seiten behandelt. In Engelbert Thalers Englisch unterrichten: Grundlagen – Kompetenzen – Methoden (2012) findet Literaturwissenschaft als eine der Bezugswissenschaften Erwähnung4, und »Literarische Kompetenz« wird als eine von 15 Kompetenzen behandelt5. Das Kapitel zur Literaturdidaktik (übrigens das letzte von neun Kapiteln) in Ralf Weskamps Überblicksdarstellung Fachdidaktik: Grundlagen und Konzepte Anglistik – Amerikanistik beginnt mit der Frage nach einer Legitimation für die Bezugnahme auf Literatur im Englischunterricht – »Warum Literatur?«6 – und liefert folgende Antwort: Neben nicht-fiktionalen Textsorten nimmt im Englischunterricht in Deutschland die Literatur einen festen Platz ein. Sie hilft Lernern, eigene und fremde Kulturen besser zu verstehen, ein ästhetisches Bewusstsein auszubilden, Einblicke in menschliche Verhaltensweisen zu gewinnen, verschiedene Sehweisen kennen zu lernen und Welten zu entdecken, die nur der Imagination zugänglich sind. Darüber hinaus trägt das Lesen literarischer Texte dazu bei, Erkenntnisse über die Funktionsweise von Sprache zu gewinnen und das Ausdrucksvermögen zu verbessern.7

Die obige Aufzählung von Funktionen kann durchaus als weitgehend repräsentativ für den Grundtenor des fachdidaktischen Diskurses innerhalb der Anglistik der letzten beiden Jahrzehnte betrachtet werden. Ansgar Nünning und Carola Surkamp konstatieren in ihrer umfangreichen Einführung in die englische Literaturdidaktik, die ebenfalls mit der Frage »Warum Literatur im Fremdsprachenunterricht?«8 beginnt, ein nachlassendes Interesse an literarischen Texten im Englischunterricht seit den 1990er Jahren,9 weisen aber auch mit 4 5 6 7 8 9

Vgl. Thaler (2012), S. 29. Vgl. Thaler (2012), S. 258–270. Weskamp (2001), S. 188. Weskamp (2001), S. 188. Nünning/Surkamp (2006), S. 12. Vgl. Nünning/Surkamp (2006), S. 12: »Im Rahmen eines kommunikativen Fremdsprachenunterrichts galt Literatur lange Zeit als entbehrlich. Anstatt sich mit Romanen oder Dramen zu

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Marion Gymnich

Nachdruck auf das Potential von Literatur im Kontext von »Lernzielen wie Empathie, Perspektivenübernahme und Fremdverstehen«10 hin und heben zudem die »Aufwertung der emotional-affektiven Dimension der Literaturrezeption«11 im Unterricht hervor.

2.

Die anhaltende Relevanz von Literatur: Funktionsgeschichtliche Ansätze

Besonders elaborierte Antworten auf die Frage ›wozu Literatur?‹ liefern funktionsgeschichtliche Ansätze, so etwa das von Hubert Zapf entwickelte Konzept von Literatur als ›kultureller Ökologie‹, das auf der Annahme von »Analogien zwischen ökologischen Prozessen und den spezifischen Strukturen und kulturellen Wirkungsweisen der literarischen Imagination«12 basiert. Ausgehend von dieser Prämisse versteht Zapf Literatur in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft primär als Sensorium und symbolische Ausgleichsinstanz für kulturelle Fehlentwicklungen und Ungleichgewichte, als kritische Bilanzierung dessen, was durch dominante geschichtliche Machtstrukturen, Diskurssysteme und Lebensformen an den Rand gedrängt, vernachlässigt, ausgegrenzt oder unterdrückt wird, was aber für eine angemessen komplexe Bestimmung konkret erfahrbarer menschlicher Realität innerhalb dieser Systeme und Entwicklungen von unabweisbarer Bedeutung ist.13

Literarische Texte sind jedoch nicht allein ein Instrument der kulturellen Bilanzierung; vielmehr ist ihnen auch ein transformatives, zukunftsweisendes Element inhärent, denn, so Zapf weiter, Literatur vermag gerade in der Artikulation des kulturell Verdrängten und in der Freisetzung von Vielfalt, Mehrdeutigkeit und dynamischer Interrelation aus der Dogmatik erstarrter Weltbilder und diskursiver Eindeutigkeitsansprüche, zum Ort einer beständigen, kreativen Erneuerung von Sprache, Wahrnehmung und kultureller Imagination [zu werden.]14

Ausgehend von diesen Grundannahmen zum gesellschaftlichen Funktionspotential von Literatur hat Zapf ein triadisches Funktionsmodell entwickelt, mit

10 11 12 13 14

beschäftigen, sollten Lernende auf den Gebrauch der Fremdsprache in konkreten Kommunikationssituationen vorbereitet werden […]. Literarische Texte spielten in diesem Zusammenhang nur eine kleine Rolle und wurden – wenn überhaupt – wie nicht-fiktionale Texte auch zur Wortschatz- und Grammatikvermittlung eingesetzt.« Vgl. Nünning/Surkamp (2006), S. 13. Vgl. Nünning/Surkamp (2006), S. 13. Zapf (2002), S. 3. Zapf (2002), S. 3. Zapf (2002), S. 3.

Wozu Literatur(-wissenschaft)?

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dem er die unterschiedlichen Relationen literarischer Texte zur Gesellschaft zu systematisieren und »[a]uf der allgemeinsten Ebene«15 zu beschreiben sucht. Die erste dieser drei Funktionen von Literatur, von Zapf als ›kulturkritischer Metadiskurs‹ bezeichnet, besteht in der »Repräsentation typischer Defizite, Einseitigkeiten, Blindstellen und Widersprüche dominanter politischer, ökonomischer, ideologischer oder pragmatisch-utilitaristischer Systeme zivilisatorischer Macht«16. Dieses Funktionspotential von Literatur manifestiert sich beispielsweise sehr deutlich in zahlreichen englischen Romanen des 19. Jahrhunderts, die der Gattung Sozialroman (social problem novel) zugeordnet werden können. So setzen sich etwa Charles Dickens und Elizabeth Gaskell in ihren Werken mit einem breiten Spektrum sozialer Missstände im viktorianischen England auseinander. Dabei werden nicht nur die gesundheitsgefährdenden Arbeitsverhältnisse in Fabriken (z. B. in Gaskells North and South, 1854–55) oder die menschenunwürdige Situation in der Institution des Workhouse (vgl. etwa Dickens’ Oliver Twist, 1837–39) angeprangert, sondern es werden auch wirkmächtige Einstellungen und Konzepte der Zeit hinterfragt. So macht etwa Dickens’ Hard Times (1854) Blindstellen utilitaristischen Denkens ebenso deutlich wie die Grenzen des Ideals der self-help, dem in der liberalen Wirtschaftspolitik der viktorianischen Zeit große Bedeutung beigemessen wurde und das u. a. durch Samuel Smiles’ einflussreichen Text Self-Help (1859) weite Verbreitung erreichte.17 Wenngleich literarische Texte wie die soeben erwähnten sicherlich spürbar ein Produkt ihrer Zeit sind, vermögen sie doch auch in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, in der im Zeichen neo-liberaler Wirtschaftsstrukturen die Kluft zwischen Arm und Reich weltweit immer größer zu werden droht, noch wertvolle Denkanstöße zu liefern. Die zweite der von Zapf differenzierten Funktionen von Literatur äußert sich darin, das zur Darstellung zu bringen, »was im kulturellen Realitätssystem marginalisiert, vernachlässigt oder unterdrückt ist«18, und wird von ihm als ›imaginativer Gegendiskurs‹ bezeichnet. Ein Beispiel für einen imaginativen Gegendiskurs bildet etwa die explizite und implizite Kritik an den bestehenden Geschlechterrollen, die sich wie ein roter Faden durch Werke von Autorinnen des 19. Jahrhunderts zieht. Kritik an der gesellschaftlichen Einschränkung weibli15 Zapf (2002), S. 64. 16 Zapf (2002), S. 64. 17 Vgl. zur Wirkmacht von Smiles’ Self-Help die Einschätzung von Sinnema (2002), vii: »SelfHelp was one of the most popular works of nonfiction published in England in the second half of the nineteenth century. It sold 20,000 copies within a year of its appearance and surpassed a quarter of a million by the time of Samuel Smiles’s death forty-five years later. […] Consisting of a series of inspiring biographies of notable figures who rose to prominence through their own endeavours, his book encouraged working- and lower-middle-class men to climb the ladder of social and economic success.« 18 Zapf (2002), S. 64.

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cher Selbstbestimmung, die u. a. in der Trennung von männlicher public sphere und weiblicher domestic/private sphere greifbar wird, artikulieren viktorianische Schriftstellerinnen mittels unterschiedlicher Verfahren. So stellt die Autorin George Eliot in ihrem Roman Adam Bede (1859) der fallen woman Hetty Sorrel, die an gesellschaftlichen Konventionen bezüglich Geschlechterrollen und Klassenunterschieden scheitert, die Figur der methodistischen Laienpredigerin Dinah Morris gegenüber, die sich durch ihre Predigten selbstbewusst in der public sphere Gehör verschafft. In Charlotte Bront[s Jane Eyre (1847) fungiert die Titelfigur als autodiegetische Erzählerin, die den Lesern und Leserinnen wiederholt die Grenzen der Weiblichkeitsvorstellungen ihrer Zeit vor Augen führt, wie die folgende, oft zitierte Textstelle exemplarisch zeigt: School rules, school duties, school habits and notions, and voices, and faces, and phrases, and costumes, and preferences, and antipathies: such was what I knew of existence. And now I felt that it was not enough. I tired of the routine of eight years in one afternoon. I desired liberty ; for liberty I gasped; for liberty I uttered a prayer ; it seemed scattered on the wind then faintly blowing. I abandoned it and framed a humbler supplication. For change, stimulus. That petition, too, seemed swept off into vague space. ›Then,‹ I cried, half desperate, ›grant me at least a new servitude!‹19

Über die inhaltliche Ebene hinaus ist bereits die Wahl einer weiblichen Erzählinstanz und deren Ausgestaltung im Text von Bedeutung für das Funktionspotential von Literatur als imaginativem Gegendiskurs, wie die feministische und gender-orientierte Narratologie gezeigt hat.20 Ebenso kann die durchgängige Privilegierung weiblicher Fokalisierungsinstanzen in den Romanen Jane Austens als Ausdruck eines imaginativen Gegendiskurses gelesen werden. Ein weiteres Beispiel für die Semantisierung narrativer Strukturen bildet der Roman The Tenant of Wildfell Hall (1848) von Anne Bront[, in dem die weibliche Hauptfigur Helen Huntingdon zumindest in Teilen zugleich als autodiegetische Erzählinstanz in Erscheinung tritt. Die Ausgestaltung der Erzählsituation scheint in diesem Fall auf den ersten Blick stärker den Konventionen geschlechterspezifischer Erzählformen verpflichtet, denn die Erzählung der weiblichen autodiegetischen Erzählinstanz ist erstens als Tagebuch gestaltet und verweist damit auf eine nicht-fiktionale Textsorte, die der (weiblichen) domestic/ private sphere zugeordnet wurde. Zweitens ist Helen Huntingdons Erzählung in das Narrativ einer männlichen Erzählinstanz (Gilbert Markham) eingebettet. Im Verlauf des Romans wird diese vermeintliche Hierarchisierung jedoch unterminiert: 19 Bront[, Jane Eyre (1985), S. 117. 20 Vgl. zur feministischen und gender-orientierten Erzähltheorie exemplarisch die wegweisenden Werke von Susan Lanser (1992) und Robyn Warhol (1989) sowie die Überblicksdarstellungen in dem Sammelband von Vera und Ansgar Nünning (2004).

Wozu Literatur(-wissenschaft)?

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Nach Gilberts irreführender Erzählung liefert Helens Tagebuch die richtige Geschichte und die zutreffende Darstellung ihrer äußeren und inneren Situation. Die kognitive und narrative Unterlegenheit des Mannes geht einher mit einer Feminisierung seiner gesellschaftlichen Position.21

Der Roman inszeniert somit Ansätze zu einer Emanzipation der weiblichen Hauptfigur aus den Geschlechterrollen ihrer Zeit auf struktureller und inhaltlicher Ebene (durch die Entscheidung der Protagonistin, ihren Ehemann zu verlassen und sich mit ihrem Sohn eine neue Existenz aufzubauen, was der Gesetzgebung der Zeit bezüglich Scheidung und Fürsorgerecht widersprach). Vervollständigt wird das von Zapf entworfene triadische Modell durch das »Aufeinanderbeziehen des Ausgegrenzten und des kulturellen Realitätssystems als reintegrativer Interdiskurs«22, der zur »Erneuerung des kulturellen Zentrums von dessen Rändern her beiträgt«23. Dieses Funktionspotential von Literatur wird wohl besonders deutlich in Romanen, die eine interkulturelle oder transkulturelle Dimension aufweisen und Möglichkeiten einer Identitätsbildung über kulturelle Grenzziehungen hinaus thematisieren, aber auch problematisieren. Hierzu zählen die Diaspora-Literatur bzw. fictions of migration, in denen sich das für die Funktion von Literatur als reintegrativem Interdiskurs laut Zapf kennzeichnende »Zusammenführen des kulturell Getrennten«24, das »konfliktorische Prozesse und krisenhafte Turbulenzen frei[setzt]«25, immer wieder sehr deutlich äußert. Für den reintegrativen Interdiskurs sind Spannungen und Konflikte ebenso charakteristisch wie die »mindestens momenthaft[e] […] Revitalisierung und Balance der ins Spiel gebrachten gegensätzlichen Energien«26. Dieses Spannungsfeld zwischen Krisen und Revitalisierung verdeutlichen beispielsweise zahlreiche kanadische multi- und transkulturelle Romane wie etwa Michael Ondaatjes Running in the Family (1982) oder Hiromi Gotos Chorus of Mushrooms von 1994.27 Geradezu paradigmatisch manifestiert sich das Funktionspotential von Literatur als reintegrativem Interdiskurs in postkolonialem Rewriting, das Figuren, Konstellationen, Handlungsverläufe, Schauplätze, aber auch narrative Strukturen europäischer literarischer Texte aufgreift und diese von einem postkolonialen Standpunkt kritisch neu perspektiviert. In der Regel sind gerade solche Texte des Literaturkanons zur Angriffsfläche im Sinne eines Rewriting geworden, die aufgrund ihrer Marginalisierung oder pejorativen Darstellung des kolonialen ›Anderen‹ in besonderem Maße zu einem 21 22 23 24 25 26 27

Schabert (1997), S. 485. Zapf (2002), S. 65. Zapf (2002), S. 65. Zapf (2002), S. 64. Zapf (2002), S. 64. Zapf (2002), S. 64. Vgl. Birk/Gymnich (2016).

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gegendiskursiven Schreiben herausfordern. So zählen neben der Bibel als traditionellem europäischem Master-Narrativ schlechthin William Shakespeares Dramen The Tempest und Othello, Daniel Defoes Robinson Crusoe, Charles Dickens’ Great Expectations, Charlotte Bront[s Jane Eyre und Joseph Conrads Heart of Darkness zu jenen Texten, die aufgrund ihrer Darstellung des kolonialen ›Anderen‹ immer wieder zur Zielscheibe von postkolonialem Rewriting geworden sind.28 Intertextuelle Bezugnahmen auf literarische Klassiker im postkolonialen Kontext lassen sich jedoch nicht auf die Kritik am Prätext und den darin artikulierten und perpetuierten Denk- und Wahrnehmungsmustern reduzieren. Wie u. a. John Thieme in seiner Studie Post-Colonial Con-texts: Writing Back to the Canon (2001) gezeigt hat, lässt sich vielmehr ein Kontinuum von Reaktionen erkennen, in dem durchaus auch Raum für eine Wertschätzung des europäischen Texts zu finden ist.29 Wie die obigen Ausführungen zur Relevanz einer Semantisierung narrativer Strukturen bereits exemplarisch angedeutet haben, entfaltet sich das Funktionspotential literarischer Texte nicht allein über inhaltliche Faktoren, sondern auch über das breite Spektrum von Darstellungsverfahren, die in Literatur zum Tragen kommen. Für das Verständnis des Funktionspotentials literarischer Texte ist folglich zu berücksichtigen, dass auch soziale oder politische Funktionen »nur über eine ästhetische Wirkungsstruktur realisiert werden«30 können. Winfried Fluck zieht aus diesem Konnex die Schlussfolgerung, dass »sich Thesen zur sozialen Funktion mit einer Theorie literarischer Wirkung verbinden« müssen; daher, so Fluck weiter, »bilden beide Aspekte ein Interdependenzver-

28 Koloniale Schauplätze und Figuren erscheinen in britischer Literatur bis zum frühen 20. Jahrhundert laut Benita Parry vielfach als »sources or signifiers of mystery, danger, and exoticism, of dismay, disturbance, anxiety, fear, infection, and corruption«, Parry (2002), S. 69. In seiner einflussreichen Studie Culture and Imperialism argumentiert Edward Said zudem, dass zahlreiche britische Romane aus dem 19. Jahrhundert und vom Beginn des 20. Jahrhunderts durch ihre Verweise auf den Prozess der Kolonisierung dazu beitragen, eine imperialistische Weltsicht zu konstruieren, zu verfestigen und sogar zu legitimieren. So schreibt Said etwa einem Roman wie Jane Austens Mansfield Park (1814) die Funktion zu, imperialistisches Denkens zu propagieren, obwohl sich in diesem nur wenige Hinweise auf Plantagen in der Karibik finden: »According to Austen we are to conclude that no matter how isolated and insulated the English place (e. g. Mansfield Park), it requires overseas sustenance.« Said (1994) [1993], S. 107. Zur Bedeutung des Kanons aus postkolonialer Sicht vgl. auch Mukherjee (2014), S. 9: »The canon has historically been a nexus of power and knowledge that reinforces hierarchies and the vested interests of select institutions, excluding the interests and accomplishments of minorities, popular and demotic culture, or nonEuropean civilizations.« 29 Vgl. auch die Studien zur Shakespeare-Rezeption in der Karibik und in Indien in Mukherjees Monographie (2014). 30 Fluck (1997), S. 10.

Wozu Literatur(-wissenschaft)?

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hältnis, aus dem sich umgekehrt auch ergibt, daß sich der Begriff des Ästhetischen nicht auf ein neukritisches Autonomiepostulat reduzieren läßt«.31

3.

Literatur und kulturelles Gedächtnis

In der seit einigen Jahrzehnten proliferierenden Gedächtnis- und Erinnerungsforschung hat die Literatur mit den ihr eigenen Ausdrucksmöglichkeiten neben anderen Medien ebenfalls einen festen Platz und wird mit einer Reihe erinnerungskultureller Funktionen in Verbindung gebracht. In ihrer Übersicht über Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft unterscheiden Astrid Erll und Ansgar Nünning fünf zentrale Konzepte, die verschiedene Funktionspotentiale von Literatur und Literaturwissenschaft aufscheinen lassen: (1) Das »Gedächtnis der Literatur […] verweist […] auf die Vorstellung von einem innerliterarischen Gedächtnis, einem Gedächtnis des Symbolsystems Literatur, das sich in einzelnen Texten manifestiert«32. Unter diesem Stichwort lassen sich zahlreiche literaturwissenschaftliche Ansätze subsumieren; das Spektrum reicht dabei laut Erll und Nünning »von der geistesgeschichtlichen Toposforschung bis hin zu poststrukturalistischen Intertextualitätskonzepten«33. D. h. das oben erwähnte Phänomen des Rewriting von Texten des Literaturkanons aus postkolonialer Perspektive fällt ebenfalls in diesen Bereich. (2) Unter dem Konzept von Gattungen als Orten des Gedächtnisses fassen Erll und Nünning sowohl den Einfluss von Gattungsschemata auf Sinnstiftungsprozesse auf kollektiver und individueller Ebene als auch die sogenannten Gedächtnisgattungen, zu denen sie u. a. historische Romane und Biographien zählen.34 (3) Die erinnerungskulturelle Bedeutung der Literaturwissenschaft kommt in besonderer Weise zum Tragen, wenn man »Kanon und Literaturgeschichte als institutionalisiertes Gedächtnis von Literaturwissenschaft und Gesellschaft«35 in den Blick nimmt.36 (4) Eine weitere zentrale Verbindung zwischen Literatur und Gedächtnisforschung besteht in der »Mimesis des Gedächtnisses«, d. h. einer »Inszenierung von Er31 Fluck (1997), S. 10. Vgl. auch Zapfs Charakterisierung des Ästhetischen: »Das Ästhetische wird zwar nicht mehr in metaphysischer Autonomie im Sinn eines Gegensatzes von Werk und Leben, Imagination und Wirklichkeit gesehen. Wohl aber stellt es eine pragmatischen Alltagszwängen enthobene, metadiskursive Eigensphäre dar, die in ihrer Differenz und Konkurrenz zu anderen kulturellen Diskursformen dergestalt bestimmt ist, dass sie als symbolisch verdichtete Inszenierungs- und Steigerungsform lebensanaloger Prozesse innerhalb der Gesamtheit der kulturellen Diskurse aufgefasst werden kann.« Zapf (2002), S. 5. 32 Erll/Nünning (2003), S. 4. 33 Erll/Nünning (2003), S. 4. 34 Vgl. Erll/Nünning (2003), S. 4. 35 Erll/Nünning (2003), S. 4. 36 Vgl. hierzu exemplarisch Scheunemann (2008).

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innerung und Gedächtnis in literarischen Werken«37. (5) Schließlich fungieren literarische Texte auch »als Medium des kollektiven Gedächtnisses in historischen Erinnerungskulturen«38. Literatur vermag in hohem Maße, kulturelle Vorstellungen von der Vergangenheit zu prägen, Erinnerungen an historische Ereignisse im kulturellen Gedächtnis zu erhalten oder auch Verdrängtes und Vergessenes wieder einzuschreiben. Der historische Roman als eine der prominentesten ›Gedächtnisgattungen‹, die sich seit einigen Jahrzehnten in der englischen Literatur zunehmender Beliebtheit erfreut, liefert stets Selektionen und Perspektivierungen, die das Bild der Vergangenheit, das jeweils konstruiert wird, präformieren, und legt damit auch Deutungen und Sinnstiftungen nahe. Dies zeigt exemplarisch die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg in der englischen Literatur. Britische Romane aus jüngerer Zeit, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen, gehen mitunter auf Themen ein, die sehr stark durch die Perspektiven des ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhunderts geprägt erscheinen, wenn sie beispielsweise den Blick auf die Schwierigkeiten, Männlichkeitskonzepte und Homosexualität am Anfang des 20. Jahrhunderts auszuhandeln, richten (z. B. in Pat Barkers Regeneration-Trilogie, 1991–95), die lange weitgehend vergessenen Schicksale der Gesichtsversehrten wieder in das kulturelle Gedächtnis einzuschreiben suchen (vgl. Pat Barkers Toby’s Room, 2012) oder den Ersten Weltkrieg im Lichte aktueller Traumadiskurse perspektivieren. Aber auch ein Ereignis wie die Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA wird für zukünftige Generationen, die den Tag nicht selbst erlebt haben und nicht über das Fernsehen (live und an den nachfolgenden Tagen in nahezu unendlich wirkender Wiederholung) mit den Bildern der Twin Towers in New York konfrontiert wurden, u. a. durch Romane wie Jonathan Safran Foers Extremely Loud & Incredibly Close (2005) oder Don DeLillos Falling Man (2007) im Gedächtnis verankert bleiben. In ihrer Darstellung der Vergangenheit, aber auch von nach wie vor vitalen Traditionen können literarische Texte ein transkulturelles Funktionspotential entfalten. So werden etwa über Romane indigener Autorinnen und Autoren aus Nordamerika, Australien und Neuseeland, darunter Bruce Pascoe, Thomas King, Sherman Alexie, Patricia Grace und Witi Ihimaera, solche Aspekte von Erinnerungskulturen aufgerufen und einer (potentiell globalen) Leserschaft präsentiert, die im Zuge der Kolonisierung marginalisiert und bedroht wurden und auch heute noch in den Erinnerungskulturen der oben genannten Länder in der

37 Erll/Nünning (2003), S. 4. 38 Erll/Nünning (2003), S. 5.

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Auseinandersetzung mit konkurrierenden Erinnerungen der hegemonialen Kulturen um Anerkennung kämpfen müssen.39

4.

Der literarische Kanon und seine populärkulturelle Rezeption: Das Beispiel Jane Austen

Wie oben bereits erwähnt, lässt sich innerhalb der anglistischen Literaturwissenschaft ein recht breiter Konsens erkennen, dem Paradigma einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft zu folgen. Diese Ausrichtung muss aber keine Abwendung von Literatur bedeuten. Vielmehr eröffnet eine kulturwissenschaftliche Zugangsweise neue Blickwinkel auf literarische Texte, indem sie diese und deren Rezeption in ihrem kulturellen Kontext situiert und in ihrem Dialog mit anderen Medien und kulturellen Praktiken beschreibt. Gerade bei Texten, die dem literarischen Kanon zugerechnet werden, lässt sich oft ein intensiver Dialog mit der Populärkultur aufzeigen. Dies veranschaulicht exemplarisch die beeindruckende literarische und populärkulturelle Rezeption der Werke der britischen Autorin Jane Austen. 200 Jahre nach dem Tod Austens im Jahr 1817 sind die Autorin selbst und ihre Werke in der Populärkultur vielleicht sogar präsenter als je zuvor. Die sechs Romane der englischen Autorin, die zwischen 1811 und 1818 veröffentlicht wurden, entwickelten sich bereits in der viktorianischen Zeit zu Texten, die mit Fug und Recht zum Literaturkanon gezählt werden konnten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts begegnet man Bezügen auf Jane Austen bzw. ihre Werke in der englischsprachigen Populärkultur sogar in Kontexten, in denen man vielleicht nicht damit rechnen würde. So wird in Episode vier der 7. Staffel der international äußerst erfolgreichen US-amerikanischen Sitcom Big Bang Theory, die eher für ihre Verweise auf Science-Fiction, Fantasy und Superhelden-Comics bekannt ist, Austens Roman Pride and Prejudice (1813) von einer der Hauptfiguren der Sitcom als »flawless masterpiece« charakterisiert. Dieses und zahlreiche weitere Beispiele suggerieren, dass Jane Austen bemerkenswert gut in die aktuelle Populärkultur zu passen scheint – oder doch zumindest auf vielfältige Weisen ›passend gemacht‹ wird: Nicht nur in britischen und amerikanischen romantischen Komödien (in Literatur und Film) finden sich immer wieder Verweise auf Austens Werke; zu den zahlreichen Beispielen für das filmische ›Fortleben‹ der Literaturklassiker zählen auch Verfilmungen von Austens Romanen im Stil des Bollywood-Kinos: der durch den Roman Sense and Sensibility inspirierte Film I Have Found It (2000) von Rajiv Menon und Gurinder Chadhas Bride & Prejudice aus dem Jahr 2004.40 In Kri39 Vgl. hierzu Birk (2008). 40 Vgl. Butter (2015).

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minalromanen tauchen mitunter Figuren aus Austens Werken oder auch die Autorin selbst auf; ein prominentes Beispiel ist der Roman Death Comes to Pemberley (2011) der britischen Kriminalautorin P.D. James.41 Die Begeisterung für Vampire, Werwölfe und Zombies, die in den letzten Jahren die Populärkultur prägt, schlägt sich in hybriden Texten nieder, die Figuren und Handlungselemente aus Austens Werken mit Gattungskonventionen der Schauer- und Horrorliteratur verknüpfen.42 Auch quantitativ stellt die populärkulturelle Rezeption Jane Austens ein erstaunliches Phänomen dar. Zwischen 2009 und 2011 sind allein mehr als 130 Romane publiziert worden, die in irgendeiner Weise an Austens wohl bekanntestes Werk Pride and Prejudice anknüpfen.43 Bisher scheint dieser Trend anzuhalten. Die breite populärkulturelle Austen-Rezeption lässt sich aber nicht nur anhand von Romanen und Verfilmungen nachweisen, sondern auch in Gestalt von Fan Fiction im Internet, die man wohl eher bei aktuellen Fernsehserien erwarten würde als bei einem Literaturklassiker vom Beginn des 19. Jahrhunderts.44 Das Verhältnis zwischen literarischen Texten und deren populärkulturellen Verarbeitungen, das sich in der Austen-Rezeption zeigt, beschreibt Heta Pyrhönen wie folgt: Contemporary culture knows two Jane Austens. The first Jane Austen is the literary innovator respected for her groundbreaking contributions to the art of the novel. In her six novels she honed a bold ironic style, helped establish a sense of character as an individual, and experimented with various strategies for representing consciousness; in particular, she excelled in new ways of employing free indirect discourse. […] The second Austen is the creator of a memorable and emotionally appealing fictional world where delightful characters are looking for true love but always encounter various obstacles before happiness is theirs. The status of this Austen as primarily a worldmaker is best illustrated by the staggering number of adaptations of her novels into various media. The darling of the general reading and movie-going public, this Austen wrote romances set in a world that fosters immersion for the reader.45

Ähnlich argumentiert Urszula Terentowicz-Fotyga, wenn sie feststellt: […] in the last twenty years Austen’s works, and Pride and Prejudice in particular, have become such an inherent part of cultural discourse that it is becoming more and more difficult to separate the original novel from the layers of tributes, adaptations, interpretations, reconstructions and reworkings.46

41 42 43 44 45 46

Vgl. Zimmermann (2015). Vgl. Birk (2015). Vgl. Looser (2013), S. 183. Vgl. Burkhard/Fleischer (2015). Pyrhönen (2013), S. 183. Terentowicz-Fotyga (2012), S. 264.

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Vergleichbares ließe sich auch für andere Klassiker der englischen Literatur, wie etwa Shakespeare oder Dickens, aufzeigen, die gleichfalls immer wieder zum Gegenstand reger populärkultureller Verarbeitung werden. Zumindest im englischsprachigen Kontext leistet die Populärkultur unzweifelhaft einen entscheidenden Beitrag dazu, dass kanonische literarische Texte weiterhin erinnert werden. Allerdings bleiben sie im kulturellen Gedächtnis oft in erheblich reduzierter Form präsent. Szenen, Figuren, ganze Handlungsstränge drohen in Vergessenheit zu geraten, ganz zu schweigen von der sprachlich-stilistischen Dimension des Textes. Was Literaturklassiker in einer Wahrnehmung, die durch audiovisuelle Medien und Populärkultur gefiltert ist, einzubüßen drohen, sind jene feinen Nuancen, die literarische Werke auszeichnen – so etwa sprachliche Differenzierungen und Angebote für unterschiedliche Lesarten, die sich letztlich nur bei einer genauen und wiederholten Lektüre erschließen. Die Sprache des Originaltextes spielt in der Rezeption oft keine wesentliche Rolle; vielmehr fällt sie – abgesehen von einigen wenigen markanten Formulierungen, die der Wiedererkennbarkeit förderlich sind, die aber durch die fortwährende Wiederholung zu einem Klischee zu verkommen drohen (›To be or not to be‹…), häufig einer Modernisierung zum Opfer. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht nicht nur darin, die komplexen Verflechtungen zwischen dem literarischen Text und seinen diversen intertextuellen und populärkulturellen Verarbeitungen zu analysieren und zu kontextualisieren, sondern auch darin, das Bewusstsein für die Differenzen zwischen dem literarischen Text und seinen Verarbeitungen aufrecht zu erhalten und literarische Texte auch als Sprachkunstwerke im Bewusstsein zu halten. Dies soll freilich nicht heißen, dass es populärkulturellen Bezugnahmen auf und Verarbeitungen von literarischen Klassikern per se an Originalität oder Komplexität mangelt, und bisweilen wird auch der sprachlichen Gestaltung des Bezugstextes Tribut gezollt. Statt Populärkultur über einen Kamm zu scheren und von einer binären Opposition zwischen ›Hochkultur‹ und ›Populärkultur‹ auszugehen, empfiehlt es sich, die Relation zwischen ›Hochliteratur‹ und ›populären Medien‹ als Kontinuum aufzufassen, auf dem einzelne Texte/Medienprodukte aufgrund von Kriterien wie Originalität, thematischer und struktureller Komplexität sowie intellektuellem Anspruch näher an dem einen oder dem anderen Pol situiert sein können. Für eine solche Sichtweise spricht nicht zuletzt auch die historische Variabilität einer Zuordnung literarischer Werke zur Hochoder Populärkultur. Bekanntlich fungierten selbst die Dramen Shakespeares in der Renaissance als Unterhaltung für die ungebildete Unterschicht Londons. Da dieser Artikel mit Überlegungen zur Didaktik begonnen hat, soll nun abschließend noch einmal an diese angeknüpft werden. Aus dem oben Gesagten resultiert, dass es sich lohnt, auch zukünftige Generationen an Literatur heranzuführen, in der Schule wie auch in der Hochschule. Dabei kann populär-

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kulturellen Verarbeitungen durchaus eine Brückenfunktion zukommen, erleichtern sie doch oft den Zugang zu Werken, deren Bedeutung sich erst durch eine genaue Analyse und eine historisch-kulturelle Kontextualisierung erschließt. Letztlich geht es – über die sozialen und kulturellen Funktionen von Literatur hinaus – aber auch darum, zu erfahren, dass Literatur Leserinnen und Leser ganz persönlich, auf kognitiver und emotionaler Ebene ansprechen und herausfordern kann. Diese Dimension von Literatur ist es, die laut der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum entscheidend zum besonderen Wirkungspotential von Literatur beiträgt. Literarische Texte vermögen laut Nussbaum in besonderem Maße, Empathie zu evozieren, denn sie seien oft »disturbing in a way that history and social science writing frequently are not. Because it [literature] summons powerful emotions, it disconcerts and puzzles«47.

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47 Nussbaum (1995), S. 5.

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Helmut Meter

Wider den Zeitgeist. Vom Nutzen der Beschäftigung mit literarischer Tradition

Die literarische Tradition1 hat keine gute Konjunktur in der Gegenwartsgesellschaft. Wie immer man die Situation betrachtet, trotz einzelner hoch spezialisierter Forschungssektoren2 gilt aufs Ganze gesehen, dass die Hinwendung zu literarischen Traditionsbeständen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Zusammenhängen ein nur geringes Interesse, wenn nicht Gleichgültigkeit hervorruft. Literatur wird meist als ein gegenwärtiges, auf die soziale Aktualität bezogenes und sich in ihr vollziehendes Phänomen verstanden, als ein Ausweis von zeitgenössischer Unmittelbarkeit. Sicherlich mag es hier gewisse Unterschiede zwischen den europäischen Kulturnationen geben. Doch selbst in Gesellschaften wie der französischen oder der italienischen, wo die traditionsgeprägten Litterae eine noch spürbare Präsenz im heutigen kulturellen Diskurs aufweisen, lässt sich das entschiedene Dominieren der Jetztzeit in der Beschäftigung mit literarischen Erzeugnissen nicht übersehen. Gewiss hängt dies nicht unerheblich mit einer seit längerem schon beobachtbaren Abwendung von historischen Bezügen in Denken und Mentalität vieler Zeitgenossen zusammen. Ökonomie, Politik und Wissenschaft, ja selbst manche Theologen haben sich seit langem schon einer Fortschrittsideologie verschrieben, die im jeweiligen Tran1 Der Begriff der literarischen Tradition kann als Teilaspekt des Traditionsverständnisses nach H. Blumenberg betrachtet werden, dem zufolge Tradition aus »Testaten und Legaten« besteht und nicht die schieren Relikte der Geschichte meint. Tradition ist folglich das kulturelle Erbe, das im Wechsel der Generationen weitergereicht wird und ein vielfältiges Wissen und Können umfasst, das u. a. die Bereiche der Arbeitsweisen, der Kommunikationsformen, des künstlerischen Schaffens oder der moralischen Normen betrifft. Vgl. Blumenberg (1981), S. 375. Damit ist zugleich die soziale Funktion der Tradition auch in modernen und postmodernen Gesellschaften angesprochen, der sich Anthony Giddens (1993) im Sinne des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft widmet. 2 Man denke etwa an die stattliche Zahl – teils erweiterter – Mittelalterzentren an deutschen Universitäten wie das »Interdisziplinäre Zentrum Mittelalter-Renaissance-Frühe Neuzeit« (»Forum Mittelalter-Renaissance-Frühe Neuzeit«) der FU Berlin, das »Mittelalterzentrum« der Universität Freiburg, das »Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung« der Universität Göttingen oder das »Zentrum für Mittelalter- und Renaissanceforschung« der Universität München.

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szendieren des gerade Erreichten, im schnellen Aufbruch zu immer weiteren Erkenntnissen, Einsichten und Zielen das jeweils Vorhandene zunehmend geringschätzt, als überwunden betrachtet und der kulturellen Archivierung überantwortet. Der Dämon rigoroser Zukunftsorientierung, der im rasch wechselnden Gewand des stets Neuen daherkommt, lässt kaum mehr hinreichend Raum und Zeit, den Blick zurückzuwenden. Schließlich wäre dies auch nicht mit dem Nützlichkeitspostulat3 vereinbar, das allenthalben um sich greift und zumal in Zeiten oft bemühter ökonomischer Strukturzwänge das Argument der Plausibilität für sich beanspruchen kann. Da könnten sich, müsste man wohl glauben, Literaturfreunde und professionell mit Literatur Befasste im Grunde nur freuen, dass ihr Interessen- und Tätigkeitsfeld überhaupt noch besteht – wenngleich in weitgehend aktualitätsbezogener Einschränkung; besser eine eingehegte, doch gesicherte Präsenz von Literatur als deren sich abzeichnendes Schwinden aus Bewusstsein und Alltag der Zeitgenossen. Im Übrigen handelt es sich beim fait litt8raire, könnte man meinen, letzten Endes um eine prinzipielle Gegebenheit, um eine Erscheinungsform menschlicher Ingeniösität und künstlerischer Ausdruckskraft, die nicht notwendigerweise den Rekurs auf Vergangenes erfordert, um in ihrer Eigendimension angemessen begriffen zu werden. Literarisch induziertes Denken, Empfinden, Erleben oder Genießen müsste sich demzufolge ebenso gut erreichen lassen über die Lektüre von Gegenwartsliteratur wie anhand traditioneller Fiktionstexte – möglicherweise sogar noch besser, da die Barriere des zeitlich schon Fremden, nicht zuletzt auf sprachlicher Ebene, entfällt und einen ungehinderten Zugang zu den Texten zu ermöglichen scheint. Doch hierin zeigt sich ein Trugschluss. Gerade das Fremde im zeitlich Entlegenen hat als eine Erfahrung besonderer Art zu gelten, insofern hieraus die Fähigkeit zu einer heuristischen und fruchtbaren Distanz gegenüber dem immer wieder von unmittelbarem Gegenwartsbezug Bestimmten erwachsen kann. Die Alterität älterer Texte ist ein Gewinn und verhindert im Zweifelsfall, dass neugierig gewordene Leser in der Normativität des Hier und Jetzt befangen bleiben. Der solcherart beförderte Perspektivenwechsel darf als Voraussetzung eines Denkens aufgefasst werden, das aus der historischen Differenz des Gelesenen und Reflektierten auch für die Gegenwart Schlüsse zieht fernab der mono-

3 Dessen Ursprünge sind bekanntlich in der nordamerikanischen Pragmatismus-Tradition von John Dewey, William James und Charles Peirce zu sehen, insofern das Postulat der Nützlichkeit dem der Wahrheit übergeordnet wird. Im Zuge der Weiterentwicklung dieser Ausrichtung zum Neo-Pragmatismus eines R. Rorty erweist sich die Zweckdienlichkeit von Theorien als entscheidend, nicht aber die Frage, ob sie es erlauben, eine vorgegebene Wirklichkeit zu begreifen. Für die Bewertung von Theorien ist mithin maßgeblich, ob diese hilfreich sind, eine bessere Zukunft zu gestalten. Siehe Rorty (22012).

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chromen Prädisponierung von Erkennen durch nur eine historisch bestimmte Form der Aneignung von Literatur.4 Bleibt der Zugang zu Literatur ein essentiell gegenwartsbezogener,5 so ermangelt es ihm indessen an einer weiteren Erfahrung, die allein aus dem Berücksichtigen von Tradition hervorgeht. Es ist der Umstand regelhafter Bestimmtheit weiter Sektoren und ganzer Epochen literarischen Schreibens, was ästhetisch kodierte Texte als Ausfluss normativer Vorgaben und Muster ausweist, mithin zugleich als mittelbare Resultate unterschiedlicher gesellschaftlich etablierter Auffassungen. Dies impliziert des Öfteren auch ein geradezu handwerklich geprägtes Zustandekommen von Literatur und die Herausbildung von Zensoren und Hütern einer postulierten Orthodoxie des Schreibens sowie der zu Gebot stehenden Textsorten. Dass der gezielte Verstoß gegen solch normative Festlegungen den Weg für einen grundlegenden Wandel bereiten kann, der seinerseits erneut zu geronnenen Formen eines Vorschriftenkatalogs zu führen vermag, entzieht sich einem essentiell im Gegenwartsbezug befangenen Lesepublikum in der gleichen Weise. Erscheint diesem doch Literatur entweder als Ergebnis lebensgeschichtlicher Erfahrungen eines Autors bzw. einer Autorin oder als Niederschlag von deren imaginativer Kreativität. Literatur als evolutionäres Phänomen begreifen zu lernen,6 bleibt einer solcherart begrenzten Erfahrungsweise demnach in hohem Maße verwehrt. Es ist durchaus sinnvoll, nachdrücklich auf diese für Literaturexperten schlichten Zusammenhänge hinzuweisen. Schließlich vollzieht sich ja herkömmlicherweise der allmähliche Aufbau literarischer Erfahrung über die verschiedenen Bereiche des Schulsystems. In diesem werden in der Regel die Voraussetzungen eines dauerhaften Interesses an Literatur geschaffen – oder auch nicht. Und gerade hier lassen sich in markanten europäischen Staaten aktuelle Entwicklungen feststellen, die als nahezu literaturfeindlich zu bezeichnen sind. So erweist sich in den deutschsprachigen Ländern die grassierende schulische Kompetenzorientierung im Verein mit dem Primat einer präskriptiven Pädagogik, für die alles Inhaltliche unter Generalverdacht zu stehen scheint, als ausgesprochen kontraproduktiv für eine fruchtbare Beschäftigung mit Literatur. 4 Diese Sehweise entspricht in manchem Adornos Auffassung, der die »Kunstwerke der Vergangenheit« nicht als verehrenswerte »Reliquien« verstanden wissen möchte, die dem Ziel zu dienen hätten, dass sich »am Gegenwärtigen nichts ändere«. Sei solch »falsche Tradition« abzulehnen, so gilt indessen jenseits deren »Beschwörung«, dass ein »Auslöschen« von kultureller Tradition schlechthin dem »Einmarsch in die Unmenschlichkeit« gleichkomme. Siehe Adorno (1998), S. 310–320. 5 Eher vereinzelt zeigen sich Bestrebungen, ausgehend von zeitgenössischer Literatur zu deren Traditionsbezügen zu gelangen: Siehe etwa Labroisse/Knapp (1988) sowie Schmid-Bortenschlager (1985). 6 Hier sind begreiflicherweise die Verdienste der russischen Formalisten zu betonen. Vgl. etwa Striedter (1969).

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Vergegenwärtigt man sich etwa die neuen ministeriellen Vorgaben für die Deutsch-Matura in Österreich, so wundert man sich im Grunde nur noch mäßig, dass es der Literatur kaum mehr bedarf.7 Dies hat denn auch entsprechende Auswirkungen auf die universitären Curricula für das Unterrichtsfach Deutsch, die es den Studenten in einem breiteren Spektrum von Optionen anheimstellen, sich im Examen auch der Literatur zu widmen oder diese gänzlich beiseite zu lassen. In Italien entwickelt sich das Liceo classico – traditionellerweise auch ein Hort muttersprachlich-literarischer Bildung – eventuell zu einem Auslaufmodell mit noch unabsehbaren Folgen.8 Die Liste der Widrigkeiten, auch im Hinblick auf Frankreich,9 ließe sich weiterführen und lässt aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln deutlich werden, dass für die Literatur und zumal für ihre Traditionsbezüge immer weniger Raum gegeben ist. Gesellschaften, die sich der ökonomischen und naturwissenschaftlich unterbauten Optimierung ihrer selbst verschrieben haben, gerät der humane Mehrwert ästhetisch-literarischer Betätigung aus dem Gesichtskreis. Überdies gilt es ihren administrativen Exponenten, alle eventuellen Anklänge an das Odium bildungsbürgerlicher Reminiszenz zu eliminieren. Zugespitzt gesagt: Das eher sozial- denn bildungspolitische Ziel eines rigoros erhöhten Outputs an Abiturienten scheint europaweit die Literatur als für die Schule vorgeblich elitären Gegenstand ins definitive Abseits zu führen.10 Darüber zu lamentieren, ist zweifellos nicht hilfreich. Die Realität zu verdrängen, ist indes auch nicht empfehlenswert. Folglich liegt es nahe, sich ein7 Vgl. zu einem Einblick: BMBF (Bundesministerium für Bildung und Frauen, Wien): Standardisierte kompetenzorientierte Reifeprüfung an AHS (https://bildung.bmbwf.gv.at/schu len/unterricht/ba/reifepruefung.html) (Zugriff: 11/07/2014). Die Folgen daraus auch für einzelne Fremdsprachenfächer – wie das Italienische – sind nur konsequent. Siehe dazu und zum Versuch, dem entgegenzusteuern, Urban (2015). 8 Zur aktuellen Situation vgl. Perrone (2016), »Il liceo classico del futuro, breve resoconto del convegno organizzato dal Miur a Milano«, (http://www.indire.it/2016/05/05/il-liceo-clas sico-del-futuro) (Zugriff: 28/05/2016). 9 Hier zentriert sich die Diskussion signifikanterweise um das eventuelle Eliminieren von Latein und Griechisch aus den CollHges (mit entsprechenden Konsequenzen für die Lyc8es). Dabei ist bemerkenswert, dass die einflussreiche, politisch linke Lehrergewerkschaft »SnesFSU« die Rolle der alten Sprachen vehement verteidigt im Hinblick auf »notre identit8 profonde« sowie auf das Begreifen der »histoire europ8enne et celle de la langue, de la culture franÅaises«. Siehe die Stellungnahme von Val8rie Sipahimanali und Sonia Mollet in L’Humanit8 vom 22. März 2016 unter der Überschrift: »Maintenant, comment sauver les enseignements du grec et du latin?« (https://www.humanite.fr/maintenant-comment-sauverles-enseignements-du-grec-et-du-latin-602598) (Zugriff: 14/06/2016). 10 Nur sporadisch lassen sich dem widersprechende Bestrebungen verzeichnen. So findet sich im »Portale Docenti« der Universität Macerata für das Lehrprogramm des Studienjahres 2011–12 die Ankündigung einer Veranstaltung von Gabriele Cingolani zu »Didattica della tradizione letteraria«, einem Vorhaben, das von einer »prospettiva interdiscipilnare e multiculturale« bestimmt sein soll und vornehmlich »il ruolo e il senso della tradizione classica« thematisieren möchte.

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gehender der Frage zu widmen, was im engeren Sinne der Marginalisierung von Literatur im paradigmatischen Sozialbereich des Bildungssystems aber auch darüber hinaus zugrunde liegen mag. Die Hochzeit literarischer Bildung war bekanntlich eine Folge und Begleiterscheinung der Herausbildung oder aber der weiteren Konsolidierung der Nationalstaaten. Die Nationalliteratur, vornehmlich in ihren traditionellen Ausprägungsweisen, diente nicht unerheblich der Begründung und Festigung nationaler Selbstverständigung und nicht zuletzt der Selbstbehauptung gegenüber benachbarten Kulturen.11 Dies bedingte die Beschäftigung mit den markanten Beispielen jeweiliger Traditionsreihen, auch und zumal im Hinblick auf das Bemühen, diesen Textexemplaren bzw. Autoren entscheidende und aus einer longue dur8e ableitbare Faktoren für die Umschreibung eigener Identität entnehmen zu können.12 Verständlicherweise musste sich dies in eher rezenten Nationalstaaten wie Deutschland und Italien in besonderem Maße dokumentieren. Literarische Bildung war in vielem folglich eher literarische Erziehung, eine Unterweisung in mentalitätsspezifischer Verbindlichkeit. Der literarischen Tradition fiel oft die undankbare Rolle instrumenteller Beglaubigung von Ideologie zu. Das hat ihrer Wertschätzung begreiflicherweise längere Zeit geschadet. Doch sind dies tempi passati. Die nationale Karte in historischer Prägung ist zum Muster ohne Wert geworden.13 Wollte man einem gegenwärtig plausibleren Kulturmodell zuneigen, müsste hingegen das literarische Patrimonium Europas im Zentrum bildungspolitischen wie auch individuellen Interesses stehen. In der Tat scheint sich hier ein Aufgabenfeld herauszubilden, das der literarischen Tradition eine veränderte und zumindest a prima vista weniger problematische Funktion zuweist. Schließlich repräsentiert sie in diesem Verständnis ein vielschichtiges kulturelles Gefüge, dessen gemeinschaftliche Grundlagen es ans Licht zu fördern gilt.14 Hierin ist eine Perspektive angelegt, die 11 Siehe hierzu exemplarisch Wolfzettel/Ihring (1991). 12 Ein Plädoyer für eine bildungs- und identitätsorientierte Literaturbegegnung bietet Volker Gerner (2007) mit seiner Dissertation: Das Eigene und das Andere. Eine Theorie der Deutschdidaktik am Beispiel des identitätsorientierten Literaturunterrichts. Der Autor tritt dabei für eine stärkere pädagogisch fundierte Auffassung von Fachdidaktik ein. 13 Dies zeigt sich im Übrigen auch an vereinzelten Klagen über die angebliche Traditionslastigkeit der im gymnasialen Deutschunterricht zu behandelnden literarischen Texte, wobei nicht zuletzt die sprachlichen und historischen Hemmnisse eines ungehinderten Zugangs zu solcher Literatur hervorgehoben werden. Vgl. beispielsweise die unter dem Titel »Ab und an auch mal neuere Lektüre« veröffentlichte Lesermeinung der Schülerin Milena Schurr in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 80 vom 7. 4. 2015, S. 8. 14 Hingewiesen sei hier nicht zuletzt auf die europaweit ausgerichtete Erhebung unter Literaturlehrern über die Vorstellung von einer europäischen Literatur, die von einer Forschergruppe der »Facolt/ di Scienze Umanistiche« der Universität Rom (La Sapienza) unter der Ägide von Roberto Antonelli durchgeführt wurde. Das Konzept konkretisiert sich im mul-

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etliche Argumente für sich beanspruchen kann, ganz unabhängig von der Frage, was im Einzelnen und welcher Auffassung zufolge auch immer das anvisierte Europa sein sollte. Jedenfalls zeichnete sich hier ein Verständnis von Literatur ab, das allen Interessierten und damit Konfrontierten die Möglichkeit eröffnet, sich ihrer kulturellen Einbindung im weitgespannten Rahmen transnationaler Gemeinsamkeiten bewusst zu werden. Genuin europäische Denkmuster, Fragestellungen und Errungenschaften aus den verschiedensten Epochen könnten auf diesem Wege zur Anschauung gebracht werden und zum Aufbau eines rudimentären Orientierungswissens beitragen. Überzeitliche menschliche Befindlichkeiten oder Probleme, in wechselnder historischer Einkleidung, könnten die Herausbildung elementarer anthropologischer Einsichten begünstigen. Aus der Beschäftigung mit wirkungsgeschichtlich hervorstechenden Werken europäischer Literatur vermag sich des Weiteren ein Sinn für ästhetische Komplexität und außergewöhnliche Aussagekraft zu entwickeln. Kurzum: Literarische Tradition kann sich als ein weitgespanntes Feld der Besinnung auf dem Bewusstsein entrückte Zusammenhänge sowie des individuellen und kollektiven Selbstverständnisses erweisen.15 Es leuchtet ein, dass eine solch ideale Sicht der Dinge dem Vorwurf ausgesetzt ist, sich vornehmlich an den Kreis der happy few zu richten. Doch ohne ideale Vorstellung lässt sich kaum ein praktikables Konzept entwickeln. Im terre / terre des schieren Pragmatismus erlischt jeder Funke nachhaltiger Motivation. Es kann letzten Endes auch nur darum gehen, mögliche Wege zu sinnvollen Zielen aufzuzeigen, nicht aber ein ausladendes Programm zu entwickeln, das bereits im Ansatz an der Begrenztheit individueller wie institutioneller Rahmenbedingungen scheitern müsste. Auch weitere Kritikpunkte an einem allzu forcierten Eintreten für das förderungswürdige Potential literarischer Tradition im europäischen Rahmen liegen auf der Hand. Da ist zunächst die Skepsis, die wohl angebracht ist gegenüber einem verbal allenthalben wahrnehmbaren Bekenntnis tiperspektivischen Bemühen um eine literarische Kanonbildung, die den mannigfachen Sprachen Europas gerecht werden könnte. Siehe dazu die Beiträge in Bianchini/Landolfi (2007). Hervorzuheben sind die Artikel von Roberto Antonelli (»La letteratura europea, ieri, oggi, domani«, S. 9–40) und Cesare Segre (»Quanto vale e quanto dura il canone?«, S. 41–49). – Zur Vorstellung eines rudimentären europäischen Kanons von 16 Werken im Hinblick auf eine »formazione dell’immaginario e del sistema affettivo delle giovani generazioni« siehe Antonelli/Paradisi/Sapegno (2012), bes. S. 9. 15 Was die schulische Situation betrifft, so ist es vielversprechend, auch die Schülerperspektive zu berücksichtigen. Darauf zielt ein empirisch angelegtes und von der DFG gefördertes Forschungsprojekt von Christian Dawidowski an der Universität Osnabrück ab mit dem Titel: »Ko-Konstruktion von literarischen Bildungsvorstellungen im Verlauf der gymnasialen Oberstufe«. Dieses wirft die Frage auf, »wie es zur Entstehung und Festigung von Vorstellungen und Werthaltungen (Deutungsmustern) über Literatur bei Schüler/innen am Ende der Sek. II kommt«. Das Problem der »Gewährleistung kultureller Kontinuität (hier bezüglich der literarischen Tradition)« verleihe dem Vorhaben »große Relevanz«.

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zu Europa, das freilich vielfach bereits zu einem routinierten Europa-Diskurs ohne inhaltliche Substanz mutiert ist. So ist die Frage erlaubt, ob und inwieweit die europäischen Gesellschaften das, was sie an Gemeinsamkeit propagieren, überhaupt wollen.16 Solche Ungewissheit wirkt sich zweifellos nicht günstig auf Versuche aus, Formen integrativer Kulturtradition zu konkretisieren. Darüber hinaus sieht sich zumal der Versuch, einen praktikablen Modus für die schulische Befassung mit der literarischen Tradition Europas zu suggerieren, einem weiteren Hindernis gegenüber : den multilingualen Implikationen eines wie auch immer gearteten Vorgehens. Dante, Cervantes, Shakespeare und Goethe in textlichen Originalversionen zu lesen, müsste selbstverständlich die Möglichkeiten jedweder Bildungsanstalt des Sekundarbereichs und der Schüler überfordern. So stellt sich die naheliegende Frage, welcher Nutzen sich aus dem mehr oder weniger systematischen Rückgriff auf literarische Übersetzungen für den Lese- und Vermittlungsvorgang ableiten ließe.17 Abgesehen von dem irgendwie immer präsenten Syndrom des traduttore traditore sähen sich die betroffenen Personen dabei durchweg auf Vorlagen in muttersprachlichem Gegenwartsidiom festgelegt und somit, rein sprachlich gesehen, um die Erfahrung historischer Distanz gebracht.18 Unwillkürlich muss hier der Zweifel aufkommen, ob demzufolge eine einzelliterarisch begrenzte Auseinandersetzung mit literarischer Tradition nicht die schlüssigere Wahl wäre. Doch dem steht, wie gesehen, zumal in Deutschland das allenthalben verbreitete Zurückweisen all dessen entgegen, was auch nur im Entferntesten mit nationaler Zielrichtung in Verbindung gebracht werden könnte. Der enge Kreis des Möglichen schließt sich wiederum konsequent. Die schwierige Gemengelage lässt folgerichtig nur einen, kaum abweisbaren Schluss zu: Das Eintreten für literarische Tradition im Schulunterricht – in europabezogener Hinsicht – bedarf zwangsläufig eines geschickten bricolage, um sich überhaupt ansatzweise konkretisieren zu können. Paradoxerweise kann gerade dies als Chance begriffen werden. Ist doch vorherzusehen, dass wohl nicht dem groß Angelegten oder vermeintlich Exhaustiven Erfolg beschieden ist, sondern vielmehr dem Kleinteiligen und Exemplarischen. Unter der Voraussetzung selektiver Begrenzung ließen sich durchaus viel16 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Beiträge in Baasner (2008) sowie Schild (2008). 17 Zu einem vorsichtigen, sich als sensibel verstehenden Versuch mit sieben auf die Sek.-Stufe I bezogenen Unterrichtsmodellen vgl. Weinkauf/Josting (2013). 18 Damit soll die kulturprägende und, historisch gesehen, unabweisbare Bedeutung literarischer Übersetzungen für das Bewusstsein des jeweils Anderen und Benachbarten in der europäischen Kulturgeschichte nicht verschwiegen werden. Übersetzungen determinieren trotz aller Mängel nicht unerheblich die Rezeption von Texten, Denkweisen und Erkenntnissen aus Gesellschaften anderer Sprachen. Bei Übersetzungen aus zweiter Hand ist dies besonders komplex. Siehe hierzu die Heidelberger Habilitationsschrift Plack (2015).

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versprechende Versuche unternehmen, wobei örtliche, schulartenspezifische und schülergebundene Bedingungen variable Anordnungen im Herangehen an literarische Tradition erfordern können. Mit strukturellem Zwang lässt sich ebenso wenig bewirken wie mit omnipräsenten Schemata. So könnte etwa ein konkreter Versuch narrativen Kurzformen und ihrer gezielten Endmarkierung gewidmet sein. Ohne großen Aufwand ließe sich eine Entwicklungslinie von Boccaccio über Goethe bis zu Maupassant und Pirandello ziehen, und dies anhand einer nur knappen Textauswahl. Der Anteil an Original- und Übersetzungstexten wäre nach den jeweiligen schulischen und individuellen Verhältnissen zu bemessen, wobei recht unterschiedliche Situationen vorstellbar sind. Ein naheliegender Erörterungsrahmen von Prinzipien des Erzählens, ihrer historischen Permanenz und Variabilität bei gleichzeitiger Wahrung grundlegender Intentionen zeichnet sich unschwer ab. Dabei mag es im Einzelnen gar nicht ein bestimmter, vorgegebener Lernerfolg sein, der von Bedeutung ist, sondern das unvermeidliche Innewerden eines transnationalen Zusammenhangs der Texte, das schrittweise Sich-Einlassen auf einen verbindenden kulturellen Nexus, der sich nicht aktuellen Gegebenheiten verdankt oder zufallsbestimmten Konvergenzen, sondern aus einer langfristigen europäischen Kulturtradition erwachsen ist. Das simple Beispiel verdeutlicht, dass keine spektakulären Ergebnisse zur Debatte stehen sollen bzw. können. Gerade die Annäherung an das augenscheinlich Elementare, doch im Blickwinkel junger Europäer offenbar kaum Vorhandene ist wichtig. Einblicke in Bestand und Beständigkeit literarischer Tradition in Europa erweisen sich durchaus als ein Wert an sich19 im Hinblick auf junge Personen, die in einem europäischen Lebens- und Entwicklungsrahmen verortet sind, den sie nicht nur aus populärkulturellem Erleben und elementarer ökonomischer Betroffenheit kennen sollten. Literarische Tradition wird nun allerdings auch zugänglich über die Kenntnisnahme der Texte literarhistorisch bedeutender Einzelpersonen. Zweifellos ist dies bildungsgeschichtlich gesehen ein des Öfteren beobachtbares Vorgehen, wenngleich die zunehmende Phobie im Umgang mit allem, was von der Aura des Besonderen oder gar Einzigartigen bestimmt sein könnte, hier manch empfindlichen Rückschritt bewirkt hat. Ein Musterbeispiel für die Hinwendung zu

19 E. Raimondi betont, auch in europäischer Perspektive, den interkulturellen Dialog, der aus der Befassung mit Literatur hervorgeht, und richtet den Blick auch auf die literarische Tradition als »luogo di confronto«. Positioniert zwischen »ricordo fedele« und »lacerante rottura«, stehe die Tradition nicht für einen »Widerspruch«, sondern für eine »idea di memoria come ›energia‹« und nehme die Gestalt einer »pluralit/ mobile e sincronica« an. Siehe Raimondi, »L’esperienza letteraria; un dialogo delle culture«, (http://www.griseldaonline.it/ didattica/ezio-raimondi-esperienza-letteraria-dialogo-culture.html) (Zugriff: 14/06/2016).

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einer historischen Literaturgröße ist offenkundig Shakespeare,20 dem es sogar gelungen ist, sich teilweise vom strikten Englischunterricht zu emanzipieren und auch in andere Unterrichtssphären Eingang zu finden. Im Falle eines Cervantes oder MoliHre wäre Entsprechendes schwer vorstellbar, nicht aus – zumeist umstrittenen – Qualitätserwägungen, sondern auf Grund der quantitativen, ja erdrückenden Dominanz des Englischen im Verhältnis zu den anderen europäischen Fremdsprachen in den jeweiligen Schulsystemen. Nun kann man am Muster Shakespeares sicherlich viel Gewinn Bringendes erfahren, von der Charaktertypologie über Grenzsituationen menschlicher Existenz bis hin zu selbstverständlichen Rückgriffen auf vorangehende europäische Literatur, etwa bestimmte Novellen Bandellos. Überdies illustriert dieses Beispiel eine Konzentration mannigfacher literarischer Aspekte, die in solcher Kompaktheit schwerlich einem Werk der zeitgenössischen Literatur zu entnehmen wäre. Offenbar manifestieren sich künstlerische Höhepunkte anschaulich in einem breiteren historischen Längsschnitt, nicht aber im limitierten historischen Augenblick, ohne dass es indessen hilfreich wäre, Hegels Diktum zu bemühen, die Kunst gehöre ihrer Größe nach der Vergangenheit an.21 Möchte man demgegenüber nicht einen Einzeltext oder einen einzelnen Autor, sondern eine Auswahl affiner Texte zu Vermittlungszwecken privilegieren, so hat dies wahrscheinlich den Vorteil einer größeren sinnlichen Überzeugungskraft, was das Ausdifferenzieren konzeptioneller und mentaler Verbindungselemente betrifft. Denkt man diesmal etwa an einen historischen Querschnitt im Sortieren geeigneter Texte, so bietet sich unter anderem das Paradigma des bürgerlich-realistischen Romans in Europa an, mit beispielsweise einer Autorenreihe von Dickens, Balzac, P8rez Galdjs und Fontane. Ein jeweiliger Text oder signifikanter Textausschnitt und der Einsatz weniger analytischer Kriterien können zur Anschauung bringen, wie einander nahe Lebenswelten in ihrer Essenz erfasst werden und manchmal noch in Restbeständen aktueller Gesellschaften nachweisbar sind. Literarische Tradition muss unter anderem gar nicht allzu weit zurückreichen, um produktive Effekte zu bewirken. Schon das relativ Nahgelegene wird oft als das grundlegend Ferne erfahren von jungen Personen, deren geschichtlicher Horizont, aus welchen Gründen auch immer, nicht selten gerade einmal fünfzig Jahre zurückreicht.22 So erhellt aus unterschiedlichen Blickwinkeln, dass die Befassung mit literarischer Tradition auch darauf hinausläuft, ein rudimentäres Geschichtsbewusstsein zu wecken. Wenn im Vorangehenden mit einigem Nachdruck die zentrale Rolle der 20 Vgl. hierzu z. B. Küpper (1982) und Günther (2014). 21 Vgl. Hegel (1986), Vorlesungen über die Ästhetik, S. 25. 22 Vgl. hierzu auch das Kap. »Empirische Befunde zum Geschichtsbild von Jugendlichen« bei Schroeder/Quasten (2012), S. 130–166.

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schulischen Begegnung mit Literatur23 betont wurde, so hat das seine guten Gründe. Zufallsbestimmte und autodidaktische Hinwendungen zur Literatur sind erfreulich und wünschenswert, garantieren allerdings ob ihres okkasionellen Vorkommens keine ausreichende Basis, um die literarische Tradition mittelfristig vor dem musealen Dasein und die ihr Verbundenen vor dem Reservat zu bewahren. Die tief greifende Verunsicherung der europäischen Gesellschaften ist am Beginn des dritten Jahrtausends offenbar so ausgeprägt, dass es ihnen schwerfällt, sich auf wichtige Aspekte ihrer Kultur zu besinnen.24 Dies resultiert unter anderem auch aus dem Faktum einer kontinuierlichen Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen, die begreiflicherweise nach und nach die Berücksichtigung ihrer eigenen kulturellen Besonderheiten und Traditionen einfordern. Wie sehr das, bezogen auf traditionelles Literaturgut, zu erheblichen Problemen führen kann, lässt sich an einer ausgeprägten Einwanderungsgesellschaft wie der nordamerikanischen beobachten, und bezeichnenderweise ausgehend von der jüngeren Generation der neuen Staatsbürger. Deshalb hat sich an deren Aufbegehren gegen den »Western Canon« literarischer Texte, von dem etliche Universitäten in den späten 1980er Jahren erfasst wurden, im Prinzip nichts geändert. »Hey, hey, ho, ho, Western culture’s got to go«, ist immer noch eine zumindest latente Forderung.25 Neues und Anderes anzuerkennen, wird in Europa sinnvoll und unerlässlich sein, doch ein substantieller Verzicht auf das Eigene – und damit auch auf traditionsorientiertes Denken – würde ebendieses Europa eines Gutteils seiner gemeinschaftlichen Identität und seiner Begründungsmuster verlustig gehen lassen, nicht zuletzt zugunsten eines konturlosen Internationalismus. Sich der eigenen Tradition – also auch der literarischen – zu stellen, mag in vielen gesellschaftlichen Konstellationen unbequem, unattraktiv, ja inopportun sein. Auf längere Sicht wird man sich dem freilich nicht entziehen können. Das mag dann möglicherweise auf den Versuch einer definitiven Verabschiedung der Vergangenheit hinauslaufen. Damit wäre zumindest ein Verständnis von Gesellschaft im Voll23 In europabezogener Hinsicht liegen die nationalen Unterschiede in der Bereitschaft, sich auf transnationale Inhalte einzulassen, auf der Hand. So ist in Frankreich noch eine merkliche Zurückhaltung festzustellen. Siehe Sivadier (2005). 24 Dies erklärt auch, dass des Öfteren immer noch versucht wird, übernationale Erfordernisse in einem nationalen Rahmen zu verorten bzw. diesem einzuverleiben. Vgl. u. a. Choquet (2015). 25 Die auch von Rev. Jesse Jackson, einem damaligen Bewerber um die demokratische Präsidentschaftskandidatur, unterstützte Abwendung von der »Western Civilization« hat in den 1990er Jahren zu einer raschen Revision oder auch Liquidation entsprechender Lehrangebote geführt. Relativierend dazu Wilson (1995), vgl. Kap. »The Cult of Western Culture«, S. 64–69. Aktuelle Bestrebungen scheinen eine Rückkehr zum kulturellen Wertesystem des Westens nahezulegen. Vgl. den Essay von Esolen (2016), »Hey Stanford: ›Western Civ. has got to grow‹« (http://www.mindingthecampus.org/) (Zugriff: 12/05/2016).

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bild erkennbar, dessen Züge bislang erst umrissartig hervortreten, von einer Gesellschaft, die in ihrer ökonomischen, sozialen, technologischen und konsumtiv geprägten Aktualität lebt, ohne das Bedürfnis oder gar die Fähigkeit ästhetisch geleiteten Zurückblickens. In Hinsicht auf die nord- und mitteleuropäischen Staaten (mit ihrem säkularen protestantischen Substrat) hat dies im Ansatz bereits Stendhal vor zweihundert Jahren vorausgesehen, samt dem Problem der daraus erwachsenden Langeweile.26 Jenseits pragmatischer oder bildungsspezifischer Erwägungen rührt die Frage nach Sinn und Zweck der Auseinandersetzung mit literarischer Tradition folglich auch an Grundprobleme kultureller Selbstauffassung gesellschaftlicher Gebilde. Was Europa dazu geltend machen kann, wird sich zeigen. Die skeptisch grundierte Hoffnung, die Paul Val8ry nach dem ersten und Eugenio Montale nach dem zweiten Weltkrieg im Hinblick auf ein um Selbsterhaltung bemühtes europäisches Kulturbewusstsein nicht zuletzt literarischer Prägung noch zum Ausdruck brachten,27 sieht sich bislang eher nicht bestätigt. Doch vielleicht verläuft historische Entwicklung ja nicht linear, sondern nach zyklischen Prinzipien. Dies ließe hoffen. Indessen wird viel davon abhängen, wie sehr die Europäer bereit und imstande sind, an sich und ihre traditionsvermittelten Werte zu glauben. Diese gilt es im Kontakt mit gänzlich anderen Wertsystemen weder absolut zu setzen noch gering zu schätzen. An der Einstellung zur eigenen kulturellen Tradition – und hier nicht zuletzt zur literarischen Tradition – wird sich unter anderem ermessen lassen, wohin sich die europäische Gesellschaft bewegt und was an ihr noch als europäisch zu betrachten ist. In dieser Perspektive ist es keineswegs Zeitvergeudung, sich der literarischen Vergangenheit zuzuwenden. In deren konkreter Anschauung mag es dann zumindest leichter fallen, die Frage zu beantworten, wie man sich ihr gegenüber verhalten sollte. Oder, krude und mit einem Hauch von Illusion gesagt: Der Appetit stellt sich bekanntlich des Öfteren beim Essen ein.

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26 Vgl. Stendhal (1987), Rome, Naples et Florence (1826), z. B. S. 321–322 u. 366–367. 27 Siehe hierzu Meter (2011).

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Wozu romanische Literaturwissenschaft im Lehramtsstudium? Zur kulturellen und ästhetischen Bildungsverantwortung der Romanistik in der universitären Lehrerbildung

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Lehrerbildung auf dem »lermenden Markt des Jahrhunderts« (Friedrich Schiller) Der Lauf der Begebenheiten hat dem Genius der Zeit eine Richtung gegeben, die ihn je mehr und mehr von der Kunst des Ideals zu entfernen droht. Diese muß die Wirklichkeit verlassen, und sich mit anständiger Kühnheit über das Bedürfniß erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freyheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie vom lermenden Markt des Jahrhunderts.1

Diese Worte, die heute so erstaunlich aktuell klingen, stammen aus einer Zeit, in der die neueren Philologien – und mit ihnen die Literaturwissenschaft – überhaupt erst im Begriff sind, sich als eigenständige akademische Disziplinen herauszubilden, geschweige denn zu etablieren. Formuliert hat sie Friedrich Schiller 1793 in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Zwei Jahrhunderte später kann man nicht eben behaupten, die Konjunktur der ›materiellen Notdurft‹ als »Idol der Zeit« habe sich abgenutzt. Im Gegenteil: Hat der Nachhall der damaligen Zeitkritik im Gefolge Kants seinerzeit dazu geführt, die Zweckbestimmung des Studiums als nachrangig zu betrachten und vielmehr die Bildung des einzelnen Menschen und mit ihm die Höherbildung seines ganzen Geschlechts in den Mittelpunkt zu stellen, finden wir heute die vermeintliche Lebensferne und Weltfremdheit der Geisteswissenschaften beklagt und sehen zugleich verstreute Relikte ihrer traditionellen Gegenstände gegen handlich geformte Bausteine und mundgerecht komprimierte Häppchen fragmentierter Bildungsinhalte und Begriffe eingetauscht, fundiertes und kohärentes Wissen 1 Schiller (2002 [1793]), Zweyter Brief, S. 9f.

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durch versprengte Informationen ersetzt. Dem entspricht, dass auch »[u]nser Bildungssystem […] die Tendenz [hat], das als Wissen Abfragbare anstatt die eigenständige Urteilskraft, die kreative Lösungsfindung, den Wissenstransfer und die Einheit der Welterkenntnis in den Mittelpunkt zu stellen.«2 Die utilitaristische Forderung nach Wirtschaftlichkeit und Effizienz bestimmt zunehmend unseren Alltag und hat in der Folge der Bologna-Reform auch das deutsche Bildungssystem fest im Griff.3 In Zeiten immer noch wachsender Ökonomisierung von Vorgängen des Lehrens und Lernens weicht der traditionshaltige humanistische Bildungsgedanke4 einem oftmals nur mehr punktuellen, zweckorientierten Abrufen von Wissensbeständen, die zudem durch die rasche und immer leichter werdende Verfügbarkeit von Mitteilungen, Auskünften und oftmals ungesicherten Informationen überlagert und beiseitegedrängt werden. Im Vordergrund steht mithin die unmittelbare »Verwertbarkeit des Wissens«.5 Sie tritt an die Stelle seiner intensiven Durchdringung, während das einstige Ideal einer Menschenbildung durch Wissenschaft der Beschäftigungsfähigkeit (employability) als neuer Zweckbestimmung des Studiums weicht. Reformskeptiker beklagen denn auch den Mangel an geistigen Freiräumen in dichtbesetzten Stundenplänen und eine Verschulung des Studiums, die die Universitäten in die Nähe der Fachhochschulen rückt. Sie kritisieren auch die in der Reform zugrundegelegten Begriffe der Kompetenz und des Wissens, das unausgeglichene Verhältnis von ›Berufsausbildung‹ und ›Persönlichkeitsbildung‹ und schließlich das Konzept eines auf ›Beschäftigungsfähigkeit‹ zielenden Studiums, das den einen nur als ›Notanker‹ gilt, den anderen zu sehr an den Erfordernissen des Marktes ausgerichtet erscheint.6

Angesichts einer tiefgreifenden Verkürzung von Ausbildungszeiten – nicht allein im Bereich der Schule, sondern längst auch in der universitären Lehrerbildung und in der schulpraktischen Lehrerausbildung –7 bleibt immer weniger Zeit für 2 Nida-Rümelin (2013), S. 11. 3 Vgl. Ißler (2018d). 4 Zum Bildungsbegriff vgl. die prägnante und zeitgemäße Definition des Germanisten Harro Müller-Michaels : »Bildung ist das Vermögen, Wissen, Können und Verantwortung so zu entwickeln, dass daraus das Bedürfnis wird, die eigenen Möglichkeiten ganz auszuschöpfen, um über sich hinaus zu wachsen.« (Müller-Michaels [2009] , S. 42) sowie den Ansatz von Peter Bieri (2010). In dem Essay, der auf eine Festrede an der Pädagogischen Hochschule Bern von 2005 zurückgeht, nuanciert der Philosoph Bildung als »Weltorientierung«, »Aufklärung«, »historisches Bewußtsein«, »Artikuliertheit«, »Selbsterkenntnis«, »Selbstbestimmung«, »moralische Sensibilität«, »poetische Erfahrung« und »Leidenschaftliche Bildung«. Vgl. auch Bieri (22014). 5 Vgl. Nida-Rümelin (2013), S. 24. 6 Lamping (2015), S. XX. Zur Kritik der Beschäftigungsfähigkeit (employability) vgl. wiederum Nida-Rümelin (2013), S. 12. 7 In der Schule äußert sich die Verkürzung gegenwärtig noch durch die Reduktion der gymnasialen Oberstufe um ein Schuljahr (»G 8«), die derzeit in Nordrhein-Westfalen wieder

Wozu romanische Literaturwissenschaft im Lehramtsstudium?

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die Reifung einer Persönlichkeit, auf deren Grundlage jede Form von Unterricht wirkliche Effektivität überhaupt erst erlangt. Denn nicht etwa die Verwaltung von Bildung, sondern vielmehr ihre Verkörperung ist es, mit der auf dem Feld des Lernens und Lehrens Nachhaltigkeit erzielt zu werden vermag. In diesem Zusammenhang pointierte jüngst der Germanist Heinz Schlaffer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Die Ablösung von Wissen durch Kompetenz, von Sprachbeherrschung durch Präsentationsfähigkeit,[8] von Fachstudium durch Kombination von Modulen schafft einen neuen Typus des Arbeitnehmers. Er muss für schnell wechselnde, unvorhersehbare Zwecke verfügbar und brauchbar sein, wobei das Festhalten an bestimmten, ernsthaft angeeigneten Inhalten, wie es früher die Bildungseinrichtungen forderten, nur hinderlich wäre.9

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin präzisiert: »Die Bildungsreformen der Vergangenheit hatten eine anthropologische und philosophische Fundierung. Die aktuellen ersetzen das fehlende Fundament durch ökonomisch motivierte Erwartungen.«10 Deren Auswirkungen sind auch in Frankreich spürbar : comme si l’objectif social et culturel de l’8ducation avait, sans fanfares ni trompettes, laiss8 place / un autre objectif, aux accents de nouveaut8 et de modernit8: l’efficacit8. […] nos 8tablissements scolaires, 8coles primaires, collHges, lyc8es, universit8s, doivent Þtre efficaces, les enseignants doivent Þtre efficaces, les p8dagogies doivent Þtre efficaces et, bien s0r, notre systHme 8ducatif doit Þtre efficace (entendre «plus efficace», puisque l’efficacit8 est maintenant rapport8e / une 8chelle internationale de systHmes concurrants). Et, pour cela, les politiques 8ducatives doivent Þtre aussi, 8videmment, plus efficaces. L’approche par comp8tences prend place dans ce dispositif.11

In einer Gesellschaft und Wissenschaftslandschaft unter solchen Voraussetzungen nimmt es nicht wunder, dass sich die Philologien, insbesondere die Literaturwissenschaft, immer wieder in die Lage versetzt sehen, sich legitimieren zu müssen. Dietmar Lamping sieht dies jedoch vielmehr in ihnen selbst begründet:

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zurückgenommen wird, in der universitären Lehrerbildung durch die Einbettung des Praxissemesters in die Studienzeit bei gleichzeitiger impliziter Verkürzung des fachwissenschaftlichen Studiums um ein Semester und schließlich in der schulpraktischen Lehrerausbildung durch die zeitliche Verringerung des zweijährigen Referendariats zu einem nur mehr 18 Monate umfassenden Vorbereitungsdienst. Konrad Paul Liessmann hat dafür kürzlich polemisch den Begriff »Powerpoint-Karaoke« geprägt (Liessmann [2014], S. 78). Schlaffer (2014); vgl. auch Lamping (2015), S. XX. Nida-Rümelin (2013), S. 12. Vor der »Vermarktwirtschaftlichung des Universitätsstudiums« warnten schon Franz Schultheis, Paul-Frantz Cousin und Marta Roca i Escoda (2008), S. 10. Eine kritische Revision der Bologna-Reform fordert der Bildungswissenschaftler Dieter Lenzen (2014). Del Rey (2010), S. 140, vgl. auch S. 152ff. Die Autorin verweist in diesem Passus exemplarisch auf ein Zitat von Nathalie Mons aus Les Nouvelles Politiques 8ducatives (2007).

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Sich selber zu reflektieren gilt als eine Eigenart der Geisteswissenschaften. Kritiker sehen darin einen Beleg für ihre Ansicht, dass diese Fächer vor allem mit sich selbst beschäftigt seien. Das kommt der Wahrheit nicht sehr nahe. Seit die Geisteswissenschaften sich an deutschen Universitäten etablierten, haben sich nicht nur die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Arbeit mehrfach grundlegend verändert, sondern auch viele ihrer Gegenstände.12

Wenn es in den geisteswissenschaftlichen Fächern ein paar ›Inseln‹ gibt, die weniger stark um ihre Existenzberechtigung ringen und sich vor dem »Idol des Nutzens« weniger zu rechtfertigen haben, so mögen dies heute gerade die lehrerbildenden Studiengänge sein. Hatte Kants Streit der Fakultäten und dessen Rezeption im deutschen Idealismus einst eine Umwendung des traditionellen Bildungswesens eingeleitet und gerade die berufsbildenden Fächer nachrangig hinter den zweckfreien geistigen Disziplinen verortet, so ist es heute gerade umgekehrt: Unter allen romanistischen Studiengängen ist just das Lehramtsstudium das einzige ›vernünftige‹, da berufsbildende. An dessen Ende stehen hier nicht Taxi oder Hartz IV, sondern ein Referendariat und die selten in vergleichbarem Maße sichere Aussicht auf einen handfesten und anerkannten Beruf.13 Entsprechend hat auch die Forderung nach Praxisorientierung gerade in die Lehrerbildung Einzug gehalten und wurde im Rahmen der jüngsten Reformen mit deutlicher Akzentuierung umgesetzt.14 Wie aber steht es um die fachwissenschaftliche Lehrerbildung, speziell um die Literaturwissenschaft? Vor dem Hintergrund der genannten doppelten Reflexionsbewegung und angesichts der tiefgreifenden Veränderungen im Bildungssystem im Verlauf der letzten Jahrzehnte ist es durchaus geboten, einen kritischen Blick auf die romanische Literaturwissenschaft zu werfen und unsere so vielfältige gemeinsame Fachdisziplin mit Blick auf ihre zeitlosen Aufgaben und zeitgebundenen Herausforderungen im Kontext der universitären Lehrerbildung zu konturieren. In einer bündigen Vogelschau mag das Lehramtsstudium der Gegenwart in Ansätzen kontextualisiert werden, um zumindest seinen Aufbau und seine Struktur zu vergegenwärtigen. Weniges ist dabei so gewiss wie dieses: Hinsichtlich eines zeitgemäßen Fremdsprachenunterrichts lässt sich heute vieles nicht mehr mit den Erfahrungen in Einklang bringen, wie die drei Jubilare des vorliegenden Bandes sie als Schüler an deutschen Gymnasien und in ihrer Studienzeit vorgefunden und erlebt haben werden. Insbesondere die Zeiten, da Literatur im Unterricht allein um ihres Bildungswertes willen betrachtet und gelehrt, ihre Lektüre gleichsam ehrfurchtsvoll zelebriert wurde,15 sind vorbei. 12 13 14 15

Lamping (2015), S. XII. Zum Beruf des Lehrers vgl. Giesecke (2001). Vgl. Ißler (2018b). »[W]ir sind am Ziel,« heißt es in den 1950er Jahren paradigmatisch, »wenn die Dichtung von den Schülern mit Hingabe gesprochen und gehört wird. Alle inhaltliche und formale

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Die heutige Lehrerbildung und -ausbildung gliedert sich zunächst in jene universitäre Phase, auf welche sich die vorliegenden Ausführungen im Wesentlichen beziehen. Auf diese folgt sodann eine schulpraktische Ausbildungsetappe, die vom staatlich organisierten Studienseminar (Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung, ZfsL) getragen wird. Beide Institutionen wirken jedoch zunehmend aufeinander bezogen anstatt nebeneinanderher, wie sich insbesondere am Praxissemester zeigt, das in die universitäre Phase fällt und dennoch an einer Schule absolviert wird. Anteil an der universitären Lehrerbildung haben neben der Unterrichtspraxis die allgemeine und fachbezogene Didaktik sowie die Bildungswissenschaft; mit den je spezifischen Fachkulturen ihrer beiden Unterrichtsfächer werden die Studierenden jedoch nach wie vor in den Fachwissenschaften vertraut gemacht, deren Rückbau in jüngerer Zeit zugunsten bildungspolitischer Zielsetzungen gleichwohl immer wieder erwogen wird.16 Im Falle der von kultureller Vielfalt ganz besonders geprägten Fachkultur der Romanistik,17 die sich insbesondere in Sprach-, Literatur-, in jüngerer Zeit zunehmend auch Kulturwissenschaft auffächert18 und in der neben den Fachwissenschaften auch die Sprachpraxis beheimatet ist, macht die LiteraturwissenDenkarbeit dient dieser Aufgabe.« (Blättner [1956], S. 16). Vgl. ebenfalls am Beispiel des muttersprachlichen Unterrichts der frühen 1950er Jahre die didaktische Bedeutung, die Erika Essen lyrischer Dichtung im Literaturunterricht beimisst: »Das Gedicht ist für den Deutschlehrer eine große Aufgabe, vielleicht die Prüfung dafür, ob er für seinen Beruf geeignet ist. Denn hier kommt er nicht mehr aus mit literarhistorischer oder sprachgeschichtlicher Vorbildung, hier geht es um echte, aus eigenen Kräften sich bildende sprachliche, künstlerische: menschliche Erlebniskraft, Erkenntnis und Formkraft. Aber es geht um noch mehr : Um die Ehrfurcht vor dem Schöpferischen im Wesensgrunde des vom Geheimnis menschlichen Daseins wahrhaft bewegten Menschen. Wer es auf sich nimmt, aus dieser Ehrfurcht heraus an sich selbst wie auch an die Schüler die höchsten Anforderungen zu stellen, erfährt im Gedicht eine ungeahnte Kraft; sein mächtiges Mitwirken im Ringen des Menschen um das eigene Wesen, aus dem allein die Klarheit zu echtem Wollen und Wirken entsteht.« (Essen [1976], S. 34). 16 Welcher Stellenwert der fachspezifischen Lehrerbildung von bildungspolitischer Seite eingeräumt wird, haben vor kurzem die Novellen des Lehrerausbildungsgesetzes und der Lehramtszugangsverordnung gezeigt, mit denen dazu beigetragen wurde, den zuvor schon geringen Anteil der Fachwissenschaften in allen Lehramtsstudienfächern noch weiter empfindlich zurückzubauen. Die Entwurfsfassung der Gesetzesnovelle sah zunächst vor, die allen Fächern von der Bildungspolitik zugewiesenen sogenannten »inklusionsorientierten Fragestellungen« auf Kosten der fachwissenschaftlichen Studieninhalte zu etablieren. Die Kürzung der Literaturwissenschaft bei der Reform des Lehramtsstudiums beklagt auch Wolfram Aichinger an der Universität Wien, vgl. Aichinger (2015). Die Reduktion der Fachwissenschaften in der Lehrerbildung nimmt sich umso fataler aus, je mehr sich die Fachdidaktiken selbst von ihren fachwissenschaftlichen Bezügen lösen und ihre Bildungsverantwortung misskennen, vgl. dazu Ißler (2017b), S. 47. 17 Vgl. Gier (2000); Nies/Grimm (1988); darin insbes. die Beiträge von Nies (S. 9–12) und Wandruszka (S. 27–39); wiederum Ißler (2017b). 18 Kritisch insbes. zum Kulturbegriff der Cultural Studies vgl. Geyer (2017), S. 881ff.

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schaft mithin nur einen begrenzten Anteil aus, der in merkwürdigem Kontrast zu der zeitlichen und räumlichen Entgrenzung ihres Gegenstandes steht. Dessen zwangsläufige Komprimierung innerhalb eines Studiums reduziert die Literatur jedoch keinesfalls zur quantit8 n8gligeable, sondern diese muss ihren Platz nur um so bestimmter ausfüllen. Vor diesem Hintergrund der Literaturwissenschaft den Rücken zu stärken, scheint gegenwärtig mehr denn je nötig,19 wie ein Blick in die bildungspolitischen Rahmenbedingungen erweist.

