Woher kommt und wohin geht Europa 9783534403219, 9783534403233, 9783534403226

In seinem tiefgreifenden Essay zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft westlicher Kultur beschreibt Joachim Rossbroich

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German Pages 468 [467] Year 2020

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Auf der Suche nach Europa
I. Das „systemisch Gute“ in der Natur der Kultur oder: wie wir von der natürlichen Evolution „gemeint“ sein könnten
Zwischenbilanz: Die Humanität in der menschlichen Natur
II. Die „werdende Vernunft“ in der Kultur oder: wie wir von der kulturellen Evolution „gemeint“ sein könnten
II. 1 Implizite Ästhetik, Theorie und Normativität der Alltagspraktiken
II. 2 Unser frühkulturelles Erbe
II. 3 Unser hochkulturelles Erbe
II. 4 Unser spätkulturelles Erbe
Zwischenbilanz: Die „werdende Vernunft“ in der kulturellen Evolution
III. Die befreiende Ethik nicht-logozentrischer Glaubenspraktiken oder: wie wir von der Evolution westlicher Kultur „gemeint“ sein könnten
III. 1 Drei Entwicklungsschübe der Ausdifferenzierung westlicher Systemarchitektur und drei industrielle Revolutionen im zurückliegenden Jahrtausend
Zwischenbilanz: Drei Entwicklungsschübe und darin eingebettete industrielle Revolutionen im westlichen Pfad
III. 2 Die derzeit beginnende vierte industrielle Revolution, Herausforderungen und Chancen für ihre humane Mitgestaltung
Zwischenbilanz: Die Systemarchitektur der westlichen Kultur
III. 3 Lebensstile und Deutungsmuster, Glaubenspraktiken und Wertorientierungen in Europa und auf den globalen Wachstumsinseln
Ein „best case Szenario“ der Zukunft: Perspektiven und Potentiale für einen Übergang zur „vierten Kultur“
IV. Entstehung und Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ in der kulturellen Evolution
IV. 1 Die Wurzeln des „systemisch Bösen“ in der geistigen Gewalt logozentrischer Glaubenspraktiken
IV. 2 Die Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ im westlichen Pfad
Zwischenbilanz: Die Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ im westlichen Pfad
Ein „worst case Szenario“ der Zukunft: Krisenkumulation, Abwärtsspirale und vierter Weltkrieg
Zwischenbilanz: Das „systemisch Gute“ und das „systemisch Böse“ in der kulturellen Evolution
V. Regulative Ideen und Leitorientierungen zur Zukunftsgestaltung Europas
V. 1 Von der natürlichen Evolution lernen
V. 2 Von der kognitiven Evolution lernen und sie mitgestalten
V. 3 Von der Evolution westlicher Kultur lernen
VI. Wege und Schritte der Zukunftsgestaltung Europas
VI. 1 Selbstbeobachtung, Verständigung und Orientierungsfindung
VI. 2 Organisation politischer Steuerung
VI. 3 Organisation wirtschaftlicher Leistung
VI. 4 Organisation von Bildung und Wissen
VII. Zusammenfassung und Fazit: Europa finden und erfinden.
VII. 1 Normativer Rahmen und Leitorientierungenfür eine offene europäische Kultur
VII. 2 Wege und Schritte der Zukunftsgestaltung Europas
VII. 3 Ein Europa der Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ – nach innen wie nach außen
VII. 4 Strategien der Selbstbehauptung Europas in einer multipolaren Welt
VII. 5 Grundzüge einer europäischen Außenpolitik
VII. 6 Europas Beitrag zur Mitgestaltung einer Weltgesellschaft: Potentiale und Keimbildungen erkennen und weiterentwickeln
VII. 7 Zukunftsaussichten
Anmerkungen
Literatur
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Joachim Rossbroich

Woher kommt und wohin geht Europa

Joachim Rossbroich

Woher kommt und wohin geht Europa

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40321-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40323-3 eBook (epub): 978-3-534-40322-6

Mit Dank an meine Lebensgefährtin Medina Abidin Schmelzer, ohne deren vielfältige Unterstützung dieses Buch nicht entstanden wäre.

Für Stephan und Julian, Max und Tom

Inhalt Vorwort........................................................................................................................................................................ 9 Einleitung: Auf der Suche nach Europa................................................................................................................ 11 I. Das „systemisch Gute“ in der Natur der Kultur oder: wie wir von der natürlichen Evolution „gemeint“ sein könnten................................................................................................................... 28 v Zwischenbilanz: Die Humanität in der menschlichen Natur............................................................... 31 II. Die „werdende Vernunft“ in der Kultur oder: wie wir von der kulturellen Evolution „gemeint“ sein könnten ....................................................................................................................................................... 32 II. 1 Implizite Ästhetik, Theorie und Normativität der Alltagspraktiken ............................................... 32 II. 2 Unser frühkulturelles Erbe..................................................................................................................... 38 II. 3 Unser hochkulturelles Erbe.................................................................................................................... 40 II. 4 Unser spätkulturelles Erbe..................................................................................................................... 42 v Zwischenbilanz: Die „werdende Vernunft“ in der kulturellen Evolution........................................... 47 III. Die befreiende Ethik nicht-logozentrischer Glaubenspraktiken oder: wie wir von der Evolution westlicher Kultur „gemeint“ sein könnten .................................................................................................... 49 III. 1 Drei Entwicklungsschübe der Ausdifferenzierung westlicher Systemarchitektur und drei industrielle Revolutionen im zurückliegenden Jahrtausend............................................................. 62 v Zwischenbilanz:Drei Entwicklungsschübe und darin eingebettete industrielle Revolutionen im westlichen Pfad........................................................................................... 111 III. 2 Die derzeit beginnende vierte industrielle Revolution, Herausforderungen und Chancen für ihre humane Mitgestaltung................................................................................................... 114 v Zwischenbilanz: Die Systemarchitektur der westlichen Kultur ......................................................... 136 III. 3 Lebensstile und Deutungsmuster, Glaubenspraktiken und Wertorientierungen in Europa und auf den globalen Wachstumsinseln ................................................................................. 138 u Ein „best case Szenario“ der Zukunft: Perspektiven und Potentiale für einen Übergang zur „vierten Kultur“ ................................................................................................................... 144 IV. Entstehung und Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ in der kulturellen Evolution .................. 154 IV. 1 Die Wurzeln des „systemisch Bösen“ in der geistigen Gewalt logozentrischer Glaubenspraktiken ....................................................................................................................................... 154 IV. 2 Die Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ im westlichen Pfad .......................................... 167 v Zwischenbilanz: Die Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ im westlichen Pfad ................. 236 u Ein „worst case Szenario“ der Zukunft: Krisenkumulation, Abwärtsspirale und vierter Weltkrieg ........................................................................................................................................... 239 v Zwischenbilanz: Das „systemisch Gute“ und das „systemisch Böse“ in der kulturellen Evolution ........................................................................................................................ 247 V. Regulative Ideen und Leitorientierungen zur Zukunftsgestaltung Europas ............................................. 252 V. 1 Von der natürlichen Evolution lernen ............................................................................................... 253 V. 2 Von der kognitiven Evolution lernen und sie mitgestalten ............................................................. 259 V. 3 Von der Evolution westlicher Kultur lernen ..................................................................................... 263 7

VI. Wege und Schritte der Zukunftsgestaltung Europas .................................................................................. 270 VI. 1 Selbstbeobachtung, Verständigung und Orientierungsfindung ................................................... 270 VI. 2 Organisation politischer Steuerung ................................................................................................. 276 VI. 3 Organisation wirtschaftlicher Leistung ........................................................................................... 283 VI. 4 Organisation von Bildung und Wissen ............................................................................................ 305 VII. Zusammenfassung und Fazit: Europa finden und erfinden. ................................................................... 315 VII. 1 Normativer Rahmen und Leitorientierungen für eine offene europäische Kultur .................. 315 VII. 2 Wege und Schritte der Zukunftsgestaltung Europas .................................................................... 321 VII. 3 Ein Europa der Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ –  nach innen wie nach außen ........................................................................................................................ 324 VII. 4 Strategien der Selbstbehauptung Europas in einer multipolaren Welt ...................................... 326 VII. 5 Grundzüge einer europäischen Außenpolitik ............................................................................... 331 VII. 6 Europas Beitrag zur Mitgestaltung einer Weltgesellschaft: Potentiale und Keimbildungen erkennen und weiterentwickeln ........................................................... 333 VII. 7 Zukunftsaussichten ........................................................................................................................... 335 Anmerkungen......................................................................................................................................................... 337 Literatur .................................................................................................................................................................. 421

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Vorwort Von einem Meister wissenschaftlicher Erzählung, nämlich Ernst Bloch stammen die berühmten Sätze: „Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ 1) Hier wird ein Versuch unternommen, dies (etwas abweichend von Ernst Bloch) auszudeuten. „Wir“ sind das Ergebnis einer natürlichen und kulturellen Evolution und „wir“ werden uns nie „haben“, weil wir diese Evolution nicht vollständig verstehen, geschweige denn steuern können. Aber indem wir immer erneut versuchen, uns selbst und unsere Lebens- und Arbeitsformen auch als Ergebnisse von Evolution zu verstehen, eröffnen sich Chancen und Perspektiven, diese reflektiert und verantwortungsbewusst mitzugestalten. Auf allgemeinster Ebene impliziert das „werdende Wir“ die Erfahrung, (An)erkenntnis und Pflege der Verwandtschaft und Verbundenheit der kulturellen Lebensform mit der Natur, ihr Eingebettet-Sein in diese. In diesem Rahmen kann man das „Wir“ auf die Kultur als Lebensform aller Menschen auf der Erde beziehen, wenn man unterstellt, dass es trotz oder gerade wegen der Vielfalt und Unterschiede, der Gegensätze und Konflikte der Kulturen heute nicht nur möglich und sinnvoll, sondern auch notwendig ist, von „Menschheit“ als einem „Wir“ und von der Kultur als einer gemeinsamen Lebensform zu sprechen, die in ihrer Eigenart weiter zu enthüllen ist. Im mehr eingegrenzten Sinn bezieht sich das Gemeinsame auf die westliche Kultur: auf die Entwicklung und das Wesen, die Grenzen und zukünftigen Möglichkeiten einer Lebensform und eines Systems des Fühlens und Denkens, des Handelns und der Werte, in dem „wir“ sozialisiert sind. In einem noch engeren Sinn meint es den Entwicklungspfad, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Europas. Europa lässt sich in drei Perspektiven rekonstruieren: als politische Realität, als Wirklichkeit und als Möglichkeit. Als politische Realität ist Europa heute eine (noch unvollständige) institutionelle Architektur und Verwaltung mit einer weitgehend auf deren Erhalt und Ausbau beschränkten Diskussion und Reflexion, Legitimation und Mitgestaltung, die zwar unverzichtbar sind, deren Horizont aber mit Blick auf eine angemessene Selbstbeobachtung, eine Vergegenwärtigung des Zustands wie auch der Entwicklungschancen und ‑risiken Europas zu eng ist. Demgegenüber umfasst die Wirklichkeit Europas über diese institutionelle Architektur hinaus eine historisch gewachsene (nie vollständig erschließbare) Komplexität der Natur-Kultur-Dynamik, der kulturellen Lebens- und Arbeitsformen und ihrer Beziehungen und Vernetzungen, der religiösen und post-religiösen Glaubenspraktiken, der Wissenschaften und Künste u. a. und lässt unterhalb dieser phänotypischen Vielfalt die strukturierende Kraft evolutionär entstandener und ausdifferenzierter Konstruktionsregeln kultureller und darin spezifisch westlicher Lebensformen erkennen, die hier als „Systeme“ bezeichnet werden. Im Versuch, sich dieser Wirklichkeit Europas anzunähern, öffnet sich der Horizont für die Erfahrung und Explikation der Möglichkeiten und Potentiale Europas. Die Perspektiven auf Wirklichkeit und Möglichkeit Europas sind komplementär: Europa ist evolutionär und historisch das Ergebnis eines Wirklichwerdens von Möglichkeiten und stellt heute ein Möglichkeitsfeld dar, aus dem gegenwärtige und zukünftige Wirklichkeit hervorgeht. Die hier versuchte Rekonstruktion Europas führt vom Konkreten zum Abstrakten und wieder zurück zum Konkreten: von einer einleitenden Vergegenwärtigung der aktuellen Situation Europas über eine Rekonstruktion der Systemarchitektur westlicher Kultur wieder zurück zur europäischen Gegenwart und den Möglichkeiten ihrer Mitgestaltung. Es geht also um das werdende Europa, genauer gesagt, um einen Versuch, Europa im Rahmen einer Theorie des Werdens der Kultur und darin der westlichen Kultur zu verstehen. 9

Versucht wird eine rekonstruktive Modellierung des sog. westlichen Pfads und darin Europas, die Erkenntnisse der Natur- und Kulturwissenschaften nutzt und ihre Grenzen spekulativ überschreitet. Sie stützt sich einerseits auf (System)theorien der Selbstorganisation und Evolution der Natur und darin der Kultur, auf Theorien kultureller Entwicklung und Geschichtsphilosophie und in diesem Rahmen insbesondere auf die Kultur- und Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule und ihre kritische Rekonstruktion praktischer Vernunft bis hin zur westlichen Moderne und zur Krisentheorie des Kapitalismus, die heute aktueller denn je erscheint. Die argumentationsleitende Hypothese ist, dass in einer Verbindung von Evolutions-, Systemtheorie und kritischer Geschichtsphilosphie, in der Verknüpfung einer Rekonstruktion der werdenden „Grammatik“ westlicher Kultur mit einer narrativen (notwendig nur skizzenhaften und exemplarischen) Vergegenwärtigung ihrer Eigengeschichte Erkenntnisse gewonnen und regulative Ideen begründet werden können, die mit Blick auf zukünftige Viabilität und Mitgestaltung Europas neue Perspektiven und Wege eröffnen. 2) Im Rahmen der hier versuchten Rekonstruktion kultureller Evolution wird nicht behauptet, dass diese insgesamt einer Logik der Höherentwicklung folgt oder gar in der westlichen Kultur kulminiert. Vielmehr soll gezeigt werden, dass in der Vielfalt und Verflechtung von Entwicklungspfaden, deren Komplexität und Verlauf wohl nie hinreichend angemessen modelliert werden können, auch solche aufzuspüren sind, die sich als Ausdifferenzierungen eines „systemisch Guten“ und einer „werdenden Vernunft“ wie auch eines „systemisch Bösen“ und einer „beharrenden Unvernunft“ rekonstruieren lassen. Das gilt generell für die kulturelle Evolution und in diesem Rahmen auch und in spezifischen Ausprägungen für den sog. westlichen Pfad. Kurz gesagt: Die „werdende Vernunft“ und die „beharrende Unvernunft“ der kulturellen und darin der westlichen Lebensform sollen mit gleicher Aufmerksamkeit rekonstruiert und „gewürdigt“ werden – auch um mit Blick auf die Zukunft den Gefahren eines naiven Optimismus wie eines apokalyptischen Pessimismus, der sich derzeit zu verbreiten scheint, zu entgehen und „Auswege“ (Giorgio Agamben) sichtbar zu machen. Es handelt sich also um eine Modellierung in praktischer Absicht: Was hier über Kultur und westliche Kultur herausgearbeitet wird, soll dazu beitragen, den westlichen Pfad mit Blick auf seine Errungenschaften, aber auch auf seinen Korrekturbedarf klarer erkennbar zu machen, um insbesondere den Europäern und der europäischen Politik Orientierungshilfe zu geben – und zwar auch mit Blick auf die Möglichkeiten, sich als ein werdendes „europäisches Wir“ in ein vielleicht einmal werdendes „globales Wir“ einzufügen und dieses verantwortungsbewusst mitzugestalten. Die folgende Darstellung behandelt ihre komplexe Thematik auf drei Ebenen. In einer Lektüre, die sich auf Vorwort und Einleitung sowie auf die Zwischenbilanzen, die Zusammenfassungen und das Fazit beschränkt, sollten Voraussetzungen und Kernthesen der Argumentation für Leser mit knapper Zeit nachvollziehbar werden. Für ein genaueres Verständnis kann man sich auf die skizzierten Eigengeschichten kultureller Form- und Landschaftsbildung und die Rekonstruktion der darin eingebetteten Evolution und Ausdifferenzierung westlicher Systemarchitektur einlassen. Schließlich finden Leser, die darüber hinaus an den einbezogenen Quellen und an den hier berücksichtigten natur-, kulturwissenschaftlichen und philosophischen Theorien Interesse haben, viele Hinweise und Auszüge in den Anmerkungen und in der Literaturliste. Joachim Rossbroich November 2019

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Einleitung: Auf der Suche nach Europa „Der derzeit am wenigsten bekannte Kontinent ist Europa im Übergang, von dem nur die Strategen in ihrer Einbildung wissen, was es ist.“ (Karl Schlögel) Europa erscheint heute in vieler Hinsicht als ein Gebilde mit unscharfen Konturen. Das betrifft die Geschichte: Wann und wo beginnt Europa? Gibt es überhaupt eine Geschichte und Kultur, eine historisch gewachsene Identität Europas? Die geographischen Grenzen: Was hat dazu gehört und was soll in Zukunft dazugehören? Es betrifft Umfang und Tiefe bereits verwirklichter und angestrebter Integration: Wertegemeinschaft, Wirtschaftsgemeinschaft, Währungsunion, Bankenunion, Fiskalunion, Stabilitätsbund, politische Union, Staatenbund, Föderation, Bundesstaat – oder doch nur „eine stabil gefügte politische Vertragsgemeinschaft“ (Udo die Fabio)? Und schließlich die Geschwindigkeit: Wann und in welchen Entwicklungsschritten soll Europa von einem, (welchem?) Kerneuropa ausgehend sich zusammenfügen? Der europäische Integrationsprozess konnte zwar zunächst den traditionellen Nationalismus und Regionalismus und seine Ausdrucksformen wie Chauvinismus und Militarismus, Fremden- und Nachbarnhass, Rivalität und „Erbfeindschaften“ in Europa zurückdrängen, erzeugt aber nun, in Kombination transnationaler Hilfeleistungen mit Spar-, Reformdruck und Disziplinierung, durch politisch gewollte Angleichung und wechselseitige Abhängigkeit, durch entsprechende Forderungen nach Transformationen und Reformen in den Nationalstaaten neue Spannungen, Divergenzen und Konflikte bis hin zu Europaüberdruss, ‑feindlichkeit und Bereitschaft zum Austritt aus der europäischen Gemeinschaft. Hinzu kommen die aktuellen und die bevorstehenden Migrationsschübe vor allem aus Afrika, die große Herausforderungen an Solidarität und Integrationsleistung Europas stellen, Verunsicherungen und Ängste bei vielen Bürgern erzeugen und, geschürt von Populisten, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit wieder erstarken lassen. Und ausgerechnet der Euro, der von den Gründungsvätern als Krönung bisheriger und als Hebel zukünftiger europäischer Integration gedacht war, hat sich auch als „Spaltpilz“ erwiesen, weil bislang die Voraussetzungen seines guten Funktionierens, nämlich eine angemessene Integration der Wirtschafts- und Sozialpolitiken, der Finanz- und Fiskalpolitiken der europäischen Nationalstaaten sowie eine europäische Haftungsunion nur unzureichend entwickelt sind. 3) Insofern sind Europa und der europäische Binnenmarkt sowohl wirtschaftlich wie politisch eine halbfertige Union, die aber nicht zurück abgewickelt, sondern vorwärts weiterentwickelt werden sollte. Die in der Finanzkrise erkennbar gewordenen Konstruktionsfehler der Währungsunion und die wieder aufgebrochenen Legitimationsprobleme der EU sind nur durch eine „differenzierte Integration“ (Fritz Scharpf) und mehr Solidarität der europäischen Nationen zu bewältigen, was aber gegenwärtig durch mangelndes Geschichts-, Gesellschafts- und Wirtschaftsverständnis, durch egoistische Kalküle und populistisch- nationalistische Strategien in manchen Mitgliedsstaaten nahezu blockiert scheint. 4) Was also könnte Europa sein bzw. werden – und zwar jenseits der wenig sympathischen Alternative zwischen bloßem Wirtschaftsbündnis und möglichem Superstaat? Beobachtet man die gegenwärtige Entwicklung, so hat man den Eindruck, dass es sich um ein werdendes Gebilde handelt, das schwer definierbar ist, einerseits zwar durch viele Irritationen, Konflikte, Krisen und Rückschritte geprägt und vom Zerfall bedroht ist, andererseits aber auch (immer noch) die Chance bietet, etwas historisch Neues und Zukunftsfähiges entstehen zu lassen. 11