2.

Die »Nothdurft« der Bildungsstandards: Vom Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen und nationalen Richtlinien zu den Kernlehrplänen der Länder

Im Zusammenhang mit den heute von der Bildungspolitik zu exklusiven Leitlinien ausgerufenen Bildungsstandards, diesen jedoch zeitlich vorausgehend, ist als zentrale Bezugsgröße für den Fremdsprachenunterricht der sogenannte Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GeR) hervorgebracht worden, dessen funktional-pragmatischer Sprachbegriff sich in seinen Beschreibungen fremdsprachlicher Kompetenzen niederschlägt.20 Nach den Stufen des GeR bemisst sich der Grad der Beherrschung einer erworbenen Fremdsprache in sechs Niveaustufen von einer elementaren (A1-A2) über eine selbständige (B1-B2) bis hin zu einer kompetenten Sprachverwendung (C1-C2). Bekanntermaßen sind die fremdsprachenbezogenen Schulbücher ebenso wie die sprachpraktischen Lehrveranstaltungen der europäischen Hochschulen dieser Skala verpflichtet, deren Vorgaben längst auch in die Curricula Eingang gefunden haben. So folgen denn auch die seit August 2014 geltenden sogenannten Kernlehrpläne von Nordrhein-Westfalen in ihren jeweils aktuellen Fassungen den standardisierten Beschreibungen des Referenzrahmens.21 Bei allen Vorteilen, die sich vordergründig durch eine in sich geschlossene, überschaubare und international vergleichbare Skalierung ergeben, hat der Referenzrahmen eine gewaltige Schwäche: Er erfasst und beschreibt weniger, als er zu erfassen und beschreiben vorgibt und als man ihm gemeinhin zu erfassen und zu beschreiben zutraut. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für 19 Dies gilt übrigens auch für die Sprachwissenschaft, in einer Zeit schwindender Beachtung historisch-vergleichender Betrachtung insbesondere für die Sprachgeschichte; vgl. dazu Ißler (2018b). 20 Vgl. Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen (2001). 21 Zum Kernlehrplan der romanischen Fremdsprachenfächer siehe genauer unten. Kritisch zu dem durch den Begriff des Kernlehrplans suggerierten Anspruch vgl. Geiss (2016), S. 72 sowie Anm. 49.

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Sprachen geht von einem funktionalistischen Sprachverständnis aus, das die Verwendung von Sprache nach Kompetenzen kategorisiert und jede Form von Kommunikation apriorisch als objektivierbar betrachtet. Alle sprachlichen Äußerungen werden ausschließlich bezogen auf die Fertigkeiten »Hören«, »Lesen«, »An Gesprächen teilnehmen«, »Zusammenhängendes Sprechen« und »Schreiben«.22 Literarische Texte werden mithin unter dem Kompetenzrubrum »Lesen« verortet. Um zu lesen, muss der Lernende, in der Terminologie der Bildungsstandards, den schriftlichen Text wahrnehmen können (visuelle Fertigkeiten); die Schrift erkennen können (orthographische Fertigkeiten); die Mitteilung als solche identifizieren können (linguistische Fertigkeiten); die Mitteilung verstehen können (semantische Fertigkeiten); die Mitteilung interpretieren können (kognitive Fertigkeiten).23

Das alles ist zweifellos richtig, aber gewiss nicht vollständig. Denn wo hat vor diesem Hintergrund das, was Literatur ausmacht, seinen Platz? Ist die Lektüre eines literarischen Textes tatsächlich, wie hier suggeriert wird, in allen ihren Facetten mit der eines Sach-, Gebrauchs- oder eines sog. diskontinuierlichen Textes (Bild, Karikatur, Diagramm u. dgl.) vergleichbar oder gar identisch? Welche Rolle spielt dann die Literaturwissenschaft? Eine Unterteilung der Leseaktivität wie die hier zitierte zielt allein auf deren Vermessung, Skalierung und Operationalisierung, lässt aber zur gleichen Zeit die etwaige Literarizität eines Textes außer Acht. Mehr noch, die inhaltliche Dimension wird der pragmatischen derart untergeordnet, dass der Gegenstand des Lesens der Beliebigkeit anheimzufallen droht und Lesen von literarischem Lesen ununterscheidbar wird: »In den Lehrplänen geht es um den Erwerb von Lesekompetenz, aber dabei wird völlig ausgeklammert, was gelesen wird. Dabei sind Inhalte entscheidend. Denn nur diese berühren Menschen.«24 Beschrieben wird das Lesen jedoch vielmehr als technische Fertigkeit, die ausschließlich auf Informationsentnahme zielt. Wer literarische Texte aber allein so liest, liest an ihnen vorbei, wie gerade die Literaturwissenschaft nicht müde wird zu betonen. Hier liegt eine der grundlegenden Unversöhnlichkeiten zwischen dem standardisierten Bildungsbegriff und (traditionell verstandener) literarischer Bildung: Ästhetische Qualitäten werden vom Referenzrahmen gar nicht erfasst; naturgemäß entziehen sie sich geradezu – im Grunde glücklicherweise! – einer objektiven Bezifferung und Quantifizierung, einer Opera22 Vgl. Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen (2001), z. B. S. 36. 23 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen (2001), S. 93. 24 Konrad Paul Liessmann, zitiert nach Röder (2017). (Hervorhebung R.I.). Vgl. dazu mit Blick auf den (muttersprachlichen) Deutschunterricht auch Liessmann (2017), S. 16.

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tionalisierung und in letzter Konsequenz auch einer Bewertung. Das führt zu der unmissverständlichen, durchaus alarmierenden Feststellung: »Zielsetzungen ästhetisch-literarischen Lernens können in Zeiten der Kompetenzorientierung nicht mehr per se eine Daseinsberechtigung in fremdsprachendidaktischen Kontexten beanspruchen.«25 In der anglistischen Fremdsprachendidaktik findet sich sogar die Befürchtung, dass literaturdidaktische Zielsetzungen und Methoden aufgrund der vermeintlichen Unvereinbarkeit mit Kompetenzbeschreibungen und deren Operationalisierung sowie der fehlenden Berücksichtigung und Wertschätzung innerhalb der bildungspolitischen Dokumente aus dem schulischen ›Tagesgeschäft‹ verschwinden.26

Die Liebe zum geschriebenen Wort, wie sie noch die Fachbezeichnung »Philologie« etymologisch reflektiert, und mit ihr die Lektüre um der Schönheit von Sprache willen, drohen angesichts aktuell geltender bildungspolitischer Setzungen auf verlorenen Posten zu geraten. Einer der in der Sache absurden, politisch aber nicht wegzudiskutierenden Gründe dafür liegt in der mangelnden objektiven Darstellbarkeit des Ästhetischen, sprich: in der Schwierigkeit, ästhetische Bildung zu messen und abzubilden, in standardisierte Skalen zu überführen und einer Wertung zu unterziehen. Ein den Zeitgeist des Utilitarismus mit Genuss strapazierender Th8ophile Gautier (»Il n’y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir / rien«)27 oder auch ein Oscar Wilde, der noch vor 125 Jahren28 mit dem kalkuliert provokativen Lob der Nutzlosigkeit kokettieren konnte (»All art is quite useless«),29 machte sich heute mit Blick auf kompetenzorientierte Lehrpläne schnell verdächtig und stieße allenthalben an Grenzen; und selbst ein Charles Baudelaire, der »les nuages qui passent… l/-bas… les merveilleux nuages« besingt,30 stünde unter 25 Küster (2015), S. 15. 26 Steininger (2014), S. 17. 27 Gautier (1995 [1835]), »Pr8face«, S. 193. Im Kontext lautet die Textstelle: »Rien de ce qui est beau n’est indispensable / la vie. – On supprimerait les fleurs, le monde n’en souffrirait pas mat8riellement; qui voudrait cependant qu’il n’y e0t plus de fleurs? Je renoncerais plutit aux pommes de terre qu’aux roses, et je crois qu’il n’y a qu’un utilitaire au monde capable d’arracher une plate-bande de tulipes pour y planter des choux. A quoi sert la beaut8 des femmes? Pourvu qu’une femme soit m8dicalement bien conform8e, en 8tat de recevoir l’homme et de faire des enfants, elle sera toujours assez bonne pour des 8conomistes. A quoi bon la musique? / quoi bon la peinture? Qui aurait la folie de pr8f8rer Mozart / M. Carrel, et Michel-Ange / l’inventeur de la moutarde blanche? Il n’y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir / rien; tout ce qui est utile est laid; car c’est l’expression de quelque besoin; et ceux de l’homme sont ignobles et d8go0tants, comme sa pauvre et infirme nature. – L’endroit le plus utile d’une maison, ce sont les latrines.« 28 Das entspricht der Lebensspannensumme von Paul Geyer und Willi Jung zum Zeitpunkt ihres Jubiläumskolloquiums. 29 Wilde (1962 [1890]), »The Preface«, S. 17f., hier: S. 18. 30 Baudelaire (1976 [1862]), »L’Ptranger«, S. 277.

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Rechtfertigungsdruck angesichts aktueller Kompetenzerwartungen. Aber besteht nicht hier gerade das Potential von Literatur? Und reicht nicht die Erkenntnis der Freiheit von Zweckbestimmungen ungemein weiter als die beengten Bahnen vorgegebener Kosten-Nutzen-Abwägungen? Vor allem aber : Bereichert und beflügelt nicht gerade das Wissen um diese Freiheit das Denken künftiger Lehrerinnen und Lehrer? Ganz im Gegensatz dazu scheint deren Hemmschwelle groß, sich im Fremdsprachenunterricht literarischen Texten zu nähern. »Der Literaturunterricht«, so konstatierte jüngst der Germanist Klaus-Michael Bogdal, bezogen wohlgemerkt auf den muttersprachlichen Unterricht, »stößt heute an die Grenzen eines von übergreifenden Sinnzusammenhängen entlasteten Alltags«.31 Dazu mag – nebenbei bemerkt – in nicht geringem Maße die Modularisierung der Studiengänge beigetragen haben, welche suggeriert, umfassende Bildung in Versatzstücke zerlegen, präsentieren und abfragen zu können. Die funktionalistische Sicht auf die Fremdsprache kann, negativ gewendet, vor diesem Hintergrund demjenigen eine bequeme Entschuldigung bieten, der von Literatur Abstand zu nehmen beabsichtigt. Argumentativ äußert sie sich in der Behauptung, literarische Sprache sei unnütz, »nicht ›gebrauchsfähig‹«32 und mithin für den Fremdsprachenunterricht ungeeignet: »Literatur liefert keine brauchbaren landeskundlichen Informationen, denn sie verfremdet gerade die Wirklichkeit.«33 Oder, lapidar : »Ein Gedicht hilft nicht beim Lösen einer U-BahnKarte«.34 Angesichts der sozialen Minderheit der literarisch Interessierten sei Literatur, so lassen einige Stimmen zudem verlauten, ohnehin »gesamtgesellschaftlich unbedeutend«.35 Argumente, die gegen Literatur im Unterricht vorgebracht werden, spielen auffallend oft auf den hohen Anspruch an, dem sich Lernende durch literarische Texte ausgesetzt sähen. Literatur sei langweilig, lästig, lebensfremd, zu intellektuell, veraltet, anspruchsvoll, demotivierend, schwierig; sie stelle sich quer.36 Es mag ein Phänomen der Gegenwart sein, sich davon abschrecken zu lassen. Im Grunde sind ja mit den Vorurteilen nichts als Herausforderungen benannt, die es im muttersprachlichen wie auch im Fremdsprachenunterricht nur einmal ernsthaft und mit Ausdauer anzupacken gälte. Solche Widerstände vermeiden zu wollen und ihnen aus dem Weg zu gehen, erinnert wiederum an eine Haltung der Bequemlichkeit, gegen die schon Immanuel Kant in seinem berühmten Aufklärungsaufsatz anschrieb: 31 32 33 34 35 36

Bogdal (52010), S. 21. Koppensteiner (2001), S. 13. Koppensteiner (2001), S. 13. Häussermann (1984), S. 30; vgl. auch Koppensteiner (2001), S. 12. Christian Fleck, zitiert nach Koppensteiner (2001), S. 12. Vgl. Koppensteiner (2001), S. 13; Aichinger (2015), insbes. S. 262f.

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Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u. s. w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. […] andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.37

Im Falle der fremdsprachlichen Literatur jedoch übernimmt niemand das vermeintlich ›verdrießliche Geschäft‹ ihrer Lektüre – weder bei der hermeneutischen Erschließung und Durchdringung noch bei ihrer didaktischen Vermittlung kann man sich auf Dritte verlassen. Den Reiz ihrer Rezeption muss bzw. darf jeder einzelne für sich erfahren. Denn diesem Reiz setzt sich gern aus, wer sich von der Erfahrung etwas verspricht, vielleicht sogar mit Hingabe,38 wer ihren Wert ermisst. Ein Blick in die Kernlehrpläne für Nordrhein-Westfalen zeigt, wie rar selbst in der gymnasialen Oberstufe dazu die Gelegenheiten wären, wenn sie unhinterfragt an Schulen zur Umsetzung gelangten. Der Terminus »literarisch« fällt im gesamten Kernlehrplan auffallend selten; zumeist ist er implizit in der schon genannten Lesekompetenz enthalten. Dies lässt sich am Beispiel des Kernlehrplans für das Fach Spanisch demonstrieren:39 Literarische Texte dienen einerseits der Herausbildung von »Text- und Medienkompetenz«: »Durch die Auseinandersetzung […] mit anspruchsvollen literarischen Texten hispanophoner Kulturen stärkt [der Spanischunterricht] […] die Text- und Medienkompetenz.«40 Andererseits fördern literarische Texte das »Leseverstehen«: »Die Schülerinnen und Schüler können umfangreiche authentische Texte unterschiedlicher Textsorten und Entstehungszeiten auch zu abstrakteren, wenig vertrauten Themen verstehen.«41 Nur an einer einzigen Stelle findet die ästhetische Dimension von Literatur überhaupt ausdrücklich Erwähnung. Die Kategorie der Ästhetik aber hat hier keinerlei expliziten Bildungscharakter, sondern verhilft dem Unterricht lediglich

37 Kant (1998 [1784]), S. 9. 38 Zur Bedeutung der Hingabe in Bezug auf Bildung vgl. Liessmann (2017), S. 20 u. ö. 39 Die hier stellvertretend für die romanischen Schulsprachen zitierten Formulierungen für das Fach Spanisch entsprechen denen für die Fächer Französisch und Italienisch. 40 Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Spanisch (2014), S. 12. Zur Text- und Medienkompetenz vgl. S. 17 sowie differenzierter S. 24f, S. 32f. 41 Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Spanisch (2014), S. 36; vgl. auch S. 19 sowie differenzierter S. 27f.

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dazu, dass er ›Spaß macht‹. Wörtlich heißt es im Kernlehrplan für das Fach Spanisch: Nicht zuletzt soll durch die Beschäftigung mit der spanischen Kultur im Allgemeinen und der literarisch-ästhetischen Dimension im Besonderen Freude an der spanischen Sprache, am Sprachenlernen und Sprachgebrauch vermittelt und die Motivation, sich auch außerhalb der Schule neuen Spracherfahrungen zu stellen, erhöht werden.42

Lernfreude soll hier keineswegs in Abrede gestellt werden, im Gegenteil ist sie für den Lernerfolg selbstverständlich von großer Bedeutung und bietet gerade dem Fremdsprachenunterricht eine unverzichtbare Basis; es bedarf keiner zusätzlichen Begründung, dass sie sich motivationssteigernd auswirkt. Den Beitrag literarisch-ästhetischer Elemente jedoch allein darauf zu beschränken, zeugt von keiner tiefen Kenntnis der Materie. Um so mehr springt ins Auge, dass im Kernlehrplan stets von Texten, nie aber von Literatur die Rede ist. Tatsächlich hat die Erweiterung des Textbegriffs in postmodernen Literaturtheorien längst auch auf die curricularen Festschreibungen ausgestrahlt: »Als ›Text‹ werden in diesem Zusammenhang alle mündlich, schriftlich und medial vermittelten Produkte verstanden, die Schülerinnen und Schüler rezipieren, produzieren oder austauschen.«43 Daraus folgt, dass Sachtexte und literarische Texte sich in ihrer pragmatischen Funktion für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht nicht mehr grundsätzlich unterscheiden; sie stehen zugleich auf einer Stufe mit dem mündlich kodierten Gespräch, und angesichts der unspezifischen Thematik relativieren sich auch Gehalt und Bildungsniveau der jeweiligen Textsorte. Mit anderen Worten: Aktuelle Presseartikel und statistische Erhebungen in Infographien, Diagrammen und Tabellen, Zeitungsannoncen, aber auch Reiseprospekte und Werbebanner aus dem Internet, Kochrezepte, Horoskope, Kinowerbung aus dem Radio, aufgezeichnete Telefonate und Durchsagen von Bahnhöfen und Flughäfen, Filmsequenzen und Musikvideos, selbst rechtschreibunsichere Web-Blogs, dubiose Produktkommentare und dergleichen – unter dem gemeinsamen Signum der Authentizität steht alles dies auf Augenhöhe und tritt in Konkurrenz zu ›hoher‹ Literatur, deren Rezeptionsfrequenz und -wahrscheinlichkeit sich im Unterricht so nicht gerade erhöhen wird. Und selbst dann erscheint Literatur im Unterricht zwangsläufig selten in unveränderter Form, oftmals ausgedünnt, unvollständig und verkürzt entweder um ihre Gattungsvielfalt oder an Textumfang, oftmals zudem in funktionalistischer Absicht ausgeschlachtet als sprachliches Material für Grammatikübungen. Gerade vor diesem Hintergrund steigt die Bedeutung der 42 Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Spanisch (2014), S. 12. 43 Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Spanisch (2014), S. 16f.

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literaturwissenschaftlichen Unterweisung und Auseinandersetzung in der universitären Lehrerbildung. Explizit als »literarische Texte« werden im Kernlehrplan für Spanisch als fortgeführte Sprache lediglich »Gedichte und Lieder« sowie »kürzere narrative Texte« genannt, zu welch letzteren sich unter Vermischung der traditionellen literarischen Gattungen die folgende Präzisierung findet: »u. a. Auszug aus einem Roman, einer Erzählung oder einem einfachen dramatischen Text«.44 Dagegen enthielten zum Beispiel die »Richtlinien Französisch« von 1981 allein für die Gymnasiale Oberstufe eine zwölf Seiten umfassende Auflistung von Vorschlägen für den Fremdsprachenunterricht geeigneter literarischer Werke von Racine bis Tardieu.45 Von solchen Listen nehmen die neuen Kernlehrpläne bewusst Abstand, denn kanonisiertes Kulturgut wird nicht selten vermeintlich lähmender bildungsbürgerlicher Beschaulichkeit verdächtigt und steht so schnell im Ruch des Festgefahrenen, zu Überwindenden; mit den Bildungsstandards sind selbst verbindliche Auswahlkriterien für die Behandlung literarischer Texte im Unterricht abgeschafft worden. – War früher alles besser? Was kommt Literatur mehr entgegen: Die unreflektierte Reproduktion eines französischen, spanischen bzw. italienischen Literaturkanons? Dessen völlige Relativierung?

3.

Literaturdidaktik zwischen »Nothwendigkeit der Geister« und »Nothdurft der Materie« (Friedrich Schiller)

Die Frage nach dem Wert und Nutzen von Literatur im Fremdsprachenunterricht haben schon viele gestellt. Harald Weinrich, von dem das markante Diktum stammt: »Sprache ohne Sprachkultur ist für mich etwas Monströses«,46 betrachtete das literarische Lesen wohlgemerkt schon in den 1980er Jahren als »vernachlässigte Fertigkeit«. Seinerzeit wetterte er : »eine Kultursprache als Fremdsprache lehren wollen, ohne gleichzeitig ihre Literatur mitzulehren, ist eine Form der Barbarei«, und er stellte richtig: »Die Literatur ist […] im Fremdsprachenunterricht der Ort, an dem die Lernenden der sprachlichen und

44 Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Spanisch (2014), S. 25 sowie S. 33f. Vor dem Hintergrund der Forderung nach immer kürzeren Texten ist die aktuelle Konjunktur sogenannter »Kürzestgeschichten«, »r8cits trHs courts« u. dgl. im Fremdsprachenunterricht zu erklären; vgl. zum Beispiel die Ausgabe: R8cits trHs courts (2007). 45 Vgl. die Richtlinien für die Gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen. Französisch (1981), S. 44–55. 46 Von der Handt/Weinrich (2001).

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sachlichen Komplexität des fremden Landes am besten begegnen können.«47 Man könne und solle der Literatur nicht ausweichen, »es sei denn, man versuchte, mit der Komplexität auch das Leben aus dem Sprachunterricht auszutreiben.«48 Wenn Lehrende diesen Appell auch heute ernstnehmen und versuchen, die Komplexität literarischer Texte in Form sowohl ihrer kulturellen Bedeutung als auch ihrer ästhetischen Wahrnehmung im Unterricht erfahrbar zu machen und ihr Bildungspotential lebendig zu erhalten, so müssen sie sich der Vorzüge und singulären Möglichkeiten bewusst sein, die der Umgang mit Literatur dem Fremdsprachenerwerb bietet, ohne sich gleichwohl in der bloßen Erfüllung operationalisierter Kompetenzbeschreibungen zu erschöpfen. Lässt sich, so ist mithin zu fragen, ein Lesen lehren und lernen, das nicht in einem (einigermaßen) eindeutigen, abfragbaren Verständnis münden muss, sondern unsicher bleiben kann, eher atmosphärisch als artikuliert, ein nur tastendes und vorsichtiges Deuten? Lässt sich ein Umgang mit Literatur vermitteln oder zumindest nahe bringen [sic] und fördern, bei dem die Aufmerksamkeit auf den Text mit der Aufmerksamkeit auf sich selbst verbunden ist?49

Und lässt sich im Fremdsprachenunterricht eine bildungsrelevante Rezeption literarischer Texte pflegen, die der Deutungsoffenheit eines literarischen ›Kunstwerks‹ gerecht wird? Trotz vereinzelt grundlegender Bedenken angesichts der Vereinbarkeit von Standardisierung und literarischer Bildung50 sind von der literaturdidaktischen Forschung sowohl im Fach Deutsch als auch in den Schulfremdsprachen ausgearbeitete Beschreibungen literarischen Lesens, soweit überhaupt vorhanden, in der Regel mit der Intention verfasst worden, sie letztendlich als Deskriptoren literarischer Kompetenzen im kompetenzorientierten Unterricht einsetzen zu können. Anstatt sie im Rahmen des vorliegenden Beitrags umfassend einzeln zu präsentieren, soll hier stellvertretend für weitere einem wirkmächtigen Ansatz Raum gegeben werden. Mit Blick auf den »Erwerb von Lesekompetenz« hat der Deutschdidaktiker 47 Weinrich (1984), S. 11. Vgl. auch den berühmten Aufsatz von Weinrich (1988) »Literatur im Fremdsprachenunterricht – ja, aber mit Phantasie«. 48 Weinrich (1984), S. 11. 49 Dietrich/Krinninger/Schubert (22013), S. 138f. 50 Vgl. zum Beispiel: Aichinger (2015); Blume (2015); sowie schon Küster (2006). Küster kommt zu dem Schluss: »Niemand wird bezweifeln, dass fremdsprachliche Kenntnisse in beruflichen und privaten Belangen nützlich sind. Fremdsprachenunterricht verfolgt legitimerweise und ganz selbstverständlich immer auch utilitaristische Ziele. Gerade im institutionellen Rahmen von Schule kommen aber wesentlich andere Aspekte hinzu, die hier mit dem Bildungsbegriff summarisch umschrieben werden. Dieser Bereich wird in den Bildungsstandards jedoch vernachlässigt.« (S. 21).

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Kaspar Spinner wesentliche Charakteristika literarischen Lernens im schulischen Unterricht systematisch zusammengefasst; tatsächlich gehen auf seinen Vorschlag, in den seinerseits diverse frühere Systematisierungsversuche, darunter Spinners eigene »Thesen zur ästhetischen Bildung im Literaturunterricht heute«,51 eingeflossen sind, später entstandene Modelle der Leseförderung bzw. -kompetenz des muttersprachlichen ebenso wie des fremdsprachlichen Unterrichts zurück, die das Lesen auch anderer als schriftlicher Codes einschließen,52 selbst wenn der grundsätzliche Widerspruch bestehen bleibt und die Frage nach der Kompatibilität zwischen Kompetenzmodellen und der Bildungsrelevanz literarisch-ästhetischen Lernens zwangsläufig weiter kontrovers diskutiert und als ungelöst betrachtet werden muss. Spinner zufolge schult »literarisches Lernen« die Fähigkeit, – [b]eim Lesen und Hören Vorstellungen [zu] entwickeln[,] – [s]ubjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel [zu] bringen[,] – [s]prachliche Gestaltung aufmerksam wahr[zu]nehmen[,] – Perspektiven literarischer Figuren nach[zu]vollziehen[,] – [die] [n]arrative und dramatische Handlungslogik [eines Textes zu] verstehen[,] – [m]it Fiktionalität bewusst um[zu]gehen[,] – [m]etaphorische und symbolische Ausdrucksweise [zu] verstehen[,] – [s]ich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses ein[zu]lassen[,] – [m]it dem literarischen Gespräch vertraut [zu] werden[,] – [p]rototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres [zu] gewinnen [sowie] – [ein] [l]iteraturhistorisches Bewusstsein [zu] entwickeln[.]53 Wenn auch bezogen auf die muttersprachliche Lektüre, bietet Spinners umfassende Aufstellung doch eine wichtige Basis für die Legitimation einer Aufwertung der Behandlung literarischer Texte auch im Fremdsprachenunterricht und kann zudem mit Recht auch einem übergreifenden Plädoyer für ästhetische Bildung im Fremdsprachenunterricht zugrunde gelegt werden. Auf die Frage, welche Rolle Literatur im Fremdsprachenunterricht angesichts der vorgenannten bildungspolitischen Rahmenkonditionen und trotz diverser Modellierungsversuche literarischer Kompetenzen tatsächlich spielt, kann allgemein vielleicht geantwortet werden: Literatur spielt aktuell im Fremdsprachenunterricht die Rolle, die ihr der einzelne Lehrende zuerkennt, sie liegt mithin im Ermessen der jeweiligen Lehrperson. Im Französischunterricht der 51 Spinner (1998). 52 Vgl. stellvertretend Burwitz-Melzer (2007); De Florio-Hansen (2012); Surkamp (2012). 53 Spinner (2006), S. 8–13 (»Elf Aspekte literarischen Lernens«).

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Klasse 8c einer Realschule bei Lehrerin X wird dies heute eine andere sein als morgen im Spanischunterricht der Klasse 9a/b bei Lehrer Yan der benachbarten Gesamtschule und im Oberstufenunterricht Französisch eines städtischen Gymnasiums bei Lehrerin Z. Welche Konsequenz haben die Hochschulen daraus zu ziehen? Was bedeutet dies für die Literaturwissenschaft und Fachdidaktik in der universitären Lehrerbildung? Den Einsatz literarischer Texte dem Ermessen jedes einzelnen Lehrenden anheimzustellen, bedeutet – zumindest solange die Relativität von Literatur gegenüber nichtliterarischen Texten curricular sanktioniert bleibt –, die literarische Sozialisation von Schülerinnen und Schülern, ihre Begegnung mit der Literatur ihrer Zielsprache zu einem guten Teil dem Zufall zu überlassen. Die Entscheidung über entweder intensive Verwendung literarischer Texte oder weitreichenden Verzicht auf diese den Lehrenden zu übertragen, ist so lange ein Drahtseilakt, wie in der universitären Lehrerbildung nicht sichergestellt ist, dass ausreichend Zeit und Raum für eine sowohl literaturwissenschaftlich als auch literaturdidaktisch fundierte Durchdringung gewährleistet ist.54 In jedem Falle steigt mit der Verantwortung des Lehrenden proportional auch die der universitären Lehrerbildung, wodurch letzten Endes die Relevanz und Bedeutung der Literaturwissenschaft im Lehramtsstudium sogar unweigerlich aufgewertet, während sie paradoxerweise aber zugleich beschnitten wird. Lehrpläne sind zeitlich immer nur begrenzt gültig, ihre Halbwertzeit ist verschwindend gering im Vergleich zur Dauer des Berufslebens einer Fremdsprachenlehrerin nach ihren gegenwärtig zumeist zwölf Schuljahren, zehn Studiensemestern und 18 Monaten Vorbereitungsdienst. Lehrpläne spiegeln allgemeine gesellschaftliche und bildungspolitische Tendenzen, d. h. sie sind wandelbar und lassen Handlungsspielräume. Wer jedoch Literatur für ohnehin nicht recht vermittelbar hält bzw. aus ihrer Relativierung und Verdrängung aus den curricularen Vorgaben vorschnell die Konsequenz ableitet, ihre Behandlung sei im Unterricht verzichtbar, nimmt an der allgemeinen Marginalisierung literarischer und ästhetischer Inhalte aktiv teil;55 er opfert die Mündigkeit der eigenen Bequemlichkeit, setzt den Bildungsauftrag der Schulen und Hochschulen herab und stellt selbst die »Nothdurft der Materie« über die »Nothwendigkeit der 54 Dies impliziert auch eine enge und viel deutlicher als bisher hervortretende Verzahnung der literaturwissenschaftlichen mit der literaturdidaktischen Lehre. 55 Vgl. dazu aus schulpraktischer Sicht Neuhofer (2016): »Der Beitrag betrachtet die Auswirkungen der Kompetenzorientierung im Fremdsprachenunterricht und stellt die Frage nach der Aufgabe von Fremdsprachen im Kontext einer humanistisch orientierten Allgemeinbildung. Postuliert wird, dass eine ausschließliche Ausrichtung am Kompetenzparadigma bildende Inhalte verflacht oder sogar ausschließt, Sprache entkulturalisiert sowie entpolitisiert. Die Beobachtungen verdanken sich der schulischen Praxis an einem österreichischen Gymnasium und nehmen explizit auf die Veränderungen im Rahmen der neuen kompetenzorientierten Reifeprüfung in Österreich Bezug.« (S. 395).

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Geister«. Dass Schiller dies seinerzeit so ausdrückte, mag freilich ein wenig beruhigen; das Phänomen scheint demnach nicht neu zu sein. In der Gegenwart jedoch steht einiges auf dem Spiel: zumindest das philologische Wissenschaftsund Selbstverständnis, die Bildungstradition der Philosophischen Fakultäten und, nicht zuletzt, ein nicht unbeträchtlicher Teil des europäischen Kulturerbes.

4.

Die Rolle der Literaturwissenschaft: Zur kulturellen und ästhetischen Bildungsverantwortung der Romanistik in der universitären Lehrerbildung

Gute Literatur ist unbequem und widersetzt sich jeder bestimmten und vorkalkulierten Deutung, sie verlangt ihrem Leser Zeit, Kraft und Mühe ab, von denen übrigens auch der Lehrende viel in die gewissenhafte Vorbereitung seines Unterrichts stecken muss. Literatur gibt nicht Antworten, sondern stellt vielmehr neue Fragen, die nicht selten scheinbare Gewissheiten anzweifeln, ja Weltbilder ins Wanken zu bringen vermögen. Am Ende der Lektüre eines guten literarischen Textes darf mehr unklar als eindeutig geworden sein, so dass der Text auch nach Abschluss des praktischen Rezeptionsaktes – und unabhängig von der Bearbeitung von Testfragen oder Lernaufgaben – noch seine Wirkung entfalten wird. Gerade hier aber liegen sein Reiz und seine Herausforderung, sein Bildungspotential. Der Protagonist eines norwegischen Kinderbuchs drückt diese besondere Qualität literarisch-ästhetischer Lernprozesse in einem anderen Zusammenhang sehr treffend aus: »Eine Antwort ist immer ein Stück des Weges, der hinter dir liegt. Nur eine Frage kann uns weiterführen.«56 Lernende dazu anzuleiten, die richtigen Fragen zu stellen, um der Bedeutungskonstitution literarischer Texte auf die Spur zu kommen und anhand der Auseinandersetzung mit Fragen des menschlichen Wesens und Daseins auch in ihr eigenes Selbst hineinzuleuchten, dazu kann die Literaturwissenschaft im Sinne einer humanen, einer kulturellen und ästhetischen Bildung aktiv beitragen. Neben ihr und idealerweise im lebendigen Austausch mit ihr muss sich hierin aber auch die Literaturdidaktik bewähren, die heute angesichts eines veränderten Bedingungsgefüges von Lehren und Lernen vor ganz anderen Herausforderungen steht als etwa vor der Einführung der Bildungsstandards. Von diesen erfährt sie in ihrem Anspruch und Bestreben, einen kulturellen und ästhetischen Bildungsbeitrag zu leisten, oftmals weniger Unterstützung, als dass sie vielmehr Hemmnisse in den Weg gelegt bekommt. Den aus einem funktionalistischen Sprachverständnis motivierten Beschränkungen muss sie oftmals 56 Gaarder (1999), S. 22.

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erst überzeugende Komplemente entgegenhalten, um über die reine Informationsentnahme hinaus auch das kulturelle und ästhetische Potential einer Lektüre ausschöpfen zu können.57 Relativiert die Erweiterung des Textbegriffs die Bedeutung von Literatur im Unterricht erheblich, so steigt in gleichem Maße die Verantwortung der einzelnen Lehrperson, eine gute Auswahl an Inhalten zu treffen. Dies kann nur gelingen, wenn künftige Lehrerinnen und Lehrer literarischen Texten mit einer möglichst großen Aufgeschlossenheit begegnen, wenn in ihrem eigenen Lernen, ihrer eigenen Enkulturation Begeisterung geweckt wurde und literarische ›Funkenübersprünge‹ stattgefunden haben. Dafür gilt es vor allem in der Lehrerbildung Tag für Tag einzutreten, denn nur literarisch affizierte und zudem literaturwissenschaftlich versierte Lehrerinnen und Lehrer werden es wagen, gegen den Zeitgeist und aller Bequemlichkeit zum Trotz ihren Schülerinnen und Schülern anspruchsvolle literarische Texte zu präsentieren und sich mit ihnen gemeinsam deren Fragen und Ungereimtheiten zu stellen, und zwar nicht allein um eines pragmatischen Redeanlasses im Fremdsprachenunterricht willen, sondern auch im Wissen um ihren Bildungswert.58

5.

Literarische Bildung: Auftrag und Ausblick

Anstatt ein bildungspolitisches Unbehagen mit Polemik zu beantworten, möge sich aus den hier präsentierten Überlegungen vielmehr ein drängender Auftrag ableiten: Insbesondere nach Einführung der gestuften Lehramtsstudiengänge hat die Literaturwissenschaft eine erhöhte Bildungsverantwortung, die insofern gerade in der Lehrerbildung besonders groß ist, als sie sich in den von ihr hervorgebrachten Absolventen multiplizieren wird. Literarische Bildung lässt sich nicht wegrationalisieren – es sei denn, um einen hohen Preis, der auf die gegenwärtige und künftige Gesellschaft umgelegt werden müsste. Denn literarische Bildung ist nach wie vor unverzichtbare Voraussetzung für ein selbstbestimmtes und autonomes Lernen und Interagieren im sozialen Gefüge, für das neben der Literaturdidaktik auch die romanische Literaturwissenschaft Sorge trägt. Gerade angesichts des gegenwärtig längst alle Ausgewogenheit vermissen lassenden Pendelausschlags auf die Seite der materiellen »Nothdurft« wird es der »Tochter der Freyheit« nicht zur Schande gereichen, sich gelegentlich und mit Bedacht der »Nothwendigkeit der Geister« zu beugen. 57 Zu aktuellen Herausforderungen der romanistischen Disziplin vgl. Ißler (2017b); Ißler (2015). 58 Für exemplarische Anregungen zum bildungsorientierten romanischen Fremdsprachenunterricht vgl. aktuell u. a.: Ißler (2017a) sowie dazu: Ißler (2018a). Ferner, mit Blick auf Mehrsprachigkeitsdidaktik: Ißler (2016); Ißler (2018c).

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Les politiques de la littérature

A partir des interrogations implicites contenues dans mon titre, je ne vais pas discuter la question des relations entre la politique et la litt8rature. Je vais plutit poser la question de la politique, ou bien des politiques de la litt8rature, c’est-/dire la question de l’assujettissement de la litt8rature au pouvoir politique, ou bien, aux pouvoirs politiques au pluriel, ce qui implique, par contre, la question du dissentiment lorsque la litt8rature et la critique litt8raire d8fient les pouvoirs constitu8s (Foucault, bien s0r, et ses interrogations radicales : Qu’est-ce que les lumiHres ? Qu’est-ce que la critique ?)1. La litt8rature peut choisir de n8gocier son espace d’action / l’int8rieur de l’espace politique ; la litt8rature peut, au contraire, proclamer son autonomie, prendre son parti dans le champ de pouvoir culturel en se rangeant sur le front de bataille id8ologique d’une maniHre / la fois explicite ou implicite. La litt8rature est une cat8gorie politique. Elle est un des pouvoirs reconnus, n8goci8s, ou bien r8prim8s, sinon expuls8s de la p|kir (Platon, pokite_a, livres II, III, X). La litt8rature est l’expression du pouvoir mim8tique, l’imitation du monde tel qu’il est, qu’il devrait Þtre, qu’il a 8t8. La litt8rature donne les exemples et les critHres selon lesquels on juge le pr8sent : l_lgsir (mı¯me¯sis), lilei˜shai (mı¯meisthai), ‹ imiter ›, sont li8s / lil]olai (mimeomai) ‹ repr8senter ›, ‹ reproduire › ; li˜lor (mimos) est le mime, l’acteur, l’artiste aussi, le dgliouqc|r (demiurgos) qui fait repara%tre le monde / partir des images qu’il en a dans sa m8moire, ce qu’il se rappelle / son sujet, ou bien / partir des images que le demiurgos use afin d’oublier et de faire oublier tout ce qu’il ne peut pas repr8senter, ou dont la repr8sentation est interdite par les pouvoirs que le mimos sert et auxquels il est donc soumis. Toute repr8sentation est b.tie par la dialectique entre la m8moire et l’oubli. Mimnesco (lilm^swy) signifie rappeler, ce qui nous dit aussi que le mime et la m8moire – / retrouver, ou / ne pas perdre – sont strictement li8s. Ceci doit 1 Foucault (1984), « Qu’est-ce que les lumiHres », pp. 38–39 (extrait du cours du 5 janvier 1983, CollHge de France) ; Foucault (1994), Dits et 8crits, texte 351 ; Foucault (1990), « Qu’est-ce que la critique », pp. 35–63.

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avoir affaire /, ou bien avec la v8rit8, ce qui nous dit pourquoi la politique doit exercer sa vigilance r8pressive sur les repr8sentations et les activit8s mim8tiques, (Polit8ia, livre X). La litt8rature reste, mÞme / l’8poque de son cr8puscule, auquel il ne faut pas croire, une partie importante du pouvoir intellectuel, c’est-/-dire de ce pouvoir qui doit Þtre d8fini comme ‹ organiquement › (Gramsci) li8 aux pouvoirs constitu8s, ou bien aux pouvoirs qui veulent se constituer. Il y a, bien s0r, une troisiHme posture, qui identifie le lieu, ou bien le non-lieu de l’intellectuel non organique en tant que figure du seuil, toujours / la marge, dans un exil perp8tuel. Je trouve mon deuxiHme point de repHre dans l’œuvre de Bourdieu, et dans sa d8finition du champ du pouvoir2. Cette notion n’implique aucune d8finition abstraite du pouvoir. L’id8e mÞme du champ de pouvoir implique une analyse politique et sociologique fond8e sur la multiplicit8 des pouvoirs dont l’action dialectique trace les limites des champs dans lesquels la soci8t8 organise le consensus autour du pouvoir constitu8 par la mise en œuvre des strat8gies de l8gitimation et de d8-l8gitimation qui en caract8risent l’action. C’est le travail de la domination qui s’explique aussi par la subdivision des diff8rents domaines. Chaque champ de pouvoir est interconnect8 avec d’autres champs dans l’interaction du champ politique propre avec le champ 8conomique, ainsi qu’avec tous les autres champs : le champ financier, industriel, intellectuel, religieux, ou encore celui du pouvoir de la communication (l’8dition, l’information, la radio, la t8l8vision, le cin8ma, le th8.tre, le domaine des arts visuels, les diff8rents domaines musicaux). Chaque champ de pouvoir est g8r8 par une pluralit8 de pouvoirs concrets qui s’allient et s’opposent les uns aux autres selon la dialectique qui, tour / tour, d8finit leurs positions r8ciproques. Le champ litt8raire, ce que la litt8rature ancienne appelle Ngtoqijµ t]wmg (retorik8 t8kne), ars oratoria, est l’organisation discursive par laquelle le pouvoir des repr8sentations peut agir sur l’esprit et sur la tÞte en faÅonnant l’imaginaire et donc la m8moire historique des masses. Le pouvoir-Ma%tre, le discours du Ma%tre (Lacan)3 est aujourd’hui le pouvoir du march8 au centre mÞme de la polis globalis8e ; il s’agit de la condition primaire de laquelle descendent toutes les autres formes et les champs de pouvoir, / partir 8videmment des pouvoirs politiques. La litt8rature, lato sensu, est l’instrumentum regni par excellence dans la construction des apparats de consensus, consentement, ou dissensus, dissentiment. Dans la Polit8ia platonicienne la mimesis est l’instrument p8dagogique primaire de la paideia, ainsi que l’in2 Bourdieu (1971), « Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe » ; La noblesse d’Ptat. Grandes 8coles et esprit de corps (1989) ; Les rHgles de l’art. GenHse et structure du champ litt8raire (1992) ; Sur la t8l8vision (1996) ; « Le champ 8conomique » (1997) ; Propos sur le champ politique (2000) ; Champ du pouvoir et division du travail de domination (2011), pp. 126–139. 3 Lacan (1991), « Les quatre discours ».

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strument le plus dangereux de la d8magogie (livres II–III, et X). La mimesis doit Þtre contril8e par le pouvoir d’interdiction (religieux, 8thique, id8ologique, politique). En tous cas il s’agit d’interdire la repr8sentation des v8rit8s qui voudraient se proclamer / pleine voix, et que les pouvoirs qui gouvernent la polis doivent manipuler, sinon 8touffer. L’art qui pr8tend Þtre int8gral ne peut pas Þtre accept8 dans la polis qui accepte au contraire l’artiste, l’artisan qui se rend utile au pouvoir constitu8 dont il repr8sente l’id8ologie, ou bien : il la reproduit dans ses figures. Ces pouvoirs de censure concourent donc / donner / l’œuvre d’art sa forme par la l8gitimation de ce que l’œuvre peut dire et la d8-l8gitimation de ce qui dans l’œuvre doit Þtre tu. Le progrHs dans la technologie de la communication, et le cons8quent accroissement de l’audience impliquent l’invention des formes nouvelles de l’organisation du contrile. L’invention de Gutenberg, au quinziHme siHcle, devint l’instrument de la communication et de la propagation, c’est-/-dire l’instrument pour b.tir l’h8g8monie culturelle, soit dans les pays de la R8forme protestante soit dans les terroirs de la Contre-R8forme catholique. Tous les pouvoirs constitu8s, ou qui veulent se constituer ne peuvent que s’affirmer en tant que pouvoirs de propagation ainsi que d’interdiction. Les deux exemples paradigmatiques sont la cr8ation de l’Index librorum prohibitorum (1558) dans l’Europe catholique et du Stationer’s Register en Angleterre (cr88 par Marie Tudor, la reine catholique, en 1557, et confirm8 par la reine anglicane Elisabeth en 1560). Dans les deux cas il s’agissait de b.tir des instruments de contrile de la presse. Dans les mÞmes ann8es, commenÅa partout en Europe la renaissance du th8.tre, en Italie (l’acad8mie aux Orti Oricellari / Florence) en Espagne, en Angleterre, en France, en Allemagne, avec toutes les interdictions th8.trales qu’on conna%t bien et en mÞme temps la promotion du th8.tre en tant qu’instrument de la v8rit8, c’est-/dire de la manipulation id8ologique de l’imaginaire populaire et de la formation du consensus. La politique des interdictions et des licences dans la p8riode 8lisab8thaine en Angleterre, et en Espagne au siglo de oro, et partout dans l’Europe occidentale4 culmina au grand siHcle dans la cr8ation politique du Cardinal Richelieu, l’Acad8mie FranÅaise, comme organon de contrile politique des spectacles et du langage, et l’exercice de l’h8g8monie politique sur toute production culturelle, par la cr8ation, la formulation d’une po8tique de l’Ptat, la po8tique des biens8ances, qui d8finit soit les sujets soit les mots politiquement corrects, dans la mÞme logique de L’Accademia dell’Arcadia en Italie au siHcle suivant. Aujourd’hui on pourrait dire qu’il n’y a guHre d’8criture qui ne soit pas performative. Au dix-neuviHme siHcle aussi, l’8criture romanesque semble souvent se composer dans une sorte d’envie transitive de prendre une autre vie. Elle veut 4 Voir Pallotti/Pugliatti (2008).

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devenir th8.tre, elle veut surtout chanter et devenir m8lodrame, se faire th8.tre d’op8ra pour en avoir le succHs ainsi que l’audience ; ce qui nous mHne / nous interroger sur la relation entre 8criture narrative et 8criture performative, entre roman et movies, moving pictures, dans notre troisiHme ou quatriHme late modernity, notre modernit8 tardive. L’8criture romanesque de nos jours semble souvent se composer pour Þtre s8rialis8e dans des s8ries filmiques, ou t8l8vis8es. L’8criture romanesque non seulement se compose dans l’espoir de devenir cin8ma, elle se nourrit de l’imaginaire t8l8vis8, et du cin8ma, et donc avec l’intention, l’espoir de devenir sc8nario, et traitement pour un film, ou mieux encore pour une des grandes s8ries HBO, ou STARZ avec leurs 8normes investissements, et leur public et leurs profits plan8taires. A ce propos, on devrait se demander quel est le type de master fiction (Stephen Greenblatt), ou de grand r8cit (Lyotard), ou bien quel est le type d’histoire, de r8cit historique auquel ces narrations se r8fHrent. Quelle est l’id8e politique, quel est le type de communaut8 auxquelles se r8fHrent, implicitement ou d’une maniHre tout / fait explicite, les peplums am8ricains comme Rome (cr88 par William McDonald, John Milius et bien d’autres auteurs) ou Spartacus (8crit par Steven De Knight, Joshua Donen, Sam Reimi, Robert Tapert) ? Quelles sont les raisons du succHs du nouveau m8di8valisme fantastique de Game of Thrones (tir8 par David Benioff et D.B. Weiss de la s8rie de romans fantasy de George R. Martin, A Song of Ice and Fire, suivi par Dance of Dragons 1996–2015), ou la repr8sentation hard core du pouvoir qui caract8rise des productions comme House of Cards (la politique am8ricaine), une minis8rie BBC tir8e du roman de Michael Dobbs (1989), et puis adapt8e une seconde fois par Beau Willimon pour NETFLIX). Il faudrait donc se poser la question de l’esth8tique hyperr8aliste, hardcore, / l’enseigne de la paqqgs_a (parres'a, francparler) la plus brutale et la plus cynique dans la repr8sentation de la violence ainsi que de la sexualit8 dans ces productions confectionn8es pour un public de millions de spectateurs. Il faudrait aussi se demander quelle est l’id8e du monde et de la soci8t8 dont ces productions s’inspirent, qu’elles reproduisent et donc pr8parent. A quoi sert la litt8rature ? Un ouvrage populaire de succHs durable tel que The Lord of the Rings (1955) par Tolkien a 8t8 lu par des millions de lecteurs. Cependant ce qui en fait aujourd’hui l’ouvrage plan8taire, global qu’on conna%t, est l’adaptation filmique dans les deux trilogies qu’en a tir8es Peter Jackson (2001–2003, The Lord of the Rings, 2012–2014 – the Hobbit). Je cite cet ouvrage fantasy pour la trHs bonne raison qu’il s’agit d’une sorte d’all8gorie de l’histoire occidentale dans les ann8es trente-quarante ; il s’agit, pour ainsi dire, du mythe de fondation de la d8mocratie globale, ou bien d’une d8clinaison du grand r8cit occidental, sinon d’une des 8manations du « signifiant-ma%tre » dont parle Slavoj

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Zˇizˇek.5 Le signifiant-ma%tre, le discours du ma%tre, une notion tir8e du s8minaire XVII de Lacan6 – est l’espace vide du langage occup8 par n’importe quelle vision avec laquelle le pouvoir peut s’identifier, se communiquer, s’imposer, puisque « le signifiant-ma%tre comm8more l’irruption du signifiant » et d8finit la condition mÞme de la signification. L’id8e mÞme du signifiant-ma%tre nous rappelle Gramsci, et son id8e de la fonction du pouvoir en tant que construction de ce qu’il appelle l’H8g8monie culturelle. Le signifiant-ma%tre, ainsi que le signifiant du savoir indiquent l’espace vide dans lequel s’installe le premier principe du discours du pouvoir qui nous gouverne du dedans, en tant que principe du connu et loi fondamentale de l’existence humaine, ou ce que nous pouvons appeler l’horizon du sens commun. Enzo Traverso a r8cemment publi8 un livre sous la forme d’une conversation avec R8gis Meyran sur la crise des intellectuels.7 Traverso dit que la fin des intellectuels (engag8s) co"ncide avec la fin des utopies / la fin du « court XXe siHcle » en 1989 aprHs la chute du mur de Berlin, et la fin du Socialisme r8el.8 A mon avis les philosophes, les scribes, ceux qui ont affaire avec la cr8ation de la culture sont toujours chez nous, et leur fin n’est pas proche, bien qu’il soit vrai qu’un certain type d’intellectuel puisse nous para%tre d8mod8. Au dix-neuviHme siHcle, aprHs la grande r8volution, les auteurs, les grands critiques, Hugo, SainteBeuve, Matthew Arnold, Carlyle, De Sanctis, 8taient tous des intellectuels engag8s. Aujourd’hui la critique litt8raire nous semble politiquement insignifiante. Le dernier intellectuel, le dernier litt8rateur engag8 qui a eu et qui a th8oris8 sa propre importance politique a 8t8 Edward Said. Aujourd’hui on n’a point des litt8rateurs, pas mÞme des historiens en tant qu’intellectuels engag8s et 8cout8s ; on a, on avait, surtout des sociologues, tels que Fukuyama, Zygmunt Bauman, et Ulrich Beck, et, oui, Zˇizˇek qui, en philosophe, se sert beaucoup de la litt8rature pour exemplifier, et discuter ses id8es. D’ailleurs il faut bien dire que la litt8rature n’est pas facile / d8finir, puisqu’il serait raisonnable de dire que tout ce qui est 8crit c’est de la litt8rature, ou bien que tout ce qui est 8crit devient litt8rature. Les sciences dures aussi, ainsi que la philosophie, l’histoire, la th8ologie mÞme, souvent, aprHs quelques ann8es, on peut les lire en tant que litt8rature qui nous parle du monde dans lequel ces id8es, ces 8critures ont 8t8 produites. Par contre, on a l’id8e d’une puret8 de la litt8rature, ou mieux, d’une puret8 de la po8sie en tant que rÞve d’une 8criture de l’absolu : Val8ry, Mallarm8 et la puret8 de la po8sie en tant que repr8sentation du diagramme de la pens8e po8tique ; bref, en tant que processus : Un coup de d8s, Le cimetiHre marin. Si la po8sie ne peut que repr85 6 7 8

Zˇizˇek (2006), pp. 57–58 ; voir Zˇizˇek (2008). Lacan (1991), « Les quatre discours ». Traverso (2013). Voir Hobsbawm (1994), l’introduction : « The Century : A Bird’s Eye View ».

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senter la r8volution, ne peut donc la donner que comme fiction et donc mensonge, la po8sie peut, par contre, devenir la r8volution dans son propre ordre, comme le disait au temps jadis Julia Kristeva dans La r8volution du langage po8tique (1974)9. Trente ans aprHs, on retrouve l’id8e de la po8sie en tant qu’action politique r8volutionnaire dans le Mallarm8 de Jacques RanciHre10. RanciHre parle de la politique de la litt8rature / partir de la soci8t8 dans laquelle tel ou tel ouvrage a 8t8 produit, et des activit8s qui en rHglent, ou en r8glaient la vie sociale et politique dans une certaine p8riode de temps. Cependant, prendre pour acquis que la politique de la litt8rature ne se trouve que dans la forme, et non pas dans la substance des discours, et dire, ou laisser entendre que la seule r8volution dans la litt8rature ne peut que se faire / l’int8rieur du systHme litt8raire, / mon avis, c’est simplement nier toute valeur politique de la litt8rature, ce qui n’est qu’un effet de pouvoir qu’on peut formuler de la maniHre suivante : la litt8rature peut parler de la politique, ce qui arrive souvent 8videmment, mais, au moment mÞme oF la litt8rature parle de la politique, elle transforme la politique en litt8rature. Au contraire, la litt8rature qui parle de la politique ne peut pas devenir la politique elle-mÞme, ni s’instituer en tant que instrumentum regni. A notre avis, au contraire, la litt8rature ne peut pas tomber hors du monde : en tant qu’activit8 mim8tique, et mn8monique, en tant que dialectique entre la m8moire et l’oubli, comme toute production d’histoires, de r8cits, de narrations, la litt8rature est la forme mÞme du discours social, elle est donc la m8moire culturelle qui s’exprime et prend sa forme dans la koin8. Gramsci, c’est bien curieux, est lu aujourd’hui au contraire, comme celui qui nous r8vHle les arcana regni, et non pas comme l’intellectuel qui conna%t le principe de l’h8g8monie culturelle en tant que principe premier du pouvoir, qui, chez Gramsci est la seule chose qui compte dans la r8volution culturelle qui doit pr8c8der et porter au pouvoir le prol8tariat. L’art et la litt8rature faÅonnent la m8moire culturelle, en gardent les figures, les interprHtent selon les exigences du pr8sent. Il faut donc rappeler ce que Benjamin 8crivit dans son 8tude sur Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker11. La litt8rature, l’histoire, l’histoire des arts, de la science, la critique, la philosophie, la sociologie, l’anthropologie composent, dans leur ensemble, l’histoire culturelle. Cependant les mat8riaux de cette histoire, les mat8riaux pr8f8r8s par l’historien culturel, sont des mat8riaux pauvres. On les trouve dans les boutiques des brocanteurs et fripiers, dans les poubelles de l’histoire. Il s’agit de mat8riaux dont l’int8rÞt est dans leur r8plication infinie, la r8plication mÞme qui les jette dans 9 Kristeva (1974). 10 RanciHre (2006). 11 Benjamin (1937) ; voir Benjamin (1988), Illuminationen, pp. 302–343 ; Benjamin (2000), Oeuvres III, pp. 170–225.

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l’oubli, un oubli qui est pourtant le signe de ce qui a 8t8 oubli8, et donc ne peut que se faire m8moire, avec le temps. L’historien culturel est celui qui cherche ce qui est perdu dans la poubelle de l’oubli. Il y trouve des zones sensibles surtout dans les objets 8cart8s (la vieille pornographie chez Fuchs, les petites statues de Venus qu’on trouve partout dans les boutiques des fripiers, et toutes les images survivantes dont nous parle Georges Didi-Huberman dans son livre sur Aby Warburg12. Fuchs est le modHle de ce que l’historien culturel doit Þtre dans sa guerre sans frontiHres contre l’oubli, et contre un ennemi qui nous menace, qui menace les morts aussi, ou surtout les morts.13 Notre m8tier, l’histoire culturelle, la critique litt8raire, au niveau actuel de la massification ne peut guHre nous garantir la survivance du savoir critique, ni l’usage politique de la raison en tant que critique du gouvernement. Le philosophe, il faut le rappeler, dans la taxonomie aristot8licienne (T± pokitij±) ne se trouve nulle part. Le philosophe est une figure du seuil, il doit se poser en marge de la polis. Rester en marge est la condition pour devenir l’2qlgme}r (hermeneus), ou l’2qlgmeut^r (hermeneutes), le traducteur, l’interprHte, de la D_jg, de la loi, donn8e aux hommes par le vouloir divin. Le philosophe doit l’interpr8ter, la D_jg, il doit la transmettre / ceux qui gouvernent la polis. L’intellectuel, en tant que cr8ature de la pens8e critique, dans notre monde aussi nous semble oblig8 / la marge, donc / un exil proche et loin en mÞme temps14. Chez Said l’intellectuel est la voix mÞme de l’exil, qui parle la langue de l’exil, et donc la langue mÞme de la v8rit8, !k^heia (al8teia) qui se r8fHre / l’ouverture des yeux, au r8veil qui nous pose dans l’exil15. Brecht, de 1927 / 1932 8crivit trois essais sur la radio et s’occupa aussi de cin8ma (Der Dreigroschenprozeß).16 On trouve ces quatre essais dans les Schriften zur Literatur und Kunst.17 Le premier de ces essais est trHs pol8mique / partir du titre, Der Rundfunk: Eine vorsintflutliche Erfindung? (La radio, une invention 12 Didi-Huberman (2002). 13 Benjamin (2000), Œuvres III, p. 431 [« Sur le concept d’histoire », IV] : « Si l’ennemi triomphe, mÞme les morts ne seront pas en s0ret8. Et cet ennemi n’a pas fini de triompher ») ; Benjamin (1988), Illuminationen, p. 253 : « Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört ». 14 A propos de la taxonomie politique aristot8licienne, voir Vegetti (1996). 15 Said (1996). 16 Brecht (1931), « Die Dreigroschenoper / Der Dreigroschenfilm / Der Dreigroschenprozeß ». 17 « Der Ozeanflug » (1967a), pp. 565–585 ; « Radio – eine vorsintflutliche Erfindung ? » (1967b), pp. 119–121 ; « Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks » (1967b), pp. 121– 123 ; « Über Verwertungen » (1967b), pp. 123–124 ; « Erläuterungen zum Ozeanflug » (1967b), pp. 124–127 ; « Der Rundfunk als Kommunikationsapparat » (1967b), pp. 127–134. Sur Brecht et les m8dias : Wöhrle (1988), Kapitel IV ; Müller (1989). Voir aussi Benjamin (1980), trad. franÅaise des deux versions, 1935 et 1939 ; Benjamin (2000), on y trouve aussi « Commentaires sur les poHmes de Brecht », pp. 226–268 et « Qu’est-ce que le th8.tre 8pique ? », pp. 317–328.

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d’avant le d8luge ?). Le deuxiHme s’occupe de la radio en tant que moyen de communication Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, tandis que le troisiHme essai nous parle de Der Ozeanflug (Erläuterungen zum « Ozeanflug ». Notes explicatives sur Le vol sur l’Oc8an) : il s’agit du drame musical en 17 sections, dont la musique fut compos8e par Kurt Weil et Paul Hindemith. Le drame fut mis en scHne au Baden-Badener Musikfest en 1920. L’essai sur Der Ozeanflug est de 1930. Die Oper, Der Ozeanflug, 8crit Brecht, ne doit pas se mettre au service de la radio, Der Ozeanflug doit modifier la technique de la communication radiophonique qui doit s’adapter / la dynamique de la Verfremdung, et du th8.tre 8pique. L’interpr8tation des acteurs, l’ex8cution du texte doit exemplifier et cr8er une discipline de l’esprit en tant que fondement de la libert8. In Der Dreigroschenprozeß (1931), / propos du film tir8 de l’op8ra brechtien18, il ne s’agit pas – dit Brecht – d’adapter Die Dreigroschenoper au cin8ma, au contraire : c’est le m8dium qui doit s’adapter / l’op8ra brechtien. Il fallait donc user le go0t esth8tique des masses pour cr8er les pr8suppos8s d’une pens8e critique de masse. Le troisiHme essai de Brecht sur la radio date de 1933 : Der Rundfunk als Kommunikationsapparat sur la fonction politique de la radio. En 1933 il ne s’agissait pas de d8cider comment se servir de la radio : celui qui avait le pouvoir de s’en servir, poss8dait, ipso facto, la cl8 d’accHs / l’imaginaire populaire ; il poss8dait, pour ainsi dire, un instrument politique effrayant. Le fascisme et le nazisme sont inimaginables sans L’UFA, sans Cinecitt/, sans l’EIAR, la radio italienne, et sans la Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG). L’am8ricanisme aussi, en tant qu’organisation de l’id8ologie de masse, est difficile / imaginer sans une politique de la communication qui, si McLuhan avait raison, doit former l’imaginaire et la m8moire collectifs auxquels en mÞme temps le moyen de communication doit s’adapter, et dont le m8dium doit donc d8terminer les techniques discursives. A l’.ge de la massification, dans laquelle on a le droit / la libert8 de parler, d’8crire, ce qui ne veut pas dire qu’on a l’accHs aux mass media, la vraie question est la suivante : est-ce qu’on a la libert8 de penser, et de se former son opinion ? C’est une question basilaire dans le monde administr8 (die verwaltete Welt) dont nous parle Adorno.19 Dans ce monde, il ne nous reste que le cocon vide de la notion d’individu en tant que fondement de ce que nous croyons Þtre. Ce que nous croyons Þtre ou que nous craignons d’Þtre est t8moign8 par la litt8rature, stricto et lato sensu. La litt8rature est aussi le lieu de la pens8e critique en tant que pens8e du dehors, ou pens8e et sentiment de l’alt8rit8, ce que Robert Musil appelle An-

18 Mise en scHne par Georg Wilhelm Pabst ; sc8nario de Laszlo Wajda, L8o Lania, B8la Balasz ; musique de Kurt Weil. 19 « Die verwaltete Welt oder : Die Krisis des Individuums » : il s’agit de la conversation radiophonique entre Theodor W. Adorno, Max Horkheimer et Eugen Kogon / la Hessischer Rundfunk le 4 septembre 1950. On la trouve dans Horkheimer (1989), tome 13, pp. 121–142.

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dersdenken, Andersfühlen dans ses Tagebücher.20 C’est le lieu de la pens8e critique qui nous permet d’alimenter des petits feux d’espoir qui n’osent pas se prononcer sinon dans l’exil, dans l’Innerexil dans lequel nous nous trouvons, oF nous nous perdons, dans notre monde sans m8moire, et donc sans r8demption. Et pourtant la guerre contre l’oubli, c’est la guerre clandestine dans laquelle on doit se battre. C’est un fait que, enfin, on doit se salir les mains, on doit, peut-Þtre, inventer une langue nouvelle pour se confronter / la culture de masse. Surtout, il ne faut jamais oublier l’8poque dans laquelle on vit ; ce qui est, / notre avis, le plus grand risque esth8tique que nous courons.

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20 Musil (1976), Tagebücher, tome II, p. 1147 ; voir Rella (1981), pp. 16–18.

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Anne-Marie Bonnet

Wozu / Wieso Kunstgeschichte?* »Das Geschäft der Kunsthistoriker ist das übelste Geschäft, das es gibt, und ein schwätzender Kunsthistoriker – und es gibt ja nur schwätzende Kunsthistoriker – gehört mit der Peitsche verjagt.«1 Thomas Bernhard »Die Kunst ist das Höchste und das Widerwärtigste gleichzeitig.«2 Thomas Bernhard

Bevor der Frage nach Sinn und Funktion der Kunstgeschichte nachgegangen werden kann, sei kurz daran erinnert, seit wann es das Fach / die Disziplin gibt. Hier sei vorerst nur – in aller holzschnittartigen Verkürzung – die westliche, abendländische Bildkultur in nachantiker Zeit verhandelt, und deren Kunstgeschichte, die es gibt, seit von ›Kunst‹ im westlichen Sinn gesprochen wird, also seit der sog. ›Renaissance‹. Zwar würden die Mediävisten hier zu Recht anders argumentieren, aber im allgemein waltenden Verständnis wurde bislang in der westlichen Kunstsphäre allen europäischen Bildkulturen ein an der griechischrömischen Antike geschulter Kunstbegriff auferlegt, und vorneuzeitliche bildliche / künstlerische Modalitäten wurden eher als Kultobjekte oder kunsthandwerkliche Artefakte betrachtet. Ab der Renaissance wurde der reichen Bildkultur und den vielfältigen Praktiken der Verbildlichung des Unsichtbaren sowie der elaborierten Ästhetik des Mittelalters weitgehend der neuzeitliche ›Kunst‹-Status abgesprochen. Parallel zur Etablierung dieser neuen Form von Bildkultur (›Kunst‹) entstand auch eine erste Form von Kunstgeschichtsschreibung, nämlich als Biographik (Vasaris Viten). ›Kunst‹ gibt es also, seitdem die Bilder mehr sein wollten, als nur im Dienste der propaganda fide oder der Legitimation von Macht zu stehen. Neue Bildinhalte und -formen wurden generiert, allerdings damals noch immer mit genauem Auftrag für vorgegebene Gebrauchssituationen. Entdeckt wurden der Mensch und die Welt – so der geläufige Mythos ›Renaissance‹ –, und fortan * Die hier erstmals formulierten Gedanken sind inzwischen in etwas ausführlicherer Fassung publiziert worden: Anne-Marie Bonnet (2017), Was ist zeitgenössische Kunst oder Wozu Kunstgeschichte?, Berlin: Deutscher Kunstverlag (2. Aufl.: Opaion Band 2, Schriften aus dem Kunsthistorischen Institut Bonn, 2018). Dank an Paul Geyer für die Anregung, meine Gedanken endlich zu formulieren! 1 Bernhard (1985), S. 43. 2 Bernhard (1985), S. 79.

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wollten die Bildermacher mehr sein als nur Kunsthandwerker, nämlich ›Künstler‹, und ihre Bildwerke sollten von mehr zeugen als von ihrem kunsthandwerklichen Geschick, nämlich von ihrer Bildung, ihrer Intelligenz und ihrem genius. Um Missverständnisse auszuschließen, schrieb man sog. ›Kunsttraktate‹, ›Lehrbücher‹ und formulierte Theorien, die erläuterten, inwiefern Bildwerke nun auch Kunst und wozu sie geschaffen seien. Zugespitzt ausgedrückt: Als in einer Krisen-Situation die Bilder ihre Selbstverständlichkeit und Allgemeingültigkeit verloren, sich gleichsam die Wahrnehmung der Welt und die Arten, ihr zu begegnen, ausdifferenzierten und offenbar neue Bildbedürfnisse entstanden, schälte sich eine neue Bildkultur heraus, die fortan ›Kunst‹ genannt werden sollte. Auch entstanden besondere Ausbildungsstätten (›Akademien‹) für die neue Spezies der Bildermacher, die sich als Künstler verstanden.

Als Artefakte ›Kunst‹ wurden Bekanntlich wurde damals auch die Perspektive erfunden, so dass die Bilder ›realistischer‹ wirkten und sich auf einen außerbildlichen Betrachter bezogen. Mit dem neuen Realismus wurde aber zugleich der Illusionismus eingeführt, das trompe l’œil, die Augentäuschung. Es sollte knapp fünf Jahrhunderte dauern, bis sich der Westen von dieser Vereinbarung – Realismus als Illusion – über das Sehen lösen sollte. Zugleich diente die neue, prächtige Kunst, die zugleich der großen Vergangenheit (Antike) verpflichtet war und der Gegenwart huldigte, zur Veredelung des Erscheinungsbildes skrupelloser Parvenüs (Päpste, Bankiers, Kaufleute, condottieri) einer neuen Spezies von Machthabern, die allmählich die alten Eliten aus Kirche und Adel ersetzten. Im Übrigen begannen in dieser als erster Höhepunkt westlicher Kultur gefeierten ›Renaissance‹ zugleich die Welteroberung, die Kolonisation und der neue europäische Wohlstand auf Kosten fremder Kulturen; damals etablierte sich die grundlegende Struktur der Globalisierung auf Basis einer sog. ›Freien Marktwirtschaft‹ unter imperialen Ansprüchen des Westens. Nicht zufällig wurde gerade im 19. Jahrhundert, als sich das industrielle kapitalistische System des Westens herausbildete, der Mythos ›Renaissance‹ als Verklärung der Anfänge dieser Kultur erfunden.3

3 Vgl. Burckhardt (1860).

Wozu / Wieso Kunstgeschichte?

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Als Artefakte gesammelt wurden Zu selben Zeit, als ›Kunst‹ neu erfunden wurde, begann man sich mit den Emblemen und Insignien neuen Wissens und Repräsentierens zu schmücken, und es entstanden erste studioli und Wunderkammern. Im Zuge der Aufklärung und der Revolution wurden diese Sammlungen dann in öffentliche Museen umgewandelt. Bild- und Kunstwerke wurden definitiv aus ihren lebensweltlichen Zusammenhängen herausgerissen und in neue ›ästhetische‹ narratives gepfercht. In diesem Zusammenhang entstand dann die wissenschaftliche Kunstgeschichte als Ordnungssystem für die ›Endlager‹ ort- und funktionslos gewordener Bild- und Kunstwerke, entfremdeter Bildwerke bzw. rekontextualisierter, rein ästhetischer oder zu bildungsbürgerlicher Anschauung umgewidmeter Objekte (s. u.).

›Mehrwert-Kunst‹ als ›Konzeptualisierung‹ / mise en abyme? In der Renaissance begann also ein Prozess, den ich eine erste ›Konzeptualisierung‹ / Brechung / Verdoppelung / mise en abyme des Sehens bzw. der Begegnung mit Bildern nennen möchte: Das Gros der Bilder entstand zwar noch immer im Dienste der propaganda fide und der Legitimation / Repräsentation von Macht, doch wandelten sich Rezeption und Wahrnehmung der Werke. Auch mittelalterliche Bildermacher hatten Kunstfertigkeit und Schönheit angestrebt, und deren Wirkungsästhetik war wahrgenommen worden, allerdings ganz und gar der Präsenz und der Vermittlung des Unsichtbaren verschrieben gewesen. Wenn jedoch nun in der Renaissance der fromme Mensch vor einem Kruzifix oder in einer Kapelle betete, schaute er auf einen Christus von Raphael oder Michelangelo, eine Madonna von Botticelli oder Donatello. Aber welche Rolle spielte nun für den Glauben der ›Mehrwert‹ Kunst? Vorher war die Schönheit der Bildwerke gewiss gesehen und gewürdigt worden, allerdings als integraler Bestandteil des jeweiligen Kultes. Fortan wurde die ästhetische Gestaltung als eigenständige Leistung des Produzenten gesehen und reflektiert. Bekanntlich sind hochfromme Orte (z. B. Lourdes oder Altötting) selten Orte hoher Kunst und umgekehrt Orte sog. ›Hoher Kunst‹ (Capella Sistina) selten noch Orte großer Frömmigkeit. Hatten sich die Kunst bzw. der ›Mehrwert‹ Kunst vom Kult gelöst? War dazwischen / davor der ›Filter‹ Kunst geschaltet? Sorgte Kunst für die Entfremdung vom ›Eigentlichen‹? Fortan blickte man stets auf eine bestimmte Interpretation, deren Autor (Auftraggeber? Künstler?) dem Betrachter seine Vision anbot / empfahl. Was bedeutet diese künstlerische / gestalterische Leistung des Künstlers? ›Freiheit‹ der Kunst, der Auslegung, für die Wahrnehmung der Bilder?

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Die Genese der ›Mehrwert‹-Kunst Kunstgeschichte und Kunstliteratur entstanden wie die Akademien, weil es seit der Neuzeit galt, die Spezies der Bildermacher entsprechend auszubilden sowie deren Produkte zu bestimmen und zu erläutern. Die Geschichte der Kunst wurde zu einer Abfolge von Festlegungen und deren Überwindungen, nämlich in und mit den Lehren der Akademien und der verschiedenen Schulen. Während die Kirche das Monopol legitimer Manipulation der Werte der Erlösung oder ethischer Werte innehatte, wurde, wie Bourdieu zeigte, die Akademie zur Zentralbank des symbolischen Kapitals bzw. der ästhetischen Werte.4 In den Genuss oder zum Verständnis dieser Bildkulturen kamen nur die Eliten, während dem ›Volk‹ das jeweils Gebotene gleichsam ungefragt vorgesetzt wurde, nämlich in Kirchen und nur wenigen öffentlichen Orten. Bekanntlich wurde dem Volke erst durch das Museum, ein Kind der Revolution, Kunst zugänglich gemacht.

Demokratisierung der Kunst? 1793 beschlossen die Revolutionsräte, den Louvre, die Schatzkammer der Künste für die bis dahin Herrschenden, der Allgemeinheit, also auch dem Volke, zu öffnen; dies gilt deshalb als ›Geburtsstunde‹ des ›Kunstmuseums‹ und als Ausdruck der Demokratisierung von Kunst. Aber warum sollte das Volk den – zuweilen schlechten – Geschmack der Herrschenden teilen, die auf seine Kosten entstandene zuweilen auch ›Parvenü-Kunst‹ goutieren? Top down wurden das Museum als Stifter nationaler Identität und die Kunst als Schule zur Veredelung des Bürgers missbraucht, dem nun Geschmacksmodelle diktiert wurden. Es sollte argwöhnisch stimmen, dass der Louvre in Zuge der Rückkehr der Monarchie (Restauration) nicht etwa geschlossen und zurückgenommen wurde: Die Macht des Museums als Ordnungs- und Lenkungsdispositiv, als Projektionsfläche nationaler kultureller Identität war wohl einfach zu wirksam. Fortan lieferten sich die Herrscherhäuser einen Konkurrenzkampf darum, wer seine Kunstschätze schneller und besser im Dienste der jeweiligen Nation ausbreitete. Als ›Kunst‹ entstand, wurden die besonderen Ausbildungsstätten gegründet: die (Kunst) Akademien, in denen das Wissen für das neuartige Tätigkeitsfeld produziert und gelehrt wurde. Während die Kirche das Monopol legitimer Manipulation der ethischen Werte innehatte, wurde die Akademie gleichsam zur »Zentralbank des symbolischen und ästhetischen Kapitals«5. Akademie und 4 Vgl. Bourdieu (1982). 5 Vgl. Bourdieu (1982).

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Museum verfügten über die offizielle Deutungshoheit im Bereich der Künste. Bezeichnenderweise schlossen die Revolutionäre die Kunstakademie nur kurz, um sie anschließend neu geregelt wieder zu öffnen, hatte man doch die Macht staatlicher Steuerung der Künste erkannt. Die akademische Kunstgeschichte indes entstand kurz nach Mitte des 19. Jahrhunderts, als es galt, die in den Museen ›endgelagerten‹ entkontextualisierten und funktionslos gewordenen Bild- und Kunstwerke wieder in einen höheren Sinnzusammenhang einzubetten. Im Museum wurden nun auch Bildwerke aus Kirchen oder Palästen zusammengetragen, die im Laufe der Säkularisierungen anfielen oder auf Kriegszügen erbeutet wurden. Grünewald- oder Rubensaltäre wurden im Museum zu Kunstwerken, damit einer meist rein ästhetischen Betrachtung ausgeliefert und nicht selten zusammen mit Bildwerken ausgestellt, die völlig anderen Gebrauchszusammenhängen entfremdet waren.

Kunstgeschichte als ›Renaturierungs‹- und Ordnungsmacht? Wie erwähnt, war die Entstehung neuer Bildwerke immer von Schriften begleitet, lieferten doch die Künstler und deren Kritiker jeweils begleitende Theorien und Erläuterungen. Seit der Aufklärung entstanden zusätzlich zur akademischen Öffentlichkeit in und mit den Salons gleichsam parallele, bürgerliche GegenÖffentlichkeiten und es verstärkten sich die diskursiven Begleiterscheinungen zu den visuellen Produkten. Es entstand die Kunstkritik, von der die Diskurse zu den Künsten einer breiteren vornehmlich bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Interessanterweise wurde in dieser Zeit in der deutschen Philosophie die Ästhetik als eigene sinnliche Form des Weltzugangs begründet,6 die man als Legitimation des weltlichen Genusses von Kunst umschreiben könnte. In der Tat war in Deutschland bereits während der Neuzeit mit der und durch die Reformation eine eigene Kultur der Bildkritik entstanden, die zum ersten Mal jene Problematik artikuliert hatte, die hier als ›Konzeptualisierung der Bildbetrachtung‹ bezeichnet, deren Reflexion jedoch fortan aus der Kunstgeschichte in die Philosophie ausgelagert wurde. Mit der Revolution wurden, wie erwähnt, die Bildenden Künste zwar ›demokratisiert‹, aber die Idee des (vermeintlich) demokratischen ›Kunstmuseums‹ erfuhr von Anfang an heftige Kritik, unter anderem von Künstlern und Connaisseurs wurde dies vielfach verdrängt. QuatremHre de Quincy z. B. lehnte die Instrumentalisierung und Dekontextualisierung der Kunstwerke durch ihre Translozierung ins Museum ab. Bildwerke seien nur in ihrem ursprünglichen Entstehungskontext verständlich und gehörten dem allgemeinen europäischen 6 Vgl. Baumgarten (1750–58).

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(humanistischen nachantiken) kulturellen Erbe und könnten nicht nationalen Zwecken dienen!7

Kunst und Wissenschaft? Für die ursprünglich museal willkürlich versammelten Bild- und Kunstwerke galt es, neue Ordnungssysteme zu schaffen: Herkunft (Kunstlandschaft, Genealogie), Stil, Funktion, Typus oder Genre. Museum und Kunstgeschichte erfanden also neue, aber allesamt post festum auferlegte narratives, so dass die Bemühungen um Wissenschaftlichkeit auch als Kompensation eines schlechten Gewissens verstanden werden könnten: Je größer die Entfremdung der Objekte, desto mehr wissenschaftliche Abhandlungen. Gleichsam als Wiedergutmachung für die den musealisierten Werken angetane Gewalt und zur Abwehr des Vorwurfs bloß subjektiven Empfindens strebt man ›Objektivität‹ an. Die Bourgeoisie hatte zur Kompensation ihrer materialistischen Geschäftigkeit das moderne Künstlertum erfunden, wurde dafür aber regelmäßig mit Verachtung gestraft (Choquer le bourgeois). Während also realiter die ›neue Freiheit‹ (sprich: Markttauglichkeit) erprobt wurde, priesen Ästhetik und Kunstgeschichte deren Autonomiepflege, die Illusion der Marktferne. »Zur Verdrängung des neuen Warencharakters der Kunst hat die akademische Kunstwissenschaft wesentlich beigetragen«8. Aber in der Kunstgeschichte galt es lange als unfein, von den real existierenden Zwängen zu sprechen, und materialistische Kunstgeschichte (Benjamin, Einstein, Hauser, Raphael) wurde lange geächtet. Die moralische Entrüstung über das Sponsoring hat Walter Grasskamp sehr einleuchtend erkannt als »Kompensation für den Verlust der gutbürgerlichen Illusion der ›reinen Kunst‹«9. Die Kunstgeschichte bestand auf Distanz zur Kunstkritik und meist auch auf einen, vermeintlich objektivierenden, zeitlichen Abstand zu den verhandelten Untersuchungsobjekten. Der Kunstkritik wurde gleichsam das ›Tagesgeschäft‹ überlassen, die Rezeption und Würdigung / Bewertung des Aktuellen, während sich die Kunstgeschichte den historischen Aspekten und Werken widmete. Fortan wurden den Entwicklungen in der Geschichte der Kunst die rückblickenden Konstruktionen der Kunstgeschichte auferlegt. Bekanntlich sorgte u. a. der Widerstand gegen die einseitige Verwissen7 Vgl. QuatremHre de Quincy (2017), Lettres / Miranda, publiziert 1796 in Paris zunächst als: Lettre sur le pr8judice qu’occasionneraient aux arts et / la science le d8placement des monuments de l’art de l’Italie, le d8membrement de ses 8coles et la spoliation de ses collections, galeries, mus8es, etc. Er tritt gegen die ›Translokation‹ der Werke von Italien nach Frankreich ein, denn sie entfremde sie von ihrem ursprünglichen Kontext. 8 Grasskamp (2016). 9 Grasskamp (2016).

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schaftlichung der Kunstbetrachtung für den ersten Impuls zu einer anderen, weiter gefassten Vorstellung von Kunstgeschichte, nämlich bei Aby Warburg, der für die Betrachtung nicht westlicher Bildwerke und die Integration kulturwissenschaftlicher und material culture-Verfahren eintrat. Seine Feldstudien begründete er mit »aufrichtigem Ekel« vor der »ästhetisierenden Kunstgeschichte«: »Die formale Betrachtung des Bildes – unbegriffen als biologisch notwendiges Produkt zwischen Religion und Kunstausübung – … schien mir ein steriles Wortgeschäft hervorzurufen …«10. Ein Großteil der wissenschaftlichen Leistungen der Kunstgeschichte bestand eben darin, die ursprünglichen Sinn- und Funktionszusammenhänge zu rekonstruieren, um die Bedeutung eines Bildwerkes zu ermitteln. Das Museum zwingt Bildwerke aus verschiedenen Zeiten und Kulturen zu einer ›Promiskuität‹, die durch museale Präsentationen und kunsthistorische Erklärungsschemata gleichsam post festum legitimiert wird.

›Moderne‹ als ›Renaturierung‹ und Demokratisierung? Mit der ›Moderne‹ begannen KünstlerInnen gegen die Ordnungsmacht der Akademien und Museen aufzubegehren. Hatten Akademien ursprünglich für die Bildenden Künste die Regelwerke vermittelt und deren Status in der Gesellschaft bestimmt, so wurden sie im 19. Jahrhundert zum Inbegriff der Tradition und des Regressiven. Wer wann wie wo genau als Erster die Stimme erhob und für eine Befreiung der Künste von den Vorschriften der Akademien und den Kriterien der Jurys zur Aufnahme in Salons und dann Museen eintrat, wird in jeder neuen Geschichte der Modernen Kunst erneut verhandelt. Zu dieser Geschichte gehört, dass jedes Aufbegehren letztlich in eine neue Art Akademie mündete und dann von Kunstkritik und Kunstgeschichte wieder eingeholt wurde. Indem Künstler der Moderne gegen die Ordnungsdispositive der Akademie und der Auftraggeberschaft rebellierten, wurde Kunst zum ersten Mal wirklich ›frei‹, ›autonom‹, artikulierte sich doch jeweils ein Einzelner oder eine Gruppe gegen das establishment.

›Freiheit der Kunst‹? Der Preis dieser Freiheit war jedoch, dass die Kunst dem sog. ›freien Markt‹ ausgeliefert wurde: Man musste neue Schnittstellen zur Öffentlichkeit und neue Zielgruppen (potenzielle Abnehmer) finden. Rasch etablierte sich der ›freie‹ Kunstmarkt aus Kunsthändlern und Galerien, wurden Ausstellungs- und Ver10 Warburg (2018).

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kaufsflächen (Weltausstellungen) sowie Kunstkritik in immer größerer Medienvielfalt (Zeitungen, Magazine) geboten, und damit entstand das sog. ›Betriebssystem Kunst‹, das unterschiedliche Ausprägungen erfahren sollte. Die Kunstgeschichte zog sich in die Universitäten zurück und überließ das aktuelle Geschehen dem Kunstmarkt und der Kunstkritik.

Moderne Kunst und Museum Es entstanden auch ›Museen lebender Künstler‹ (1818 ›Le Mus8e des Artistes Vivants‹ im Palais du Luxembourg), die allerdings nur Mus8es de Passage waren, und man debattierte, wie lange nach dem Tod eines Künstlers (10, 20 oder 30 Jahre) dessen Werke ins ›wahre Museum‹ (›Louvre‹) kommen sollten. Wenn die Museen als Schatztruhen der Nation die Tradition horteten, welche waren dann die Orte der nun freien Künste? Da die Kunst nicht mehr wie andere Handelswaren oder in Konkurrenz damit auf den Weltausstellungen dargeboten werden sollte, wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit der Neuen Sezession in Wien ein erster ›Kultraum der Moderne‹ geschaffen. Aber schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Defizitgefühle und Zweifel an der Wirkungsmacht der Künste (Arts & Crafts) aufgekommen, und die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk hatte das Unbehagen artikuliert. Dies zog sich durch alle weiteren Weisen moderner Künste, ihr Verhältnis zur Welt zu verhandeln. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg kulminierte der Überdruss fortschrittlicher Künstler am geringen Spielraum der sog. ›freien Künste‹ in der bürgerlichen Gesellschaft, und es gab Versuche, sie umzudenken, sich aus dem Korsett bisheriger Vorstellungen zu lösen (Duchamp) oder sie ganz abzuschaffen (DADA). Man hielt aber auch für möglich, mittels der Künste die Gesellschaft zu reformieren (Avantgarden), und es wurde das erste Museum expressis verbis für Moderne Kunst (MoMA 1929) errichtet. Im Übrigen sei angemerkt, dass stets übersehen wird, dass das erste Museum für die Kunst der Gegenwart von Ludwig I. von Bayern begründet und 1853 in München eröffnet wurde: Die Neue Pinakothek als Pendant zu der Alten Pinakothek! Ein Museum der Gegenwart / Moderne muss, will es der Gegenwart und Moderne gerecht werden und nicht der Geschichte anheimfallen, stets in Bewegung bleiben; es ist mit der unlösbaren Aufgabe konfrontiert, den steten Wandel zu historisieren. Deshalb hatte Alfred Barr, der Gründungsdirektor des New Yorker MoMA, dessen Konzept als ›Torpedo‹ durch Raum und Zeit konzipiert. Während das traditionelle Museum künstlerische Entwicklungen in einem ›Gänsemarsch der Stile‹ fiktiv (re)konstruiert, hat das Museum der Moderne eine Vielzahl von Entwicklungen zu erfassen. Der sich bereits im 19. Jahrhundert anbahnende Pluralismus, die ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, hat immer

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mehr zugenommen: Neue Materialien, Themen, Medien, Formen und Funktionen entwickelten sich parallel, mit- und gegeneinander, die sich nicht mehr in eine Geschichte der Kunst zwingen lassen. Das Deutungsmonopol der Akademien war bereits durch die Multiplikation der Ausstellungsorte und kritischen Öffentlichkeiten sowie durch die Sezessionen, Avantgarden und deren publizistische Begleiter in Frage gestellt worden.