Europa scheint heute mehr Prozess als Struktur, mehr dynamische Vernetzung als statische Ordnung, eher ein fluktuierendes Gebilde und ein Möglichkeitsraum zu sein, in dem neuartige Balancen zwischen „Öffnung“ und „Schließung“ kultureller Ordnungsbildung, zwischen Integration und Autonomie der Nationalstaaten und Volkswirtschaften und zwischen Zentralität und Rahmensetzung einerseits und Föderalismus und Subsidiarität politischer Steuerung andererseits gesucht und gefunden werden können. Das kann aber nur gelingen, wenn die Akteure und Mitgestalter der politischen Mitte dafür genügend historische Übersicht und Bildung, Wagemut und reflektierten Pragmatismus, strategische Flexibilität und Geduld aufbringen, um die Ansprüche und Souveränitäten der Nationen in einem Europa der geteilten Souveränitäten zu integrieren  –  anstatt Fronten zwischen Ideologisierung und „Sakralisierung Europas“ und des Euros einerseits und nationalistischer Ablehnung des Integrationsprozesses andererseits wie auch zwischen einer „Sakralisierung von Diversität auf der Linken und der Sehnsucht nach Homogenität auf der Rechten“ (Andreas Roedder) aufzubauen. 5)

Europas Wurzeln: Eigengeschichte und Eigenlogik des europäischen Weges Wie für alle natürlichen und kulturellen Entwicklungen lässt sich auch mit Blick auf den Entwicklungspfad Europas zwischen Eigengeschichte und Eigenlogik unterscheiden. Eine Eigengeschichte Europas könnte den europäischen Weg von seinen Anfängen bis zur heutigen westlichen Kultur nacherzählen. Beispielsweise beginnend mit ihrer Vorgeschichte: den Wurzeln politischer Ordnung in der Entstehung von Sesshaftigkeit und Landwirtschaft über die Entstehung des Patriarchats aus frühen matriarchalen Kulturen zu den Schrift- und Hochkulturen Kleinasiens und Ägyptens und den Ursprüngen von Staat und Bürokratie, weiter zur jüdischen Frühgeschichte und zur Entstehung des Monotheismus. Und anschließend zu den Wurzeln demokratischer Steuerung und diskursiver Verständigung, der Individuierung und der Entfaltung von Subjektivität in der griechischen polis und zu den Voraussetzungen moderner, weltobjektivierender Wissenschaft, Technologie und Naturbeherrschung in der griechischen Kosmologie. Schließlich gehören zu Europas Eigengeschichte die Entwicklung der römischen Republik, die hier entstandenen Vorläufer des modernen Rechtsstaats, das neutestamentarische Christentum und die Entwicklung der katholischen Kirche und des Christentums als Staatsreligion bis zum Reich Karls des Großen und darüber hinaus. Eine weitere Wurzel Europas ist die religiöse und weltliche Praxis der christlichen Mönchsorden (ora et labora), ihre Aneignung, Nutzung und Weiterentwicklung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Wissens aus dem Orient und ihre Besiedlung Mitteleuropas zu Beginn des zurückliegenden Jahrtausends, dann die teildemokratische Organisation und Marktökonomie der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Stadtstaaten und die hier entstehenden Schlüsseltechnologien. Von hier aus kann man weiter gehen zum Humanismus, zur Renaissance und zur Reformation, zum Buchdruck und zur Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit, der neuzeitlichen Kunst, der Weiterentwicklung der Naturwissenschaften, der Philosophie der Aufklärung, der Staatstheorien und der Ökonomie. Damit verbunden sind die Ablösung der religiösen durch weltliche Ordnung, die politischen und industriellen Revolutionen und die Bildung von Nationen als „Gefäße“, in den sich neue Schlüsseltechnologien und der Handels-, Produktions- und Finanzkapitalismus entwickeln konnten. 6) In diesem (in seiner Komplexität wohl grundsätzlich nicht angemessen nachvollziehbaren) Entwicklungspfad Europas hat sich die Eigenlogik oder auch „Grammatik“ westlicher Kultur herausgebildet und ausdifferenziert. Gemeint sind Konstruktionsregeln westlicher Kultur, vor allem der Gemeinschafts- und der Gesellschaftsbildung sowie der technischen Naturnutzung, die zwar aus allgemeinen Konstruktionsregeln 12

kultureller Lebensformen evolutionär hervorgegangen sind, sich aber in Europa spezifisch ausdifferenziert und verflochten haben und eine wohl einmalige Systemarchitektur bilden. Beide Seiten der Entwicklung Europas – Eigengeschichte und Systemevolution – bedingen sich gegenseitig, sind also zirkulär gekoppelt: In der europäischen Geschichte, in der Dynamik, Vielfalt und Wechselwirkung ihrer phänotypischen Landschaftsbildungen ist diese „Grammatik“ westlicher Kultur „erstarrt“, hat sich weiter ausdifferenziert und die weitere Eigengeschichte, die Form- und Landschaftsbildung Europas und darüber hinaus der westlichen Welt in bestimmte Entwicklungskorridore getrieben. Die folgende Darstellung legt ihren Schwerpunkt auf die Systemevolution und ‑differenzierung im Rahmen der (hier nur grob und exemplarisch skizzierbaren) Eigengeschichte Europas. Europa wird hier weniger als ein sich geographisch, ethnisch, kulturell und nationalstaatlich formendes Territorium, sondern vor allem als evolutionäre Ausdifferenzierung eines einmaligen „Flechtmusters“ von Systemen verstanden, das mit Blick auf die Zukunft mitgestaltet, also erhalten und gepflegt, aber auch kritisch überprüft und in seiner weiteren Ausdifferenzierung beeinflusst und korrigiert werden könnte und sollte.

Europas Geschichte: ein Laboratorium der offenen Kultur aber auch des Nationalismus und Totalitarismus Die besonderen geographischen Gegebenheiten und die kulturellen und territorialen Differenzierungen Europas, insbesondere die Vielfalt verschiedenster Kulturen, Nationen, Weltbilder und Mentalitäten auf relativ engem Raum haben die Geschichte Europas positiv und negativ beeinflusst. Der europäische und später sog. westliche Entwicklungspfad (bis hin zur Verwestlichung der Welt), in dem sich heute der europäische wieder als ein besonderer Pfad abzeichnet, scheint (mehr als die Entwicklung außereuropäischer Hochkulturen) durch Grenzüberschreitungen im zweifachen Sinne geprägt zu sein. Wir sehen hier einerseits eine kulturelle, ethnische und nationale Grenzen überschreitende kommunikative Vernetzung und Öffentlichkeit, eine explosive Entwicklung der Wissenschaften bis hin zur heute globalisierten scientific community, der Naturnutzung und der Werkzeug- und Medientechnologien, der modernen Gesellschaft und der Entfaltung des Menschen und seiner Individualität in Gemeinschaftsbildungen. Hier bildeten Vielfalt, Unterschiede und Gegensätze in Europa, wo sie zunächst über die Gemeinsamkeit der lateinischen Sprache, später über Druckmedien, Öffentlichkeit und Dialog, über Handel und Märkte sich gegenseitig durchdrangen und vermischten, immer auch den Nährboden für „weiche Grenzziehungen“. Die Fähigkeit und Bereitschaft der europäischen Völker zur Balance von „Öffnung“ und „Schließung“ in „weichen Grenzziehungen“ hat eine Co-Evolution des Fühlens und Denkens, der Mentalitäten und Lebensformen, der sozialen Kreativität, technischer Innovation und großer künstlerischer und wissenschaftlicher Leistungen hervorgebracht, die heute auch als Ressourcen und Potentiale europäischer Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung verstanden und genutzt werden können. 7) Andererseits ist europäische Geschichte aber auch durch eine maßlose Eskalation der Konfrontationen und gewalttätigen Konflikte, der logozentrischen und ideologischen „Engführung“ von Erkenntnis und Wissen, der Glaubenskriege und der Unterwerfung und Vernichtung von Menschen, Völkern und Kulturen geprägt. Hier wurden Unterschiede und divergierende Interessen in enger Nähe und Nachbarschaft oft als unversöhnbare Gegensätze interpretiert und haben immer wieder „harte Grenzziehungen“ der Nationalstaaten und der Nationalismen, Feindseligkeit und Hass, aggressive territoriale Aneignungen, Kriege und Massenvernichtung nahezu als Dauerzustand begünstigt. Die „Licht- “ und die „Schattenseite“ des europäischen Weges und der westlichen Kultur bilden zwei Seiten einer Münze, die einerseits durch ein „systemisch Gutes“ und andererseits durch ein „systemisch Böses“ geprägt scheint. 13

Die „Lichtseite“ des europäischen Wegs und das „systemisch Gute“ in der westlichen Kultur Die europäische Integration ist nicht eine Erfindung der EU, sondern diese ist die aktuelle Ausdrucksform eines langfristigen Prozesses der kulturellen Beziehungen und der Entwicklung eines Gemeinsamen durch Verschiedenheit, Differenzen und Konflikte hindurch: einer geistigen „Landschaftsbildung“ Europas, die weit in die Vergangenheit zurückreicht, und die europäische Gegenwart prägt, hier auch eine in mancher Hinsicht bereits „funktionierende Europäizität“ (Karl Schlögel) gestiftet hat. 8) Dazu gehören heute Errungenschaften wie die Freizügigkeit innerhalb der EU und der europäische Binnenmarkt, der Schutz der Bürgerrechte durch den europäischen Gerichtshof und die europarechtlich begründete Wettbewerbsaufsicht und Regulation wie auch die Bankenaufsicht. Schließlich hat Europa zumindest Ansätze einer gemeinsamen Umweltpolitik entwickelt und einige europäische Nationalstaaten verbindet ein Engagement für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz im Ausland. Auch wenn es noch keine kohärente europäische Außenpolitik gibt, haben einige europäische Politiker im besonderen Maße Fähigkeiten zur „weichen Grenzziehung“ entwickelt, weshalb sie weltweit als Diplomaten, Mediatoren und Vermittler in Konflikten gefragt sind. Heute kann die weitere Mit- und Ausgestaltung „offener Kultur“ in lernenden Organisationen und „weichen Grenzziehungen“ den Kern einer zukünftigen europäischen Entwicklungspolitik ausmachen, die ihre geistige, ethische und politische Kraft und Legitimation auch aus einer evolutionären und historischen Rekonstruktion und reflexiven Vergegenwärtigung dieser „systemisch guten“ Errungenschaften des westlichen Pfads ziehen könnte. 9) Das kann aber nur gelingen, wenn auch die „Schattenseite“ des europäischen Wegs und das „systemisch Böse“ in der Grammatik westlicher Kultur selbstkritisch erinnert, thematisiert und bearbeitet werden.

Die „Schattenseite“ des europäischen Weges und das „systemisch Böse“ in der westlichen Kultur „Was die Vergangenheit betrifft, darf die Tragödie der Konstellationen, aus denen manchmal das Bessere erwuchs, nicht in Vergessenheit geraten – die schrecklichen Verluste eben, die auch durch schöpferische Auswege aus Katastrophen nicht rückwirkend gerechtfertigt sind. Und was die Zukunft betrifft, darf nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts keine Beruhigung eintreten, als habe man nun den Schlüssel für dauerhaften Frieden und soziale Stabilität gefunden. Selbst noch die plausibelste Friedenskonzeption muß immer wieder daraufhin befragt werden, ob sie noch der Wirklichkeit gerecht wird und nicht ein falsches Vertrauen in die geschichtliche Sicherung friedlicher Verhältnisse erzeugt.“ (Hans Joas) Europa war auch ein Laboratorium der Konfrontation und des Imperialismus, in dem die „harten Grenzziehungen“ von Herrschaftspolitik und Territorialismus, das Hegemoniestreben von Dynastien, Kaisern und Königen, später der Nationalstaaten, Regionen und Ethnien mit wechselnden Freund-Feind-Konstellationen und Feindbildkonstruktionen die europäische Geschichte prägten. Die Geschichte der kulturellen Lebensform und darin die der westlichen Kultur lassen sich auch als eine Kette des Misslingens einer Balance von „Öffnung“ und „Schließung“, der eruptiven und organisierten Gewalt und des Massenmords, der Unterdrückung und Vernichtung innerhalb Europas und der imperialen 14

Aneignung außereuropäischer Kulturen und Regionen, der kolonialen Unterwerfung, Ausbeutung und Vernichtung anderer Völker rund um die Welt lesen. Diese „Blutspur“ kultureller Lebensformen lässt sich zurück verfolgen bis zu den Männerhorden der Frühkulturen und ist mit den hochkulturellen Eroberungszügen, Reichsgründungen und ‑expansionen immer breiter geworden – von den Assyrern, Römern und Persern bis zu den Mongolen, über gewaltsame Christianisierung und Glaubenskriege zwischen Christen, zwischen diesen und Muslimen und unter diesen, über die Vernichtung der Kulturen Südamerikas und der Indianer Nordamerikas, die Kolonialisierung Afrikas, den millionenfachen Tod der Afrikaner und ihre Versklavung von fast 13 Millionen in Nordamerika. 10) Jahrtausende war auch die europäische Geschichte von (Glaubens)kriegen der Herrscher bestimmt, die die Völker ohne deren Zustimmung opferten, bis die Kriege zwischen den Nationalstaaten, die die Völker mobilisierten und sich auf Nationalismus und Massenloyalität stützten, an ihre Stelle traten. Dazu gehörten vor allem die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die bislang größten Kriege, Massaker und gewaltsamen Vertreibungen in der Geschichte der Menschheit, die durch Nutzung der bis dahin entwickelten Technologien mehr als 60 Millionen Menschen den Tod brachten. Und einen kaum noch fassbaren Höhepunkt erreichte die organisierte Gewalt mit der Bürokratisierung und Industrialisierung des Mordens im Nationalsozialismus. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde durch den „kalten Krieg“ der kapitalistischen und marxistischen Gesellschaftsideologien und ihre weltweiten Stellvertreterkriege geprägt – ein Konflikt, der vermutlich nur durch atomare overkill-Kapazität und durch den (von Gorbatschow hellsichtig eingeleiteten) Zusammenbruch der Sowjetunion nicht zum globalen Desaster geführt hat. Auch wenn Marktwirtschaft und Liberalismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, (wie auch in diesem Buch begründet werden soll), „in the long run“ der westlichen Kultur einen evolutionären Vorteil bringen und ihrer Viabilität dienen, waren ihre Siege über die totalitären Systeme des Faschismus und später des Kommunismus nicht zwangsläufig und erwartbar, sondern glückliche Wendungen in der Menschheitsgeschichte und im westlichen Pfad. 11) Aber das bedeutet nicht, dass diese Siege und ihre Errungenschaften irreversibel sind. Heute sind die westlichen und hier auch die europäischen Demokratien und Rechtsstaaten mehrfach bedroht: im Innern durch nationalistische Kräfte und Bewegungen, die teilweise bereits die politische Macht übernommen haben (z. B. in der Türkei, in Polen und Ungarn), teilweise sich derzeit (z. B. in den USA, England, Frankreich, Deutschland u. a.) neu formieren und an Einfluss und Macht gewinnen. Hinzu kommt eine Bedrohung durch den in Putin-Russland wiedererwachenden Nationalismus und territorialen Imperialismus. Hier entsteht eine neue, eher post-demokratische und technokratische Ausprägung nationaler governance, die unter Putins Führung im Innern durch traditionelles, religiös gestütztes Patriarchat, durch Nationalismus, Autoritarismus und Selbststilisierung zum (potentiellen) Opfer des Westens geprägt ist. 12) Außenpolitisch scheint sich der „Putinismus“ an einem geschichtlich überholten Verständnis von Souveränität zu orientieren, demzufolge es keine geteilten Souveränitäten und „win-winSpiele“, sondern nur Gewinner und Verlierer geben kann. Entsprechend aktualisieren Putin und sein Team in sog. „hybrider Kriegsführung“ den geo-strategischen Imperialismus und die Strategie des kalten Krieges, nämlich die Destabilisierung und Kontrolle bis hin zur Unterwerfung von Nationen durch Unterstützung von Separatisten und durch Stellvertreterkriege – ein Rückfall, der auch durch falsche, ausgrenzende und russische Interessen missachtende EU- und NATO-Taktiken provoziert wurde. Mit Blick auf die Zukunft besteht hier die Gefahr einer Abwärtsspirale in den Beziehungen zwischen Putin-Russland und Europa bis hin zur Neuauflage eines kalten Krieges, wobei Trump-Amerika eine verstärkende Rolle spielen könnte. 13) Eine weitere Quelle der Destabilisierung Europas bilden das Scheitern von Staatenbildung und Modernisierung in unmittelbarer Nachbarschaft, die vielfältigen Konflikte und Kriege im Nahen Osten und in Afrika, die auch als Folge kolonialer und post-kolonialer „harter Grenzziehungen“, von diktatorischen Regimen, durch Unterdrückung von Minderheiten, in Gestalt (auch religiös sich legitimierender) ethnischer 15

Säuberungen und Siedlungspolitiken geführt werden, viele Menschenleben kosten und zu millionenfacher Migration führen. Schließlich kommt die Konfrontation mit einem in vielen Teilen der Welt entstandenen politischen Fundamentalismus hinzu, der sich aus einem variierten Gemisch aus Armut, Verarmung, Ausgrenzung und sozialer Entwurzelung (insbesondere junger Männer), ethnischer Identitätssuche, religiösem Fanatismus und seiner politischen Instrumentalisierung durch antiwestliche Kräfte nährt. Dieser Fundamentalismus hat zweifellos eigene Wurzeln in verschiedenen Ausprägungen des traditionalen, religiösen und moralischen Patriarchats, wird aber auch durch eine westliche Mischung geistiger und ethischer Verwahrlosung mit wirtschaftlicher, politischer und militärischer Machtausübung provoziert und in Anteilen „genährt“. Aber Europa ist nicht nur durch das wieder erstarkende religiöse und politische Patriarchat im globalen Umfeld und in Ansätzen auch in seinem Inneren, sondern auch durch ein wirtschaftliches und technokratisches Patriarchat bedroht: durch einen unzureichend domestizierten Kapitalismus, der nicht nur für die o.g. ethische Verwahrlosung, sondern auch für Destabilisierung und viele Konflikte rund um die Welt zumindest mitverantwortlich ist und die westlichen und sich verwestlichenden Gesellschaften von einer Wirtschaftskrise in die nächste „stolpern“ lässt. Dabei wird die ideologische und militärische Durchsetzung des globalen Ordnungs- und geopolitischen Gestaltungsanspruchs des Westens immer schwieriger, kostet weiter viele Opfer und gerät – auch infolge des Bekanntwerdens nicht demokratisch legitimierter Aktionen, Überwachungs- und Kontrollpraktiken, von Terror-, Folterpraktiken, Drohneneinsätzen u. a – zunehmend unter Legitimationsdruck. Auch deshalb und vorgegeben durch die Taktik der Gegner 14) wird dieser neue globale Krieg schon jetzt und in Zukunft immer mehr unterirdisch, von Geheimdiensten und ihren gut bezahlten (und auch deshalb an einer Beendung dieser Konflikte wenig interessierten) Söldnerorganisationen, mit stillschweigendem Einverständnis wachsender Anteile einer sicherheitsbedürftigen Bevölkerung und zunehmend in Missachtung demokratischer Kontrolle geführt. Unter diesen mehrfachen Bedrohungen könnten wir auch am Anfang einer Wiederkehr der „harten Grenzziehungen“ stehen, die eine ängstliche „Panzerung“ nach außen mit einer inneren – mentalen und ethischen, rechtlichen und verfahrenstechnischen – Entdifferenzierung und Entdemokratisierung des Westens verbindet. 15) In dieser vielschichtigen Konstellation tragen die westlichen Industrienationen und damit auch Europa fast immer eine mehr oder weniger ausgeprägte Mitschuld und Mitverantwortung. Deshalb kann ein Denken, das gebannt wie das Kaninchen durch die Schlange nur auf die Gegenseite schaut und hier die Aktion und die Gewalt verortet, auf die „wir“ reagieren müssen, die drohende Entdifferenzierung westlicher Kultur nur beschleunigen. Wer das „systemisch Gute“ und die „werdende Vernunft“ der westlichen Kultur in Europa und darüber hinaus (an)erkennen und erhalten, pflegen und mitgestalten will, darf nicht die Augen vor der Latenz und Präsenz des „systemisch Bösen“, der geistigen und strukturellen, der organisierten und eruptiven Gewalt auch im westlichen Pfad verschließen.