Moderne Kunst = Anything goes? In der Moderne lehnten KünstlerInnen bürgerliche Kategorien von Kunst und Kultur immer vehementer ab und versuchten, sich und ihr Tun neu zu erfinden: DADA, Duchamp, Avantgarden, Fluxus, Happening, Body Art, Land Art, Konzept-Kunst, Institutionskritik etc.; in ihren Aktionen verbanden sie Musik, Tanz, Malerei und Plastik. Die bildnerischen Praktiken von heute sind als cross over oder multi / transmedial zu bezeichnen, sie entziehen sich einem taxonomischen Zugriff und lassen sich in keine bekannte ›Schublade‹ mehr stecken. Zugleich versuchten die KünstlerInnen, neue Bilder und Rollen für sich selbst zu finden oder andere Dinge herzustellen als Fetische für eine Sammlung. Die Kunst hielt der Welt den Spiegel vor, wollte zum Nachdenken anregen, zu einer besseren Gesellschaft beitragen; sie war nicht mehr dazu da, schön zu sein oder nur genossen zu werden. Alles kann zu Kunst erklärt werden. Joseph Beuys prägte das Konzept des »erweiterten Kunstbegriffs« und seine berühmte These: »Jeder Mensch ist ein Künstler!« (= verfügt über ein Kreativitätspotenzial) deutet das ›Ausfransen‹ von Unterscheidungen, bzw. den Bedarf nach neuen Vorstellungen und Zugangsweisen an. Obwohl sich KünstlerInnen den Bedingungen und Strukturen des ›Betriebssystems Kunst‹ zu entziehen versuchen, gibt es kein Entkommen; jeder neue künstlerische Impuls wird vom System eingeholt; hier sind aber vor allem der Kunstmarkt, das Sammelwesen und das Museum gemeint. Die Kunstgeschichte hat sich der Herausforderung durch diese Ausdifferenzierung des ästhetischen Feldes, die ihr Instrumentarium in Frage stellt, lange verweigert. Erst allmählich – in Deutschland auf etwas breiterer Basis seit ca. 25 Jahren – hat sich die wissenschaftliche Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart geöffnet. In den 1980er Jahren wurde mit der sog. ›Postmoderne‹ sogar das Ende der Geschichte und der Kunstgeschichte erklärt. Dass hiermit nur das Ende der bisherigen Kunstgeschichte gemeint war, erschloss sich jedoch bald. Zugleich aber florierten Kunstmessen und wurden zahlreiche Museen für moderne Kunst gebaut. Indem sich Museen zunehmend der Gegenwart zuwandten, veränderten sich ihr Charakter und ihre Aufgabe, wurden sie doch immer mehr Teil der

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Gesellschaft des Spektakels11 der neuen event-Kultur, zuweilen auch zum ›Durchlauferhitzer‹ für den Kunstmarkt. Bedeutete dereinst der Einzug ins Museum zugleich jener in die Geschichte und den definitiven Entzug vom Kunstmarkt, so haben die 1990er Jahre des 20. Jahrhunderts neue Praktiken eingeführt, da Werke zuweilen nur vorübergehend – obgleich als sog. Dauerleihgaben – in Museumssammlungen eingegliedert werden, um einige Jahre später wieder auf Auktionen zu erscheinen. Die museale und kunsthistorische ›Bewertung‹ sowie die sorgfältige restauratorische Pflege der Werke im Museum hat jedoch deren Marktwert entsprechend ansteigen lassen.

Gate keeper und Wertschöpfung So paradox der Name ›Museum der Moderne‹ auch ist, in der neoliberalen Markwirtschaft hat er sich als erfolgreich erwiesen. Obwohl sich die ›Moderne‹ ursprünglich in der Ablehnung der Tradition anti-akademisch und anti-museal profiliert hatte, galt ihre Sehnsucht letztlich doch der Aufnahme in den Kanon der Kunstgeschichte: Museum als Endpunkt der Wertschöpfungskette, als Ort der Geschichte, dessen Bestände ihre Kostbarkeit, ihren symbolischen wie pekuniären Wert u. a. daraus bezogen, definitiv dem Kreislauf des Marktes entzogen worden und in die Kunstgeschichte eingegangen zu sein. Da die Aufenthaltsdauer der Sammlungen der Museen der Moderne durchaus zeitlich limitiert sein können, das Museum also wieder ein ›Mus8e de Passage‹ sein kann und die Differenz zwischen symbolischem und pekuniärem Wert zuletzt diffus wurde, haben sich die Kräfteverhältnisse verlagert. Wer bestimmt über die Aufnahme ins Museum und somit in den Kanon der Kunstgeschichte, wer sind die sog. gate keeper? Die ›Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart‹ wird weitgehend anhand von Ausstellungen geschrieben, deren Katalogtexte im Modus der Affirmation geschrieben werden, so dass man nicht von einer wissenschaftlichen Kunstgeschichte sprechen kann. Erfolgreiche Künstler haben eigene ›Bedeutungserzeugungskombinate‹, die das Monopol der Deutung ihrer Werke innehaben und gegen deren mediale Präsenz eine wissenschaftliche Kunstwissenschaft machtlos ist. Zuletzt scheint Bedeutung und Relevanz einer künstlerischen Position auch von Auktionserlösen (teuer = bedeutend), von der Förderung durch einen trendy Kurator oder eine weltweit agierende Galerie abhängig zu sein. Wer vermag gegen einen sog. blue chip-Künstler oder ein Urteil von Herrn Obrist anzuschreiben? Dessen Interviewbände sind das Walhalla bzw. das Pantheon der Gegenwart. Die Interessen der musealen und jene der akademischen Kunstge11 Debord (1967).

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schichte driften schon lange auseinander, und letztere müsste aus ihrer in der Moderne marginalisierten Außenseiterposition wieder herausgeholt werden, ihre eigene Genese als Herrschaftswissen und Norm setzende Position (Exklusion) kritisch prüfen. Sie kann aber auf ihre fundierte Bildkompetenz und Methodenvielfalt und z. B. darauf verweisen, dass die Berücksichtigung konkreter Entstehungsbedingungen, die Kenntnis der Karrierestrategien der Künstler und Akteure im Kunstfeld (Auftraggeber, Förderer, Kurator, Sammler) zu den methodischen und wissenschaftlichen Standards des Faches gehören und in der Moderne durchaus angewandt werden können.

Methodische Zweifel? Theoretisches Wettrüsten? Erneuerung im Elfenbeinturm? Im ausgehenden 20. Jahrhundert expandierten das private Sammlertum, der Kunstmarkt und die mediale Präsenz moderner und zeitgenössischer Kunst, die als Wirtschaftsfaktor erkannt und gefördert wurden. Zugleich nahm das Bewusstsein für die Globalisierung zu, und eurozentrische Vorstellungen (Die Kunstgeschichte als ehemaliges Herrschaftswissen ist hier unmittelbar betroffen!) waren zu revidieren. In den USA wurde der zu stark kontaminierte Begriff ›Kunstgeschichte‹ (art history) ersetzt durch visual studies und material culture. In der Tat sind ›klassische‹ Kunstbegriffe für die Ausgrenzung jeglicher Form nicht-westlicher ästhetischer Praktiken verantwortlich, werden doch ästhetische Artefakte anderer Kulturen entweder ins Kunsthandwerk-, kulturhistorische oder ethnographische bzw. völkerkundliche Museen abgeschoben. Seit den 1980er Jahren verändern gender und visual studies das Selbstverständnis klassischer kunsthistorischer und -wissenschaftlicher Forschung, und es kam zu iconic, linguistic, spatial, performative und material turns sowie zur Etablierung einer sog. ›Bildwissenschaft‹. Zuletzt verschärften das postkoloniale Bewusstsein und die ›Geoästhetik‹, von denen die Rolle eurozentrischer Kategorien in Frage gestellt wird, die Krise europäischer Museen und Kunstgeschichtstraditionen. Die neuesten Entwicklungen der postkolonialen oder sog. ›Welt-Kunstgeschichte‹ reflektieren nicht etwa die technokratische Anpassung an die Imperative des globalen Marktes, sondern erscheinen als kosmetische Anpassung an den Zeitgeist und führen nicht zu wissenschaftsgeschichtlicher Revision der eigenen Genese und Infragestellung der Konsequenzen des sog. ›humanistischen Erbes‹. Sie wirken wie letzte Versuche, die Deutungshoheit über Kunst und Kultur zu behalten, wie ja auch z. B. das Konzept Universal Museum oder ›Weltkunst‹ noch weitgehend von eurozentrischen Kategorien geprägt sind. Vor lauter methodischem Wettrüsten innerhalb der Disziplin und Ignoranz

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gegenüber den Realitäten marktwirtschaftlicher Bedingungen, die zu den basics klassischen kunsthistorischen Vorgehens gehören, wurden Öffentlichkeitswirksamkeit und kritische Bewertung der Kunst zunehmend dem Markt überlassen. Museen und Ausstellungen schreiben Kunstgeschichte, sind aber den Mächten des Marktes (Sammler, Auktionshäuser) und der Bedeutungserzeugungskombinate (Allianzen zwischen blue chip-Künstlern, Kritikern, Galerien, Kuratoren und Sammlern) ausgeliefert. Hier könnte und sollte eine unabhängige Kunstgeschichtsschreibung korrigierend wirken, zumal die Kunstkritik, in der sich inzwischen künstlerische und / oder kuratorische Protagonisten selbst kunstkritisch positionieren, kaum mehr als Hofberichterstattung zu leisten vermag. Wie prekär die Lage der Kritik ist, zeigt die Tatsache, dass es heute schwer umreißbare Kategorien wie ›Kritikalität‹ gibt.

Moderne Kunst und globale Welt Seit Ende des 20. Jahrhunderts wurde man sich dessen gewahr, dass die Globalisierung nicht nur wirtschaftliche und politische, sondern auch kulturelle Folgen hat und die Koordinaten dessen, was man unter Kunst zu verstehen hat, immer unschärfer werden. Man spricht, um den Austausch mit Bildkulturen aus anderen Kontinenten zu ermöglichen, nun eher von ›ästhetischen Praktiken‹ als von ›Kunst‹ (s. Catherine David, documenta X, 1997). Die Zeiten, in denen ›Moderne‹ das vom Westen vorgelebte Modell war, scheinen insbesondere im Bereich der Bildenden Künste zu Ende zu gehen. In der Musik ist die Hybridisierung, das Kombinieren verschiedener Kulturen (Jazz und afrikanische Musik oder Klassik und japanische Musik etc. in den verschiedenen Pop-, Rock-, RaveVarianten) weiter fortgeschritten. Es scheint, als schlösse die westliche, aus Malerei Skulptur und Architektur bestehende Kunst- / Kultur-Vorstellung der Kunstgeschichte andere künstlerische Ausdrucksformen aus und als kennten die Kunst- / Kultur-Vorstellungen moderner und zeitgenössischer KünstlerInnen, nach denen alles Kunst werden kann, in anderen Kulturen bisher keine Entsprechungen. Wenn nun auch auf anderen Kontinenten ›Kunst‹ im westlichen Sinne entsteht: Wie gehen wir damit um? Bis heute ist es nicht gelungen, einen positiven Begriff für ›nicht-westliche‹ Kunstformen zu entwickeln. Noch wirken Alberti, Vasari, Baumgarten, Winkelmann, Kant, Hegel etc. nach. Bedeutungszuweisungen werden jedoch nicht mehr in Universitäten oder akademischen Museen, sondern auf dem Kunstmarkt und in der Kulturpolitik (z. B. das sog. ›Humboldtforum‹) verhandelt. Während sich die Kultur- und Ethnologischen Museen in ihrem Selbstverständnis der postkolonialen Bewusstseinswende nicht entziehen können, steht die Revision europäischer Kunst- / Kunsthandwerk- / Kultur-Vorstellungen und

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-Kategorien noch aus. Warum ist die Vorstellung von europäischer Kultur so ausschließlich aufs griechische und römische Mittelmeer fixiert und das keltische, germanische, byzantinische, iberische, nordafrikanische Erbe z. B. so marginalisiert? In Zeiten der Ablösung der Gutenberg-Galaxis und des Anthropozän sollten auch die Kunst- und Kulturvorstellungen, welche die Wissenschaften bestimmen und weitgehend aus kolonialer imperialer Vergangenheit stammen (Neuzeit und Moderne, 15. / 16. Jhdt. und 19. Jhdt.), neue, zeitgemäße Denkmodelle entwickeln. Fragen nach den Akteuren im Feld der Kunst, nach den Modalitäten der Wertschöpfung sowie nach Aufgabe und Verantwortung von Kunstkritik, Museum, Kunstgeschichte etc. müssen neu gestellt werden.

Moderne / zeitgenössische Kunst: Was nun? Während es in der Gutenberg-Galaxis durchschnittlich eine bis zwei Generationen dauerte, bis Erkenntnisse allgemeine Anerkennung fanden, haben sich Verbreitung und Anerkennung in der heutigen weltweiten Jetztzeit und der Überfülle an Informationen enorm beschleunigt. Aber wer bestimmt nach welchen Kriterien? Medien? Markt? Ist ein Künstler bedeutend, weil er teuer ist, in allen Medien präsent? Seit ca. 25 Jahren gibt es immer mehr ›Museen der Moderne‹, die Kunst der Gegenwart zeigen. Museum und Moderne schließen eigentlich, obgleich zur selben Zeit ›geboren‹, einander aus: Ins Museum kam Kunst, die sich bewährt hatte, deren Bedeutung etwas über Zeitgeist oder Tagestrend hinaus zu vermitteln vermochte, und darüber bestimmte lange Zeit die Kunstgeschichte, natürlich stets post festum. Heute muss man gegen die Macht der Sammler, Galeristen, Künstler nebst ihren Bedeutungserzeugungskombinaten, Auktionshäuser und Investoren versuchen, das ästhetische Geschehen zu dokumentieren und immer wieder zu evaluieren. Kunst ist Vereinbarung, und jede Gesellschaft schafft sich die ästhetischen Kompensationen, derer sie bedarf; diese gilt es zu erkennen, zu beschreiben und zu interpretieren, und zwar frei von den Kräften des Zeitgeistes und des Kunstmarktes.

»Jeder Mensch ist ein Künstler!« Wirklich? Vor einigen Jahren ergab eine Umfrage des ›Spiegel‹: 50 % der deutschen Jugendlichen wollen Künstler werden und stellen sich darunter vor allem vor, sich selbst zu verwirklichen. Offensichtlich leben wir in einem gesellschaftlichen System, das dies vor lauter Leistungsdruck und Konsumzwang nicht zu er-

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möglichen scheint. ›Kunst‹ scheint der Ort / das Medium zu sein, in dem man realisieren kann, was das ›normale Leben‹ nicht bietet. In der Tat verhandeln Künstler die Welt anders. Dieses Andere jeweils zu erkennen und zu bestimmen, Freiräume des Sehens, Schauens, Wahrnehmens und Verstehens zu bewahren, ist eine Aufgabe der Kunstgeschichte, jenseits der Wirkmächte des ›Betriebssystems Kunst‹. Anstatt die Museen als »Lagerplätze für Kriegsbeutestücke, prunkvolle Gästehäuser für Trophäen wissenschaftlich getarnter Plünderungen, Archive, Schatzhäuser, Stapelplätze für Objekte der bürgerlichen Wertschätzung«12 zu verwalten, könnten sie als Orte inter- und transkultureller Begegnungen, Verständigungen und Erkenntnisse quer durch die Zeiten und Kulturen aufgefasst werden.

›Kunst‹, was ist das? »Kunst kann die Welt nicht verändern, aber sie kann uns Möglichkeiten geben, die Welt neu zu denken.« (Okwui Enwezor) ›Kunst‹ ist nicht nur Luxusprodukt, nicht nur das, was Museen als solche zeigen, sondern kulturelle Vereinbarung, eine Produktionsform, die bestimmte Kommunikations- und Erfahrungsmodalitäten erzeugt, die auf anschauliche, sinnliche Weise die Welt jenseits alltäglicher Verständigungsformen verhandelt : Sie bedarf der Freiräume, des Schutzes und der Vermittlung auf breiter Basis, und darin liegt die Aufgabe der Kunstgeschichte. Statt wie bisher ›Kunst‹ als Herrschaftswissen unreflektiert top down zu dekretieren, sind Andersartigkeit, Genese und Wandel dieser Form menschlicher Daseinsbewältigung zu vermitteln. Sie kann auch als Medium der Emanzipation dienen, da die Vereinbarungen auch bottom up oder auf breiterer Basis ausgehandelt werden könnten.

›Kunst‹-Geschichte = Vermittlung? Kunst erinnert uns daran, dass der Mensch mehr ist als Steuerzahler oder williger Konsument, dass es andere Weisen gibt, der Welt und den Menschen zu begegnen, als jene der vermeintlich alternativlosen Logik von Ökonomie und vermeintliche Effizienz. Es gibt noch andere Kräfte als jene des Marktes, andere Dimensionen von Wahrnehmung, der Sensibilität des Menschseins. Deshalb könnte und sollte Kunstgeschichte eine Form von zeitgenössisch-kritischem Humanismus sein. Indem sie ihre eigene Geschichte als Herrschaftswissen reflektiert und in Frage stellt, kann Kunstgeschichte neues Vermittlungswissen, 12 Sloterdijk (1989).

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neue Vermittlungsweisen entwickeln. Sie übersetzt Anschauliches ins Begriffliche, ist Interpretation, Übersetzung, Vermittlung. Sie hat die verschiedenen ›Vereinbarungen‹ und die Modalitäten des ›Aushandelns‹ transparent zu machen, die Institutionen der Vermittlungen jenseits des Diktats des Ökonomischen zu stärken sowie im Dialog mit ProduzentInnen und RezipientInnen Denk- und Wahrnehmungsmodelle zu vermitteln; darin liegt ihre gesellschaftliche Relevanz.

Bibliographie Baumgarten, Alexander Gottlieb (1750–58), Aesthetica, Bd. 1–2, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter & Co. Bernhard, Thomas (1985), Alte Meister, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1982), Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1. Ausgabe: Paris, 1979). Burckhardt, Jacob (1860), Die Kultur der Renaissance in Italien, Basel: Schweighauser. Debord, Guy (1967), La Soci8t8 du spectacle, Paris: Buchet/Chastel (dt. Ausgabe: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat, 1996). Grasskamp, Walter (2016), Das Kunstmuseum. Eine erfolgreiche Fehlkonstruktion, München: C.H. Beck Verlag. Sloterdijk, Peter (2007), »Museum – Schule des Befremdens«, in: Derselbe, Der ästhetische Imperativ, Schriften zur Kunst, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts. Quatremère de Quincy, Antoine (2017), Lettres / Miranda : sur le d8placement des monuments de l’art de l’Italie, Paris: Macula. Warburg, Aby (2018), Werke, hrsg. von Perdita Ladwig, Martin Treml, Sigrid Weigel, Berlin: Suhrkamp.

2. Literaturwissenschaft in der Praxis – Methoden und Beispiele

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Grenzgebiete: Repräsentationen von politischer Gewalt und politischer Furcht in der Geschichte, Kultur und Literatur der Englischen Renaissance1

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Prolog A spectre is haunting humanity : the spectre of fear. Death stares unblinkingly at us. Danger dallies in everyday environs. Sometimes a scary person or menacing object can be identified: the flames searing patterns on the ceiling, the hydrogen bomb, the terrorist. More often, anxiety overwhelms us from some source ›within‹: there is an irrational panic about venturing outside, a dread of failure, a premonition of doom. There often seems no limit to the threats.2

Mit diesen eindringlichen Sätzen, die Grundzüge zeitgenössischer Mentalität skizzieren, leitet Joanna Bourke das Einführungskapitel ihrer Kulturgeschichte der Furcht ein. Nach einer fast 400-seitigen tour de force durch die politische und die Mentalitätsgeschichte primär des 19. und 20. Jahrhunderts betont sie gegen Ende ihrer weit ausgreifenden Analysen, quasi als letzte tröstliche Würdigung, auch die zivilisatorischen und Kräfte freisetzenden Funktionen der Furcht: […] fear is a great and glorious stimulant that works in direct opposition to attempts to rigidly control our environment. We are right to fear. A world without fear would be a dull world indeed. It is sobering to contemplate a world where parents did not fear for their children or where death was as insignificant as eating a meal. […] Aworld without fear would be a world without love. Fear has been one of the most significant driving forces in history, encouraging individuals to reflect more deeply and prompting them to action. Indeed, much of the human urge to creativity depends upon fear […].3

Auch wenn es mitunter schwer fällt, diese durchaus positive, kreative Entwicklungen stimulierende Natur der Furcht zu sehen, so bleibt unbestritten, dass die Furcht einer der entscheidenden Faktoren historischer Entwicklung war und ist, wobei die prinzipielle Janusköpfigkeit der Furcht wie auch die Rolle von Emotionen in der Geschichte allgemein erst in den letzten Jahrzehnten verstärkt in 1 Der Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des englischen Essays Baumann (2012). 2 Bourke (2005), S. 1. 3 Bourke (2005), S. 390–391.

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das Blickfeld der Historiographie genommen wurden.4 Gemeinsam haben diese Studien, einerlei, ob sie die Ängste vor dem Ersten Weltkrieg, die Erfolge der Abschreckungspolitik im Kalten Krieg, die britischen Ängste vor einem wiedervereinigten Deutschland, die amerikanische Politik der Angst nach dem 11. September 2001 oder die spezifisch amerikanischen Ängste insgesamt analysieren und bilanzieren, dass sie sich nahezu ausnahmslos auf die letzten rund 100 Jahre beschränken.5 Im Folgenden möchte ich nach einigen grundsätzlichen Vorbemerkungen exemplarisch politische Epigramme, politische Dramen und kulturelle Repräsentationen (insbesondere politische Prozesse) der englischen Renaissance analysieren, die den Blick auf die unterschiedlichen Funktionen der Furcht für die Regierung, die Regierenden und die Regierten konzentrieren.6 Ungeachtet der notwendigerweise hochselektiven exemplarischen Analysen sind einige grundsätzliche Vorbemerkungen unverzichtbar : 1. Ohne sich in die diffizilen Probleme anthropologischer Kontinuitäten und Diskontinuitäten verstricken zu müssen, gilt es festzuhalten, dass die Furcht im Mythos, der Geschichte, der Politik und Literatur der Antike allgegenwärtig war,7 und genau diese antiken Motive, Stoffe und Konzepte generieren die argumentativen und mentalitätsgeschichtlichen Kontexte – wie in der Renaissance nicht unüblich – auch für die Repräsentationen politischer Furcht in der Kultur und Literatur der (nicht nur) englischen Renaissance. 2. Ohne eine Vielzahl von möglichen Beispielen der Repräsentationen politischer Ängste und Furcht aus der Geschichte, Kultur, und Literatur der Antike zu explizieren,8 ähnliche für die mittelalterliche Historiographie vorzulegen oder 4 Vgl. z. B. Aschmann (2005), Bergsdorf (2000), Bormann / Freiberger / Michel (2010), Furedi (2005), bes. S. 123ff.; Glassner (1999), Hebblethwaite / McCarthy (2007), Horn / Rittberger (1987), Ritter (1986), Schildt (2004), Senghaas (1987), Schwarz (1967), Stearns (2006a und 2006b), Svendsen (2007), bes. S. 102ff. 5 Für einige bemerkenswerte Ausnahmen vgl. die folgenden Fußnoten. Vgl. ebenfalls zu den primär rhetorisch-theoretischen Diskursen über Emotionen in der englischen Renaissance die Analysen von Müller (2004). 6 Der Beitrag lotet am konkreten Beispiel (Gewalt und Furcht) die gemeinsamen Grenzgebiete, das notwendige Zusammenspiel von Kultur- und Literaturwissenschaft, politischer Theorie und politischer Geschichte, Rezeptions- und Mentalitätsgeschichte aus und plädiert damit implizit für eine prinzipiell inter- und transdisziplinär konzeptualisierte Renaissanceforschung. Es ist kein Zufall, dass der Beitrag damit im Grunde ein ›Grenzgebiet‹ fokussiert, das sich im Zusammenspiel der Aspekte verortet, die Fernie / Wray / Burnett / McManus (2005) als die Kernbereiche eines angemessenen Renaissance-Verständnisses (S. 1ff.) herausstellen: »Textuality« (S. 13ff.), »Histories« (S. 85ff.), »Appropriation« (S. 145ff.), »Identities« (S. 211ff.), »Materiality« (S. 278ff.) und »Values« (S. 353ff.). 7 Vgl. Schwarz (1967), bes. S. 140ff. 8 Vgl. u. a. Baumann (2012), bes. S. 29–38, Baumann (2016), bes. S. 10–19, Bellen (1985), Calabrese (2008), Heinz (1975) und Kneppe (1994, 2000). Vgl. zuletzt Rohr / Bieber / ZeppezauerWachauer (2018).

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gar die Geschichte ganzer auf Furcht und Abschreckung setzender Institutionen (z. B. die Heilige Inquisition) in die folgenden Überlegungen einzubeziehen, wird man festhalten können: Die größtenteils bereits in der klassischen Antike vorgeprägten Beschreibungstopoi und Repräsentationen politischer Furcht waren – nicht zuletzt als Konsequenz der Rezeption der klassischen Rhetorik – der europäischen Renaissance geläufig. Insbesondere in der völkerrechtlich schwierigen Begründung von Präventivkriegen spielten etwa funktionalisierte Furchtszenarien eine zentrale Rolle,9 wobei die imaginierte Furcht vor einer Universalmonarchie bereits genügen konnte.10 Einer der klassischen, wenngleich insgesamt umstrittenen Texte der politischen Theoriediskussion der Renaissance, Niccolk Machiavellis Il Principe / Der Fürst, analysiert in Kapitel XVII, das wie ein Kommentar zu Caligulas notorischem »Oderint, dum metuant« (Suet. Cal. 30,1) beginnt und implizit auch auf die definitorischen Distinktionen und Konzeptualisierung der menschlichen Natur des Aristoteles zurückgreift, en d8tail die politische Rolle der Furcht:11 Daran schließt sich eine Streitfrage: ist es besser, geliebt als gefürchtet zu werden oder umgekehrt? Die Antwort lautet, daß man sowohl das eine als das andere sein sollte. Da es aber schwer ist, beides zu vereinigen, ist es viel sicherer, gefürchtet als geliebt zu sein, wenn man schon auf eines von beiden verzichten muß. Denn von den Menschen kann man im allgemeinen sagen, daß sie undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig sind. Solange du ihnen Vorteile verschaffst, sind sie dir ergeben und bieten dir Blut, Habe, Leben und Söhne an, aber nur, wie ich schon oben sagte, wenn die Not ferne ist. Rückt sie aber näher, so empören sie sich. Ein Herrscher, der ganz auf ihre Versprechungen baut und sonst keine Vorkehrungen trifft, ist verloren; denn Freundschaften, die man nur mit Geld und nicht durch Großherzigkeit und edle Gesinnung gewinnt, erwirbt man zwar, doch man besitzt sie nicht und kann in Notzeiten nicht auf sie rechnen. Auch haben die Menschen weniger Scheu, gegen einen beliebten Herrscher vorzugehen als gegen einen gefürchteten; denn Liebe wird nur durch das Band der Dankbarkeit erhalten, das die Menschen infolge ihrer Schlechtigkeit bei jeder Gelegenheit aus Eigennutz zerreißen. Furcht dagegen beruht auf der Angst vor Strafe, die den Menschen nie verläßt. Trotzdem soll ein Herrscher nur insoweit gefürchtet sein, daß er, falls er schon keine Liebe erwirbt, doch nicht verhaßt ist; denn es kann sehr wohl vorkommen, daß man gefürchtet und doch nicht verhaßt ist. Einem Herrscher wird dies stets gelingen, wenn er sich nicht an der Habe und den Frauen seiner Mitbürger und Untertanen vergreift. Und wird er auch in die Notwendigkeit versetzt, jemandem das Leben zu nehmen, so mag er es tun, wenn er eine hinreichende Rechtfertigung und einen ersichtlichen Grund hierfür hat. […] Da es vom Belieben der Menschen abhängt, ob sie Zuneigung emp9 Vgl. Oschmann (2000) und Leinsle (2000). 10 Vgl. insbesondere Bosbach (2000). 11 Machiavelli (1972), Der Fürst, Kap. XVII: »Über Grausamkeit und Milde; und ob es besser ist, geliebt oder gefürchtet zu werden oder umgekehrt«, S. 68–71. Vgl. auch Hoeges (2000), bes. S. 171ff.; Münkler (1984), bes. S. 241ff.

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finden, und vom Willen des Herrschers, ob sie Furcht empfinden, darf ein kluger Herrscher sich nur auf das verlassen, worüber er zu bestimmen hat, und nicht auf das, worüber andere bestimmen. Nur soll er bemüht sein, dem Haß zu entgehen, wie ich bereits erwähnte.

Die Distinktionen und Abwägungen der Vor- und Nachteile der Furcht als stabilisierendes Instrument von Herrschaft gründen selbstverständlich in Machiavellis zynisch-pessimistischer Konzeption des Menschen, sind in ihrer mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung für die politische Funktionalisierung von Furcht und Furchtszenarien in der (Englischen) Renaissance jedoch kaum zu überschätzen.

II.

Repräsentationen von Gewalt und politischer Furcht in der Declamatio […] Lvcianicae Respondens, den Epigrammata des Thomas Morus und der Politik König Heinrichs VIII.

II.1.

Declamatio […] Lvcianicae Respondens (1506)

Im November 1506 erschien bei Badius Ascensius in Paris ein Buch, das Thomas Morus (1477/8–1535) sofort als brillanten Übersetzer und ausgezeichneten Kenner der klassischen Rhetorik in der res publica litterarum der europäischen Humanisten bekannt machte: Luciani viri quam disertissimi compluria opuscula longe festiuissima ab Erasmo Roterodamo & Thoma Moro interpretibus optimis in latinorum linguam traducta. Diese editio princeps der von Erasmus und Morus übersetzen Dialoge Lukians enthält insgesamt 28 Übertragungen des Erasmus, vier von Morus, sowie je eine eigene declamatio der Freunde.12 Morus hatte die Dialoge Cynicus, Menippus seu Necromantia, Philopseudes und die Tyrannicida ausgewählt und diese Auswahl in einem Widmungsbrief an Thomas Ruthall, den Sekretär Heinrichs VII., detailliert erläutert. Die Übersetzungen sind – wie auch die des Erasmus – präzise, textnahe Wiedergaben der griechischen Vorlagen und heben sich damit deutlich von einigen der früheren Lukianübersetzungen ab.13 Für unsere Zwecke relevant ist Lukians Tyrannicida, eine declamatio, also eine der primär in den antiken Rhetorenschulen griechischer Provenienz gebräuchlichen Übungsreden. Sie ist eine fiktive Zivilprozessrede der überaus reichen Überlieferung, in der die mit Tyrannengesetzen verknüpften juristischen Probleme Schülern zu Übungszwecken vorgelegt

12 Vgl. Thompson (1974), bes. S. xxviii. Vgl. ebenfalls Baumann (1986). 13 Vgl. die Details bei Baumann (1995b), bes. S. 109–116. Vgl. insgesamt auch Chuillean#in (2007), Pawlowski (2010) und Rummel (1985).

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wurden.14 Ungeachtet der bereits in der Antike gegen eine solche wirklichkeitsferne Art der Erziehung vorgebrachten Einwände,15 die Morus sicherlich geläufig waren, wählte er die Tyrannicida für die Übersetzung aus und verfasste darüber hinaus im freundschaftlichen Wettstreit mit Erasmus eine Antwort auf Lukians declamatio.16 Die Ausgangslage für Lukians Tyrannicida verdeutlicht, wie komplex und kompliziert eine juristische Beurteilung ist: In einem Stadtstaat, der von einem Tyrannen unterdrückt wird, gibt es ein Gesetz, das einem Tyrannenmörder eine hohe Belohnung zuerkennt. Einem Bürger gelingt es, nach heftigen Kämpfen mit einigen Wachen, in die Burg des Tyrannen einzudringen; er hat die Absicht, diesen zu beseitigen. Den Tyrannen trifft er nicht an, sondern nur dessen Sohn, den er erschlägt. Sein Schwert lässt er im Leichnam des Getöteten stecken (oder wirft es neben den Leichnam).17 Beim Anblick des erschlagenen Sohnes wird der Vater von Trauer und Schmerz überwältigt und tötet sich selbst mit demselben Schwert, das schon dem Sohn den Tod brachte. Der Bürger, der den Sohn des Tyrannen gerichtet hatte, beantragt die Belohnung für den Tyrannenmord. Auf die detaillierte Argumentation dieser Rede, die declamatio Lukians, antwortet Morus mit einer ganz nach den Regeln der antiken Rhetorik konzipierten18 Antwortrede. Im exordium seiner Rede, nach einer knappen Skizzierung des zu verhandelnden Sachverhalts (CW 3, I, S. 96/4ff.), betont er, dass er beweisen möchte (CW 3, I, S. 100/1–4), dass nur Fortuna und die Gnade der Götter für die Ereignisse (insbesondere den Tod des Tyrannen) verantwortlich waren. In confirmatio und refutatio seiner Rede widerlegt Morus jeden einzelnen Grund für den Anspruch auf die Belohnung, die der Antragsteller vorgebracht hatte: 1. weil er den Sohn tötete, 2. weil er den Versuch machte, den Vater zu töten und 3. weil der Vater mit dem vom Antragsteller zurückgelassenen Schwert Selbstmord verübte.19 Im Zuge seiner Widerlegung der Argumente des Antragstellers entwirft Morus ein Bild des Tyrannen, das viele Topoi der antiken Tyrannentopik rezipiert (z. B. Verbrechen des Tyrannen: Raub, Mord, Vergewaltigung; Tyrann als wildes Tier ; Fehlen von Gesetzen in einer Tyrannis)20 und er bedient sich der gleichen rhetorischen Strategie, die etwa Sallusts Cato (Cat. 51f.) so eindrucksvoll im römischen Senat eingesetzt hatte: der beklem14 15 16 17

Vgl. Bonner (1949), bes. S. 84–132. Vgl. u. a. Petr. Sat. 1; Tac. Dial. 35,5; Juv. Sat. 7, 150f. Vgl. Baumann (1986), S. 44. Vgl. zu diesen durchaus wichtigen Unterschieden Thompson (1974), CW 3, I, S. 118/15–120/ 6 & S. 122/32–124/1. 18 Vgl. Thompson (1974), CW 3, I, S. 153ff. Vgl. auch Rayment (1959) und Baumann (1985). Vgl. insgesamt auch Ransom (2013). 19 Vgl. Baumann (1986), bes. S. 46–49. 20 Vgl. die Analyse, die Diskussion der Quellen und der Forschungsliteratur bei Baumann (1985); vgl. zuletzt Corral (2012) und Baumann (2016), bes. S. 10–19.

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mend realistischen Inszenierung von Furchtszenarien.21 Insbesondere die Überlegung, was hätte geschehen können, wenn der Tyrann sich beim Anblick des getöteten Sohnes nicht selbst den Tod gegeben hätte, wird bei Morus wiederholt zum Ausgangspunkt, den Richtern drastisch vor Augen zu führen, welche Gefahren und welches Leid über die Stadt gekommen wären, hätte sich der Tyrann seiner Tyrannennatur gemäß verhalten (CW 3, I, S. 120/21–29): Quod si Tyrannus id uoluisset, quod tute haud dubie fecisses, & quod illum quoque facturum longe uerisimilius quam quod fecit fuit: conclamasset satellites, coegisset sicarios, armasset carnifices, ac prolato filij cadauere, & natura crudelis, & tam atroci spectaculo irritatus, iram ac furorem illum effudisset, primum in te, per quem filius occisus, deinde in urbem uniuersam, propter quam occisus est, quae si contigissent (ut tua dementia propemodum contigerant) neque tu miser hodie uiueres, qui hoc praemium peteres, neque nos Rempublicam ullam a qua peti posset haberemus. [Was, wenn der Tyrann entschlossen gewesen wäre, so zu reagieren, wie Du selbst es zweifellos getan hättest und wie es auch wahrscheinlicher gewesen wäre, als so zu reagieren wie er tatsächlich reagiert hat: seine Wache zusammenzurufen, seine Schergen zu versammeln und seine Schlächter zu bewaffnen; und wenn dann der Leichnam seines Sohnes hereingetragen worden wäre, hätte ihn seine grausame Natur und seine Wut angesichts des schrecklichen Anblicks angestachelt, seinen gesamten Zorn und seine Wut zunächst gegen Dich zu lenken, durch den der Sohn getötet wurde, und dann gegen die ganze Stadt, für die er getötet worden war. Wenn dies so geschehen wäre (wie es – dank Deiner großen Dummheit – beinahe geschehen wäre), würdest Du armseliger Wurm heute nicht mehr leben und könntest die Belohnung nicht mehr beantragen, ebenso wenig hätten wir ein Gemeinwesen, bei dem sie beantragt werden könnte. [Übersetzung UB]]

Ein Bürger, der die ganze Stadt einer solch fürchterlichen Gefahr ausgesetzt hat, kann keine Belohnung für seine Tat beanspruchen, für eine Tat, deren brutal drastisch imaginierte Folgen nur dank der Gnade der unsterblichen Götter nicht eingetreten waren; die Stadt und jeder einzelne Bürger war dem politischen Chaos, der blutigen Vernichtung gerade noch entgangen (CW 3, I, S. 104/4–18): Patrem ergo fingamus (ut dixi) uiuentem, ac filio quidem unico orbatum, sed satellitum tamen caterua cinctum, caedem filij lachrymantem: sed interfectori minantem, atque omnia suppliciorum genera destinantem, in forum uultu tristi quidem, sed tamen truci procurrere, & prolato quem tu reliquisti gladio, ingentia polliceri praemia, si quis eius ensis dominum prodiderit: hic tu foro iam ab illo, atque eius satellitibus occupato, & in caput tuum quaestione iam haberi coepta, in publicum fortis Tyrannicida procurre, & in medios globos irruens Tyrannum te occidisse proclamita, libertatem omnibus denuncia, ac Tyrannicidij praemium postula. Quid fugis? Quid latebras quaeris? Quid Tyrannicida metuis? An non libera est respublica? An non Tyrannus occisus est? Neque 21 Vgl. u. a.: Thompson (1974), CW 3, I, S. 104/4–18; S. 110/18–23; S. 118/4–11; S. 120/21–29; S. 122/12–32; S. 124/15–31.

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ergo is quem peremisti Tyrannus erat. Sed quidam potius Tyranni satelles, neque eius morte ciuitas libertati restituta est, quod solum pauloante dicebas huius legis spectasse latorem. [Lasst uns daher, wie schon gesagt, annehmen, dass der Vater noch lebt, seines Sohnes beraubt, aber dennoch umgeben von seiner Palastwache, wie er den Mord an seinem Sohn beweint und zugleich den Mörder verflucht und mit allen Arten von Strafe droht. Lasst ihn uns vorstellen, wie er mit trauervollem aber grimmigem Antlitz auf den Marktplatz (Forum) läuft, dort das Schwert zeigt, das Du zurückgelassen hast, und große Belohnungen demjenigen verspricht, der den Besitzer des Schwertes nennen kann. In dieser Situation, der Marktplatz in seiner und seiner Schergen Hand, die Nachforschungen zeigen bereits in Deine Richtung, dann spring vor, tapferer Tyrannenmörder, eile in die Mitte der Menge und verkünde, dass Du den Tyrannen getötet hast, verkünde allen die Freiheit und verlange die Belohnung für einen Tyrannenmord. Warum fliehst Du? Warum suchst Du nach einem Versteck? Wovor fürchtest Du, der Tyrannenmörder, dich? Ist nicht das Gemeinwesen frei? Ist der Tyrann nicht getötet worden? – Dann war weder der, den Du erschlagen hast, der Tyrann, sondern ein mächtiger Helfer des Tyrannen, noch wurde in der Stadt durch seinen Tod die Freiheit wiederhergestellt, was, wie Du selbst vor kurzem gesagt hast, das einzige Ziel war, das der Schöpfer dieses Gesetzes im Blick hatte. [Übersetzung UB]]

II.2.

Epigrammata (1518)

Die gleichen Topoi der antiken Tyrannentopik wie in der Declamatio […] Lvcianicae Respondens rezipiert und variiert Thomas Morus in gut 20 seiner lateinischen Epigramme (1518),22 die zusammen mit der History of King Richard III und der declamatio eine Aussage des Erasmus von Rotterdam über die Motivation zur Wahl dieser Themen durch den Freund eindrucksvoll bestätigen: Morus habe immer eine große Abscheu vor der Tyrannei gehabt.23 Zwei dieser Epigramme sind, neben weiteren Epigrammen, in denen im Grunde klassische Spruchweisheiten über die lähmende Sinnlosigkeit der Furcht variiert werden (z. B. CW 3, II, Nr. 50 und Nr. 69), von besonderem Interesse, weil sie in klugen Distinktionen, sprachlich knapp und pointiert, die logisch-rhetorischen Zusammenklänge von politischer Furcht, Herrschaft und Herrscherideal offenlegen (CW 3, II, Nr. 120):

22 Vgl. Miller / Bradner / Lynch / Oliver (1984), CW 3, II; vgl. Baumann (1984), bes. S. 54–57. Im Folgenden alle deutschen Übersetzungen der Epigramme nach Morus (1983). 23 Vgl. Allen / Allen / Garrod (1906–1958), Bd. IV, Nr. 999, Z. 87–99 (Erasmus an Ulrich von Hutten). Vgl. auch Fenlon (1981) und Baumann (1985), bes. S. 113ff. Vgl. insgesamt auch Bore (2013), Genet (2013), Guy (2012), Hatt (2012), Ph8lippeau (2012) und Wegemer (2012).

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Regem Non Satellitivm Sed Virtvs Reddit Tvtvm Non timor inuisus, non alta palatia regem, Non compilata plebe tuentur opes, Non rigidus uili mercabilis aere satelles Qui sic alterius fiet ut huius erat. Tutus erit, populum qui sic regit, utiliorem Vt populus nullum censeat esse sibi. [Den König schützt keine Leibgarde, sondern seine Tugenden Weder Haß noch Furcht, noch hohe Palastmauern und auch keine zusammengerafften Reichtümer schützen den König vor dem Volk. Die unbeugsame Leibwache, für geringes Geld käuflich, die eines anderen Eigentum ebenso wird, wie sie sein Eigentum war [schützt ihn ebenfalls nicht]. Nur derjenige wird sicher sein, der sein Volk so regiert, daß das Volk glaubt, keinen Nützlicheren für seine Belange zu haben.]

Könnte man dieses durchaus konventionelle Epigramm als eine humanistische Antwort auf die gleichzeitig u. a. von Niccolk Machiavelli in Kapitel XVII des Il Principe / Der Fürst diskutierte Frage, was dem Herrscher und der Herrschaft Sicherheit verspricht, verstehen, so expliziert Epigramm Nr. 238 die prinzipiell gefährdete, einer Vielzahl von Ängsten und Befürchtungen unterworfene Natur der Herrschaft und damit im Grunde jeden Herrschers (CW 3, II, Nr. 238): De Sollicita Potentvm Vita. Semper habet miseras immensa potentia curas, Anxia perpetuis sollicitudinibus. Non prodit, multis nisi circumseptus ab armis, Non nisi gustato uescitur ante cibo. Tutamenta quidem sunt haec, tamen haec male tutum Illum, aliter tutus qui nequit esse, docent. Nempe satellitium, metuendos admonet enses, Toxica praegustans esse timenda docet. Ergo timore locus quisnam uacat hic? ubi gignunt Haec eadem, pellunt quae metuenda, metum. [Über das sorgenvolle Leben der Mächtigen Immer bringt riesige Macht elende Sorgen. Ängstlich durch beständige Sorgen wagt sie sich nur hervor, wenn sie von vielen Waffen umgeben ist; sie ernährt sich nur von Speisen, die vorgekostet wurden. Dies sind eben Vorsichtsmaßnahmen; gleichwohl zeigen sie, daß derjenige nicht sicher ist, der anders nicht sicher sein kann. Eine Leibgarde zeigt nämlich, daß Schwerter gefürchtet werden, ein Vorkoster, daß Gift

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gefürchtet wird. Welcher Ort ist denn nun frei von Furcht in einem solchen Leben, wo dieselben, die das zu fürchtende Übel vertreiben, selbst Angst verursachen?]

Kann man dieses Epigramm des Thomas Morus noch in erster Linie als allgemeine, moralphilosophische oder politiktheoretische, abstrakte Analyse verstehen, so fokussieren zwei weitere Epigramme Konzepte von Furcht in sehr viel konkreterer historischer Perspektive. Diese beiden Epigramme gehören zu den fünf Epigrammen, die Thomas Morus Heinrich VIII. unmittelbar nach seiner Krönung (1509) in einem – vielleicht ein wenig ungelenk illustrierten – Manuskript überreichte (CW 3, II, Nr. 19–23), typische Beispiele von Glückwunschgedichten, die im panegyrischen Lob für den jungen Herrscher zugleich als Empfehlungsschreiben für den Verfasser selbst verstanden werden wollten.24 So ist denn auch das überschwängliche Lob für Heinrich durchaus konventionell, wenngleich mit einer Vielzahl schmeichelnder Vergleiche mit den Helden der Antike ausgeschmückt,25 was implizit einmal mehr die herausragende und umfassende humanistische Bildung des Verfassers betont. Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen26 und auch in bewusster Abkehr von den rhetorischen Traditionen eines Panegyricus, wo die explizite Kritik am Vorgänger nicht zum decorum gehörte, rühmt Morus Heinrich VIII. dafür, sofort die allgemeine Furcht aus England verbannt zu haben, eine Furcht, die das gesamte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben gelähmt habe (CW 3, II, Nr. 19/ 26–45): Nobilitas, uulgi iamdudum obnoxia faeci, Nobilitas, nimium nomen inane diu, Nunc caput attollit, nunc tali rege triumphat, Et merito causas unde triumphet, habet. Mercator uarijs deterritus ante tributis, Nunc maris insuetas puppe resulcat aquas. Leges inualidae prius, imo nocere coactae, Nunc uires gaudent obtinuisse suas. Congaudent omnes pariter pariterque rependunt Omnes uenturo damna priora bona. Iam quas abdiderat caecis timor ante latebris, Promere quisque suas gaudet et audet opes. Iam iuuat O, potuit tot furum si qua tot uncas 24 Vgl. Lüsse (1992). 25 Vgl. die Quellen und Einzelheiten bei Baumann (1984), bes. S. 50ff. und im Kommentar bei Miller / Bradner / Lynch / Oliver (1984), bes. S. 326ff. Auf die bisher noch nicht hinreichend gewürdigten, aber strukturell höchst bedeutsamen Parallelen zum Panegyricus des jüngeren Plinius wird der Verfasser zurückkommen. 26 Vgl. etwa Skelton (1983), »A Lawde and Prayse Made for Our Sovereigne Lord the Kyng« und Hawes (1974), »A Ioyfull meditacyon to all Englonde of the coronacyon of our moost naturall souerayne lorde kynge Henry the eyght«; vgl. ebenfalls Lüsse (1992), bes. S. 50ff.

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Tam circumspectas fallere praeda manus. Non iam diuitias ullum est (magnum esse solebat) Quaesitas nullo crimen habere dolo. Non metus occultos insibilat aure susurros, Nemo quod taceat, quodue susurret, habet. Iam delatores uolupe est contemnere, nemo Deferri, nisi qui detulit ante, timet. [Der Adel, schon lange abhängig von der Hefe des Volkes, der Adel, dessen großer Name lange hohl klang, erhebt nun sein Haupt, triumphiert nun angesichts eines solchen Königs und hat mit Fug und Recht Gründe zu triumphieren. Der Händler, von vielen Steuern zuvor gehindert, durchpflügt nun wieder ungewohnte Wasser des Meeres mit seinem Schiff. Vorher ungültige Gesetze, ja sogar Gesetze, die erzwungenermaßen schadeten, freuen sich nun, ihre Bedeutung wiedererlangt zu haben. Alle freuen sich in gleicher Weise, alle wägen das frühere Schlechte gegen das kommende Gute auf. Schon wagt es ein jeder freudig, den Reichtum, den zuvor die Angst in dunklen Verstecken verborgen gehalten hatte, hervorzuholen. Schon freut man sich der Gewinne, die vielen gekrümmten und suchenden Händen so zahlreicher Diebe entgehen konnten. Nicht mehr ist es ein Verbrechen (– es pflegte ein großes zu sein –) Reichtum zu besitzen, der ohne Betrug erworben. Die Furcht wispert nicht mehr geheimes Flüstern ins Ohr, niemand hat etwas zu verschweigen oder zu flüstern. Schon ist es vergnüglich, Denunzianten zu verspotten, niemand wird mehr denunziert; nur derjenige lebt in Furcht, der früher denunziert hatte.]

König Heinrich VIII. als Garant der wiedergewonnenen bürgerlichen und wirtschaftlichen Freiheit wird – neben dem immer wieder variierten Lob der herausragenden körperlichen, geistigen und politischen Vorzüge des jugendlichen Herrschers – geradezu zum Leitmotiv des Herrscherlobs in diesem Epigramm Nr. 19 (vgl. CW 3, II, Nr. 19, 120ff., vgl. ebenso Nr. 20–22), das zugleich explizit nochmals das Ende, das Verschwinden der Furcht feiert (CW 3, II, Nr. 19/ 86–89): »Quod sic afficimur, quod libertate potimur, / Quodque abiere timor, damna, pericla, dolor, / Quod rediere simul, pax, commoda, gaudia, risus, / Eximij uirtus principis inde patet. [Darum sind wir so freudig erregt, darum erlangen wir die Freiheit, und aus diesem Grunde verschwinden Angst, Schaden, Gefahr und Schmerz, daher kehren Friede, Nutzen, Freude und Lachen zugleich zurück. Darin wird die Tüchtigkeit des außerordentlichen Herrschers offenbar]«. Diese Überwindung der allgemeinen Furcht als erster, offenkundiger Beweis für die überragenden Herrschertugenden Heinrichs gilt natürlich nur für England: Äußere Feinde dürften (und sollten) Heinrich durchaus fürchten, mehr noch, die Liebe der eigenen Untertanen und die Furcht der Feinde verleihen Heinrichs Herrschaft Frieden und Sicherheit (vgl. CW 3, II, Nr. 19, 128ff.). Das letzte der Krönungsepigramme (CW 3, II, Nr. 23) konkretisiert in fast prophetisch wirkender Perspektive die historische Chance, die dieser so emphatisch

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gefeierte Herrschaftsantritt bietet: Heinrich VIII.27 führte, als leiblicher Sohn Elisabeths von York und Henry Tudors, die Blutlinien der weißen und roten Rose zusammen, er wird zum Garanten universaler Friedens- und Glückssehnsüchte, deren Einlösung freilich auch ihren Preis haben kann (CW 3, II, Nr. 23/9–14): Scilicet huic uni species, decor, atque uenustas, Et color, et uirtus, est utriusque rosae. Alterutram ergo rosam uel solam quisquis amauit, Hanc in qua nunc est, quicquid amauit amet. At qui tam ferus est, ut non amet, ille timebat. Nempe etiam spinas flos habet iste suas. [Es ist leicht zu sehen, daß dieser eine Rosenstock Schönheit, Anmut, Reiz, Farbe und Tugend von beiden Rosen besitzt. Wer also eine von beiden geliebt hat, soll die eine lieben, in der nun ist, was immer er geliebt hat. Wer aber so roh ist, daß er keine liebt, der wird die eine fürchten, denn dieser Rosenstock hat auch seine Dornen.]

Das Bild Englands unter Heinrichs Vater, Heinrich VII., als ein von einem Spinnennetz von Spitzeln, insbesondere Finanzagenten überzogenen unfreien und gleichsam politisch und wirtschaftlich gelähmten Gemeinwesen, gründet in der Beschreibung des Morus (CW 3, II, Nr. 19) in kollektiver Furcht, für die letztlich der König selbst die Verantwortung trug. Mit dieser Einschätzung Heinrichs VII. als rücksichtslosem Geizhals und Ausbeuter, der seinen Untertanen durch Rückgriffe auf längst vergessene Feudalgesetze, exorbitant hohe Geldstrafen und durch ein überaus kompliziertes Besteuerungssystem das Geld, wo er nur konnte, aus den Taschen zog, war Morus keineswegs allein, wie eine Vielzahl von im Tenor gleichlautenden Aussagen von Zeitgenossen bestätigt.28

II.3.

Gewalt und Furchtszenarien in der Politik König Heinrichs VIII. (1509–1535)

Mit seinen allerersten Maßnahmen bereits zeigte Heinrich VIII., dass er in der Finanzpolitik dem Vorbild seines Vaters, der ihm bei seinem Tod durchaus gesicherte Staatsfinanzen hinterlassen hatte, nicht zu folgen gedachte. Zum einen regte er eine konkrete Gesetzesänderung an (An Act that Informations upon Penal Statutes shall be made within three years)29, zum anderen ließ er die 27 Vgl. z. B. Baumann (2010), bes. S. 20ff.; Guy (1990), bes. S. 80ff.; Guy (2014), bes. S. 3ff.; Hutchinson (2011), bes. S. 101ff.; Scarisbrick (1968), bes. S. 3ff., Starkey (2008), bes. S. 282ff. 28 Vgl. eine beeindruckende Vielzahl von Quellen bei Lockyer (1968), bes. 108–144; vgl. ebenfalls Penn (2011), bes. S. 261ff. 29 Vgl. insbesondere die einleitenden Bemerkungen, die eine weit ausgreifende historische

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beiden meistgehassten Steuereintreiber seines Vaters, Sir Richard Empson und Edmund Dudley, noch während des allgemeinen Jubels um den neuen König am 23. April 1509 einkerkern. Die offizielle Version war, dass sie in der Vergangenheit ihre Befugnisse überschritten und in die eigenen Taschen gewirtschaftet hätten, ein Vorwurf, der sich – genauso wie der Vorwurf eines geplanten Staatsstreichs – allerdings nicht beweisen ließ. Ungeachtet durchaus möglicher unterschiedlicher Detail-Beurteilungen einzelner Aspekte der Prozesse, sind sich Biographen und Historiker weitgehend in ihrer politischen Beurteilung einig: Sir Richard Empson und Edmund Dudley wurden als die vorgeblich Verantwortlichen, in Wahrheit jedoch als die politischen Sündenböcke für die allgemein verhasste Finanzpolitik Heinrich VII. unter Anklage gestellt, verurteilt und im Spätsommer 1510 hingerichtet:30 Henry VII died on 21 April 1509, and Empson was arrested just three days later. He was indicted in both his private and public capacities before oyer and terminer commissions appointed later that year. Treason was read into his summons (for his own protection) of armed men to London as and after the king lay dying: for this he was charged before a special commission which met at Northampton on 8 August 1509. Taken from the Tower of London to Northampton Castle, Empson pleaded his own case at the bar of the court on 1 October, but was convicted and sentenced to the death of a traitor. He was attainted in the parliament of January-February 1510, and beheaded, along with Dudley, on Tower Hill on 17 August following. At Henry VII’s death Dudley had many enemies and few friends even among his fellow councillors. Henry died late on 21 April 1509, but the fact was not announced until the evening of the 23rd. Early on the 24th Dudley and Empson were arrested and sent to the Tower of London, blamed for the oppressions of the late reign. Dudley was tried in London in July and convicted of treason on the 18th, the charge being that on 22 April he had conspired to ›hold, guide and govern the King and his Council‹ by summoning a force of men to London under the leadership of various named associates […]. He may well have summoned the men, a prudent and possibly widespread precaution at a time of political uncertainty, but it is highly unlikely he intended such a coup d’8tat. In the parliament of 1510, when several statutes blamed him for the injustices of the previous regime, a bill to attaint him and Empson passed the Commons but failed in the Lords. Analyse zur Begründung machen: »Where in times past have been made divers and many acts and statutes penal […] the great number of which statutes penal have not been put in execution till now of late, by mean whereof many and divers good and well disposed persons ignorant of any such statutes, their heirs and executors, have been put to great loss of goods, vexation and trouble by action, information and indictments for offences surmised to be done contrary to the same statutes many years after the offences were surmised to be done; upon which delaying of so long time, much perjury, great trouble, vexation and many inconveniences ensued to great number of the king’s subjects« (Lockyer (1968), S. 145 [document nr. 33]). 30 Condon (2004); Gunn (2004); vgl. auch Horowitz (1982); vgl. ebenfalls die knappen Bemerkungen bei Scarisbrick (1968), S. 11f. und Hutchinson (2011), bes. S. 104ff.

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Unaware of its failure, Dudley made an unsuccessful attempt to escape from the Tower. […] His fate was finally settled when Henry VIII’s progress took him through the midlands in summer 1510. There the king heard a fresh wave of complaints about the injustices of his father’s ministers, and resolved on their execution. Dudley was beheaded on Tower Hill on 17 August 1510 and buried at the London Blackfriars. Dudley made a convenient scapegoat for Henry VII’s exactions. Certainly he had exploited his position as the king’s executive, but so to a less extreme degree had most of Henry’s other councillors.

Insbesondere die Todesurteile werden damit im Rückblick zu Akten kalkulierter politischer Grausamkeit, die einerseits Heinrichs VIII. Pietät gegenüber seinem Vater dokumentieren, andererseits sicherlich auch als politische Demonstration für die Zukunft gedacht waren, dass diese so verführerisch schöne Rose auch wirklich ihre Dornen hat (vgl. nochmals CW 3, II, Nr. 23/9–14). Nicht zu Unrecht verweist Theo Stemmler in diesem Kontext auf den nur wenig später entstandenen Il Principe / Der Fürst Machiavellis, der eine für Heinrichs politisches Kalkül durchaus zutreffende allgemeine Erklärung bietet:31 Ein Herrscher darf sich also um den Vorwurf der Grausamkeit nicht kümmern, wenn er dadurch seine Untertanen in Einigkeit und Ergebenheit halten kann. Statuiert er nämlich einige wenige abschreckende Beispiele, so ist er barmherziger als diejenigen, die infolge allzu großer Milde Unordnung einreißen lassen, aus der Mord und Plünderung entstehen. Diese treffen gewöhnlich die Allgemeinheit; Exekutionen, die vom Herrscher ausgehen, treffen nur einzelne.

Inszenierte Heinrich VIII. mit seinem zynischen politischen Kalkül ein warnendes, abschreckendes Exempel, so statuierte er dieses dennoch zumindest mit einem Schein von Legalität, wiederum in Übereinstimmung mit einer Forderung von Machiavelli: »Und wird er auch in die Notwendigkeit versetzt, jemandem das Leben zu nehmen, so mag er es tun, wenn er eine hinreichende Rechtfertigung und einen ersichtlichen Grund hierfür hat.«32 Setzte Heinrich VIII. in seiner populistisch inszenierten Machtpolitik immer wieder auch auf politische Schauprozesse, auf die expliziten und impliziten Drohungen mit abschreckenden Terror- und Furchtszenarien,33 so ist eines der Motive – neben einem durchaus zynischen Politikverständnis – dafür sicherlich, dass der König selbst zeit seines Lebens von Ängsten und Befürchtungen beherrscht wurde, die er freilich in der Öffentlichkeit hinter seinem selbstbewussten, strahlenden, ritterlichen Herrscherimage verbarg. Sein Regierungsantritt 1509 war im Grunde der erste unblutige Herrscherwechsel seit fast einem 31 Machiavelli (1972), Der Fürst, Kap. XVII, S. 68. Vgl. Stemmler (1988), S. 45. 32 Machiavelli (1972), Der Fürst, Kap. XVII, S. 69. 33 Vgl. allgemein z. B. Baumann (2010), bes. S. 30ff.; Guy (1990), bes. S. 80ff.; Guy (2014), passim; Hutchinson (2011), S. 101ff.; Scarisbrick (1968), passim.

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Jahrhundert, es war noch keine 25 Jahre her, dass Richard III. nach der Schlacht von Bosworth die englische Krone an Henry Tudor (Heinrich VII.) verloren hatte (1485); die Herrschaft der Tudors, wie emphatisch und klug inszeniert sie auch in der Öffentlichkeit gefeiert wurde,34 betrachtete Heinrich als keineswegs gesichert, die Gefahr eines Rückfalls in die grauenvollen Bürgerkriegszeiten der Rosenkriege schien ihm durchaus real.35 Solche Befürchtungen des Königs zeitigten grausame Konsequenzen: zunächst einmal die konsequente Beseitigung eventueller Thronprätendenten (so Edmund de la Pole [1513]; Edward Stafford, Duke of Buckingham [1521]). Eine weitere Konsequenz war der nahezu obsessive, wenngleich auch politisch verständliche Wunsch nach einem ehelichen Sohn, denn die Nachfolge eines männlichen Thronfolgers hätte die am schwierigsten anzufechtende Nachfolgeregelung versprochen.36 So hatten solche Befürchtungen des Königs ohne Zweifel auch ihren Anteil in dem so vielschichtigen und oft diskutierten Motivkomplex, der ab 1525/27 zur Annullierung von Heinrichs Ehe mit Katharina, der Loslösung vom Papst und der römischen Kirche, der Heirat mit Anne Boleyn, und der revolutionären Gesetzgebung der Jahre 1532–1534 führte.37 Die revolutionäre Gesetzgebung der Jahre 1532–1534, die Thronfolgeregelung (30. März 1534: Act of Succession), im Grunde jedoch die gesamten Neuerungen seit 1529, sollten mit einem allgemeinen Eid der Untertanen bekräftigt werden. Bereits die Sukzessionsakte war ein außergewöhnliches Dokument,38 indem sie genaue Strafen für Verstöße gegen dieses Gesetz festschrieb: Handlungen oder Schriften gegen den König, seinen Titel (Supreme Head of the Church of England) und seine Heirat würden als Hochverrat (high treason), das Sprechen im gleichen Sinne als Verrat (misprision of treason) verfolgt werden, mit einem Wort: mit der Sukzessionsakte und der Möglichkeit, alle Untertanen mit einer Eidesleistung darauf zu verpflichten, wobei der Wortlaut des Eides nicht einmal präzisiert war, hatte die Regierung das perfekte Instrument, die keineswegs unumstrittenen Neuerungen endgültig durchzusetzen. Und wie schon ganz zu Anfang seiner 34 Vgl. eine Vielzahl von Quellen bei Baumann (1999d und 2005). 35 Vgl. etwa Hutchinson (2009), bes. S. 13ff. und Starkey (2008), bes. S. 297ff. 36 Vgl. Scarisbrick (1968), S. 150: »Had Henry been able to glimpse into the second half of the century he would have had to change his mind on queens regnant, for his two daughters were to show quality that equalled or outmeasured their father’s; […]. But English experience of the queen regnant was remote and unhappy, and Henry’s conventional mind, which no doubt accorded with his subjects’, demanded a son as a political necessity. […] There was, therefore, a real fear of a dynastic failure, of another bout of civil war, perhaps, or, if Mary were paired off as the treaty of 1525 provided, of England’s union with a continental power«. 37 Vgl. Quellen, Bewertung der Details und weiterführende Literatur bei Scarisbrick (1968), S. 163ff, Baumann (2010), S. 58ff., Guy (1990), S. 116ff., Loades (2007), S. 78ff., Wilson (2009), S. 126ff., vgl. insgesamt auch Baumann (2008), bes. S. 236ff. 38 Vgl. den Text des Dokuments bei Elton (1960), Document Nr. 4, S. 6–12.

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Regierungszeit setzte Heinrich VIII. erneut auf die abschreckende Wirkung exemplarischer Schauprozesse gegen Verweigerer des Eides: einige Kartäuserund Franziskanermönche, John Fisher, Bishop of Rochester, und Thomas Morus, seinen früheren Freund, getreuen Diener und ehemaligen Lordkanzler.39 Auf die Prozessdetails näher einzugehen, die Änderung bzw. Verschärfung der Hochverratsgesetzgebung, die ein Todesurteil gegenüber den bereits wegen Verweigerung des Sukzessionseids Eingekerkerten überhaupt (wenn auch durch Rechtsbeugung) erst ermöglichte, die handschriftlichen Notizen Thomas Cromwells,40 die bereits vor den Prozessen gegen John Fisher und Thomas More das Todesurteil als Strafe festschrieben, die Tatsache, dass es speziell im Falle des Thomas Morus explizit eines Meineides bedurfte, das gewünschte Urteil zu bekommen, ist hier unnötig.41 Alles spricht dafür, auch diese verhängten und vollstreckten Todesurteile als zynisch vorbereitete, machiavellistisch kalkulierte politische Demonstrationen zu werten, die kaum den Anschein der Legalität aufrechtzuerhalten vermochten. Sie zeigten mit erschreckender Brutalität, was derjenige zu erwarten hatte, der sich dem Willen des Königs widersetzte. Moralisch – darüber dürfte Heinrich VIII. sich keinerlei Illusionen hingegeben haben – waren diese Urteile durch nichts zu rechtfertigen; politisch jedoch hatten sie den gewünschten Erfolg. Mochten sich die Kirche in Rom und die Humanisten Europas auch noch so empört äußern,42 in England blieb es ruhig. Man hatte zwar jetzt erst wirklich begriffen, was die Formel von der Suprematie des Königs über die Kirche in der Konsequenz bedeutete,43 aber es blieb ruhig.44

39 Vgl. allgemein Baumann (2010), S. 89ff., Guy (1990), S. 116ff., Scarisbrick (1968), S. 305ff. Vgl. ebenfalls Matusiak (2013), S. 216ff. 40 Vgl. zu Thomas Cromwell zuletzt Hutchinson (2007). 41 Vgl. die Vielfalt (und teils auch Widersprüchlichkeit) der Quellen in der insgesamt überzeugenden Analyse und historischen (Re-)Konstruktion bei Schulte Herbrüggen (1983). Vgl. insgesamt auch Turchetti (2013). 42 Vgl. Schulte Herbrüggen (1983), bes. S. 116 (Quellen). 43 Vgl. Quellen und Details bei Elton (1960), bes. S. 329ff. Vgl. ebenfalls Gangale (2010). 44 Es ist eine der vielleicht faszinierendsten Ironien der englischen Geschichte, dass gut zehn Monate nach der Enthauptung des Thomas Morus (6. Juli 1535) die zweite Ehefrau des Königs, Anne Boleyn, die ein entscheidender ›Faktor‹ in den revolutionären Entwicklungen der Jahre 1527–1534 gewesen war, zu einem weiteren – im Sinne der Anklage höchstwahrscheinlich vergleichbar unschuldigen – Opfer eines politischen Schauprozesses wurde (Hinrichtung am 19. Mai 1536). Sie bewies »her innocence by dying ›boldly‹« (Warnicke (1989), S. 232). Vgl. allgemein die Quellen und die Diskussionen bei Warnicke (1989), S. 191ff., Ives (1986), S. 335ff. und Bernard (2010), S. 135ff.

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III.

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Repräsentationen politischer Gewalt und politischer Furcht auf der Bühne der Englischen Renaissance

Das Drama der Englischen Renaissance ist neben der Predigt als Massenmedium der Zeit ein entscheidender Multiplikator traditioneller, innovativer wie auch revolutionärer Konzepte und Ideen, und es ist dieses, weil es sich aufgrund seiner synästhetischen Grundausrichtung auch einem noch mehrheitlich illiteraten Publikum öffnet. Ungeachtet der argwöhnischen Beobachtung durch den Londoner Stadtmagistrat und der effizienten Kontrolle durch den Zensor, den Master of the Revels, konnte es sich etwa ab 1570/80 als höchst attraktive Institution etablieren, die nicht nur gute Unterhaltung versprach und den Betreibern ordentliche Profite garantierte, sondern zugleich zu einem ungemein lebendigen Experimentierfeld geistiger, u. a. auch moralischer und politischer Grundfragen wurde. Der Anteil des Theaters der Tudor- und Stuartzeit an der Herausbildung und Stärkung eines nationalen englischen (Selbst-)Bewusstseins ist in der Forschung genauso unbestritten wie die Tatsache, dass etwa speziell die englischen history plays der Tudorzeit wesentliche Propagandisten des TudorMythos waren,45 ohne dabei auf durchaus subversive Zwischenrufe (z. B. William Shakespeares Richard II und Henry V) zu verzichten. Kaum ein Drama warnte so eindringlich vor den Gräueln eines Bürgerkriegs wie Shakespeares Henry VI, Part I–III, oder Thomas Lodges The Wounds of Civil War, or Marius and Scilla,46 kaum ein Drama bilanzierte so treffsicher und kritisch die brutalen Konsequenzen einer rein männlichen Kriegergesellschaft wie Shakespeares Troilus and Cressida.47 Eine Vielzahl staatspolitischer Grundfragen, Herrschertugenden, das Verhältnis von Untertan und Herrscher, Gehorsams- und Fürsorgepflichten, Legitimität einzelner Handlungen, Einspruchs- bzw. Widerspruchsrecht, bis hin zu Fragen des bewaffneten Widerstands gegen den Herrscher (Tyrannenmord) wurden auf der Bühne immer wieder kontrovers verhandelt, vornehmlich in Historien und Tragödien.48 Von besonderer politischer Brisanz waren dabei Tragödien, die einen Herrscher in den Mittelpunkt rückten, der in klassischer Terminologie als Tyrann bezeichnet werden konnte und wurde. Ein solcher Herrscher, einerlei ob östlicher Potentat, italienischer Fürst oder römischer Kaiser, war häufig eitel, unberechenbar, grausam, primär seinen Lastern und 45 Vgl. z. B. Iser (1988), S. 48ff., Leggatt (1992), passim, Howard / Rackin (1997), passim, Baumann (1998a), S. 53ff. 46 Vgl. insbes. Gentili (1984). 47 Vgl. Krippendorff (1992), S. 67ff. und Baumann (1998a), S. 46ff. Vgl. insgesamt auch James (1997), bes. S. 85ff. 48 Vgl. z. B. die Essays in Hogg (1995) und Baumann (1999a). Vgl. ebenso, systematisch ausdifferenziert (Civilization and the Debate on Human Nature, Gender, Forms of Government, The Just Ruler, Rebellion, Providence and History, Natural Law), Wells (2009), passim.

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Leidenschaften ergeben, und betrachtete den Staat als seinen persönlichen Besitz. Für die Untertanen bedeutete dies, dass sie in ständiger Furcht vor dem Herrscher und seinen Agenten und Schergen lebten.49

III.1. Römerdramen der Englischen Renaissance Beklemmend eindringliche Schilderungen solcher lähmender Furchtszenarien bieten einige der englischen Römerdramen:50 In Ben Jonsons Sejanus His Fall (1603) müssen Arruntius, Silius, Sabinus und einige Gesinnungsgenossen in Art eines antiken Chores machtlos zuschauen, wie das allgemeine Klima immer mehr von Verdächtigung, Denunziation, Kriecherei und Angst geprägt wird. Das von den Umtrieben der Agenten Seians seinen Ausgang nehmende Unheil macht vor nichts und niemandem Halt. Abstammung, Moral und Ehre, all das zähle nichts mehr in diesen Zeiten, so klagt Silius. Jedermann sei käuflich und buhle um die Gunst Seians (I,1,27–41):51 […] These can lie, Flatter, and swear, forswear, deprave, inform, Smile, and betray ; make guilty men; then beg The forfeit lives, to get the livings; cut Men’s throats with whisperings; sell to gaping suitors The empty smoke, that flies about the palace; Laugh, when their patron laughs; sweat, when he sweats; Be hot, and cold with him; change every mood, Habit, and garb, as often as he varies; Observe him, as his watch observes his clock; And true, as turquoise in the dear lord’s ring, Look well, or ill with him: ready to praise His lordship, if he spit, or but piss fair, Have an indifferent stool, or break wind well, Nothing can ’scape their catch.

Nicht die Zeiten, die Menschen hätten sich verändert,52 fährt Arruntius fort, die alten Römertugenden seien mit Cato, Brutus und Cassius zu Grabe getragen 49 Vgl. allgemein Baumann (1999a), Bayerl (1974) und Bushnell (1990); vgl. zuletzt Baumann (2016), bes. S. 19ff. 50 Vgl. allgemein Baumann (1992, 1994, 1995a, 1996, 1999c, 2007 und 2016). Vgl. ebenfalls Chernaik (2011), Garbero / Isenberg / Pennacchia (2010), Kahn (1997), Miola (1983) und Thomas (1989). 51 Vgl. Bolton (1966), Ben Jonson, Sejanus His Fall (im Folgenden alle Zitate nach dieser Ausgabe). Vgl. allgemein auch Baumann (1998), bes. S. 118–123, Ko (2014) und Platz (1976), bes. S. 167–204. 52 Vgl. bes. I,1,86–92: »Times: the men,/ The men are not the same: ’tis we are base,/ poor, and

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worden (I,1,86–104). Das wirklich deprimierende dieser Tragödie ist indes, dass der Sturz des mächtigen Seian am Ende überhaupt nichts ändert. Macro tritt das Erbe Seians an und handelt genauso skrupellos wie jener.53 Den jugendlichen Sohn des Seian lässt er hinrichten und Seians kleine Tochter ebenfalls, die zuvor noch die Schmach der Vergewaltigung erleiden muss, weil das Gesetz die Hinrichtung von Jungfrauen verbietet (V,6,842–857). Und im Hintergrund lauert die Sphinx,54 lauert immer noch die schattenhafte, zwielichtige Gestalt des Tiberius, eines kaiserlichen Schauspielers, der sich als Schüler Machiavellis von keinem Günstling überspielen lässt. Aus Furcht geborenes Misstrauen, Hass, Kriecherei, Gewalt und Heuchelei regieren auch am Ende noch die Menschen.55 Mit ähnlich düsteren Farben gestaltet auch der anonyme Verfasser der Tragödie Claudius Tiberius Nero (1607)56 sein Bild des römischen Kaiserhofes unter Tiberius. Diese Chronik der gesamten Regierungszeit des Tiberius (14–37 n. Chr.) erweist sich insgesamt als Orgie niederer Absichten, finsterer Pläne und blutiger Gräueltaten. Im Mittelpunkt der Handlung stehen dabei die machiavellistischen Machtpolitiker Seian und Tiberius, denen letztlich jedes Mittel recht ist, ihre Position zu sichern bzw. auszubauen. So häufen sie, Seian zunächst als Werkzeug des Tiberius, Verbrechen auf Verbrechen. Germanicus, Sabinus, Asinius und Iulia werden auf Betreiben des Tiberius vergiftet. Seian wird schließlich, nachdem er durch eine grandiose Intrige Tiberius veranlasst hat, den eigenen Sohn (Drusus) zu morden, von Tiberius mit einer brennenden Krone gerichtet. Auch Agripina und ihre Söhne, Drusus und Nero, werden von Tiberius beseitigt, die fünf Bediensteten, die er (binnen drei Minuten) erschlägt, einmal außer Acht gelassen. Ein Leben, ein Leben in »vertue« unter diesem Tyrannen Tiberius ist unmöglich geworden, und so geben sich Nerua, Celsus und Liuia selbst den Tod. Mit der Beseitigung des Tyrannen Tiberius scheint Rom zunächst gerettet, aber wie in Ben Jonsons Sejanus His Fall, wo der durch viele Untaten gerecht-

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degenerate from th’exalted strain/ Of our great fathers. Where is now the soul/ Of god-like Cato: he, that durst be good,/ When Caesar durst be evil; and had power,/ As not to live his slave, to die his master«. Das panegyrische Porträt des Germanicus als idealer Herrscher (I,1,120–174) von Arruntius, Silius, Sabinus und Cordus konstituiert ein zeitlos brillantes und überaus tugendhaftes Ideal (vgl. Evans [1971] und Wolf [1973]), das als Kontrastfolie die Herrscherfiguren Tiberius und Seian um so düsterer erscheinen lässt. Vgl. insgesamt auch Chernaik (2011), bes. S. 108ff und S. 196ff. Vgl. III,2,714–749; IV,2,77–92; IV,4,514–522 und insbesondere die explizite Prophezeiung des Arruntius (V,6,753–756): »I prophesy, out of this Senate’s flattery, / That this new fellow, Macro, will become / A greater prodigy in Rome, than he / That now is fall’n«. Vgl. die entlarvend-treffende – als aside – Bemerkung des Arruntius (III,1,64–65): »By Jove, I am not Oedipus enough, / To understand this Sphinx«. Vgl. bes. V,6,756–835; vgl. insgesamt zur Machiavelli-Rezeption Ben Jonsons Baumann (1998b). Vgl. Baumann (1990), Claudius Tiberius Nero (im Folgenden alle Zitate nach dieser Ausgabe).

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fertigte gewaltsame Tod des Seian weder das politische Klima nachhaltig verändert, noch die Herrschaft der Furcht und des Lasters beendet, bleibt auch für die anonyme Tragödie Claudius Tiberius Nero festzuhalten, dass Caligula zur Erreichung seines Zieles täuschen, heucheln und betrügen musste, dass er sich insgesamt durch die gleichen (niederen) Qualitäten auszeichnet, die Tiberius seit seinem Regierungsantritt so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Es scheint so, als habe der Tyrann nur einen neuen Namen angenommen, als trage am Ende der politische – oder besser der machiavellistische – Pragmatismus Seians (II,2,90–91: »If thou doost meane the Empire to obtaine, / Sweare, flatter, lye, dissemble, cog & faine«) doch den Sieg davon. Letztlich setzt sich mit Caligula nur der gerissenere Heuchler, der talentiertere Schauspieler, der gelehrigere Schüler Machiavellis durch, und für den Staat und die Untertanen ändert sich nur eins, nämlich der Urheber der kollektiven Furcht, der Verantwortliche für das gesellschaftliche Klima von Kriecherei und Misstrauen trägt einen anderen Namen. Als verdiente Strafe für die wider die Gesetze der Götter, der Natur und der Menschen verübten Verbrechen erleiden Agrippina und Messallina in den nach ihnen benannten Tragödien Thomas Mays (1628) und Nathanael Richards’ (1635) den Tod.57 In der anonymen Tragödie Nero (1624) findet der Titelheld nach einer Unzahl von grausigen Untaten ebenfalls seine verdiente Strafe,58 ohne dass sich damit strukturell anderes als in Sejanus His Fall oder in Claudius Tiberius Nero ergäbe. Der Kaiserhof ist jeweils ein Hort des Lasters, wo Gemeinheit und Grausamkeit triumphieren, wo Speichellecker und Intriganten entweder zu willfährigen Handlangern grausiger Untaten werden oder selbst weitere Freveltaten herbeiführen.59 Gleiche bzw. analoge Bilanzierungen tyrannischer Gewaltherrschaft und des die Natur dieser Herrschaft demaskierenden Einsatzes von bewusst funktionalisierten Inszenierungen politischer Furcht bieten auch Philip Massingers The Roman Actor (1626), oder John Fletchers The Tragedy of Valentinian (1614), ohne dass sich strukturell Neues ergäbe: hundertfacher Mord, widerwärtige, lauernde, unberechenbare Grausamkeit des Kaisers und Angst, Panik, lähmende, knechtische Unfreiheit der (wenigen) aufrechten Bürger, die

57 Vgl. Schmid (1963), Thomas May’s Tragedy of Julia Agrippina, bes. V,537ff. und Skemp (1970), Nathanael Richards’ Tragedy of Messallina, bes. V,2449ff. (hier und im Folgenden alle Zitate nach diesen Ausgaben); vgl. insgesamt auch Baumann (1996), bes. S. 308ff. und S. 517ff. 58 Vgl. Hill (1979), The Tragedy of Nero, bes. V,3 (hier und im Folgenden alle Zitate nach dieser Ausgabe). 59 Vgl. die Quellen und Einzelheiten bei Baumann (1995a und 1999c).

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sich nicht zu Handlangern der Unrechtsherrschaft gemacht haben, so jeweils die deprimierende Bilanz.60 Die Bühnenfigur des machiavellistischen Tyrannen,61 die moralische Analyse der jeden einzelnen Bürger korrumpierenden Lasterhaftigkeit des kaiserlichen Hofes wie auch der detailliert geschilderte ethisch begründete Widerstand gegen die Gewaltherrschaft bis hin zum ausführlich begründeten Tyrannenmord verleihen diesen Römerdramen – so wird man zusammenfassen dürfen – ihre eminent politische Brisanz und Stoßkraft. Mit dem Rückgriff auf die entarteten Tyrannenfiguren der römischen Kaiserzeit hatten die Dramatiker offensichtlich einen Weg gefunden, durch das Prinzip der Korrespondenzbeziehungen62 auch der eigenen Zeit – verbotenerweise – einen Spiegel vorzuhalten und ihren Zeitgenossen allgemeine Kriterien für die Beurteilung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse an die Hand zu geben. Und indem sie so immer wieder verdeutlichten, in welchem Maße der Herrscher bewusst auf Furcht- und Abschreckungsszenarien setzte, seine Position zu sichern oder auszubauen, und welche verheerenden Konsequenzen eine solche zynische Politik für die Untertanen hatte, zerstörten sie gleichzeitig die magisch-mystische Aura, mit der sich die Tudor- und Stuart-Herrscher in der Öffentlichkeit selber inszenierten.63

III.2. Tragödien der Englischen Renaissance Repräsentationen von funktionalisierter politischer Furcht, die zugleich immer wieder klassische Motive variieren und dramatisieren, prägen, häufig im sachlogischen Kontext brutaler Gewaltexzesse, auch außerhalb der Gattung Römer60 Vgl. Edwards / Gibson (1976), The Plays and Poems of Philip Massinger, Vol. III, S. 1–93 (The Roman Actor); Turner (1979), The Tragedy of Valentinian, S. 261–414 (hier und im Folgenden alle Zitate nach diesen Ausgaben). Vgl. insgesamt Baumann (1996), bes. S. 342ff. und 391ff.; Baumann (2007), bes. S. 117ff. 61 Vgl. insgesamt die brillanten Analysen bei Bushnell (1990). Vgl. insgesamt auch Adams (1977), Armstrong (1946, 1948), Baumann (1985, 2016), und Bayerl (1974). Vgl. ebenso Chernaik (2011), bes. S. 196ff. 62 Vgl. die explizite Diskussion dieses hermeneutischen Konzepts in Ben Jonsons Sejanus His Fall II,2,303–312; III,1,384–388, 390–392, 401–404 und Philip Massingers The Roman Actor I,3,36–43; I,3,96–140 (vgl. dazu auch Baumann (1992, 1994) und Baumann (2007), bes. S. 100ff.). Vgl. auch Martin Butlers Bemerkung zu Jonsons Sejanus im RSC Program (Gunpowder Season [2005]) zu Gregory Dorans bemerkeswerten modernen Produktion des Stücks (»[…] Sejanus was crucial for Jonson, since it was the first of many plays to build on the machiavellian dictum that men are driven by self-interest and crooks tend to prevail. […] And its radicalism, its scepticism about public life and its intellectual pessimism, do give it undeniable dramatic power. Perhaps the present time, once again preoccupied with tyrants and statecraft, will recognize what a remarkable play it is« (Hervorhebung UB). 63 Vgl. allgemein zu Quellen, Analysen und weiterführender Literatur Strong (1991) und Baumann (1999d und 2005).

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drama die dramatische Repräsentation von Herrschaft auf der englischen Bühne der Renaissance, wie abschließend noch drei exemplarisch ausgewählte Tragödien, zwei bekannte und eine eher selten analysierte, verdeutlichen sollen, nämlich Christopher Marlowes Tamburlaine, William Shakespeares Macbeth und Colley Cibbers Xerxes. III.2.1. Christopher Marlowe, Tamburlaine (1587) Bereits der vollständige Titel dieser wohl frühesten Tragödie Christopher Marlowes lässt keinerlei Zweifel daran, dass der Titelheld seinen zweifelhaften Titel »Scourge of God« wesentlich der politisch-strategischen Funktionalisierung von brutalem Terror und politischer Furcht zu verdanken hat: »Tamburlaine the Great. Who, from a Scythian Shepheard by his rare and wonderfull Conquests became a most puissant and mightye Monarque. And (for his tyranny, and terror in Warre) was tearmed, The Scourge of God«.64 Der rasante, unaufhaltsame Aufstieg von Marlowes Tamburlaine, einem kühnen, titanischen Herrscher,65 der seine niedere Herkunft durch persönliches Charisma und eine atemverschlagende, grandiose Herrscherrhetorik vergessen lässt, steht im Zentrum der Handlung des ersten Teils des Doppeldramas, der Tod Zenocrates und seine Folgen im zweiten Teil.66 Dieser zweite Teil, der im Unterschied zum kompositorisch geschlossenen ersten Teil die Handlung in etliche Einzelepisoden aufteilt,67 fokussiert so in immer wieder unterschiedlichen Perspektiven Selbstinszenierung wie auch Fremdcharakterisierungen Tamburlaines. So begrüßt etwa Techelles, König von Fez, Tamburlaine überaus ehrerbietig, indem er ihn zum furchterregenden Gott stilisiert (Part II, I,6,11–20): And mighty Tamburlaine, our earthly god, Whose looks make this inferior world to quake, I here present thee with the crown of Fez, And with an host of Moors trained to the war, Whose coal-black faces make their foes retire, And quake for fear, as if infernal Jove, Meaning to aid thee in these Turkish arms, 64 Harper (1971), Christopher Marlowe, Tamburlaine, S. [1]; vgl. auch »The Prologue« (bes. 3–6): »[…] We’ll lead you to the stately tent of war, / Where you shall hear the Scythian Tamburlaine / Threatening the world with high astounding terms / And scourging kingdoms with his conquering sword« (im Folgenden alle Zitate nach dieser Ausgabe). Vgl. insgesamt auch Antor (1999), Cahill (2013), Hardin (2006), Hillman (2011), Khoury (2007), Logan (2004), MacKenzie (2007), Marcus (2004), Richter (2007), Stripling (2007), Szurawitzki (2005) und Wurmbach (1984). 65 Vgl. die knappe Zusammenfassung des Forschungsstands bei Antor (1999). 66 Vgl. zur Struktur der Tragödie insgesamt Wurmbach (1984). 67 Vgl. Wurmbach (1984), bes. S. 237ff.

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Should pierce the black circumference of hell, With ugly furies bearing fiery flags, And millions of his strong tormenting spirits:

Dieses panegyrische Fremdbild korrespondiert mit dem Selbstverständnis Tamburlaines, wie die unmittelbare weitere Handlung – Techelles erhält seine Krone mit großer Geste zurück (Part II, I,6,23–40), etliche weitere Handlungsepisoden und insbesondere eine große Rede Tamburlaines vor einigen seiner geschlagenen Gegner, nach der eigenhändigen Ermordung seines Sohnes Calyphas – verdeutlichen (Part II, IV,1,144–156): Villains, these terrors and these tyrannies (If tyrannies war’s justice ye repute) I execute, enjoined me from above: To scourge the pride of such as heaven abhors, Nor am I made arch-monarch of the world, Crowned and invested by the hand of Jove, For deeds of bounty or nobility : But since I exercise a greater name, The Scourge of God and terror of the world, I must apply myself to fit those terms, In war, in blood, in death, in cruelty, And plague such peasants as resist in me The power of heaven’s eternal majesty.

Direkt mit den nächsten Versen folgen die grausigen Blut-Befehle, mit denen Tamburlaine seinen eigenen Mythos (»Scourge of God and terror of the world«) zum wiederholten Male selbst weiterwebt (Part II, IV,1,147–165). Nichts und niemand vermag ihn aufzuhalten,68 selbst den Göttern, Mahomet und Jove, schleudert er eine trotzige Kampfansage entgegen (Part II, IV,198–203): I will persist a terror to the world, Making the meteors, that like armed men Are seen to march upon the towers of heaven, Run tilting round about the firmament, And break their burning lances in the air, For honour of my wondrous victories.