Geistige, strukturelle und organisierte Gewalt „Nur wer die Vergangenheit als Ausgeburt des Zwanges und der Not zu betrachten wüsste, der wäre fähig, sie in jeder Gegenwart aufs höchste für sich wert zu machen. Denn was einer lebte, ist bestenfalls der schönen Figur vergleichbar, der auf Transporten alle Glieder abgeschlagen wurden und die nun nichts als den kostbaren Block abgibt, aus dem er das Bild seiner Zukunft zu hauen hat.“ (Walter Benjamin) 16

Worin ist die „Schattenseite“ des westlichen Weges bis heute begründet, wo liegen die Ursachen und Ursprünge der ökologischen, der sozialen und mentalen Katastrophen und der Blutspuren, die er bis heute durch die Weltgeschichte zieht und ohne deren Einbezug jede Vergewisserung seiner Eigenlogik und Eigengeschichte zu kurz greifen würde? Die Kontinuität der strukturellen Gewalt sozialer Unterdrückung und der organisierten Gewalt militärischer Zerstörung in der Entwicklung der Kultur und darin der westlichen Kultur ist weder als Folge von „Betriebsunfällen“ des Fortschritts, etwa als Eruptionen egoistischer und (selbst)destruktiver menschlicher Natur noch als bloße Durchsetzung partikularer, ökonomischer und politischer Interessen hinreichend zu verstehen. Eher scheint es sich um eine „geistige Errungenschaft“ zu handeln, die sich bis heute immer wieder durchsetzt und sich auch in Zukunft erhalten, reproduzieren und weiter steigern könnte. Im Entwicklungspfad der Kultur und darin des europäischen und westlichen Weges hat sich nicht nur eine „Grammatik des Guten“, sondern auch eine „Grammatik des Bösen“ ausdifferenziert, die bis heute die vielfältigen Formbildungen struktureller und organisierter Gewalt generiert. Eine These, die in diesem Buch genauer entwickelt und begründet wird, lautet, dass die vielfältigen Ausprägungen des „Misslingens“ durch strukturelle und organisierte Gewalt in der menschlichen Kultur wie auch im westlichen Entwicklungspfad mit der Entstehung und evolutionären Ausdifferenzierung geistiger Gewalt in logozentrischen Glaubenspraktiken verbunden sind. Eine von logozentrischen, religiösen wie auch post-religiösen Glaubenspraktiken strukturierte Selbstbeobachtung der Kultur stellt eine geistige Gewalt dar, die – von Angst und Sicherheitsbedürfnissen, Kontingenzvermeidung und patriarchalen Souveränitätsansprüchen getrieben – die kulturelle Lebensform in abstrakte (religiöse und post-religiöse) Deutungsmuster und Ordnungsentwürfe zwingen will. Sie verzerrt die Alltagspraktiken – der Gemeinschafts-, Gesellschaftsbildung und der Technik –, verkürzt mit ihren Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten auch ihre Entwicklungsmöglichkeiten, verdrängt ihre implizit ethischen Gehalte, unterdrückt die intuitive Sittlichkeit der Menschen und orientiert und legitimiert die vielfältigen Ausprägungen von struktureller und organisierter Gewalt in der Kultur und auch in der westlichen Kultur. Geistige Gewalt gehört zur kulturellen Grammatik, die vielfältige phänotypische Ausprägungen struktureller und organisierter Gewalt generiert, legitimiert, häufig sogar sakralisiert und sich durch diese Ausprägungen erhält, reproduziert und weiter ausdifferenziert. Weil sie durch beide Grammatiken strukturiert sind, „mäandern“ die Entwicklungspfade menschlicher Lebensformen und darin auch der Pfad der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen zwischen gelingender Balance von Öffnung und Schließung in „weichen“ und ihrem Misslingen in „harten Grenzziehungen“: zwischen Offenheit, Lernfähigkeit und Selbstkorrektur, Verständigungs- und Friedensbereitschaft einerseits und Dogmatismus und Pauschalisierung, Ausgrenzungs- und Gewaltbereitschaft andererseits. Heute verläuft die Trennungslinie zwischen den mentalen und intellektuellen, zivilgesellschaftlichen und institutionellen Potentialen und Kräften für Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit, für Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen und Völker einerseits und der Durchsetzung einer reaktionären Internationale, der geistigen, strukturellen und organisierten Gewalt andererseits nicht zwischen einem „freien“ Westen und anderen „unfreien“ Kulturen, sondern quer durch die traditionalen sowie die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen. Mit Niklas Luhmann ausgedrückt: „Alles ist besser und schlimmer geworden.“ Das gilt auch für Europa.

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Europas Zukunft: Mitläufer oder Mitgestalter der Globalisierung? „Wenn im Westen das atlantische Bündnis zerfällt, im Osten ein mafiöses Russland Großmacht spielt, im Orient ein Land nach dem anderen in Krieg und Chaos versinkt, in Asien ein autoritäres China zur führenden Weltmacht aufsteigt und im Himmel der Klimawandel erst richtig Fahrt aufnimmt – spätestens dann werden wir uns in unserer beschaulichen Heimat, die wir neuerdings wieder so sehr schätzen, ziemlich verloren vorkommen.“ (Navid Kermani) Heute wird die geschichtliche Form- und Identitätsbildung Europas auch durch den Zwang zu einer ökonomischen und politischen Integration unter dem Druck der Globalisierung der Märkte und Finanzmärkte bestimmt. Diese bilden Kern und Motor der Globalisierung eines westlichen Systems, dessen Siegeszug zwar einmal von Europa ausging, aber nun auch Europa unter Anpassungsdruck setzt. Insofern kann man hier auch von einer „Provinzialisierung Europas“ (Dipesh Chakrabarty) sprechen. 16) Diese vollzieht sich nicht nur quantitativ, als Rückgang des europäischen Anteils an der Weltbevölkerung von 25% zu Beginn es 20. Jahrhunderts auf voraussichtlich nur noch 5% am Ende des 21. Jahrhunderts, sondern auch qualitativ. Die Globalisierung kapitalistischer Ökonomie entkräftet nicht nur identitätsverbürgende Traditionen und traditionale Loyalitäten wie Religion, Nation, Region und Gemeinschaft, sondern setzt auch zunehmend die Errungenschaften der offenen Kultur in Europa, öffentliche Verständigung, Orientierungsfindung und Meinungsbildung, demokratische Steuerung und rechtsstaatliche Strukturen, die soziale Marktwirtschaft und den Sozialstaat unter Druck. So könnte sich die post-nationale Gesellschaft, die heute auch in Europa an Konturen gewinnt, nicht nur von traditionalen Loyalitäten und Lebensformen, sondern in Zukunft auch von modernen Errungenschaften und Ansprüchen der offenen Kultur und der Demokratie, die in Europa geboren und befestigt wurden, wieder verabschieden. Auch deshalb reicht es nicht, die Entwicklung zur europäischen Einheit aus der Binnenperspektive einer europäischen Vergangenheit zu betrachten und darauf zu vertrauen, wir könnten in Zukunft ihr negatives Erbe überwinden und die positiven Errungenschaften wie auf einer Insel erhalten und ausbauen. Der Blick auf Europas Entwicklung von „innen“ und aus Sicht der Vergangenheit muss durch eine Perspektive ergänzt werden, die den europäischen Integrationsprozeß „von außen“ und von der Zukunft her zu verstehen sucht: als Teilsystem innerhalb eines sich globalisierenden westlichen Systems, als Ausdifferenzierung eines Wirtschaftsblocks innerhalb einer sich formierenden Weltökonomie mit Wirtschaftsblöcken und Freihandelszonen, als politische Macht innerhalb einer neuen weltpolitischen Machtkonstellation, in der u. a. die Führungsrolle sich von Westen nach Osten verlagert und die USA als Hegemoniemacht von China abgelöst werden. Europa wird heute auch durch eine „Regionalisierung von oben“ geformt, eine Regionalisierung im Rahmen der Globalisierung eines in mancher Hinsicht „post-europäisch“ gewordenen, vom angelsächsischen Kapitalismus und Neo-Liberalismus dominierten westlichen Systems, das tendenziell alle Weltregionen unter Veränderungsdruck setzt und hier „Inseln“ der Verwestlichung hervorbringt, die sich zu einem Archipel industrieller und post-industrieller Wachstumszonen zusammenfügen. Diese Entwicklung ist bekanntlich durch Reibungen und Konflikte geprägt, die teils aufgrund der Ungleichzeitigkeiten der kulturellen, sozialen und politischen Entwicklungen und Gegebenheiten jeweils vor Ort – z. B. traditionale Loyalitäten und patriarchale Strukturen, fundamentalistische Weltbilder, korrupte Regime, Tribalismus, Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung in Schwellen- und Entwicklungsländern – entstehen. Darüber hinaus gerät das westliche System aber auch von innen heraus – durch technokratisch und ökonomistisch verkürzte Politik und Bildungspolitik, durch unzureichend regulierte Markt- und Finanzdyna18