Eine der Folgen dieser Selbstinszenierung Tamburlaines sind die detailliert geschilderten blutigen Gemetzel und Gräueltaten an den besiegten Gegnern, etwa Bajazeth und dessen Sohn Callapine, oder an den besiegten Königen Asiens, die er ins Joch vor seinen Wagen spannen lässt. Und der fürchterliche Ruf Tam68 Vgl. die programmatischen und zugleich hyperbolischen frühen Verse in Part I,2,174–177: »I hold the Fates bound fast in iron chains, / And with my hand turn Fortune’s wheel about, / And sooner shall the sun fall from his sphere, / Than Tamburlaine be slaine or overcome«.

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burlaines allein zeitigt tödliche Konsequenzen wie die deprimierende Episode um Olympia, die Ehefrau des Captain of Balsera, dokumentiert, die sich aus Furcht vor Tamburlaine und seinen Truppen, im Angesicht ihres toten Mannes, entschließt, den eigenen kleinen Sohn zu töten (Part II, III,4,12–25): Come back again, sweet Death, and strike us both: One minute end our days, and one sepulcher Contain our bodies: Death, why com’st thou not? Well, this must be the messenger for thee. Now ugly Death stretch out thy sable wings, And carry both our souls, where his remains. Tell me sweet boy, art thou content to die? These barbarous Scythians full of cruelty, And Moors, in whom was never pity found, Will hew us piecemeal, put us to the wheel, Or else invent some torture worse than that, Therefore die by thy living mother’s hand, Who gently now will lance thy ivory throat, And quickly rid thee both of pain and life.

Schärfer als in dem Bild einer Mutter, die den eigenen Sohn aus Liebe und zu seinem Schutz tötet, lässt sich der in Furcht vor Tamburlaine und seinem Ruf gründende völlige Verlust von Humanität und natürlich-ethischen Werten kaum fassen. Dass Tamburlaine auch noch angesichts des Todes seinen schrankenlosen Willen zur Macht demonstriert, indem er den Söhnen die Eroberung des gesamten Erdkreises als Vermächtnis hinterlässt (vgl. Part II, V,3,115ff.), können wir für unsere Zwecke genauso übergehen wie seinen unaufhaltsamen, grandiosen Aufstieg in Part I, obwohl die Stationen dieses Aufstiegs, in sorgsam konzipierter Steigerung (1. Mycetes, King of Persia, 2. Bajazeth, Emperor of Turkey, und 3. bei Damascus, den Soldan of Egypt), immer wieder beklemmend grausige Repräsentationen von Gräueltaten und deprimierend realistische Repräsentationen der Wirkungen politisch funktionalisierter Furcht- und Horrorszenarien bieten,69 wie abschließend die Sterberede des Perserfürsten Agy69 Vgl. z. B. Part I, I,2,34–43; III,3,66ff.; III,3,40ff.; und insbesondere die Drohungen des Boten (IV,2,49–63: »The first day when he pitcheth down his tents, / White is their hue, and on his silver crest / A snowy feather spangled white he bears, / To signify the mildness of his mind, / That satiate with spoil refuseth blood: / But when Aurora mounts the second time, / As red as scarlet is his furniture, / Then must his kindled wrath be quenched with blood, / Not sparing any that can manage arms: / But if these threats move not submission, / Black are his colours, black pavilion, / His spear, his shield, his horse, his armour, plumes, / And jetty feathers menace death and hell. / Without respect of sex, degree or age, / He razeth all his foes with fire and sword«) und schließlich (IV,4,1–9), die totale Zerstörung von Damaskus und die völlige Vernichtung seiner Einwohner (V,2,1ff.). Vgl. bes. V,2,58–65: »I will not spare these proud

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das, unmittelbar vor seinem Freitod, exemplarisch bestätigen mag (Part I, III,3,90–106): I prophesied before and now I prove, The killing frowns of jealousy and love. He needed not with words confirm my fear, For words are vain where working tools present The naked action of my threatened end. It says, Agydas, thou shalt surely die, And of extremities elect the least. More honour and less pain it may procure, To die by this resolved hand of thine, Than stay the torments he and heaven have sworn. Then haste Agydas, and prevent the plagues: Which thy prolonged fates may draw on thee: Go wander free from fear of tyrant’s rage, Removed from the torments and the hell: Wherewith he may excruciate thy soul. And let Agydas by Agydus die, And with this stab slumber eternally. [Stabs himself]

III.2.2. William Shakespeare, Macbeth (1605/1606) Die ersten Szenen in Shakespeares Hamlet zeigen bekanntlich ein Land in nervösem Alarmzustand, ein Krieg droht, niemand weiß Genaues, Gerüchte machen die Runde;70 die ersten Szenen von Shakespeares Macbeth, seiner tiefschürfendsten und reifsten Vision des Bösen,71 eröffnen dem Publikum hingegen sofort den Blick auf eine blutige Schlacht, in und über deren Verlauf – hinter den Kampflinien – nicht einmal König Duncan Genaueres weiß. Blut, Gewalt und Chaos beherrschen die Szenerie;72 in diesem blutigen Ringen mit Rebellen und äußeren Feinden zeichnet sich ein Mann durch große persönliche Tapferkeit und tatkräftige Entschlossenheit aus: Macbeth.73 So rühmt ihn König Duncan so-

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Egyptians, / Nor charge my martial observations, / For all the wealth of Gihon’s golden waves, / Or for the love of Venus, would she leave / The angry god of arms, and lie with me. / They have refused the offer of their lives, / And know my customs are as peremptory / As wrathful planets, death, or destiny«. Vgl. hierzu allgemein Krippendorff (1992), S. 345ff. und Baumann (1998), S. 87ff. Vgl. Wilson Knight (1983), S. 140. Vgl. zur historischen Kontextualisierung u. a. Breutmann (2016), bes. S. 92ff. Vgl. Muir (1984), William Shakespeare, Macbeth (im Folgenden alle Zitate nach dieser Ausgabe). Vgl. besonders I,2,14–23: »And Fortune, on his damned quarrel smiling, / Show’d like a rebel’s whore: but all’s too weak; / For brave Macbeth (well he deserves that name), / Disdaining Fortune, with his brandish’d steel, / Which smok’d with bloody execution, / Like Valour’s minion, carv’d out his passage, / Till he fac’d the slave; / Which ne’er shook hands, nor bade farewell to him, / Till he unseam’d him from the nave to th’chops, / And fix’d his

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gleich als »valiant cousin! worthy gentleman« (I,2,24); der Thane of Rosse feiert ihn als »Bellona’s bridegroom« (I,2,54), und auch materiell zahlt die heldischbrutale Tapferkeit sich aus. Nachdem der König vom Verrat des Thane of Cawdor erfahren hat, ordnet er an, dem loyalen Macbeth (»noble Macbeth« [I,2,69]) Lehen und Titel des Thane of Cawdor zu verleihen (I,2,65–67).74 Die ersten Worte, mit denen Macbeth wenig später selbst erstmals auftritt (I,3,37: »So foul and fair a day I have not seen«), verweisen zurück auf die Eröffnungsszene und den Refrain der Hexen (I,1,11: »Fair is foul, and foul is fair«) und deuten damit unmittelbar und auf subtile Weise die enge Verbindung von Macbeth zu den Hexen oder Schicksalsmächten an, mit denen er nur wenig später konfrontiert wird: Sie begrüßen ihn (I,3,48–50) als Thane of Glamis, als Thane of Cawdor und als zukünftigen König. Macbeth ist daraufhin zutiefst verwirrt und zeigt auch äußere Zeichen des Erschreckens (I,3,51–52: [Banquo] »Good Sir, why do you start, and seem to fear / Things that do sound so fair?«), aber noch während er mit Banquo, der als Ahnherr vieler Könige begrüßt worden ist (I,3,63–67), über die Erscheinungen und deren Prophezeiungen rätselt, bringen Rosse und Angus die Nachricht, dass ihn König Duncan zum Thane of Cawdor ernannt hat. Während Banquo, der im weiteren Verlauf der Handlung trotz unheilvoller Ahnungen (I,3,120–127; II,1,5–9) in gutgläubiger Tatenlosigkeit verharrt, sofort die gedankliche Verbindung zu den Prophezeiungen herstellt (I,3,107), reagiert Macbeth erneut mit Irritation, Unglauben und Erschrecken. Der sich dennoch überraschend schnell einstellende Gedanke, Duncan zu ermorden und sich so die prophezeite Krone zu sichern, schockiert ihn scheinbar noch und wird ihm – wie er in einem aside betont – zum »horrid image« (I,3,133–142): […] I am Thane of Cawdor : If good, why do I yield to that suggestion Whose horrid image doth unfix my hair, And make my seated heart knock at my ribs, Against the use of nature? Present fears Are less than horrible imaginings. My thought, whose murther yet is but fantastical, Shakes so my single state of man, That function is smother’d in surmise, And nothing is, but what is not. head upon our battlements«. Vgl. insgesamt Batson (2006), Baumann (1998), S. 81–86, Baumann (1999b), Bronfen (2007), Cavanagh (2014), Cox (2013), Hobgood (2013), James (2013), Kallenbach (2012), Keller (2003), Keller (2005), Lowrance (2012), MacDonald (2010), McFall (2005), Power (2013, 2016), Riccomini (2011), Saliba (2013) und Showerman (2011). 74 Vgl. allgemein Baumann (1998), bes. S. 81ff., Baumann (1999b), bes. S. 367ff. Vgl. ebenfalls Craig (2001), Erzgräber (1999), Herman (2009), Hunt (2001), Mapstone (1998), Moschovakis (2008), Neely (2004), Wilson (2007) und Wolpers (2000).

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Macbeth beschließt, nichts zu unternehmen und seine weitere Zukunft in die Hand der Schicksalsmächte zu legen (I,3,144–145: »If Chance will have me King, why, Chance may crown me / Without my stir«). Der Dramatiker präsentiert uns – so scheint es zumindest – einen kampferprobten, loyalen Macbeth, dessen persönliche Verdienste vom König gewürdigt und belohnt werden, der unter dem Einfluss der Schicksalsmächte / Hexen in seiner Loyalität ins Wanken gerät und sogar das im Grunde Undenkbare, nämlich einen Königsmord, erwägt. Sein Charakter erweist sich für den Moment noch als stark genug, diese verbrecherischen Gedanken zu verwerfen und die Einlösung der Prophezeiung dem Schicksal zu überlassen. Bis zum Mord an Duncan, der die Ermordung seiner beiden Diener nach sich zieht, vollzieht sich im Denken von Macbeth immer wieder die gleiche Kreisbewegung: Er erwägt die unrechtmäßige Aneignung der Königskrone und verdrängt diese Gedanken aus moralischen Erwägungen, besonders eindrucksvoll in seinem berühmten »If it were done«-Monolog (I,7,1–28): If it were done, when ’tis done, then ’twere well It were done quickly : if th’assassination Could trammel up the consequence, and catch With his surcease success; that but this blow Might be the be-all and the end-all – here, But here, upon this bank and shoal of time, We’d jump the life to come. […] He’s [sc. Duncan] here in double trust: First, as I am his kinsman and his subject, Strong both against the deed; then, as his host, Who should against his murtherer shut the door, Not bear the knife myself. Besides, this Duncan Hath borne his faculties so meek, hath been So clear in his great office, that his virtues Will plead like angels, trumpet-tongu’d, against The deep damanation of his taking-off […].

Erst die Überredungskünste seiner von Ehrgeiz beherrschten Frau, die ihm den Mord an Duncan in einem rhetorisch brillanten Persuasionsdialog (I,7,35–83) als Beweis seiner Männlichkeit abfordert, bringen ihn letztlich dazu, die grausige Tat zu begehen, mit der er wider die geheiligten Gebote des Gastrechts handelt und sich den Frevel des Königsmordes auf sein Gewissen lädt. Macbeth, so scheint es, ist durch die Prophezeiungen der Schicksalsmächte / Hexen und durch die Überredungskünste seiner Frau zu einer Tat verleitet worden, die zwar seinen Ehrgeiz nach der Königswürde stillt, die seinem Wesen jedoch zu wi-

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dersprechen scheint.75 Macbeth also ein Opfer der Schicksalsmächte / Hexen und der Überredungskünste einer krankhaft ehrgeizigen Ehefrau? Das wäre dann doch zu einfach, zumal die Schnelligkeit, mit der Macbeth – nachdem er den Wahrheitsgehalt der Prophezeiungen (»Thane of Cawdor«) erkannt hat – an Königsmord denkt, so gar nicht zu einem loyalen und königstreuen Untertanen passen will. Und noch ein weiteres, merkwürdig irritierendes Detail taucht Macbeth ins Zwielicht des Zweifels: Lady Macbeth wirft ihm vor, nicht zu seinem gegebenen Versprechen zu stehen (I,7,47–52): […] What beast was’t then, That made you break this enterprise to me? When you durst do it, then you were a man; And, to be more than what you were, you would Be so much more the man. Nor time, nor place, Did then adhere, and yet you would make both:

Wenn Zeit und Gelegenheit damals für die Ermordung Duncans nicht günstig waren, dann verrät dieses »then«, dass Macbeth offenbar schon früher, lange bevor ihm die wahrsagenden Schicksalsmächte / Hexen begegnet waren, mit seiner Frau Mordpläne gegen Duncan geschmiedet hat.76 Im Rückblick erscheinen dann auch die ersten Reaktionen Macbeths auf die Prophezeiungen der Hexen in einem anderen, nicht weniger düsteren Licht: Gründet seine Irritation, sein Erschrecken vielleicht wesentlich in der Sorge, die Hexen könnten – vor Banquo und damit quasi öffentlich – seine geheimsten Wünsche offenbaren?77 Einmal durch die Ermordung Duncans mit Blut befleckt und – nach erfolgter Wahl zum König – am Ziel seiner ehrgeizigen Wünsche angelangt, scheint Macbeth wie besessen. Er befiehlt zur Sicherung seiner objektiv nicht gefährdeten Herrschaft78 die Ermordung Banquos und seines Sohnes (III,1,46–141).

75 Vgl. die bemerkenswerte Analyse des Charakters ihres Mannes durch Lady Macbeth nach Lektüre seines Briefes (I,5,15–30): »Glamis thou art, and Cawdor ; and shalt be / What thou art promis’d. – Yet do I fear thy nature: / It is too full o’th’milk of human kindness, / To catch the nearest way. Thou wouldst be great; / Art not without ambition, but without / The illness should attend it: what thou wouldst highly, / That wouldst thou holily ; wouldst not play false, /And yet wouldst wrongly win; thou’dst have, great Glamis, / That which cries, ›Thus thou must do,‹ if thou have it; / And that which rather thou dost fear to do, / Than wishest should be undone. Hie thee hither, / That I may pour my spirits in thine ear, / And chastise with the valour of my tongue / All that impedes thee from the golden round, / Which fate and metaphysical aid doth seem / To have thee crown’d withal«. 76 Vgl. Krippendorff (1992), bes. S. 403. 77 Vgl. die Einzelheiten bei Baumann (1999b), bes. S. 369f. 78 Vgl. den Monolog, der Macbeths subjektiven Befürchtungen und Ängste dem Publikum offenbart (III,1,46–56): »To be thus is nothing, but to be safely thus: / Our fears in Banquo / Stick deep, and in his royalty of nature / Reigns that which would be fear’d: ’tis much he dares; / And, to that dauntless temper of his mind, / He hath a wisdom that doth guide his valour / To

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Jetzt demonstriert er die ihm zuvor von seiner Frau abgesprochene Härte; er handelt allein, ohne die erneute Untat mit seiner Frau zu besprechen; er will sie, die treibende Kraft und aktive Helferin bei der Ermordung Duncans war, vor unnötigen Sorgen bewahren (III,2,45–46). Doch Macbeth überschätzt seine eigene Skrupellosigkeit. Unmittelbar nach der Ermordung Banquos erscheint ihm dessen Geist beim abendlichen Festbankett und löst beinahe einen vollständigen Zusammenbruch aus, den seine Frau – in bewunderungswürdiger Geistesgegenwart, die die Situation rettet – den übrigen Gästen als durchaus gewöhnliches Krankheitssymptom erklärt (III,4,40*–120). Zugleich jedoch enthüllt Lady Macbeth (nur ihrem Mann und dem Publikum?), dass sie die wahren Gründe für die Reaktionen ihres Mannes auf die angsteinflößende Erscheinung kennt (III,4,59–67): […] O proper stuff! This is the very painting of your fear : This is the air-drawn dagger, which, you said, Led you to Duncan. O! these flaws and starts (Imposters to true fear), would well become A woman’s story at a winter’s fire, Authoris’d by her grandam. Shame itself! Why do you make such faces? When all’s done, You look but on a stool.

Die Tatsache, dass der Dramatiker von Beginn an den Prozess der langsamen Abtötung des Gewissens, des Kampfes des Ehrgeizes mit der eigenen, besseren Natur, immer wieder ins Zentrum der grüblerischen Monologe Macbeths rückt, bis hin zum völligen Zusammenbruch angesichts des Geistes Banquos, ist das zentrale Element der Sympathielenkung auf den Titelhelden. Das aus der Innenperspektive Macbeths präsentierte Leiden an seinen Untaten sichert selbst dem Mörder Macbeth noch die Anteilnahme des Publikums.79 Für die dramatische Repräsentation von politischer Gewalt und Furcht sehr viel entscheidender ist freilich, dass spätestens seit dem Festbankett und dem Erscheinen von Banquos Geist Horror, Furcht und Schrecken die Gedanken Macbeths beherrschen, er zum blutrünstigen Tyrannen wird, und in Schottland endgültig Furcht und Chaos regieren.80 Macbeth führt gewissermaßen Krieg act in safety. There is none but he / Whose being I do fear: and under him / My Genius is rebuk’d; as, it is said, / Mark Antony’s was by Caesar«. 79 Vgl. insbesondere Lengeler (1978) und Erzgräber (1999). 80 Vgl. bes. IV,3,4–8: [Macduff] »Each new morn, / New widows howl, new orphans cry ; new sorrows / Strike heaven on the face, that it resounds / As if it felt with Scotland, and yell’d out / Like syllable of dolour« und IV,3,39–41: [Malcolm] »I think our country sinks beneath the yoke; / It weeps, it bleeds; and each new day a gash / Is added to her wounds«. Vgl. auch IV,3,165–174.

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gegen seine eigenen Untertanen, taucht das ganze Land in Ströme von Blut, und seine brutalen Schlächter schonen weder Frauen noch Kinder, wie insbesondere die Hinmetzelung der Familie MacDuffs (IV,2) dokumentiert. Die Tragödie insgesamt weist von allen Dramen Shakespeares die statistisch höchste Frequenz von »to fear / (the) fear« auf,81 was angesichts der Tatsache, dass Macbeth eines der kürzesten Dramen ist, besonders signifikant erscheint. Macbeth selbst bleibt, nachdem ihm die Prophezeiungen der Hexen, oder besser : seine Deutung der Prophezeiungen, kurzzeitig ein trügerisches Gefühl der Sicherheit vermittelt haben (IV,1,1–156), eingesponnen in eine Welt des dumpfen, düsteren Grübelns, in eine Welt, der kein Schrecken, kein Horror fremd ist (V,5,9–15): I have almost forgot the taste of fears. The time has been, my senses would have cool’d To hear a night-shriek; and my fell of hair Would at a dismal treatise rouse, and stir, As life were in’t. I have supp’d full with horrors: Direness, familiar to my slaughterous thoughts, Cannot once start me.

Für die Untertanen gilt, was spätestens seit Thukydides zu den klassischen Beschreibungstopoi einer blutigen Tyrannis gehört: Sie leben in Furcht und Schrecken, aus Furcht geborenes Misstrauen gegenüber jedermann beherrscht den Alltag, wie am eindrucksvollsten das lange Zwiegespräch zwischen Macduff und Malcolm bestätigen kann, in dem sich Malcolm aus Angst, Macduff wolle ihn hintergehen, verstellt, bis ihn schließlich die empörte Reaktion Macduffs von dessen lauteren Absichten überzeugt, ein Zwiegespräch, das in seinen Details ganz konkret entscheidende Kriterien für die moralisch-ethische Beurteilung von Herrschaft im Allgemeinen diskutiert (IV,3,1–137).82 Den Tod seiner Frau, die an ihrer Schuld zugrunde geht (vgl. bes. V,1), nimmt Macbeth kaum noch wahr (V,5,17–28), er erkennt zu spät, dass seine Deutung der Prophezeiung falsch war. Dennoch rafft er sich noch einmal auf und wird zu dem, der er ganz zu Anfang der Tragödie war : ein Schrecken verbreitender, blutbesudelter, tapferer Kämpfer (V,7 und V,8). Am Ende gewährt der Dramatiker Macbeth nicht nur einen heroischen Kriegertod, wie im übrigen auch schon dem Tyrannen Richard III., sondern er liefert zugleich einen weiteren Hinweis für das tiefere politische Verständnis der Tragödie. Die in dieser Tragödie dargestellte Welt Schottlands ist eine Welt des blutigen Kampfes, die exklusiv männliche Welt eines Kriegerstaates. Brutaler Kampf, die physische Fähigkeit, den Gegner abzuschlachten, ist offensichtlich die einzige 81 Vgl. die statistischen Daten der Konkordanzen bei Bartlett (1956), S. 507–512 und Spevack (1968), S. 992–997. 82 Vgl. die Quellen und Einzelheiten bei Baumann (1999b).

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Tugend, die in dieser Kriegerwelt zu zählen scheint.83 Der Krieg, der Kampf ist der Vater aller Dinge in dieser düsteren Welt. Sogar der Schluss der Tragödie feiert ihn noch: Siwards Sohn stirbt wie ein Mann (V,7,5–11*), und selbst der eigene Vater will nur wissen, ob er seine Todeswunde von vorn erhalten hat (V,9,11). Diese Kriegermentalität ist der Urgrund des Übels, ihr entwuchs Macbeth, sie nährte seinen Ehrgeiz und in sie droht Schottland nach der blutigen Tyrannis des Macbeth zurückzufallen. Der neue König Malcolm beseitigt zwar die Handlanger des Unrechtsregimes (V,9,34–35), aber er stützt seine Herrschaft auf die alten Anhänger seines Vaters, die er flugs zu Earls ernennt. Am Schluss der Tragödie – der Tyrann und Königsmörder Macbeth hat sein gerechtes Ende gefunden – feiert Malcolm in schönen Worten den gemeinsam errungenen Sieg und die harmonische Freundschaft des Augenblicks (V,9,25–41), aber das Publikum kann kaum übersehen, dass im Grunde die gleichen Machtrelationen herrschen wie zu Anfang der Tragödie (schwacher König [Duncan, Malcolm] – starker Kämpfer [Macbeth, Macduff]), und das Publikum wird nicht vergessen, dass die Hexen / Schicksalsmächte weiterhin in ihrer Höhle lauern: Wer wird sie als nächster aufsuchen, um Antworten zu erhalten, die Bestand und Sicherheit versprechen? Wer wird als nächster nach der Chance greifen, sich durch Kampf und Krieg, dem einzigen, was in dieser Gesellschaft zählt, die Krone aufs Haupt zu setzen? Mit dem Tode des Tyrannen Macbeth ist – so wird man zusammenfassen dürfen – das Monster der politischen Furcht nicht endgültig besiegt, oder beseitigt: es schläft nur für eine kleine Weile. III.2.3. Colley Cibber, Xerxes, A Tragedy (1699) Colley Cibbers Xerxes, A Tragedy (1699),84 ist eines der wenigen englischen Dramen des 16. und 17. Jahrhunderts, die einen Herrscher Persiens in den Mittelpunkt rücken,85 und es ist eine typische »Horror Tragedy«,86 eine speziell in den letzten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts beim Publikum sehr beliebte Gattung.87 Die Details der Ausstattung wie auch die elaborierten Maskenspiele 83 Vgl. Krippendorff (1992), bes. S. 391–426. 84 Vgl. Viator / Burling (2001), The Plays of Colley Cibber, Bd. 1, S. 244–326 (im Folgenden alle Zitate nach dieser Ausgabe). 85 Vgl. Thomas Preston, A Comedy of King Cambyses (1561); Anon., King Darius (1565); Christopher Marlowe, Tamburlaine the Great (1587); Anon., The Wars of Cyrus (1594); William Alexander, The Tragedy of Darius (1603); Charles Saunders, Tamerlane the Great (1681). 86 Vgl. Hume (1976), S. 199. 87 Vgl. Viator / Burling (2001), The Plays of Colley Cibber, Bd. 1, S. 247: »[…] Cibber seems to have known exactly what he was creating in regard to stage displays of such evil, with Xerxes closely following in the footsteps of Settle’s Empress of Morocco (1673), the most important example of this type; its sequel, The Heir of Morocco (1682); and the more recent spate of

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können wir für unsere Zwecke genauso übergehen wie den bescheidenen Publikumserfolg und die nicht ganz unproblematische Aufführungsgeschichte der Tragödie;88 es gilt stattdessen, nur einen – wenngleich den zentralen – Aspekt zu analysieren: die Ängste und Befürchtungen, die der Tyrann bei seinen Untertanen weckt, und die Ängste und Furchtszenarien, die den Tyrannen selbst beherrschen. Von Beginn an wird Xerxes als Tyrann gezeichnet, als willkürlicher, sich selbst maßlos überschätzender Herrscher, der offensichtlich den Bezug zur politischen Realität verloren hat.89 Er, der noch während der Kämpfe gegen die Griechen geflohen war, feiert die – zumindest seine Generäle deprimierende – Niederlage als grandiosen Triumph, rast wider die Götter (I,230–238), lässt die Winde peitschen und die Sonne mit Pfeilsalven beschießen (I,I,296ff.), er bleibt taub gegenüber den Warnungen der Magi,90 und beansprucht in seinem Wahn sogar, ohne die Götter über Tod und Jenseits gebieten zu können (I,329–334): Away! ye senseless dreamers of the world to come, Who dare pretend to fright mankind with tales, Of what shall happen after death: But yet can give us no account of what The soul endured, before it put on flesh! Hence from my sight and thoughts forever!

Solches Rasen des Tyrannen zeitigt die z. B. aus Shakespeares Macbeth bekannten Konsequenzen: Auch Xerxes führt gewissermaßen Krieg gegen seine eigenen loyalen Untertanen; er umgibt sich stattdessen mit Schmeichlern und Speichelleckern (vgl. z. B. II,292ff.), die nicht nur alle seine Untaten gutheißen, sondern sich auch noch als willfährige Handlanger seiner widerwärtigen Lüsternheit erweisen. Vor aller Augen bricht Xerxes sein königliches Ehrenwort (IV,1,382–416), selbst den sich vor seiner Unrechtsherrschaft durch Selbstmord entflohenen Verschwörern will er den Tod verweigern, ein geradezu klassisches Indiz für Tyrannenwahn (III,211–212): »O spiteful sullen traitors! Bring in the torture! / By heaven I’ll have ’em racked to life again!« Brutale, blutige Gewalt gegenüber den Untertanen, Drohungen und falsche Versprechungen, um seine horror plays, including Banks’s Cyrus the Great (1695), Pix’s Ibrahim (1696), Manley’s The Royal Mischief (1696), and even Southerne’s Oroonoko (1695), with its explicit representation of the execution of the African prince«. 88 Vgl. allgemein Koon (1986) und Viator (1992). 89 Vgl. insbesondere I,118–122: [Artabanus] »[…] His vain, / His proud (and what the history of man / Could never parallel), his monstruous resolution / After flight: He says he made th’Athenians fly, / He lost no battle! Greece still trembles at his name, […]«. 90 Vgl. I,324–328: [2d Magi] »While frantic passions talk so wild and loud, / The voice of reason is of little force: / But still remember, king, / Though while you live the gods retard your doom, / Yet after death, a sure revenge will come«.

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Ziele zu erreichen, das sind die politischen ›Strategien‹, mit denen Xerxes regiert, und mit deren Hilfe er – quasi als Höhepunkt seines lüsternen Verlangens – den Inbegriff der Tugend selbst, Tamira, schänden will (vgl. IV,3,308–315; IV,3,322–330; IV,3,340–355), um schließlich doch von der klugen, ein anderes – vorgeblich wenig tugendhaftes91 – Selbst inszenierenden Frau überlistet zu werden (vgl. IV,3,415–433). So traditionell wie die Untaten des Tyrannen Xerxes, so traditionell sind auch seine Ängste und Gewissensqualen. Permanent fürchtet er um seine Sicherheit und umgibt sich mit besonders starken Wachmannschaften. Niemand, nicht einmal seine Generäle, darf sich ihm bewaffnet nähern (vgl. bes. II,99–101: [Mardonius] »Gods! That a man so great in arms, / Should ever know the guilt of fear! See where he comes, / Amidst his court of women now! O shameful change«). Doch nicht nur die gleichsam topische Angst vor Attentaten nagt an Xerxes, immer wieder regt sich auch sein Gewissen, das er im Gegensatz zu seinen unliebsamen Generälen nicht durch Drohungen, Kerker und Tod zum Schweigen bringen kann. Die Furcht vor einer ungewissen Zukunft und wohl auch der Verantwortung, der er sich zu stellen haben könnte, veranlasst ihn, sich sein Schicksal voraussagen zu lassen. Im Unterschied zur Tragödie des Aischylos (Die Perser), der diese Szene nachempfunden ist, wo sich Xerxes zu seiner Verantwortung und Schuld bekennt (vgl. Pers. 908ff.), verharrt Cibbers Xerxes in stolzer Uneinsichtigkeit (IV,2,151–183), kann aber dennoch – ungeachtet seiner trotzigen Worte (IV,3,176–177: »Spirit, thou liest; I ne’er despised shall die: / I’ll change my death, to prove that fate can lie«) – die Stimme seines Gewissens nicht zum Verstummen bringen (V,1,1–14): Through all th’ unmeasured bounds of wild delight, I never yet could taste substantial joy, Or know one pleasure more than common men. If I indulge my appetite, I’m cloyed; Uneasy now, with what I lately longed for : If when my blood is high I taste of beauty, I lose the bliss, because my power commands; The peasant there takes more delight than I That travels through despair to sweet possession. When deaf to injuries, I make my way 91 Vgl. bes. IV,3,341–355*: [Tamira] »Can there be horror in so sweet a pleasure? / Can force be needful to the yielding fair? / I find, you think me, what I seemed, all ice! / Ah! Little! Little do you know of womankind! / Our lives! Our thoughts! Our very souls are love. / Our tears are softness, and our coyness fear ; / Our frowns affected, and our tongues belie ’em: / Our wishes secret, and our eyes betray ’em; / We must be cruel, ere we can be kind; / And use resistance to be more desired: / But when our cruelty has done its part, / And kindly proved how ill the wretch can bear, / Then! Then! Our joy’s secure – A look can cure despair! / Looks wantonly on him«. Vgl. ebenfalls IV,3,371–389 und zur erhofften Reaktion des Tyrannen IV,3,401–414.

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Through others’ ruin, Stern conscience stops me short, and will be heard. She keeps me waking, when the world’s at rest, And stuffs my pillow with a thousand thorns!

Genauso traditionell wie die Repräsentation des politischen Terrors, mit dem Xerxes regiert, und der Repräsentation der Ängste, von denen der Tyrann selbst heimgesucht wird, sind die Reaktionen der Untertanen. Der Tyrann umgibt sich mit willfährigen Schmeichlern und Henkersknechten, er findet immer wieder Helfershelfer für seine Untaten. Die Angst vor dem Tyrannen macht andere, wie z. B. Memnon, zum Verräter (III,1–34). Bei diesen stereotypen, lähmenden Auswirkungen einer blutigen Unrechtsherrschaft auf die Untertanen lässt es Cibber nicht bewenden: Von Beginn an präsentiert er einige moralisch aufrechte Generäle als Sympathieträger, insbesondere Artabanus und Mardonius, die sich mit ihrer Kritik an der Allmacht des Herrschers nicht zurückhalten (II,393–397): I ha’ no king; ’tis merit, not a crown, That makes a king: when pride and sloth debase The soul of majesty, the crown’s a toy, No more in worth, than what it weighs in gold: I scorn a king, whose robes can only speak him royal.

Ein Herrscher, der so despotisch regiert wie Xerxes, riskiert nicht nur den mit viel Sympathie gezeichneten Widerstand der Aufrechten und am Ende sogar seine Beseitigung, sondern er stellt zugleich die Alleinherrschaft, die Monarchie als Institution zur Disposition (II,437–448): Artabanus. Why! Why ye powers! has such a tainted soul The care of th’empire? Or if the gods have stamped Divinity on kings, fixing them far above The reach of common men; why then have we The eyes of reason to inspect their faults? Why are we born with souls to loathe dishonor, And yet by honour bound to bear it? Aranthes. How! To bear it! No! That loyalty’s dishonourable, That bids me bear dishonor: When subjects Are no more the care of kings, we then Have only left the laws of nature to protect us, And nature ties us all to self-defense.

Der Akt III setzt diese politische Kritik an der Alleinherrschaft konsequent fort, ja intensiviert diese noch mit der Repräsentation eines wirklichen, am Ende auch erfolgreichen Aufstandes, »surely a vivid reminder of the events of 1688–89«,92 92 Viator / Burling (2001), The Plays of Colley Cibber, Bd. 1, S. 248.

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wobei die konkrete, moralisch wie staatstheoretisch fundierte Kritik kaum deutlicher formuliert werden könnte (III,34–49): Artabanus. Never was cause, my friends, more cheerfully Embraced, never were hands more fit for action, Nor ever greater glory waiting on success: ’Tis not the thirst of others’ wealth, or dignities, Nor envy of a favoured faction, that inflames us, No mercenary end: ’Tis bleeding honour calls us To revenge her wounds; ’tis Xerxes, not the king That stands accused: If Xerxes can relent, Still let hin wear the crown; if not, the crown By us removed, can dignify Another head for empire. Aranthes. ’Tis not who reigns, but who reigns well is king. Artabanus. He that neglects the regal office, Should be compelled to lay it down; And we who feel the smart of that neglect, Are only proper judges, where to place it.

Wie die englischen Römerdramen der Renaissance mit ihren brutal-grausamen Tyrannenkaisern, die wesentlich mit Terror- und Furchtszenarien regierten und die magisch-mystisch inszenierte Aura der Tudor- und Stuartherrscher in Frage stellten, genauso beanspruchte Colley Cibbers Xerxes zu wirken, wie die letzten Verse der Tragödie (Mardonius) nochmals eindringlich bestätigen, wobei die Mahnung zur Geduld und der Trost, den die Götter bereitstellen, die revolutionäre, politische Brisanz kaum schmälern (V,3,425–432):93 Let kings and jarring subjects hence be warned, Not to oppress, or drive revenge too far : Kings are but men, and men by nature err. Subjects are men, and cannot always bear. Much should be borne before revenge is sought: Ever revenge on kings is dearly bought. Yet, to our woes, the gods this comfort give; From those that die, the living learn to live.

93 Vgl. auch Viator / Burling (2001), The Plays of Colley Cibber, Bd. 1, 249: »The distinction between the office of the monarch and his person, is, of course, the factor that keeps the play from being utterly seditious; but even so, the strong language of critique and the extended presentation of treasonous rebellion, even justified as it seems to modern readers, may well have struck playgoers in 1699 as just a bit too uncomfortable«.

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IV.

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Epilog

Die bisherigen Analysen sollten gezeigt haben, in welch hoher Frequenz und in welch subtilen Distinktionen Angst-, Gewalt- und Furchtszenarien in der Literatur (insbesondere in Dichtung und Dramatik) der Englischen Renaissance erscheinen; in ihren jeweiligen Handlungs- und Figurenkontexten werden sie dabei zumeist politisch funktionalisiert. Diese politische Funktionalisierung findet dabei bereits innerhalb der jeweiligen Einzelwerke statt und präsentiert die jeweiligen Staaten als durch Gewalt und Furcht ›regierte‹ Unrechtsregime, wobei diese menschenverachtende Unterdrückung von einem tyrannischen Herrscher ausgeht, der ungeachtet aller zur Schau gestellten Brutalität zugleich in ständiger Sorge um die Herrschaft lebt, von nicht verstummenden Ängsten und Furchtszenarien immer wieder heimgesucht wird. Speziell das Drama als Massenmedium konnte darüber hinaus mit der publikumswirksamen Inszenierung von Gewalt- und Furchtszenarien auf der Bühne tyrannische Herrscher und tyrannische Herrschaftsausübung so nachhaltig und wirksam demaskieren, dass diese sich zu durchaus subversiv wirkenden allgemeinen politischen Stellungnahmen und Kommentaren verdichteten, die wiederum bei der englischen Obrigkeit, insbesondere unter den Stuartkönigen Ängste und Befürchtungen auslösten. Im Detail konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass in der politischen Realität der frühen Tudorzeit König Heinrich VIII. sich nicht scheute, mit kühl kalkulierten, einzelnen politischen Schauprozessen seine Politik durchzusetzen; er machte mit seiner Politik der Abschreckung unmissverständlich klar, was derjenige zu erwarten hätte, der zukünftig wagen würde, sich ihm und seinen politischen Wünschen zu widersetzen. Kultur und Literatur der englischen Renaissance reflektieren insgesamt wie eine gewaltige Echokammer die Repräsentationen politischer Furcht, die schon größtenteils die Kultur, die Geschichte und die Literatur der klassischen Antike entwickelt hatte. Deren Konzepte, Ideen und historische Konkretisierungen wurden in vielfältigster Weise rezipiert, modifiziert, diskutiert, auf ihre zeitgenössische Anwendbarkeit hin ausgelotet, und – durch die einzigartige Institution des öffentlichen Theaters – auch zugleich einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wobei die Kultur und Literatur der Renaissance für die nachfolgenden Jahrhunderte selbst zur Echokammer wurde, einer Echokammer, deren Stimmenvielfalt und Reichweite insgesamt kaum zu überschätzen ist. Und vielleicht boten die in der Literatur und Kultur der Englischen Renaissance repräsentierten, sehr unterschiedlichen Reaktionen auf politische Horror-, Gewalt- und Furchtszenarien auch Trost und Orientierung im Alltag, der immer wieder von realen Ängsten, Unsicherheiten und Befürchtungen geprägt war : von den gravierenden Unsicherheiten der revolutionären Jahre 1527–1534, über die lähmende Furcht vor der spanischen Armada (1587/88), die bedrü-

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ckende Sorge um die Nachfolge Elisabeths I. (etwa ab 1598), der Bürgerkrieg zwischen Parlament und König (ab etwa 1642), die Kriegsängste während des Commonwealth, oder die überaus gespannten Beziehungen zwischen Herrscher (ab 1661) und Volk bis hin zur »Glorious Revolution« (1688/89). Eine weitere klassische Traditionslinie wurde bisher im wesentlichen ausgeblendet: Am 5. April 1588, Kriegsgerüchte machten schon seit Monaten die Runde, eine gewaltige spanische Armada bedrohte England, wurde in Westport (Wiltshire) ein Mann geboren, der später über seine Geburt schreiben sollte »[m]y mother was filled with such fear, that she bore twins, me and together with me fear«:94 Thomas Hobbes (1588–1679),95 einer der berühmtesten Staatsphilosophen der Neuzeit, der insbesondere der Furcht eine zentrale Funktion in der Geschichte der Entwicklung von staatlichen Gemeinwesen einräumen sollte: »[…] the original of great and lasting societies consisted not in mutual good will men had toward each other, but in the mutual fear they had of each other«.96 »In the state of nature«, schrieb Hobbes in The Elements of Law, »every man is his own judge, and differeth from other concerning the names and appellations of things, and from those differences arise quarrels, and breach of peace«.97 Der moderne, absolutistische Staat, dessen Konturen durch das biblische Bild des Leviathan mehr verschleiert als enthüllt werden, ist ursprünglich gegründet auf Furcht und soll diese bannen, den ursprünglichen Kampf der Individualinteressen auf Dauer verhindern: Of all Passions, that which enclineth men least to break the Lawes, is Fear. Nay, (excepting some generous natures,) it is the onely thing, (when there is apparence of profit, or pleasure by breaking the Lawes,) that makes men keep them.98

In den grundsätzlich positiven Konnotationen und Konsequenzen durchaus vergleichbar konzeptualisiert Giambattista Vico in seinem opus magnum, Principi di una scienza nuova d’intorno alla communa natura delle nazioni / Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, die Furcht, indem er sie als den Ursprung aller Götter und Mythen begreift:99 [191] Diese Dinge verleihen dem Spruch Primos in orbe deos fecit timor ›Die ersten Götter in der Welt schuf die Furcht‹ [Statius, Thebaid 3.661] erst seinen rechten Sinn – daß nämlich die falschen Religionen nicht durch fremden Betrug, sondern durch eigene Leichtgläubigkeit entstanden sind; […]. 94 95 96 97 98

Vgl. die Quelle(n) bei Martinich (1999), S. 1–2. Vgl. allgemein Malcolm (2004). Hobbes (1991), De Cive, I,2 (S. 113). Hobbes (1969), The Elements of Law: Natural & Politic, II,10,8 (S. 188). Hobbes (1973), Leviathan, II,27 (S. 158). Vgl. auch Maier (1968), bes. S. 371ff., Bermbach / Kodalle (1982), Robin (2004), bes. S. 31ff. 99 Vico (2009), Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, S. 106, S. 112 und S. 176–177.

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[220–221] Die Menschen deuten die zweifelhaften oder dunklen Dinge, mit denen sie zu tun haben, natürlicherweise nach ihrer eigenen Natur und daraus hervorgehenden Leidenschaften und Sitten. Dieser Grundsatz ist ein wichtiger Kanon unserer Mythologie; nach ihm wurden die Mythen von den ersten wilden und rohen Menschen gänzlich in strengem Sinne verstanden, wie es angemessen war bei der Gründung von Völkern, die aus wilder, bestialischer Freiheit herkamen; erst später, mit dem langen Lauf der Jahre und dem Wandel der Sitten, wurden sie in den ausgelassenen und verdorbenen Zeiten noch vor Homer umgedeutet, verändert, verdunkelt [814f.]. Denn da die griechischen Menschen auf die Religion Wert legten und fürchteten, die Götter könnten ihren Wünschen ebenso entgegen sein, wie sie es ihren Sitten waren, so hefteten sie ihre Sitten den Göttern an und gaben den Mythen unschickliche, häßliche, ja äußerst anstößige Bedeutungen [81]. […] [382] So stimmt mit all den hier behandelten Dingen jene [klassische Stelle] des Eusebios überein, die in den Grundsätzen angeführt worden ist [188], wo er die Prinzipien des Götzendienstes erörtert: daß der erste Stamm, einfach und roh, sich die Götter erdachte »ob terrorem praesentis potentiae« ›wegen des Schreckens vor einer gegenwärtigen Macht‹. So ist die Furcht das gewesen, was in der Welt die Götter ersonnen hat; aber, wie in den Grundsätzen bemerkt worden ist [191], nicht eine Furcht, die von einigen Menschen anderen, sondern von ihnen sich selbst eingeflößt wurde.

Repräsentationen politischer Furcht in Kultur- und Staatstheorie, bzw. Staatsphilosophie, verdienten, wie die wenigen Zitate bereits gezeigt haben dürften, einen weiteren Essay, der – wie die Repräsentationen politischer Furcht in Kultur und Literatur der Englischen Renaissance – Facetten des scheinbar ewigen Ringens des Menschen mit dem Monster »Political Fear« ausleuchten könnte, was die Allgemeingültigkeit unseres Eingangssatzes jedoch bedauerlicherweise nicht einschränken würde: »A spectre is haunting humanity : the spectre of fear«.

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Wolfgang Matzat

Der Roman als Medium des sozialen Imaginären

Wozu Literatur, wozu Literaturwissenschaft? Wenn dieses Motto unserer Tagung im Zentrum der folgenden Überlegungen steht, dann soll es dabei nicht um die sozialen Funktionen der Literatur im engeren Sinne gehen, sondern um das, was man ihre Modellierungsfunktion nennen könnte.1 Setzt man ein mehr oder minder mimetisches Verständnis von Literatur voraus, so bezieht sich diese Frage also darauf, welche Aspekte unserer Welt- und Selbsterfahrung sich die Literatur zum Gegenstand nimmt und in welcher Weise sie diese Gegenstände gestalten kann. Diese zunächst sehr allgemein formulierte Fragestellung lässt sich in verschiedener Weise konkretisieren, wobei ich mich auf zwei Möglichkeiten beschränke. Einerseits lässt sie sich mit einer historischen Perspektive verbinden, wie das Erich Auerbach in der Mimesis oder Michail Bachtin in seinem Chronotoposbuch getan haben, indem sie die Entwicklung der Wirklichkeitsdarstellung im Hinblick auf die Erfassung der alltäglichen Realität oder raum-zeitlicher Sinnzusammenhänge untersuchten.2 Andererseits – und natürlich in Verbindung mit der ersten Möglichkeit – kann man die Frage auf bestimmte Gattungen beziehen, indem man über das spezifische Gestaltungspotential etwa des Romans oder des Dramas reflektiert. Hierfür können im Hinblick auf den Roman Georg Luk#cs und natürlich auch wieder Michail Bachtin genannt werden, wenn sie die Sinnsuche des entfremdeten Individuums oder die dialogische Infragestellung der geltenden Diskursordnungen zum eigentlichen Gegenstand des Romans erklären.3 Ähnlich sind im Falle des Dramas die Versuche von Peter Szondi oder Erika Fischer-Lichte einzuschätzen. In dem einen Fall wird das Drama in seiner Reinform als Modell der dialogischen

1 Diese Fragestellung bildet den Ausgangspunkt meiner Ausführungen zu den in der Struktur des Romans inhärenten Gestaltungsmöglichkeiten in Matzat (2014). Der folgende Beitrag greift einige der dort entwickelten Überlegungen in pointierter Form am Beispiel des Don Quijote auf. 2 Siehe Auerbach (1977); Bachtin (1989). 3 Siehe Luk#cs (1994); Bachtin (1979), S. 154–300.

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Wirklichkeitskonstruktion begriffen, in dem anderen als Medium, das der Präsentation von je historischen Formen der Identitätsmodellierungen dient.4 Damit ist nun schon gesagt, wie der Titel meines Beitrags – »Der Roman als Medium des sozialen Imaginären« – zu verstehen ist. Ich will mit diesem Titel die These vertreten, dass der Roman als literarisches Medium in besonderer Weise dazu geeignet ist, Bilder von der jeweils zeitgenössischen Gesellschaft zu entwerfen, dass also der Autor eines Romans mit seinen Lesern über die Gesellschaft, in der sie leben, kommuniziert und dass es sich dabei um eine Art der Kommunikation handelt, die nur mit diesem Medium möglich ist. Mit dieser Charakterisierung beziehe ich mich bewusst auf die zum Realismus des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus bis zum Gegenwartsroman führende Hauptlinie der Gattungsentwicklung. Die Basis für meine Funktionsbeschreibung soll der Begriff des »sozialen Imaginären« in der von Charles Taylor geprägten Bedeutung bilden, da er meiner Sicht der Modellierungsfunktion der Literatur besonders entgegenkommt. Charles Taylor hat sein Konzept des »social imaginary« zunächst in Modern Social Imaginaries entwickelt und dann auch in der sehr viel umfangreicheren kulturgeschichtlichen Arbeit A Secular Age wieder aufgegriffen.5 Mit dem Begriff »social imaginary« bezeichnet Taylor die Vorstellungen, welche die Menschen von der Gesellschaft, in der sie leben, haben: »the ways in which they imagine their social existence, how they fit together with others, how things go on between them and their fellows, the expectations which are normally met, and the deeper normative notions and images which underlie these expectations«.6 Gemeint sind also die Vorstellungen, die das soziale Handeln begleiten, die im Prozess der Sozialisation erworben werden und dann ein Hintergrundwissen für das soziale Verhalten bilden. Sie setzen sich, wie das Zitat erkennen lässt, einerseits zusammen aus einem die sozialen Kompetenzen betreffenden Handlungswissen, andererseits aber auch einem Wissen über die moralischen Werte und die moralische Ordnung, die beim sozialen Handeln im Spiel sind. Es ist Taylor wichtig, diese sozialen Leitvorstellungen als ein allgemein zugängliches und allgemein verbreitetes Wissen zu charakterisieren. Dabei ist impliziert, dass dieser kollektive Vorstellungskomplex immer im Austausch mit den expliziten und theoriegestützten Wissensformen der gesellschaftlichen Eliten steht.7 Es ist offensichtlich, dass der von Taylor geprägte Begriff sich besonders dazu eignet, die soziale Dimension literarischer Texte und insbesondere des Romans zu beschreiben. Literarische Texte entwerfen Vorstellungswelten, und im Falle 4 5 6 7

Siehe Szondi (1956); Fischer-Lichte (1999). Siehe Taylor (2003); Taylor (2007). Taylor (2007), S. 171. Vgl. Taylor (2007), insbes. S. 175f.

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des Romans – und natürlich auch des Dramas – sind diese Vorstellungswelten in der Regel gesellschaftliche Welten, in denen die fiktiven Figuren sich bewegen und handeln, dieses Handeln besprechen und reflektieren. In den narrativen Texten spielt zudem der Erzähler eine maßgebliche Rolle. Er vertritt in besonders pointierter Weise eine Version des kollektiven sozialen Wissens, indem er bei seiner Schilderung der fiktiven gesellschaftlichen Welt und der in ihr handelnden Figuren immer schon den individuellen Figurenstandpunkt mit einem übergreifenden, den Leser mit einbeziehenden Standpunkt vermittelt.8 Verwendet man für den auf diese Weise – im Zusammenspiel von Figurenverhalten und Erzählerwissen – erfolgenden fiktiven Weltentwurf den Begriff des »sozialen Imaginären«, so hat dies den immensen Vorteil, dass damit die so leidige Frage nach dem Verhältnis von fiktiver sozialer Welt und realer sozialer Welt ihre Dringlichkeit verliert bzw. sich als grundsätzlich falsch gestellt erweist. Taylors Begriff legt den Akzent auf die im Grunde natürlich selbstverständliche Tatsache, dass die reale Welt den Mitgliedern der Gesellschaft immer nur in Vorstellung gegeben ist – und das gilt in besonders prägnanter Weise für die gesellschaftliche Welt, die ja als solche in jedem Fall die konkrete Wahrnehmung übersteigt.9 Diese Vorstellung speist sich aus verschiedenen Quellen: aus dem im Erziehungsprozess tradierten Wissen, aus Gesprächen, Lektüren und natürlich aus der persönlichen Erfahrung, die jedoch immer schon durch das zur Verfügung stehende Wissen gefiltert wird. Eine ganz wichtige Quelle kann dabei nun auch der Konsum von Fiktion sein, sei es durch mündliche Erzählung, sei es durch das Theater – heutzutage natürlich mehr noch durch Film und Fernsehen – und sei es eben durch die Lektüre von Romanen. Die im Zuge der Rezeption literarischer Texte aufgebauten Vorstellungen verbinden sich dann immer mit den schon existierenden Inhalten des sozialen Imaginären, wobei sich bei dieser Relation natürlich vielfältige Möglichkeiten ergeben, insbesondere die der Bestätigung, die der Erweiterung und die der Konkurrenz. Allerdings sind nun Taylors Ausführungen zum »social imaginary« nicht nur in theoretischer Hinsicht von Interesse, sondern auch aufgrund seiner Beschreibung der historischen Genese der modernen Formen des sozialen Ima-

8 Das gilt nicht nur für den heterodiegetischen Erzähler, sondern auch für die meisten Formen der Ich-Erzählsituation, da auch der Ich-Erzähler sich an ein gesellschaftliches Publikum wendet und seinen individuellen Standpunkt mit den sozialen Erwartungen zu vermitteln sucht. 9 Entsprechend argumentiert Benedict Anderson im Hinblick auf das Konzept der Nation, wenn er sie als »imagined community« deklariert. Vgl. Anderson (2006), S. 5ff. Dabei ist der Vorstellungscharakter des sozialen Wissens auch deshalb besonders prägnant ausgeprägt, weil es sich ja nicht nur auf eine überwiegend nur in der Vorstellung gegebene Masse von Akteuren, sondern auch in hohem Maße auf den der empirischen Wahrnehmung verschlossenen Bereich fremder Bewusstseinsvorgänge bezieht.

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ginären.10 Als wesentlichen Faktor in dieser Entwicklung sieht Taylor die schrittweise Ablösung der alteuropäischen Gesellschaftsvorstellung, in der sich die Gesellschaft als eine natur- und gottgegebene hierarchische Struktur darstellt, durch die sich im Laufe der Frühen Neuzeit ausbildende Vorstellung, dass sich die gesellschaftliche Ordnung aus der Kooperation von Individuen ergibt, die von Natur aus mit den gleichen Rechten ausgestattet sind. Eine zentrale Komponente des modernen Gesellschaftsbildes stellt für Taylor die – u. a. von John Locke theoretisch ausformulierte – Vorstellung eines harmonischen Zusammenwirkens der individuellen Eigeninteressen zugunsten eines »mutual benefit« dar. Paradigmatisch sind hierbei die ökonomischen Tauschbeziehungen, weshalb Taylor von einem ökonomischen Modell spricht.11 Als weitere Elemente der modernen Gesellschaftsvorstellung nennt er dann die Ausdifferenzierung einer eigenen Sphäre der öffentlichen Meinungsbildung, die zunehmende Ausgliederung eines Privatbereichs sowie die Ausbildung der Vorstellung von der Volkssouveränität. Dabei scheint mir vor allem die im Hinblick auf alle diese Prozesse grundlegende Voraussetzung von Bedeutung, dass die Entwicklung einer modernen Individualität nicht nur im Sinne einer Schwächung oder Auflösung traditioneller Gesellschaftsvorstellungen begriffen werden darf. Vielmehr geht für Taylor die Akzentuierung individueller Rechte und Handlungsmöglichkeiten untrennbar mit dem Entstehen eines neuen »social imaginary« einher, der Vorstellung, dass die Individuen durch Formen der sozialen Kooperation verbunden sind, die ihren ökonomischen Interessen und ihrem Bedürfnis nach Sicherheit entsprechen. Taylor spricht sich damit offensichtlich gegen die dominante Stellung einer Identitätsvorstellung aus, die sich auf den insbesondere von den Romantikern vertretenen exklusiven Individualitätsanspruch bezieht und dabei die auch für die modernen Formen individueller Identität geltende Orientierung an einer Gemeinschaft aus dem Auge verliert.12 Meine durch Taylors Ausführungen zu den »modern social imaginaries« angeregte These besagt, dass zwischen der sich in der Frühen Neuzeit entwickelnden Vorstellung einer sich aus der Interaktion von Individuen ergebenden gesellschaftlichen Organisation und der Entstehung der Formen des modernen Romans ein enger Zusammenhang besteht: dass also der Roman ein besonders geeignetes Medium für die Inszenierung der »modern social imaginaries« darstellt.13 Zwei Aspekte dieses Zusammenhangs möchte ich im Folgenden disku10 Vgl. Taylor (2007), S. 159ff. 11 Vgl. Taylor (2007), S. 177: »[…] humans are engaged in an exchange of services. The fundamental model seems what we have to call an economy«. Weiter unten (S. 212) ist dann explizit von einem »›economic‹ model« der imaginierten Gesellschaftsordnung die Rede. 12 Vgl. hierzu Taylor (1989), S. 35ff. 13 Hiermit werden die sozialgeschichtlichen Bedingungen, welche die Entwicklung des Romans

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tieren: einerseits die Veränderung der Reichweite bzw. der Gegenstände des sozialen Imaginären, andererseits die Vorstellungen, welche die gesellschaftskonstitutive Interaktion der Individuen betreffen. Als Basis dieser Diskussion wähle ich den Text, der immer wieder als erster moderner Roman gefeiert wurde, Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Den Ausgangspunkt für die erste Fragestellung kann der berühmte Romaneingang des Don Quijote bilden: En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme, no ha mucho tiempo que viv&a un hidalgo de los de lanza en astillero, adarga antigua, roc&n flaco y galgo corredor. Una olla de algo m#s vaca que carnero, salpicjn las m#s noches, duelos y quebrantos los s#bados, lantejas los viernes, algffln palomino de aÇadidura los domingos, consum&an las tres partes de su hacienda. El resto della conclu&an sayo de velarte, calzas de velludo para las fiestas, con sus pantuflos de lo mesmo, y los d&as de entresemana se honraba con su vellor& de lo m#s fino. Ten&a en su casa una ama que pasaba de los cuarenta y una sobrina que no llegaba a los veinte, y un mozo de campo y plaza que as& ensillaba el roc&n como tomaba la podadera.14

In dieser Passage werden die Umstände des Alltagslebens des kleinen Landjunkers in ausführlicher Weise entfaltet: der Besitz von ererbten Waffen, die keine Verwendung mehr finden, der genügsame wöchentliche Speiseplan, die recht einfache Garderobe und schließlich die bescheidene Ausstattung mit Dienstpersonal. Der bekannte Cervantes-Spezialist John Jay Allen, der die Ausgabe des Romans in der renommierten C#tedra-Reihe besorgt hat, kommentiert in einer Fußnote, dass damit dem zeitgenössischen Leser die Möglichkeit geboten wird, den Protagonisten des Romans recht genau im Hinblick ermöglichen, etwas anders eingeschätzt als bei Ian Watt, der »the rise of the novel« mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert in Verbindung bringt. Vgl. Watt (1995). Eine Entsprechung besteht demgegenüber im Hinblick auf Hans Blumenbergs – eher geschichtsphilosophisch begründete – Zuordnung des Romans zu einer intersubjektiven Form der Wirklichkeitskonstitution, auch wenn er dabei den Roman der Frühen Neuzeit nicht mit im Blick hat. Vgl. »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: Jauß (1969), S. 9–27, insbes. S. 11ff. 14 Cervantes (1998), Don Quijote de la Mancha, S. 35–36 (Kap. I, 1). Vgl. die deutsche Übersetzung in Cervantes (2008), Der geistvolle Hidalgo Don Quijote de la Mancha, Bd. 1, S. 29: »An einem Ort in der Mancha, ich will mich nicht an den Namen erinnern, lebte vor nicht langer Zeit ein Edelmann, ein Hidalgo mit Lanze am Waffenhaken, alter Ledertartsche, dürrem Gaul und flinkem Jagdhund. Mittags ein Eintopf mit mehr Rind als Hammel, am Abend meist saures Haschee, am Samstag fromme Eier mit Speck, Linsen am Freitag, am Sonntag als Dreingabe ein Täubchen, so waren drei Viertel seiner Einkünfte verzehrt. Das Übrige war dahingegangen für ein langes Wams aus dunklem Wolltuch, ein Beinkleid aus Samt für die Feiertage mit passenden Schlüpfschuhen dazu. An den Wochentagen gönnte er sich seinen besten Loden. Eine Haushälterin lebte bei ihm, die die vierzig überschritten, und eine Nichte, die die zwanzig noch nicht erreicht hatte, ebenso ein Knecht für alles, der mal den Gaul sattelte, mal zum Rebmesser griff.«

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auf seinen sozialen Status zu situieren.15 Diese Feststellung, die die Passage in die Nähe der Milieuschilderungen des 19. Jahrhunderts rückt, ist natürlich völlig richtig, spart aber das Entscheidende aus: die Tatsache nämlich, dass in einem Roman der Frühen Neuzeit überhaupt diese Umstände des Alltagslebens eines kleinen Landadligen entfaltet werden, dass also Cervantes diese Details als erzählenswert erachtet und bei seinen Lesern ein Interesse für diese Details voraussetzt. Es muss also zunächst vor allem betont werden, dass eine vergleichbare Milieubeschreibung avant la lettre in der frühneuzeitlichen Erzählliteratur vor Cervantes wohl kaum oder allenfalls in Ansätzen zu finden ist und dass sie somit eine bemerkenswerte gattungsgeschichtliche Innovation darstellt. Was es zuvor gab, waren einerseits Beschreibungen der materiellen Aspekte des fürstlichen Lebens, andererseits der Entwurf von Gegenwelten zur fürstlichen Sphäre, die sowohl bukolisch-georgisch wie im Schäferroman als auch satirisch-pikaresk ausgerichtet sein konnten, aber eben nicht diese semantisch weitgehend undeterminierte soziale Mittellage, die vor allem die Konnotation gesellschaftlicher Normalität transportiert. Diese Beschreibung signalisiert somit eine Erweiterung des Fokus des sozialen Imaginären, durch die das Alltagsleben nun zu einem seiner relevanten Bestandteile wird. Sie verweist somit nicht nur darauf, dass das frühneuzeitliche soziale Imaginäre durch eine »affirmation of ordinary life« geprägt ist, wie Charles Taylor formuliert16, sondern lässt auch erkennen, dass die Gattung des Romans einen maßgeblichen Beitrag zu dieser Erweiterung des sozialen Imaginären leistet. Für die Evokation einer zeitgenössischen Alltagsrealität, die den Rahmen satirisch-karnevalesker Schreibweisen deutlich überschreitet, finden sich auch im weiteren Verlauf des Romans immer wieder Beispiele. In unserem Zusammenhang am interessantesten ist sicher die Beschreibung der im zweiten Band (Kap. II, 18) erfolgenden Begegnung Don Quijotes mit dem Caballero del Verde Gab#n (dem Edelmann im grünen Mantel), der das ruhige und vergleichsweise bescheidene Leben eines kleinen adligen Landbesitzers, aus dem der Protagonist des Romans ausbrechen will, in vorbildlicher Weise vorführt. Er repräsentiert die Idealvorstellung eines modernen zivilisierten Lebens, an dem sich ein nunmehr domestizierter Landadel, der hundert Jahre nach dem Ende der Reconquista seiner ritterlichen Ausrüstung nicht mehr bedarf, orientieren kann. Die durch den Romaneingang des Don Quijote bezeugte Erweiterung des sozialen Imaginären im Hinblick auf die Umstände des individuellen Lebens

15 Cervantes (1981), Don Quijote de la Mancha, Bd. 1, S. 85–86: »Estos detalles de las armas ancestrales, la comida y el vestuario de Don Quijote, habr#n colocado al protagonista con bastante precisijn para los lectores contempor#neos dentro de la escala socio-econjmica: hidalgo de aldea medianamente acomodado.« 16 Vgl. Taylor (2007), S. 209–302.

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verbindet sich mit einer geographisch-kulturellen Beschränkung.17 In der Gattungstradition des Ritterromans, auf die sich der Don Quijote parodistisch bezieht, wird eine Ritterwelt europäischen Zuschnitts entworfen. Der Protagonist des Amad&s de Gaula, mit dem Garc& de Montalvo die Mode des Ritterromans begründetet, stammt, wie der Titel sagt, aus Gallien, er wächst überwiegend in Schottland und England auf und seine Abenteuerzüge führen ihn dann bis nach Konstantinopel.18 Don Quijotes Heimatregion ist dagegen La Mancha, eine Kernregion der iberischen Halbinsel, und er gelangt bei seinen Ausritten nicht über Barcelona hinaus. Wenn er an späterer Stelle explizit als »nuestro famoso espaÇol Don Quijote de la Mancha«19 bezeichnet wird, so verdeutlicht dies, dass der Text sich an spanische Leser richtet und somit soziale Vorstellungen entwirft, die sich auf eine als spanisch imaginierte Gesellschaft beziehen. Der Text von Cervantes bezeugt damit die Verbindung zwischen der Entwicklung des Romans und der Genese des Nationalbewusstseins, die Benedict Anderson und Franco Moretti hergestellt haben.20 Im Hinblick auf die von Moretti besonders betonte räumliche Dimension des im Roman transportierten sozialen Imaginären wird dies in diesem Fall nicht nur durch die Herkunft und den Bewegungsradius des Protagonisten belegt, sondern auch durch Angaben zur Herkunft und zu den Reisezielen der Figuren, denen Don Quijote auf den spanischen Landstraßen begegnet. Zu ihnen gehören aus Galicien stammende Viehtreiber, Kaufleute aus Toledo, die in Murcia Seide kaufen wollen, eine Dame aus dem Baskenland auf dem Weg nach Sevilla, wo sie sich mit ihrem Ehemann nach Amerika einschiffen will, oder auch ein Leichenzug, der die Überreste des Verstorbenen von Baeza nach Segovia überführt. Ansätze zu einem nationalen Zeitbewusstsein im Sinne von Benedict Anderson werden beispielsweise in der Begegnung Sancho Panzas mit einem Morisken aus seinem Heimatdorf, der das Land aufgrund des Dekrets von 1609 verlassen musste, sichtbar (Kap. II, 54).21 Die räumliche und die zeitliche Komponente wirken darin zusammen, dass die Vorstellung eines spanischen Chronotopos entsteht; und es ist nun gerade diese Einengung des sozialen Imaginären auf den spanischen Raum, welche das Interesse für die alltäglichen individuellen Lebensumstände fördert.22 An die Stelle einer ständischen Glie17 Zum Folgenden vgl. Matzat (2013), S. 137–150. 18 Wobei er unterwegs von den diversen Burgherrn aufgrund der gemeinsamen Standeszugehörigkeit meist freundlich aufgenommen wird. 19 Cervantes (1998), Don Quijote de la Mancha, S. 106 (Kap. I, 9). 20 Siehe Anderson (1999). Vgl. auch Bachtins (1989) Ausführungen zum Wandel des ›Chronotopos des Weges‹ von einem neutralen Schauplatz abenteuerlicher Begegnungen zu einer den Kontext des Heimatlandes aufrufenden Verkehrsroute (S. 22ff., S. 192ff.). 21 Vgl. Anderson (1999), S. 22ff. 22 Michel Butor (1975) hat die im frühneuzeitlichen Roman stattfindende Reduktion der räumlichen Dimension der Handlung darauf zurückgeführt, dass die zunehmende Erschöpfung des Repertoires an unbekannten Orten dazu geführt habe, die romaneske Ima-

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derung, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk als nachrangig erscheinen lässt, tritt nun die territoriale und kulturelle Fokussierung auf staatliche Gebilde, in denen Gesellschaften organisiert sind, die bereits nationale Züge aufweisen. Wenn der Roman bei der Inszenierung eines in dieser Weise ausgerichteten sozialen Imaginären eine besondere Rolle spielen kann, liegt das zunächst daran, dass er, wie Anderson hervorhebt, eine in der Volkssprache beheimatete Gattung ist und dass die Bildung eines durch Sprache und eine in Ansätzen nationale Kultur verbundenen Lesepublikums durch die Verbreitung des Buchdrucks besonders begünstigt wurde.23 Die der Gattung des Romans inhärente Möglichkeit des Entwurfs konkreter Chronotopoi ist aber für seine Funktion bei der Gestaltung moderner Formen des sozialen Imaginären noch nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist vielmehr, dass die Gattung aufgrund ihrer strukturellen Merkmale die Darstellung einer Gesellschaft der Individuen und der Umgangsformen, die einer solchen aus Individuen bestehenden Gesellschaft angemessenen sind, besonders begünstigt. Wie Käte Hamburger festgestellt hat, ist »die epische Fiktion« bzw. der Roman der »einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originalität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann«.24 Mit Recht hebt sie damit die dem Roman inhärenten Möglichkeiten der Innenweltdarstellung hervor, die am deutlichsten in der Allwissenheit des heterodiegetischen Erzählers zutage treten, da sie ihm es erlaubt, die Gedanken- und Gefühlswelt der fiktiven Figuren genauestens wiederzugeben und sich in ihre Perspektive hineinzuversetzen. Das Beispiel des Don Quijote zeigt, dass diese Einfühlungsmöglichkeit des Erzählers sich mit einer Darstellung der Interaktion der Figuren verbindet (jedenfalls zumindest verbinden kann), die in hohem Maße durch eine gegenseitige Einfühlung bzw. die Reziprozität der Perspektiven geprägt ist. Die Dialoge zwischen Don Quijote und Sancho Panza sind hierfür ein eindrucksvolles Beispiel, da in ihnen vorgeführt wird, wie zwei sowohl durch ihre soziale Herkunft – als Edelmann und als Bauer – als auch durch ihre Wahrnehmung der Realität – wahnhaft verzerrt in dem einen Fall, höchst prosaisch in dem anderen – äußerst unterschiedliche Figuren in eine durch gegenseitiges Verständnis geprägte Kommunikation eintreten und gination auf die vertraute Welt zu lenken, um diese vertraute Welt in neuer Weise zu entdecken (vgl. S. 48–58). 23 Vgl. Anderson (1999), S. 37ff. Dieser Umstand wird durch den Titel der ersten deutschen Übersetzung des Don Quijote aus dem Jahr 1648 von Joachim Caesar schlaglichtartig erhellt. Dort wird nämlich der »ingenioso hidalgo de la Mancha« zum »Junker aus Fleckenland«, da der Übersetzer mit der aus dem Arabischen stammenden Bezeichnung der Region die Wortbedeutung von ›mancha‹ / Fleck assoziierte. Dem Übersetzer fehlte also schon bei der Übertragung des Titels das nötige kulturelle Wissen. 24 Hamburger (1977), S. 73.

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im kommunikativen Austausch eine gemeinsame Welt entwerfen. Der Roman ist daher in der von Cervantes begründeten Linie, bei Fielding, Flaubert, Fontane, P8rez Galdjs usw., durch eine Ethik der Einfühlung und der Versöhnung geprägt. Er inszeniert eine soziale Kompetenz und eine sie fundierende moralische Ordnung, die einem sozialen Imaginären, das auf die Kooperation und den Interessenausgleich von Individuen zentriert ist, in hohem Maße entspricht. Der Erfolg des Romans beruht auf dem Interesse am anderen Individuum und an dessen Erfahrungen in einer gemeinsamen sozialen Welt. Ich möchte diesen Gedankengang im Hinblick auf den Don Quijote etwas verdeutlichen. Als Ausgangspunkt wähle ich eine Episode im Schlussteil des ersten Bandes, in der die auf Don Quijote zentrierte Haupthandlung und die sich aus den sogenannten eingelegten Geschichten ergebende Nebenhandlung in einer für uns sehr aufschlussreichen Weise miteinander verknüpft sind. Die Nebenhandlung betrifft die Geschichte des Herzogssohns Fernando und der schönen Tochter eines begüterten Bauern mit Namen Dorotea. Dorotea hat sich Fernando aufgrund eines Heiratsversprechens hingegeben, ist von ihm darauf verlassen worden und hat sich dann ins Waldgebirge der Sierra Morena zurückgezogen, um der Schande eines entehrten Mädchens zu entgehen. Dort trifft sie auf den Pfarrer und den Barbier aus Don Quijotes Heimatdorf und unterstützt sie bei ihrem Vorhaben, den ebenfalls in der Sierra Morena weilenden Don Quijote zum Abbruch seiner Abenteuerfahrt zu bewegen und wieder nach Hause zu bringen. Doroteas Aufgabe besteht hierbei darin, die Rolle einer von einem Riesen aus ihrem Reich vertriebenen Prinzessin zu spielen und Don Quijote zu bitten, sie in ihr Reich zu begleiten und ihr zu ihrem Recht zu verhelfen. Sie überträgt damit also ihre persönliche Notsituation in die fiktive Welt der Ritterbücher und ist dabei zumindest insofern erfolgreich, als man auf diese Weise Don Quijote zu einem Gasthof geleiten kann. Dort erhält sie nun aber auch tatsächlich die Möglichkeit, ihren Fall zu lösen, da man in eben diesem Gasthof auf den untreuen Fernando trifft. Dabei ist nun von besonderer Bedeutung, dass Don Quijote dieser Begegnung nicht beiwohnt, da er sich erschöpft schlafen gelegt hat, und dass Dorotea damit ihr Schicksal selbst und ohne ritterlichen Beistand in die Hand nehmen muss. Sie tut dies, indem sie Fernando in einem langen Plädoyer an das gegebene Versprechen erinnert, ihm vor Augen stellt, dass er um den Standesunterschied gewusst habe, als er sich mit ihr einließ, um dann zu dem entscheidenden Argument zu kommen, dass wahrer Adel in der Tugend bestehe und dass Fernando, wenn er ihr das versage, was er ihr schulde, im Gegensatz zu ihr diesen Adel verliere.25 Indem Dorotea hier also in huma25 Vgl. Cervantes (1998), Don Quijote de la Mancha, S. 428–429 (Kap. I, 36): »[…] cuanto m#s que la verdadera nobleza consiste en la virtud, y si esta a ti te falta neg#ndome lo que tan justamente me debes, yo quedar8 con m#s ventajas de noble que las que tffl tienes«.

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nistischer Manier die Tugend dem Adel vorordnet, setzt sie eine prinzipielle Gleichheit voraus und kann somit behaupten, dass die Ehe nicht nur in ihrem, sondern auch vor allem in seinem Interesse sei. Wenn er sein Wort bricht, verliert er seinen adligen Status, der ja gebietet, dass man zu seinem Wort steht. Fernando gibt sich darauf geschlagen, da er nicht den Mut findet, so viele »verdades juntas« zu leugnen.26 Die Episode präsentiert somit das Beispiel einer Verhandlungslösung, in der unterschiedliche Interessen zum Ausgleich kommen. Solche einvernehmlichen Lösungen werden im Text immer wieder inszeniert: nicht nur in den eingelegten Geschichten, sondern vor allem auch in der Haupthandlung, in den Gesprächen zwischen Sancho Panza und Don Quijote, in denen Meinungsverschiedenheiten meistens friedlich beigelegt werden können. Allerdings ist die Abwesenheit von Don Quijote, wie schon gesagt, in diesem Fall von besonderer Bedeutung. Don Quijote schläft und leistet im Schlaf den Ritterdienst, den er Dorotea bzw. der Prinzessin Micomicona versprochen hat – in Form des traumwandlerischen Kampfes gegen die Weinschläuche, die er mit dem das Reich der Prinzessin heimsuchenden Heer von Riesen identifiziert. In dieser Episode wird somit eine dem modernen sozialen Imaginären entsprechende ›zivilisierte Form‹ der Konfliktlösung der heroischen, auf physischer Gewalt beruhenden Auseinandersetzung gegenübergestellt. Don Quijote ist somit – jedenfalls in seinen wahnhaften Phasen, denn sonst zeigt er sich ja durchaus vernünftig und friedfertig – der Vertreter eines alten sozialen Imaginären, in dem es ein Teil des Selbstverständnisses des Adelsstandes ist, Konflikte eigenständig und mit Waffengewalt durchzufechten. So will Don Quijote ja auch das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkennen, wie sich am deutlichsten in der Episode von den Galeerensträflingen zeigt (Kap. I, 22), die er befreien zu müssen glaubt. Allerdings wurde schon deutlich, dass man auch die Figur des Don Quijote nicht nur als Repräsentanten eines überholten sozialen Imaginären einstufen kann. Zwar würde ich nicht so weit gehen wie Georg Luk#cs, der in Cervantes’ Roman ein erstes großes Beispiel dafür sieht, wie der Roman die moderne Erfahrung individueller Entfremdung gestaltet27, doch ist es keineswegs abzustreiten, dass Don Quijotes nostalgische Ritterfixierung in durchaus moderner Weise bereits auf eine Individualität verweist, deren Bestrebungen im gegebenen gesellschaftlichen Rahmen nicht zu realisieren sind. Vor diesem Hintergrund ist Auerbachs Kritik an der romantischen Tradition der Don Quijote-Interpretation, der auch Luk#cs letztlich zuzurechnen ist, zu differenzieren. Sicherlich hat Auerbach Recht, wenn er in dem Quijote-Kapitel der Mimesis feststellt, dass in Cervantes’ Roman noch keine tragische Konfrontation zwischen Individuum 26 Cervantes (1998), Don Quijote de la Mancha, S. 429. 27 Luk#cs (1994), S. 87ff.

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und Gesellschaft vorliegt.28 Doch muss deshalb das Vorherrschen einer komischen Perspektive nicht nur als Beleg für die Fortdauer des rhetorischen Stiltrennungsprinzips gedeutet werden. Dies ist in unserem Zusammenhang vor allem deshalb relevant, weil in Auerbachs Deutung das Stiltrennungsprinzip an eine hierarchische Gesellschaftskonzeption gebunden ist. Stiltrennung bedeutet ja, dass allein den Schicksalen und Lebensumständen gehobener Schichten die Würde einer ernsten Darstellung zuteilwird, während das alltägliche Leben der niederen Schichten nur in komisch-satirischer Weise thematisiert wird. Auerbach sieht den Grund hierfür in einer Geschichtskonzeption, die nur Fürsten und andere hochrangige Personen als historische Akteure begreift, während sich die alltägliche Existenz des Volkes jenseits der historischen Bedeutsamkeit abspielt.29 Dem möchte ich hier entgegenhalten, dass in Cervantes’ komischer Perspektivierung der Welt des Don Quijote durchaus auch Indizien für eine Erneuerung des gesellschaftlichen Imaginären enthalten sind, auch wenn dies noch nicht auf einen Wandel der Geschichtskonzeption zurückzuführen ist. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass die Komik vor allem aus dem Verhältnis des Erzählers zu seinem Helden resultiert und somit die Perspektive einer Gesellschaft der Vernünftigen transportiert, die den Wahn des Helden belustigt durchschaut. Diese Perspektive ist aber nicht primär als ständisch gebunden zu begreifen, wie das dem Auerbachschen Konzept entspräche, sondern als Ausdruck einer sozialen Vernunft, die einen auf der Reziprozität der Perspektiven beruhenden Gesellschaftsentwurf ermöglicht. Der Text inszeniert somit eine Form des sozialen Imaginären, in dem individuelle Abweichungen von der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zunehmend erfasst werden, wobei sich aber die komische Zensur individueller Eigenheiten – im Sinne von Bergsons Formulierung von der im Komischen enthaltenen »brimade sociale«30 – und die Einfühlung in den Sonderling noch die Waage halten. Die Voraussetzung für eine vollkommen ernste Darstellung des individuellen Menschen jenseits der gesellschaftlichen Rollenvorgaben erfordert eine weitere Transformation des sozialen Imaginären, die dazu führt, dass die Gesellschaft als historisches Phänomen begriffen wird. Dies ist, wie Auerbach in meisterhafter Weise dargestellt hat, die Basis des Realismus des 19. Jahrhunderts. Hier beruht die ernste Darstellung der Figuren und ihrer Lebensumstände nun auf einer Geschichtskonzeption, die den historischen Verlauf als ein kollektives Fatum begreift, dem alle Mitglieder der Gesellschaft in grundsätzlicher Weise ausgeliefert sind und das daher den individuellen Lebensläufen ihre je eigene Tragik zu 28 Siehe Auerbach (1977), S. 319–342. 29 Ausnahmen erkennt Auerbach nur in der jüdisch-christlichen Tradition, die auch die einfachen Menschen – wie etwa die Jünger Jesus’ – zu Protagonisten des Heilsgeschehens werden lässt (vgl. 1977, insbes. S. 43ff.). 30 Bergson (1908), S. 138.

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verleihen vermag. Daher können im Falle von Emma Bovary die romantischen Phantasien und der aus ihnen erwachsende Ehebruch einer Landarztfrau eine schicksalhafte Qualität gewinnen – als großes Beispiel des Unbehagens in der neuen bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts. Aber auch hier – und damit komme ich zu dem grundsätzlichen Argument – hat die Fokussierung des Textes auf die Erfahrungen des Individuums die Funktion einer Erweiterung des sozialen Imaginären. Die Darstellung des individuellen Schicksals im Medium der narrativen Fiktion hat auch in diesen Fällen zur Folge, dass es zum Gegenstand des gesellschaftlichen Interesses wird. Die Romane Balzacs, Flauberts und Zolas machen das Lebensschicksal einer Eug8nie Grandet, einer Emma Bovary oder einer Gervaise Lantier zu einem sozialen Faktum. Allerdings zeugt die narrative Gestaltung dieser Figuren auch von einer Transformation des sozialen Imaginären: Seine Relevanz beruht auf der Entstehung einer Gesellschaftskonzeption, in der das individuelle Verhalten nicht mehr primär im Hinblick auf seine soziale Verträglichkeit beurteilt wird, sondern in dem die individuelle Befindlichkeit nun zum Maßstab für die Qualität der sozialen Organisation geworden ist.31

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31 Bekanntlich ist einer der maßgeblichen Begründer dieser Gesellschaftskonzeption JeanJacques Rousseau, der der Gesellschaft seiner Zeit die Fiktion eines an den Bedürfnissen des Individuums ausgerichteten Naturzustands gegenüberstellt.

Der Roman als Medium des sozialen Imaginären

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Cevantes, Miguel de (2008), Der geistvolle Hidalgo Don Quijote de la Mancha, hrsg. und übers. von Susanne Lange, 2 Bde., München: Carl Hanser. Fischer-Lichte, Erika (21999), Geschichte des Dramas, 2 Bde., Tübingen: Francke. Hamburger, Käte (31977), Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Klett. Lukács, Georg (1994), Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, München: dtv. Matzat, Wolfgang (2013), »Comunidades imaginadas en el Don Quijote«, in: Sabine Friedrich/Stefan Schreckenberg/Ansgar Thiele (Hgg.), La modernidad de Cervantes. Nuevos enfoques tejricos sobre su obra (con una contribucijn de Jos8 Manuel Mart&n Moran), Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert, S. 137–150. Matzat, Wolfgang (2014), Perspektiven des Romans: Raum, Zeit, Gesellschaft. Ein romanistischer Beitrag zur Gattungstheorie, Stuttgart: Metzler. Moretti, Franco (1999), Atlas of the European Novel 1800–1900, London/NewYork: Verso. Szondi, Peter (1956), Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Taylor, Charles (1989), Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge (Mass.): Harvard University Press. Taylor, Charles (2003), Modern Social Imaginaries, Durham: Duke University Press. Taylor, Charles (2007), A Secular Age, Cambridge (Mass.): Harvard University Press. Watt, Ian (71995), The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding, London: Hogarth.

Claudia Jünke

Jenseits der Logik der Konkurrenz – Literatur und Film über traumatische Geschichte (Laurent Mauvigniers Des hommes und Michael Hanekes Caché)

1.

Einleitung: Literatur, Film und traumatische Geschichte

Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist die im vorliegenden Sammelband verhandelte Frage des Ortes und der Relevanz der Literatur in unserer Zeit des radikalen Medienwandels – eine Frage, die implizit die Literatur in einen Gegensatz zu anderen Medien wie etwa dem Film stellt. Die Frage ›Wozu Literatur?‹ scheint von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Literatur und Film auszugehen, das den Charakter eines Nullsummenspiels hat, bei dem die öffentliche Beachtung, die ein Medium auf sich ziehen kann, zu Lasten der Beachtung geht, die dem anderen Medium zuteilwird. Ich möchte in meinem Beitrag vorschlagen, das Verhältnis zwischen Literatur und anderen medialen Formen, namentlich dem Film, nicht als eines der Konkurrenz, sondern als eines der Komplementarität zu fassen, in dem das eine Medium das andere nicht blockiert, sondern vielmehr ergänzt und komplettiert. Die Frage nach der gesellschaftlichen und kulturellen Relevanz und nach dem ›Mehrwert‹ ist nämlich nicht nur für die Literatur, sondern auch für den Film relevant – sowohl was die äußeren Produktions- und Rezeptionsbedingungen betrifft als auch in Bezug auf das medienspezifische bedeutungsproduzierende Potenzial. Zum einen legitimieren sich auch die meisten Filme, zumal die ästhetisch komplexeren Werke, nicht unmittelbar durch ihre kommerzielle Verwertbarkeit, sondern sind auf öffentliche Förderung angewiesen und somit ebenfalls nicht unerheblichen – und im Vergleich zur Literatur ökonomisch gewichtigeren – Rechtfertigungszwängen unterworfen. Zum anderen hat jedes Medium seine besonderen Formen, Verfahren und Techniken der Sinnbildung, die ihm eigen sind und die nicht einfach ins jeweils andere Medium übertragen werden können – das Bedeutungspotenzial des Films ist ein anderes als das des literarischen Textes, dessen Funktionen er nicht einfach übernehmen kann. Die Komplementarität der beiden Medien Literatur und Film soll im Folgenden anhand einer spezifischen Thematik und anhand zweier exemplarischer Werke aus dem französischen Kontext genauer beleuchtet werden. Die Thematik ist die Dar-

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stellung von Trauma, speziell von traumatischen Kriegs- und Gewalterfahrungen, die mit dem Algerienkrieg verbunden sind; die beiden Beispiele sind der vom französischen Autor Laurent Mauvignier verfasste Roman Des hommes aus dem Jahr 2009 und der in Frankreich und in französischer Sprache gedrehte Spielfilm Cach8 des österreichischen Regisseurs Michael Haneke aus dem Jahr 2005. Die Untersuchung literarischer und filmischer Darstellung von Trauma eignet sich auch deshalb besonders gut für die Betrachtung der Fragen ›Wozu Literatur?‹ und ›Wozu Film?‹, da sie erhellen kann, wie die beiden Medien ein psychologisches und gesellschaftliches Phänomen repräsentieren, das gerade dadurch definiert ist, sich der Repräsentation zu entziehen. Um die literarische und filmische Darstellung von Trauma untersuchen zu können, ist es notwendig, von einer präzisen Bestimmung des Konzepts auszugehen.1 Eine der Gründungsfiguren der literatur- und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung, Cathy Caruth, stellt besonders drei Merkmale des Traumas heraus.2 Das erste Merkmal ist die ›Nachträglichkeit‹: Ein Trauma ist die nachträgliche Antwort auf ein überwältigendes schmerzhaftes Erlebnis, welches in Gestalt von wiederholten, intrusiven Bildern, Gedanken oder Verhaltensweisen erst zu einem späteren Zeitpunkt vom Subjekt Besitz ergreift. Ein Trauma zeichnet sich also durch die besondere Struktur seiner Erfahrung aus: Das katastrophische Geschehen wird nicht in dem Moment vollständig erlebt und erfahren, in dem es passiert, sondern erst nach einer Phase der ›inhärenten Latenz‹, mit Verzögerung und Verspätung. Im Trauma sind also Ereignis und Erfahrung des Ereignisses, die normalerweise zusammenfallen, räumlich und zeitlich voneinander getrennt. Damit verbunden ist ein zweites Merkmal, die ›Unmöglichkeit des Wissens‹. Nicht das Subjekt besitzt das Wissen über das schreckliche Ereignis, sondern das Ereignis ergreift Besitz vom Subjekt: »To be traumatised is precisely to be possessed by an image or event.«3 Das Trauma hat einen ›rätselhaften Kern‹4 ; das schmerzhafte Ereignis überwältigt das Subjekt, bleibt diesem aber unverfügbar ; das Subjekt kann das Ereignis nicht bezeugen. Hier knüpft Caruth an die Arbeiten von Dori Laub (1995) an, der in Bezug auf die Überlebenden des Holocaust von einem ›Kollaps der Zeugenschaft‹ spricht. Das dritte zentrale Merkmal ist schließlich die ›Buchstäblichkeit‹: Ein Trauma ist die nicht-symbolische, gewissermaßen wörtliche Wiederkehr des schmerzhaften Ereignisses, der nicht zeichenhaft vermittelte, erneute Einbruch der tatsächlichen leidvollen Realität. Im Trauma kommt also nicht etwas Verdrängtes zum Vorschein, sondern das 1 Zur literarischen Darstellung von Trauma im Kontext aktueller Ansätze der literaturwissenschaftlichen Traumaforschung vgl. auch Jünke (2017). 2 Vgl. Caruth (1995, 1996). 3 Caruth (1995), S. 4–5. 4 Caruth (1995), S. 5.

Literatur und Film über traumatische Geschichte

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Ereignis selbst. Anders formuliert: Das Ereignis wird nicht erinnert, sondern wiederholt. Insofern ist das Trauma für Caruth Symptom der ›Wahrheit‹ und der ›Geschichte‹. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie in Des hommes und in Cach8 Trauma literarisch bzw. filmisch in Szene gesetzt wird. Welche Möglichkeiten haben Literatur und Film, die ›Nachträglichkeit‹, die ›Unmöglichkeit des Wissens‹ und die die ›Buchstäblichkeit‹, die für die traumatische Erfahrung charakteristisch sind, mit ihren je spezifischen medialen Ausdrucksweisen darzustellen? Die vergleichende Betrachtung von Des hommes und Cach8 bietet sich deshalb an, weil die beiden Werke trotz ihrer unterschiedlichen medialen Formen und der unterschiedlichen Geschichten, die sie präsentieren, einige auffallende Gemeinsamkeiten haben. Beide befassen sich mit den traumatischen Auswirkungen des Algerienkrieges, dessen schmerzhaftes Erbe in der öffentlichen Diskussion in Frankreich bis etwa zur Jahrtausendwende kaum thematisiert wurde. Beide verknüpfen dabei die Ebene der individuellen Erfahrung mit der Ebene der kollektiven Erfahrung, speziell der gesellschaftlichen und intergenerationellen Aufarbeitung des schmerzhaften historischen Geschehens.5 Und beide fokussieren nicht die Traumatisierung der Opfer, d. h. derjenigen, die Gewalt erlitten haben, sondern der Täter, d. h. derjenigen, die Gewalt ausgeübt haben und für diese verantwortlich sind und die Jahrzehnte nach den gewaltsamen Ereignissen von diesen heimgesucht und mit ihrer Schuld konfrontiert werden.

2.

Laurent Mauvigniers Des hommes (2009)

Die äußere Handlung der in Des hommes erzählten Geschichte umfasst den Zeitraum von weniger als einem Tag. Sie setzt am Nachmittag ein, mit einer Feier in einem kleinen Ort in der französischen Provinz in den 1990er Jahren. Bernard, genannt Feu-de-Bois, ein Trinker und Außenseiter, der in einer Hütte am Ortsrand lebt, schenkt seiner Schwester Solange zum Geburtstag eine wertvolle Brosche. Der Rest der Familie fragt sich, woher ausgerechnet Bernard das Geld für ein solch wertvolles Geschenk hat, und plötzlich treten alte Familienkonflikte zu Tage. Die Situation eskaliert, als Bernard den einzigen aus Algerien stammenden Gast des Festes, Sa"d Chefraoui, aus rassistischen Motiven beleidigt, danach zu dessen Haus fährt und Chefraouis Familie massiv bedroht. Der IchErzähler Rabut, ein Cousin von Bernard und Solange und ebenfalls Gast auf der Feier, ist von den Geschehnissen irritiert und wird am Abend und vor allem in 5 Zum Nexus zwischen den Ebenen des Individuellen und des Kollektiven in Des hommes vgl. Eibl (2012) und in Cach8 vgl. Celik (2010) und Schyns (2012).

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der Nacht zunehmend von Bildern aus dem Algerienkrieg überwältigt, zu dem er und Bernard als junge Männer einberufen wurden. Die Erzählung gleitet langsam von der Gegenwart der 1990er Jahre in die Vergangenheit zu Beginn der 1960er Jahre hinüber und wandelt sich zugleich von einer Erzählung in der ersten zu einer Erzählung in der dritten Person, in der Rabuts und Bernards Erlebnisse in Algerien umfangreich evoziert werden. Am Ende des Romans kehrt die Geschichte noch einmal kurz auf die Gegenwartsebene zurück.

Die Zeitstruktur und die Rückkehr der Vergangenheit Des hommes handelt vom persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Algerienkrieg, der in Frankreich lange aus der öffentlichen Erinnerung ausgeblendet und erst im Jahr 1999 offiziell als ›Krieg‹ bezeichnet wurde. Der Autor präsentiert den Krieg als ein individuelles und kollektives Trauma, als ein schmerzhaftes Erlebnis, das bislang nicht vollständig bearbeitet und bewältigt wurde und das in der Gegenwart der 1990er Jahre eine gespenstische Präsenz entfaltet. Dabei ist die Zeitstruktur ein zentrales Instrument für die Inszenierung der für das Trauma charakteristischen Struktur nachträglicher Erfahrung. Die Erzählung basiert auf einem Spannungsverhältnis zwischen zwei Zeitebenen: der nur ca. zwanzig Stunden umfassenden Gegenwartsebene um die Ereignisse während und nach Solanges Geburtstagsfeier und der mehrere Monate umfassenden Vergangenheitsebene, die während des Algerienkriegs spielt. Dadurch, dass fast die ganze erste Hälfte des Romans auf der Gegenwartsebene situiert ist, wird die Vergangenheit als etwas präsentiert, das weder einfach vorliegt, noch unmittelbar zugänglich ist, sondern gleichsam ›hinter‹ der Gegenwart versteckt und verborgen bleibt.6 Rabuts Annäherung an diese Vergangenheit ist dabei nicht bewusst und intentional: Rabut erinnert sich nicht an die Vergangenheit, sondern die Vergangenheit drängt sich ihm gegen seinen Willen mehr und mehr auf; er wird zunehmend von ihr verfolgt, heimgesucht und in Besitz genommen. Die trigger, das heißt die Schlüsselreize, die die Vergangenheit unvermittelt und in Form von flashbacks wieder aufscheinen lassen, sind zum einen die Anwesenheit von Chefraoui auf Solanges Fest und zum anderen die Atmosphäre von Gewalt und Aggression, die dort plötzlich entsteht: Et puis. Parce que Chefraoui tout / coup 8tait l/, devant lui [Bernard], dans son champ de vision. Comme une image impossible venue de brouiller le r8el. Chefraoui souriait ou ne souriait pas, peu importe. On ne peut pas savoir. On sait d8j/. On sait depuis tout le temps. Depuis, je veux dire, depuis – c’est autre chose, ce temps-l/. Une chose comme Åa, que je pense, qui vient se glisser et brouiller ce moment de notre histoire oF tout / coup 6 Für eine vom Konzept der ›Latenz‹ geleitete Lektüre des Romans vgl. Schwarze (2016).

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elle est l/, comme un compte / r8gler vieux de quarante ans, un .ge d’homme pour nous regarder et nous dire non, ce n’est pas fini, on croyait que c’8tait fini mais ce n’8tait pas fini.7

Das ›tout / coup‹ zeigt die Unvermitteltheit an, mit der die Vergangenheit in die Gegenwart einbricht. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit erfolgt nicht in Form einer vom Subjekt gesteuerten Erinnerung, sondern in Form einer von subjektiver Kontrolle unabhängigen Infiltration. Chefraoui, der einzige Gast mit nordafrikanischen Wurzeln, wird für den Erzähler zum gespenstischen Wiedergänger jener Algerier, denen er und Bernard im Krieg begegnet sind und damit zu einer ›image impossible‹, zu einem ›unmöglichen Bild‹ in der Realität der 1990er Jahre. Vor allem in dieser Wendung kommt die ›Nachträglichkeit‹ des Traumas zum Ausdruck, die das schmerzhafte Erlebnis erst mit Verzögerung und in Gestalt von intrusiven Bildern zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort erfahrbar macht. Die im Zitat explizit benannte, für das Trauma typische Erfahrung einer Entdifferenzierung von Vergangenheit und Gegenwart, die den Einzelnen überwältigende Präsenz des Gestern im Heute wird auch an einer anderen Stelle deutlich, als sich der Erzähler selbst anspricht: Rabut, qu’est-ce que c’est, qu’est-ce que t’as, ce trouble, l/, toi qui pour rien au monde ne pardonnerais / Feu-de-Bois, qu’est-ce que c’est, pourquoi il y a derriHre la haine et le m8pris et ce vieux sentiment jamais calme contre lui, autre chose, pourquoi tu ressens autre chose, un autre mouvement, plus lointain, souterrain et qui monte et te murmure des mots malsains comme la peur, cette colHre aussi, non, c’est pas de la colHre, c’est quoi, qu’est-ce que c’est […].8

Mittels Verräumlichung der Zeit wird hier die Vergangenheit als ›unterirdische Bewegung‹ (›mouvement […] souterrain‹) vorgestellt, als etwas, das unter der Oberfläche der Gegenwart verborgen ist und langsam und unwillkürlich emporsteigt. Auch hier wird der Gedanke deutlich, dass die Vergangenheit dem Subjekt unverfügbar ist: Das Vergangene wird vom Subjekt nicht willentlich erinnert, sondern drängt sich ihm unwillkürlich auf. Auch an einer anderen Stelle des Textes thematisiert Rabut diese von ihm nicht kontrollierte Intrusion der Vergangenheitsbilder : »Åa continue malgr8 lui, les images de ce vieux temps.«9 In Des hommes trägt die Gestaltung der Zeitstruktur somit zur Darstellung der Traumatisierung des Erzählers bei: Zeit wird hier nicht als linearchronologische Abfolge von Geschehnissen vorgestellt; die Vergangenheit erscheint vielmehr als Tiefendimension der Gegenwart, die sich zunehmend Bahn bricht und an die Oberfläche tritt. 7 Mauvignier (2009), S. 42; Herv. C.J. 8 Mauvignier (2009), S. 86; Herv. C.J. 9 Mauvignier (2009), S. 254; Herv. C.J.

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Sprachlosigkeit und Schweigen Die beiden Zitate im letzten Abschnitt können darüber hinaus als Beleg für die zweite Strategie der literarischen Traumadarstellung herangezogen werden, nämlich für die im Roman immer wieder und auf verschiedene Weise thematisierte Sprachlosigkeit, die Konsequenz einer nicht verarbeiteten und bewältigten Geschichte ist. Diese verweist auf die für das Trauma charakteristische Dialektik von ›Überschuss‹ und ›Leere‹10 : Einerseits wird das Subjekt von in der Vergangenheit wurzelnden Bildern, Gedanken und Gefühlen überwältigt, anderseits versucht es, der Konfrontation mit diesen so weit wie möglich auszuweichen und diese zu vermeiden. Die ›Leere‹ äußert sich im Roman in Form von Sprachlosigkeit und Schweigen. Wie in den Zitaten deutlich wird, kann Rabut, dem sich die Vergangenheit des Algerienkrieges zwar unwillkürlich aufdrängt, diese jedoch nicht explizit benennen. Er weicht einer direkten sprachlichen Auseinandersetzung mit dem Krieg aus, vermeidet jede klare Bezeichnung und greift auf Umschreibungen zurück: er spricht von ›einer solchen Sache‹ (›une chose comme Åa‹) und ›jener Zeit‹ (›ce temps-l/‹). Wie für die französische Gesellschaft wird der Algerienkrieg auch für Rabut zu einer »guerre sans nom«11. Die Sprachlosigkeit angesichts der Vergangenheit kommt auch in dem stark elliptischen Sprachstil seiner Äußerungen zum Ausdruck (›Et puis‹, ›Depuis, je veux dire, depuis – c’est autre chose‹).12 Schließlich wird sie auch durch seine permanente Suche nach Worten und Antworten reflektiert (›qu’est-ce que c’est, qu’est-ce que t’as‹, ›c’est quoi, qu’est-ce que c’est‹). Rabut gelingt es nicht, das, was er erlebt hat, in Worte zu fassen und zu versprachlichen. Das Schweigen wird im Roman nicht nur – wie gerade gesehen – implizit in Szene gesetzt, sondern auch immer wieder explizit thematisiert. ›Silence‹ ist einer der rekurrenten Begriffe und eines der zentralen Motive des Textes; in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen wird auf das Schweigen hingewiesen, das zwischen den Figuren herrscht und das eine Bewältigung der traumatischen Vergangenheit verhindert.13 Darüber hinaus berichtet Rabut von den Reaktionen, als in den 1970er Jahren in seinem Ort die ersten maghrebinischen Einwanderer zu sehen waren und die Menschen deren traditionelle Kleidung exotisch fanden. In ihm und in den anderen ehemaligen Soldaten des Algerienkriegs löst die Begegnung mit den Immigranten jedoch andere Gefühle aus:

10 Vgl. Assmann/Jeftic/Wappler (2014), S. 11. 11 Rotman/Tavernier (2001). 12 Zum elliptischen Erzählen in Des hommes vgl. Faerber (2010) sowie zur Sprache Mauvigniers im Allgemeinen die Beiträge in Dürrenmatt/Narjoux (Hgg. 2012). 13 Vgl. z. B.: »Et puis, rien. Le silence.« (Mauvignier [2009], S. 92) oder »Et puis ce silence encore« (Mauvignier [2009], S. 106).

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Et, puis, pour nous autres, Åa avait 8t8 comme de revoir surgir des morts ou des ombres comme elles savent parfois revenir, la nuit, mÞme si on ne le raconte pas, on le sait bien, tous, / voir les autres des anciens d’Alg8rie et leur faÅon de ne pas en parler, de Åa comme du reste.14

Erneut findet sich hier der Gedanke des verspäteten und buchstäblichen Aufscheinens der Vergangenheit in der Gegenwart (›revoir surgir des morts‹), hier nun verbunden mit dem Aspekt des Schweigens: Rabut und die anderen haben nie über ihre Erfahrungen gesprochen.15 Darüber hinaus zeigt der Roman, dass das Schweigen über den Algerienkrieg nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension hat. Die ältere Generation möchte von den Algerien-Erfahrungen der Jüngeren nichts hören und wischt diese mit Verweis auf die eigenen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg beiseite: »C’8tait pas Verdun, votre affaire« (S. 113) – es wird gleichsam eine Hierarchie der Kriegserfahrungen etabliert, die die Bedeutung der Erfahrungen aus dem Algerienkrieg angesichts der Erfahrungen des Ersten, aber auch des Zweiten Weltkrieges herunterspielt. So kommt es dazu, dass nicht über den Algerienkrieg gesprochen wird und seine Erinnerung aus der öffentlichen Diskussion verschwindet: »L’Alg8rie, on n’en a jamais parl8.« (S. 232)16 Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen des Algerienkriegs und der Traumatisierung der Beteiligten wird so verhindert.

Fotografien und metaliterarische Reflexion Das dritte Element, das im Hinblick auf die Darstellung von Trauma in Des hommes betrachtet werden soll, sind die in der Geschichte thematisierten – fiktiven – Fotografien. Es handelt sich um Fotos, die Rabut in Algerien gemacht hat. Er und Bernard, die beide im Besitz von Aufnahmen aus dieser Zeit sind, gehen sehr unterschiedlich damit um. Bernard hat einige der Fotos, zum Beispiel das Bild des algerischen Mädchens Fathia, das er während des Krieges ken14 Mauvignier (2009), S. 87–88; Herv. C.J. 15 Im Unterschied zu Rabut, Bernard und anderen hat ihr ehemaliger Kamerad F8vrier Ende der 1960er Jahre das Bedürfnis, das Schweigen zu brechen und damit die Zeit in Algerien aufzuarbeiten und zu bewältigen: »F8vrier […] 8tait venu jusqu’ici me rendre visite, avec ce besoin qu’il avait eu de venir voir les vieux copains pour terminer quelque chose, avait-il racont8, qui lui restait sur le cœur.« (S. 114) und: »son envie de revoir les copains, c’8tait d’abord l’envie de dire tout ce qui / force de croupir en lui devenait insupportable, trop pr8sent, et qu’il s’8tait racont8 qu’en parlant avec des gens comme lui il pourrait, comme il avait dit, crever l’abcHs.« (S. 253) 16 Dies zeigt auch die Reaktion der Umwelt, als F8vrier über die von den Franzosen praktizierte Folter spricht: »Tais-toi, tais-toi, arrÞte, tais-toi, et les vieilles qui diraient, Åa suffit« (S. 251) – er wird aufgefordert, zu schweigen.

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nengelernt und mit dem er sich angefreundet hat, in seiner Hütte aufgehängt, als handle es sich um Familienfotos. Sie ersetzen die Bilder seiner eigenen Familie, etwa seiner Kinder, die nirgendwo in seiner Wohnung zu sehen sind. Rabut hingegen bewahrt die Fotos aus Algerien in einer Schachtel auf, die er im hintersten Winkel eines Schrankes deponiert. Für beide bedeuten die Fotografien eine Anklage, die an ihre Schuld und Verantwortung appelliert.17 Während Bernard die Fotos ausstellt und sich ihnen täglich aussetzt, versteckt Rabut sie hingegen und vermeidet so die Konfrontation mit dem, was sie zeigen.18 Beide Verhaltensweisen können als Manifestationen einer Traumatisierung gedeutet werden, und zwar als Ausdruck der beiden Phänomene von ›Überschuss‹ und ›Leere‹: Bernards ›Überschuss‹ an Bildern erweist sich als eine traumatische Fixierung auf das überwältigende Ereignis; Rabuts ›Leere‹ hingegen als traumatische Vermeidungsstrategie. Die Fotos haben jedoch noch eine weitere, und zwar eine medienreflexive Funktion. Als er nachts von den Gespenstern der Vergangenheit heimgesucht wird, holt Rabut die alten Aufnahmen wieder hervor. Dies kann zum einen als Anzeichen verstanden werden, dass er nun bereit ist, sich mit den Gespenstern der Vergangenheit auseinanderzusetzen und das Geschehene zu verarbeiten. Zum anderen erkennt er aber, dass die Fotos eine zentrale Leerstelle implizieren. Rabut fragt sich nämlich, wo auf diesen Fotos, die während des Krieges gemacht wurden, eigentlich der Krieg zu sehen ist: »Mais elle est oF, la peur au ventre? Pas sur les photos. Aucune d’elles ne parle de Åa. […] soleil, beaux paysages, la mer, les habits folkloriques et des paysages de vacances pour garder un coin de soleil dans sa tÞte, mais la guerre, non, pas de guerre« (S. 262–64). Einerseits verweist das fotografische Bild aufgrund seines ikonischen Charakters und der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Signifikanten und Signifikat in höherem Maße auf die Realität als die mit symbolischen Zeichen operierende Literatur. Andererseits ist der Krieg auf den Fotos aus Algerien, die aussehen wie Urlaubsbilder, gerade das Abwesende, das sich der Repräsentation entzieht. Auch die Fotos schweigen also – ›aucune d’elles ne parle de Åa‹. Damit können die intradiegetisch thematisierten Fotos auch als Moment der literarischen Selbstreflexion aufgefasst werden: die Literatur vermag das zu zeigen, was auf den Bildern ausgespart ist beziehungsweise was Bilder gar nicht wiedergeben können: subjektive Gefühle, Empfindungen und Zustände wie die allgegenwärtige Angst, die die Soldaten begleitet. Dem Schweigen der Fotografien, dem Schweigen der Soldaten und dem Schweigen der Gesellschaft setzt Mauvignier also eine lite-

17 In Bezug auf das Foto von Fathia wird dies explizit: »son regard c’8tait comme une accusation. Comme si elle nous rendait responsables de sa mort, de tout, de la guerre.« (S. 258) 18 Vgl. zur Bedeutung der Fotos in Des hommes auch Ruhe (2013).

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rarische Sprache entgegen, die die Schrecken der Vergangenheit auslotet und zu kommunizieren vermag.

3.

Michael Hanekes Caché (2005)

Dem Roman von Mauvignier soll nun Michael Hanekes Film Cach8 vergleichend gegenübergestellt werden. Der Film handelt von dem gut situierten, bürgerlichintellektuellen Pariser Ehepaar Georges und Anne Laurent (gespielt von den beiden französischen Stars Daniel Auteuil und Juliette Binoche), deren vermeintlich perfektes Leben eines Tages dadurch erschüttert wird, dass ihnen eine Videokassette zugeschickt wird, auf der zwei Stunden lang die Ansicht ihres Hauses von der gegenüberliegenden Straßenseite aus zu sehen ist – wie von einer Überwachungskamera gefilmt. Es folgen weitere Videobänder, die persönlicher werden und die Georges zu dem aus einer algerischen Familie stammenden Majid und damit zu einer dunklen Episode aus seiner Kindheit führen. Majid hatte als Kind eine Zeitlang auf dem Hof von Georges Familie gelebt, nachdem seine Eltern bei dem Pariser Massaker vom 17. Oktober 1961 ums Leben gekommen waren. An diesem Tag war die Pariser Polizei brutal gegen eine von der algerischen Unabhängigkeitsbewegung initiierte Demonstration von Algeriern vorgegangen, bei der wahrscheinlich um die 200 Personen getötet wurden. Aus Angst um seine privilegierte Position innerhalb der Familie hatte Georges Majid damals bei seinen Eltern in Misskredit gebracht, unter anderem indem er Majid dazu angestiftet hat, mit einer Axt einem Hahn den Kopf abzuhacken. Daraufhin wurde Majid in ein Waisenhaus gegeben und verschwand aus Georges Leben. Obwohl Georges sich zunehmend einen Reim auf die Filme macht, erzählt er Anne nichts von seinen Vermutungen und von Majid. Er sucht Majid in seiner Wohnung am Pariser Stadtrand auf, doch dieser bestreitet, der Urheber der Filme zu sein. Als Georges Majid zum zweiten Mal besucht, bringt dieser sich unvermittelt vor Georges Augen um, indem er sich mit einem Messer die Kehle durchschneidet. Bis zuletzt wird nicht aufgeklärt, wie die Videos tatsächlich entstanden sind – der Zuschauer bleibt im Ungewissen darüber, wer die Filme gemacht hat und ob überhaupt eine intradiegetische Instanz für sie verantwortlich ist.

Intrusive Bilder und die Gespenster der Vergangenheit Wie im Roman von Mauvignier wird auch in Cach8 der Algerienkrieg als Ursprung eines individuellen und kollektiven Traumas präsentiert, das nicht ver-

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arbeitet wurde und in der Gegenwart eine gespenstische Präsenz entfaltet.19 Anders als in Mauvigniers Roman, der den Krieg ausführlich thematisiert, ist dieser im Film nur sehr punktuell und implizit präsent, in den Auswirkungen des Pariser Massakers vom 17. Oktober 1961 auf die nachfolgende Generation, konkret auf das Leben von Majid und Georges. Dennoch hat das historische Geschehen eine essenzielle Bedeutung für die sich zwischen den Figuren entwickelnde Dynamik sowie für die Thematik des Films. Fokussiert wird indes nicht Majids traumatischer Verlust erst seiner Eltern und dann seiner Pflegeeltern, sondern Georges Denunziation, die nicht nur weitreichende Konsequenzen für den Verlauf von Majids weiterem Leben hatte, sondern offensichtlich auch für Georges ein einschneidendes Ereignis war. Im Film wird dies über die Inszenierung der bereits angesprochenen, für das Trauma typischen und schon in Bezug auf Mauvignier erläuterten Dialektik von ›Überschuss‹ und ›Leere‹ vermittelt. Zum einen ist das, was in seiner Kindheit geschehen ist, offensichtlich eine Leerstelle in Georges’ Leben. Er hat sich nie mit den Folgen seines Handelns für das Schicksal des Anderen auseinandergesetzt. Dies reflektiert vor allem sein Schweigen über die Vergangenheit, das wie in Des hommes die Unfähigkeit anzeigt, das Vergangene zu bewältigen und die eigene Schuld anzuerkennen. Georges hat Anne gegenüber nie von seiner Kindheit mit Majid erzählt, und auch als er zunehmend den Verdacht hat, Majid könne die Filme geschickt haben, erwähnt er dies ihr gegenüber – trotz ihrer Nachfragen – mit keinem Wort: »[Anne:] Qu’est-ce qu’il y a? Qu’est-ce qui se passe? Georges? [Georges:] Comment Åa? Rien… Je suis fatigu8.« (12:55–13:12) Nachdem er Majid aufgesucht und ihn zur Rede gestellt hat, lügt er Anne an, indem er behauptet, er habe in der Wohnung niemanden angetroffen. Und als Anne wissen will, was genau er denn seinen Eltern über Majid erzählt hat, um diesen loszuwerden, antwortet er : »Je ne m’en souviens plus.« (59:37–59:38) Auch gegenüber Majid und dessen Sohn verweigert sich Georges dem Gespräch über die Vergangenheit. Beide möchten mit ihm reden, doch er geht nicht auf den Kommunikationswunsch ein – im Gegenteil: Er geht sofort zum verbalen Angriff über und verfällt in Drohungen. Ist sein Handeln in der Vergangenheit aufgrund der Tatsache, dass er noch ein Kind war, verzeihlich, so erscheint sein Handeln als Erwachsener als schuldhaftes Ausweichen vor der eigenen Verantwortung, die er gegenüber Majids Sohn nach Majids Selbstmord explizit von sich weist: »Je n’en suis pas responsable.« (1:40:59–1:41:00) Auf einer kollektiven Ebene kann Georges metonymisch als Verkörperung der französischen Gesellschaft insgesamt aufgefasst werden, die die Gewalt des 17. Oktobers 1961 und – allgemeiner – die 19 Für eine Analyse des Films im Licht der Traumatheorie vgl. auch Austin (2007) und vor allem Virtue (2011).

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Gewaltgeschichte von Frankreichs Kolonialerbe verdrängt und verschwiegen hat und die lange Zeit ebenso wenig dazu in der Lage war, die Vergangenheit aufzuarbeiten und sich der Verantwortung zu stellen.20 Dieser vom Schweigen und von der Sprachlosigkeit verkörperten ›Leere‹ steht der ›Überschuss‹ gegenüber, der vor allem durch die Gestaltung der Bildebene des Films inszeniert wird. In Cach8 lassen sich grundsätzlich drei zentrale Bildtypen unterscheiden, die auf unterschiedlichen Realitätsebenen angesiedelt sind. Erstens die ›diegetischen Bilder‹, die die Geschichte, die in Cach8 präsentiert wird, konstituieren; zweitens die ›intradiegetischen Bilder‹ der Filme im Film, die Georges zu Majid führen; drittens die nur punktuell erscheinenden und zumeist farblich von den anderen unterschiedenen ›Erinnerungsbilder‹, die Georges’ Erinnerungen an seine Kindheit mit Majid visualisieren und sich zumeist in der Nacht – entweder im Traum oder wenn er nicht schlafen kann – manifestieren.21 Erst durch die Filme im Film wird Georges mit der lange verdrängten Gewalt seiner Kindheit konfrontiert. Haben die ersten Aufnahmen, die Georges und Anne geschickt werden, noch den Charakter von Bildern einer statischen Überwachungskamera, die auf ihr Haus gerichtet ist, so werden die nachfolgenden Aufnahmen zunehmend persönlicher (sie zeigen zum Beispiel sein Elternhaus) und weisen Georges einen Weg in seine Vergangenheit. Durch die Filme im Film bricht die beunruhigende Vergangenheit in die an der Oberfläche makellos erscheinende Gegenwart ein, in der sie eine gespenstische Präsenz entfaltet. Die Videoaufnahmen sowie die Zeichnungen, die den Bändern teilweise beigelegt sind,22 haben den Charakter von intrusiven Bildern, die andere intrusive Bilder, nämlich die ›Erinnerungsbilder‹ unwillkürlich aufscheinen lassen – Bilder, die Georges überwältigen und mit denen er nicht fertig werden kann. Die Tatsache, dass der Film die Antwort auf die Frage nach der Urheberschaft der Bänder und der Zeichnungen verweigert und dass ganz offensichtlich keine der Figuren innerhalb der Diegese die Filme angefertigt hat,23 unterstreicht Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit der auf die Vergangenheit verweisenden traumatischen Bilder, die sich der Kontrolle und Verfügbarkeit des Subjekts entziehen: Georges kann sich weder dagegen wehren, noch ist er dazu in der Lage, sich mit dem in der Vergangenheit Geschehenen auseinanderzusetzen – die 20 Vgl. zu dieser Lesart Celik (2010), Virtue (2011) und Schyns (2012). 21 Ein vierter Typus, der allerdings im Vergleich zu den oben Genannten weniger konstitutiv ist und dessen Funktion hier nicht genauer kommentiert werden kann, sind die Fernsehbilder, die im Film gezeigt werden (Nachrichtensendungen, die bei Georges und Anne im Fernseher laufen sowie Aufnahmen von Georges’ eigener Fernsehsendung – er ist Moderator einer Literatursendung). 22 Die wie Kinderzeichnungen wirkenden Bilder zeigen ein Gesicht, aus dessen Mund Blut fließt und einen geköpften Hahn. 23 Dass die Videobänder von keiner Figur, sondern wie ›von Geisterhand‹ gemacht sind, weist Kaul (2009) nach.

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unbewältigte Vergangenheit nimmt so sehr von ihm Besitz, dass sein Selbst zunehmend zerfällt. Dies zeigt vor allem sein Verhalten, nachdem er Zeuge von Majids Selbstmord wurde: er zieht sich ins Schlafzimmer zurück, verdunkelt das Zimmer, nimmt Schlaftabletten und legt sich ins Bett. Georges veranschaulicht also die zerstörerischen Auswirkungen eines Traumas, das nicht bewältigt wurde.

Schockierende Bilder und metafilmische Reflexion Für die filmische Darstellung des Traumas ist jedoch nicht nur die narrative Funktion der Bilder relevant, sondern auch deren visuelle Gestaltung sowie die filmische Mise en ScHne. Auf allen drei oben differenzierten Bildebenen nutzt Haneke die Schockwirkung, die filmische Bilder hervorrufen können, um die ›Buchstäblichkeit‹ des Traumas in Szene zu setzen. Cach8 enthält zwei Szenen, in denen die Gewalt, die die Beziehung zwischen Georges und Majid prägt, explizit visualisiert wird. Die eine Gewaltszene ist auf der Ebene der Erinnerungsbilder situiert und zeigt, wie Madjid als Kind dem Hahn mit einem Beil den Kopf abschlägt, während Georges zuschaut; das Tier flattert anschließend noch sekundenlang kopflos durch den Hof. Diese Szene stellt gleichsam die ›Urszene‹ von Georges’ Traumatisierung dar ; es ist die Szene, von der Georges später verfolgt und heimgesucht wird. Zugleich macht diese Szene auch die medialen Differenzen zwischen Literatur und Film im Hinblick auf die Darstellung des Traumas, speziell von dessen spezifischer Zeitstruktur, deutlich. Bei Mauvignier wird durch das a-chronologische Erzählen und die Verwendung verschiedener grammatikalischer Zeitstufen das sukzessive Einbrechen der ›hinter‹ der Gegenwart verborgenen Vergangenheit dargestellt. Im Gegensatz zum Schriftmedium Literatur verfügt das Bildmedium Film über kein genuines Vergangenheitstempus – filmische Bilder sind grundsätzlich erst einmal Gegenwart. Im Film kann das Attribut ›Vergangenheit‹ nur durch zusätzliche Gestaltungsmittel erreicht werden, im Fall von Cach8 durch die Unterschiede in der Farbgebung der Bilder und durch die Tatsache, dass diese zwei Kinder zeigen, in denen der Zuschauer Georges und Majid erkennen kann. Jedoch kann der Film gerade durch seine Beschränktheit auf den präsentischen Modus in höherem Maße Vergangenheit gegenwärtig machen, eine vergangene Zeit in der Gegenwart quasi ›tatsächlich‹ zurückgewinnen und sie wieder aufscheinen lassen. So wird die für das Trauma charakteristische ›Buchstäblichkeit‹ der Wiederkehr des schmerzhaften Ereignisses inszeniert – Georges ist in diesem Moment erneut das Kind und erlebt die blutige Tat erneut.24 24 Deutet man den Film wie oben erwähnt auch als Kommentar zu Frankreichs (mangelhafter)

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Die andere Szene, in der Gewalt auf sehr ausdrückliche Weise gezeigt wird, ist diejenige von Majids Selbsttötung mittels des Schnitts durch die Kehle – ein Akt, der zum einen in seiner Explizitheit schockierend ist, und zum anderen aufgrund der Unvermitteltheit der schrecklichen Tat.25 Auch in dieser Szene wird die Idee umgesetzt, dass im Trauma Vergangenheit nicht erinnert, sondern buchstäblich wiederholt wird. Majids Geste in der Gegenwart, der Schnitt durch die Kehle, wirkt wie die traumatische und gespenstische Wiederholung seiner früheren Geste, des Schnitts durch die Kehle des Hahns. Für Georges, der in beiden Szenen der nicht unschuldige aber dennoch hilflose Betrachter ist, scheint sich die Vergangenheit in der Gegenwart zu wiederholen. Indem er bei Majids Selbstmord zugegen ist, erfährt er eine zweite Traumatisierung; erneut ist er Zeuge eines schockierenden Aktes der Gewalt, den er nicht verarbeiten kann. Beide Gewaltszenen erlebt Georges als Zeuge und Betrachter. Damit wird er auch zum intradiegetischen Stellvertreter des Zuschauers, der auf seine eigene Rolle als Zeuge und Betrachter der filmischen Wirklichkeit verwiesen wird. Haneke verbindet die Darstellung traumatischer Erfahrung somit mit einer Reflexion auf sein eigenes Medium, auf die Rolle des Zuschauers und auf die ›Wahrheit‹ der filmischen Bilder. Besonders deutlich kommt dies in der ersten Begegnung zwischen Georges und Majid als Erwachsenen zum Ausdruck, die im Film zweimal gezeigt wird. Das erste Mal erscheint sie als diegetische Realität; hier orientiert sich das Gezeigte an Georges’ Perspektive (vgl. Abb. 1). Das zweite Mal handelt es sich um die filmische Abbildung der diegetischen Realität in Gestalt der Videoaufnahme, die sich Georges und Anne anschließend gemeinsam ansehen. Hier wird die gleiche Situation aus der Perspektive der filminternen, heimlichen Überwachungskamera gezeigt, die auch die Geschehnisse in Majids Wohnung aufzeichnet (vgl. Abb. 2). Georges ist nun nicht mehr die Wahrnehmungsinstanz, sondern selbst (auf der linken Seite) im Bild zu sehen. Der Zuschauer wird durch diese und andere Sequenzen auf die ›Gemachtheit‹ des Films hingewiesen; die Filme im Film haben die Funktion, die Fiktionsillusion zu durchbrechen und dem Betrachter sein eigenes Zuschauer-Sein und möglicherweise auch seine eigene ›Schuld‹ bewusst zu machen. Sie provozieren nicht nur einen ›Riss‹ im vermeintlich perfekten Leben des Protagonisten, sondern auch einen ›Riss‹ in den Sehgewohnheiten des Publikums.

Auseinandersetzung mit seinem Kolonialerbe, dann liegt es nahe, dem Hahn eine symbolische Dimension zuzuschreiben: Majid, der von der französischen Gesellschaft marginalisierte Sohn algerischer Immigranten, die dem französischen Staat zum Opfer gefallen sind, übt Rache an Frankreich und erledigt den coq gaulois. 25 Zur Bedeutung des ›Schnitts‹ in Cach8 vgl. Silverman (2010).

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Abb. 1: Cach8, 49:55

Abb. 2: Cach8, 54:37

4.

Schluss: Versteckte Wahrheiten und das Wissen der Fiktion

Die Analysen des Romans von Laurent Mauvignier und des Films von Michael Haneke haben am Beispiel der fiktionalen Verarbeitung von traumatischer Geschichtserfahrung die Komplementarität der Medien Literatur und Film aufgezeigt und darüber hinaus vielleicht eine Antwort auf die Fragen ›Wozu Literatur?‹ und ›Wozu Film?‹ gegeben. Die beiden Werke setzen ihre jeweiligen medialen

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Formen, Verfahren und Darstellungsmöglichkeiten ein, um – möchte man den Titel von Hanekes Film aufgreifen – die ›versteckten‹ Wahrheiten einer nicht bewältigten Vergangenheit aufzudecken und um auszuloten, wie das eigene Medium die verborgene Geschichte, die verdrängte Schuld und das individuelle und kollektive Trauma erzähl- und sichtbar machen kann. Des hommes nutzt die der Literatur zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Zeitdarstellung, um das Wieder-Aufscheinen der Vergangenheit in der Gegenwart zu präsentieren. Auf sprachlicher Ebene wird darüber hinaus die Unfähigkeit des Erzählers inszeniert, die als schmerzhaft erlebte Vergangenheit zu benennen und zu konfrontieren. Mit dem intermedialen Bezug auf die Fotografie wird schließlich eine selbstreflexive Ebene etabliert, auf der im Hinblick auf die Darstellung der Schrecken der Vergangenheit dem Potenzial der Literatur das Unvermögen der fotografischen Bilder gegenübergestellt wird. Cach8 hingegen bedient sich in verschiedener Hinsicht gerade der Macht der Bilder, um das Trauma darstellbar zu machen. Die Videobänder haben den Charakter von intrusiven Bildern, die den Einbruch einer latenten, mit Gewalt und Schuld behafteten Vergangenheit markieren. Vor allem die Gewaltszenen haben die Funktion, die ›Buchstäblichkeit‹ des Traumas in Szene zu setzen. Und auch der Film hat eine selbstreflexive Dimension, die das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit in Frage stellt und dem Zuschauer sein eigenes Zuschauer-Sein und möglicherweise seine Schuld bewusst macht. Auf je spezifische Weise nähern sich also Des hommes und Cach8 dem ›rätselhaften Kern‹ des Traumas und stellen der für das Trauma typischen ›Unmöglichkeit des Wissens‹ das Wissen der Literatur und des Films entgegen.

Filmverzeichnis Cach8, dir. Michael Haneke (2005), Frankreich/Deutschland/Österreich/Italien (DVD: Quality Film Collection, Niederlande).

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Patricia Oster-Stierle

Aschenbach im Fokus oder vom Nutzen der hermeneutischen Fokalisierungstheorie. Die »seltsame Traumlogik« des Protagonisten in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig

Die drei Jubilare Willi Jung, Paul Geyer und Winfried Wehle haben jeder auf seine Weise bedeutende Beiträge zur Literaturwissenschaft vorgelegt und gezeigt, dass sie Augen öffnen kann und ein Werk erst wirklich erschließt. Der folgende Beitrag fragt nach der Aufmerksamkeitssteuerung durch die Fokalisierung im Text. Als Beispiel soll Thomas Manns Novelle Tod in Venedig dienen, die eine sehr komplexe Fokalisierung aufweist.1 Weil die Fokalisierungsstrategie im Zentrum steht, wird davon abgesehen, auf die reichhaltige Literatur zum Tod in Venedig im Einzelnen einzugehen.

I Die Theorie der Fokalisierung, die aus der strukturalen Erzähltheorie in Frankreich hervorgegangen war, dreht sich seit langem nur mehr im Kreis. Zwar sind ihre Differenzierungen immer feiner geworden, aber in einem gleichsam hermetisch abgeschlossenen Theoriebereich. Im Folgenden soll versucht werden, die epistemologische Erstarrung der Theorie erzählerischer Fokalisierung aufzubrechen. Dies scheint insbesondere durch die Öffnung der Fokalisierungstheorie auf das Problem der Relevanz möglich. Der Neologismus »focalisation«, der seine Fruchtbarkeit für literaturtheoretische Fragestellungen bereits unter Beweis gestellt hat, wurde von G8rard Genette in seiner 1972 veröffentlichen Studie Discours du r8cit geprägt. Mit Hilfe 1 Paul Geyer hat die Rolle des Blicks in Jean-Paul Sartres Philosophie, die im Rahmen der Fokalisierungstheorie eine große Bedeutung erhält, in seinem autobiographischen Roman Les Mots untersucht, vgl. Geyer (2001). Willi Jung hat am Beispiel von Camus’ Roman La Chute, der für Sartre sein gelungenstes Werk war, gezeigt, wie das Verhältnis von Autor, Leser und Text durch eine ganz eigene Fokalisierung revolutioniert wird, vgl. Jung (2013), S. 197–200. Der dritte Jubilar dieser Festschrift, Winfrid Wehle, imaginiert in seinem Text »Trödelladen Wirklichkeit« eine Begegnung zwischen Thomas Mann und Moravia, vgl. Wehle (2012), S. 72–75.

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eines neuen Begriffsapparats versucht Genette, die Kategorien der Wahrnehmung und des Erzählvorgangs zu unterscheiden. »Wer ist der Erzähler?« und »Welche Person liefert den Blickwinkel, der für die narrative Perspektive maßgebend ist?« »Qui parle?« und »Qui voit?« oder »Qui perÅoit?«, wie es in einer späteren Neuformulierung heißt.2 Mieke Bal hat ergänzt, dass man zwischen Fokalisiserungsinstanzen und Fokalisierungsobjekten differenzieren muss.3 Genettes klassifikatorisches Gerüst von »focalisation z8ro«, »focalisation interne« und »focalisation externe«, das die Forschung bis heute immer weiter terminologisch ausdifferenziert hat, wird aber der ästhetischen Wirklichkeit dessen, was man in Erzähltexten Fokalisierung nennen kann, nicht gerecht.4 Führt man den Begriff zunächst auf seine allgemein physikalische Bedeutung zurück, so bezeichnet er die Bündelung von Lichtstrahlen in einem bestimmten Punkt. In der Perspektive der Optik ist der Vorgang der Fokalisierung die visuelle Fixierung auf einen Bereich, der in aller Klarheit und Deutlichkeit erscheint, während andere Bereiche verschwommen oder nicht sichtbar bleiben. Überträgt man dieses Anschauungsfeld auf die Kunst, so treten die ästhetischen Bedingungen der Bindung von Aufmerksamkeit und Fragen nach der Relevanz in den Blick, wie sie der Husserl nahestehende Alfred Schütz in seiner Relevanztheorie entwickelt hat.5 Wie kann das Kunstwerk eine »selektive Aufmerksamkeit des Bewußtseins«6 konditionieren? Wie wird der »Blickstrahl« gelenkt und die Aufmerksamkeit im Erzählprozess mit Hilfe der Fokalisierung gebunden?7 Darauf gibt die Frage Genettes »qui voit?« nur eine unzureichende Antwort. Es scheint deshalb sinnvoll, die Klassifikatorik der strukturalistischen Fokalisierungstheorie durch eine hermeneutische Perspektive zu ergänzen, die den Fragen nach der medialen Realisierung von Aufmerksamkeitssteuerung im Kunstwerk Rechnung trägt. Genette hat seine Klassifikatorik vor dem Hintergrund einer existentialistischen Philosophie des Blicks entwickelt, von der er sich bewußt distanziert.

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Vgl. Genette (1983), S. 51. Vgl. Bal (1983), S. 250. Vgl. Oster (2003). Vgl. Schütz (1971). Schütz (1971), S. 22. Vgl. Schütz (1971): »Der erste Gegenstand unserer Analyse ist das Bewußtseinsfeld, insofern es durch einen thematischen Kern gegliedert ist, der sich vom umgebenden Horizont abhebt und in jedem ›jetzt‹ der inneren Zeit (der Dauer) gegeben ist. Husserl (Ideen I, S. 77–79, hier S. 92) erforschte die Funktionen des Phänomens, das er den ›Blickstrahl‹ nannte und das den thematischen Kern konstituiert, wodurch das ganze Bewußtseinsfeld strukturiert wird. In jedem Augenblick mache ich gleichzeitig viele Erfahrungen. Die Tatsache, daß ich mich freiwillig der einen oder andern zuwende, oder auf sie reflektiere, konstituiert einen dieser simultan in der Zeit verlaufenden Erfahrungsakte (oder besser eine ganze Reihe dieser Erfahrungen) zum Thema.« (S. 30).

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Denn er bezieht sich zwar ausdrücklich8 auf die im Zeichen von Sartres L’Etre et le N8ant stehende Analyse des Blicks bei Jean Pouillon,9 indem er Pouillons Unterscheidung von »vision avec«, »vision par derriHre«, und »vision du dehors« in eine neue Begrifflichkeit übersetzt, aber die existentialistischen Voraussetzungen, unter denen Pouillons Differenzierung der Blicksteuerung steht, werden von ihm ausgeblendet. Pouillon stellt die Frage nach dem Blick des Lesers vor dem Hintergrund von Sartres Reflexionen über die essentielle Bedeutung des Blicks für die Konstitution des Subjekts, das der Problematik seiner Existenz in dem Augenblick eines »Þtre vu par autrui« innewird.10 In Temps et roman nimmt er ausdücklich auf Sartres Philosophie des Blicks bezug: »Si l’on veut comprendre comment nous avons 8t8 amen8 / certains de ces r8flexions, nous ne pouvons que renvoyer / l’Etre et le N8ant de Jean-Paul Sartre.«11 Für Pouillon zeichnet sich die Literatur dadurch aus, dass sie gerade die Situation des beim Blicken erblickt Werdens, des »regard regard8«12 auszuschließen scheint: Que nous soyons ›avec‹ le h8ros ou qu’il soit pour nous un ›autre‹, s’il existe pour nous, nous n’existons pas pour lui: je le regarde, mais il ne peut me regarder. Il n’y a donc entre lui et moi que la moiti8 de la compr8hension r8elle, car l’›autre‹ r8el est un Þtre capable de me faire exister pour lui comme je le fais exister pour moi. Je r8alise donc / l’8gard de l’›autre‹ romanesque le triomphe qui m’est interdit / l’8gard de l’autre r8el : je le possHde dans une possession qui ne risque pas d’Þtre mise en question par lui.13

Pouillons Frage nach dem Blick des Lesers geht weit über das rein klassifikatorische Modell hinaus, auf das es Genette reduziert, weil er existentielle Modi der Wahrnehmung und ihre Relevanz für das Kunstwerk herauszustellen sucht. Weniger die gewählte Erzählperspektive oder der »point of view« als die Motivation und Relevanz des Blicks stehen im Vordergrund seiner Reflexion.

II Die mediale Realisierung von Aufmerksamkeitssteuerung in der literarischen und kinematographischen Fokalisierung soll nun am Beispiel der Novelle Thomas Manns und ihrer filmischen Transposition durch Luchino Visconti in den Blick treten. In Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig wird der implizite Leser einem 8 9 10 11 12 13

Vgl. Genette (1983), S. 206 (note 3). Vgl. Pouillon (1946), S. 69–151. Vgl. Pouillon (1946), S. 296. Pouillon (1946), S. 151. Pouillon (1946), S. 305. Pouillon (1946), «Modes de la compr8hension», S. 150.

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Relevanzkonflikt ausgesetzt, der in der Spannung zwischen zwei divergierenden Fokalisatoren besteht. Konstruiert der nicht unironische und sich immer weiter vom Helden entfernende Erzähler einerseits eine von Kausalität geleitete histoire, so wird andererseits auf der Ebene des discours im Blick des wahrnehmenden Protagonisten Aschenbach eine andere Relevanzerfahrung zum Ausdruck gebracht. Zunächst lenkt der Erzähler den Blick des impliziten Lesers. Er beschreibt umschweifig den nachmittäglichen Spaziergang des Schriftstellers, der ihn zu einem Friedhof führt, der seinen Blick bannt: […] hinter den Zäunen der Steinmetzereien, wo zu Kauf stehende Kreuze, Gedächtnistafeln und Monumente ein zweites unbehaustes Gräberfeld bilden, regte sich nichts, und das byzantinische Bauwerk der Aussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abendglanz des scheidenden Tages. Ihre Stirnseite, mit griechischen Kreuzen und hieratischen Schildereien in lichten Farben geschmückt, weist überdies symmetrisch angeordnete Inschriften in Goldlettern auf, ausgewählte, das jenseitige Leben betreffende Schriftworte, wie etwa ›Sie gehen ein in die Wohnung Gottes‹ oder ›Das ewige Licht leuchte ihnen‹. Und der Wartende hatte während einiger Minuten eine ernste Zerstreuung darin gefunden, die Formeln abzulesen und sein geistiges Auge in ihrer durchscheinenden Mystik sich verlieren zu lassen […].14

Der Blick des Lesers folgt den Augen Aschenbachs, der angezogen wird von dem bereits an den Markusdom erinnernden byzantinischen Bauwerk der Aussegnungshalle und den auf ihrer Stirnseite symmetrisch angeordneten Inschriften, deren »Schriftworte«, da sie zitiert werden, der Leser ebenso lesend wahrnimmt, wie Aschenbach selbst. Da der Erzähler zuvor aber bereits den Blick auf die »zu Kauf stehenden Kreuze« auf dem Friedhofsgelände gelenkt hatte, erscheinen die in ihrer Materialität ausgestellten »Goldlettern«: »Sie gehen ein in die Wohnung Gottes« und »Das ewige Leben leuchte ihnen« in einer alltäglichen, ja banalen Beleuchtung. Dies wird besonders durch die pragmatische Formulierung »das jenseitige Leben betreffende Schriftworte« und den die Beliebigkeit der Auswahl unterstreichende Zusatz des Erzählers »wie etwa« und »oder« akzentuiert. An dieser Stelle kommt es jedoch zu einem Relevanzkonflikt. Denn der zunächst mit dem substantivierten Adjektiv aus der Perspektive des Erzählers als »der Wartende« wahrgenommene Aschenbach nimmt die Schrift anders wahr, als es dem vom Erzähler konditionierten impliziten Leser15 zunächst suggeriert wird. Die als »Formeln« denunzierten Schriftworte erhalten für ihn eine andere Relevanz, weil er gleichsam durch sie hindurch auf eine tiefere Schicht sieht, die vor seinem »geistigen Auge« erscheint. Der »Blickstrahl«, der im Sinne Husserls sein »Bewusstseinsfeld« konditioniert, wird an dieser Stelle noch nicht ausdrücklich, aber das Wortfeld des Todes, das bereits die ersten Seiten der Novelle bestimmt, 14 Mann (2008), Der Tod in Venedig, S. 10f. 15 Iser (1972).

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nimmt gleichsam bereits das Ende Aschenbachs in dieser Todesahnung und trivialisierten Prophezeiung »Sie gehen ein in die Wohnung Gottes« vorweg. Zu diesem frühen Zeitpunkt bleiben die Buchstaben in »ihrer durchscheinenden Mystik« für Aschenbach unlesbar. Im Text deutet sich unter dieser – man könnte in Analogie zu Freuds Begriff der Deckerinnerung vielleicht von einer ›DeckFokalisierung‹ sprechen – eine Tiefendimension der Fokalisierung an. Der Blick durch das »geistige Auge« wird gleich darauf durch den Blick auf die Realität abgelöst, als Aschenbach plötzlich einen Mann erblickt, der seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenkt. In der folgenden akribischen Beschreibung des Mannes wird deutlich, dass Aschenbach vor allem die kühne, ja geradezu wilde und herrische Haltung des Fremden zu fesseln scheint, so dass er den Blick nicht von ihm abwenden kann, sondern immer weitere Detailbeobachtungen macht: […] als er, aus seinen Träumereien zurückkehrend, im Portikus, […] einen Mann bemerkte, dessen ungewöhnliche Erscheinung seinen Gedanken eine völlig andere Richtung gab. […] Mäßig hochgewachsen, mager, bartlos und auffallend stumpfnäsig, gehörte der Mann zum rothaarigen Typ und besaß dessen milchige und sommersprossige Haut. […] Erhobenen Hauptes, so daß an seinem hager dem losen Sporthemd entwachsenden Halse der Adamsapfel stark und nackt hervortrat, blickte er mit farblosen, rotbewimperten Augen, zwischen denen, sonderbar genug zu seiner kurz aufgeworfenen Nase passend, zwei senkrechte, energische Furchen standen, scharf spähend ins Weite. So – und vielleicht trug sein erhöhter und erhöhender Standort zu diesem Eindruck bei – hatte seine Haltung etwas herrisch Überschauendes, Kühnes oder selbst Wildes; […]. (S. 12)

So ungeniert starrt Aschenbach den Fremden an, dass dieser plötzlich seinen Blick erwidert. Analysiert man die folgende Szene vor dem Hintergrund von Sartres Blicktheorie aus L’Etre et le N8ant, auf die sich auch Jean Pouillon bezieht, so ist Aschenbach zunächst Subjekt des Blicks – eine unerklärliche Faszination lässt ihn jede Höflichkeit vergessen, so dass er den Andern zum Objekt seines Blicks macht. Diese Position ist jedoch fragil und wird in Frage gestellt, sobald er die Aufmerksamkeit des Andern erregt und von ihm erblickt, seinerseits zum Objekt des Blicks gemacht wird: Wohl möglich, daß Aschenbach es bei seiner halb zerstreuten, halb inquisitiven Musterung des Fremden an Rücksicht hatte fehlen lassen; denn plötzlich ward er gewahr, daß jener seinen Blick erwiderte und zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig gesonnen, die Sache aufs Äußerste zu treiben und den Blick des andern zum Abzug zu zwingen, daß Aschenbach, peinlich berührt, sich abwandte und einen Gang die Zäune entlang begann, mit dem beiläufigen Entschluß, des Menschen nicht weiter achtzuhaben. Er hatte ihn in der nächsten Minute vergessen. (S. 13)

Das Auftauchen des Fremden hatte Aschenbach in der Betrachtung der sich ihm nicht erschließenden Tiefendimension der Goldlettern unterbrochen, sein

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kriegerischer Blick veranlasst Aschenbach nunmehr erneut, sich abzuwenden – eine Erfahrung zu verdrängen. Der Erzähler unterstreicht, dass er den Blick des Fremden »bereits in der nächsten Minute vergessen« habe. Doch dies trifft nicht zu. Denn die geradezu existentielle wechselseitige Fokalisierung hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Mochte nun aber das Wandererhafte in der Erscheinung des Fremden auf seine Einbildungskraft gewirkt haben oder sonst irgendein physischer oder seelischer Einfluss im Spiele sein: eine seltsame Ausweitung seines Innern ward ihm ganz überraschend bewusst, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so längst entwöhnt und verlernt, dass er, die Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden, gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen und Ziel zu prüfen. (S. 13)

Den Blick auf den Boden gerichtet sucht Aschenbach nach einer längst vergangenen, in die Tiefen des Unbewussten verbannten Empfindung. Seine Erfahrung einer »m8moire involontaire« ist hier vergleichbar mit dem zeitgenössischen Roman Marcel Prousts f la Recherche du temps perdu in dem der Protagonist ebenfalls »gefesselt« stehen bleibt, als er über einen Pflasterstein stolpert – weil er zunächst nicht weiß, warum dieser eine tiefe Empfindung in ihm auszulösen vermag.16 Nicht die Erinnerung – wie im Werk Prousts, sondern das Unbewusste »irgendein physischer oder seelischer Einfluß« drängt im Fall von Aschenbach an die Oberfläche des Bewusstseins. Doch er wehrt es ab, dies wird in einer focalisation transpos8e,17 in der indirekten Rede deutlich: »Es war Reiselust, nichts weiter«. Es bleibt unklar, ob die folgenden Worte eine Korrektur des Erzählers darstellen oder ob sich Aschenbach hier selbst über das Ausmaß seiner Reaktion wundert: »aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert.« Der Leser sieht sich nunmehr mit einer neuen Form der Fokalisierung konfrontiert, die in das Unbewusstsein des Helden führt. Dabei wird gerade der Sehsinn besonders akzentuiert: »[…] er sah, sah eine Landschaft […] sah aus geilem Farrengewucher […] haarige Palmenschäfte […] emporstreben. […] sah wunderlich ungestalte Bäume […] sah zwischen den knotigen Rohrstämmen […] die Lichter eines kauernden Tigers funkeln […].« (14f.) Die visuellen Halluzinationen des Helden, die Verlangen 16 Proust (1989), f la recherche du temps perdu: »[…] je reculai assez pour buter malgr8 moi contre les pav8s assez mal 8quarris derriHre lesquels 8tait une remise. Mais au moment oF, me remettant d’aplomb, je posai mon pied sur un pav8 qui 8tait un peu moins 8lev8 que le pr8c8dent, tout mon d8couragement s’8vanouit devant la mÞme f8licit8 qu’/ diverses 8poques de ma vie m’avaient donn8 la vue d’arbres que j’avais cru reconna%tre dans une promenade en voiture autour de Balbec, la vue des clochers de Martinville, la saveur d’une madeleine tremp8e dans une infusion, tant d’autres sensations dont j’ai parl8 et que les derniHres œuvres de Vinteuil m’avaient paru synth8tiser.« Le Temps retrouv8, S. 445. 17 Mieke Bal hat den Begriff der »focalisation transpos8e« entwickelt, in: Bal (1977), S. 41.

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und Entsetzen gleichermaßen auslösen, verschwinden jedoch ebenso schnell, wie sie gekommen sind, aus seinem Bewusstseinsfeld: »Dann wich das Gesicht und mit einem Kopfschütten nahm Aschenbach seine Promenade an den Zäunen der Grabsteinmetzereien wieder auf.« (S. 14) Indem die Wahnvorstellung Aschenbachs als »Gesicht« bezeichnet wird, kommt der Bezug zu dem unheimlichen Fremden wieder in den Blick, dessen Erscheinung die Vision ursprünglich hervorgerufen hatte. Dem Leser wird bereits am Beginn der Novelle die komplexe Relevanz des Blicks angesonnen, indem der Text verschiedenste Formen der Fokalisierung in der Gestalt des Erzählers und des Protagonisten vorstellt, der als Sehender, Gesehener, in sich hinein Blickender und Halluzinierender erscheint. Mit den Fragen »qui parle« und »qui voit« lässt sich das Spiel mit der zunächst verdrängten und in ihrer wahren Signifikanz lange im verborgenen bleibenden Relevanz eines Blicks, der in Grenzerfahrungen des eigenen Unbewussten führt, nicht erfassen. Wenn der Erzähler im folgenden Kapitel den Schriftsteller Achenbach vorstellt, so hebt er die besondere Wahrnehmungsfähigkeit des Künstlers hervor, der das von ihm beschriebene vor seinem inneren Auge sieht: »[…] diese Augen, müde und tief durch die Gläser blickend, hatten das blutige Inferno der Lazarette des Siebenjährigen Krieges gesehen.« (S. 30) Diese Fähigkeit, imaginäre Bilder zu evozieren, zeigt sich auch in dem Augenblick, als Aschenbach von seinem ersten Reiseziel enttäuscht über einen Ortswechsel nachdenkt: »[…] er studierte Schiffsverbindungen, er blickte suchend umher, und auf einmal, zugleich überraschend und selbstverständlich, stand ihm sein Ziel vor Augen«. (S. 31f.) Es wird deutlich, dass er in verschiedenen Wirklichkeitsregionen lebt, die auf jeweils verschiedenem Niveau ins Spiel gebracht werden. Blickt er zunächst noch in der konkreten Außenwelt suchend umher, so wendet er sich gleich darauf seinem inneren Bewusstseinsfeld zu, wenn ihm sein Ziel vor dem inneren Auge erscheint. Wie bereits am Anfang der Novelle gezeigt werden konnte, wird der Leser durch den unvorhersehbaren Wechsel zwischen der Fokalisierung durch den Erzähler und den Protagonisten verunsichert. Die kontinuierliche Bewegung zwischen innerer Anschauung und äußerer Wahrnehmung stellt ihn darüber hinaus vor das Problem, niemals genau zu wissen, ob Aschenbach wirklich etwas in der Außenwelt wahrnimmt oder ob sich innere Bilder und äußere Bilder in seinem Blick verbinden. Dies wird schon während seiner Schiffsreise nach Venedig deutlich, als er den ziegenbärtigen Mann genau beobachtet, der die Personalien der Reisenden aufnimmt: ›Nach Venedig!‹ wiederholte er Aschenbachs Ansuchen, indem er den Arm reckte und die Feder in den breiigen Restinhalt eines schräg geneigten Tintenfasses stieß: ›Nach Venedig erster Klasse! Sie sind bedient, mein Herr!‹ Und er schrieb große Krähenfüße,

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streute aus einer Büchse blauen Sand auf die Schrift, ließ ihn in eine tönerne Schale ablaufen, faltete das Papier mit gelben und knochigen Fingern […]. (S. 33)

Hatten auf dem Friedhof die Goldlettern seinen Blick in die Tiefe gezogen, so wird seine Aufmerksamkeit jetzt von den »großen Krähenfüßen« gefesselt, die keinen Sinn mehr ergeben, aber als Arabeske bereits auf die »träumerische Entfremdung« und »Entstellung der Welt ins Sonderbare« (S. 35) deuten, derer er wenig später gewahr wird. Wenn Aschenbach, der zunächst das Volk »betrachtet hatte«, darauf den »falschen Jüngling« genauer ins Auge fasst (S. 34), und die Runzeln um seine Augen – Krähenfüße – und seine »krähende Stimme« vernimmt, die eine Assoziation zu den »Krähenfüßen der Schrift« suggeriert, stellt sich die Frage, welche Elemente seiner Wahrnehmung sich der »Überfeinerung seiner Nerven« (S. 30) und welche sich der Realität verdanken. Denn er selbst wird schon bald die Augen schließen, um der »Entstellung der Welt« Einhalt zu gebieten. (S. 35) Auf die besondere Art der Wahrnehmung Aschenbachs wird eigens hingewiesen, wenn im Anschluss an seine Gondelfahrt die »Beobachtungen und Begegnisse des Einsam-Stummen« als »zugleich verschwommener und eindringlicher, als die des Geselligen« und »seine Gedanken schwerer, wunderlicher« erscheinen (S. 48), ja es heißt sogar, dass »Einsamkeit auch das Verkehrte, das Unverhältnismäßige, das Absurde und Unerlaubte« zeitige (S. 48). Zählen auch die Erscheinungen des Wanderers vom Nordfriedhof, des Gondoliere und des später auftauchenden Gitarristen, die sich alle auf merkwürdige Weise ähneln, zu diesen verkehrten wunderlichen Bildern, die sich in der Imagination des Einsamen heranbilden, oder hat man es mit einer Realitätsreferenz zu tun? Es liegt nahe, sie als Vorstellungen und Traumbilder Aschenbachs zu deuten, der die Welt im wachsenden Maße als »unheimlich« erfährt.18 Und dieses Unheimliche findet eine Steigerung gerade in der Wiederkehr der fast identischen Personen, deren Beschreibung in ihrer Konkretheit fast hysterisch wirkt und die in der Wahrnehmung des Gitarristen kurz vor dem Tod Aschenbachs ihren Höhepunkt erreicht, weil hier alle Elemente noch einmal in einer ins Groteske und Brutale gesteigerten Form vor Augen treten. In diesem Zusammenhang könnte man an ein Gedicht Baudelaires »Les sept vieillards« denken, das in frappanter Weise die Idee des revenant – der ewigen Wiederkehr – am Beispiel eines aufs höchste erregten Bewusstseins in der Großstadt Paris zeigt, ein Paris, das wiederum eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Venedig zu haben scheint: Fourmillante cit8, cit8 pleine de rÞves, OF le spectre en plein jour raccroche le passant ! Les mystHres partout coulent comme des sHves 18 Vgl. Freud (1999), Das Unheimliche.

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Dans les canaux 8troits du colosse puissant. Un matin, cependant que dans la triste rue Les maisons, dont la brume allongeait la hauteur, Simulaient les deux quais d’une riviHre accrue, Et que, d8cor semblable / l’.me de l’acteur, Un brouillard sale et jaune inondait tout l’espace, Je suivais, roidissant mes nerfs comme un h8ros Et discutant avec mon .me d8j/ lasse, Le faubourg secou8 par les lourds tombereaux. […] A quel complot inf.me 8tais-je donc en butte, Ou quel m8chant hasard ainsi m’humiliait ? Car je comptai sept fois, de minute en minute, Ce sinistre vieillard qui se multipliait ! […]19

Die von Kanälen durchzogene, im grauen Dunst liegende »cit8 de rÞve« bildet wie im Roman Thomas Manns den Hintergrund für eine unheimliche Erfahrung der Wiederkehr, die das ohnehin nur mit Mühe um Beherrschung ringende Ich seinen eigenen Wahnvorstellungen aussetzt. Bei Thomas Mann ist die frappante Kohärenzstruktur der unheimlichen Wiederkehr narrativ entfaltet und mit einer Zeitachse verbunden, die im reißenden Fluss des in einer Sanduhr verrinnenden Sandes (S. 117) abgebildet ist. Eine ganz andere dem Unheimlichen zunächst entgegengesetzte Erfahrung des Blicks eröffnet sich Aschenbach mit der Gestalt Tadzios. Wieder setzt die Blickführung mit einer »Betrachtung« ein (S. 49). Wie bereits auf dem Schiff, bezieht Aschenbach in der Hotelhalle zunächst eine Beobachterposition, er betrachtet die Gäste. Aus der gedämpften Mischung der großen Sprachen isoliert er darauf die slawische, dann die polnische Sprache und diese führt seinen Blick zu einer Gruppe, in der er »mit Erstaunen« den »vollkommen« schönen Knaben »bemerkt.« (S. 50). In einem Aufmerksamkeitsumschwung des Bewusstseins konzentriert er sich ganz auf diese Wahrnehmung, die in einer ausführlichen Beschreibung des Jungen ihren Ausdruck findet. Wie der Kunstkenner Swann in Prousts Roman f la Recherche du temps perdu, der das Hausmädchen im Horizont von Giottos Caritas oder seine Geliebte Odette im Horizont von Botticellis S8phora wahrnimmt,20 stellt Aschenbach zunächst über die Kunst eine imaginäre Synthese her, indem er das Haar des Jungen mit dem des Dornausziehers vergleicht: »Weichheit und Zärtlichkeit bestimmten ersichtlich seine Existenz. Man hatte sich gehütet, die Schere an sein schönes Haar zu legen; wie beim Dornauszieher lockte es sich in die Stirn, über die Ohren und tiefer noch in den 19 Baudelaire (1975), Tableaux Parisien: Les sept vieillards, S. 87f. 20 Vgl. Stierle (1985).

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Nacken.« (S. 51) Zweifellos ist Aschenbach die Plastik sehr vertraut, anders kann man sich die minutiöse Kenntnis der Länge und Disposition der Locken des Dornausziehers nicht erklären.

Abb. 1: Kapitolinischer Dornauszieher im Konservatorenpalast in Rom. Jean-Pol Grandmont, CC BY-SA 3.0.

Die Assoziation »wie beim Dornauszieher« stellt sich sofort ein und lässt darauf schließen, dass er bereits von der mit Grazie verbundenen Erotik des hier modellierten Jünglings fasziniert war, noch bevor sein Blick auf den Hotelgast fällt. Im interesselosen Wohlgefallen an der Schönheit der griechischen Plastik konnte Aschenbach ein latentes und zweifellos unbewusstes Interesse am vormännlichen Körper bis zu dem Zeitpunkt befriedigen, als er auf Tadzio trifft. In einer Art von Pygmalion-Effekt sieht er jetzt die Plastik plötzlich zum Leben erweckt.

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Immer wieder tauchen Erinnerungsfragmente an griechische Plastiken in der Beschreibung Tadzios auf, die zum Wahrnehmungsdispositiv Aschenbachs werden können, weil sie sich seinem nur scheinbar interesselosen Auge eingeprägt haben. Ist Anmut, wie Schiller es formuliert hat, »eine bewegliche Schönheit«,21 so sind es gerade die zum Leben erweckten Locken des Dornausziehers, die von Anfang an die Blicke Aschenbachs auf sich ziehen und Anmut und Erotik zugleich vermitteln. Am folgenden Morgen erfreut sich Aschenbach an dem »Geringel des Haares, das dunkel und weich Ohren und Schläfen bedeckt« (S. 57), am Strand beobachtet er, wie »die lebendige Gestalt vormännlich hold und herb mit triefenden Locken« (S. 64) aus dem Wasser kommt. Tritt die »lebendige Gestalt« (S. 64) an die Stelle der Statue, verändert sich die Blickkonstellation. Ganz im Sinne von Sartre wird das Subjekt des Blicks seinerseits mit einem Blick konfrontiert. Der im Dornauszieher festgehaltene Augenblick zeigt einen Jüngling, der, ganz auf sich selbst konzentriert, seinen eigenen Fuß fixiert. Der Kunstkenner kann ihn studieren, um ihn herumgehen, auf einer Abbildung betrachten, ohne je selbst in den Blick zu geraten. Bei dem zum Leben erweckten ›Dornauszieher‹ in der Hotelhalle verhält es sich anders. Die Szene des ersten Blickwechsels zwischen Aschenbach und Tadzio kann als Vorgriff auf die Todesszene am Strand interpretiert werden. Denn auch hier blickt Tadzio auf einer Schwelle zurück auf den in »Anschauung Versunkenen«: Aus irgendeinem Grund wandte er sich um, bevor er die Schwelle überschritt, und da niemand sonst mehr in der Halle sich aufhielt, begegneten seine eigentümlich dämmergrauen Augen denen Aschenbachs, der, seine Zeitung auf den Knien, in Anschauung versunken, der Gruppe nachblickte. (S. 53)

Der Bezug zu Platens Tristan, mit der ungewöhnlichen, die Augen betonenden Wendung »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen ist dem Tode schon anheim gegeben«22 scheint sich an dieser Stelle, die in dem intratextuellen Bezug bereits den nahen Tod Aschenbachs ankündigt, aufzudrängen. Am Nordfriedhof machte Aschenbach die unheimliche Erfahrung eines ihm begegnenden Blicks in einem Moment, wo er sich ganz Subjekt der Betrachtung glaubt. Während der kriegerische Blick des Wanderers den Blick Aschenbachs, der sich sogleich abwendet, bezwingt, begegnen sich die Blicke Tadzios und Aschenbachs. Aschenbach ist sich jedoch offenbar nicht sicher, ob der Blick des Jungen den seinen gezielt sucht, oder nur auf ihn fällt, weil er als einziger Gast in der Hotelhalle zurückblieb. Ist es ein Zufall, dass die Augen des Jungen »dämmergrau«, also aschenfarben sind? Bereits an dieser Stelle kann man sich fragen, ob Aschenbach die Farbe der Augen auf der Ebene der Inferenz wahrnimmt oder ob 21 Schiller (2001), Über Anmut und Würde, S. 252. 22 Platen (1982), »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen ist dem Tode schon anheim gegeben«, S. 69.

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hier auf der Ebene der Makrostruktur des Textes eine Nähe suggeriert wird, die den Jungen zu einer Reflexionsfigur des Helden macht? Das erste Erstaunen Aschenbachs geht aus den Traumbildern des »EinsamStummen« (S. 48) hervor und steigert sich im Erschrecken über die »gottähnliche Schönheit des Menschenkindes.« (S. 57) Wichtig ist im Kontext der Fokalisierung, dass der Blick Aschenbachs in Tadzio schließlich einen Fokus erhält. Dies wiederholt sich am Strand. Denn als sich hier »seine Augen […] in den Weiten des Meeres verlieren«, als er »seinen Blick entgleiten läßt […] aus einem verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts!« (S. 59f.) »ward plötzlich die Horizontale des Ufersaums von einer menschlichen Gestalt überschnitten und als er seinen Blick aus dem Unbegrenzten einholte und sammelte, da war es der schöne Knabe, der von links kommend vor ihm im Sande vorüberging.« (S. 60) Sehr genau wird in der Entgegensetzung von »Ungegliedertem« und »scharfer Überschneidung der Horizontale« das von Alfred Schütz charakterisierte Phänomen der Relevanz deutlich: »etwas wird inmitten des unstrukturierten Feldes zum Thema gemacht.«23 Der Blick wird aus dem Unbegrenzten »eingeholt« und »gesammelt«, um sich ganz auf die Gestalt des Jungen zu konzentrieren. Der Strahl seiner Aufmerksamkeit ist auch akustisch gerichtet, wenn er »seiner Stimme lauscht« (S. 61) und versucht, den Namen des Jungen zu verstehen. Dem Leser vermittelt sich an dieser Stelle allein die Perspektive Aschenbachs, wenn er den »trefflichen Adgio« (S. 62) mit den Augen sucht, deren erster Blick ihn umgehend »findet« (S. 62). Nach der Rückkehr von seiner missglückten Flucht verändert sich seine Wahrnehmung der Außenwelt erneut: »die Luft schien dünner und reiner, der Strand mit seinen Hütten und Booten farbiger, obgleich der Himmel grau war« (S. 76). Die »träumerische Entfremdung« und »Entstellung der Welt ins Sonderbare« (S. 35) hat eine Steigerung erfahren. Die Erscheinung des Hässlichen und Fratzenhaften wird sich in der grotesken Gestalt des Gitarrenspielers verdichten, bei dem sich alle charakteristischen Züge des Wanderers vom Nordfriedhof in intensivierter und brutal-obszön gesteigerter Form finden. Wie das Hässliche und Fratzenhafte, erscheint mit dem Herannahen des Todes auch das Schöne gesteigert. Es stellt sich die Frage, ob die Wahrnehmung Tadzios nicht auch von dieser Steigerung der Erfahrung betroffen ist, ja ob die Absolutheit seiner Schönheit sich nicht einer Illusion Aschenbachs verdankt. Nach seiner Rückkehr vom Bahnhof wird sogleich wieder die Aufmerksamkeit auf seinen Blick gelenkt. Er sitzt am offenen Fenster und »blickt hinaus«, dann »erblickt« er Tadzio (S. 76), den er »erkennt«, »bevor er ihn eigentlich ins Auge gefasst hat« (S. 76), es wird ihm klar, »daß ihm um Tadzios willen der Abschied so schwer geworden war« (S. 77) und er richtet den Blick darauf nach innen: »Er saß still, 23 Schütz (1971), S. 61.

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ganz ungesehen an seinem hohen Platze und blickte in sich hinein.« (S. 77) Im Sinne von Sartre24 hat er an dieser Stelle die Hoheit des Blicks – er selbst wird nicht von außen erblickt –, selbst der Erzähler nimmt ihn an dieser Stelle nicht in den Blick, sondern er selbst erforscht die tieferen, bislang verdrängten Schichten seiner Leidenschaft. Die große Bewegung des Blicks, der zunächst nach Außen gerichtet war, Tadzio fokussiert und dann eine Wendung nach Innen vollzogen hatte, mündet schließlich in einer wieder nach außen gerichteten »bereitwillig willkommen heißende[n] Geste« (S. 77). Von nun an sind dem Blick keine Grenzen gesetzt, er sieht »fast beständig den Knaben«: »Er sah und traf ihn überall«. (S. 80) Wenn Tadzio vom »Schauplatz« verschwunden war, schien »der Tag ihm beendet.« (S. 91) Die »Fremdheit seiner Rede«, die als »verschwommener Wohllaut« sein Ohr erreicht, wird ihm zur »Musik«. (S. 82) Doch der nach wie vor »Einsam-Stumme« (S. 48) nimmt Tadzio vor allem über seine Augen wahr. Diese entwickeln geradezu taktile Qualitäten: Er kannte »jede Linie und Pose« (S. 82) seines Körpers. Seine Augen »umfassten die edle Gestalt und er glaubte mit diesem Blick das Schöne selbst zu begreifen.« (S. 84, Hervorhebung Vf.in) In der stummen Blick-Distanz kann er das Schöne begreifen, ohne ihm nahe zu kommen und es zu berühren. Während im Werk Prousts das geliebte Objekt nur als ein »Þtre de fuite«25 seinen Faszinationscharakter erhält, garantiert die von Aschenbach mit Absicht gewahrte stumme Blick-Distanz einen Imaginationsraum, in den die Realität nicht einzudringen vermag: »Denn der Mensch liebt und ehrt den Menschen, solange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis« (S. 94), heißt es in der folgenden Sentenz. In diesem Spiel der Blicke bleibt auch der Leser in den Imaginationsraum Aschenbachs eingeschlossen, der »von der Hysterie eines unbefriedigten, unnatürlich unterdrückten Erkenntnis- und Austauschbedürfnisses« (S. 94) bestimmt wird, denn, so wird der Leser im Text gewarnt: »Seltsamer, heikler ist nichts als das Verhältnis von Menschen, die sich nur mit den Augen kennen, […].« (S. 93) Dies wird besonders deutlich bei einer nächtlichen Begegnung, in der Aschenbach zunächst wahrnimmt, dass die sonst grauen Augen Tadzios »tief dunkelten«: Er war der teuren Erscheinung nicht gegenwärtig gewesen, sie kam unverhofft, er hatte nicht Zeit gehabt, seine Miene zu Ruhe und Würde zu festigen. Freude, Überraschung, Bewunderung mochten sich offen darin malen, als sein Blick dem des Vermissten begegnete – und in dieser Sekunde geschah es, daß Tadzio lächelte: ihn anlächelte, sprechend, vertraut, liebreizend und unverhohlen, mit Lippen, die sich im Lächeln 24 Vgl. Sartre (1998), »Le regard«, S. 292–341. 25 In Prousts Roman ist insbesondere Albertine ein »Þtre de fuite« par excellence. So heißt es mit Blick auf die sich beständig entziehende Albertine: »Entre vos mains mÞme, ces Þtres-l/ sont des Þtres de fuite«. Proust (1989), t. III, S. 599. Zur »fugacit8 des Þtres« bei Proust vgl. auch Oster (2002), S. 311.

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langsam öffneten. Es war das Lächeln des Narziß, der sich über das spiegelnde Wasser neigt, jenes tiefe, bezauberte, hingezogene Lächeln, mit dem er nach dem Widerscheine der eigenen Schönheit die Arme streckt, […]. (S. 96)

Es bleibt offen, ob sich die Augen Tadzios wirklich verdunkeln – Aschenbach bemerkt dies mehrfach – und ob Aschenbach das von ihm als tief, bezaubert und hingezogen interpretierte Lächeln Tadzios richtig deutet, das zu ihm zu sprechen, ja das ihm gar eine Geste intendierter Umarmung zu suggerieren scheint, wenn er auch in der Bezugnahme auf den Narzissmythos gleich wieder von seiner eigenen Person abzulenken versucht. Da er sich immer mehr in seine Leidenschaft hineinsteigert, wird es für den Leser immer schwieriger, zwischen Wahn und Realität zu unterscheiden. So glaubt Aschenbach, der die polnische Familie bei ihren Venedigbesuchen verfolgt, wahrzunehmen, dass sich Tadzio in der Kirche suchend nach ihm umsieht: »Durch Dunst und Gefunkel sah Aschenbach wie der Schöne dort den Kopf wandte, ihn suchte und erblickte.« (S. 101) In dem Hinweis auf die Trübung des Blicks durch Weihrauch und Kerzenschein wird eine mögliche Fehldeutung des Geschehens durch Aschenbach angedeutet. Dies ließe sich auch bei anderen Passagen der Verfolgungen in Venedig zeigen. Ich möchte hier nur noch auf die zentrale Schlusspassage eingehen, in der es zu einem besonders interessanten Konflikt zwischen der Perspektive des Erzählers und der ganz im eigenen Imaginationsraum verhafteten Perspektive Aschenbachs kommt. Aschenbach liegt am Strand und sieht Tadzio noch einmal zu, er nimmt sein »verwirrte[s] Haar« und seine »dunkelnden Augen« wahr und beobachtet, wie er »mit der Fußspitze Figuren im feuchten Sande« zeichnet (S. 138). Unwillkürlich erinnern diese Zeichen im Sand, die die nächste Welle auslöschen wird, an die von Aschenbach wahrgenommenen Krähenfüße auf dem Papier, über die blauer Sand in eine tönerne Schale rinnt. Und zweifellos ist dies ein autoreferentielles Signal. Aber es wird nicht lesbar. Aschenbach nimmt darauf die »abgesonderte und verbindungslose Erscheinung […] vorm Nebelhaft-Grenzenlosen« (S. 139) wahr. Der Blick auf das Ungegliederte wird also zunächst vor dem sich am Horizont abzeichnenden und fokalisierten Tadzio unterschieden. Darauf folgt die durch die Verwendung des substantivierten Adjektivs markierte Rede des Erzählers, der Aschenbach als den Schauenden in den Blick nimmt: Der Schauende dort saß, wie er einst gesessen, als zuerst, von jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begegnet war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der Bewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob er sich gleichsam dem Blicke entgegen, und sank auf die Brust, so daß seine Augen von unten sahen, indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen Schlummers zeigte. (S. 139)

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Nun wechselt unvermittelt die Perspektive und dem Leser vermittelt sich wieder die Innenperspektive Aschenbachs: »Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und, wie so oft, macht er sich auf, ihm zu folgen.« (S. 139) Der Sehende hat sich in einen Schauenden verwandelt, dem es in einer imaginären Synthese der Blicke gelingt, das Ungegliederte, ja Ungeheure und die Silhouette des Jungen zu erfassen. Als Subjekt des Blicks setzt er Schönheit, Form und Ungeformtes in eins, allerdings erschließt sich nur ihm in einer »seltsamen Traumlogik« (S. 134) diese Wahrnehmung. Der Erzähler, der im nächsten Satz wieder die Regie übernimmt, kann nur noch pragmatisch berichten, wie man den nunmehr zum Objekt degradierten Herabgesunkenen vom Strand entfernt. In diesem Zusammenhang erhält der enigmatische photographische Apparat, der am Ende des Textes am Strand auftaucht, eine eigene Bedeutung: »Ein photographischer Apparat, scheinbar herrenlos, stand auf seinem dreibeinigen Stativ am Rande der See, und ein schwarzes Tuch, darüber gebreitet, flatterte klatschend im kälteren Wind.« (S. 136–137). Sollte er nicht »herrenlos« sein, weil der Text jede Feststellung des Blicks durch eine Zentralperspektive verweigert? Und stellt sich Aschenbach nicht gerade auf Grund dieser komplexen Fokalisierung des Textes den einen als scheiternder, den andern als vollendeter Künstler dar? Die »anderthalb Seiten erlesener Prosa« (S. 87), die Aschenbach im Angesicht Tadzios am Strand verfasst hat, sind für den Leser ebenso wenig lesbar, wie die geschriebenen »Krähenfüße« und die von Tadzio in den Sand gezeichneten Figuren. Leider kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen auf Viscontis filmische Transposition der Novelle eingegangen werden. Besonders interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang aber die Inszenierung des Photoapparats. Es fällt auf, dass zwar ein schwarzes Tuch über den Apparat gebreitet, die Linse jedoch nicht verdeckt ist. Während es im Text Thomas Manns unklar bleibt, ob der herrenlose Photoapparat auf das Meer und damit auch auf Tadzio oder auf den Strand und somit auf Aschenbach gerichtet ist, wählt der Film eine dritte Perspektive. Der Apparat nimmt weder Aschenbach noch Tadzio in den Blick, sondern er erscheint im Profil, ausgerichtet auf ein unsichtbares Motiv : Es liegt nahe, die Abbildung eines Photoapparats im Medium des Films als autoreferentielles Signal zu interpretieren. Während der Photoapparat die Bilder feststellt – erlaubt der mit Hilfe der Kamera-Linse technisch realisierte flottierende Blick imaginäre Standpunktreisen, die den Zuschauer abwechselnd auf Aschenbach und durch die Augen Aschenbachs sehen lassen. Indem der Film den letzten Blick Aschenbachs auf Tadzio in die Länge zieht und auf der Tonspur mit einer gewissen Pathetik begleitet, versucht er, auch den imaginären regardeur von einem Sehenden in einen Schauenden zu verwandeln. Der Text lässt sich deshalb besonders gut mit dem Medium des Films ver-

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Abb. 2: Luchino Visconti: Tod in Venedig 1971.

gleichen, weil auch er, im Gegensatz zu den Medien des Theaters, des Bildes und der Photographie, über eine bewegliche Fokalisierung verfügt. Der Leser wird in unterschiedliche Nähen und Fernen zum Geschehen gebracht, sein Blick wird in immer neue Richtungen gelenkt, immer neue Augen stellen sich im Verlauf einer imaginären Standpunktreise in seinen Dienst. Wie im Film ist die Instanz der Fokalisierung im Augenblick der Rezeption das Medium selbst. Denn die Ichorigo26 der Fokalisierung im fiktionalen Text ist weder der Autor, noch der Erzähler, wie es Genette in seinem Modell vorsieht, sondern der Text in seiner sprachlichen Realisierung. Und gerade in dieser medialen Realisierung besteht nun der fundamentale Unterschied zwischen der Fokalisierung in Text und Film. Denn die Fokalisierung im Text ist nicht technisch, sondern sprachlich vermittelt. Während die Steuerung des Blicks vom Film übernommen wird und imaginärer und realer Betrachter im Auge der Kamera zusammenfallen, wird die Vermittlungsinstanz der Sprache nicht mit technischen Mitteln aufgehoben. Der Leser kann sich den ihm angesonnenen Blick nur vermittelt durch die Sprache zu eigen machen, weil sie seine Wahrnehmung lenkt. Während das Kameraauge für den Zuschauer im Film eine scheinbar unsichtbare Vermittlungsinstanz darstellt, tritt der Leser in eine konzeptuell vermittelte Welt ein. Der Text erzeugt mit Hilfe hermeneutischer Äquivalente eine Beweglichkeit des Blicks, die im Film mit Hilfe der Kameraführung realisiert wird. Was der Text an Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung visueller Phänomene verliert, gewinnt er als Fokalisierungsinstrument von unerschöpflicher Pluralität. Mit Hilfe einer hermeneutischen Fokalisierungstheorie konnte gezeigt werden, dass die Novelle Thomas Manns einer eigenen »Traumlogik« (S. 134) folgt, 26 Vgl. Bühler (21965), S. 24–33.

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die sich einem komplexen Relevanzkonflikt zwischen unterschiedlichen Instanzen der Fokalisierung verdankt. Strategien des Textes wurden sichtbar gemacht, die im Dienst einer Bindung von Aufmerksamkeit stehen und den Blick des Lesers konzentrieren und dynamisieren. Wenn der Erzähler in der Novelle erklärt, dass nichts »seltsamer, heikler ist […] als das Verhältnis von Menschen, die sich nur mit den Augen kennen« (S. 93), so führt die literaturwissenschaftliche Analyse in das Herz dieser von der Literatur aufgeworfenen Frage nach der »träumerischen Entfremdung« (S. 35) in der Wahrnehmung des Andern.

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Nuages sans frontières Dort, wo die grauen Nebelberge ragen, Fängt meines Reiches Grenze an, Und diese Wolken, die nach Mittag jagen, Sie suchen Frankreichs fernen Ozean. Eilende Wolken, Segler der Lüfte!1

Aux premiers mois du XIXe siHcle, Friedrich Schiller achHve un drame historique consacr8 / Marie Stuart. La reine d’Pcosse est prisonniHre d’Elizabeth, sa cousine. Au d8but de l’acte III, elle s’enchante d’Þtre autoris8e / marcher dans le parc du ch.teau qui lui sert de prison. Le ciel s’ouvre / ses regards, les nuages circulent sans se soucier des frontiHres, ils mat8rialisent une libert8 morale qui 8chappe aux lisiHres et aux contraintes mat8rielles. La reine d’Ecosse est entrav8e dans sa personne physique, elle retrouve un pass8 et un avenir, elle r8alise une libert8 d’un autre ordre. En 1802, Germaine de Sta[l raconte l’histoire d’une femme qui n’appartient pas / l’histoire, mais au pr8sent, qui n’est pas tant prisonniHre au sens premier, mÞme si elle conna%t cette situation, mais prisonniHre m8taphoriquement du statut fait aux femmes. La spontan8it8 de Delphine et ses sentiments se heurtent aux interdits 8dict8s par la soci8t8. Un duel entre deux pr8tendants compromet une nouvelle fois sa r8putation et l’obligent / s’8loigner de chez elle. Elle passe la frontiHre helv8tique, les Alpes hivernales apparaissent comme une barriHre d’autant plus redoutable. Dans un fragment, inspir8 par sa d8tresse d’exil8e, elle se r8fHre au personnage de Schiller : O France! ma patrie, la sienne, s8jour d8licieux que je ne devais jamais quitter ; France! dont le seul nom 8meut si profond8ment tous ceux qui, dHs leur enfance, ont respir8 ton air si doux, et contempl8 ton ciel serein! je te perds avec lui, tu es d8j/ plus loin que mon horizon, et comme l’infortun8e Marie Stuart, il ne me reste plus qu’/ invoquer les nuages que le vent chasse vers la France, pour leur demander de porter / ce que j’aime et mes regrets et mes adieux….2

Dans De l’Allemagne, la romanciHre revient sur le drame et sur l’8motion de celle qui 8tait enferm8e et qui retrouve le ciel, l’air frais, sinon libre. Elle transcrit / la

1 Schiller (1965), Maria Stuart, dritter Aufzug, erster Auftritt. 2 Mme de Sta[l (2017), Delphine, CinquiHme partie, p. 806.