mik und durch Fixierung auf Konsumismus und neo-liberale Weltbilder – in eine zunehmend tiefer gehende Krise und Destabilisierung. Dazu gehören: • Die Unfähigkeit, einen europäischen und globalen Kurswechsel mit Blick auf die Vernutzung und Zerstörung natürlicher Ressourcen und die darin begründeten Existenzgefährdungen für die Menschheit nicht nur zu beschwören, sondern auch zu verwirklichen. • Ferner eine wachsende Polarisierung in der Verteilung von Arbeit, Einkommen und Wissen in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen,- wobei die zögerlichen Reaktionen, dagegen wirtschaftlich, politisch und bildungspolitisch etwas zu tun, hier verschiedene Spielarten eines anti-westlichen linksorientierten, mehr aber noch eines rechten Fundamentalismus und Populismus hervorgebracht haben, die sich als Anwälte der Globalisierungsgegner und ‑verlierer profilieren. • Hinzu kommen die sich verschärfenden interkulturellen Konflikte und die spiralförmige Eskalation von Gewalt und Gegengewalt zwischen westlichem Wirtschaftsfundamentalismus und dem moralischen Fundamentalismus der Islamisten, der sich, wenn auch inzwischen als Staatsbildung zurückgedrängt, in Zukunft zu einer weltweiten Sammlungsbewegung und globalen Bedrohung entwickeln könnte. • Schließlich sind heute Tendenzen zur Entdemokratisierung und zur Instrumentalisierung von Staat und Recht für die Durchsetzung von Kapitalverwertung und handelspolitischen Zielen in der „Zusammenarbeit“ politischer und wirtschaftlicher Funktionseliten, als „Notstandspolitik in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik“ (Joseph Vogl) erkennbar, die möglicherweise in Zukunft die Existenz der Demokratie und des Rechtsstaats nachhaltiger gefährden könnten als der wieder aufbrechende Nationalismus, Putin-Russland und der IS.  Oder anders ausgedrückt: Die modernen Staaten- und Wirtschaftsbünde werden sich vielleicht in absehbarer Zeit gegen die Rückfälle in Nationalismus, territorialen Imperialismus und Religionskriege durchsetzen, aber die schleichende Entdemokratisierung in ihrem Innern könnte sich trotzdem fortsetzen. • Die Unfähigkeit zu einer europäisch integrierten und humanen Asyl- und Einwanderungspolitik – insbesondere gegenüber den Völkern, für deren heutige Notlagen die Europäer durch Kolonialismus und Ausbeutung und die Amerikaner und Russen durch die Folgen ihrer militärischen Interventionen eine Mitverantwortung tragen. • Eine weitere Bedrohung stellen die Tendenzen zu einer Re-Nuklearisierung von Konflikten dar, die in Europa insbesondere von Russland ausgehen, das gemäß der Militärdoktrin von 2016 einen möglichen Einsatz von Nuklearwaffen schon in einem existenzbedrohenden Krieg mit konventionellen Waffen vorsieht. Darüber hinaus steigen die Risiken nuklearer Konflikte in Asien von Nordkorea, Indien und Pakistan und im Nahen Osten vom Iran ausgehend und sind wohl generell mit einer Absenkung der Schwelle, (kleinere) Atomwaffen einzusetzen, verbunden. Eine Gefahr, die einerseits aus dem Machtvacuum resultiert, das mit Rückzug der USA als globale Abschreckungs- und Ordnungsmacht zu entstehen droht und andererseits von einer dilettantischen und emotionsgetriebenen amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik verstärkt wird. Trotz vielfacher Beschwörungen der Werte westlicher Kultur und der Verdienste einer sozialen Marktwirtschaft ist es bislang nur unzureichend gelungen, einen narrativen, gemeinsamen und zeitgemäßen europäischen Sinn- und Orientierungsrahmen explizit und attraktiv zu machen, der auch religiöse und post-religiöse Ethiken überbrücken und verbinden, zur Überwindung des Neo-Liberalismus und seiner ökonomistisch und technokratisch verkürzten Weltbilder beitragen und eine Politik der Bearbeitung und Bewältigung der o.g. Krisen und Destabilisierungen anleiten könnte. Je mehr sich angesichts dieser großen Herausforderungen die Selbstbeobachtung der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, ihre Legitimation und ihre Zukunftsvorstellungen auf ein neo-liberales Nar19

rativ reduzieren und ein zunehmend sinnentleertes technokratisches Management und „Weiterwursteln“ anleiten, umso mehr wird auch in Reaktion darauf das politische Patriarchat wieder an Boden gewinnen, in seinen zwei Ausprägungen  –  als religiös gestützter Fundamentalismus und als post-religiös gestützter aggressiver Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus bis hin zum Faschismus – sich gegenseitig verstärken und den Fortbestand offener Kultur von außen und von innen auch in Europa bedrohen. Dazu gehört, dass das „Pendeln“ zwischen der Auflösung gesellschaftlicher und staatlicher Ordnungen in Chaos und Gewalt und der dann ersehnten und begrüßten Errichtung neuer autoritärer Ordnungen und totalitärer Regime, das die kulturelle Evolution lange geprägt hat, wiederkehrt und sich global weiterverbreiten könnte. Diese Entwicklung könnte in einer Machtübernahme eines „politwirtschaftlichen Europamanagements“ und schließlich auch – über die transkontinentale Vernetzung der Wirtschaftsblöcke – in einem (durch künstliche Intelligenz gestützten) Globalmanagements münden, das demokratisch kaum noch legitimiert, aber mit Duldung bzw. Zustimmung großer Anteile einer sicherheitsorientierten Bevölkerung die politische Steuerung und Zukunftsgestaltung übernimmt („worst case Zukunftsszenario“). Im Rahmen dieser Dynamik ist eine weitere positive Entwicklung Europas als offene Kultur in Zukunft keineswegs „automatisch“ garantiert. Wie die gesamte westliche und sich verwestlichende Kultur kann auch Europa in Zukunft einerseits zum Raum der vielfältigen „Wiedergeburt“ eines antidemokratischen Nationalismus und Regionalismus, eines weltanschaulichen Provinzialismus und Populismus und andererseits – auch in Reaktion darauf – zu einem vorauseilend gehorsamen Mitläufer in der Globalisierung des o.g. „politwirtschaftlichen“ Managements werden. 17) Die gegenwärtigen Ausprägungen eines „marktkonformen, das heißt auf Finanzmarktimperative zugeschnittenen Exekutivföderalismus“ (Jürgen Habermas) 18) ließen sich dann auch als europäische Variante einer Entdemokratisierung politischer Steuerung verstehen, die dem Beharren und Ausbau eines undemokratischen Staatskapitalismus in China, Russland und anderen Regionen der Welt entgegenkommt. Von zwei Seiten, von einem „nationalen Kommunitarismus“ (Andreas Reckwitz) und anti-liberalen und fremdenfeindlichen Verklärern vorpolitischer kollektiver Identitäten, den Verteidigern der „Volkskörper“, des „Volkswillens“ und des „Volkswohls“, die eine Resubstanzialisierung des Politischen und die Rückkehr zu Nationalkulturen anstreben, einerseits und von den technokratischen Vollziehern vermeintlich alternativloser globaler „Sachzwänge“ der Kapitalverwertung andererseits „in die Zange genommen“, könnten die systemisch guten Errungenschaften des westlichen Pfads, insbesondere bürgerliche Öffentlichkeit und Demokratie sowie der Universalismus des Rechtsstaats und der Menschenrechte auch in Europa wieder erodieren („worst case Szenario“). Die westliche Kultur und Europa könn(t)en aber auch einen Weg der demokratisch gestützten, konstruktiven Bearbeitung dieser Gefährdungen finden, eine gemeinsame offene Kultur erhalten, ihre Systemarchitektur pflegen und weiterentwickeln und ihre Globalisierung verantwortungsbewusst mitgestalten. Sowohl die inneren, sozialen, ökonomischen und Sinnkrisen der westlichen Kultur wie auch die bedrohlichen Zuspitzungen ihrer Beziehungen zur Mitnatur und zu traditionalen Kulturen könn(t)en in lernenden Organisationen – der öffentlichen Selbstbeobachtung, Verständigung und Orientierungsfindung, der politischen Steuerung, der wirtschaftlichen Leistung sowie von Bildung und Wissen – konstruktiv bearbeitet und bewältigt werden („best case Szenario“). Die vielfältigen Wege und Möglichkeiten einer verantwortungsbewussten und zukunftsorientierten Mitgestaltung des europäischen Pfades in lernenden Organisationen sind durch das „systemisch Gute“ in der Grammatik der westlichen Kultur, durch die gelingende Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ in der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung und in (ökologischen) Ansätzen auch in der Technik, grundsätzlich eröffnet. 20