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troisiHme personne un monologue qui est aussi le sien propre de femme exil8e par Napol8on : Le souvenir de la France vient la charmer. Elle charge les nuages que le vent du nord semble pousser vers cette heureuse patrie de son choix ; elle les charge de porter / ses amis ses regrets et ses d8sirs : Allez, leur dit-elle, vous, mes messagers, l’air libre vous appartient : vous n’Þtes pas les sujets d’Elisabeth.3

La sphHre morale 8chappe au pouvoir politique et soutient une esp8rance : le fil du vent se superpose au fil d’un cours d’eau oF passe une barque. Marie Stuart rÞve qu’elle s’8vade en bateau. En 1820, le drame de Schiller est adapt8 en franÅais par Pierre Lebrun qui suit de prHs son modHle, dans cette exaltation que conna%t la princesse d8chue. Ces nuages errants qui traversent le ciel Peut-Þtre hier ont vu mon palais paternel. Ils descendent du Nord, ils volent vers la France. Oh ! saluez le lieu de mon heureuse enfance ; Saluez ces doux bords qui me furent si chers ! H8las ! en libert8 vous traversez les airs.4

f l’occasion d’une reprise de la piHce / Paris en 1840, Sainte-Beuve commente la tirade et l’inscrit dans une th8matique transhistorique. De tout temps, les exil8s, les mourants, les amants se sont ainsi adress8s volontiers / tout ce qui vole et passe, comme / des messagers de leurs regrets, aux 8chos, aux nuages, aux fum8es qui montent / l’horizon, aux hirondelles de la patrie, aux flots qui peut-Þtre ont bais8 l’autre rivage5.

Et Sainte-Beuve d’8voquer les stances de Byron / l’Pridan, l’invocation des vents par Camoens, l’apostrophe d’un autre poHte portugais, Gil Vicente, aux nu8es sombres et tristes. Qu’il me soit permis de faire appel / ces nuages qui traversent les frontiHres, pour dire / des collHgues devenus des amis mon 8motion et ma gratitude de travailleur frontalier, des bords de la Seine / celles du Rhin.6 Les nuages peuvent aussi servir d’image de nos objets d’8tude qui apparaissent comme bien futiles / certains, / des d8cideurs, / des responsables politiques. Revendiquons fiHrement notre apparente inutilit8 de bayeurs aux nu8es, embrassant des fantimes au lieu des solides r8alit8s de l’8conomie et de l’objectivit8 des sciences de la nature, 3 Mme de Sta[l (1967), De l’Allemagne, Seconde partie, chap. XVIII, p. 286. 4 Lebrun (1820), Marie Stuart, Acte III, scHne 1, p. 49. Repr8sent8e pour la premiHre fois / Paris, par les com8diens ordinaires du Roi, sur le premier Th8.tre-FranÅais, le lundi 6 mars 1820. 5 Sainte-Beuve (1847), Portraits contemporains, t. II, p. 211. 6 Je mÞle ici le souvenir de la c8r8monie du doctorat honoris causa le 17 novembre 2012 / la fÞte des 200 ans le 17 juillet 2015, le 17 hivernal au 17 estival. Que mes amis trouvent ici l’expression de toute ma reconnaissance pour tant de rencontres et d’aventures.

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notre apparente inutilit8 de rÞveurs irresponsables, nous qui sommes les gardiens du pass8 et les d8fenseurs des possibles de l’avenir. Ce motif fugace et inconsistant permet de s’interroger sur l’historicit8 de nos objets. Les invariants existent sans doute dans la litt8rature, mais ils s’infl8chissent selon les 8poques, et le plus int8ressant est de comprendre leurs variations. Le regard que les hommes portent sur le ciel change lorsque se r8pand la pratique des observations m8t8orologiques et que s’8labore une nomenclature des nuages, au tournant du XVIIIe au XIXe siHcle. Ces nu8es, qui semblaient le comble de l’insaisissable, deviennent l’objet de dessins attentifs de la part des artistes, sortant de leurs ateliers pour planter leur chevalet / l’air libre.7 Ils sont aussi observ8s par les physiciens qui se risquent / une typologie formelle, que ce soit Lamarck en France ou bien Luke Howard en Angleterre, lu et admir8 par Goethe, cr8ateur du lexique actuel. L’investissement m8taphorique va de pair avec la description scientifique. Lamarck propose de diff8rencier les nuages selon leur forme : brumeux, voiles, divis8s ou s8par8s, balayures, barres, pommel8s, coureurs, de tonnerre ou diablotins, group8s ou en montagnes. Luke Howard est moins fantaisiste et plus efficace avec des cat8gories latines : cirrus, cumulus et stratus, et les types interm8diaires ou compos8s, cirrocumulus, cirrostratus, cumulostratus. Au mÞme moment, Bernardin de Saint-Pierre cherche / fixer des formes et des couleurs comme les peintres et les physiciens. L’exercice ne distingue pas l’observation technique, l’8loge litt8raire et la c8l8bration religieuse. Il note d8j/ dans le Voyage / l’6le-de-France en 1773 : J’ai admir8 souvent le lever et le coucher du soleil. C’est un spectacle qu’il n’est pas moins difficile de d8crire que de peindre. Figurez-vous / l’horizon une belle couleur orange qui se nuance de vert et vient se perdre au z8nith dans une teinte lilas, tandis que le reste du ciel est d’un magnifique azur. Les nuages qui flottent Åa et l/ sont d’un beau gris de perle. Quelquefois ils se disposent en longues bandes cramoisies, de couleur ponceau et 8carlate ; toutes ces teintes sont vives, tranch8es et relev8es de franges d’or.8

Il note au ciel « des paysages d’une vari8t8 singuliHre, oF se rencontrent les formes les plus bizarres » et oF se succHdent « toutes les couleurs du prisme ». Les nuages magnifient la victoire de la couleur sur le dessin, la revanche de Rubens sur Poussin. Bernardin reprend ces notations, / la veille de la R8volution, dans les Etudes de la nature pour chanter les harmonies esth8tiques et religieuses dans la nature. J’ai vu aussi dans les nuages des tropiques, de toutes les couleurs qu’on puisse apercevoir sur la terre, principalement sur la mer et dans les tempÞtes. Il y en avait alors de cuivr8es, de couleur de fum8e de pipe, de brunes, de rousses, de noires, de grises, de livides, de 7 Voir Hedinger/Richter-Musso/Westheider (2004). Et tout r8cemment Grollemund/Sal8 (2017) et Glaudes/Vasak (2017). 8 Saint-Pierre (1773), t. I, p. 62–63.

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couleur marron et de celle de gueule de four enflamm8 […] On aperÅoit au milieu de leurs croupes redoubl8es une multitude de vallons qui s’8tendent / l’infini et en se distinguant / leur ouverture par quelque nuance de couleur de chair ou de rose. Ces vallons c8lestes pr8sentent dans leurs divers contours des teintes inimitables de blanc, qui fuient / perte de vue dans le blanc, ou des ombres qui se prolongent sans se confondre sur d’autres ombres.9

Le chantre des harmonies vante les nuages dont « les formes sont aussi variables que les nuances », car « ce sont des couleurs et des formes c8lestes, qu’aucun pinceau ne peut rendre, ni aucune langue exprimer. »10 Lamarck et Luke Howard entreprennent la description de ph8nomHnes strictement physiques, Bernardin de Saint-Pierre magnifie des ph8nomHnes qui demeurent, dans l’ambivalence du terme, c8lestes et renvoient / une finalit8 transcendante. En ce tournant du XVIIIe au XIXe siHcle, les nuages distinguent ceux qui les inscrivent dans une logique mat8rielle et scientifique et ceux qui continuent / leur faire jouer un rile de passeur entre la terre et le ciel, les humains et le divin, l’ici-bas et le transcendant. L’opposition r8active l’antagonisme, qui a jou8 bien d’autres riles dans l’histoire de la peinture, entre la ligne et la couleur.11 Id8ologiquement oppos8s, ces auteurs sont bien contemporains. Ils appartiennent / la mÞme 8poque qui se passionne pour les nuages. Les uns les observent et cherchent / les mesurer comme l’ensemble des 8l8ments de la nature, les autres les apostrophent et en font des m8taphores de la vie psychique. R8alit8 mat8rielle ou m8taphore morale, les nuages et les vents assurent la continuit8 des LumiHres au romantisme. La philosophie des LumiHres avait explor8 la relativit8 des principes politiques aussi bien qu’esth8tiques selon le climat et la tradition de chaque nation, selon le temp8rament et la condition de chaque amateur d’art. Le romantisme prolonge cette exploration dans une conception toujours plus dynamique de la vie morale et de l’histoire. « Levez-vous, i vents orageux d’Prin ; mugissez ouragans des bruyHres ; puiss8-je mourir au milieu de la tempÞte, enlev8 dans un nuage par les fantimes irrit8s des morts », c’est ainsi que Le Tourneur traduit Ossian. « Accourez tempÞtes ; mugissez / travers ces arbres d8pouill8s ; l’orage qui est dans mon sein est plus terrible que celui qui couche et d8racine les arbres », pr8cise Louis S8bastien Mercier. « Levez-vous, orages d8sir8s qui devez emporter Ren8 dans les espaces d’une autre vie », nuance Chateaubriand dans une perspective religieuse. « Et moi je suis semblable / la feuille fl8trie, / Emportez-moi comme elle, orageux aquilons ! » reprend Lamartine en alexandrins. On a pu ironiquement d8finir le romantisme comme « l’irruption de la m8t8o dans la litt8rature ». Chaque œuvre a quelque chose d’un bulletin 9 Saint-Pierre (2007), Ptude X, p. 270. 10 Saint-Pierre (2007), Ptude X, p. 270–271. 11 Voir Lichtenstein (1989) ; De Maere/Sainte Fare Garnot (2010).

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m8t8orologique. C’est que les nuages r8unissent les observateurs de la nature qui relHvent chaque jour les mesures fournies par le thermomHtre, le baromHtre, l’an8momHtre et l’hygromHtre, les poHtes et les philosophes qui s’enchantent de l’8vanescent et de l’insaisissable, qui estiment, selon la formule de Joubert, que « la pens8e se forme dans l’.me comme les nuages se forment dans le ciel », les dessinateurs et les peintres qui renoncent aux modHles fig8s des acad8mies pour saisir les nuances sans cesse changeantes de la nature. Les relev8s m8t8orologiques deviennent le modHle d’une attention journaliHre / soi-mÞme. JeanJacques Rousseau recourt / la m8taphore du baromHtre dans Les RÞveries du promeneur solitaire pour rendre compte de son travail autobiographique. C’est celle qu’a utilis8e Pierre Pachet pour d8signer la vogue diariste dans toute l’Europe des d8cennies qui suivent la publication des textes posthumes de Rousseau. Les notations sur le temps qu’il fait se multiplient dans ces journ8es intimes et suggHrent une causalit8 complexe entre m8t8orologie morale et spirituelle. Les artistes voyagent / la recherche d’une autre causalit8 entre la lumiHre, l’8tat du ciel et la tonalit8 des paysages. Alexandre Cozens et Pierre-Henri de Valenciennes dessinent sans se lasser ces formes changeantes dont ils font dans leur trait8 la clef des paysages parce que ce sont les filtres de la lumiHre. Caspar David Friedrich et Johan Christian Dahl libHrent la peinture de tout sujet, en repr8sentant des soirs qui tombent et des brouillards qui s’installent. William Turner et John Constable s’attardent dans les montagnes d’Ecosse pour y 8tudier les ciels qui avaient inspir8 James Macpherson. Il n’est pas 8tonnant que l’adjectif romantique entre en franÅais, non seulement pour d8signer les paysages alpins sous la plume de Rousseau, mais aussi « le paysage a8rien et romantique des nuages » sous celle de Letourneur, traducteur de Shakespeare aussi bien que d’Ossian. Pour sugg8rer l’esprit shakespearien, il invite / quitter les int8rieurs et / s’ouvrir / la nature dans un mouvement d’8largissement, de la campagne habit8e / la haute montagne, / la pleine mer et au ciel. Les nuages qui pendant longtemps avaient servi de transition vers le c8leste et le divin sont devenus le tremplin vers l’imaginaire. L’Pcosse de Marie Stuart est h8ritiHre de la Cal8donie chant8e par Macpherson, sous la forme de pr8tendus poHmes anciens, attribu8s / Ossian. La mystification litt8raire avait familiaris8 l’Europe entiHre avec les paysages de montagne, battus par la mer et balay8s par les orages. Les bardes y c8l8braient les exploits des guerriers dont les fantimes erraient autour d’eux, « port8s par les nuages »12. Le ciel dans sa violence semblait garant du courage et du sens de la libert8 des montagnards. Il perp8tuait des qualit8s primitives, perdues au cours de l’histoire. Les nuages, aperÅus par Marie Stuart, continuent / incarner une irr8pressible ind8pendance / laquelle les lecteurs et spectateurs de Schiller et de Lebrun 12 Voir Macphersons (1798), t. I, pp. 35 et 50.

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pouvaient donner une signification politique en ces premiHres d8cennies du XIXe siHcle. Une autre h8ro"ne est sensible aux souffles venus du Nord, qui lui rappellent ses origines. Stendhal ne la fait pas 8cossaise, mais prussienne. Voisine de Kant tout autant que d’Ossian. « Mina de Vanghel naquit dans le pays de la philosophie et de l’imagination, / Kœnigsberg. » Fille d’un g8n8ral qui sait manifester son originalit8 et son ind8pendance / l’8gard du pouvoir central, elle choisit de partir en France, s’y retrouve seule et met son 8nergie / conqu8rir un homme mari8. PrÞte / tout pour parvenir / ses fins, elle se travestit, se fait engager comme domestique / « Aix en Savoie ». Le lieu est montagnard. Un moment de doute la saisit, un soir. Elle conna%t le repentir, la crainte, la honte. Son h8sitation dure peu : Mais enfin la lune se leva derriHre la montagne de Haute-Combe. Son disque brillant se r8fl8chissait dans les eaux du lac doucement agit8es par une brise du nord. De grands nuages blancs / formes bizarres passaient rapidement devant la lune, et semblaient / Mina comme des g8ants immenses. ‹ Ils viennent de mon pays, se disait-elle. Ils veulent me voir et me donner courage au milieu du rile singulier que je viens d’entreprendre › Son œil attentif et passionn8 suivait leurs mouvements rapides. ‹ Ombres de mes a"eux, se disait-elle, reconnaissez votre sang ; comme vous j’ai du courage. Ne vous effrayez pas du costume bizarre dans lequel vous me voyez. Je serai fidHle / l’honneur ›.13

Les nuages signifiaient la libert8 physique tout autant que morale pour la reine d’Pcosse, ils repr8sentent pour la fille des hobereaux prussiens une ind8pendance / l’8gard des rHgles sociales et des biens8ances mondaines, une fid8lit8 aristocratique / soi-mÞme. La bizarrerie du d8guisement qu’elle adopte r8pond / la bizarrerie des formes de nuages, expression d’une singularit8 et d’une individualit8.14 Elle n’a de comptes / rendre qu’/ elle-mÞme. Le d8tail m8t8orologique est conforme / une notation de Stendhal dans son journal, des ann8es plus tit : « De gros nuages passaient devant la lune, je consid8rais leur marche et je pensais / la tendre mythologie d’Ossian. »15 Un air de Mozart, entendu / travers la nuit, joue le mÞme rile que les nuages venus du Nord, il porte / l’h8ro"ne une v8rit8 morale originelle. Loin de l’id8e qu’on peut se faire de la morale de Kant, Mina de Vanghel se montre prÞte / tout pour conna%tre quelques mois de bonheur avec l’homme qu’elle aime. Elle se suicide lorsque celui-ci la quitte. La rÞverie chez ces deux h8ro"nes est dynamique, elle est synonyme de volont8. Chez le Ren8 de Chateaubriand et l’Oswald de Germaine de Sta[l, marqu8s tout autant par Ossian, la rÞverie semble au contraire empÞcher de vivre. Ren8, l’automne, se prend pour « un de ces guerriers errants au milieu des vents, des nuages et des fantimes. » Comme les h8ros d’Ossian, il invoque les orages d8sir8s 13 Stendhal (2005), t. I, p. 306. 14 Bernardin de Saint-Pierre parlait d8j/ des « formes les plus bizarres ». Voir Borderie (2011). 15 Journal, 3 juin 1811, cit8 par Ph. Bertier dans l’8dition de la Pl8iade.

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et une autre vie. L’image des nuages qui partent vers un autre pays est doubl8e par celle des oiseaux migrateurs qui gagnent des contr8es plus cl8mentes. L’8lan est pourtant moins spatial que transcendant. Les nuages ne sont plus tant l’incarnation d’une m8moire patriotique et familiale que la transition vers un au-del/. Ils d8signent sans doute une fin religieuse. Dans Atala, l’ermite aime « voir les forÞts balancer leurs cimes d8pouill8es, les nuages voler dans les cieux, et entendre les vents et les torrents gronder dans la solitude »16. Ce paysage hivernal sert de d8cor / la priHre. DHs les premiHres pages de Corinne, Oswald appara%t comme marqu8 par la culture de son Pcosse natale et par le deuil de son pHre. Il d8couvre l’Italie / travers sa relation avec Corinne. Dans sa galerie de peintures que celle-ci lui fait visiter / Tivoli, il est frapp8 par une peinture qui repr8sente une scHne d’Ossian et qui lui rappelle directement sa propre situation. Un barde doit rendre hommage aux disparus. « L’ombre du pHre plane sur les nuages, la campagne est couverte de frimas. » Oswald se souvient de son deuil familial. « … / l’aspect de ce tableau, le tombeau de son pHre et les montagnes d’Pcosse se retracHrent / sa pens8e, et ses yeux se remplirent de larmes. »17 La scHne indique un mouvement du vent qui entra%ne les branches mortes et les feuilles, alors que l’ombre du nuage para%t peser comme un frein sur le h8ros. La figure paternelle intervient pour prohiber toute union entre Corinne et Oswald. Cet interdit s’exprime sous la forme d’une image, celle du nuage qui occulte la lune. Est-ce un principe masculin qui recouvre le principe f8minin ? C’est ce dont Corinne semble prendre conscience : « La lune que je contemplais s’est couverte d’un nuage, et l’aspect de ce nuage 8tait funeste. J’ai toujours trouv8 que le ciel avait une impression, tantit paternelle, tantit irrit8e, et … ce soir il condamnait notre amour. » Le nuage qui appelait Marie Stuart ou Mina de Vanghel / la lutte retient Ren8 et Oswald, comme si l’Europe post-r8volutionnaire inhibait bien des 8nergies masculines et que certaines h8ro"nes prenaient le relais. Deux romanciHres peuvent Þtre cit8es encore, qui mettent 8galement en scHne l’aboulie masculine et usent de l’image m8t8orologique comme m8taphore des contraintes sociales. L’une et l’autre passeuses de frontiHres, figures d’une Europe culturelle, la baronne de Krüdener, d’origine allemande, et la comtesse Golowkin, d’origine polonaise, appartiennent / l’Empire russe, elles 8crivent en franÅais. Elles disent les insatisfactions de femmes qui ont la libert8 de lire et d’8crire, mais pas toujours celle de vivre selon leurs d8sirs. Val8rie, publi8 en 1803 mais dat8 de 1804, joue comme Corinne de la tension entre le Nord et l’Italie, entre un climat du devoir et une M8diterran8e qui serait d8l8tHre. Gustave de Linar, Su8dois, voyage en Italie et tombe amoureux d’une jeune femme mari8e, Val8rie, qui donne son 16 Chateaubriand (1989), pp. 326, 327 et 134. 17 Mme de Sta[l (1985), p. 238.

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nom au roman. Il raconte / un ami ses souffrances werth8riennes. Cet ami, rest8 au pays, lui relate une fÞte de la Saint-Jean en SuHde : « un vent chaud soufflait dans les feuilles, il me semblait qu’il venait d’Italie pour m’apporter quelque chose de toi. » L’euphorie de l’8t8 qui s’installe se concr8tise dans un mariage. On y regrette l’absence de Gustave. Le mouvement inverse apporte le froid sur la plaine de la Brenta et la V8n8tie. f la fin de l’8t8, Gustave est aux cit8s de Val8rie dont il va se s8parer. Sa passion 8tait d’avance vou8e / l’8chec, image d’une vie qui n’a pas trouv8 son sens ou d’une condition existentielle / laquelle les contradictions interdisent tout bonheur. Les nuages n’ont pas de formes fixes, ni mÞme de trajet assur8. Nos regards errHrent longtemps, sans nous rien dire, sur les nuages que le vent chassait, et qui se succ8daient les uns aux autres, comme les sentiments tumultueux s’8taient succ8d8s dans mon .me, dans cette journ8e. Il faisait froid pour la saison : le vent qui avait pass8 sur les montagnes couvertes de neige, soufflait avec violence.18

Alors que la SuHde est devenue le pays des nuits blanches, le Sud se voile de nuages qui n’incarnent plus la m8moire des morts, mais disent la nostalgie d’une chim8rique stabilit8, d’un chim8rique 8panouissement. MÞmes amours impossibles entre Alphonse de LodHve et AdHle, mari8e elle aussi, ce qui ne l’empÞche pas d’Þtre sensible au charme d’Alphonse, puis de s’en 8prendre franchement. Le d8placement est r8duit, de la France / l’Italie, et mÞme de Bologne / Ferrare. Les amants sont install8s / quelques kilomHtres seulement l’un de l’autre. Les biens8ances les s8parent encore et la m8t8orologie repr8sente une nature qui serait plus compr8hensive que la soci8t8. Le vent est moins un souffle garant de libert8 personnelle qu’un signe que les amants peuvent partager. Il sugg8rait un lien avec le pass8, une inspiration n8e dans la tradition familiale et culturelle, il signifie une proximit8 g8ographique et morale. Quand les rayons du soleil dardent sur moi avec violence, je d8sire qu’expos8e / sa chaleur, C8cile ressente son influence au mÞme degr8 que moi. Avant-hier, mon chapeau fut emport8 par le vent : il est possible, dis-je en moi-mÞme, que ce souffle, dirig8 vers elle, soulHve ses beaux cheveux. Ce matin, j’entendais le tonnerre, je m’imaginais qu’elle l’8coutait aussi. La pluie m’a mouill8 hier ; j’ai examin8 la direction du nuage, j’ai vu avec plaisir qu’il venait du cit8 de Ferrare… peut-Þtre, ai-je pens8, peut-Þtre que quelques gouttes seront tomb8es sur C8cile, en mÞme temps que sur moi …19

Le temps varie, mais non le sentiment qui affirme son autonomie. La petite pluie qui r8unirait les amants, le microclimat qui les isolerait du monde ext8rieur contrastent avec une averse violente qui s’est pr8c8demment confondue avec la brutale jalousie du mari. D8sormais, la temp8rature et le souffle de l’air assurent 18 Mme de Krüdener (1974), pp. 59 et 145. 19 Mme de Golowkin (1809), t. II, pp. 57–58.

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une sensibilit8 et une 8motivit8 qui ne trouvent pas / s’exprimer dans un contact direct entre les jeunes gens. Le vent, la pluie leur servent d’interm8diaires, comme les lettres qu’ils 8changent. Ni modHle ancestral, dynamique ou paralysant, ni appel de l’au-del/, le nuage devient la saveur fugitive du moment, le go0t fugace de l’instant. L’espace s’est r8duit, le pass8 ne sert plus de conscience, les nuages ne voyagent plus selon un itin8raire d8termin8, la fra%cheur et l’humidit8 de l’air r8servent de minuscules bonheurs aux individus. L’image revient sous la plume de Chateaubriand, promu ambassadeur / Rome et 8crivant / Mme R8camier, non plus romancier, mais 8pistolier priv8, pour autant qu’on puisse distinguer l’un de l’autre. « Cette nuit nous avons eu du vent et de la pluie comme en France : je me figurais qu’ils battaient votre petite fenÞtre ; je me trouvais transport8 dans votre petite chambre […] et j’8tais / Rome loin de vous ! Quatre cents lieues et les Alpes nous s8paraient. »20 La lettre est de la mi-janvier, le rapprochement moral, au cœur de l’hiver, souligne l’8loignement physique, la disproportion entre un homme public qui s’occupe des affaires du monde, au milieu des souvenirs de l’Antiquit8, et une femme retir8e dans une petite chambre dans une rue provinciale de Paris. La m8t8orologie devient m8taphore des variations de l’esprit. Le narrateur de Th8rHse Aubert, roman de Charles Nodier, est Adolphe de S…, jeune aristocrate alsacien qui prend les armes contre la R8publique, mais s’8prend de la fille d’un r8volutionnaire. Il se travestit pour demeurer prHs d’elle, rÞve d’un autre monde oF leur amour serait l8gitime, mais doit finalement quitter celle qu’il considHre comme sa fianc8e : Les vapeurs du soir qui s’accumulaient vers le couchant commenÅaient / s’8tendre de mon cit8, et je me plaisais / voir ces nuages color8s des derniers feux du jour se d8rouler, s’aplanir, se diviser en flocons, en nappes, en r8seaux, d’abord suspendus / la vo0te dor8e de l’occident comme des draperies roses, puis d8veloppant lentement en ombres cuivr8es, violettes ou noir.tres, avant de dispara%tre dans l’obscurit8 de la nuit. Leur passage rapide et leurs formes vari8es semblaient multiplier par autant de messages les derniers adieux de Th8rHse. Chacun de ces nuages avait pass8 sur sa tÞte, elle les avait vus, elle les regardait encore ; la mÞme id8e l’occupait peut-Þtre, et mes yeux pouvaient se trouver attach8s au mÞme endroit que les siens sur cette figure confuse qui s’8vanouissait entre nous et qui emportait avec elle nos derniers regards. Ptais-je s0r de revoir jamais un nuage qu’elle aurait vu ?21

Chateaubriand propose une typologie des nuages qui reste ind8pendante de la terminologie scientifique. Les flocons, nappes et r8seaux disent les cirrus, cumulus et stratus, tandis que les rose, cuivre, violet et noir.tre rivalisent avec les

20 Chateaubriand (1910), lettre dat8e de Rome, le 15 janvier 1829, p. 119. 21 Nodier (1819), pp. 119–121.

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palettes de Bernardin de Saint-Pierre. Le nuage est concurremment modHle 8nergique, pesanteur du pass8, signe silencieux adopt8 par les amants s8par8s. Un d8tail ne prend sens que dans le rapprochement de textes. L’histoire litt8raire et la critique n’ont pas pour vocation d’assigner une place fixe aux œuvres, mais de les enrichir, de les faire fr8mir d’8chos et de r8sonances. Nos propres inqui8tudes climatiques nous rendent aujourd’hui plus r8ceptifs / ce qui pourrait ne para%tre qu’un infime accessoire. Les nuages sont dans l’air du temps. Tandis que La Th8orie des nuages a impos8 un nouveau romancier, St8phane Audeguy (2005), un romancier confirm8 comme Jacques-Pierre Amette publie son Journal m8t8orologique (2009). Anouchka Vasak explore les discours sur le ciel et le climat, des LumiHres au Romantisme ; Alain Corbin, l’historien du rivage, prolonge son enquÞte / notre sensibilit8 au temps qu’il fait22 et une collection critique s’ouvre aux Pditions Hermann pour inviter au dialogue historiens du climat et de la culture23. La collection propose une traduction de Luke Howard, une histoire litt8raire de la pluie et du beau temps, puis une 8tude interdisciplinaire sur les nuages justement. Les quelques citations qui pr8cHdent s’inscrivent dans cette mouvance. Elles donnent un poids inattendu / l’invitation au voyage de Baudelaire ou / la r8ponse de l’8tranger qui r8cuse toute attache, tout modHle, tout fantime ossianique. Le poHme de Baudelaire est contemporain de la premiHre conf8rence de m8t8orologie / Bruxelles en 1853, de la mise en place du premier r8seau d’informations m8t8orologiques en 1855, en attendant le principe affirm8 / Leipzig d’un maillage international (1873). Le vrai voyageur serait celui qui partirait pour partir et ne confondrait sa nostalgie avec nulle destination particuliHre. Le nuage redevient le signe de l’informe, de l’inconnu, de l’innommable. Ceux-l/, dont les d8sirs ont la forme des nues, Et qui rÞvent, ainsi qu’un conscrit le canon, De vastes volupt8s, changeantes, inconnues, Et dont l’esprit humain n’a jamais su le nom !24

Polys8mie du canon qui ne peut rien contre les nu8es mais qui d8signe aussi la fixit8 d’une norme / l’oppos8 de l’8vanescent. Ptrange comparaison : le conscrit a son matricule attribu8, mais se sent promis aux campagnes lointaines, aux conquÞtes coloniales. Le d8racinement de l’8tranger est radical, il ne conna%t que le passage, la fuite, l’insaisissable et les nuages deviennent pure libert8. L’inscription dans le temps et la revendication d’une continuit8 deviennent perte de tout repHre, dissolution des liens familiaux et sociaux. La postulation d’un lien 22 Vasak (2007) ; Corbin (2005). 23 Cf. Belleguic/Vasak (2011), collection oF vient de para%tre le recueil signal8 plus haut, Les Nuages, du tournant des LumiHres au cr8puscule du romantisme. 24 Baudelaire (1855), « Le Voyage. A Maxime du Camp ».

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privil8gi8 avec un Þtre aim8 se perd dans la solitude de la modernit8. « J’aime les nuages… les nuages qui passent… l/-bas… l/-bas… les merveilleux nuages ! »25 Les d8sirs ont la forme des nues, mais pour Þtre changeants et innommables, ils n’en sont que mieux susceptibles d’Þtre saisis par une expression po8tique. En tÞte d’un poHme en 1938, La Sylphide ou l’8toile carnivore, Gilbert Lely inscrit : « La forme des nuages au-dessus de la Ga%t8-lyrique, le dimanche 18 mars 1928 / 2 heures de l’aprHs-midi. »26 Une tension s’installe entre une forme qui n’est pas pr8cis8e et une date et une heure scrupuleusement exactes. Nous ne saurons rien du lien qui s’8tablit entre le ciel et la rencontre, la situation ou l’8tat d’esprit. Le poHme suggHre une confrontation oF la passion amoureuse est fouett8e par la jalousie et le spectacle de l’infid8lit8. Yves Bonnefoy a souvent salu8 ce nuage qui fixe un souvenir / travers une formule et qui r8sume une po8tique : dire « l’instant v8cu, en son horizon fugitif, ce rien qui est cependant le seul absolu qui nous soit ouvert. »27 Il explique ailleurs dans un langage baudelairien : « Le fugace, l’irr8m8diablement emport8 est le degr8 po8tique de l’univers. C’est lui, cruellement d8chiffr8 dans toute chose pr8sente, qui peut seul nous donner cette 8trange joie que Lely nomme volontiers m8taphysique, parce qu’il comprend qu’elle est le toucher, l’approche mÞme de l’Þtre. »28 Les prisonniers que nous sommes de l’ici et du maintenant sont confront8s / la possibilit8 d’un ailleurs lointain, d’un absolu qui donnerait go0t et sens / notre finitude et qui ne peut Þtre r8cup8r8 par nul dogme, nulle religion, nul parti. Nos objets d’8tude sont sans doute fuyants, mouvants, complexes, ils n’ont rien de futile, ils s’occupent de l’essentiel.

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25 26 27 28

Baudelaire (1869), « L’8tranger ». Lely (1990), t. I, p. 41. La formule devient ensuite l’8pigraphe d’Arden dans Ma civilisation. Bonnefoy (2000), « Crier le nom », pr8face, p. 13. « La Cent vingt et uniHme journ8e », postface / la Vie du marquis de Sade de G. Lely, repris dans Bonnefoy (1959), p. 120. Voir encore « Gilbert Lely le poHte » dans Rubio (2007), p. 18–19.

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G8rard Laudin

Ecriture savante et écriture littéraire de l’histoire. L’idée de ‹ Standort › et de ‹ Gesichtspunct › de Johann Christoph Gatterer et ses développements directs et indirects

On h8site / s’aventurer en quelques pages sur un sujet aussi rebattu et susceptible d’appeler un corpus consid8rable tant d’œuvres litt8raires que d’ouvrages critiques. On se contentera, en privil8giant une perspective contrastive francoallemande, de mentionner quelques thHses ou affirmations, analyses ou œuvres de fiction marquant des jalons dans une discussion parfois .pre qui resurgit / intervalles irr8guliers depuis des siHcles. Par une phrase qui se voulait avant tout descriptive et se r8f8rait aux pratiques d’8criture de son temps, Aristote a scell8 dHs la r8ception de sa Po8tique / la Renaissance une claire dichotomie entre les 8crits des poHtes et ceux des historiens et d8termin8 certaines orientations majeures du discours po8tologique : la diff8rence entre le chroniqueur et le poHte […] est que l’un dit ce qui a eu lieu, l’autre ce qui pourrait avoir lieu; c’est pour cette raison que la po8sie est plus philosophique et plus noble que la chronique : la po8sie traite plutit du g8n8ral, la chronique du particulier1.

Ce mÞme passage, dans les traductions franÅaises dont disposaient les auteurs de l’.ge classique, ne diffHre guHre de cette traduction moderne. Toutefois, la premiHre de toutes, celle de Norville, utilise une notion-cl8 qui se retrouve dans de nombreuses traductions ult8rieures, celle de ‹ vraisemblable ›, et qui est ainsi / l’origine de la version simplifi8e qu’on retient couramment de ce passage, l’opposition du vrai et du vraisemblable : La diff8rence de l’Historien & du Po[te est, que l’un suit la v8rit8, & l’autre la possibilit8 vraysemblable des Evenemens ; c’est pourquoi la Po[sie est plus sÅavante, & plus laborieuse que l’Histoire : La Po[sie est universelle, & l’Histoire se referme sur le particulier.2

La seconde, celle d’Andr8 Dacier, met davantage l’accent sur la dimension philosophique du poHme, ou ‹ morale ›, selon le sens du mot / l’8poque : 1 Aristote (1980), livre 9, 1451 ab, p. 65. 2 Aristote (1671), p. 42.

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ils different en ce que l’Historien 8crit ce qui est arriv8, & le Po[te ce qui a p0 ou d0 arriver. C’est pourquoy le Po[sie est plus grave & plus morale que l’Histoire, parce que la Po[sie dit des choses g8n8rales, l’Histoire des choses particuliHres.3

Cette phrase ainsi que l’ensemble des passages consacr8s / la trag8die ont suscit8, / partir de la premiHre r8ception de la Po8tique par Scaliger (Poetices libri septem, 1561) et Castelvetro (Poetica d’Aristotele vulgarizzata e sposta, 1570), plus tard avec d’Aubignac (La pratique du th8.tre, 1657), des commentaires qui ont interpr8t8 / l’envi comme normatifs des propos qui se voulaient avant tout / finalit8 taxinomique. Pendant longtemps, ce ne fut moins Aristote qu’on lut que ses commentateurs et leurs gloses, en particulier celles des Italiens du 16e siHcle : pour ne citer qu’un exemple fameux, l’unit8 de lieu n’est pas chez Aristote, celle de temps / peine, mais proviennent de Castelvetro. C’est en France et en Italie que la r8ception de la Po8tique fut la plus intense ainsi que les discussions qu’elle suscita. En Angleterre, elle ne retint guHre l’attention. En Allemagne, Aristote ne fut que plus tardivement vraiment au cœur des discussions, ce qui explique en partie que Shakespeare soit entr8 plus tit qu’en France, dHs les ann8es 1740, certes de faÅon discontinue, en concurrence avec lui. Les commentaires de la premiHre r8ception de la Po8tique ne tirent pas leur force seulement de ce qu’ils illustrent de faÅon caract8ristique les modes de la discussion scolastique et l’esprit d’orthodoxie d’alors, mais aussi de ce qu’ils s’inscrivent dans les perspectives renaissantes et rationalistes qui poursuivent l’objectif de faire triompher l’intelligible, le vraisemblable, et de tout motiver. Au 17e siHcle, la r8ception franÅaise de la Po8tique a ainsi la mÞme vocation 8pist8mologique que le rationalisme cart8sien. Francis Bacon avait d8j/ expos8 dans Of the dignity and advancement of learning (1605), dont il donna une version d8velopp8e sous le titre De dignitate et argumentis scientiarum (1623), une hi8rarchisation des sciences et des arts en lien avec les facult8s de l’esprit, attribuant l’histoire / la m8moire (la plus ‹ m8canique ›, donc inf8rieure des op8rations de l’esprit), la litt8rature / l’imagination et la philosophie / la raison. A l’inverse d’Aristote, Bacon rapproche l’histoire et la litt8rature comme li8es toutes deux / l’exp8rience et ayant pour objet le particulier. L’objet de la litt8rature 8tant la peinture des passions et l’embellissement de la r8alit84, elle ne possHde guHre, tout comme l’histoire, qu’une fonction p8dagogique faisant d’elles des prol8gomHnes / la philosophie. La hi8rarchisation entre l’histoire et les belles-lettres, effleur8e par Aristote et d8velopp8e par Bacon, se retrouve chez Descartes qui attribue lui aussi l’histoire / la m8moire, la litt8rature / l’imagination et la philosophie / l’entendement. Descartes, qui refuse de reconna%tre un niveau interm8diaire entre la certitude 3 Aristote (1692), p. 125. 4 Bacon (1963), t. 4, p. 292.

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m8taphysique et la certitude morale, ne t8moigne qu’indiff8rence / l’histoire qui ne traite / ses yeux que de l’accidentel. Pour Malebranche, de mÞme, il n’est de v8rit8 que m8taphysique, et les historiens, au lieu de penser, racontent de nouveau ce qu’ont d8j/ dit les autres. Les th8oriciens du 18e siHcle ont parfois modifi8 partiellement cette hi8rarchie, mais ils ont toujours maintenu une opposition entre l’histoire et les belles-lettres, et l’habitude de hi8rarchiser les savoirs et les arts se poursuit jusqu’/ d’Alembert. Toutefois, on souligne aussi parfois la proximit8 de l’histoire et des belleslettres. Pour le poHte et j8suite Pierre Le Moyne : « l’Histoire & la Po[sie sont alli8es », « le trajet qui les s8pare n’est pas long » et « il faut estre Po[te pour estre Historien »5. Il reprend aussi la perspective cic8ronienne selon laquelle l’histoire est magistra vitae, contenant donc un enseignement, dont l’.ge classique fait une 8cole de morale et dont on fera aussi plus tard une 8cole de politique : L’Histoire est une narration continu[ de choses vrayes, grandes & publiques, 8crite avec esprit, avec 8loquence & avec jugement, pour l’instruction des particuliers & des princes, & pour le bien de la Soci8t8 civile6.

La r8flexion cart8sienne du doute m8thodique trouve un prolongement parfois radicalis8 dans le pyrrhonisme historique qui, en France comme en Allemagne, s’applique / d8finir les proc8dures de v8rification des sources qui permettront d’asseoir la cr8dibilit8 du discours historique qui les exploite7. DHs 1668, La Mothe Le Vayer met en doute la cr8dibilit8 des auteurs antiques. Au mÞme moment Jacob Gronovius r8cuse l’existence de Romulus, et on commence / douter de la r8alit8 du D8luge et de la validit8 de la chronologie biblique, ainsi que des ‹ fables › sur les origines de Rome, 8tudi8es en particulier par Saint-Pvremond dans ses R8flexions sur les divers g8nies du peuple romain, dans les diff8rents temps de la R8publique (1662, imprim8es / Londres en 1705). Face aux positions les plus intransigeantes, beaucoup recherchent au tournant du siHcle des voies entre le dogmatisme absolu et le scepticisme radical, et remettent en cause le refus de Descartes de reconna%tre un niveau interm8diaire entre la certitude m8taphysique et la certitude morale. Faisant fond sur la r8flexion 8pist8mologique de Christian Thomasius, ils 8crivent de nombreux trait8s exposant les thHses du pyrrhonisme historique. En 1702, Jacob Perizonius, professeur / Leyde, prononce un discours sur l’application de ses m8thodologies / l’histoire ancienne. Il est suivi en Allemagne de Friedrich Wilhelm Bierling8 et de 5 Le Moyne (1670), p. 1. Tel est le titre-r8sum8 des thHmes d8velopp8s au chapitre 1. 6 Le Moyne (1670), p. 76–77. 7 Sur le pyrrhonisme historique, la synthHse la plus complHte prenant en compte l’espace europ8en demeure l’analyse de Borghero (1983). Voir 8galement, Völkel (1987). 8 Bierling (1707, 17242).

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Burkhard Gotthelf Struve9, parmi beaucoup d’autres, tandis que se multiplient aussi les ouvrages tels que la M8thode pour 8tudier l’histoire de Lenglet Dufresnoy (1713). C’8tait faire œuvre utile alors que de nombreux ouvrages continuaient de brouiller la frontiHre s8parant la fable et la science, / la maniHre des g8n8alogies imaginaires qui se plaÅaient dans la tradition de l’En8ide et dont l’exemple le plus 8loquent est l’ouvrage publi8 en 1498 par Giovanni Nanni, dit Annius de Viterbe, qui compile pÞle-mÞle des 8crits d’historiens et des apocryphes : Commentaria fratris Joanni Anni Viterbiensis super opera diversorum auctorum de antiquitatibus loquentium, dont le titre varie au gr8 de ses nombreuses r88ditions. Ces r8cits des origines peuvent concerner des groupes de populations ou des nations ; souvent encomiastiques, ils s’appliquent alors / flatter une dynastie r8gnante en la rattachant aux h8ros bibliques. Dans un article de L’Encyclop8die, le chevalier de Jaucourt 8prouve encore le besoin de se gausser d’une des fables qui ont eu la vie la plus dure. On vit resurgir, dit-il, l’antique thHse des « Hyperbor8ens », c’est/-dire de ces peuples que les auteurs de l’Antiquit8, « H8rodote, Strabon, Pausanias, Pline, Pindare, Callimaque, Apollonius de Rhodes », placent « sous le nord, sous le vent du nord, au-del/ du nord, au-del/ de bor8e, & c’est de-l/ que vient leur nom ; par ces expressions au-del/ de Bor8e, le commun des hommes entendoit un peuple, un pays, qui 8tait tellement sous le nord, que le vent du nord n’y pouvoit souffler »10. Jaucourt rappelle que les Anciens, comme Strabon ou Pline, divergeaient sur la localisation g8ographique de ces peuples et que des g8ographes modernes, pourtant s8rieux, leur embo%tent le pas : Johann Clüver (ou Cluvier), au d8but du 17e siHcle, reprend la thHse qui les situe vers le PontEuxin ; vers la fin du 17e siHcle Johann Jakob Hofmann et Christoph Keller (Cellarius) les identifient aux « SamoyHdes » et aux « Sib8riens » (Jaucourt). Le trHs s8rieux abb8 Banier aborda la question dans un m8moire de l’Acad8mie des Inscriptions. Jaucourt clit son article par un paragraphe d’une subtile ironie envers Olof Rudbeck, dont « on se doute bien que cet auteur qui a regard8 la SuHde sa patrie, comme le grand th8.tre de l’histoire ancienne », en a fait « le s8jour des descendants de Japhet, de Saturne et d’Atlas », ne manquant pas d’y situer aussi « le d8licieux jardin des Hesp8rides ». De fait, Rudbeck, dans un ouvrage dont les th8oriciens racialistes feront leur beurre encore / la fin du 19e siHcle, identifie la SuHde / l’Atlantide de Platon et voit dans le Nord le berceau de la civilisation humaine11. Toutefois, ce recteur de l’Universit8 d’Uppsala n’en est pas moins un 9 Struve (1705). 10 Encyclop8die de Diderot et d’Alembert (1765), t. 8, article « Hyperbor8ens », p. 405–406. 11 Olof Rudbeck (1679–1702), Atlantica, sive Manheim, vero Japheti posterorum sedes ac patria, Uppsala. Titre su8dois : Atland eller Manheim.

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8minent savant copernicien et un anatomiste qui d8couvrit les vaisseaux lymphatiques et que la communaut8 scientifique prenait au s8rieux. Il introduisit Descartes en SuHde, et Newton voulut recevoir un exemplaire de son Atlantica. La thHse qu’il soutient dans son livre, ouvrage mythologique, historique et g8ographique dans lequel il b.tit un discours patriotique en s’appuyant sur l’Edda12, prÞte aujourd’hui / sourire, mais il est parfaitement repr8sentatif de ces savants qui compilHrent des g8n8alogies imaginaires / la maniHre d’Annius de Viterbe et qui, au 17e siHcle et au 18e siHcle encore, multipliHrent les allusions / des fondateurs 8ponymes d’Ptats, tous les « Francus » et « Rex Danus » qui apparaissent par exemple chez Clüver13, ou quand Johann Hübner, dans un ouvrage scolaire trHs pris8 au 18e siHcle, retrace l’origine des Allemands, depuis la descendance de No8 dont le fils Japhet aurait colonis8 l’Europe, puis aurait eu un fils, Gomer, lequel aurait donn8 naissance / Ascenas, « auch Tuisco genennet », qui se serait install8 dans le pays appel8 maintenant « Deutschland »14… Au centre des r8flexions du pyrrhonisme historique figure la notion cart8sienne d’8vidence. Le pyrrhonisme d8bouchera sur l’8laboration d’une notion de « certitude morale », dont Thomasius admet que la d8monstration soit diff8rente de la rigueur math8matique. Elle devient le fondement de la possibilit8 de validit8 de la connaissance historique et des autres disciplines morales. Les Allemands r8cupHrent aussi la notion de « probabilit8 » refus8e par Descartes, qui constitue le cœur de la fides historica, comme la fides juridica s’applique / d8finir les conditions de validit8 des t8moignages15. L’apport essentiel de la querelle du pyrrhonisme aura donc 8t8 de d8finir l’autonomie 8pist8mologique de l’histoire par rapport aux savoirs d8monstratifs. Par ailleurs, la notion de vraisemblance qui, / des degr8s divers, fonde les th8ories des pyrrhoniens mod8r8s, de Bayle / Struve, si elle permet de d8finir un domaine de savoir distinct de la certitude d8montr8e, pr8sente ainsi l’avantage de co"ncider avec une des id8es-cl8s de la po8tique aristot8licienne. Les conditions sont donc donn8es pour penser une nouvelle articulation de l’8criture scientifique et de l’8criture litt8raire de l’histoire. En Allemagne, les d8bats autour du pyrrhonisme furent plus att8nu8s qu’en France, mais ils eurent des 8chos plus tardifs et, / partir du d8but du second tiers 18e siHcle, la discussion sur l’8pist8mologie de l’ars historica commenÅait / s’8puiser dans la question de la v8rificabilit8 des faits. C’est de la r8flexion des pyrrhoniens mod8r8s comme Bierling ou Struve que procHde l’ouvrage de Johann Martin Chladni (Chladenius), professeur des antiquit8s chr8tiennes / 12 13 14 15

Cf. Boura (2003) et Vidal-Naquet (2005), en particulier p. 75–78. Clüver (1631), nombreuses r88ditions au 17e siHcle, ici p. 504–512, 522. Hübner (17439), t. 5, p. 1. Borghero (1983), p. 256.

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Leipzig puis de th8ologie et d’8loquence / Erlangen, qui tente d’associer le rationalisme wolffien et l’empirisme dans Allgemeine Geschichtswissenschaft, worin der Grund zu einer neuen Einsicht in alle Arten der Gelehrtheit gelegt wird paru / Leipzig en 1752 et dans lequel il formule sa th8orie du « Sehe-Punct »16. Bientit, Johann Christoph Gatterer, alors en passe de devenir le chef de file de la « nouvelle histoire » / l’Universit8 de Göttingen, reprend cette id8e et l’expose pour la premiHre fois dans un article intitul8 « Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtschreibers oder der teutsche Livius »17 : en raison de l’8poque dans laquelle il 8crit et de son mode d’inclusion dans la soci8t8 de son temps (son « Standort »), Tite-Live ne peut qu’exprimer des « points de vue » autres qu’un historien du 18e siHcle, dont le « Standort » est tout autre. La thHse para%t aujourd’hui bien banale, mais elle place la r8flexion sur l’8criture historienne dans une 8pist8mologie radicalement diff8rente de celle qui pr8valait chez les th8oriciens / la recherche d8sesp8r8e de la certitude historique. De surcro%t, Gatterer va bien vite d8placer les enjeux vers le r8cepteur en ajoutant un volet suppl8mentaire / sa r8flexion : un souci d’esth8tique de la communication. Pour continuer / jouer son rile p8dagogique de magistra vitae qui lui confHre alors sa l8gitimit8 sociale, et donc pour Þtre un vrai instrument d’8ducation, l’histoire doit Þtre 8crite d’une faÅon susceptible de « s8duire » un public plus nombreux, sans pour autant s’8carter de la rigueur scientifique la plus parfaite. Gatterer souhaite ainsi que ses concitoyens reproduisent « le bon go0t des Anciens » (« den guten Geschmack der Alten »), par exemple celui d’un TiteLive, qu’ils s’inspirent des « gr.ces de l’8criture » des FranÅais qui savent « int8resser leur lecteur » (« Anmuth der Schreibart und Unterhaltung des Lesers ») et « instruire en divertissant » (« nicht nur unterrichtend, sondern auch unterhaltend »)18, donc qu’ils satisfassent / la double exigence de prodesse et delectare sans d8roger / la rigueur de la science19. Gatterer use pour ce faire d’une terminologie qui est alors celle de la critique litt8raire (« empfinden », « fühlen », « Genie »). Il recommande explicitement d’allier la « rigueur » scientifique allemande au « charme » et / la « l8gHret8 » de l’8criture franÅaise20. Pour convenues que paraissent ces formulations, leur r8currence les rend significatives, et surtout elles t8moignent de la part d’un historien d’un souci 8vident de la forme 16 17 18 19

Cf. Chladni (1752), p. 93–110. Gatterer (1768), Allgemeine historische Bibliothek (AHB), t. 5, p. 3. Gatterer (1772), Historisches Journal (HJ), t. 1, p. 47 et Gatterer (1767), AHB, t. 1, p. 168. Gatterer (1767), AHB, t. 1, « Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen »; Gatterer (1772), HJ, t. 1, « Vorrede » et p. 47–48. Voir / ce propos: Laudin (1997). 20 Gatterer (1767), AHB, t. 3, « Scharfsinn und Wahrheitsliebe der Teutschen mit der Anmuth der französischen Leichtigkeit », p. 213. Lessing exprime des id8es voisines au d8but de la 52e des Literaturbriefe (ao0t 1759), cf. Lessing (1997), p. 624.

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comme instrument de la communication, car son objectif est d’8largir l’audience de la r8flexion historienne. On notera que les propos de Gatterer s’inscrivent dans une st8r8otypie des identit8s nationales attribuant la performance esth8tique aux FranÅais et le souci de l’exigence scientifique aux Allemands21. Voltaire historien occupe, on s’en doutera, une place de choix / la fois comme cible de la critique et modHle d’imitation. Ce sont, selon un paradoxe qui n’est qu’apparent, des th8ologiens, moins attach8s au respect du d8tail historique et tout aussi sensibles qu’un Gatterer / l’usage p8dagogique et moral de l’histoire, qui reconnaissent le mieux ses m8rites. C’est ainsi qu’on lit chez Thomas Abbt : « Ich betrachte ihn [Voltaire] immer als meinen Lehrer, nicht in der Geschichte, sondern in der Kunst dabei zu denken. Er hat mir die Logik der Geschichte beigebracht »22. Peu de temps aprHs, Herder, s’interrogeant sur les modHles dont les historiens allemands pourraient s’inspirer, caract8rise ainsi en 1770 la maniHre de Voltaire historien : [Seine Betrachtungslaune] ist an sich schön; sie kann, insonderheit die Deutschen, sehr bilden; nur nachgeahmt werden? in der Historie nachgeahmt werden? Muster der Historie sein? Mit oder ohne Voltäres Geist – nie! Mit ihm wird die Historie verunstaltet; ohne ihn noch mehr verunstaltet23.

Pour demeurer magistra vitae et 8largir l’audience de la r8flexion historienne, l’8criture savante de l’histoire ne peut se contenter d’Þtre eruditio et narratio : elle doit aussi faire r8fl8chir. Au mÞme moment appara%t un nouveau type de r8flexion et de discours qui sera nomm8 « philosophie de l’histoire » pour en souligner la dimension de r8flexion. Les auteurs de tous ces ouvrages usent volontiers de la terminologie des savants de Göttingen pour organiser « l’agr8gat » des faits en « systHme » et en rendre ainsi apparente la « coh8rence ». Telle est l’ambition de Schiller dans Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789) : « [die Weltgeschichte ist an sich] nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken » : « indem er [der philosophische Verstand] diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen »24. La perspective du « point de vue » de Chladni et de Gatterer, en combinaison avec d’autres facteurs, a engendr8 la conscience du caractHre discursif de l’historiographie, qui est n8cessairement interpr8tation et non simple reflet ou r8surrection du pass8. Ces id8es occupent une place centrale dans la r8flexion 8pist8mologique des historiens du dernier tiers du 20e siHcle. On lit dans leurs 21 22 23 24

Cf. Laudin (2016). Abbt (1764), t. 20, « lettre n8 296 », p. 3. Herder (1878), t. 4, « Journal meiner Reise im Jahr 1769 », p. 417. Schiller (2004), t. 6, « Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? », p. 427.

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8crits que « l’histoire est fille du r8cit »25, que le fait historique n’est pas un donn8 qu’on restitue, mais un ph8nomHne qu’on choisit et construit, souvent / partir de s8ries significatives : « L’historien est conscient qu’il choisit, dans ce pass8, ce dont il parle, et que, ce faisant, il pose / ce pass8 des questions s8lectives […]. Il lui faut conceptualiser les objets de son enquÞte, les int8grer dans un r8seau de significations »26. Pris en lui-mÞme, l’8v8nement, ou le fait isol8 est inintelligible. S’est impos8e la conscience que chaque 8poque d8finit et recompose son pass8 en fonction de ses propres interrogations : « L’histoire n’existe que par rapport aux questions que nous lui posons »27. Sans toute une r8flexion ant8c8dente poursuivie jusqu’/ nos jours, Goethe n’aurait sans doute pas non plus 8crit : Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern, weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt28.

Et Goethe, au d8but du 19e siHcle, clit avec humour le d8bat s8culaire opposant et hi8rarchisant l’historien et l’homme de lettres : « Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter, darf gar nicht aufgeworfen werden; sie konkurrieren nicht miteinander, so wenig als der Wettläufer oder der Faustkämpfer. Jedem gebührt seine eigene Krone »29. *

Il serait vain de chercher / rendre compte en quelques lignes de la grande vari8t8, amplement 8tudi8e, des formes et des thHmes historiques tant au th8.tre que dans les romans du 19e siHcle dans toute l’Europe occidentale. Avoisinent des sujets li8s au ‹ mouvement des nationalit8s ›, souvent en combinaison avec le Moyen Age dont la valeur de ‹ creuset › de l’Europe moderne est apparue avec une nettet8 nouvelle (on pensera ici au Witiko de Stifter, 8crit en 1857, paru en 1867, qui fait figure d’8pop8e nationale de BohÞme), et ces th8matiques interfHrent volontiers avec la pr8sentation de crises politiques au sens le plus large du terme. Dans l’espace germanique, on relHve un certain nombre de fresques romanesques qui parcourent les siHcles en remontant aux temps les plus recul8s, comme le cycle de huit romans, parus entre 1832 et 1852, dans lesquels Willibald Alexis cherche / 25 26 27 28 29

Furet (1982), p. 73. Furet (1982), p. 76. Paul Veyne, cf. Domenach (1981), cit8 d’aprHs coll. « Points », p. 36. Goethe (1949), t. 16, Zur Farbenlehre, p. 413. Goethe (1949), t. 9, Maximen und Reflexionen, p. 527 (posthume 1833).

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cerner l’identit8 du Brandebourg-Prusse, du 13e siHcle / son 8poque, ou plus tard Die Ahnen de Gustav Freytag (1872–80) qui remontent / l’an 357, puis avancent par tableaux-8tapes – 724, 1003, 1226, 1519, 1805 – jusqu’au 19e siHcle. Pour des raisons li8es / la pr8sence plus forte de la politique dans le champ social, le discours historique voit alors sa pr8sence renforc8e avec des sp8cificit8s nationales30. Et si le d8but du 19e siHcle est bien l’8poque du « sacre de l’8crivain » (selon la formule c8lHbre de Paul B8nichou31), elle est aussi celle du sacre de l’historien, dont beaucoup accHdent / une notori8t8 rare auparavant et exercent un magistHre social dont la r8sonance est in8dite, pouvant mÞme comme Guizot et Thiers devenir ministres. D’autres encore s’ouvrent / des th8matiques relevant de ce qu’on appelle aujourd’hui l’histoire de mentalit8s, comme Michelet qui, dans Le peuple (1846), La femme (1859) ou La SorciHre (1862), sait les allier / de grandes qualit8s d’8criture, cr8ant une proximit8 avec des thHmes et formes romanesques. Mais c’est dans l’Allemagne de l’8poque dite de « l’historisme », l/ oF on aurait cru, comme tenu de la pr8gnance du discours sur l’8pist8mologie de l’8criture historienne, que se cr8eraient deux espaces irr8conciliables, celui du romancier et celui de l’historien, que des rapprochements se dessinent le plus et acquiHrent dans la seconde moiti8 du siHcle une vigueur particuliHre. Il para%t de prime abord singulier que Theodor Mommsen, grand historien allemand du 19e siHcle, ait reÅu le prix Nobel de litt8rature en 1902 pour les huit volumes de sa Römische Geschichte (1854–86). Singulier, mais nullement fortuit ainsi que l’a montr8 Daniel Fulda32 : Mommsen repr8sente un point d’aboutissement du changement de paradigme initi8 par Gatterer. Il n’est pas non plus isol8. D’autres ont œuvr8 / leur maniHre au rapprochement de l’8criture litt8raire de l’histoire des proc8dures de son 8criture savante. Dans la seconde moiti8 du 19e siHcle33, la multiplication des romans 8crits par des historiens de profession et mettant en relation savoirs 8rudits et fiction narrative a incit8 Otto Kraus / 8crire sous le titre Der Professorenroman (1884) un ouvrage dans lequel il ironise sur ce qui lui semble une « mode ». S’il qualifie certains de ces savants de romanciers au « m8diocre talent » litt8raire (comme l’8gyptologue Georg Ebers, auteur de Eine ägyptische Königstochter (1879) et plus tard d’une Kleopatra (1893), il cr8dite en revanche Felix Dahn d’un « grand talent », tout en notant qu’ils produisent tous deux une

30 Cf. la pr8sentation du volume r8cent de D8cultot/Fulda/Helmreich (2018), p. 1–18 « Nation als Faktor des historischen Diskurses – im 19. Jahrhundert und heute », qui insistent sur l’id8e de « nationales Jahrhundert ». 31 B8nichou (1973). 32 Fulda (1996). 33 Eggert (1971), p. 206–207.

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« litt8rature de divertissement exigeante » pour un public d8sireux de se cultiver34. Le roman Ein Kampf um Rom de Felix Dahn, publi8 en 1876, est en effet la r88criture romanesque et romanc8e d’un ouvrage savant intitul8 Die Könige der Germanen (20 volumes parus entre 1861 et 1909), auquel l’auteur, professeur et historien du droit sp8cialis8 dans l’histoire de la fin de l’Imperium romanum et de l’8poque du royaume ostrogoth de Ravenne, renvoie express8ment : « Die wissenschaftlichen Grundlagen dieser in Gestalt eines Romans gekleideten Bilder aus dem sechsten Jahrhundert enthalten meine in folgenden Werken niedergelegten Forschungen ». Suivent deux indications bibliographiques, deux ouvrages de Dahn : Die Könige der Germanen (vol. 2 / 4, München und Würzburg, 1862–66) et Prokopius von Cäsarea. Ein Beitrag zur Historiographie der Völkerwanderungen und des sinkenden Römertums (Berlin 1865). Dahn pr8cise par ailleurs que le personnage central de Cethegus Cäsarius est invent8. L’Allemagne bismarckienne n’est pas seule / avoir ses « Professorenromane ». En France, un mouvement se dessine aprHs la Seconde Guerre mondiale qui atteint un point culminant dans les ann8es 1970–80 : alors que des professeurs comme Robert Merle (avec le cycle de La Fortune de France, 1977 sq) ou Raymond Jean (La Fontaine obscure, 1976) 8crivent des romans / th8matique historique anim8s d’un 8vident souci documentaire, et des historiens, qui sont tous des coryph8es de la « seconde g8n8ration » voire de la troisiHme g8n8ration des Annales, 8crivent des ouvrages reposant sur une documentation irr8prochable, mais dont les titres et thHmes culturalistes suggHrent une proximit8 avec des romans soutenue par une 8criture ais8e35 : Le dimanche de Bouvines (1973) et Guillaume le Mar8chal de Georges Duby ou Le Carnaval de Romans d’E. Le Leroy Ladurie (1979). On ajoutera / cette liste les 8tudes de deux historiens 8trangers travaillant sur la France, Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del Cinquecento (1976, traduction franÅaise : Le fromage et les vers) de Carlo Ginzburg et Le grand massacre des chats de Robert Darnton (1985). Le livre de Ginzburg reconstitue l’univers d’un meunier du 16e siHcle / partir de procHsverbaux d’inquisition et de procHs d’h8r8sie, et le Carnaval de Romans et Le grand massacre des chats analysent des crises li8es / la foi et aux superstitions. Certes, aucun de ces 8crits n’invente, / l’instar de romans, de personnage dot8 d’un profil sociologique ou mental le rendant repr8sentatif de l’8poque de « l’action » et ainsi possible support d’un « mentir-vrai », mais tous pratiquent des techniques d’8criture aux traits romanesques. Cette pr8sence forte de tels ouvrages, savants ou romanesques, / deux moments diff8rents de deux histoires nationales diff8rentes, celle de l’Empire Allemand et celle de la CinquiHme R8publique en 34 Cf. Kurth-Voigt (1982), p. 143. 35 Cf. Laudin/Mass (1993), en particulier p. 9–31 et p. 173–210.

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France, doit Þtre analys8e dans une perspective de sociologie de la litt8rature. Dans la France des ann8es 1970–80, qui n’est pas encore trHs 8loign8e de la Seconde Guerre mondiale36 et sort / peine des guerres de la d8colonisation, on peut discerner, comme dans l’Allemagne unifi8e bismarckienne, un enjeu identitaire pos8 de faÅon diffract8e par l’interm8diaire de sujets emprunt8s au Moyen Age ou aux 16e-18e siHcles, sur lesquels historiens et romanciers s’allient pour commenter l’histoire nationale / leur public. Le discours historique, savant ou fictionnel, r8pond / l’8vidence / un besoin culturel d’une soci8t8 / un moment donn8. *

Les qualit8s d’8criture ne font pas n8cessairement l’innovation dans la forme narrative. On soulignera toutefois que Georges Duby recourt / des proc8d8s narratifs tels que le d8voilement progressif pour reconstituer dans Guillaume le Mar8chal la vie d’un personnage de second plan, qui e0t fait un digne personnage de roman, et / travers lui, une histoire du 12e siHcle. La Fortune de France, tout comme La Fontaine obscure, mettent en œuvre des proc8dures qui signalent la familiarit8 de leurs auteurs avec les th8ories narratologiques modernes. Il en est de mÞme avec Il nome della rosa / Le Nom de la rose d’Umberto Eco (1984), professeur de s8miotique, dont la th8matique fort savante (les pol8miques autour de la philosophie de Guillaume d’Occam) s’insHre dans une d8marche de roman policier, mais aussi avec Das Parfüm / Le parfum de Patrick Süskind (1985), qui fonde une intrigue de roman fantastique sur la compr8hension de la perception des odeurs au 18e siHcle dont Alain Corbin a retrac8 l’histoire. Tout comme Die Blechtrommel / Le Tambour (1959), premier volume de la Trilogie de Danzig (1959–63) de Günter Grass, voire comme Il barone rampante / Le baron perch8 d’Italo Calvino (1957), ces romans rompent avec la perspective de l’auteur « omniscient » qui marquait le roman cr88 par Walter Scott dont l’8mergence avait 8t8 parallHle / l’historiographie positiviste. Tous procHdent d’8critures plus attentives au statut de la fiction dont on a pu discerner l’8bauche par exemple d8j/ chez Fontane, Döblin ou Heinrich Mann, des romanciers qui ouvrent « l’Hre du soupÅon » qui marquera dans la seconde moiti8 du 20e siHcle les proc8dures d’8criture des nouveaux romanciers37. Il en va de mÞme avec Levantado do Ch¼o (1980) de Jos8 Saramago, prix Nobel de litt8rature en 1998, qui retrace la vie de paysans de l’Alentejo entre le d8but du 20e siHcle et la R8volution des Œillets, sans autres repHres chronologiques dans le texte que ceux que le lecteur peut y dis36 On notera d’ailleurs que le premier roman de Robert Merle, l’auteur de la Fortune de France, porte sur un 8pisode de la Seconde Guerre mondiale (Le week-end / Zuydcoote, 1949). 37 Sur ces formes de romans historiques, Geppert (1976) ; Aust (1994). Cf. aussi l’analyse r8cente de Hartog (2014), qui examine la configuration du discours sur le temps dans des romans du 19e et du 20e siHcle.

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cerner gr.ce / ses propres connaissances38. Par le biais d’une extrÞme focalisation interne du r8cit / travers un regard qui ne d8passe pas l’horizon, Saramago met en œuvre une perspective narrative d8crite par Dieter Wellershoff / propos de son autobiographie Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges (1995) qu’il dit fond8e sur une conception ph8nom8nologique soulignant la r8duction extrÞme du regard individuel, tel qu’il pouvait Þtre / l’8poque du nazisme et de la guerre. Wellershoff n’h8site dHs lors pas / comprendre ce mode de perception comme la matrice du « nouveau r8alisme »39, celui qu’on trouve / l’œuvre 8galement dans Jakob der Lügner de Jurek Becker (1969) dont le h8ros vit dans un ghetto. De tels ouvrages tranchent avec de trHs nombreux r8cits historiques suspects de servir de supports / une litt8rature de simple divertissement, d’exotisme facile, une Trivialliteratur, d8j/ discern8e, voire d8nonc8e dans le Professorenroman des Gründerjahre. Se dessinent ainsi deux lignes d’8volution de la production romanesque, que la critique du 19e siHcle et la th8orie litt8raire du 20e siHcle formaliseront dans l’opposition d’une litt8rature de grande consommation et d’une autre esth8tiquement ambitieuse40. La narrativit8 historienne savante a 8t8 dans les ann8es 1970 l’objet d’une 8tude dont la publication fit l’effet d’un lourd pav8 lanc8 dans la mare. Dans Metahistory : The historical imagination in Nineteenth-Century Europe (1973), ainsi qu’un recueil traduit en allemand sous un titre significatif : Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen (1986), l’historien am8ricain Hayden White d8fend la thHse selon laquelle le discours historien universitaire est soumis comme le r8cit romanesque aux contraintes de la narration : parmi ces contraintes, la plus simple mais aussi la plus puissante 8tant que l’ordre dans lequel les faits sont relat8s suggHre / lui seul des relations de causalit8. Ces analyses co"ncident largement avec celles du philosophe franÅais Paul Ricœur, / qui White se r8fHre souvent et qui montre 8galement, dans Temps et r8cit (3 vol., 1983–85), que tout r8cit, fictionnel ou scientifique, est une interpr8tation. Pour White, cette interpr8tation n’est pas seulement le reflet d’une subjectivit8 priv8e, mais elle r8sulte de la mise en œuvre de proc8dures 8pist8mologiques jug8es susceptibles d’engendrer une intelligibilit8. En d’autres termes, l’historien est tributaire d’une conception du plausible li8e / son temps et au champ culturel auquel il appartient41. Gatterer n’est pas loin… La lin8arit8 de l’8criture n’est pas plus possible au th8.tre que dans le roman. Interrog8 dans les ann8es 1970 sur ce que lui 8voque le concept de th8.tre historique, Heiner Müller r8pondait : 38 39 40 41

Traductions franÅaise Relev8e de terre (2012) et allemande Hoffnung im Alentejo (2013). Wellershoff (1995), p. 86. Cf. Meid (2013), p. 369–386 et 506–524. Sur les discussions engendr8es par la r8ception de Hayden White en Allemagne et en France, voir Werner (2018).

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Geschichtsdrama ist ein Begriff, mit dem ich praktisch nicht viel anfangen kann […]. Ich glaube, entscheidend ist: Der Historismus ist vorbei. Das war eine kurze Zeitspanne, in der man versucht hat, historische Dramen zu schreiben. Man nennt das Kostümstücke. Jetzt kann man über Geschichte nur noch schreiben, wenn man seine eigene historische Situation mitschreibt. [….] Eine Schlußfolgerung aus dieser so drängenden und dringlichen Lage ist, daß man die Epochen zusammenschiebt, daß man jetzt in einer Art Zeitraffer auf die Geschichte, die Vergangenheitsgeschichte, blickt. Damit stellt sich die Frage, ob man nicht im Geschichtsdrama heute den Anachronismus braucht42.

« Zusammenschiebt »? Faire de l’anachronisme et du t8l8scopage des 8poques l’instrument d’une meilleure intelligibilit8 de l’histoire, tout comme Ricœur montrait que tout auteur de r8cit devait relever le d8fi d’articuler l’exp8rience du temps en suites intelligibles43, n’est-ce pas / cela que pensait Christian Dietrich Grabbe quand il 8crivait en 1827 dans un paratexte de sa trag8die romaine Marius und Sulla : Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an. Der Verfasser von Marius und Sulla hat zwar mehr wie der größte Teil der übrigen historischen Dramatiker sich genau an die Geschichte zu halten gesucht, und dennoch ganze Jahre versetzen müssen44.

A une expression prHs « den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln », d8crypter la quintessence de l’8v8nement, n’est-ce pas aussi ce / quoi pense Heiner Müller pour inclure sa propre 8poque ? Evoquant le projet d’un « condens8 de L’Orestie », « ein Digest der Orestie »45, qui ne soit seulement « abr8viations et simplifications »46, Heiner Müller y voit un sujet d’op8ra pour Pierre Boulez, car « la musique est une sorte de st8nographie »47. Son interlocuteur, Alexander Kluge, avait employ8 le mot « Kurzschrift », puis fait une comparaison avec « l’8criture hi8roglyphique 8gyptienne ». La musique est un langage qui permet une condensation du sens : Man bekommt mehr Brüche, weil die Musik natürlich auch eine Kondensation sein kann. Sie verdichtet Sachen, zieht Sachen zusammen, die du mit Texten nicht zu-

42 Grimm/Hermand (1976), t. 6, « Geschichte und Drama. Ein Gespräch mit Heiner Müller am 22. 11. 1975 in Madison, USA », p. 48 sq. 43 Cf. Werner (2018), p. 29. 44 Grabbe (1960), t. 1, p. 409. 45 Kluge/Müller (1995), p. 95. Entretien diffus8 le 15 ao0t 1994. Traduction franÅaise : Kluge/ Müller (1997), p. 51. 46 Kluge/Müller (1995), p. 95: « Verkürzungen und Vereinfachungen ». 47 Kluge/Müller (1995), p. 99: « Die Musik ist eine Art Stenographie in bezug auf solche Stoffe ».

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sammenbekommst, ohne ganz ausführlich zu werden. Die Musik kann Sachen viel schneller bündeln48.

Johann Wolfgang von Goethe voyait dans les arts visuels, ici des sculptures, des supports de telles « condensations », qu’il nomme « symphronismes », du grec sulvqom]y_, qui implique l’id8e d’« Þtre du mÞme avis », de « penser ensemble » dans une sorte de synthHse, ou peut sugg8rer une combinaison de symboles, au sens de sulbok^, un terme qui signifie « rencontre, r8union, jonction ». [I]hr werdet bemerken, daß in den Sockeln und Friesen nicht sowohl synchronistische als symphronistische Handlungen und Begebenheiten aufgeführt sind, indem unter allen Völkern gleichbedeutende und Gleiches deutende Nachrichten vorkommen49.

Articuler les chronologies, la diachronie sur la synchronie et les s8mantismes de faits appartenant / des civilisations diff8rentes, tel semble bien d8j/ le projet relev8 ici par Goethe. Ce qui est propre aux perspectives de la seconde moiti8 du 20e siHcle, c’est le soulignement explicite par Heiner Müller de la n8cessit8, pour l’auteur, d’inclure sa « situation pr8sente » dans ses drames historiques, sous peine sinon de faire du peplum, de faire surgir une relation pr8sent-pass8, demeur8e le plus souvent seulement implicite, voire quasi impens8e, dans des r8cits plus anciens. Qui croirait encore que l’unique compr8hension possible de l’histoire r8siderait dans le projet cher / Ranke dans les ann8es 1820 de rendre le pass8 « tel qu’il fut effectivement » (« wie es eigentlich gewesen »50), dans une historiographie du miroir?

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3. Perspektiven auf Autor, Gattung und Leser

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Am Anfang, so um 1770, standen Enthusiasmus und Hoffnung. Man erkannte den Künstler als Genie. Es gab keine Regeln und Vorschriften mehr. Es gab keine verpflichtenden Traditionen mehr. Der Künstler ganz alleine ließ die Welten seiner Werke aus der Tiefe seines schöpferischen Inneren hervorbrechen: Jedes Werk ein Akt absoluter Freiheit! Das Genie schuf in Analogie zum Schöpfergott der Bibel oder partizipierte an der schöpferischen Gewalt der Natur. Aber dadurch wurde es nicht relativiert – im Gegenteil: Es rückte ins Göttliche. Einerseits lag darin eine Verklärung des Menschen. Noch nie war – seit dem Verschwinden von Gottkönigen und halbgöttlichen Heroen – so hoch von Menschen gedacht worden. Andrerseits war es nur eine winzige Zahl, die derart erhöht wurde. 1773 entwirft Herder ein Bild von Shakespeare, dem Inbegriff des neuen Genies: Sein Haupt reicht bis in die »Strahlen des Himmels«, um seine Füße toben Sturm, Ungewitter und das Brausen des Meeres.1 Im selben Jahr stellt Goethe den Baumeister des Straßburger Münsters an die Seite jenes Schöpfergottes, »der Berge auftürmte in die Wolken.«2 Neben solchen Titanen verzwergen die gewöhnlichen Menschen. Herder malt sich spöttisch aus, wie all die Erklärer Shakespeares »unten am tiefsten Fuße seines Felsenthrones« murmeln und er sie »alle nicht höret!« Goethe misst die Größe des Erwin von Steinbach nach dem Riesenbau der Straßburger Kathedrale – gewöhnliche Menschen wirken neben ihm wie »Ameisen, die drum krabbeln«. Goethes Baumeister verkündet seinen Nachfahren: »ich bleibe bei euch, in den Werken meines Geistes«. Das paraphrasiert nach dem Johannes-Evangelium:3 Wo immer zwei oder drei sich in seinem Namen versammeln, da ist Jesus kraft des Geistes mitten unter ihnen und sie sind in ihm.4 Das wird nun ein Modell für die Rezeption von Kunst: Wer immer imstande ist, das große 1 2 3 4

Herder (1985), Bd. II, S. 498. Goethe (1985), Bd. I.2, S. 415. Joh 14, 16–18 in: Luther (1972), S. 2171. S. Joh 14, 19.15; Mt 18, 20; 1 Joh 3, 24.

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Kunstwerk nach- und mitzuvollziehen, der partizipiert auch am göttlichen Geist seines genialen Schöpfers. Der Abstand zwischen den Wenigen, die in dieser Wahrheit sind, und den Vielen, die für die revolutionäre Kunst der Genies kein Verständnis haben, gewinnt damit eine völlig neue Qualität. Das ist nicht mehr der Abstand zwischen Kunstverständigen und Banausen, das ist der Abgrund zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwischen Gott und dem »Fürsten dieser Welt«.5 Die Wahrheit dieser neuen Kunst aber ist eine nur der Kunst eigene Wahrheit. Begriffliches Reden holt sie nicht ein. So entwickeln Hamann, Herder, Goethe einen neuen Stil für das Schreiben über Kunst. Im Rückblick räumte Goethe später ein, dass man bei der Lektüre Hamanns allerdings »durchaus auf das Verzicht tun [müsse], was man gewöhnlich verstehen nennt.«6 Das tat dem Reiz dieser Prosa aber keinen Abbruch, denn: Ich fühlte »wohl, daß mir in Hamanns Schriften etwas zusagte, dem ich mich überließ, ohne zu wissen, woher es komme und wohin es führe.«7 Der entscheidende Punkt wird hier bereits auf den Begriff gebracht: Dem Theorie-Diskurs der Genialen ging es nicht um argumentative Überzeugung, sondern um Einverständnis. Emotional hoch bewertete Signalworte – Natur! ganzer Mensch! Gefühl! Leidenschaften! Genie!! … – versichern dem Leser, dass er sich unter Brüdern und Schwestern im Geiste befindet. Ausrufe, Satzabbrüche, Reihungen, Bilder, Zitate, Anspielungen erzeugen eine Art Sound, der auf Außenstehende schwer verständlich, ja undurchdringlich wirkt; aber den Gleichgestimmten erhebt er das Herz. Wer in seinem Rhythmus mitschwingt, gehört dazu: hat Teil am hohen Selbstbewusstsein des genialen Geistes und sieht mit hinunter auf das Wimmeln und Krabbeln der ameisenhaften gewöhnlichen Menschen. Für deren Verachtung gab im übrigen Rousseau ebenso Anschauungsunterricht wie der junge Werther. Die Haltung zur Menge bleibt im Sturm und Drang allerdings ambivalent. Dem elitären Selbstgefühl tritt ein populäres Selbstverständnis entgegen. Das Genie will nicht nur die Gelehrten, sondern alle Menschen bewegen, wie das – nach Herders Überzeugung8 – einst Orpheus, Homer und Pindar, Aischylos und Sophokles, die mittelalterlichen Dichter und Dante getan haben. In der Frühromantik trat das Pathos des Elitären dann ganz zurück, auch wenn der Gestus des dunklen, nur an Insider appellierenden Stils weiter gepflegt wurde.9 Die jungen Romantiker in Jena spitzten die Auszeichnung der Kunst als 5 6 7 8

Joh 12, 31; 14, 30; 16, 11; sowie 8, 43–47. Goethe (1985), 12. Buch, Bd. XVI, Dichtung und Wahrheit, S. 549f. Goethe (1985), Bd. XVI, S. 441. Herder (1975), Stimmen der Völker in Liedern, S. 169f., 175 u. 182. In diesem Punkt kamen die Autoren des Sturm und Drang mit der Empfindsamkeit überein: s. Alewyn (1978). 9 Zum dunklen Stil s. Schlegel (1988), Bd. II, S. 235–242, und Novalis (1977), Bd. III, S. 685: »Der Sinn für Po[sie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Er ist der Sinn für das Eigen-

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des bevorzugten Ortes der Wahrheit noch zu. Novalis spricht von »einer wahrhaften Selbstdurchdringung des Geistes die nie endigt.«10 Schelling, Hölderlin und Hegel konstatieren im sogenannten Ältesten Systemprogramm die »absolute Freiheit aller Geister, die d[ie] intellectuelle Welt in sich tragen, u. weder Gott noch Unsterblichkeit ausser sich suchen dürfen.« Die Poesie gewinne dadurch eine »höhere Würde«: »es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.«11 Im Jenaer Kreis wie im Tübinger Stift schloss man an die Französische Revolution an; die Grundintention war demokratisch. Friedrich Schlegel sah die kreative Einbildungskraft in jedem Menschen am Werk.12 Schelling, Hölderlin und Hegel träumten von einer Versöhnung zwischen Philosophen und Volk.13 Der Abstand zwischen den Genies und den Leuten schien vergessen. Parallel dazu hielten aber Wackenroder und Tieck in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders diesen Abstand aufrecht. Der Künstler wird zum Kunstheiligen; seine Inspiration folgt dem Muster der mystischen Vereinigung mit Gott.14 Auf sein Publikum, das von der Kunst schnöde Unterhaltung erwartet, blickt er mit verzweifelter Verachtung. Die Hochromantik der Brentano, Arnim und Hoffmann knüpft hier an und schärft die Abgrenzung gegen das Publikum noch weiter zu. »Nur der Dichter versteht den Dichter«, schreibt E.T.A. Hoffmann.15 Der Dichter wird zum Außenseiter, der das Unverständnis der großen Masse – des »Pöbels«, der »Philister« – mit abgrundtiefer Verachtung heimzahlt. Den Kapellmeister Kreisler des E.T.A. Hoffmann trägt Bachs Musik so hoch in die Lüfte empor, »daß ich die Menschlein unter mir nicht sah und merkte, unerachtet sie tollen Lärm genug gemacht haben mögen.«16 Neben den Lieblingskindern der Natur erscheinen diese Menschlein als bloße »Fabrikarbeiten«, die »aus der Werkstatt geschleudert werden«.17 Die Erhöhung der Kunst erniedrigt den gewöhnlichen Menschen. Die Kunst steigt ins Übermenschliche – und plötzlich erscheint alles, was nicht in ihren avancierten Kreis gehört, als untermenschlich. Die Verabsolutierung der Kunst, die Ausgrenzung des Genies als Außenseiter und die Verachtung der großen kunstfremden Masse hat der Symbolismus von

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thümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare etc.« Zum historischen Zusammenhang s. Neumann (1991), S. 100–104. Novalis (1977), Bd. II, S. 526. Hegel, Hölderlin und Schelling (1975), S. 111. Schlegel (1988), Bd. II, S. 114: 116. Athenäums-Fragment. Hegel, Hölderlin und Schelling (1975), S. 112. Neumann (1991), S. 161–171. Hoffmann (1960), Don Juan, S. 74. Hoffmann (1960), Don Juan, S. 27. Hoffmann (1960), Don Juan, S. 75.

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der Romantik übernommen. Baudelaires Gedicht B8n8diction stellt die Ambivalenz von Erwählung und Verwerfung in ihrer ganzen Schärfe an den Anfang der Fleurs du Mal: Verflucht von seiner Mutter, verhöhnt von seiner Gattin, mit Ekel ausgestoßen von allen, die er lieben will, entdeckt der Dichter im Schmerz die einzige Zuflucht, die ihn vor Erde wie vor Hölle sichert; im Schmerz wird er jene »couronne mystique« – Kontrafaktur der Dornenkrone und Metapher der Dichtung – flechten, deren reines Licht sich in den Augen der Sterblichen nur wie in trüben Spiegeln bricht. Angesichts solcher Werke wäre es absurd, »Verständnis für die Kunst beim Volke« zu suchen. Dem großen Künstler bleibt nur, »sich von seiner hartnäckigen Verachtung der menschlichen Natur nicht abbringen zu lassen.«18 Als das höchste Ziel und den einzigen Zweck der Kunst erklärt Baudelaire die Schönheit. Manche seiner Formulierungen binden diese Schönheit in romantischem Duktus noch an ein Unendliches, Jenseitiges zurück. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1859 etwa heißt es:19 C’est cet admirable, cet immortel instinct du Beau qui nous fait consid8rer la Terre et ses spectacles comme un aperÅu, comme une correspondance du Ciel. La soif insatiable de tout ce qui est au-del/, et que r8vHle la vie, est la preuve la plus vivante de notre immortalit8. C’est / la fois par la po8sie et / travers la po8sie, par et / travers la musique, que l’.me entrevoit les splendeurs situ8es derriHre le tombeau[.] dieser unsterbliche Instinkt für das Schöne läßt uns die Erde und ihre Schauspiele als eine Ahnung, eine Entsprechung des Himmels betrachten. Das unstillbare Verlangen nach allem, was jenseits liegt, und was das Leben uns offenbart, ist der lebendigste Beweis unserer Unsterblichkeit. Dank der Poesie und zugleich durch die Poesie hindurch, dank der Musik und durch die Musik hindurch ahnt die Seele die Herrlichkeiten jenseits des Grabes[.]

So ähnlich hätte das auch der von Baudelaire hochgeschätzte20 E.T.A. Hoffmann formulieren können. Aber nur eine Seite zuvor verweist er die Kunst ganz auf sich zurück: Die Poesie n’a pas d’autre but qu’Elle-mÞme; elle ne peut pas en avoir d’autre, et aucun poHme ne sera si grand, si noble, si v8ritablement digne du nom de poHme, que celui qui aura 8t8 8crit uniquement pour le plaisir d’8crire un poHme.

18 Die Zitate aus Die philosophische Kunst, postum 1868: Baudelaire (1977), Bd. V, S. 260, und Über EugHne Delacroix. Sein Werk, seine Ideen, seine Lebensart, 1864: Baudelaire (1977), Bd. VII, S. 303. Ähnliche Formulierungen finden sich häufiger. 19 Baudelaire (1975), Bd. II, »Theophile Gautier« (1859), S. 113f.; Baudelaire (1977), Bd. V, S. 95. 20 So etwa in Baudelaire (1977), Bd. I, »De l’Essence de rire et g8n8ralement du comique dans les arts plastiques« (1855), S. 296f. u. S. 302–305; in einem Brief an de Calonne stellt er Hoffmann am 8. 1. 1859 neben Balzac, Gautier und Poe (1977), Bd. VI, S. 15.

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hat keinen andern Zweck als Sich selbst; sie kann keinen anderen haben, und kein Gedicht wird je so groß, so edel, so wahrhaft seines Namens würdig sein wie das Gedicht, das einzig um des Vergnügens willen geschrieben wurde, ein Gedicht zu schreiben.

Das ist zwar gegen die »Häresie der Belehrung« formuliert, also gegen alle Versuche, die Kunst in den Dienst der Moral zu stellen. Aber die Kunst wird dabei doch so definitiv und ausschließlich auf sich selbst gestellt, dass selbst aller Abglanz eines Transzendenten abgewiesen scheint: Die Poesie »n’a pas la V8rit8 pour objet, elle n’a qu’Elle-mÞme« (hat nicht die Wahrheit zum Gegenstand, sie hat nur Sich Selbst).21 Dieser Begriff einer Schönheit, die durch die Kunst erst hergestellt wird, durchzieht Baudelaires Schriften mit großer Konsequenz. Schon in der Besprechung des Salons von 1845 spricht er von einer »peinture absolue«: Sie sei gekennzeichnet durch »la foi de sa beaut8« (den Glauben an die eigene Schönheit).22 Und noch 1861 verkündet er kategorisch:23 »La po8sie se suffit / elle-mÞme.« (Die Dichtung genügt sich selbst.). Hier löst sich Baudelaire von der Romantik. Im Kreis des l’art pour l’art wird die Schönheit von der Wahrheit getrennt. Es geht nicht länger darum, der Schönheit gleichen Rang neben Wahrheit und Güte zu erstreiten.24 Schönheit ist nun das einzige, wonach zu streben sich noch lohnt. In Th8ophile Gautiers vielzitierten Worten: Il n’y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir / rien; tout ce qui est utile est laid, car c’est l’expression de quelque besoin, et ceux de l’homme sont ignobles et d8go0tants, comme sa pauvre et infirme nature. – L’endroit le plus utile d’une maison, ce sont les latrines. Wahrhaft schön kann nur sein, was keinem Zweck zu dienen vermag; alles Nützliche ist hässlich, denn es ist der Ausdruck bestimmter Bedürfnisse; und die des Menschen sind widerwärtig und abscheulich wie seine armselige und gebrechliche Natur. Das nützlichste Zimmer in einem Haus ist das Klosett.

Die romantische Fundierung der Schönheit in einem Unendlichen ist Vergangenheit. So wird eine neue Begründung nötig. Diese geschieht ex contrario: aus der Verwerfung all dessen, was nicht schön ist. Die Schönheit ist das einzige Erstrebenswerte, weil alles andere – Mensch, Leben, Welt – abscheulich ist. Baudelaire verhöhnt die Mimesis der zeitgenössischen Realisten: »Die Natur ist 21 Baudelaire (1975), Bd. II, S. 113; Baudelaire (1977), Bd. V, S. 94. Die wiederholte Großschreibung von Elle-mÞme legt die Vermutung nahe, dass der Kunst hier eine göttliche Dignität zugewiesen werden soll. Denn diese Auszeichnung markiert vor allem die Bezeichnungen Gottes. S. Nies (1977), S. 435f. 22 Baudelaire (1975), Bd. II, S. 360; Baudelaire (1977), Bd. I, S. 137. 23 Baudelaire (1975), Bd. II, »Auguste Barbier«, S. 142; Baudelaire (1977), Bd. VII, S. 151. 24 S. etwa Baudelaire (1977), Bd. II, »Pierre Dupont« (1851), S. 169 u. »L’8cole pa"enne« (1852), S. 194.

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häßlich, und ich ziehe die Ungeheuer meiner Phantasie den vorhandenen Trivialitäten vor«.25 Bei Rousseau war das Naturgeschaffene noch gut gewesen; »alles entartet [erst] unter den Händen des Menschen.«26 Es ist die ganze menschliche Gesellschaft und Geschichte, die er dem Abscheu preisgibt. Baudelaire und Gautier werfen auch noch die Natur in den Abgrund. Aufgespart bleibt nur die Kunst. Die große Geste der Verwerfung des Ganzen, die man sonst von weltfeindlichen Religiösen wie den Gnostikern oder den Manichäern kannte, ist damit in der säkularen Moderne angekommen. Mit zwei radikalen Schnitten trennt man so die Kunst von der Wahrheit und von der Wirklichkeit ab. Beides gehört zusammen. Indem die Schönheit kategorisch von der Wahrheit gelöst wird, kann die Kunst nicht länger als Sprache einer höheren Wahrheit gelten. An ihrer romantischen Erhöhung ins Überirdische aber lässt sich dennoch festhalten, wenn man ihre unbedingte Überlegenheit über das Irdische behauptet. Und so werden Natur und Wirklichkeit radikal verworfen: Sie sind nichtig, hässlich, trivial, langweilig. Diese radikale Verwerfung folgt nicht aus irgendeiner neuen Erkenntnisperspektive auf die Wirklichkeit. Sie wird ausschließlich deswegen notwendig, weil anders die unbedingte Erhöhung der Kunst – wie der Künstler – nicht mehr legitimiert werden kann. Aus dieser Neubestimmung des Schönen und der Kunst folgt dreierlei: die Verabsolutierung der künstlerischen Form, die Selbstinszenierung des Künstlers als Außenseiter und die ästhetische Bewertung aller Wirklichkeit. Baudelaire löst die moderne Schönheit völlig vom Gegenstand des Kunstwerks – das Schöne darf ja mit keinerlei vorfindbarer Wirklichkeit etwas zu tun haben. Goya habe die von ihm verachteten Mönche zwar hässlich dargestellt –27 mais qu’ils sont beaux dans leur laideur et triomphants dans leur crasse et leur crapule monacales! Ici l’art domine, l’art purificateur comme le feu wie schön aber sind sie in ihrer Häßlichkeit und wie triumphieren sie in ihrem klösterlichen Schmutz- und Lotterleben! Hier herrscht die Kunst, die wie das Feuer alles läutert.

Nicht anders arbeitet der moderne Sprachkünstler. Flaubert habe in Madame Bovary das »allertrivialste Abenteuer« gewählt und »einen nervigen, farbenprächtigen, subtilen und genauen Stil über diesen banalen Grund« gezogen.28 25 »La nature est laide, et je pr8fHre les monstres de ma fantaisie / la trivialit8 positive.« Baudelaire (1975), Bd, II, Salon de 1859, S. 624f., 620; Baudelaire (1977), Bd. V, S. 146, 141, 140. 26 Rousseau (1979), S. 9. 27 Baudelaire (1975), Bd. II, »Quelques caricaturistes franÅais« (1857), S. 547; Baudelaire (1977), Bd. I, S. 310. 28 Baudelaire (1977), Bd. V, S. 70; Baudelaire (1975), Bd. II, »Madame Bovary par Gustave Flaubert« (1857), S. 80: »l’aventure la plus triviale […] un style nerveux, pittoresque, subtil, exact, sur un canevas banal«.

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Solche Emanzipation der Kunst von ihren Gegenständen hat zwei Seiten. Zum einen bedarf es nicht mehr eines »hohen« Rangs der Gegenstände, um »schöne« Werke zu ermöglichen. Goyas Malkunst zieht Schönheit noch aus der Hässlichkeit der Mönche, die er verabscheut. Flauberts Magie des Stils zaubert Schönheit noch aus den trivialen Abenteuern banaler Seelen, die er verachtet. Damit verabschiedet Baudelaire endgültig die Stillehre vergangener Epochen, die die verschiedenen Gegenstände säuberlich auf unterschiedliche Genres verteilt hat – eine Ordnung, unter der die in den ›Salons‹ präsentierten Gemälde noch ganz selbstverständlich wahrgenommen wurden: Historienmalerei, Porträts, Genrebilder, Landschaftsmalerei, erotische Sujets und dergleichen.29 Wenn die Schönheit der Kunst von ihrem Gegenstand unabhängig ist, steht dem Künstler die ganze Weite möglicher Gegenstände gleichermaßen offen. Damit ist für das Schöne nun allerdings die Kunst auch ganz alleine verantwortlich. Sie vermag jeden Gegenstand zur Schönheit zu läutern. Aber sie muss das völlig aus eigener Kraft tun. Die Kunst hat sich in der Moderne von allem emanzipiert: von der Moral, vom Genre, vom Gegenstand. Und auch der Künstler hat nichts mehr als sich selbst.30 Kein Gott und keine Natur gewähren ihm Rückhalt. Solch exponierte Position reißt ihn aus der umgebenden Gesellschaft heraus. Zwar hatten schon die Romantiker vom Künstler als Außenseiter, als Exzentriker, als Zimmernachbarn des Wahnsinnigen erzählt. Berühmt ist das Beispiel von Hoffmanns Kapellmeister Kreisler – aber E.T.A. Hoffmann selbst lebte daneben eine bürgerliche Existenz, in der er es bis zum geachteten Kammergerichtsrat brachte. Charles Baudelaire lebt, was die Romantiker gedichtet haben: »mit einem ungeheuren Ehrgeiz als Dichter, durch meinen Geschmack, meine Grundsätze auf ewig geschieden von der Welt der ehrbaren Leute«.31 Von der Kleidung über ruinöse Lebensgewohnheiten bis zu erotischen Passionen – alles wird nun zum Material einer existentiellen Selbstinszenierung: Baudelaire wird der Künstler, den seine Berufung zum Ziel allgemeinen Abscheus macht. In solcher Selbstinszenierung fungiert das Feindbild des stumpfsinnigen Bourgeois als eine unentbehrliche Figur. Die gewöhnlichen Menschen sind Teil der Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist »hässlich«. Also wird auch alles abgelehnt, was ihnen größeres Gewicht verleihen könnte: Demokratie, Fortschritt, Sozialismus und dergleichen.32 Das ist 29 Z. B. Baudelaire (1975), Bd. II, Salon de 1845, S. 353. 30 S. Baudelaire (1977), Bd. V, Der Salon 1859, S. 140f. Ähnlich schon im Salon 1846 über Delacroix in Baudelaire (1977), Bd. I, S. 213. 31 Baudelaire (1977), Bd. II, S. 18; Baudelaire (1975), Bd. I, S. 154, am 8. 12. 1848 an Mme Aupick: »avec une immense ambition po8tique moi s8par8 / tout jamais du monde honorable par mes go0ts et par mes principes«; s. dazu Matz (2007), S. 146f. u. 178–181. 32 Demokratie: Baudelaire (1977), Bd. II, S. 263. Die Polemik kehrt kontinuierlich wieder : s. (1977), Bd. II, S. 271, 316, 323f.; Bd. IV, S. 118; Bd. V, S. 244; Bd. VII, S. 167; Bd. VIII, S. 104. –

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konsequent, darf aber gerade deshalb nicht mit politischer oder sozialer Gesellschaftskritik verwechselt werden. Diese Kritik baut ausschließlich auf eine ästhetische Wahrnehmung der Wirklichkeit. In poetologischen Kontexten mag das als peripher erscheinen. Aber es nimmt im Milieu der zeitgenössischen BohHme auch brutalere Formen an. 1857 geraten die Brüder Goncourt bei der Recherche zu einem Roman in eine Mietskaserne für vierhundert Arbeiterinnen. Ihr Eintrag im Journal mündet in einen entsetzten Ausbruch:33 Oui, cela est le peuple; cela est le peuple, et je le hais dans sa misHre, dans ses mains sales, dans les doigts de ses femmes piqu8es de coups d’aiguille, dans son grabat / punaises, dans sa langue d’argot, dans son orgueil et sa bassesse, dans son travail et sa prostitution. Je le hais dans ses vices tout crus, dans sa prostitution toute nue, dans son bouge plein d’amulettes! Tout mon moi se soulHve contre ces choses qui ne sont pas de mon ordre, et contre ces cr8atures qui ne sont pas de mon sang. Ja, das ist das Volk, das ist das Volk, und ich hasse es. Hasse es in seinem Elend, in seinen schmutzigen Händen, den von Nadeln zerstochenen Fingern seiner Frauen, in seinem verwanzten Jammerbett, in seiner Argot-Sprache, in seinem Stolz und seiner Niedrigkeit, in seiner Arbeit und seiner Prostitution; ich hasse es in seinen ganz nackten Leibern, seiner ganz nackten Prostitution, in seinen Wohnlöchern voller Amulette! Mein ganzes Ich lehnt sich gegen diese Dinge auf, die nicht zu meiner Rangordnung gehören, und gegen diese Kreaturen, die nicht meines Blutes sind.

Das kommt einher mit dem desillusionierenden Gestus rigoroser Ehrlichkeit, legt aber hinreichend offen, wie ausschließlich die soziale Wertung in ästhetischer Wahrnehmung gründet. Aus der romantisch stilisierten Verachtung der Philister erwächst da eine bösartige Misanthropie, die klassenübergreifend alles erfasst, was nicht dem eigenen winzigen Zirkel angehört. Das fließt dann ein in die Grundhaltung des modernen Künstlers. Mallarm8 etwa will mit den Mitteln der Kunst noch einmal ein Absolutes verwirklichen. Der Weg dorthin führt über die »Abstraktion«,34 die Auslöschung und Ausmerzung alles Empirischen. Nichts soll bleiben als das selbstgenügsame Spiel einer von aller Referenz gereinigten Sprache. Die Kunst soll jetzt also auch noch das Absolute selbst fabrizieren. Gegenüber dem vorgeblich kunstinteressierten Publikum empfiehlt Mallarm8 den Poeten Hochmut und »die Gelassenheit der Verachtung« (la s8r8nit8 du d8dain): »Alles Heilige, das heilig bleiben will, hüllt sich in Geheimnis.« (Toute chose sacr8e et qui veut demeurer sacr8e s’enveloppe de mystHre.) Die Werke der Kunst müssen so dunkel und unzugänglich werden, dass sich die gewöhnlichen Menschen von ihnen abwenden. Dann hat die Kunst Fortschritt: Baudelaire (1977), Bd. IV, S. 116f. – Sozialismus: Baudelaire (1977), Bd. VII, S. 234. 33 Eintrag vom 12. 6. 1857: Goncourt (2005), S. 416; dt. Goncourt (1983), S. 72. 34 S. etwa Mallarm8 (1993), Bd. II, »Crise de vers« (1897), S. 228.

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es nicht mehr nötig, »zu ihren Füßen das Gekläff einer Meute zu hören« (d’entendre / ses pieds les abois d’une meute).35 Nicht zufällig kehrt hier die Bildlogik wieder, mit der schon Herder seinen Riesen Shakespeare und Goethe seinen Kathedralheros Erwin von Steinbach über die gewöhnlichen Menschen erhoben haben. Die überwältigende Mehrheit wird von den Schwellen der Kunst verwiesen. Hoffmanns zorniges Diktum »Nur der Dichter versteht den Dichter« ist jetzt die Norm. Mallarm8 fordert die Dunkelheit (obscurit8) der Dichtung ein, um die unverständige Menge (foule) von ihr fernzuhalten. Als Proust ihm Unverständlichkeit vorwirft,36 erwidert er, »dass gewisse Zeitgenossen nicht lesen können –«; das direkt Verständliche sei vulgär.37 Mallarm8s Einfluss auf die moderne Poesie und Kunst war immens. Aber er ist in seiner Radikalität doch nur ein deutliches Symptom dafür, wie rigoros die Kunst im Laufe des 19. Jahrhunderts die Beziehung zu ihrem Publikum aufkündigte. Der schmale poetologische Grat, der von der Romantik zu Mallarm8 führt, lässt sich leicht zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts verlängern, wenn man den Begriff der Schönheit durch den der Radikalität ersetzt, die alles Vorgefundene überbietet oder bricht. Als Beispiel mag Marcel Duchamp dienen. Er erzielte seine ungeheure Nachwirkung ganz aus der Konsequenz seiner Radikalität. Alles – so formuliert er selbst die Triebfeder seines Lebens – habe er in Frage gestellt, um etwas zu finden, das »vorher nicht existiert hat. Die ganze Zeit suchte ich so nach etwas, das ich zuvor noch nicht gedacht hatte.«38 Mit dieser Absicht stand er zu Anfang des 20. Jahrhunderts sicher nicht alleine da. Aber in der Unbedingtheit, mit der er dieses Ziel verfolgte, hat er tatsächlich alle seine Zeitgenossen übertroffen. Er suchte jede Vorstellung zu verwerfen, die man zu seiner Zeit mit ›Kunst‹ verband39 – die Vorstellung des in sich konsistenten Werks ebenso wie die des genialen Künstlers. Widersprüchlich wird darüber die Rolle, die er dem Publikum zuerkennt. Duchamp hat über die Rolle des Betrachters immer wieder nachgedacht. Die 35 Mallarm8 (1993), Bd. II, »H8r8sies artistiques« (1862), S. 22–29, zit. 22–25. 36 Proust, »Contre l’obscurit8«, in: La revue blanche, Nr. 75, 15. 7. 1896. Peinlich berührt vermerkt Luzius Keller in seinem Kommentar zur deutschen Übersetzung, Proust übernehme in diesem Text »Tonart und Argumente der bürgerlichen Literaturkritik«; Mallarm8 habe die Dinge dann in Le mystHre dans les lettres wieder »ins rechte Licht« gerückt (in: Proust [2003], S. 557f.). Damit wird der Text so nachdrücklich ein- und weggeordnet, dass die Frage gar nicht erst aufkommen kann, ob in der Esoterik avantgardistischer Dunkelheit nicht auch ein Problem liegen könnte. Die Reihen der Avantgarde müssen geschlossen bleiben. 37 Mallarm8 (1993), Bd. II, »Le mystHre dans les lettres« (La revue blanche, September 1896), S. 266, 274 u. 268 (S. 274: »Je pr8fHre, devant l’aggression, r8torquer que des contemporains ne savent pas lire –«). 38 Unveröffentlichtes Interview mit Calvin Tomkins: Tomkins (1999), S. 248. Paz schreibt von Duchamps »Willen zum Widerspruch, dem nichts und niemand entgeht, nicht einmal er selbst und sein Werk«. Paz (1991), S. 19. 39 S. Duchamp (1981), Sp. 125a.

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Inkonsistenzen der künstlerischen Hervorbringung sollen dem Betrachter eine schlüssige Deutung unmöglich machen und ihn so zur Fortsetzung der künstlerischen Aktivität motivieren. Als Arturo Schwarz, ein Pionier der DuchampExegese, in einem Vortrag eine inzestuöse Kindheitsleidenschaft Marcels für seine Schwester Suzanne als Schlüssel zum Œuvre behauptete, begrüßte Duchamp das mit dem Ausruf: »Großartig! Ich konnte kein Wort hören, doch ich habe es sehr genossen.«40 Privat gab er seiner Frau Teeny zwar zu, dass Schwarzû These »Quatsch« sei, weigerte sich aber sehr energisch, ihr öffentlich zu widersprechen: Schwarz arbeite eben nicht an einem Buch über Duchamp, sondern an einem Buch durch/von Arturo Schwarz.41 Als Fortsetzung der mit dem Werk eröffneten geistigen Aktivität des Künstlers war jede Deutung legitim. »Alles in allem wird der kreative Akt nicht vom Künstler allein vollzogen; der Zuschauer bringt das Werk in Kontakt mit der äußeren Welt, indem er dessen innere Qualifikationen entziffert und interpretiert und damit seinen Beitrag zum kreativen Akt hinzufügt.« Letztlich sind es auch die Zuschauer, die über den künstlerischen Wert eines Werkes entscheiden.42 Mit diesen Äußerungen setzt Duchamp das Konzept vom aktiven Rezipienten fort, dass sich von der deutschen Frühromantik über Mallarm8 bis zur Avantgarde um 1900 lebendig gehalten hatte. So weit darf sich der Betrachter gewürdigt und geehrt fühlen. Andere Äußerungen legen allerdings nahe, dass Duchamp bei diesem so hoch gedachten Betrachter durchaus nicht den konkreten kunstinteressierten Ausstellungsbesucher seiner Zeit vor Augen hatte. Eine Kunst, die auf das breite Publikum Rücksicht nahm, fand er verächtlich: »Wenn die Malerei so tief sinkt, dass Laien über sie sprechen, interessiert sie mich nicht.«43 Der Künstler habe sich von der Gesellschaft fernzuhalten: Er »sollte allein sein […]. Jeder für sich, wie bei einem Schiffbruch.«44 Dass die Gesellschaft ihrerseits dann die Kunst ablehnt, erscheint unvermeidlich: »Ein Teil der Feindseligkeit der Gesellschaft gegenüber der modernen Bewegung entsprang ihrer Unverständlichkeit. Der wahre Künstler ist immer esoterisch.«45 Jede Nähe zum Publikum bringt ihn überdies dem Kommerz näher, und also der Banalisierung und Korruption. Die große Menge der Kunstinteressierten folgt dem »Geschmack« und der unterliegt der Konvention. 40 Duchamp (1992), John Russell, »Exile at large: Interview« (1968), S. 235. 41 S. Tomkins (1999), S. 518f. Vgl. auch an S. Stauffer (1965): Duchamp (1981), S. 276. 42 Duchamp (1981), »Der kreative Akt« (1957), S. 240. Vgl. Duchamp (1992), im Gespräch mit Ulf Linde (1961), S. 124: »Was aber ein Mensch vor einem Werk tut – der zufällige Akt –, dort ist die Kunst und das Leben.« 43 Duchamp (1981), Sp. 11b. Ähnlich im Interview mit Geoffrey Hellman (1957): Duchamp (1992), S. 65. 44 Zu Jean-Marie Drot; zit. in: Tomkins (1999), S. 114. 45 Gespräch mit Dorothy Norman, vor 1950: Duchamp (1992), S. 42.

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Der Erfolg bei der Menge beweise also eine korrumpierte Kunst. Nur sehr wenige Zeitgenossen eines avancierten Künstlers seien imstande, ein angemessenes »ästhetisches Echo« auf neue Werke zu entwickeln. Dieses Echo lasse sich aber nicht in Worte übertragen. Es wirke über eine Emotion, die »eine gewisse Analogie zu religiösem Glauben oder sexueller Anziehung« habe.46 Es sei die Aufgabe dieser seltenen Individuen, die Kunst zu jeder Zeit zu »lenken«.47 Aber das braucht offensichtlich viel Zeit: Ich möchte, so bemerkt er 1955 in einem Interview für NBC,48 lieber auf das »Publikum warten, das fünfzig Jahre, hundert Jahre nach [meinem] Tod kommen sollte, das ist das richtige Publikum«. Diese Haltung hebt mit Schärfe heraus, was auch sonst immer mehr die Selbstwahrnehmung wie die öffentliche Wahrnehmung der Kunst dominiert: der radikale Bruch wird zum Maßstab der Kunst, der Künstler wird zum unbedingten Außenseiter und alles, was nicht Kunst ist – Mensch, Gesellschaft, kurz: »das Ganze« – wird daneben verworfen. Diese drei Elemente verstärken sich wechselseitig und lassen am Ende nur mehr zwei Haltungen übrig: zum einen die elitäre Überzeugung, die allermeisten Menschen seien es gar nicht wert, dass die Kunst sich um sie sorge; zum anderen die wilde Entschlossenheit, der Gesellschaft und ihren Mitgliedern mit den Mitteln der Kunst ein durch keinerlei Einschränkung kompromittiertes »Nein!« ins Gesicht zu schlagen. Letzteres ist auch für jene gesellschaftskritischen Positionen anschlussfähig, die mit der ersteren, der selbstgenügsam-elitären Haltung nichts anfangen können. Diese Entwicklung konnte sich freilich nur durchsetzen, weil sich um jene Künstler, die Verständnis allenfalls noch unter ihresgleichen erwarten, doch auch wieder Resonanzhöfe von Nicht-Künstlern ausbildeten, also eine Art von Publikum: Bewunderer, BohHmiens, Kenner, Kritiker, Sammler, anderwärts Enttäuschte, Jäger nach jedem Neuen und manches andere mehr. Ihnen allen ist gemein, dass sie künstlerische Radikalität bedingungslos hochschätzen und alles andere bedingungslos verachten. Für die Bewirtschaftung der Grenze nach außen sind vor allem die Kritiker zuständig. Wo die Kunst ihre dunkle Unverständlichkeit behauptet, treten sie als Zeugen dafür auf, dass im Herzen dieser Dunkelheit jenes höchste Geheimnis verborgen liege, dessen Abwesenheit das gewöhnliche Leben so unheilbar erbärmlich macht. So lenken sie Aufmerksamkeit und Geld in die Eremitagen der Kunst, ohne doch deren Eiserne Vorhänge für das große Publikum zu öffnen. Das sind schlechte Voraussetzungen, um für die Künstler noch eine herausfordernde Spannung aufzubauen. Eine Kunst, die die Kommunikation mit der Gesellschaft prinzipiell abschneidet, geht 46 Duchamp, 1951: Tomkins (1991), S. 429. Ähnlich schon in einem Gespräch 1949: Duchamp (1992), S. 39. Zur Korruption durch den Kommerz s. Duchamp (1992), S. 32 u. 40. 47 Duchamp (1981), Sp. 293b. 48 Duchamp (1992), Gespräch mit James Johnson Sweeney (1955), S. 57.

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ins Leere. Aber solange die Kritiker plausibel machen können, dass die Schuld für diesen Riss ausschließlich auf der Seite der Gesellschaft liegt, können sie die Künstler und deren Resonanzhof gegen diese Einsicht abschirmen. Die »absolute Freiheit in der Kunst,« so verkündet etwa Adorno mit routinierter Dialektik, »gerät in Widerspruch zum perennierenden Stande von Unfreiheit im Ganzen.« Folglich geschehe »die Kommunikation der Kunstwerke […] mit der Welt« nur »durch Nicht-Kommunikation«.49 Dabei helfen den Kritikern jene Philosophen, die den Anspruch auf Radikalität von den avancierten Poeten übernehmen. Voran marschiert Schopenhauer, ein begeisterter Leser von Wackenroder und Tieck.50 Seine Deduktion eines produzierenden Willens als letzter metaphysischer Instanz mag philosophisch seltsam erscheinen,51 aber wie er unsere Welt wortgewaltig als eine Welt des Leidens schildert und die Menschen als vom blind schaffenden Willen zerstückelte Opferlämmer, das reißt bis heute zahllose Leser hin. Auch hier also, noch etliche Jahre vor Baudelaire, die große Geste der Verwerfung des Ganzen. Friedrich Nietzsche zertrümmert dann selbst das, was Schopenhauer noch kostbar hielt: die Wahrheit, die Ethik und das Mitleiden mit der gequälten Kreatur. Am Ende bleibt nur der paradoxe Traum von einem Übermenschen, der wider alle Vernunft, aber aus überschießender Kraft und Gesundheit inbrünstig »Ja!« sagt zu dem Schrecken, in dem wir in ewiger Wiederkehr leben. Als philosophische Argumentation befremden Nietzsches Genealogien der Wahrheit, der Sprache oder der Moral. Als raffinierte Erzählungen aber faszinieren sie uns. Nietzsche hat unglaubliche Begebenheiten aus den Gefilden der Erkenntnistheorie, der Ethik und der Ästhetik so betörend vorgesungen, dass viele Einwohner jenes fantastischen Reiches der Gedanken, das man gegenwärtig ›Theorie‹ nennt, noch heute unter seinem Zauberbann schreiben. Dieses Reich der Theorie entfaltet sich während des 20. Jahrhunderts über einen intensiven Austausch zwischen philosophischer Spekulation und avantgardistischer Radikalität. Heidegger sucht Nietzsches literarisch-poetische Impulse in die Philosophie einzubergen. Er entdeckt dabei, dass ihm angesichts der Seinsvergessenheit, die sich seit Platon – also so ziemlich seit dem Anfang der schriftlich tradierten Philosophie – über das Denken gebreitet habe, die Wörter fehlen, um vom Sein angemessen zu sprechen.52 So baut er sich, gleich einem modernistischen Poeten, eine Kunstsprache, in deren Unzugänglichkeit er sich während seines Lebens immer tiefer zurückzieht. – Walter Benjamin verteidigt in seiner Dissertation mit klaren Worten, dass Friedrich Schlegel für die »Kritik« 49 50 51 52

Adorno (1974), S. 9 u. 15. S. Neumann (1991), S. 508f. Vgl. etwa Schulz (1972), S. 399–407; etwas freundlicher in Schulz (1987). S. etwa Heidegger (1976), S. 2, 6 u. 21f.

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einen »gewissen Mystizismus des Ausdrucks« beansprucht.53 Für das Verständnis der ›Erkenntniskritischen Vorrede‹ seines eigenen Trauerspiel-Buchs setzt er bei Gelegenheit die Kenntnis der Kabbala voraus.54 Philologie und kritische Theorie wären somit unter die geheimen Wissenschaften zu rechnen. – Adorno beginnt als Musikkritiker im Umfeld von Schönberg und Berg. Michel Foucault schließlich, um noch ein letztes Beispiel zu nennen, sieht das Morgenrot des künftigen Denkens nach der gegenwärtigen Episteme in den Schriften von Mallarm8 und Nietzsche, von Artaud und Roussel vorausleuchten: in einer Sprache, die – vom Bedeuten befreit – in ihrer nackten Materialität hervortrete.55 Jeder dieser wirkmächtigen Theoretiker verbindet auf seine Weise den Gestus der großen Verwerfung mit dem Sound des dunklen Stils und stellt sich so in die elitäre Tradition poetischer Radikalität. Aus dieser kurzen Erzählung einer langen Geschichte blieb Wichtiges ausgeklammert: die Wirkungen von Kommerzialisierung und Massenmedien etwa, oder die Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts. Das ist der Kürze der Zeit geschuldet, aber vielleicht hilft die Kürze ja der Deutlichkeit. Avantgardistische Poetik und avancierte Theorie haben das weite Magnetfeld der Produktion und Rezeption moderner Kunst streng ausgerichtet zwischen dem Nordpol des radikalen Bruchs und dem Südpol der Verwerfung des Ganzen. Natürlich drängen sich innerhalb dieses polarisierenden Feldes die verschiedensten und gegensätzlichsten Strömungen. Natürlich kämpfen ernsthafte Künstler darin um ihren je eigenen, unabhängigen Weg. Aber sie alle finden sich vor in diesem scharf umgrenzten Feld, das die künstlerische Integrität mit den Feindbegriffen ›Unterhaltung‹ und ›Kommerzialisierung‹ von dem großen, vielfältigen, neugierigen und trägen, überraschenden und banausischen Publikum abschneidet. Falls mit dieser Abschneidung auch ein zentraler Lebensnerv der Kunst abgetötet worden sein sollte – die ›avancierte‹ Poetik und Theorie könnte das mit ihren Begriffen gar nicht erfassen. Und die Wissenschaften von den Künsten? Deren Angehörige ziehen sich zumeist entweder in hochprofessionellen Positivismus zurück und begnügen sich mit Kenntnissen statt Erkenntnis – oder sie stürzen sich in die Arme der Eingeweihten, deren Konventikel dabei profitabel anschwellen. Dem breiteren Publikum haben sie in beiden Fällen nichts mehr zu sagen.

53 Schlegel (1988), Schlegel (1988), 414. Athenäums-Fragment; dazu Benjamin [1920] 1973, S. 35–48 u. ö. 54 Scholem (1975), S. 157f. Am Verständnis dieser Einleitung sind auch gutwillige Zeitgenossen wie Max Horkheimer gescheitert. (s. Tiedemann, Gödde u. Lonitz [1990], S. 72) 55 Foucault (1978), S. 76, 366f., 369f. u. 457–59.

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Monika Schmitz-Emans

Poetikvorlesungen literarischer Autoren als Selbstbefragung, Selbstpositionierung und Selbstinszenierung

1.

Poetikvorlesungen im Kontext moderner Autorenpoetik

Lange Zeit bilden Verfasser, Historiker und Theoretiker der Literatur vielfach eine Personalunion – was noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Autoren wie etwa die Brüder Schlegel, Thomas Carlyle und andere wichtige Repräsentanten der europäischen Romantik exemplarisch illustrieren. Doch mit der akademischen Professionalisierung der Literaturkritik im 19. Jahrhundert kommt es zu einer funktionalen und stilistischen Ausdifferenzierung von literarischem und wissenschaftlichem Schreiben: Das eine erscheint als Geschäft des Dichters, das andere eher als Aufgabe akademischer Ästhetiker und Philologen, die sich im Zuge der Verwissenschaftlichung ihrer Disziplinen um allgemeine Begriffe und abstrahierende Beschreibungsmodi bemühen, um Gattungs- und Epocheneinteilungen, Typologisierungen, Modelle und Schemata. Doch gegenläufig zu solcher Ausdifferenzierung von literarischem und theoretischem Geschäft machen sich auch neue Tendenzen der Reflexion über Literatur geltend, die die sich abzeichnende Spezialisierung schon wieder unterlaufen: Gerade moderne Dichter werden oft zur wichtigen Auskunftsinstanz über das, was sie selbst tun – und verstehen sich auch selbst so. Poes Philosophy of Composition gilt zu Recht als epochemachendes Beispiel einer neuartig aktenzierten Autorenpoetik, in der es dezidiert um das ›Machen‹ von Literatur geht. In den Spuren Poes, Mallarm8s, Val8rys und anderer Pioniere der literarischen Moderne insistieren viele literarische Autoren auf der Verbindung zwischen literarischer Produktivität und Reflexion, nicht zuletzt bedingt durch die Ansprüche, die die Literatur seit der Romantik explizit an sich gestellt hatte: Poesie und poetologische Reflexion zu verbinden. Auf den ersten Blick allerdings scheinen autorenpoetologische Essays (wie etwa Poes The Philosophy of Composition) eine ganz andere Sorte Text zu sein als literarische Werke mit erkennbar poetologisch-reflexiver Dimension (wie etwa Miguel de Cervantes’ von der Romantik so hochgeschätzter Don Quijote): Erstere präsentieren sich als infor-

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mative Sachtexte, letztere als in sich reflexive Fiktionen. Auf den zweiten Blick wird eben diese Grenzziehung als solche auch schon wieder fragwürdig: Ist Poes Bericht über die Genese eines eigenen Gedichtes wirklich in höherem Maße faktographisch als Cervantes’ Bericht über das Auffinden eines arabischen Manuskripts? Liegt nicht auch im Entwurf des Dichters als bewusst vorgehender Konstrukteur ein Moment poetischer Selbsterfindung, das den poetologischen Sinn in eine Fiktion kleidet? Wie wenig ein fiktionalisierender Rahmen dem Gewicht poetologischer Reflexion abträglich ist, illustriert im Übrigen exemplarisch der so oft zitierte Brief von Hofmannsthals Lord Chandos. Im späteren 20. Jahrhundert haben sich Spielformen der Autorenpoetik wohl gerade wegen ihrer Nähe und häufigen Unabgrenzbarkeit gegenüber fiktionalen (und autofiktionalen) Schreibweisen in großer Variationsbreite entfaltet. Ihre Bedeutung für den Diskurs über Literatur ist unter anderem an der häufigen Institutionalisierung dichterischer Selbstexplikation ablesbar : Poetik-Vorlesungen und Poetik-Gastdozenturen etablieren sich vielerorts. Zu Themen der solcherart beauftragten Autoren werden in der überwiegenden Zahl der Fälle eigene Erfahrungen, Interessen, Anliegen, Fähigkeiten und Irritationen, manchmal auch das eigene Scheitern. Im Spiel ist – manchmal explizit, ansonsten implizit – stets die Frage nach dem Wozu der Literatur, nach der Motivation und den Funktionen literarischen Schreibens? Und insofern sich Poetikvorlesungen schwerpunktmäßig an ein akademisches Publikum wenden, vielfach von Literaturwissenschaftlern organisiert und auf literaturwissenschaftlichen Terrains durchgeführt werden, geht es implizit auch um die Funktion(en) der Literaturwissenschaft. Auch wenn sich die vortragenden Autoren manches Mal gegen letztere abgrenzen, bildet sie einen prägenden Bezugshorizont autorenpoetologischer Reflexionen. Warum und wozu eigentlich Literatur? In der Geschichte Deutschlands mochte sich diese Grundsatzfrage, sei es mit skeptischer, sei es mit emphatischaffirmativer Akzentuierung, wohl kaum je so nachdrücklich stellen wie in der Nachkriegszeit. 1959 entschlossen sich das Rektorat der Frankfurter Universität und die Leitung des S. Fischer Verlags zur Einrichtung der Frankfurter Poetikvorlesungen, um »Schriftsteller erneut zur Diskussion über Gegenwartsdichtung anzuregen«1. Ingeborg Bachmanns erste Vorlesungsreihe stellte dann auch die ihre Zeit bewegenden Fragen mit allem Nachdruck, nicht unpathetisch und unter Betonung der grundsätzlichen Fragwürdigkeit von Literatur. ›Fragen‹ sollten nicht allein an Literatur und ihre Produzenten gestellt, sondern die Literatur selbst und als solche sollte in Frage gestellt werden – um dann nicht allein als legitim, sondern als notwendig affirmiert zu werden. Wozu Literatur? Vom 1 Lützeler (1994), S. 8. – Nach drei Jahren wurde dann der Suhrkamp-Verlag Partner der Universität.

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Wintersemester 1959/60 bis zum Wintersemester 1967/1968 hielten wechselnde Autoren und Autorinnen regelmäßig die Frankfurter Vorlesung. Als in der Phase der Studentenbewegung Literatur und Literaturwissenschaft gleichermaßen in ihrer Signifikanz in Frage gestellt wurden, kam es zu einer längeren Unterbrechung. Ab 1979 ging es dann mit den Frankfurter Vorlesungen weiter.2 Viele der Vortragenden interessieren sich für den situativen Kontext und die Präsentationsform der Vorlesungen, auch wenn dann später in den gedruckten Buchfassungen nicht mehr alles ablesbar sein mag, was im mündlichen Vortrag eine Rolle gespielt hat. Aber die spezifischen Rahmenbedingungen, unter denen anlässlich von Poetikvorlesungen öffentlich über Literatur nachgedacht wird, lenken die Aufmerksamkeit doch offenbar auf die Performanz als solche, und dies wird an den vorgetragenen Inhalten teils direkt, teils indirekt ablesbar. Unter verschiedenen Akzentuierungen ist das ›Spiel‹ Poetikvorlesung als solches thematisiert worden; manche Beiträger knüpften die Vermittlung von Inhalten eng an die jeweilige Darbietungsform – und viele dachten explizit über das Spiel nach, das sie als Vortragende gerade spielen (respektive: beim Schreiben ihres Manuskripts zu spielen im Begriff waren). Was wurde da erwartet und von wem? Und mit welchen Requisiten? Letztere Frage konnte u. a. zum Anlass genommen werden, auf die Differenz zwischen Manuskript, Vortrag und künftigem Buch zu verweisen.

2.

Die Poetikvorlesung als Spiel und Reflexionen über dessen Regeln

Das Spiel ›Poetikvorlesung‹ und seine unterstellten Regeln in Frage zu stellen, es womöglich nicht spielen zu können oder zu wollen, gehört offenbar zu den bevorzugten Spieloptionen, die ihr jeweiliger Vortrag literarischen Autoren bietet. Eine variable und gestaltungsfähige Strategie des Ausweichens vor einer unterstellten Regel des Kommunikationsspiels ›Poetikvorlesung‹ besteht, vereinfacht gesagt, in der Behauptung, der vom Publikum erwartete Mitspieler namens ›Autor‹ sei inexistent oder doch abwesend; man könne jedenfalls als Autor in der erwarteten Rolle zumindest nicht das Wort ergreifen. Ingeborg Bachmann spricht 1959/60 bezogen auf das »Ich«, das sich in der Öffentlichkeit auch und gerade als Schriftsteller artikuliert, programmatisch von einem »Ich ohne Gewähr«; wer immer da spreche, werde angesichts der Redesituation selbst »formal und rhetorisch«. 2 Auch nach dem Fortzug des Suhrkamp-Verlags aus Frankfurt blieb dieser an den Frankfurter Vorlesungen beteiligt; seit dem Sommersemester 2011 geschieht dies in Kooperation mit den Verlagen S. Fischer und Schöffling.

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›Ich sage Ihnen‹ – wenn ich das zu einem einzelnen sage, so scheint es doch ziemlich klar zu sein, welches Ich sich da rührt und was mit dem Satz gemeint ist, in dem das Ich auftritt, wer da also etwas sagt. Aber schon, wenn Sie hier allein heroben stehen und sagen zu vielen unten ›Ich sage Ihnen‹, so verändert sich das Ich unversehens, es entgleitet dem Sprecher, es wird formal und rhetorisch. […] Dann ist da nur mehr ein Satz, der Ihnen zugetragen wird, über einen Lautsprecher oder ein Blatt Papier, ein Buch oder eine Bühne, ein Satz von einem Ich ohne Gewähr.3

Die unumgängliche Rhetorizität des Vortrags erfasst demnach den Vortragenden, der damit seinerseits zum Repräsentanten aller Sprecher wird, die ihre Rede von Rahmenbedingungen und sprachlichen Konventionen diktiert bekommen. Schon Bachmann demonstriert aber auch, dass sich gerade dieses spezifische Kommunikationsspiel wenn schon nicht zur Lösung, so doch zur Darstellung jenes Problems bestens eignet, das hinter der Frage steckt: ›Wer spricht?‹ Nicht nur eine grundsätzliche, letztlich sprachphilosophisch motivierte Skepsis gegenüber der Möglichkeit ungebrochener Selbstbekundung in der eigenen Rede kann Anlass dafür sein, bei Poetikvorträgen über die eigene Sprechsituation und ihre Folgen nachzudenken, sondern auch ein eher persönlich-individueller Widerstand gegenüber Rollenzuschreibungen von außen. Uwe Johnson legt einige Jahre später zu Beginn seiner Poetikvorlesung Begleitumstände (gehalten 1979/80) eine Sonderspielregel für das folgende Vorlesungs-Spiel fest, indem er erklärt, was im Folgenden mit dem Wort »Ich« gemeint sein soll – und was nicht. An dieser Stelle bitte ich Sie, mit mir den fälligen Augenblick einer Peinlichkeit durchzustehen: Weiterhin wird gelegentlich das Wort ›ich‹ mit seinen Abwandlungen vorkommen. Objektivierungen wie ›der Verfasser‹ oder ›Johnson‹ würden eine Wirkung nur formal durchsetzen, riskant sind die desgleichen. Denn in diesem Gewerbe ist das Verfassen nur eine von mehreren Tätigkeiten, und der Nachname ist auf die Dauer so schwierig auszusprechen wie die Assoziationen zu verdrängen wären, die der klang einer Abkürzung einlüde. Bitte, wollen Sie von mir annehmen, und im Gedächtnis behalten, dass ich von einem anderen Subjekt sprechen werde als dem, das heute Nachmittag auf dem Flughafen Rhein/Main kontrolliert wurde auf seine Identität mit einem Reisepass. Das Subjekt wird hier lediglich vorkommen als das Medium der Arbeit, als das Mittel einer Produktion. / Damit ist Ihnen garantiert, dass private Mitteilungen zur Person entfallen werden. Es trifft sich mit meiner Überzeugung, sie seien ohnehin wenig ergiebig.4

In Zeiten postauktorialer Subjektkritik radikalisieren sich die Befunde, wenn es um das sprechende »Ich« geht. Zugleich differenzieren sich die Strategien aus, mit diesem Ich umzugehen, seinen Konstruktcharakter, seine Zitathaftigkeit, seine Absenz zu behaupten – und wiederum erweist sich die spezifische Per3 Bachmann (1982), S. 217f. 4 Johnson (1992), S. 24–25.

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formanz der Poetikvorlesung als besonders flexibel. Der Schriftsteller und Literaturtheoretiker Felix Philipp Ingold, der zwar keine Frankfurter Vorlesung, wohl aber viele Poetik-Vorträge gehalten hat, weist in einem solchen Vortrag über den Autor im Text (1989) darauf hin, wie wenig dem Klang einer Stimme zu trauen sei, die in Gegenwart eines Auditoriums von einem Ich spreche.5 Die eigene Redesituation wird ihm dabei zum Anlass, den Gegenstand der Rede vorzuführen: ein Ich, das zitiert und selbst Zitat ist. Das »Ich« als sprachlicher Effekt wird zum Gegenstand der Demonstration seiner Nicht-Präsenz: es ist nur ein Sprach-Effekt, eine Suggestion des Präsens.6 ›Hier stehe ich! Ich kann nicht anders…‹ Das ist, obwohl als redendes Subjekt die erste Person in der Einzahl auftritt, keine Selbstaussage: es ist ein Zitat; ein geflügeltes Wort. Nicht ich, der ich hier … vor Ihnen … stehe, sage, dass ich hier … vor Ihnen … stehe; dies zu sagen, erübrigt sich, da Sie ja sehen, hören können, dass das sprechende Ich, das hier und jetzt in der ersten Person Einzahl sich aussprechende Subjekt hier und jetzt vor Ihnen steht. Nämlich ich. […] Das Zitat erweist sich demnach als verkappte Selbstaussage, und es wäre die Frage zu stellen, wer da nun … wirklich … spricht; wer als Autor zu dem Satz ›Hier stehe ich…‹ zu stehen hat. Und dies wiederum führt zur Anschlussfrage nach der Identität dessen, der spricht, sowie nach dem Verhältnis des sprechenden Subjekts zum gesprochenen Satz.7

Aber auch dort, wo ein Ich sich zu behaupten versucht, bieten gerade Poetikvorlesungen Anlass, die mediale und situative Bedingtheit dessen zu bedenken, der da gerade vor den anderen ein »Ich« spielt. Andreas Maier, der seine Poetikvorlesung von 2006 schlicht »Ich« nennt, stellt seine poetologischen Erörterungen ins Zeichen der Reflexion über das Schicksal des schreibenden Ichs. Dass dieses sich seinen Namen mit einem Buch (eben mit den gedruckten Poetikvorlesungen) teilen muss, erscheint als so programmatisch wie verwirrend. Wer das ist, der da spricht, erscheint gewollt unklar. »In den Büchern suchte ich immer ein Ich, und jetzt bin ich ein Buch geworden. Ein Buch, auf dem Ich steht.«8 Navid Kermani betont 2010 den Konstruktcharakter des in der Poetikvorlesung auftretenden Ichs mit verschiedenen Mitteln, unter anderem durch die häufig wiederholte Auflistung von verwendeten Namen der Hauptfigur seines Romans Alle Namen, über dessen Genese die Vorlesungen berichten (er nennt sich »Enkel«, »Sohn, Vater, Mann«, »Romanschreiber«, »Berichterstatter«, »Navid Kermani«, etc.9). Besonders konsequent setzt Thomas Meinecke die Idee eines Ichs um, das nichts ist als eine Montage aus Zitaten. Seine Poetik-Vorlesung 5 6 7 8 9

Vgl. Ingold (1989). Ingold (1989), S. 7f. Ingold (1989), S. 6f. Maier (2006), S. 127. Vgl. Kermani (2012), S. 7.

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besteht allein aus Zitaten, Zitaten über Thomas Meinecke, und sie trägt den (selbstironischen) Titel: Ich als Text.10 Die Spielregel, als Autor-Ich einer Öffentlichkeit Rede und Antwort zu stehen, wird auf den Kopf gestellt: Stimmen der Öffentlichkeit reden über Thomas Meinecke. Eine weitere Ausweich- bzw. Umkreisungsstrategie im selbstreflexiven Spiel ›Poetikvorlesung‹ besteht in dem (mehrfach einleitend vorgebrachten) Bekenntnis, keine ›Poetik‹ zu haben, womöglich nicht einmal zu wissen, was eine ›Poetik‹ sei oder das, was mit dem Begriff ›Poetik‹ gemeint ist, sogar prinzipiell abzulehnen. Wo Poetikvorlesungen mit derlei Bekenntnissen (oder Protesten gegen einen angeblichen Auftrag) beginnen, stehen sie – insofern sie dann trotzdem stattfinden – im Zeichen des ›Trotzdem‹. Dieser Art, das Spiel zu spielen, verrät indirekt vieles über die jeweilige Einschätzung der literarischen Arbeit als solcher. Christa Wolfs Poetik-Vorlesung, die inhaltlich um die Entstehung der Kassandra-Erzählung kreist, setzt mit einer Abwehrgeste ein.11 Ein Bescheidenheitstopos – die Selbstdiagnose, ›keine Poetik zu haben‹, verknüpft sich mit der Verwahrung gegen Ansprüche, die die Autorin gar nicht erfüllen will. ›Poetikvorlesungen‹ heißt dieses Unternehmen, aber ich sage Ihnen gleich: Eine Poetik kann ich Ihnen nicht bieten. […] Ich spotte ja nicht, und ich leugne selbstverständlich den Einfluß nicht, den herrschende ästhetische Normen auf jeden haben, der schreibt (auch auf jeden, der liest und der die verinnerlichten Normen seinen persönlichen Geschmack nennt). Aber den wütenden Wunsch, mich mit der Poetik oder dem Vorbild eines großen Schreibers auseinanderzusetzen […] habe ich nie verspürt. Dies ist mir erst in den letzten Jahren merkwürdig geworden, und so kann es sein, daß diese Vorlesungen nebenbei auch die gar nicht gestellte Frage mit behandeln, warum ich keine Poetik habe.12

Robert Menasse beginnt seine Vorlesung von 2005 mit einer gezielten Provokation:13 Das Rahmenunternehmen respektive das Großprojekt ›Autorenpoetik‹ wird für in sich widersinnig erklärt – unter Orientierung an einem einseitigen ›Poetik‹-Begriff, der wahrscheinlich bewusst-polemisch in den Raum gestellt wird, um sich daran abzuarbeiten. Sehr geehrte Damen und Herren! / Ich muß Ihnen vorab etwas gestehen: / Ich bin ein Hochstapler. / Ich habe zugesagt, eine Poetikvorlesung zu halten, aber ich kann das gar nicht. / Einen Dichter einzuladen, eine Poetikvorlesung zu halten, ist etwa so sinnvoll, wie einen Kannibalen als Ernährungsberater zu engagieren. Am Ende nagt er an Ihren Knochen, in diesem Fall an den Resten Ihres geistigen Stützapparats.14 10 11 12 13 14

Vgl. Meinecke (2012). Vgl. Wolf (1984). Wolf (1984), Vorbemerkung ohne Titel, 2 Seiten vor der eigentlichen Vorlesung. Vgl. Menasse (2006). Menasse (2006), S. 9.

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Zwar halte jeder Dichter den jeweiligen Modus seines Schreibens für besonders gut begründet und sei daran interessiert, diese »als vernünftige oder gar eherne ästhetische Gesetze anerkannt« zu sehen – aber die damit unterstellten allgemeinen »Gründe« von Dichtung seien »Unsinn« – so Menasse unter dezidierter Verfahrung gegenüber jeglicher Tendenz zum Normativen, die er im Projekt »Poetik« als solchem bereits angelegt sieht – und für dezidiert anti-poetisch hält. Jede Poetik hat grundsätzlich eine fixe Idee: sie will normativ werden. Als normatives Regelwerk der Literatur hebelt sie allerdings einen wesentlichen Daseinsgrund der Literatur aus, nämlich das Neue, das Innovative – literatursoziologisch gesagt: die Möglichkeit, uns in unserer Zeitgenossenschaft beschreiben zu können. Also sind Poetiken grundsätzlich Unsinn.15

Diese und andere Beispiele illustrieren: Zum Spiel-Charakter des Poetikdiskurses gehören – wie sich gerade am Beispiel diverser Frankfurter Vorlesungen ablesen lässt – auch die verschiedenen Formen der Selbst-Distanzierung eingeladener Autoren von hypothetischen Spielregeln und etablierten Spielkonventionen, vom unterstellten Ansinnen, eine ›Poetik‹ zu haben sowie von der Erwartung, zugleich die gewünschte Rolle zu spielen und sich doch ›authentisch‹ zu artikulieren. Gerade hier ergibt sich manche Möglichkeit der Inszenierung von Brüchen, Antagonismen, Paradoxien.

3.

Poetik als Performanz: Variationen über ein Konzept

Ernst Jandl versteht und kommentiert seine Frankfurter Poetikvorlesungen von 1984/85 explizit als ein sprachliches Geschehen, konkreter : als ein spielerisches Sprach-Geschehen, und die verschiedenen Faktoren und Instanzen, die an diesem Spiel beteiligt sind, werden zum Gegenstand der Vorträge: Atem und atmender Körper, Rede und Schrift, Sprecher und Publikum, Sprache und Wörter.16 Und – allem anderen voran – die Zeitlichkeit des gemeinsamen Spiels, die für Jandl metonymisch für die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens steht. Eine Differenzierung zwischen poetischem und poetologischem Sprechen lehnt Jandl ab; explizit deklariert er die Poetikvorlesung zum poetischen Text; der Vortrag interpretiert sich dadurch selbst als poetisches Ereignis. Es geht mir, mit dem Ausdenken und Niederschreiben dieser Vorlesungen, überhaupt nicht anders als mit dem Schreiben eines Gedichts, oder mit dem Schreiben von irgendetwas sonst, das ich schreibe. […] Weshalb ich es als eine höchst kuriose Frage empfinde, wie sie in diesen Tagen und Wochen und Monaten des Arbeitens an diesen Vorlesungen, von höchst Verständnisvollen, es verstehen Wollenden, an mich wie15 Menasse (2006), S. 9–10. 16 Vgl. Jandl (1985).

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derholt gerichtet worden ist: ›Und schreiben Sie daneben Gedichte? Schreiben Sie täglich, daneben, Ihr Gedicht?‹ Meine Vorlesungen, jetzt, sind meine Gedichte. Und so, das heißt, als solche, sind sie Ihnen dargeboten, hingereicht… Soll ich reimen?17

Dass sich Poetikvorlesungen in mehreren medialen und zeitlichen Dimensionen abspielen, akzentuiert Jandl besonders. Darauf verweist indirekt bereits der Titel Das Öffnen und Schließen des Mundes, der auf den Mund als Artikulationsmedium hinweist und zwei Vorgänge benennt, deren regelmäßiger Wechsel das Leben bestimmt. Seine Poetikvorlesungen sind jedoch keiner spezifischen medialen Präsentationsform zugeordnet: Verfasst, um mündlich vorgetragen zu werden, sind sie doch zugleich an Schriftlichkeit gebunden: erstens als dem Vortrag zugrundeliegendes Manuskript sowie zweitens als schließlich gedruckter Text. Die Gesamtperformanz einer Poetikvorlesung reicht, wie Jandl verdeutlicht, vom Schreibprozess über die Rede bis zur Druckvorbereitung, bezieht also mediale Metamorphosen des Textes mit ein. Beim Vortrag verliest Jandl ostentativ aus einem Manuskript; im gedruckten Buch dann finden sich vereinzelt regelrechte Regieanweisungen für die orale Performanz, z. B. bei Bemerkungen über das Luftschnappen. Zudem partizipiert bei Jandl das Auditorium am Ereignis der Poetikvorlesung. Wiederholte Hinweise des Vortragenden auf das gemeinsame Atmen, Mundöffnen und Geräusch-Erzeugen interpretieren die Vortragssituation selbst als ein mit verteilten Rollen gespieltes Stück.18 Damit verbindet sich Jandls Insistenz auf der Zeitlichkeit sowohl seines Textes als auch der am Ereignis ›Poetikvorlesung‹ Beteiligten – und der Dichter nimmt eben diese Zeitlichkeit seines Unternehmens zum Anlass, Zeitlichkeit als solche zu thematisieren. Damit wird die Zeitphase der Poetikvorlesung implizit zur Metonymie für Lebens-Zeit überhaupt. »Daß wir vor kurzem erst zu sein begonnen haben, schmerzt keinen von uns; nur daß es zu Ende geht, ist schade. Diese begrenzte Dauer – solang mund geht auf und zu, solang luft geht aus und ein – ist unser Thema – nicht nur für diese Vorlesungen.«19 Im Übrigen ist auch für Jandl 17 Jandl (1985), S. 117. 18 »Fünf Vorlesungen hindurch wird uns nun das Öffnen und Schließen des Mundes beschäftigen. Einer wird es tun, und viele werden es sehen. Auch einige von Ihnen, ja die meisten, werden es dann und wann tun, ein Gähnen, ein Seufzen, ein kleines Lachen vielleicht – Sie werden es tun; nur nicht so ununterbrochen wie ich. Wobei das Öffnen und Schließen des Mundes von meiner Seite immer in Gedanken an Ihre Ohren geschehen wird, die etwas aus meinem Inneren in Ihr Inneres zu transportieren haben werden, an die Stelle in Ihrem Innern, wo es denkt […] sehr viel in meinem Inneren wird in Bewegung sein müssen, damit mein Atem etwas von dort, wo es in mir denkt, durch die Luft, die uns verbindet und trennt, bis zu Ihnen befördern kann. Freilich bräuchte ich, um unserem Thema zu entsprechen, hier vor Ihnen nichts anderes zu tun, als zu essen und zu trinken – eine Voraussetzung aller Poesie. Oder ich könnte mein Thema ganz formalistisch auslegen und einfach schnappen: (Ausführung)« Jandl (1985), S. 6f. 19 Jandl (1985), S. 7.

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die Poetikvorlesung eine Gelegenheit, den Dichter – hier : sich selbst – als Rollenfigur zu interpretieren – als eine, die vom Vortragenden auch und gerade durch seine physische Präsenz, seine Mimik und Gestik ausgefüllt wird. Wer eine Poetikvorlesung verfasst, vorträgt und drucken lässt, spielt eine Rolle – sei es als starkes oder schwaches, als auktoriales oder gelenktes »Ich«, ja womöglich als ein »Er«. In Jandls Vorlesung Aus der Fremde sind darum ausführliche Passagen seiner Sprechoper Aus der Fremde integriert, wo der Schriftsteller als »Er« agiert.20 Die Verwendung dieser Passagen als Zitat ist doppeldeutig: Zum einen findet die Rolle des »Er« durch die Rezitation Jandls gleichsam in den Schriftstellerkörper zurück, zum anderen besteht im Selbstzitat ein weiteres Moment der Brechung. Mit seiner Profilierung des Ereignisses ›Poetikvorlesung‹ hat Jandl vielen Anschlussinszenierungen den Weg gewiesen, bei denen Autoren die Gelegenheit wahrnahmen, das Geschehen ›Poetikvorlesung‹ als ein künstlerisch gestaltbares Spiel zu interpretieren und seine spezifischen Regularitäten zu nutzen. Gerade die komplexe Zeitstruktur, die Poetikvorlesungen prägt, werden auch von Jandls Nachfolgern reflektiert. Mehrere von ihnen demonstrieren das mit dem Projekt ›Poetikvorlesung‹ verbundene Disponieren über Zeit: Termine müssen berücksichtigt, Ereignisabläufe kalkuliert, Vorlesungssequenzen entsprechend strukturiert werden. Einen unter medialen Aspekten eigenen Weg geht Rainald Goetz: Er publiziert seine Frankfurter Vorlesung nicht als eigenständiges Buch. Stattdessen veröffentlichte er das jeweils Vorgetragene innerhalb eines Blogs, der gleichzeitig die Genese der Vorträge sowie deren Rahmenbedingungen darstellt. Dieser Blogtext wird dann allerdings doch als Buch veröffentlicht – unter dem Titel Abfall für alle. Roman eines Jahres; gemeint ist das Jahr 1998.21 Goetz’ diaristische Aufzeichnungen behandeln die verschiedensten Gegenstände, die den Autor im zeitlichen Umfeld der Vorbereitungen seiner Poetik-Vorträge beschäftigt haben, und sie enthalten zahlreiche Datierungen (wie etwa »Heute Morgen 5.5.«). Den Projektcharakter des Unternehmens stellt das Textagglomerat deutlich zur Schau. Die Poetik-Vorlesung, entstanden aus gesammeltem, dabei heterogenem Material, flüchtig, wie die Zeit, in der sie vorgetragen wurde, erscheint auch in gedruckter Form noch im Fluss – als Spur eines Lebens, das weitergeht und darin besteht, weitere Materialien aufzunehmen und zu arran-

20 Seine fünfte Vorlesung hat Jandl sich für sein »Eigenleben« (1985, S. 123), sprich: für das Thema der schriftstellerischen Existenz, reserviert. Sie gilt dem poetischen Arbeitsprozess und seinen Rahmenbedingungen – wie auch in Jandls autoreflexiver Sprechoper »Aus der Fremde« (1978/80). In diesem Stück wird, deutlich autobiographisch gefärbt, zugleich aber kompositorisch stark stilisiert, ein Tag aus einem Schriftstellerleben dargestellt, das im Zeichen des Kampfes mit Schreibhemmungen und -hindernissen steht. 21 Vgl. Goetz (2003).

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gieren.22 Goetz nennt den Text, in dem passagenweise unter anderem seine Frankfurter Vorträge, Reflexionen über diese Vorträge sowie viele und heterogene weitere Notizen präsentiert werden, einen »Roman«; er hat sich schreibend demnach also selbst zur Roman-Figur gemacht. Das Schreiben an den PoetikVorträgen war Bestandteil dieses Vorgangs. Unter anderer Akzentuierung als bei Jandl, aber analog zu dessen Regieeinfall, stellt auch Goetz eine Beziehung zwischen Schreibzeit, Vortragszeit und Lebenszeit her und lässt die dem Projekt ›Poetikvorlesung‹ gewidmete Zeit zur Metonymie für letztere werden. Insofern diese Schreib-, Vortrags- und Lebenszeit eine von der »Roman«-Figur namens Goetz mit seinem Publikum geteilte Zeit ist, ist das Publikum im Szenario mit vorgesehen: Die Figur agiert bewusst vor einer Öffentlichkeit, passt Sprache und Sprechrhythmus diesem Rahmen an und produziert so einen Text, der seine performative Prägung zu erkennen gibt.23 Die diaristische Form, die Goetz seinem Blog und damit auch dem buchförmigen Dokument über Geschichte und Inhalte seiner Poetikvorträge gibt, hat vor allem die Funktion, Zeit als solche sinnfällig zu machen – die Zeit als den »Autor«, der den Autor Goetz antreibt. Neben diesem fiktiven Leser, einer milden Freundlichkeits-Instanz, hat der Roman einen herrischen Autor : die Zeit. Sie schickt ihren Helden hinaus ins Leben, täglich neu. Minuten-Notizen protokollieren das Erlebte, Geistes-Zustände, Blicke, Beobachtungen, Geschehnisse außen und innen […].24

Was auf den ersten Blick einfach formlos erscheint, steht, so gesehen, doch im Zeichen der Suche nach einer Form, einer Form für die Zeit. Auf die Art stellt Abfall für alle auch noch einmal die alte Frage nach dem Abenteuerlichen gerade auch der FORM des Romans. Was ist das eigentlich, ein Roman? Die Frankfurter Poetik-Vorlesung Praxis, fünf mal Dienstag hier im Mai, versuchte eine Antwort. […] Schließlich war, ein Traum, der wahr geworden ist, das Buch entstanden, das ich bin. Das ich immer schreiben wollte, von dem ich immer dachte, wie könnte es gelingen, das einfach festzuhalten, wie ich denke, lebe, schreibe. Von Seiten des Todes 22 Vgl. den Einlagezettel in Goetz (2003): »Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet. / Tagebuch, / Reflexions-Baustelle, / Existenz-Experiment. / Geschichte des Augenblicks, / der Zeit, / Roman des Umbruch-Jahres 1998. / Ein Tagebuch zunächst mal also, so erzählt Abfall für alle vom Leben eines Schreiber-Ichs in Berlin. Er sitzt an dieser Arbeit, schreibt und probiert zu schreiben, er geht einkaufen, schaut Fernsehen und liest die Zeitungen. Er geht ins Kino, ins Theater, schaut Ausstellungen an. Und er verreist und trifft Freunde, fast schon fiktiv, und redet ganz echt mit allen Mitbewohnern und Sprechern im Raum des Medialen.« 23 »Dem Internet, wo das Buch, in täglichen Lieferungen publiziert, Stück für Stück entstand, verdankt der Text seine äußere Gestalt: die häppchenartige Form; das Ideal seiner Sprache, alltäglich, zugänglich, lebensnah. Und vorallem [sic] die innere Ökonomie: von den Gedanken an das schweigende Leser-du, von dessen Interessen, Eile und Ungeduld fühlte der Text sich geführt und gehalten, erwartet und hervorgebracht.« Vgl. den Einlagezettel in Goetz (2003). 24 Einlagezettel in Goetz (2003).

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her gesehen. – […] / Keiner weiß, was als nächstes passiert. Davon erzählt Abfall für alle. Wie es war, als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht. Augenblick, Moment. Und jetzt?25

Nicht immer ist der Sinn für Zeitlichkeit mit dem (zumindest tendenziell pathetischen) Blick aufs eigene Ende verbunden wie hier. Manchmal geht es auch eher um den alltäglichen und banalen Zeitdruck, das Zeitregiment, unter dem ein jeder lebt, um Kalender, Daten und Zeiteinteilungen. Ostentativ spielerisch geht Juli Zeh mit dem medial-hybriden Projekt Poetikvorlesung um.26 Zehs Poetik-Vorlesung (2013) hat die Form einer E-Mail-Erzählung. Verlesen und gedruckt wurden Korrespondenzen der Autorin Zeh mit verschiedenen Partnern, deren Beiträge nicht abgedruckt sind, sondern aus den allein abgedruckten Mails von Zeh erschlossen werden müssen. Der Text ähnelt insofern einem Briefroman, Datierungen enthält er nicht (man datiert Mails ja auch nicht explizit, das macht das Programm schon). Die Adressaten der Mails scheinen teilweise Vorbilder in realen Personen zu haben, teilweise auch erfunden zu sein; inwieweit in die Gesamtkorrespondenz Materialien aus realen Mailkorrespondenzen Zehs eingegangen sind, lässt sich aus dem Text selbst nicht klar erschließen. Falls die Beiträge auf tatsächliche Mail-Korrespondenzen Zehs mit anderen Personen zurückgehen, sind sie in vielen Fällen offensichtlich für den Zweck einer Verwendung in den (bzw. als) Vorlesungen verfasst worden. Als Korrespondenzpartner adressiert werden Personen aus dem Umfeld der Autorin, ferner Institutionen, die sie humoristisch personifiziert.27 In den Mailbotschaften geht es um verschiedene Themen. Allerdings bildet das Thema Schriftstellerinnen-Dasein eine Art gemeinsamen Nenner. So geht es um Projekte und Schreibarbeiten, um die Zumutung der berufsbedingten Hotelübernachtungen, ja um das als berufsspezifisch dargestellte Problem mit der Altpapierentsorgung, um die Behelligung durch Leserbriefe, um die Zumutung, in Schulen aufzutreten etc.; insbesondere Poetikvorlesung III bietet Realsatire aus dem Schriftstelleralltag. Zeh schildert (hierin manchen Vorgängern ebenfalls ähnlich) unter anderem ein eigenes literarisches Projekt.28 Dessen Hauptfigur, Treidel, trägt einen Namen, der absichtsvoll an den Kollegen und Poetikdozenten Hans-Ulrich Treichel erinnert; der Roman als solcher wird gerade nicht geschrieben. Autoreferenziell wird Zehs Spiel insbesondere in der Korrespondenz 25 Einlagezettel in Goetz (2003). 26 Vgl. Zeh (2013). 27 Partner der Mail-Korrespondenzen sind die Goethe-Universität, die Zeh zur Poetik-Vorlesung eingeladen hat, der Ehemann (»Chef«), Kollegen (»alter Schwede«, »Holger«), eine Kollegin und Übersetzerin (»Wanda«), der Verleger, eine Hotelmanagerin, eine Behörde, die für Altpapierentsorgung zuständig ist, und andere. 28 Vgl. dazu vor allem Zehs vierte Poetikvorlesung VI zum imaginären literarischen Projekt um »Treidel« als (konstruiertem, dabei notwendigem) Anlass des Schreibens.

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mit der Institution, die sie zu den Poetikvorlesungen eingeladen hat. Am Anfang ihrer Mails steht eine Antwort an die »Sehr geehrte Goethe-Universität…«, in der die Einladung, eine Frankfurter Vorlesungsreihe zu halten, zunächst mit seltsamen Argumenten abgelehnt wird.29 Mehrfach zeichnet sich der Wunsch der Schriftstellerin nach Unsichtbarkeit ab, nach Abschottung gegenüber den Ansprüchen des Publikums. Zu einer Autorin, die – der Rahmenfiktion nach – ihre eigene private Mailkommunikation ausstellt, passt dies freilich schlecht. Aber noch in einer anderen Hinsicht inszeniert Zeh eine Paradoxie. Denn indem sie ihre Poetikvorträge hält (die filmisch aufgezeichnet worden sind), liest sie diese erkennbar für alle aus dem bereits gedruckten Buch ab. Dass diese – anders als bei den sonst nachträglich gedruckten Vorlesungen üblich – zum Zeitpunkt der Poetikvorlesungen bereits als Buch vorlag, ist nicht bloß eine verkaufsfördernde Maßnahme. Es ist auch ein ins Kalkül der Inszenierung einbezogener Hinweis auf die Künstlichkeit, den Inszenierungscharakter der Vortragssituation (und damit auch ein Indiz für die Konstruiertheit des Mailverkehrs). Ein komplexes, auf Irritationseffekte setzendes Spiel mit der medialen und temporalen Differenz zwischen dem Schreiben, dem Vortragen, dem Weiterschreiben und dem Weitervortragen seiner Vorlesung hat sich Navid Kermani für seine Frankfurter Poetikvorträge einfallen lassen.30 Diese sind in der Buchfassung genau datiert,31 und auch innerhalb der Vorlesungen werden gelegentlich Daten genannt, die mit dem Projekt Poetikvorlesung zusammenhängen.32 Schon dadurch macht der Text darauf aufmerksam, dass er in mehreren Zeitdimensionen existiert: in der Entstehungs-, der Vortrags- und der Lese-Zeit. Inhaltlich sind die Poetikvorlesungen eng verknüpft mit einem Roman Kermanis, der 2011 erschien und ebenfalls durch ein komplexes Zusammenspiel übereinander gelagerter Zeitebenen charakterisiert ist.33 Die Verlässlichkeit der 29 Zeh (2013), S. 7. 30 Vgl. Kermani (2012). 31 Termine: ( 1) 11. Mai 2010, ( 2) 18. Mai 2010, ( 3) 25. Mai 2010, ( 4) 1. Juni 2010, ( 5) 8. Juni 2010. 32 So finden Umräumarbeiten im Arbeitszimmer des Navid Kermani, die wiederholt als zeitlicher Bezugspunkt erwähnt werden, am 3. April 2007 statt (vgl. 2012, S. 37). Erwähnt werden auch Daten der Niederschrift der Poetikvorlesungen; so wird der 28. April 2010 als Schreibtag der am 11. Mai 2010 vorgetragenen Vorlesung erwähnt (vgl. 2012, S. 9). 33 Vgl. Kermani (2011). Der Roman präsentiert sich als ein Fluss von Aufzeichnungen, die mit dem 8. Juni 2006 beginnen (erster Satz: »Es ist Donnerstag, der 8. Juni 2006«, S. 7) und mit einer Situation enden, die sich am 11. Juni 2011 ergibt (S. 1228: »Am Samstag, dem 11. Juni 2011, um 10:15 Uhr«). Die zwischen Anfang und Ende liegenden rund 1220 Buchseiten sind nicht in Kapitel oder andere Absätze untergliedert. Die Aufzeichnungen entstehen am Laptop kontinuierlich über den Zeitraum zwischen den genannten Daten hinweg. Sie bieten eine Mischung zwischen Diarium, autobiographischem Text, biographischen Texten über (viele) andere Personen, Beschreibungen zahlreicher Gegenstände und Situationen, Reflexionen

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Daten einmal vorausgesetzt, ergibt sich folgendes Bild des zeitlichen Zusammenhangs von Roman und Vorlesungen: Die im Roman enthaltenen Aufzeichnungen (frühere Vorüberlegungen, die ins Projekt eingingen, seien einmal ausgeklammert) beginnen 2006 und enden im Juni 2011; 2011 erscheint der Roman dann auch. Die Poetikvorlesungen entstehen 2010, also während der Entstehung des Romantextes, und werden 2010 gehalten. Dabei nehmen nicht nur die Poetikvorlesungen auf den Roman und das Schreiben am Roman Bezug (sie bieten außerdem unter anderem Zitate und Paraphrasen von Episoden des Romans), sondern der Roman seinerseits bezieht sich auch auf die während seiner Entstehungszeit verfassten Poetikvorlesungen. Zeitweilig entstehen Vorlesung und Roman synchron. Beide Texte haben – und sie geben dies beide deutlich zu erkennen, u. a. durch Datierungen – jeweils für sich eine (mindestens) doppelte Zeitstruktur : die der dargestellten Gegenstände und die der Aufzeichnungsarbeit. Durch ihre Verbindung zueinander wird das Verhältnis noch komplexer. Hinzu kommt, dass die Poetikvorlesung die (aus der Perspektive der Schreibsituation heraus noch zukünftige) Vortragszeit mit reflektiert. Für die Vorlesungsabende selbst hat sich Kermani ein spezifisches Inszenierungsverfahren ausgedacht: Er lässt seinen eigenen Vortrag wiederholt durch die Verlesung von ausgewählten Textpassagen durch zwei Schauspieler, Isaak Dentler und Martin Rentzsch, unterbrechen. (Aus dem Buchtext ist dies erschließbar.) Vor allem in der fünften Vorlesung (an der Dentler und Rentzsch ebenfalls mitwirken) inszeniert der Autor die verlaufende Zeit als sein Zentralthema. Der Rahmenkonstruktion zufolge hat der mitwirkende Schauspieler Isaak Dentler am selben Abend um 20 Uhr noch ein anderes Engagement, so dass die Poetikvorlesung rechtzeitig aufhören muss. Zwischenbemerkungen, die sich vor allem auf diese Verpflichtung beziehen, unterbrechen den Gang der Vorlesungen; dass sie im gedruckten Vorlesungstext enthalten sind, verdeutlicht den Inszenierungscharakter des Ganzen.34 Dazu gehört die Ankündigung, diese Vorlesung werde länger dauern als normal, dafür aber dürfe das Auditorium auch gehen, wann es wolle; tatsächlich zieht sich (wie auch der gedruckte Text zeigt), die fünfte Vorlesung lange hin.35 Bei der Stange gehalten werden soll das über verschiedene Themen inklusive persönlicher Stellungnahmen sowie Bezugnahmen auf historische Ereignisse und Tagesaktualitäten. 34 So unterbricht Kermani beim Vortrag sich selbst, indem er fragt, was für Dentler auf dem Spielplan stehe (2012, S. 170). Dentler nennt ihm das Stück und erklärt, sein Auftritt beginne mit dem Stück selbst, es sei ein »Einpersonenstück« (S. 171). Mehrfach unterbricht Dentler den Vortrag mit Zitaten: von Jean Paul, von Simon Stephan (dem Verfasser des Einpersonenstücks) und von Kermani. Kermani spricht von ›Unterbrechungen‹ durch Jean Paul, die ihn bei der Arbeit am Roman stören (S. 180). 35 Vgl. Kermani (2012), S. 162. Angekündigt wird, dass der Vortrag (der »Allmacht« des ›Vortragenden‹ zum Trotz), irgendwann dennoch enden werde: spätestens, um »fünf nach

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geduldige Publikum offenbar nicht zuletzt dadurch, dass schon früh in der Vorlesung eine später eintretende Überraschung (etwas »Unerwartetes«) angekündigt wird. Tatsächlich kommt es dann zu einer (scheinbaren) Störung: Nachdem Kermanis Vortrag sich allzu lang hingezogen hat, auch über 19.35 Uhr hinaus, und Isaak Dentler mehrfach durch Zwischenrufe seine Zeitnot in Erinnerung gerufen hat – er muss ja um 20.00 in einem Frankfurter Theater zu spielen beginnen – taucht ein Mann auf, der im Text der Vorlesung »Ein Fremder« genannt wird und sich durch seine lautstarke Suche nach einem Taxikunden, der ihn bestellt habe, scheinbar als Taxifahrer zu erkennen gibt.36 Man ahnt: Dahinter steckt Dentler, der ins Theater muss. Insofern es sich aber offenbar um eine kalkulierte Inszenierung handelt, ist vielleicht auch Dentlers Zeitnot nur vorgespielt. Eben damit aber wird das Thema, um das es mit dem Spiel geht, deutlicher akzentuiert. Zur letzten einer Serie von Vorlesungen über die Zeit passt es gut, wenn man zeigt, wie jemandem ›die Zeit davon läuft‹, wie die Zeit die Abläufe bestimmt, in die Menschen verwickelt sind, wie sie dem, was jemand treibt, ein Ende setzt. Und die Performanz der ganzen Vorlesung, in der dauernd auf die Uhr geschaut wird, erscheint als metonymische Darstellung ihres zentralen Themas: der Zeitlichkeit. Der früh Angekündigte, ›am allerwenigsten Erwartete‹ wäre also eine von Kermani geplante und vorab angekündigte Personifikation der Zeit. Dabei gibt eine Bemerkung aus der Vorankündigung des ›am allerwenigsten Erwarteten‹ zu denken: Warum sollte ein Taxifahrer (oder jemand, der einen Taxifahrer spielt) unerwartet kommen? Die Suggestion einer Diskrepanz zwischen dem ›am allerwenigsten Erwarteten‹ und der ›Modernität‹ des Hörsaals, zusammen mit der zunächst mysteriösen Bezeichnung dieser Figur als »Fremder« weckt weiterreichende Assoziationen – zumal es in dem Romanprojekt Dein Name sowie in der Poetikvorlesung um das Thema Tod und Tote geht. Auf diesen thematischen Kontext bezogen, erscheint der »Fremde«, der einen Mitspieler abberuft, als Reminiszenz an geläufige Darstellungen des personifizierten Todes. Er ist eine halb acht, weil dann der Spielplan des Schauspiel Frankfurts [sic] meine Selbstherrlichkeit beendigt und Isaak Dentler im Taxi zum Theater rasen muss, wo um acht Uhr, seine Vorstellung, so Gott will, beginnt.« (S. 163). An diese Erwähnung des Endes der Vorlesung (das aber nicht genau datiert wird, sondern für das nur ein ultimativer Zeitpunkt genannt wird, nämlich 19.35 Uhr) schließt sich eine rätselhafte und vieldeutige Verheißung an: »Falls Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, mir die Freude machen, mir bis ans Ende meiner Herrlichkeit zu folgen, werden sie noch mit jemandem belohnt, den Sie in diesem hochmodernen Hörsaal HZ2 am allerwenigsten erwarten.« (S. 163) 36 Das Druckbild suggeriert durch Einrückung und eckige Klammern um »[Ein Fremder :]«, dass er in Kermanis Vortrag hineinspricht, der gerade seine Danksagungen ausspricht und (scheinbar) irritiert fragt »Ich… was ist denn?«, bevor er mit seinen Danksagungen fortfährt (2012, S. 206). Ein Berichtssatz bzw. eine Szenenanweisung erläutert – als weitere Unterbrechung im Textbild, was sich im Hörsaal nun abspielt: »[Isaak Dentler eilt mit dem Taxifahrer zur Tür hinaus]« Kermani (2012), S. 206.

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Variante auf den Tod als Führer, der die Menschen aus dem Theater ihres Lebens abberuft und fortbringt. Aufbau und Inszenierungsform der Poetikvorlesung verweisen, abgestellt auf den Inhalt, auf das Unplanbare (den Zufall) und den Tod.37 Der Vorlesungstitel »Über den Zufall« erweist sich dabei aber als mindestens doppelsinnig: Indem der Schriftsteller ›über den Zufall‹ spricht, erhebt er sich ›über den Zufall‹; indem er über die Zeit spricht, bringt er sie ein Stück weit in seine Gewalt.

4.

Die Poetikvorlesung als literarisch-poetisches Spiel

Was ist und wozu gibt es Literatur? Autoren wie Jandl und die anderen, die seinem performativen Ansatz in der Gestaltung ihrer Poetikvorlesungen folgen, geben keine Antwort auf diese Frage in abstrakten Begriffen; sie beantworten sie nicht im Sinn einer These, sondern sie inszenieren gleichsam die Literatur selbst als ein Kommunikationsspiel zwischen Autoren und ihrem Publikum. Im Aufführungskontext Poetikvorlesung wird der literarische Prozess als Ereignis erfahrbar. Im ersten Paragraphen seiner Vorschule der Ästhetik (1804/1813) betont Jean Paul, wie wenig theoretische und abstrakte Begriffe dem Poetischen gerecht würden. Die Dichtung müsse sich selbst bespiegeln, da ihr kein anderes Medium kommensurabel sei.38 In manchem erinnern die vorgestellten Poetik-Vorlesungen an Jean Pauls Überlegungen und an das romantische Konzept einer sich selbst bespiegelnden Literatur. Allerdings erscheint die bei Jean Paul noch vorgenommene Differenzierung zwischen den Sphären der Begriffe einerseits, der der (Sprach-)Bilder, der Metaphern andererseits inzwischen als problematisch – vor dem Hintergrund einer metaphorologischen Reflexion, welche uns für die Grundierung auch des Begrifflichen durch Metaphern sensibilisiert hat. Zwar 37 Einmal wird in der Poetikvorlesung ein Abschnitt aus dem Buch Dein Name vorgetragen: der Gedenkabschnitt über den verstorbenen Soziologen Karl Otto Hondrich, den Kermani einige Zeit vor seinem Tod aufgesucht hatte. Rückblickend bemerkt er in der 5. Vorlesung, ihm sei bewusst, dass dieser Teil seines Vortrags nicht zum Anlass gepasst habe, er sei u. a. zu privat und zu lang gewesen. Was klingt, also wolle er etwas nachträglich zurechtrücken, nimmt sich aber zugleich auch als gewollt aus, wenn es heißt: »[…] ich möchte einmal loswerden, daß es eine angemessene Weise, mit dem Tod umzugehen, in einer Poetikvorlesung genausowenig wie im Leben, überhaupt nicht gibt.« Kermani (2012), S. 160. 38 »Das Wesen der dichterischen Darstellung ist wie alles Leben nur durch eine zweite darzustellen […]. Sogar bloße Gleichnisse können oft mehr als Worterklärungen aussagen, z. B.: ›[…] die Poesie ist die einzige zweite Welt in der hiesigen […]‹. Wenigstens würde in Bildern sich das verwandte Leben besser spiegeln als in toten Begriffen – nur aber für jeden anders; denn nichts bringt die Eigentümlichkeit der Menschen mehr zur Sprache als die Wirkung, welche die Dichtung auf sie macht – und daher werden ihrer Definitionen ebenso viele sein als ihrer Leser und Zuhörer.« Paul (1980), »Vorschule der Ästhetik«, § 1, S. 30.

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setzen sich manche Verfasser von Poetik-Vorlesungen – in der Spur der Autonomieästhetik – noch vom Projekt einer begrifflich-explikativen Poetik ab; für ihr Selbstverständnis ist die Kritik am abstrahierenden Begriff offenbar noch prägend. Andere hingegen verlegen sich auf die Produktion von Metaphern, ohne eine begriffliche Explikation der literarischen Arbeit noch in Erwägung zu ziehen: Der »Abfall« und der »Zufall« sind solche Metaphern, der »Atem« und der »Körper« – schließlich auch die Medien, in denen die poetologische Reflexion Gestalt annimmt: das Buch, die Schrift, die Mail, der Blog – und nicht zuletzt der Vortrag selbst. Dieser ist Metapher und Metonymie einer durch vielfältige (auch und vor allem sprachliche) Performanzen geprägten und ›performativ‹ interpretierten Wirklichkeit.

Bibliografie Bachmann, Ingeborg (1982), »Frankfurter Poetikvorlesungen«, in: Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster (Hgg.), Ingeborg Bachmann: Werke, Bd. 4, München/Zürich: Piper. Goetz, Rainald (2003), Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ingold, Felix Philipp (1989), Der Autor im Text, Bern: Benteli. Jandl, Ernst (1985), Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1984/95, Darmstadt/Neuwied: Hermann Luchterhand. Johnson, Uwe (1992), Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kermani, Navid (2011), Dein Name, München: Carl Hanser. Kermani, Navid (2012), Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe. Frankfurter Poetikvorlesungen 2010, München/Wien: Carl Hanser. Lützeler, Paul Michael (1994), »Einleitung. Poetikvorlesungen und Postmoderne«, in: Ders. (Hg.): Poetik der Autoren. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch. Maier, Andreas (2006), Ich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Meinecke, Thomas (2012), Ich als Text, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Menasse, Robert (2006), Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen 2005, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Paul, Jean (1980), »Vorschule der Ästhetik«, in: Ders: Werke, hrsg. von Norbert Miller, Bd. 5, 4. Aufl., München: Carl Hanser. Wolf, Christa (1984), Voraussetzungen einer Erzählung. Kassandra. Frankfurter PoetikVorlesungen, 7. Aufl., Darmstadt/Neuwied: Hermann Luchterhand. Zeh, Juli (2013), Treideln. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M.: Schöffling und Co. Verlag.