Ein europäischer Weg „Entweder wir humanisieren die Globalisierung oder die Globalisierung enthumanisiert Europa.“ (Giorgios Papandreou) „Zu keiner Zeit beschrieb das normative Projekt des Westens seine Wirklichkeit … Das Projekt war klüger als seine Schöpfer. Seine Geschichte ist auch eine der permanenten Selbstkorrektur oder produktiver Selbstkritik, und als solche ist sie bis heute nicht abgeschlossen.“ (Heinrich August Winkler) Zwar kann man in einem nüchternen Blick zurück und von „innen“ auf europäische Befindlichkeiten die Position vertreten, Europa nicht zu „hoch zu hängen“ und sich mit dem Status einer exekutivlastigen supranationalen, auf Verträgen beruhenden Organisation demokratischer Staaten (zunächst) zufrieden zu geben. Aber von „außen“ und von der Zukunft her betrachtet, werden die „Vereinigten Staaten von Europa“ als eine demokratisch und rechtlich legitimierte sowie weltpolitisch machtvolle Konfiguration gebraucht, um die Errungenschaften der offenen Kultur zu erhalten, zu festigen und zu verteidigen. Unter dem Druck der Globalisierung von Wirtschaft und Finanzmärkten und ihren unerwünschten Nebeneffekten hat sich das Spektrum politischer Weltbilder in Europa verändert: Es reicht von einer neo-liberalen und technokratischen, nahezu bedingungslosen Unterstützung der Globalisierung kapitalistischer Wirtschaft, in deren Rahmen Europa Züge einer „Liberalisierungsverfestigungsmaschine“ (Wolfgang Streek) angenommen hat, über ein breites Mittelfeld mit unterschiedlichen Vorstellungen von einer naturkultur- und sozialverträglichen Europäisierung und Globalisierung bis hin zu einer Gegnerschaft, die sich teilweise in linksradikalen, derzeit aber vor allem in rechtsradikalen, nationalistischen, integrations- und fremdenfeindlichen Bewegungen und Parteien zuspitzt, die von bestimmten, mehr oder weniger „verbohrten“ Mitgliedern der Funktionseliten geführt werden und dabei an Enttäuschungen, Ängste und Empörung von Benachteiligten und Verlierern in den Bevölkerungen anknüpfen und diese instrumentalisieren. Im Rahmen der Europäisierung scheint das traditionelle, im Gefäß der Nationalstaaten entstandene politische Spektrum von Linksaußen bis Rechtsaußen durch diese neuen Differenzierungen ergänzt und überlagert zu werden. Vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen, angesichts gegenwärtiger nicht akzeptabler „Nebenwirkungen“ eines unzureichend domestizierten Kapitalismus und mit Blick auf absehbare zukünftige Konfliktszenarien wirtschaftlicher Globalisierung scheint in diesem neu sich formierenden Spektrum die mittlere Position für eine Domestizierung des „Raubtierkapitalismus“ und eine vernünftige politische, auf Solidarität gestützte und transnationale Umverteilung einbeziehende Mitgestaltung Europas und über Europa hinaus eine zunehmend breitere öffentliche und mediale Unterstützung zu erfahren. Insofern kann man davon ausgehen, dass heute einerseits der neo-liberale Zeitgeist in wachsenden Anteilen der Bevölkerung (trotz seiner ungebrochenen Anhängerschaft unter den politischen und wirtschaftlichen Funktionseliten) an Einfluss und Legitimationskraft verloren hat und andererseits rechtsorientierte, nationalistische und fremdenfeindliche Bewegungen und Parteien (trotz vielfältiger Ansätze und Regierungsbeteiligungen in Ost- und Westeuropa) an den Rändern einer immer noch starken und stabilen bürgerlichen Mitte und ihrer kulturellen Hegemonie und Diskursmacht verbleiben. Mit Blick auf Stabilität und Zukunft Europas wird entscheidend sein, wie diese liberale Mitte mit ihren Rändern umgeht und durchaus legitime Anliegen nicht nur der Linken und der Grünen, sondern (in Anteilen) auch der Rechten – z. B. lokale und regionale Bindungen, Heimat-, Traditionsbewusstsein und Identität, 21

soziale und politische Anerkennung, Beschäftigungs- und Einkommenssicherheit u. a. – aufnehmen und integrieren kann. Aber darüber, wie ein europäischer Weg konkret aussehen könnte, gibt es in Europa eine Vielzahl mehr oder weniger diffuser und teils auch widersprüchlicher Vorstellungen und, wenn überhaupt, nur Anläufe einer politischen Umsetzung, die durch nationale und Wirtschaftsinteressen, durch Lobbyismus und Korruption zögerlich und inkohärent bleiben. Vom gemeinsamen Weg zu einer vernünftigen, kulturell, sozial und ökologisch orientierten Europäisierung sind wir nicht nur noch weit entfernt, sondern möglicherweise sogar dabei, diese Zukunft zu verspielen. In den letzten Jahrzehnten stürmten in Europa die Märkte und Finanzmärkte und eine ihre Expansion fördernde Politik und Rechtsprechung voran, eine gemeinsame Politik der europäischen Abstimmung und „differenzierten Integration“ (Fritz Scharpf) der Sozial-, Steuer-, Beschäftigungs- und Bildungssysteme, der Forschung, der Technologiegestaltung und der Umweltgesetzgebung „hinken“ noch hinterher. Auch die Demokratisierung der politischen Steuerung auf europäischer Ebene geht nicht zuletzt auch deshalb nur langsam voran, weil der dafür erforderliche kulturelle und institutionelle Nährboden – eine europäische Öffentlichkeit und kritische Selbstbeobachtung und Selbstverständigung Europas, ein europäisches Bewusstsein und eine nationenübergreifende Solidarität der Bürger, die Bereitschaft der nationalen Regierungen, Souveränität zu teilen und den Kapitalismus zu domestizieren, sowie eine europäische Verfassung – bislang nur unzureichend entwickelt sind. Trotz der skizzierten Fortschritte und vielfältigen Ausprägungen einer bereits „funktionierenden Europäizität“ (Karl Schlögel) ist die Wirtschaftsunion bis heute kaum mehr als eine Interessengruppe (mit beschränkter Solidarität) und die politische Union Europas eher eine pädagogische Konstruktion von Eliten hinter dem Rücken der Bevölkerungen, die nicht ausreichend durch einen europäischen Souverän, ein europäisches Staatsvolk, das sich u. a. auch über Volksabstimmungen formieren könnte, gefördert, gestützt und legitimiert ist. 19) Hinzu kommen der Mangel an Akzeptanz der europäischen Politik sowie die Horizontverkürzung eines Europadenkens und einer Europapolitik, die sich bislang vor allem auf den Abbau von Schranken der Wirtschaft und Kapitalverwertung konzentrierte und zu wenig Energie und geistige Anstrengung in den Ausbau demokratisch legitimierter föderaler Strukturen und in Begründungsleistungen und Zukunftsorientierungen für eine europäische Lebensform investiert hat. In Reaktion auf die Terroranschläge in Europa und als Antwort auf Rechtsextremismus, Pegida, AfD u. ä. haben die Europäer in Gestalt ihrer massenhaften, alle Glaubensgemeinschaften einbeziehenden Solidarisierung für die Meinungsfreiheit und gegen Fremdenfeindlichkeit gezeigt, dass sie die Errungenschaften der offenen Kultur gegen die Wiederkehr des politischen Patriarchats, gegen einen religiös (islamistisch) wie auch gegen einen post-religiös (nationalistisch und fremdenfeindlich) gestützten Fundamentalismus – verteidigen wollen. Allerdings steht noch aus, ob die Bürger Europas auch einsichtig, bereit und fähig sind, diese Errungenschaften gegen das moderne wirtschaftliche Patriarchat und die Dominanz der Kapitalverwertung, gegen das neo-liberale Narrativ und die technokratischen und ökonomistischen Verkürzungen der kulturellen Selbstbeobachtung und einer dadurch geleiteten Politik und Wirtschaft zu verteidigen.

Inhaltsübersicht: Ein Beitrag zur Selbstbeobachtung westlicher Kultur und zu ihrer Mitgestaltung in Europa „Man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen“ (Ernst Bloch) 22

Die hier versuchte Rekonstruktion und Modellierung versteht sich als Beitrag zu einer wissenschaftlich und philosophisch inspirierten Selbstbeobachtung westlicher und darin europäischer Kultur, ihrer Vergangenheit, Gegenwart und ihrer möglichen Zukünfte. Zunächst wird die Auffassung begründet, dass die Natur und damit auch die daraus hervorgegangenen kulturellen Lebensformen schöpferische Prozesse sind und dass ein „systemisch Gutes“ in der Natur der Kultur und des Menschen verwurzelt ist. Dieses „systemisch Gute“ realisiert sich als gelingende Balance von „Öffnung“ und „Schließung“: in der komplexitätserzeugenden Eröffnung von Möglichkeitsfeldern und Freiheitsgraden einerseits und in komplexitätsreduzierenden Ordnungs- und Systembildungen (Gesetzesund Regelbildungen) andererseits. Diese Balance charakterisiert auch die fundamentalen kulturkonstituierenden Alltagspraktiken: die Entfaltung und Stabilisierung von Nahbeziehungen (Gemeinschaftsbildung), von Fernbeziehungen (Gesellschaftsbildung) und die Ausgestaltung weltobjektivierender, ‑aneignender und ‑nutzender Erkenntnis (Wissenschaft und Technik). Die dynamische Balance von Öffnung und Schließung verleiht diesen Alltagspraktiken einen „von Natur aus“ nicht-logozentrischen und zukunftsoffenen Charakter, macht ihre dynamische Stabilität und ihre Entwicklungs- und Lernfähigkeit aus. Darüber hinaus bildet ihre Ausrichtung auf „Gelingen“ Grundlage und Entwicklungsrahmen einer impliziten Ethik, die diesseits der (wissenschaftlichen) Trennung von Sein und Sollen, von Faktizität und Normativität wirksam ist. Was Lessing und Herder, Schiller und Goethe, Wilhelm und Alexander von Humboldt u. a. sich vorgestellt haben, nämlich eine auf Humanität angelegte menschliche Natur, die in der kulturellen Lebensform und Personbildung entfaltet werden kann, lässt sich rekonstruktiv in die natürliche Evolution zurückverfolgen und zeigt, wie wir von dieser „gemeint“ sein könnten. (Kap. I) Anschließend wird in groben Zügen nachgezeichnet, wie sich in der kulturellen Evolution – von Frühkulturen über Hochkulturen zu den (westlichen und sich verwestlichenden) Spätkulturen – diese implizite Ethik in den Handlungsvollzügen der drei Alltagspraktiken ausdifferenziert hat und sich als intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen  –  als ihr Bedürfnis, ihre Fähigkeit und ihr Bemühen um reziproke Empathie in der Gemeinschaftsbildung, um reziproke Anerkennung in der Gesellschaftsbildung und als Wahrheitssuche in der weltobjektivierenden und ‑nutzenden technischen Praxis – ausgeprägt hat. Darüber hinaus beobachten alle kulturellen Lebensformen sich selbst und die Welt in (präreligiösen, religiösen und nicht-religiösen) Glaubenspraktiken, die in sich und in unterschiedlichen „Mischungen“ logozentrische wie auch nicht-logozentrische Anteile aufweisen. Während die logozentrischen Anteile kultureller Selbstbeobachtung (voreilige) „Schließung“ privilegieren und in geistige und häufig auch organisierte Gewalt münden (siehe unten), scheinen ihre nicht-logozentrischen Ansätze und Gehalte die implizite Ethik und intuitive Sittlichkeit der drei („von Natur aus“ nicht-logozentrischen) Alltagspraktiken gleichsam zu „rahmen“, nämlich zu reflektieren, zu explizieren und zu stützen. In der Geschichte der kulturellen Lebensform haben sich die Ausdifferenzierungen der („von Natur aus“) nicht-logozentrischen Alltagspraktiken und ihre implizite Ethik und Ansätze kultureller Selbstbeobachtung in nicht-logozentrischen Glaubenspraktiken und ihrer expliziten Ethik gegenseitig gestützt, vorangetrieben und schon in den Früh- und Hochkulturen in vielfältig verzweigten Ansätzen und Pfaden „gute Formen“ kultureller „Landschaftsbildung“ hervorgebracht, die man auch als Ausprägungen einer „werdenden Vernunft“ in der Kulturgeschichte interpretieren kann. Insofern kann uns diese Rekonstruktion Aufschluss darüber geben, wie wir von der kulturellen Evolution „gemeint“ sein könnten. (Kap. II) In diesem Rahmen werden dann der spätkulturelle, westliche Pfad und seine spezifischen Errungenschaften – beginnend in der griechischen Antike und dann von den frühneuzeitlichen Handelsstädten über die Nationalstaaten bis zu den aktuellen Entwicklungen post-nationaler Staatlichkeit in Europa und darüber hinaus – in groben Zügen nachgezeichnet. 23