Dieter Janik

Grenzziehung: Dichtung ist nicht Literatur

Nur einige wenige einleitende Worte, um die Wahl der angekündigten Thematik als aktuell und auch notwendig darzutun. Es ist ein besonderes Verdienst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – oft kurz FAZ genannt – und der verantwortlichen Redakteure des Feuilletons, dass einmal in der Woche kommentarlos ein Gedicht eines zeitgenössischen deutschen Dichters oder einer Dichterin gedruckt wird, und außerdem die schon traditionelle Frankfurter Anthologie um ein Gedicht, begleitet von einer wie auch immer gearteten Kommentierung, erweitert wird. Auch darüber hinaus ist der feste Wille sichtbar, der Lyrik als Literaturform zu einer angemessenen Wahrnehmung durch das gebildete Publikum schlechthin, besonders aber durch die bildungselitäre Leserschaft der Zeitung zu verhelfen. So wurde im Frühjahr 2015, als die Leipziger Buchmesse wieder nahte, einiger journalistischer Wirbel veranstaltet, um endlich einmal ein lyrisches Werk und damit seinen Autor – den Dichter Jan Wagner – statt der üblichen Romanciers mit dem Hauptpreis zu bedenken, und zwar für die Regentonnenvariationen. Trotz der hehren Absicht, die hinter den Initiativen der Feuilletonredakteure der FAZ steht, scheint völlig vergessen worden zu sein, dass ein gelungenes Gedicht ein seltenes Geschenk ist und nur gelungene Gedichte, nicht irgendwelche, die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums verdienen. Gelungene Gedichte sind auch in den Werken jener Dichter, die von der Schwierigkeit des Dichtens wussten und selbst nur ein schmales Œuvre hinterließen – z. B. Baudelaire und Petrarca – eher die Ausnahme als die Regel. Der Sonderstellung des Gedichts gelten meine ersten Überlegungen, bevor die Abgrenzung zur fiktiv-mimetischen Literatur, deren Werke die großen und hohen Regale der Buchhandlungen füllen, erfolgt. Dichtung geschieht in der Sprache. Dichtung ist nicht mimetisch, nicht abbildend. Kein Wunder, dass man sie nicht fotografieren, ablichten, filmen kann. Sie ist sprachlicher Ausdruck, an dem Atem, Rhythmus, ja der ganze Körper des Dichters beteiligt sind. Von da die Verbindung zum Lied. Dichtung vollzieht sich als schöpferischer Akt, wenn eine Ekstasis des per-

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sonalen Daseins als einmaliges Innewerden des Bewusstseins sprachliche Wirklichkeit wird. Diese sprachliche Gestalt erhält ihre Einmaligkeit durch die Formung des Ausdrucks. Der Dichter schöpft aus allen Möglichkeiten der Sprache(n), die ihm zu Gebote stehen. Er tut dies in einem einsamen schöpferischen Prozess, der zu einer außerordentlichen Selbsterfahrung führt. Der Dichter ist mit sich und der Sprache allein. Wenn der Antrieb zu schreiben, wenn der Wille und die Kraft, einen Anfang zu machen, stark genug sind, kann der schöpferische Akt zur Hervorbringung eines Gedichts führen. Dieses ist zunächst nichts mehr als ein geschriebener Text, der Merkmale des Formwillens des Autors aufweist. Er ist ein sprachliches Artefakt. Der Wille zur Form macht aus jedem Gedicht ein Unikat – einmalig, unwiederholbar. Nur die formale Struktur eines Gedichts kann bis zu einem gewissen Grad vom selben oder anderen Autoren wieder aufgegriffen und der Ausdrucksabsicht dienstbar gemacht werden. Was ist der Anfang eines Gedichts, was sein Ende? Der Anfang: Ein Impuls – gespeist aus Wahrnehmung, Empfindung und spontaner reflexiver Bewusstheit – treibt zu einer sprachlichen Äußerung, die eine eigene Zeitlichkeit entfaltet und objektiviert. Jede rhythmische Form ist verdinglichte Zeit, die sich verstetigen möchte. Mit den Worten Paul Val8rys: le mHtre toujours futur. Jeder Impuls kann einen Vorgang auslösen und eine Verlaufsstruktur ausbilden: erfahrene, gewusste, erdachte, erinnerte, gewünschte, verfluchte, bejahte, verneinte Bindung des Subjekts an Existenz, Lebens- und Weltzusammenhang. Das Ende des Gedichts ist das Ende der Äußerung, die die Epiphanie des Bewusstwerdens nochmals steigert oder verlöschen lässt. Damit ist etwas für mich Entscheidendes zur Notwendigkeit von Gedichten gesagt. Dass jemand für sich eine Erfahrung in ein Gedicht verwandeln und dadurch festhalten will, ist eine unstrittige Freiheit des Individuums. Fraglich ist nur, welche Funktion das Gedicht – lebensweltlich gesehen – haben kann, haben soll. Ist es ein privater Besitz? Soll es in irgendeiner Weise öffentlich gemacht werden? In einzelnen Epochen der Geschichte und Kulturentwicklung ist unter besonderen Bedingungen das Schreiben von Gedichten zu einer epidemischen Äußerungsform von Individuen geworden. Ulrich Herbert schreibt in seiner Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert zum Ersten Weltkrieg Folgendes: Das Schreiben von Gedichten wurde während des Krieges zu einer regelrechten Jugendmode, bis 1918 sind vermutlich mehr als eine Million Kriegsgedichte verfasst worden. Das Ende des satten, langweiligen, unheldischen Zeitalters wurde in solchen Versen ebenso beschworen wie die existentielle Erfahrung von Kameradschaft, Verwundung, Heldentum und Tod und die Suche nach großen, einfachen Gefühlen.1

1 Herbert (2014), S. 122.

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Niemand liest sie mehr, niemand braucht sie mehr. Das gilt freilich auch für andere Moden. Ich denke dabei an die Flut petrarkistischer Liebessonette im höfischen Europa des 15. und 16. Jahrhunderts. Grundsätzlich gilt: ein Gedicht, als sprachliche Äußerung, ist eine Mitteilung über etwas an einen Empfänger. Empfänger ist jeder, der das Gedicht als Mitteilung an sich begreift – über alle historischen Epochen hinweg –, wenn er die Mitteilung zu lesen versteht. Eine solche Aneignung von Gedichten durch Personen, die nicht ihre unmittelbaren Adressaten sind, macht die prekäre kommunikative Realität von Dichtung aus. Wir kennen die mediale Verfügbarkeit von Gedichten durch viele literarische Zeugnisse. Häufig sind es Romanfiguren, die zur Bewältigung einer extremen existentiellen Situation Trost in den Worten suchen, die eine vorbildhafte Figur in ähnlicher Bedrängnis sprach. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Don Quijote, der nach der ersten schlimmen Tracht Prügel sich plötzlich mit dem Schmerz und der Anklage des »herido caballero del bosque« aus der Romanze über den Marqu8s de Mantua identifizierte. Esta, pues, le parecij a 8l que le ven&a de molde para el paso en que se hallaba, y as&, con muestras de grande sentimiento, se comenzj a volcar por la tierra y a decir con debilitado aliento lo mesmo que dicen dec&a el herido caballero del bosque: -¿ Djnde est#s seÇora m&a, que no te duele mi mal? O no lo sabes, seÇora, o eres falsa y desleal.2

In den vergangenen Monaten habe ich sehr unterschiedliche Romane gelesen. Immer wieder tauchte das Motiv der therapeutischen Gedichtlektüre auf. In Falling Man von Don DeLillo ist es Lianne, die nach dem Trauma von 9/11 die Reaktionen anderer Mitleidender beschreibt: Er folgte ihr in die Küche, wo sie ihm ein Bier eingoss. Sie goss und redete. ›Die Leute lesen Gedichte. Leute, die ich kenne, lesen Gedichte, um den Schock und Schmerz abzumildern, sich irgendwie einen Raum zu eröffnen, mit etwas Wunderschönem aus Sprache‹, sagte sie, ›um sich Trost oder Fassung zu spenden. Ich lese keine Gedichte. Ich lese Zeitung. Ich stecke meinen Kopf zwischen die Seiten und werde wütend und wahnsinnig.‹3

Schwieriger ist es, die seelische Verbindung zwischen dem Geheimdienstmann in Houellebecqs Roman Soumission und der gedichteten Gedankenwelt von Charles P8guy zu verstehen, in die jener immer eintauchte, wenn es um Letztbegründung des Handelns ging. Houellebecq zitiert Strophe um Strophe: Heureux ceux qui sont morts pour la terre charnelle, Mais pourvu que ce f0t dans une juste guerre. 2 Cervantes (1998), S. 71. 3 DeLillo (2007), S. 47.

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Heureux ceux qui sont morts pour quatre coins de terre. Heureux ceux qui sont morts d’une mort solennelle.4

Eine feste kulturelle und spezifisch religiöse Verankerung dieser Funktion von Gedicht- bzw. Liedtext im privaten und im Gemeindeleben ist durch das protestantische Kirchenlied erfolgt. In säkularisierter Form lebt diese Funktion von Lied und Liedtext weiter in den Songlyrics seit der Groß-Gemeindebildung von Woodstock. Eine Renaissance erfolgte letztes Jahr in Deutschland durch die seelische Anschlussfähigkeit des Liedtextes Atemlos durch die Nacht an das Innenleben von Millionen junger und nicht mehr ganz junger Deutscher. Das Schreiben von Gedichttexten ist leicht und schwer zugleich. Wie stark muss der erste Impuls sein, welche Aussage treibt er hervor, welche notwendige Verbindung geht sie mit einer sprachlichen Inkarnation ein? Oft folgt der Kraft, dem Anstoß des ersten Verses nur mehr eine Durchführung, Erweiterung und auch Banalisierung der individuellen Erfahrung des Bedeutungsvollen. Dazu ein Beispiel, das ich aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die sich ständig um die Präsenz und kulturelle Wertschätzung von Lyrik in unserem Land bemüht, entnommen habe. Heinrich Detering hat folgenden, von ihm aus dem Amerikanischen übertragenen Text in die Frankfurter Anthologie eingebracht und auch selbst kommentiert. William Carlos Williams Ich wollte nur sagen Ich habe die Pflaumen im Eisschrank gegessen die du sicher aufheben wolltest fürs Frühstück Vergib mir sie waren köstlich so süß und so kalt

4 Houellebecq (2014), S. 161.

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Es stammt aus dem Jahr 1934 und Detering sieht in ihm eine geglückte Umsetzung von Williams poetischer Konzeption »There are no ideas but in things«. Detering schließt seinen Kommentar mit folgenden Worten: Es spricht von Poesie und Alltag, von einem Augenblick körperlichen und seelischen Glücks, allein und doch nicht allein. Es zeigt, warum wir einander schreiben; es zeigt in einem winzigen Ausschnitt eine Beziehung, die so einverständig bleibt, weil sie um Vergebung bitten und auf Vergebung vertrauen kann. Als ich das Gedicht mit Studenten gelesen hatte – wir verbrachten eine Doppelstunde mit diesen Worten, die alle auf Anhieb verstanden zu haben glaubten, – sagte jemand am Ende in die Stille: ›So eine Ehe will ich auch mal führen.‹ (FAZ, 16. Mai 2015, S. 16.)

Noch Fragen? Und was wäre, wenn man die zweite Versgruppe eliminierte? Das gute Gedicht ist jenes, das den Impuls einer Erfahrung – seelischer oder geistiger Art – an den Leser mitteilt wie eine Billardkugel, die eine andere schwächer oder stärker berührt und energetisch verändert. Aus diesem Grund sind viele gute Gedichte notwendigerweise kurze Texte. Sie bewahren ihre Kraft trotz ihrer Wirkung; sie verbrauchen sich nicht und werden nicht verbraucht. Sie sind vergleichbar mit einem perpetuum mobile. Ein überwältigendes Beispiel dafür ist Hölderlins bekanntes Gedicht Hyperions Schicksalslied. Der Blick aufwärts zu den seligen Genien wird umgebogen und auf die ontische Hinfälligkeit menschlicher Existenz gerichtet. Zwischen »droben« und »hinab« bewegt sich die Aussage, die sich Strophe für Strophe in textuelle Bildlichkeit verwandelt. Aus dem »hinab« lenkt die seelische Sehnsucht wieder zum »droben«. Hölderlin, der viele langweilige, durch rhetorische Strukturen aneinander gebundene Verse und Strophen verfasst hat, ermahnte aber selbst die jungen Dichter »lehrt und beschreibet nicht!«. Beides führt zur rhetorischen Textentfaltung. Dieser wollte Verlaine den Garaus machen: Prends lû8loquence et tordslui son cou. Wie kommt ein Gedicht an sein Ende? Das entstehende Gedicht trägt zumindest drei Potentiale in sich, die zur Entfaltung drängen: eine emotionale Kraft, die zur Äußerung treibt; eine reflexive Bewusstheit, die den Ansturm einer sinnlichen Erfahrung und/oder einer geistigen Erschütterung zu bewältigen hat; eine rhythmisch-formale Verlaufsbewegung, die durch das Sagen in Gang kommt. Alle Potenziale haben in sich die Tendenz zur Objektivierung. Ihr Medium ist der sprachliche Ausdruck, der die drei Dynamiken und Verläufe synchronisiert. Die Emotionalität baut sich auf und ab, das Bewusstsein öffnet und schließt sich wie ein Tor, die formale Struktur bildet Abfolgen und Wiederholungstypen, die jeweils – oder zumeist – auf eine Schließung hinführen. Woher kommt der Anstoß, der Impuls zu dichten? Fernab aller hochfahrenden Begründungen, die im Laufe der Zeiten die Werke des Dichters aus dem alltäglichen Welt- und Lebenszusammenhang herausgehoben haben und ihnen

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ontologisch einen Sonderstatus zugeschrieben haben – das Gedicht hat ein besonderes Sein –, ist die Ausgangslage für heutiges Dichten viel nüchterner. Der Geschäftsbesorgungsauftrag – der gegebene oder gefühlte – der alten Zeiten ist weggefallen. Weder die Götter noch die Lenker der Geschichte, weder die Macht der erhabenen Werte oder die Mission der Kunst, weder das Wohl der Menschheit oder irgendeiner Teilgesellschaft, weder die Rettung des Planeten noch des Individuums liefern mehr zwingende Anstöße für Werke der Dichtung. Der Enthusiasmus ist weg. Was bleibt, sind die Verstrickungen der Existenz des Einzelnen und der Vielen in die von Menschen geschaffenen Verhältnisse in Natur und Gesellschaft, welche heterogene Erfahrungssituationen und variable Rollenzumutungen für das Richtung suchende Subjekt generieren. Lichte Bewusstseinsmomente lassen uns diese Komplexität des Daseins, deren Opfer wir zu werden drohen, erfassen und tentativ formulieren. Die meisten Gedichte der neuesten Zeit lassen uns ratlos zurück, weil sie Aussagen ohne Bezugspunkte und Sinnangebote aneinanderreihen. Der Dichter tritt im Gedicht kaum hervor, nur der Rest einer Stimme, die spricht, bleibt übrig als semantischer und syntaktischer Restbestand von Sätzen eines möglichen Textes. Was gibt den Anstoß? Manchmal ein Gegenstand, der Teil des kulturellen Wissens ist, manchmal die sprachliche Bezeichnung, durch die der Gegenstand in unserem Bewusstsein vorhanden ist, oder auch ein Foto, auf dem ein Gegenstand private Erinnerungen evoziert? Ein Beispiel, nämlich ein Gedicht des eben preisbedachten deutschen Lyrikers Jan Wagner, um dessen allgemeinere Wertschätzung die FAZ mit ihren Feuilletonabdrucken sehr bemüht ist, empfiehlt sich als Gedicht durch eine Vers- und Strophenstruktur, die den gebildeten Leser an ein Sonett erinnert. Lederhose so kolossal, daß füchse oder dachse drin siedeln könnten, eine höhle, nur ohne echo; diese wie gewachste am hintern, riemen, schlaufe, schnalle – kaum auszumalen, wie du darin alpen, die ich nicht einmal denke, überquerst, durch wolken kletterst, die belebende kälte von bächen trinkst, ihr lebendiges quarz. ich stehe winzig wie ein tiefseetaucher in seinem anzug, auf den alten fotos, in den alten filmen, bevor er sinkt und sinkt, wo nur noch wesen durchs dunkel huschen, die kein licht touchiere, so heißt es, sterne, blüten, filamente, weißer als das weiß von edelweißen. (FAZ, 29. April 2015, S. 9)

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Von solchen Gedichten gibt es in der FAZ viele zu lesen. Nur für die Frankfurter Anthologie werden Gedichte bekannter, auch schon dahingeschiedener Autoren, ins Gedächtnis der Leser, wenn sie dort je waren, zurückgeholt. Ich erinnere nur an das Gedicht von Günter Grass, Zuletzt drei Wünsche aus dem Jahr 2003. Grass möchte gerne nochmals tanzen, nochmals bumsen (er nennt es ›koitieren‹) und einen Kopfstand machen. Sicher sehr berechtigte private Wünsche. Aber was hat der Leser damit zu tun? (FAZ, 9. Mai 2015, Nr. 107, S. 20) Es ist erstaunlich, wie oft Literaturkritiker irgendeinen Schreibenden oder eine Schreibende Lyriker nennen, wie wenn es sich um eine eingetragene Berufsbezeichnung handelte. Es ist ja so, wie Arne Rautenberg in einem langen autobiographischen Artikel – mit dem Titel: Wo bitte ist Ihr Lyrikregal – für die FAZ schreibt: Poesie hat es bekanntlich schwer. […] Gibt es in den Feuilletons noch ausreichend Lyrik-Spezialisten, die sich kenntnisreich mit Verve und Wumm in die Bresche werfen und auch mal draufhauen, wenn es zu kryptisch, zu weltfern, zu artig, verquarzt oder sonstwie unpassabel daher kommt? Es muss ja nicht immer alles, was schwer fassbar ist, übersehen, bzw. weggelobt werden. Eine lyrische Streitkultur könnte viel fruchtbringender sein, um die Gattung mal wieder ins Gespräch zu bringen. (FAZ, 9. März 2015, Nr. 57, S. 11)

So Arne Rautenberg, der Lyrik für eine Gattung hält, für die man was tun muss. Ich bin da anderer Ansicht. Niemand soll davon leben wollen oder müssen, dass er Gedichte schreibt, die andere unbedingt lesen müssen, wenn sie sie gekauft haben. Gedichte sind sprachliche Schöpfungen, die ein Dasein außerhalb der Medien verdient haben. Et tout le reste est litt8rature, sagte Paul Verlaine. Literatur, das sind die geschriebenen – beschriebenen und erzählten – Welten und Wirklichkeiten, denen wir als Leser nicht angehören. Diese Distanz erlaubt dem Autor und dem Leser viele Reaktionen. Sie ist die wichtigste Bedingung für unser Bedürfnis nach Unterhaltung ohne existentielles Risiko. Literatur ist mimetisch, abbildend – ob schön oder erschreckend. Ihr Medium ist die Polyphonie der gesellschaftlichen Redeweisen eines historisch verorteten oder erfundenen Soziotops. Nur die großen Dichter schaffen und sprechen ihre eigene Sprache.

Bibliographie Cervantes, Miguel de (1998), Don Quijote de La Mancha, hrsg. von Francisco Rico, Barcelona: Edicijn del Instituto Cervantes. DeLillo, Don (2007), Falling Man, übersetzt von Frank Heibert, Köln: Kiepenheuer& Witsch.

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Herbert, Ulrich (2014), Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck. Houellebecq, Michel (2014), Soumission, Paris: Flammarion.

Henryk Chudak

La littérature a besoin de lecteurs

Lorsque L’Abb8 Prevost publie en 1731 son Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut il ne manque pas de remarquer dans l’Avis qui pr8cHde le texte du roman que la communication qu’il 8tablit avec les lecteurs est une relation avec des « personnes d’honneur et de bon sens » et, dans l’esprit de cette entente, il constate que ces personnes ne regarderont point un ouvrage de cette nature comme un travail inutile. Outre le plaisir d’une lecture agr8able, on y trouvera peu d’8vHnements qui ne puissent servir / l’instruction des mœurs ; et c’est rendre, / mon avis, un service consid8rable au public que de l’instruire en l’amusant1.

Le didactisme est encore plus flagrant chez Daniel Defoe qui affirme que son Robinson Crusoe (1719) est destin8 / l’utilit8 du genre humain (« La fable est toujours faite pour la morale et non la morale pour la fable »). Dans Moll Flanders (1722) il d8finit ainsi ses lecteurs : « Comme cet ouvrage est principalement recommand8 / ceux qui savent lire et qui comprennent le bon usage que l’histoire leur conseille, il est / esp8rer que de tels lecteurs se plairont beaucoup plus / la morale qu’au conte »2. Ces propos s’inscrivent dans l’histoire de la lecture et des lecteurs, d’une histoire qui remonte / la naissance de la litt8rature, et qui dure de nos jours. Ces propos nous montrent non seulement la distance qui nous s8pare des id8es que les hommes se faisaient de la litt8rature et de ses fonctions, il y a maintenant trois siHcles, mais nous rappelle aussi que la litt8rature n’existe pas sans lecteurs, qu’elle vise les lecteurs et qu’elle sert / quelque chose d’important par rapport / eux. Sur ce point, la ph8nom8nologie va au cœur de la question : l’œuvre litt8raire est un objet qui souhaite la rencontre avec le lecteur afin de devenir un corr8lat vivant de la conscience car c’est dans l’acte de la lecture que la virtualit8 encod8e dans le texte se concr8tise et se transforme en r8alit8 de la repr8sentation. Cette leÅon nous explique que la conscience n’est pas autonome, 1 Defoe (1953), Robinson Crusoe, p. XVII. 2 Defoe (1955), Moll Flanders.

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qu’elle n’est pas une substance mais une relation qui 8tablit le dialogue, / la fois, conscient et inconscient. Tout gravite donc autour du lecteur et donne un sens concret / la question « / quoi sert la litt8rature ? », qui se situe dans le sillage d’autres d8lib8rations : celle de Sartre « Qu’est-ce que la litt8rature ? », celle de Cl8ment Moisson « Qui s’int8resse / l’histoire litt8raire ? » ou encore celle de Marc Angenot « Que peut la litt8rature ? ». Aujourd’hui la crise nous oblige / nous interroger sur la place de la litt8rature dans la formation de l’homme, sur la prise de position face au systHme de valeurs transf8r8 par la litt8rature au fil du temps. Ce transfert est perturb8 et notre vision de la culture et de la litt8rature se voit menac8e. Et c’est dans cette perspective que nous sommes invit8s / entamer un d8bat qui s’ouvre dans deux directions compl8mentaires : d’une part il s’agit d’8tablir un diagnostic de l’8tat actuel d8cel8 d’aprHs des symptimes, et d’autre part de r8fl8chir sur l’issu de la crise. Le mot crise semble Þtre ici / sa place car les problHmes auxquels nous sommes confront8s reflHtent une inqui8tude et particuliHrement dramatiques semblent les questions pos8es par les organisateurs du colloque : « Que devient la tradition, / quoi sert-elle encore ? OF : que devient la Literaturwissenschaft ? ». Pour certains observateurs comme l’8crivain Mario Vargas Llosa nous avons atteint un point de non-retour. Dans son livre La civilisation du spectacle il accuse la d8mocratisation de la culture et l’accHs g8n8ralis8 / l’enseignement qui, paradoxalement, auraient pour effet la marginalisation de la haute culture.3 D’un point de vue plus mod8r8 on pourrait argumenter que nous assistons / un ph8nomHne en cours et dont il est difficile de pr8voir l’avenir. Il faudrait par cons8quent penser la chose en termes d’une dialectique de la rupture et de la continuit8. La difficult8 majeure r8sulte du fait que cette probl8matique concerne tous les champs litt8raires : les 8crivains, les critiques, le public et les institutions qui colonisent et organisent ce territoire : les maisons d’8ditions, les archives, les m8dias, les bibliothHques, les 8tablissements scolaires, les universit8s. La situation est donc 8clectique et plusieurs r8ponses sont possibles parce qu’il y a plusieurs agents et que chacun a son rile / jouer. La question « / quoi sert la litt8rature ? » passe par tout un r8seau d’interd8pendances et d’enjeux 8conomiques et politiques qui concernent le lecteur, qui n’est pas un Þtre abstrait mais un homme form8 par les 8coles et les m8dias. Selon le rapport annuel r8cemment publi8 par la BibliothHque Nationale de Pologne les lecteurs d8clarent le besoin d’une orientation. Ce document pr8cise que « 26 % des lecteurs qui participent activement / la vie litt8raire publique puisent des informations sur les livres aux sources comme les libraires, les 3 Cf. Vargas Llosa (2015), La Civilisation du spectacle.

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critiques, les biblioth8caires et les bloggeurs ». Il ne semble donc pas indiff8rent de savoir quels conseils ils reÅoivent et quel rile joue (ou peut jouer) ici l’universit8 et / quel point elle est limit8e dans son pouvoir d’action. Le mÞme rapport atteste que « les personnes qui lisent r8guliHrement sont plus empathiques, d8cid8ment ouvertes au monde ambiant et enclines surtout / un entra%nement imaginaire »4. Pour cette cat8gorie de lecteurs, ce qui compte c’est l’enrichissement de leur savoir, la possibilit8 de vivre les p8rip8ties de la trame, de partager les 8motions et les aventures des protagonistes. Ils appr8cient la possibilit8 d’8vasion hors de la r8alit8 quotidienne. Leurs go0ts sont diversifi8s, il va de soi, avec une pr8f8rence marqu8e pour des auteurs modernes comme Stieg Larsson, Stephen King ou Dan Brown au d8triment des auteurs classiques. Les rapports de ce genre ainsi que les 8tudes qui portent sur le march8 du livre et la structure du monde des lecteurs montrent du doigt que le d8bat sur les r88valuations de la litt8rature par l’acte de la lecture ne devrait pas perdre de vue le niveau 8l8mentaire : celui des fonctions assign8es / l’œuvre litt8raire. Tout d’abord la fonction esth8tique, fondamentale et constitutive, car c’est gr.ce / elle qu’un texte atteint le statut d’œuvre d’art. La mise en valeur de l’id8e d’Oeuvre d’art litt8raire (das literarische Kunstwerk) est importante car la litt8rature c’est bien cela, du moins cette litt8rature qui nous int8resse dans les facult8s de lettres. Cette fonction consiste / susciter chez le lecteur des 8motions esth8tiques, qui sont des sentiments d8sint8ress8s de la beaut8, d’admiration et mÞme de satisfaction et qui n’ont rien de commun avec la morale de l’utilit8. C’est par l’intention de l’auteur que le lecteur subit cet enrichissement int8rieur (8motionnel et verbal) que Albert Camus considHre comme un bien universel. Il en parle dans son Discours du Prix Nobel en d8cembre 1957 : L’art n’est pas / mes yeux une r8jouissance solitaire. Il est un moyen d’8mouvoir le plus grand nombre d’hommes en leur offrant une image privil8gi8e des souffrances et des joies communes. Il oblige donc l’artiste / ne pas se s8parer ; il le soumet / la v8rit8 la plus humble et la plus universelle5.

La premiHre fonction de la litt8rature est tout simplement de nous 8mouvoir : « Ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ist alles! » (Goethe). La fonction cognitive, par contre, consiste / inscrire l’univers repr8sent8 (la dargestellte Welt) dans une r8alit8 extralitt8raire historique, sociale ou psychologique. A cela s’ajoute la fonction 8ducative qui s’accomplit par l’action exerc8e sur l’imaginaire du lecteur, ses id8es et son systHme de valeurs 8thiques. Ces fonctions 8videmment ne sont pas isol8es, elles s’entrelacent et assurent l’essentiel du discours litt8raire. * 4 Rapport annuel sur la situation du livre (2015). 5 Camus (1957), Discours de SuHde.

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Face / ce discours litt8raire premier se dresse le discours critique avec son questionnement multifonctionnel qui se propose, / travers la pluralit8 des lectures, d’appr8cier, de d8crire, de juger, d’expliquer, d’interpr8ter et de comprendre son objet d’8tude. Il s’avHre cependant que la rencontre sur ce terrain n’est pas ais8e, car le d8bat est domin8 par des controverses parfois st8riles et souvent les discussions ne portent plus sur la m8thode mais sur l’objet diff8remment compris de la querelle, ce qui estompe visiblement les vraies fonctions des œuvres litt8raires. Il en r8sulte un obscurcissement car les cat8gories fondamentales d’auteur, d’œuvre et de signification sont souvent remplac8es par celles de texte, d’8criture, de production, de diss8mination, de d8construction, de signifiance. Certains de ces concepts peuvent aller trHs loin et d8finir l’activit8 critique comme une sorte de « d8sorientation active et m8thodique ». On sait que Roland Barthes a pu mÞme annoncer la mort de l’auteur. Dans cette aventure la litt8rature elle-mÞme n’a pas 8t8 innocente et elle y a contribu8 largement par un effort consid8rable d’autonomisation. Dans l’ensemble cela impose une ligne de d8marcation entre une critique qui pense que « le sens est un contenu qu’il faut d8couvrir et expliquer » et d’autre part une critique pour laquelle « le sens n’est plus un contenu » mais « la r8sultante d’un jeu de rapports entre le texte et le lecteur dont il s’agit de mettre en lumiHre les rHgles de fonctionnement ou de montrer les modulations »6. Il importe donc de bien s’entendre sur les critHres 8pist8mologiques adopt8s dans la recherche litt8raire. Le problHme semble d’autant plus s8rieux qu’une partie de la critique – aprHs avoir estomp8 ce qui s8pare le discours litt8raire et le discours sur la litt8rature – s’est engouffr8e dans une crise d’identit8. *

Dans cette discussion notre position ne peut Þtre que celle de la critique universitaire d8termin8e par son penchant pour l’histoire litt8raire, son int8rÞt pour la tradition et tout ce qui s’inscrit dans la continuit8 (sources, filiations, influences, paradigmes, codes, r8ception etc.). Cela nous met en situation de d8fenseurs des canons culturels et litt8raires et incite / une compr8hension historique et contextuelle de la litt8rature. Cette position, quoi qu’on en dise, constitue la vocation et le bon droit de l’enseignement et de la recherche universitaires. L’universit8 est vou8e / cultiver la tradition, / inculquer la m8moire du pass8, / ent8riner l’id8e selon laquelle la culture est r8p8tition, car les codes culturels sont h8rit8s et qu’il n’y a pas d’identit8 culturelle sans m8moire du pass8. Qu’est-ce que la tradition sinon l’ensemble des pratiques transmises au fil du temps ? Il s’agit d’un savoir relatif au pass8 mais qui ne cesse de se manifester aux 6 Reichler (1989), p. 85.

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8crivains, critiques et lecteurs comme un h8ritage, un systHme de valeurs r8actualis8es dans le champ actuel de la litt8rature. L8gu8 / la post8rit8, ce patrimoine est parlant pour tous les acteurs de la vie litt8raire, il transmet des directifs esth8tiques. Il modHle des strat8gies de lectures, forme le go0t des lecteurs et circonscrit mÞme leur horizon d’attente. Il est naturel que cette probl8matique a toujours une dimension historique et de ce fait elle est tributaire d’un certain id8al esth8tique soutenu par une id8ologie de la litt8rature avec son contexte social et en particulier avec son appareil de diffusion et de domination. Il s’ensuit que la r8flexion sur cette probl8matique passe par des questions qui portent sur les modHles de l’enseignement litt8raire et de maniHre g8n8rale sur l’accHs / la culture ou plus encore sur l’accHs / la haute culture et la place qui lui est r8serv8e dans nos soci8t8s. *

Vue sous cet angle, l’universit8 semble Þtre le lieu privil8gi8 pour assurer la continuit8, sauvegarder la tradition litt8raire. C’est l/ que le rapport entre tradition et g8n8ration est flagrant car l’8cole est le lieu de rencontre entre les ma%tres et les disciples. Chaque g8n8ration transmet un message / la g8n8ration suivante et mÞmes aux g8n8rations suivantes. C’est une rHgle g8n8rale qui concerne d’ailleurs toutes sortes de g8n8rations : familiales, sociales, litt8raires ou politiques. L’exp8rience acquise, le savoir accumul8, les modHles 8labor8s sont transmis / la g8n8ration montante bien que, trHs souvent, la g8n8ration des jeunes r8cuse une partie importante de ce bagage comme inutile. Le conflit entre les g8n8rations est r8el mais en derniHre instance, dans le rapport ma%tre/disciple, il semble y avoir le double besoin d’opposition et de continuit8.7 Le couple tradition/g8n8ration est donc instructif car il permet de penser la litt8rature et la critique dans l’axe vertical de la diachronie et dans l’axe horizontal de la synchronie, et de saisir ainsi le mouvement r8el de la litt8rature, de la critique et par cons8quent aussi de notre enseignement. C’est parce que ce couple met en valeur l’analogie des problHmes / r8soudre avec des solutions diff8rentes apport8es aux questions. Je pense, pour ma part, que l’on pourrait inscrire cette probl8matique sous le signe d’une p8dagogie de la relation prin8e par Jean Starobinski, un des ma%tres de l’Ecole de GenHve qui nous avertit des cons8quences d’une culture de collage / laquelle il oppose la culture de relation. Il pense que les liens entre les individus et les divers groupes sont d’une importance fondamentale pour notre m8tier : « Le travail de la critique doit fournir ses preuves dans la relation anim8e d’enseignant 7 Cf. Chudak (2011), pp. 309–318.

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/ l’8tudiant, d’auteur / lecteur »8. L’enseignant a pour t.che, dit-il, de devenir « un m8diateur dans son monde / lui, avec quelques interlocuteurs de son temps ». Ce message est clair : notre identit8, c’est 8videmment notre patrimoine, c’est l’impact de la culture d’origine, et tout ce que nous devons au travail de nos pr8d8cesseurs ; mais c’est aussi tout ce qui se superpose comme effet de « l’exercice d’une libert8 toujours inaugurale »9. Etre m8diateur c’est comprendre que le pr8sent, notre pr8sent, r8sulte du pass8 et se pr8sente / la fois comme un d8but. La litt8rature est l/ pour nous cr8er, pour nous enrichir, pour permettre de nous appr8hender dans l’histoire et dans le monde pour le transformer. Pour terminer, je dirais tout simplement que c’est le lecteur qui compte pour nous le plus. Notre vocation premiHre est de former de bons lecteurs : conscients, intelligents et exigeants, qui comprennent que l’essentiel pour l’homme, c’est la participation active / la culture et parallHlement le refus des Ersatz, des produits de la culture commercialis8e, de la bÞtise d’un utilitarisme / court terme, d’une politique qui limite et marginalise l’enseignement litt8raire dans les universit8s.

Bibliographie Camus, Albert (1957), Discours de SuHde, Stockholm 10 d8cembre 1957. Chudak, Henryk (2011), « Le couple ma%tre/disciple / la lumiHre de la th8orie des g8n8rations », in : Guy Bedouelle/Christian Belin/Simone de Reyff (sous la dir.), La Tradition du savoir, Fribourg : Academic Press Fribourg, 2011, p. 309–318. Defoe, Daniel (1953), Robinson Crusoe, Rennes : Ed. Vedette. Defoe, Daniel (1955), Moll Flanders, traduit par Marcel Schwob, Paris : Gallimard. Rapport annuel sur la situation du livre (2015), Varsovie : BibliothHque Nationale. Reichler, Claude, (sous la dir.) (1989), « La litt8rature comme interpr8tation symbolique », in : L’interpr8tation des textes, Paris : Ed. de Minuit. Starobinski, Jean (1970), Relation critique, Paris : Gallimard. Starobinski, Jean (1995), « Remerciement », in : Laurea Honoris Causa / Jean Starobinski, Urbino : Universita degli studi di Urbino. Vargas Llosa, Mario (2015), La civilisation du spectacle, traduit par Albert Bensossan, Paris : Gallimard.

8 Starobinski (1995), p. 19. 9 Starobinski (1970), p. 32.

Michela Landi

L’amateur de livres (une réflexion d’après Charles Nodier)

Dans un article r8cent1 je m’interrogeais, / partir de L’amateur de livres de Charles Nodier2, sur le statut du livre en France aprHs la R8volution. A l’occasion de ce colloque, dont l’enjeu propos8 est, me semble-t-il, de nature ontique (« A quoi sert la litt8rature » 8quivaut, tout compte fait, / : « Qu’est-ce que la litt8rature », et la v8rit8 de l’objet correspond avec une bonne approximation / sa fonction) je reprends certains des aspects historiques que j’avais trait8s, en vue d’une r8flexion plus g8n8rale.

1.

Le livre et la littérature : une relation métonymique

Une consid8ration pr8alable, que je crois utile pour justifier toute approche « philique » aux livres : le rapport du livre / la litt8rature est m8tonymique. Afin de conjurer le risque de traiter la litt8rature comme une « vaste tautologie »3 il convient d’avoir / l’esprit cette 8vidence : il n’y a pas de litt8rature sans livres. Plus pr8cis8ment, le livre est l’objet mat8riel sur lequel repose, dans sa ph8nom8nologie variable, le systHme culturel de deuxiHme degr8 que nous appelons la litt8rature. Et si le nom qui d8signe cette derniHre, nom collectif, n’indique rien d’autre qu’une collection de livres – collection souvent tenant lieu de « canon litt8raire » – la BibliothHque est, dans ses r8arrangements incessants, une repr8sentation concrHte de la litt8rature. Si les destins respectifs du livre et de la litt8rature ne se sont crois8s que dans un temps r8volu et d8cid8ment mythique c’est, me semble-t-il, pour deux raisons principales : l’une d’ordre empirique, l’autre d’ordre socio-historique. D’abord, la difficult8 pratique / partager l’acte de lecture, alors que la culture demande l’8change en vue de la constitution d’un savoir et d’un espace communs. Deu1 Cf. Landi (2015). 2 Cf. Nodier (1993). 3 Sartre (1948), p. 35.

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xiHmement, l’influence qu’ont exerc8e dans notre civilisation l’esprit th8ologique d’abord, l’esprit scientifique ensuite, favorisant au mÞme titre l’abstraction et la conceptualisation de l’exp8rience, nous a amen8s / traiter la litt8rature de maniHre de plus en plus autonome par rapport / son objet. L’effet, se d8tachant progressivement de sa cause, a encourag8, des contenus mÞmes des livres, une narration de plus en plus ind8pendante, pr8textuelle, anecdotique. Donc, les livres ne deviennent un patrimoine collectif et symbolique d’une communaut8 donn8e qu’/ ce prix. Du procHs m8tonymique en cours t8moigne d’abord la diffusion, au XIXe siHcle, du mot collectif et abstrait « litt8rature », indiquant qu’une conscience du ph8nomHne est d8sormais acquise4. Mais cette notion, encore conceptuellement rattach8e / l’objet-livre et / son prestige social, va vite Þtre remplac8e, dans l’enseignement et ailleurs, par un m8tonyme plus 8tendu, compr8hensif et 8vasif : « culture ». Ce dernier mot-vedette, ayant subsum8 dans sa majest8 ir8nique tous les sens partiels ou antagoniques, atteste pour nous le prix qu’a pay8 un jour la classe oiseuse des 8rudits pour racheter sa culpabilit8 sociale. Cependant, un ph8nomHne tout r8cent semble marquer une inversion dans l’8loignement progressif du destin du livre et de la litt8rature. Effet de cette mÞme tendance / la g8n8ralisation, / la conceptualisation et / l’abstraction, l’extension num8rique en vient / conf8rer au livre en tant qu’objet mat8riel le statut virtuel de la litt8rature elle-mÞme : par le biais des diff8rents supports l’objet se r8pand, se d8mat8rialise et, finalement, se volatilise. A ce point de l’histoire le procHs de m8tonymisation semble donc s’Þtre accompli et la parabole entame sa courbe descendante. Le mal de l’abstraction a fini par accoucher, pour le dire avec Rousseau, son remHde : car la technique n’est que le moyen permettant / une id8e d’aboutir / une r8alisation mat8rielle. Et, / y voir de plus prHs, si le livre en est venu / Þtre consid8r8 comme le garant symbolique de la culture « positive » dans ce qu’elle a de plus conservateur, c’est qu’il est un objet mat8riel lui-mÞme. Mais – et voici son premier paradoxe – le livre est aussi, constitutivement, l’un des objets les plus pr8caires qui soient ; d’oF la n8cessit8 de le doter d’une couverture : garante, celle-ci, de sa dur8e et, m8taphoriquement, de son prestige. Le deuxiHme paradoxe du livre – touchant, cette fois, au principe d’unicit8 (d’originalit8) rattach8 / la litt8rature dans son acception romantique – est, pour le dire avec Benjamin, sa reproductibilit8 technique. De ce fait mÞme la litt8rature est, comme le voit Goodman et avec lui Genette dans L’Œuvre de l’art5, un art allographique ou, si l’on veut, m8taphorique : sa dimension authentique n’est pas dans le type (l’original), voire dans ses occurrences, qu’on dira bien typographiques. L’originalit8 n’a jamais 8t8 tant 4 Cf. Barthes (1972), « Introduction », p. 10. 5 Goodman (1990) ; Genette (1994), p. 23.

L’amateur de livres (une réflexion d’après Charles Nodier)

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valoris8e qu’elle allait justement dispara%tre sous le poids de la reproduction technique : et c’est alors / l’industrie moderne qu’il revient d’avoir invent8, / titre de compensation de la perte mat8rielle du livre, un mythe essentiel : la litt8rature. L’originalit8 perdue – mais factuellement inexistante – du livre est reconstitu8e a posteriori par l’appropriation en mÞme temps mat8rielle, affective et intellectuelle de l’objet de la part d’un lecteur. Le contenant, tout reproductible qu’il est, se pr8vaut, par m8tonymie, de l’unicit8 mythique du contenu. D’oF la quÞte, / d8faut d’unicit8 r8elle, de livres rares et excentriques, / faible tirage et / co0t 8lev8, tenant lieu, dans le vaste espace du march8, d’authenticit8. Il existe dans la culture, espace la"que, pacifique et transitif, une part d8monique – obtuse, non viable – que le livre, en tant qu’objet unique pour nous, repr8sente. L’originalit8 d8sormais reconnue comme un pr8jug8 culturel, ce livre semble en constituer le remHde : car il nous refonde en tant qu’Þtres de culture. R8sistant / l’esprit de la culture mÞme, en ce qu’elle recherche constamment sa stabilisation, son 8quilibre doxal, le livre unique en constitue son potentiel antagonique. Ainsi, l/ oF la bibliothHque, espace communautaire, repr8sente la construction et le maintien d’un savoir collectif / partager, le vide taxinomique qu’y provoque le livre pr8lev8 repr8sente bien l’effraction qui, alt8rant l’8quilibre pr8conÅu, donne un sens / cet espace ordonn8 en pure repr8sentation. Le livre unique est ainsi l’objet symbolique interpos8 entre nous et la culture : par son entremise peut avoir lieu le partage entre un lecteur intentionn8 et l’auteur 8lu en tant qu’Autre id8al. Ce n’est en effet que par le biais du livre 8lu – sa raret8 ou pr8ciosit8 tenant souvent lieu d’unicit8 – que peut se r8aliser l’exp8rience intellectuelle et affective avec le savoir d8sir8 : savoir exclusif, subversif, par lequel une r8sistance du moi par rapport / una doxa donn8e peuvent Þtre signifi8s. Je qualifie donc de « d8monique » l’acte solitaire de la pens8e qui se d8pense dans la compr8hension du contenu du livre 8lu. Mais pour que cette d8pense intentionn8e ait lieu, il faut qu’on reconnaisse un certain livre : le livre qui, comme le dit Val8ry dans ses Vari8t8s, nous r8siste (« Quant / moi, je le confesse, je ne saisis / peu prHs rien d’un livre qui ne me r8siste pas »6) nous convoquant ainsi au combat herm8neutique. Le procHs d’8lucidation ne s’accomplissant jamais, ce mÞme livre sera pour toujours, et on s’en r8clamera / chaque fois qu’on ressentira la n8cessit8 d’aiguiser l’esprit contre lui ; il constituera ainsi le remHde paradoxal / l’8moussement intellectuel que nous demande / chaque pas la culture. Dans Nadja, Breton a distingu8 les 8v8nements de sa vie en « faits-glissades » et « faits-pr8cipices »7 ; et Roland Barthes considHre qu’il y a, dans chaque

6 Val8ry (1957), « Je disais quelquefois / St8phane Mallarm8… », p. 645. 7 Breton (1964), p. 21.

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existence, des « .ges progressifs » et des « .ges mutatifs »8. Je parlerai, avec eux, de « livres-glissades » et de « livres-pr8cipices ». Ou, si l’on veut, de livres « progressifs », et de livres « mutatifs ». Les premiers, que je qualifierai de « livres pour », nous demandent d’Þtre d8pass8s par l’acte de lecture. Ils sont viables, et le savoir qu’ils nous proposent correspond, me semble-t-il, toutes proportions gard8es, / la notion de studium telle qu’elle est formul8e par Roland Barthes dans La Chambre claire9 : participant / notre accroissement culturel en vue d’acquisitions / partager, ils construisent, m8taphoriquement, la pile commune des livres constituant notre civilisation. Les « livres pour », ce sont donc bien 8galement les « livres pour les autres » ; une fois m8tabolis8s, ils dispara%tront probablement sous d’autres livres, comme il arrive souvent pour les livres scolaires. Les livres qu’on vient de qualifier de « d8moniques », ce sont les « livres contre » : livres initiatiques, ils relHvent plutit du punctum barth8sien : suite / une rencontre accidentelle, non demand8e par le code culturel, ils nous ont sollicit8s de maniHre impr8visible / Þtre nous-mÞmes et, souvent, au d8triment des Autres. Vou8s / nous apprendre la valeur apostatique du « non serviam » une fois lanc8 par Bataille10, ils nous rappellent constamment / ce principe. Ces livres, je les d8finirais aussi, avec le Derrida de Donner le temps11, les livres de l’effraction, en ce qu’ils introduisent, dans l’espace lisse de la culture, une fissuration. Par les livres de l’effraction le cercle herm8neutique (qui demande, suivant le modHle 8conomique de la culture, la restitution du bien reÅu) est, finalement, interrompu : et c’est bien cette interruption qui fait affleurer la gratuit8, ou v8rit8, de l’acte de lecture : / savoir, le don du temps. Car le temps, 8tant irr8versible, n’est pas restituable. Ce sont les « livres-contre » qui, nous formant / la patience et au silence, nous indiquent, dans le terrain vague de la culture, une « m8thode »12 ; / savoir, et selon l’8tymologie mÞme du mot, notre chemin, tout accident8 qu’il puisse Þtre ; et ce sont ces mÞmes livres qui nous enseignent / lire « selon nous » – suivant donc un critHre s8lectif, pertinent et conforme / nos principes – tous les autres livres. Souvent, ces livres sont excentriques, et d8plac8s par rapport / nos attentes ; d8jouant notre horizon, ils jettent sur le monde de l’exp8rience des regards obliques. Et c’est alors par leur 8loignement par rapport / un certain sujet, qu’ils nous appellent / donner le temps. 8 « il y a des classes, des cases d’.ge : nous parcourons la vie d’8cluse en 8cluse; / certains points du parcours, il y a des seuils, de d8nivellations, des secousses; l’.ge n’est pas progressif, il est mutatif ». Barthes (1984), « Longtemps, je me suis couch8 de bonne heure », p. 341. 9 Barthes (1980). 10 Bataille (1950). Repris in Bataille (1988), p. 19. 11 Derrida (1991). 12 Sur la dichotomie m8thode-culture, telle qu’elle est formul8e par Nietzsche et mise / jour par Deleuze, cf. Barthes (2002), pp. 33–34 et Deleuze (1962).

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Pour ces raisons g8n8rales et pour des raisons contingentes, nomm8ment / la suite du poids effectif et virtuel des livres qu’on met chaque jour sur le march8, mieux vaudrait en somme remplacer la valeur quantitative, cumulative, exp8ditive, de la lecture, qui ne ressemble que trop / la consommation compulsive de toute marchandise, par une attitude s8lective et r8fl8chie. Une fois le procHs d’accroissement culturel accompli, mieux vaudrait, autrement dit, choisir le livre – ou les quelques livres – fidHles, destin8s / nous accompagner dans notre voyage, dans notre m8thode. Car, nous semble-t-il, dans toutes les activit8s de l’exp8rience actuelle, dont la lecture est partie prenante, c’est l’8l8gance qui fait d8faut : j’entends par 8l8gance, encore selon son 8tymologie, un certain sens de la pertinence ; un esprit de s8lection qui nous pr8serve de la voration du sens. C’est bien ce que nous suggHre la bibliomanie m8lancolique d’un Nodier qui, marquant une rupture avec la tradition euphorique du livre r8pandu / l’8poque des LumiHres, atteste, dans son moment pathologique, d’une nouvelle physiologie en voie d’affirmation. Et j’en viens donc / la deuxiHme partie de ma r8flexion.

2.

La bibliophilie de Nodier à nous

Si la figure du bibliomane en tant que type social remonte / l’invention de la presse et donc / l’enfance de notre modernit8, sa conscience « r8flective » – selon le mot de Nodier13 – se d8veloppe au d8but du XIXe siHcle. L’affirmation de cette conscience est donc, semble-t-il, concomitante avec la naissance de la litt8rature, dont la notion atteste une r8sistance du sens pratiqu8 par un groupe sectaire, faisant obstacle / un certain esprit doxal, œcum8nique, v8hicul8 par les sciences. Au moment oF la possession de livres en tant que tr8sor m8tonymique, repr8sentatif de la supr8matie sociale d’une classe oiseuse, en vient / Þtre m8pris8e par l’esprit r8publicain, la bibliophilie atteste d’un 8tat r8siduel de l’acculturation : rel8gu8 dans un espace priv8 et culturalis8, / l’abri des lois progressives prinant un sens plus viable et exp8ditif, l’amour pour le livre relHve plutit d’une fixation f8tichiste / l’objet mat8riel, en mÞme temps r8gressive, m8lancolique et solitaire ; entre la bibliophilie – h8ritage non plus viable du pass8 – et la bibliomanie – pathologie moderne – la frontiHre est poreuse. C’est bien l’8poque oF le livre, d’8difiant qu’il 8tait, devient d8monique : le rapport exclusif que le bibliophilebibliomane entretient avec son objet finit par remplacer le commerce humain. Jouant, de cet autre versant de l’histoire, un rile r8parateur des m8faits des LumiHres le livre accompagne maintenant le chemin de la r8version qu’accomplit la culture. Quelques maniaques, en quÞte d’une enfance individuelle et collective, 13 Nodier (1993), « RÞveries psychologiques. De la monomanie r8flective », pp. 47–62.

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autrement dit du mythe des origines, d8nichent, dans les r8servoirs profonds de la conscience, des grimoires poussi8reux, soulevant une / une les couches du savoir qu’y ont d8pos8es les siHcles. Et c’est ainsi que l’antiquit8, paradigme paternel, se f8minise : ce temps fantasm8 est un giron symbolique oF a pu commencer un jour le voyage initiatique de tout apprentissage. En mÞme temps, la bourgeoise triomphante en passe de l8gitimation sociale en vient / contriler le cit8 d8monique du livre en le sexualisant : / la virilit8 euphorique de l’8criture, qui encourage, selon l’esprit des LumiHres, une polygraphie active et engag8e, repr8sent8e de pr8f8rence par le journalisme, s’oppose la f8minisation de la lecture, acte r8ceptif et h8doniste : d’oF la fortune de la femme liseuse et rÞveuse dont atteste, au courant du XIXe siHcle, une iconographie foisonnante. L’objet principal du ressentiment du bibliophile Nodier est bien Voltaire, modHle viril et vital de la culture qui repr8sente, de la courbe montante de l’histoire culturelle, l’acm8. Puisque, comme Nodier l’8crit, « tout est dans Voltaire »14, le bibliophile y citoie d8j/ le bibliophobe : en philosophe engag8 il repr8sente, dans son point du monde, le compromis entre l’enthousiasme progressif apport8 par les livres et son potentiel destructeur. L’exp8rience de Voltaire se situe, – pour le dire avec Starobinski – entre le mal et son remHde : « une parabole qui enseigne / se d8fier des enseignements »15. D8fenseur acharn8 du « droit d’imprimer », Voltaire est l’auteur bien connu du Dictionnaire philosophique portatif, œuvre destin8e / supplanter, de par son agilit8 physique et symbolique, le lourd in-folio des volumes de l’Encyclop8die de Diderot et d’Alembert. Dans son pamphlet contre l’obscurantisme intitul8 De l’horrible danger de la lecture (1765), l’antilogie est rassurante : elle prine, par un simple renversement de valeurs, une 8dification en mÞme temps morale et mat8rielle par le ressort de l’imprimerie. L’enfer pour Voltaire, si l’on en croit Nodier, c’est les autres : et le diable, cit8 / plusieurs reprises dans ce pamphlet, est une pr8sence antagoniste que la raison a d8j/ dompt8e. Une 8tape successive de cette vague bibliophobe, cette fois sous la R8volution, est repr8sent8e par Louis-S8bastien Mercier qui, ennemi jur8 du faste de certaines reliures, avait lanc8 un r8quisitoire contre l’« or antipatriotique des bouquins ». Dans L’An 2440, œuvre inaugurant avant la lettre le genre dystopique, Mercier imagine l’autodaf8 d’une gigantesque pyramide de publications inutiles. Le seuil de la R8volution franchi, sa proph8tie s’est, semble-t-il, av8r8e : c’est bien cette Babel de livres entass8s, surv8cus au d8sastre, qui hante le XIXe siHcle. Daniel Sangsue rend compte, dans un article intitul8 D8mesures du livre16, de l’accroissement spectaculaire de l’imprimerie au 14 Nodier (1993), p. 97. 15 Starobinski (1989), « Le fusil / deux coups de Voltaire », p. 123. 16 Sangsue (1990), p. 43. Le critique fait ici r8f8rence aux donn8es pr8sent8es par Lyons (1987), p. 13.

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XIXe siHcle, qui procHde de causes bien connues : r8forme du systHme de la librairie (1793), exploitation de nouvelles techniques d’impression et de fabrication du papier, augmentation du nombre des lecteurs li8e au d8veloppement de l’enseignement public : de 1000 titres annuels / la veille de la R8volution, on passe / 8000 titres sous la Restauration et / 12000 sous le Second Empire. La civilisation 8tant arriv8e, selon le mot de Nodier, « / la plus inattendue de ses p8riodes, l’.ge du papier », « les livres s’accumulent […] de maniHre / mettre en p8ril le vieil 8quilibre du globe »17. Le vœu de Voltaire accompli, voici donc, comme on l’a annonc8, le retour du refoul8 culturel : le complexe livresque, s’8tant r8v8l8 tel, fait r8sistance / une telle naturalisation du livre qui entra%ne, par effet de saturation, une innocentation de ses contenus : le lib8ralisme, dans son irresponsabilit8 euphorique, a projet8 l’acte symbolique de l’acculturation dans l’acte mat8riel de la production. Le livre en tant que simulacre ou, si l’on veut, en tant que m8tonyme d’un artisanat patient de la pens8e qui s’oublie, prend sur lui ce destin et, s’adaptant aux n8cessit8s morales de la consommation rapide, est vou8 maintenant / sa consomption mat8rielle : sans sa couverture en cuir, habitus qui assurait en mÞme temps sa protection et son prestige social, il sera soumis comme le journal qui tra%ne quelque part une fois parcouru, / toutes les intemp8ries. Le contenant et le contenu 8tant au mÞme titre priv8s de leur r8sistance, mat8rielle et intellectuelle, le livre, objet culturel naturalis8, est cadavre sans tombeau : l’analogie entre le destin biologique des humains et le destin pr8caire du livre est, / l’8poque de Nodier, r8currente. Il fallait, en somme, le tournant de la R8volution pour que l’homme moderne prenne conscience du statut mat8riel – et donc al8atoire – du livre ; et c’est ce mat8rialisme d8sormais conscient qui induit, chez ses amateurs, le f8tichisme : lequel n’est, aprHs tout, que le d8sir de conserver pour soi l’objet fuyant. Effet du retour du refoul8 dont on a dit, la repr8sentation d8monique du livre, h8rit8e de la tradition alchimique et 8sot8rique, est certainement illustr8e par le Faust de Goethe, dont se r8clament volontiers, en France, les « petits romantiques ». Selon la l8gende m8di8vale que Goethe r8habilite, l’imprimerie, multipliant / l’infini la Loi de Dieu, ne peut Þtre que l’invention du diable. Mais ce diable r8habilit8 et vite innocent8 est, d8sormais, une entit8 purement psychique, s’identifiant avec la pluralisation. Et l/ oF les forces progressives, depuis toujours inscrites dans la Loi (ou le Bien) ont produit, par leur excHs mÞme, leur r8version, ce n’est que par une double logique que cette co-pr8sence peut Þtre d8sormais signifi8e. Qualifiant, dans Le voyage, la connaissance de « vaste app8tit »18, Baudelaire ramHne au plan purement digestif la pr8dation du sens pr8conis8e par le discours 17 Nodier (1993), p. 92. 18 « Pour l’enfant, amoureux de cartes et d’estampes,/ L’univers est 8gal / son vaste app8tit ». Baudelaire (1974), « Le voyage », p. 129.

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scientifique. Les « app8tences progressives » qui provoquent, selon Nodier, la « consommation des .ges »19 reviennent 8galement dans La voix, oF la Terre, m8tonymie de la connaissance, conjuguant par voie paradoxale extension et r8duction, est identifi8e / un g.teau20. Dans ce mÞme texte, la BibliothHque du poHte est adoss8e / son berceau. Arriv8 au sommet de sa pile de livres, il assume sur soi, par m8tonymie, la hauteur physique et morale de sa culture : le travail accumul8 est maintenant en 8tat de repr8sentation. « Haut comme un in-folio » il entend, dans ce point d’8piphanie, la voix de son enfance : voix d8monique, qui lui enjoint de d8truire sa Babel livresque et de capituler avec elle. Le sujet lyrique devenu critique semble avoir r8alis8, par cet appel / la d8construction, la proph8tie de Th8odore, le protagoniste du Bibliomane de Nodier : ce dernier, s’8tant retir8 du monde, « composait un livre qui rendrait tous les livres inutiles »21. L/ oF l’histoire de la culture, / force de transpositions m8tonymiques, a remplac8 le livre par la narration de ses contenus, et cette narration, 8lue en pr8texte, a entra%n8 / son tour, comme on l’a suppos8, la superf8tation et la banalisation du livre lui-mÞme, il ne nous reste qu’/ choisir – remHde dans le mal bien rousseauien – le livre, ou les quelques livres, dont on a dit. Le critHre s8lectif serait dict8, / notre avis, par la position d’8nonciation adopt8e ; position courageuse et quelque peu tranchante venant d’un esprit fort : car le choix appelle le choix. Un tel encadrement 8pist8mique serait / mÞme de nous prot8ger contre la d8rive des positions critiques, que les m8dias souvent v8hiculent saturant, avec leur volatilit8 et pervasivit8 m8tonymique, notre logosphHre : qui 8tait, au commencement, l’espace oF les divinit8s dictaient aux hommes le contenu de leurs livres… HermHs 8tait, de ces contenus crypt8s, l’interprHte 8lu. Mais HermHs a 8t8 tout aussi bien le premier voleur : son larcin symbolique, qui a marqu8 le commencement de la culture, a paru n8cessaire / divers moments de l’histoire ; recommand8 d8j/ par Augustin (Doctrina christiana, II, 40, 60), il se repropose dans son incessante reformulation : « His, que veritati consona sunt, […] cultu fuerunt alieni, non tamquam eorum, sed tamquam propriis utemur et, quasi ‹ ab iniustis possessoribus › iure merito vendicantes, ad nostros ea usus accomodabimus »22. Et si, comme Paul Val8ry l’avait vu avec Mallarm8, il s’agit encore, dans la modernit8, de « reprendre notre bien »23, l’acte d’effraction, accompli au nom de 19 Baudelaire (1974), « Le voyage », pp. 52 et 67. 20 « […] La Terre est un g.teau plein de douceur ;/Je puis (et ton plaisir serait alors sans terme!)/ Te faire un app8tit d’une 8gale grosseur » (vv.6–8). Baudelaire (1974), « La voix », p. 170. 21 Nodier (1993), p. 27. 22 Giustiniani (1974), p. 280. 23 « Je me figure […] que nous sommes l/, pr8cis8ment, / […] reprendre notre bien ». Mallarm8 (1945), « Crise de vers », p. 367. Cf. Val8ry (1957), « Avant-propos / la Connaissance de la d8esse », p. 938.

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la « juste restitution »24 d’un objet qui, cette fois, sommeille simplement dans l’oubli collectif, s’avHre encore plus n8cessaire / ce point panoramique de l’histoire qui est le nitre. L’Hre du num8rique ayant presque d8pass8 l’Hre du papier 8voqu8e par Nodier – d8passement que le papier lui-mÞme a, comme on l’a vu, pr8par8 – l’amateur de livres d’aujourd’hui ne se laissera pas entiHrement absorber par la ph8nom8nologie plate du culturel m8diatis8 : se soustrayant, / des moments choisis, / la frontalit8 lumineuse de l’8cran universel, oF pourtant en homme sociable il se doit de rester quelque temps au b8n8fice ou au d8triment des Autres, il pr8lHve son livre dans la pile qu’il avait patiemment accumul8e et entass8e. Cet acte, minant / sa base le capital culturel en 8tat de repr8sentation, n’est pas sans risque : car il sera toujours en passe d’en provoquer l’8croulement : « principal pilier » destin8, comme l’8crit encore Mallarm8, / « pr8cipiter avec le manque de m8moire »25. Si tous les codes de communication sont, au fond, livresques, revenir au livre signifie, finalement, prendre le risque de nous refonder comme des Þtres d’8criture ; et cela, / contre-courant du pr8jug8 romantique qui a voulu identifier la culture, en vue de la d8culpabiliser, avec la nature. C’est bien en continuateurs de cette interpr8tation que nous nous acheminons, aujourd’hui, vers la d8pr8ciation de la valeur des livres. Cette remont8e vers les origines de l’histoire livresque ne se fait pas par le biais du sens, qui est toujours pr8textuel et volontiers rÞveur – voire / travers l’exp8rience directe du signe en pr8sence qu’est le livre. Il sera possible ainsi d’8monder l’objet symbolique en question de toutes les stratifications mythiques qui, s’y 8tant d8pos8es tout au long des diff8rentes 8poques, ont fini par le d8mat8rialiser. Car la critique, comme Voltaire mÞme nous l’a enseign8 au moment oF on construisait notre pile, est une question de perspective : les signes peuvent appara%tre ou, comme de l’encre sympathique, dispara%tre de la face du monde. Ce dont Nodier s’8tait avis8, d’ailleurs, / propos de l’un de ses bizarres personnages en passe de d8chiffrer son grimoire : « travailler ou ne rien faire : lequel des deux, c’8tait un grand secret »26. Si la litt8rature sert / quelque chose, c’est, finalement, / s’approprier, par l’entremise de ceux qui la pratiquent, sa propre v8rit8 paradoxale : ne pas servir. « Non serviam » est le luxe intellectuel accord8 / quelques-uns qui ont dans leur silence, patiemment, longuement, servi sa cause.

24 Mallarm8 (2000), lettre / Ren8 Ghil du 7 mars 1885, p. 577. 25 Mallarm8 (2000), « Hommage (/ Richard Wagner) », p. 71. 26 Nodier (1993), p. 27.

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Die Welt von gestern: das Antiquariat als Wunderkammer

Die einzige Jagd, der ich in meinem Leben verfallen bin, ist die nach seltenen Büchern. Wie jene auf Elefanten oder Löwen, aber viel mehr noch als sie – da das alte Buch anders als Elefanten oder Löwen sich vor seinen Verfolgern hinter hohen Preisen verschanzen kann – ist diese Jagd eine nunmehr im Sterben begriffene alte Kunst, wie gewisse Handwerksarbeiten, die keiner mehr kennt oder ausüben kann. Es ist eine »Kunst«, die vor allem im Frankreich des XIX. Jahrhunderts eine sonderbare literarische Gattung hervorgebracht hat: die Bibliophilen- beziehungsweise Bibliomanengeschichte. Man lese Flauberts Bibliomanie, Nodiers Bibliomane, Asselineaus Enfer du Bibliophile oder, in »decrescendo«, Le crime de l’abb8 Sylvestre Bouvard von Anatole France, um sich eine Idee davon zu machen. Solche hinreißenden, visionär-obsessiven, bis ins Halluzinatorische gesteigerten Geschichten suchen vergeblich ihresgleichen im Bereich der fantastisch-erotischen Literatur ihrer Zeit, in die diese Geschichten ja doch hineingehören. In ihnen wird anscheinend Antithetisches (das Geistige, das Fantastische und das Erotische) beinah alchimistisch amalgamiert, und die Jagd nach dem legendär-geheimnisvollen alten Buch – als eine Variante der faustischen Suche nach dem Absoluten – erscheint sowohl erotisch als auch fantastisch gefärbt, da ja »la volont8 de savoir« ein und dasselbe ist wie der erotische Trieb. Schon bezeichnend ist in dieser Hinsicht, dass die ersten fundierten Überlegungen zu diesem Phänomen auf die Zeit der Encyclop8die zurückgehen, die auch die Blütezeit der galanten und erotischen Literatur ist. Man siehe dazu die Artikel »Bibliomanie« und »Bibliomane« der Encyclop8die und darüber hinaus das gleichzeitig erschienene selbstkritische Pamphlet von Louis Mermet De la Bibliomanie: Rassembler tous ceux qu’on estime par leur raret8, par la beaut8 singuliHre des 8ditions, par la magnificence des reliures, c’est un excHs de luxe, un amour du merveilleux, une prodigalit8 ruineuse. […] Insensiblement un abyme en attire un autre. L’homme qui n’a pas soin de respecter sa raison […], n’a bientit de m8nagement ni pour la d8cence des

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mœurs ni pour la religion. C’est ainsi que la folle passion des livres entra%ne souvent au libertinage et / l’incr8dulit8.1

Interessant und ebenso bezeichnend, dass der Autor der Madame Bovary und der Pducation sentimentale 15-jährig mit der Kurzgeschichte Bibliomanie debütierte, die sozusagen die »Lolita« in diesem Fach darstellt. Man muss auch zugeben, dass M8rim8es Carmen, das wohl Schönste im Bereich der erotischen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts – da hier die erotische Obsession bis ins Wahnsinnige gesteigert wird – fast nonnenhaft erscheint im Vergleich zur beinah kosmischen Obsession, die Flauberts Bibliomanie oder Asselineaus Enfer du Bibliophile anhaftet. Ausgerechnet diese zuletzt erwähnte und absolut wahnsinnigste, aber absolut wahrhaftigste Darstellung einer Pariser Buchauktion kann als unübertroffenes Modell aller Bibliomanengeschichten aufgefasst werden, da hier die bibliomanische »Ars amandi« zunächst in eine alles verzehrende Passion und dann in eine unersättliche kosmische Besessenheit mündet: eine wahnsinnige Suche nach dem Absoluten, welche die echten Höllenkreise einer Pariser Buchauktion als eine halluzinatorische faustische Besteigung des Olymps erscheinen lässt. Die Protagonisten dieser sonderbaren »Trilogie der Leidenschaft« (Nodier/Flaubert/Asselineau) werden zuletzt als wahrhafte Märtyrer ihres Glaubens bezeichnet; Heilige, die auf einen Platz in der Legenda aurea oder im Heiligenkalender Anspruch erheben. Anders als im 19. Jahrhundert finden wir im 20. Jahrhundert die kühnsten Überlegungen zur Ars Amandi Librorum in Deutschland. Neben Hesse, der zahllose Beiträge und köstliche Erzählungen dazu schrieb (man siehe z. B. Der Novalis: eine Mikroepopöe um eine seltene Novalis-Ausgabe), waren Karl Wolfskehl, Walter Benjamin und der Adorno der Bibliographischen Grillen die subtilsten Autoren in diesem Fach: nicht zufälligerweise drei jüdische Intellektuelle, die dem Volk des Buches entstammen. Bei ihnen erhält man auch zum ersten Mal eine philosophische Begründung der Bibliophilie als einer metaphysischen Tätigkeit, welche anhand der fabelhaften »Ersten Originalausgabe«, des legendären Zeugnisses der mythischen Ursprünge, den paradiesischen Urzustand wiederherstellen will, derart, dass das Auffinden dieses endgültigen Beweises der Existenz Gottes zu einer Rückkehr zum unbefleckten Naturzustand verhelfen kann. Interessant auch wie die ins Absolute gesteigerte Bibliophilie – an sich eine Art säkularisierter Gottesdienst und ein Inbegriff der geistigen Tätigkeit schlechthin – zuletzt in eine Rückkehr zur materiellen Wirklichkeit umschlägt. Insbesondere Benjamin, der bekanntermaßen ein großer Sammler und Mann des Buches war, wird in Ich packe meine Bibliothek aus so packend, witzig, freiatmend und leidenschaftlich wie nie zuvor. Die einzelnen Bücher seiner Bibliothek werden zu schockierenden 1 Louis Bollioud de Mermet, De la Bibliomanie, La Haye: 1761, S. 9; 90.

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Memorabilia und wahrhaften Denkmälern ebenso vieler »Sternstunden« seines Lebens. Man lese z. B. wie er, als mittelloser Student, seinen glühendsten bibliophilen Wunsch – die Erstehung der ersten illustrierten Ausgabe der Peau de Chagrin – auf einer Münchner Buchaktion auf wundersame Weise erfüllte. Die Schilderung der Auktion wird zu einem atemberaubenden Krimi und gleichzeitig zu einer »Ptude de mœurs bibliophiles«, die schließlich in ein echtes Wunder mündet. Benjamins besonderes Interesse für La peau de Chagrin rührt vielleicht auch daher, dass der wundervolle Antiquitätenladen, der auf den ersten Seiten des Romans eingehend beschrieben wird, auch als Metapher eines Antiquariats betrachtet werden kann: Das Antiquariat nämlich als exotische Wunderkammer. Aber der größte, inspirierteste bibliomanische Schriftsteller des Jahrhunderts war Karl Wolfskehl, der – neben dem verehrten Meister – Statthalter und Animator des dem Buchkult sehr ergebenen George-Kreises war. Ihm verdankt man Bücher, Bücher, Bücher, Bücher, eine Sammlung von Artikeln zur Bibliophilie, welche in ihrer Mischung von bibliophilem Wissen, Wahnsinn und Witz eine wahre Summa Summarum der bibliomanischen Ars Amandi darstellt, und die mit einem wahren Hymnus an das Buch endet (die ebenso sehr eine Persiflage von Franklins berühmter Grabinschrift und Marlene Dietrichs »ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« darstellt). Hier die letzte Strophe: »Bücher, Bücher, Bücher, Bücher/Meines Lebens Brot und Wein!/Hüllt einst mich nicht in Leichentüchern/ Schlagt mich in Van Geldern ein!« Aber, wie anfangs gesagt, ist die Kenntnis und die Suche nach seltenen Büchern (und Büchern überhaupt) heute eine verlernte Kunst, die immer weniger Leute interessiert. Hierzu ein sehr naheliegendes Beispiel. Wenn der Bücherfreund bis vor wenigen Jahren aus dem schönen Bonner Unischloss trat, hatte er die Qual der Wahl. In der gegenüberliegenden Buchhandlung Bouvier (drei Etagen voller Bücher) konnte er nicht nur die Neuerscheinungen finden, sondern auch Klassiker aus allen Reihen, Kunstbände, Partituren und – im Untergeschoss – sogar eine sehr gepflegte Klassik-CD Abteilung. Hier traf ich vor 15 Jahren meine zweite Frau. Rechts, unterhalb des Unigebäudes, Richtung Rhein, kaum 50 Meter von der Uni entfernt, fand hingegen unser Büchernarr das Antiquariat von Catherine Cl8ment, eine wahre Wunderkammer und Fundgrube von vergriffenen und alten Büchern in allen Sprachen: das Ganze in einer reizenden, bunten, schöpferischen Unordnung. Mit der geistreichen Inhaberin konnte man nach Belieben ein Gespräch auf Französisch oder auf Deutsch führen. Bei ihr habe ich im Laufe der Jahre die verschiedensten Seltenheiten gekauft. Das letzte Mal – es war wohl ein Omen auf das Kommende – fand ich hier die inzwischen selten gewordenen Hefte der ersten expressionistischen Reihe: »Der Jüngste Tag« vom Bonner Kurt Wolff. In jenem Sommer, es war glaube ich im Jahr 2008, hatte Catherine bei einem privaten Sammler eine vollständige expressionistische Bibliothek gekauft: es war wohl ihr größter und doch letzter

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Kauf. Bei ihr lernte ich im Herbst 2003 Michel Delon kennen. Wir trafen uns anlässlich eines Balzac-Kolloquiums: während der Pause hatten wir beide dem Kaffee-Duft den Geruch der alten Pergamentbände vorgezogen. Links des Unigebäudes konnte hingegen unser Bücherwurm nur 30 Meter entfernt dem Antiquariat an der Kaiserpassage einen Besuch abstatten. Nur in Amsterdam habe ich so eine vollgestopfte Bücher-Wohnung gesehen: vier, fünf Räume hintereinander, in denen die Bücher nach Fächern – aber mit sehr vielen Überraschungen – geordnet waren. Das Beste seiner Bücherbestände behielt aber der Inhaber klugerweise hinter sich an der Kasse in einem großen Regal. Hier ließ er die besten Kunden ungestört stöbern, und hier habe ich viele romantische Seltenheiten für relativ wenig Geld gefunden, da die Spezialität des Antiquariats Theologie und Philosophie waren und der Inhaber wenig von Literatur hielt. Ich erinnere mich sehr gut an meinen letzten Kauf vor wohl acht Jahren: die Erstausgabe von Brentanos Rheinmärchen, die der Buchhändler mir für 30 Euro konzedierte, da er fest davon überzeugt war, dass es sich um eine unvollständige Ausgabe handle: Er hatte recht und unrecht in einem, da Brentanos Märchen doch aus zwei Bänden bestehen, die Rhein- und die Italienischen Märchen, es sind aber zwei verschiedene, voneinander unabhängige Werke. Mit dem seltenen Freund rannte ich glücklich zum Rhein und habe zigmal gedacht: »Man darf doch nie den Antiquar belehren«. Ein wahres Jüngstes Gericht hat aber vorzeitig diese drei Buchhandlungen getroffen: Es gibt sie nicht mehr. Der Büchermensch, der heute aus dem Unischloss tritt, findet gegenüber, rechts und links, wo sich früher jene obengenannten Buchhandlungen befanden, leere Gebäude und wüste Geschäftsräume, an deren Fenstern seit Jahren ein Schild hängt: »zu vermieten«. Aber Bonn ist überall, und überall werden Buchhandlungen und Antiquariate geschlossen, mit der Ausnahme von Paris, wo eine kulturpflegende Mairie die Buchhandlungen subventioniert, damit sie weiter bestehen können. Auch die Pariser Antiquariate sehen aber immer leerer aus, wie ich vor wenigen Wochen feststellen konnte. Was für Zweigs Welt von Gestern Hitlers Aufstieg darstellte, stellte für die Welt der Bücher der Siegeszug des Internets in den letzten 20 Jahren dar. Die Folgen sind mutatis mutandis vergleichbar : während die Bücher damals verbrannt wurden, werden sie heute als überflüssig betrachtet und oft in den Müll geworfen. Geistige Angleichung und Konformismus sind auch vergleichbar, dort aufgezwungen, hier frei gewählt, das Ganze natürlich bei strahlenden Lichtern. Die Antiquariate waren Orte der Geselligkeit und gleichwohl Zufluchtsorte wie die Kirchen, wo man neben den Büchern die interessantesten Menschen traf. Die vorläufige Gemeinschaft, die sich dort bildete, war ja eine von Einzelgängern. Der Büchersammler ist doch ein Mensch von einem besonderen Schlag, und wie ein Geisterseher oder eine Gestalt aus Hoffmanns Erzählungen am fieberhaften Blick erkennbar – ein Zeichen jener brennenden Leidenschaft,

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die ihn verzehrt. Der Zunft Abtrünnige werden aber immer mehr, und immer häufiger hört man sagen: »Aber du findest doch alles im Internet!« Ich bin dann gewohnt, immer die gleiche Antwort zu geben: »Vielleicht, aber ohne die Tasse Tee von Abraham Horodisch.« Es war im Frühjahr 1979, ich war damals 25 und gerade als junger Lektor an die Uni nach Bochum gelangt, und da Bochum wie fast alle Städte im Ruhrgebiet relativ bücherarm war (aber die UB und die wenige Jahre zuvor formierten Institute besaßen sehr gute Bücherbestände) nahm ich zweimal im Monat den Zug nach Amsterdam, das damals mit seinen über 200 Antiquariaten das europäische Büchermekka war. Ich arbeitete von Montag bis Donnerstag. Den Freitag und den Samstag verbrachte ich in Amsterdam auf Bücherjagd. Damals zählte Amsterdam 700.000 Einwohner und in seinen Antiquariaten wohl ebenso viele wertvolle Bücher. Innerhalb der Amsterdamer Antiquariatskonstellation stellte Erasmus die Sonne dar. Es war damals das führende Antiquariat für deutsche Literatur in Europa, und Abraham Horodisch war sein Leiter. Bei Erasmus – das wie fast alle Amsterdamer Antiquariate aus einem Erdgeschoss mit großen Schaufenstern und einem ersten Stock mit der eigentlichen Schatzkammer bestand, konnte man nicht alles, aber beinah alles finden, was die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, von Hofmannsthal bis Celan an wertvollen, seltenen Ausgaben anzubieten hat. Im Laufe der Jahre habe ich bei Erasmus z. B. alle Erstausgaben von Franz Kafka gesehen, manchmal in ihren sehr seltenen, empfindlichen Schutzumschlägen. Die Preise dafür waren damals in meinen Augen relativ hoch: 600–700 Gulden für die obengenannten Kafkas ohne Schutzumschlag, das Doppelte mit. Für heutige Verhältnisse aber sehr erschwingliche Preise. Abraham Horodisch war damals schon sehr alt, ich schätzte ihn über 80, er hätte aber wie Rembrandts Propheten im nicht weit entfernten Rijksmuseum, das ich anschließend fast immer besuchte, 1000 Jahre alt sein können. Er war, wie ich später entdeckte, ein berühmter Expressionismus- und insbesondere Kubin-Forscher, der über diesen Expressionisten die Standardbibliographie erstellt hatte. Zuallererst bot er dem jungen Italiener eine Tasse Tee an, informierte sich über dessen Interessen und den Fortgang seiner Studien, und dann ließ er ihn stundenlang allein mit den Kafkas und den Autoren der Emigration, die die Spezialität Erasmus’ waren. Unter den ersten Büchern, die ich bei Erasmus gekauft habe, erinnere ich mich sehr gern an das Jahrbuch Arkadia, eine Kostbarkeit und Seltenheit aus zweifachem Grunde: es enthält Kafkas Urteil im Erstdruck und es ist gleichwohl eine der allerersten Veröffentlichungen (im Frühjahr 1913) des genialen Kurt Wolff, des Verlegers von Kafka sowie des deutschen Expressionismus. Ganz anders als die zwei vorher erwähnten Bonner Antiquariate sah Erasmus nicht wie eine Wunderkammer aus: Seine Regale waren penibel geordnet; die wahre Wunderkammer stellte aber sein viermal im Jahr erscheinender Katalog dar, der keine festen Rubriken auf-

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wies und immer neue Überraschungen bereithielt. Obwohl er meistens den Avantgarden des 20. Jahrhunderts gewidmet war, enthielt er immer Unerwartetes aus allen möglichen Gebieten. Meist war der Katalog alphabetisch nach Autoren, Verlagen und Künstlern geordnet, dazwischen lauerten aber allerlei Kuriosa, Erotika, Bibliophilie, Jüdische Mystik, Totentänze und sogar Scherenschnitte. Man trat bei Erasmus ein mit der Absicht, einen Kafka oder einen Expressionisten zu erwerben, und ging hinaus mit dem Kafka, dem Basler Totentanz und einem Franz Blei (der große Erotiker, der bei Erasmus nie fehlte: anscheinend ein Lieblingsautor des Abraham Horodisch), um dann zu entdecken, dass seine Intuition ihn nicht verraten hatte, weil doch unter jenen so disparaten Büchern unmissverständliche Wahlverwandschaften bestanden, da ja Tod, Erotik und Schreiben bei Kafka ein und dasselbe sind, und just Franz Blei der Erste war, der 1908 den jungen unbekannten Kafka in seiner Zeitschrift »Hyperion« veröffentlichte. Dies nur, um zu betonen, dass ich bei Erasmus und in den Amsterdamer Antiquariaten über Bücher mehr gelernt habe als irgendwo anders. Am Ende der 80er Jahre, es war einer der kältesten Winter nach 1945, wollte ich noch einmal Abraham Horodisch einen Besuch abstatten. Das Antiquariat gab es nicht mehr und Horodisch war gestorben. Ich konnte aber irgendwie seinen wohl letzten Katalog (Nr. 356) auftreiben. Er wurde mit der Nachricht eröffnet, dass »die literarische Fakultät der Universität von Amsterdam dem Gründer und Leiter unseres Antiquariats, Herrn Dr. A.H., in Anerkennung seiner zahlreichen buchkundlichen Veröffentlichungen das Ehrendoktorat verliehen hat.« Auf der gleichen Seite, unten, war die erste Katalognummer wie immer sehr eingehend beschrieben: Dei Sepolcri-Carme di Ugo Foscolo. Officina Bodoni. Eine für Erasmus ungewöhnliche aber doch, wie ich verstand, vielsagende, feierliche Eröffnung des letzten Katalogs. Die anderen Amsterdamer Antiquariate hatten wohl weniger interessante Bücher als Erasmus anzubieten, aber in diesen oft wie just aus langen Orientreisen im Heimathafen gelandeten vollgestopften Galionen waren die Überraschungen noch größer. Bei Kok in der Oude Hoogstraat und bei De Slegte in der Kalverstraat hätte man – dachte ich damals – das ganze Leben paradiesisch verbringen können. De Slegte war damals das größte Amsterdamer Antiquariat: auf vier Etagen voller Bücher aus allen möglichen Gebieten konnte man echte Mirabilia ausgraben, so wie eine meiner ersten Amsterdamer Erwerbungen – die erste Ausgabe der von Antonio Ranieri im Jahre 1845 besorgten Opere von Giacomo Leopardi oder, in der menschenleersten Abteilung – die der Theologieund Kirchenbücher –, den sehr seltenen Totentanz von Schlotthauer, der ganz irrtümlich in jener Abteilung (wohl wegen des schlichten schwarzen Pappbands und der fremden Frakturschrift) gelandet war : alles natürlich für wenige Gulden. Die Fremdsprachen – außer der englischen – waren damals in Amsterdam weniger geläufig als man hätte denken können. Nicht alle Amsterdamer Antiquare

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wussten so, dass ein 1936 im Vita Nova Verlag in Luzern anonym erschienenes und Deutsche Menschen betiteltes Buch in Wahrheit eine seltene Erstausgabe von Walter Benjamin war. Ich fand es unter wertlosen holländischen Büchern in einem kleinen Antiquariat am Blumenmarkt usw. Warum aber ist die Erwerbung einer bibliophilen Seltenheit in einem Antiquariat qualitativ ganz anders als der heute ganz geläufige, rasche Klick bei Abebooks im Internet? Wohl deshalb, weil sie unsere geistigen und physischen Kräfte ganz beansprucht und sich in jener gottgesegneten Trias Gehen/Denken/ Sammeln vollzieht, welche dem Kopf jene reine Luft der Gipfel verleiht, die zu riechen vor einem Computerbildschirm völlig unmöglich ist. Im Jahr nach der Wende bin ich so öfter nach Berlin gefahren, und dort habe ich mit dem Fahrrad die sämtlichen Antiquariate im Ostteil abgeklappert, auf der Suche nach jenen Seltenheiten der DDR-Literatur, die in jenem Moment niemand mehr wollte, weil sie übel nach Stasi rochen. Ich habe damals mindestens 50 Antiquariate besucht und oft interessante Gespräche mit den völlig resignierten Inhabern geführt. Widmungsexemplare der als Stasimitarbeiterin verdächtigten Christa Wolf wurden beinah verschenkt und ebenfalls die wunderschönen, von den besten Buchkünstlern illustrierten DDR-Ausgaben (die wohl schönsten der Nachkriegszeit). Wie viele Städte habe ich dank der Jagd nach Büchern kennengelernt: Amsterdam, Berlin, Paris, München, London und bei uns in Italien die reichsten Bücher- und Kunststädte: Rom, Neapel, Mailand, Turin und natürlich meine Heimatstadt Florenz. Venedig hingegen, an dessen Uni ich acht Jahre lang gelehrt habe, ist seit langem bücherleer : Der Massentourismus hat nicht nur die Venezianer verscheucht, sondern auch die Bücher. Ein mutiger Engländer, Philipp Morre, der vor zehn Jahren im Ghetto ein wunderschönes Antiquariat eröffnet hatte, musste es nach wenigen Jahren schließen, da die Touristen seine wertvollen Byron-Erstausgaben nur zum Preis eines Taschenbuches gekauft hätten. Bei ihm – entgegen dem Grundsatz »Italienische Bücher beim englischen Bookseller und englische Bücher beim italienischen Libraio« – habe ich nach und nach die sämtlichen, sehr seltenen Erstausgaben von Norman Douglas, einem der geistreichsten und weniger bekannten Autoren des 20. Jahrhunderts erworben. Es ist mir heute manchmal zumute wie einem jener byzantinischen Anbeter von Ikonen des 8. Jahrhunderts, gegen welche ein staatsverordneter Bildersturm erlassen worden ist. Ein Bildersturm, der heute vandalisch nicht heilige Bilder, sondern Bücher trifft. Wir Ikonolatren und Büchermenschen profitieren aber großzügig von dem vandalischen Zeitgeist. Bekannte und Kollegen schenken uns ihre Bücher, weil ihnen ein Computer ganze Bibliotheken ersetzt. An den Straßenecken stapeln sich Bücher zum Mitnehmen, manchmal nicht nur gewöhnliche. Die Antiquariate sind zum großen Teil zu und scheinen nunmehr in die Welt von gestern zu gehören. Die Bücherauktionen aber florieren, da die Fa-

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milien der immer älter werdenden Bibliophilen nach ihrem Tod als allererstes ihre Bücher loswerden wollen. Da es immer weniger Antiquariate gibt, kann es passieren, dass die untröstlichen Witwen des gerade verstorbenen Büchermanns sich direkt an uns als unheilbare Nachfolger des Maria Wutz wenden. Vor zehn Jahren wurde ich telefonisch von der Tochter eines bekannten deutschen Intellektuellen erreicht, der sein Leben in Florenz verbracht hatte: Sie wollte die sämtlichen Bücher des verstorbenen Vaters verkaufen. Die mit Büchern vollgestopfte Villa auf den Hügeln um Florenz verwandelte für mich jenen kalten Winter in einen heißen Sommer. Ich erwarb zu einem angemessenen Preis einen Teil der Bibliothek, vorwiegend Erstausgaben aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Im Moment des Abschieds sagte mir die sehr nette und alte Frau, dass sie mir ein Geschenk machen wollte. Sie holte aus dem Dachboden einen Aktenordner und gab ihn mir. Das Geschenk erwies sich zu Hause als viel wertvoller als die seltenen Bücher, die ich gekauft hatte. Es enthielt ungefähr 100 Briefe von Mitgliedern und Sympathisanten des George-Kreises (Behringer, Verwey, Pannwitz, Salin und sogar Kurt Wolff) an Karl Wolfskehl (und dazu die Kopien seiner Antwortbriefe neben zahlreichen Briefen, die er nicht abgeschickt hatte). Jener Karl Wolfskehl, der 1933 nach Florenz emigriert war und in dieser kultivierten Familie Obdach gefunden hatte. Es war bis dato immer ein besonderer Wunsch von mir gewesen, irgendeine Spur des florentinischen Aufenthalts des Oberpriesters unserer Bücherreligion zu finden, aber dass ich ihn sozusagen Redivivus vor meinen Augen wiederauferstehen sehen würde, das hätte ich nie zu hoffen gewagt!

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Uwe Baumann lehrt Anglistik an der Universität Bonn. Anne-Marie Bonnet lehrt Kunstgeschichte an der Universität Bonn. Henryk Chudak lehrte bis zu seiner Emeritierung Französische Literaturwissenschaft an der Universität Warschau. Patrizio Collini lehrt Germanistik an der Universität Florenz. Michel Delon lehrte bis zu seiner Emeritierung Französische Literatur an der Sorbonne Universit8. Mario Domenichelli lehrte bis zu seiner Emeritierung Komparatistik an der Universität Florenz. Marion Gymnich lehrt Anglistik an der Universität Bonn. Andreas Haarmann lehrt Romanistik an der Universität Bonn. Roland Ißler lehrt Romanistik an der Universität Bonn. Dieter Janik lehrte bis zu seiner Emeritierung Romanistik an der Universität Mainz. Claudia Jünke lehrt Romanistik an der Universität Innsbruck. Michela Landi lehrt Französische Literatur an der Universität Florenz. G8rard Laudin lehrte bis zu seiner Emeritierung Germanistik an der Sorbonne Universit8.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Wolfgang Matzat lehrte bis zu seiner Emeritierung Romanistik an der Universität Tübingen. Helmut Meter lehrte bis zu seiner Emeritierung Romanistik an der Universität Klagenfurt. Michael Neumann lehrte bis zu seiner Emeritierung Germanistik an der Universität Eichstätt und steht im Rang eines Seniorprofessors. Patricia Oster-Stierle lehrt Romanistik an der Universität des Saarlandes. Cora Rok lehrt Romanistik an der Universität Bonn. Monika Schmitz-Emans lehrt Komparatistik an der Universität Bochum. Karlheinz Stierle lehrte bis zu seiner Emeritierung Romanistik an der Universität Konstanz und wirkt seither weiter als Honorarprofessor an der Universität des Saarlandes.