In diesem Pfad sind die westliche Systemarchitektur – der Gesellschaft (Staat, Markt, Demokratie und Recht) wie auch der Gemeinschaft (Liebe, Freundschaft, Familie, Partnerschaft, Gruppen- und Vereinsbildung u. ä.) und der Technik (Medien- und Werkzeugtechnologien) und ihre implizite Ethik sowie ihre Reflexion und Explikation in religiösen und post-religiösen Ethiken entstanden und haben sich weiter ausdifferenziert. Hier scheint auch die Entwicklung kultureller Selbstbeobachtung in religiösen und zunehmend post-religiösen Glaubenspraktiken in ihren spezifischen Ausprägungen wie auch in ihrer Entwicklungslogik und in ihren Übergängen „Öffnung“ und „Schließung“ zu balancieren und auf diese Weise zur dynamischen Stabilität und Viabilität des westlichen Pfads beizutragen. Das beginnt in der griechischen Antike und setzt sich fort in der europäischen Geistesgeschichte  –  vom Renaissance-Humanismus über wissenschaftliche Revolutionen, Rationalismus, Aufklärung und Romantik bis zu kritischen Reflexionen und Theorien westlicher Kultur im 20. und 21. Jahrhundert. In diesem Pfad sind bis heute Keimbildungen und Ansätze einer Selbstbeobachtung „vierter Ordnung“ (nach prä-religiös animistischer, religiös moralischer und post-religiös objektivierender Selbstbeobachtung) entstanden. Diese reflektieren, wie schon gesagt, die „von Natur aus“ nicht-logozentrischen Handlungslogiken und die implizite Ethik der drei Alltagspraktiken (Gemeinschafts-, Gesellschaftsbildung und Technik) und sind in ihren religiösen wie auch post-religiösen Ausprägungen durch Abkehr von (patriarchaler) geistiger Gewalt und Logozentrismus, durch Anti-Dogmatismus, „weiche Grenzziehungen“ und Öffnung für die „Erfahrung des Nicht-Identischen“ (Theodor W. Adorno) geprägt, die eine veränderte Mitgestaltung menschlicher Natur, der Mitnatur und der Kultur in „lernenden Organisationen“ orientieren könn(t)en. Die im westlichen Pfad ausdifferenzierte Systemarchitektur kann man sich als „Tempel“ verbildlichen: Hier bildet die in der bürgerlichen Öffentlichkeit generierte Verständigung und Orientierungssuche ein „flüssiges“ Fundament („System Kultur der Kultur“), während die Systeme der Gemeinschaft, der Gesellschaft und der Technik, der Wissenschaften und der Künste sowie prä-religiöse, religiöse und post-religiöse Glaubenspraktiken die „Säulen“ und das Recht das „Dach“ bilden. In diesem Rahmen leistet das westliche, in den universalen Menschenrechten begründete Rechtssystem „Schließung“ unter Bedingungen maximaler „Öffnung“ durch das System „Kultur der Kultur“. Oder anders ausgedrückt: Diese Koppelung kann wohl auf bislang höchstem Niveau die Entstehung, Stabilisierung und Reproduktion einer friedensstiftenden Gemeinsamkeit der Menschen durch ihre Diversität, durch Entfaltung, Pflege und Schutz ihrer Verschiedenheit und Vielfalt hindurch realisieren. Die westliche Systemarchitektur bietet heute ein Möglichkeitsfeld, aus dem eine Vielfalt von Gestalten „werdender Vernunft“ (als kulturspezifische Ausprägungen einer Balance von Öffnung und Schließung) hervorgehen können. Die evolutionäre Ausdifferenzierung dieser Systemarchitektur ist im westlichen Pfad mit Durchsetzung und Gewinn, mit Erhalt und Ausbau persönlicher Freiheit der Individuen zirkulär gekoppelt. Nur im Rahmen dieser Systemarchitektur können die Individuen ihre relative Freiheit realisieren und umgedreht können sich diese Systeme mit ihrer impliziten praktischen Vernunft und „befreienden Normativität“ nur erhalten, stabilisieren und weiter ausdifferenzieren, wenn die Menschen sich als Bürger verstehen, diese Systeme (an)erkennen und pflegen, indem sie hier ihre (relative) Freiheit – auch in der Vielfalt ihrer Emanzipationsund Protestbewegungen bis heute – einfordern und ausüben, also einer „Normativität der Freiheit“ folgen Zum „systemisch Guten“ und den Errungenschaften seiner evolutionären Ausdifferenzierung gehören also die schon naturgeschichtlich verwurzelte Balance von Öffnung und Schließung kultureller Ordnungsbildung, in diesem Rahmen die von „Natur aus“ nicht-logozentrischen, kulturkonstituierenden und schöpferischen Alltagspraktiken und ihre implizite Ethik sowie die Keimbildungen und Ansätze post-logozentrischer Glaubenspraktiken, einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung und ihrer expliziten Ethik. Ferner bilden die westliche Systemarchitektur und ihre „befreiende Normativität“ in Verbindung mit einer bürger24

lichen Lebensführung und politischen Selbstbestimmung, die einer „Normativität der Freiheit“ folgen, ein Entwicklungspotential für die Zukunft. Dieses Kapitel abschließend wird in einem „best case Szenario“ umrissen, wie aus diesen Errungenschaften des „systemisch Guten“ vielleicht in Zukunft und beginnend in Europa eine “vierte Kultur” hervorgehen könnte, die nicht nur die Beschränkungen präreligiöser Frühkulturen und religiös geprägter Hochkulturen, sondern auch die spezifischen Grenzen der post-religiös orientierten Welt- und Selbst objektivierenden westlichen Kulturen – in Fortsetzung einer Aufklärung über Aufklärung – zu überwinden vermag. Insofern kann diese Rekonstruktion Aufschluss geben, wie wir von der Evolution westlicher Kultur “gemeint” sein könnten. (Kap. III) Aber es gibt in der kulturellen Evolution auch vielfache Ausprägungen eines Misslingens der Balance von Öffnung und Schließung, das hier als ein „systemisch Böses“ und als „beharrende Unvernunft“ charakterisiert wird. Es manifestiert sich einerseits als Unfähigkeit zur Öffnung, als geistige Gewalt einer vielfach angstgetriebenen Schließung von Handlungsregeln und Deutungsmustern in dogmatischen Fixierungen und „harten Grenzziehungen“, die organisierte Gewalt anleiten. Andererseits zeigt sich das „systemisch Böse“ auch in der Unfähigkeit zur Schließung in Regel- und (Selbst)gesetzbildung, in vielfachen Ausprägungen eruptiver und chaotischer Gewalt. Bis heute scheint ein „Pendeln“ die kulturelle Evolution zu charakterisieren: „ungekonnte“ pervertierte Schließung in geistiger und organisierter Gewalt evoziert „ungekonnte“ pervertierte Öffnung in eruptiver und chaotischer Gewalt und umgedreht. Das „systemisch Böse“ bezeichnet das Versäumen und Misslingen des „systemisch Guten“ – als Verdrängung intuitiver Sittlichkeit, als verkürztes Fühlen und „Verkehrtheit des Herzens“ (Immanuel Kant), als „Gedankenlosigkeit, Oberflächlichkeit und Unfähigkeit zum inneren Dialog“ (Hannah Arendt), als Auslöschung der Urteilskraft und damit auch als Unfähigkeit, die implizite Ethik der Alltagspraktiken zu reflektieren und als kohärentes und verbindliches Wertgefüge zu explizieren. Das „systemisch Böse“ ist absichts- und gedankenlos, kann aber von seinen Akteuren auch als bewusste „freie“ Abkehr vom Guten (als vermeintliche Souveränität zur Übertretung von Regeln und Gesetzen, als moralfreie „Sachlichkeit“ oder auch im Dienste der Herstellung eines zukünftigen Guten) rationalisiert und legitimiert werden. Wie die des „systemisch Guten“ muss auch die Rekonstruktion des „systemisch Bösen“ die Stränge der Erkenntniskritik und der Ethik zusammenführen. Wie das „systemisch Gute“ ist auch das „systemisch Böse“ schon in Frühkulturen entstanden und hat sich im hochkulturellen und dann im westlichen Pfad ausdifferenziert und kulturelle „Landschaften“ geformt. Vereinfacht gesagt, kann man die Entstehung und Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ in der kulturellen Evolution auch als einen Entwicklungsstrang beschreiben, der von der frühkulturellen Männerhorde über das hochkulturelle „Väterpatriarchat“ zum modernen „Brüderpatriarchat“ geführt hat. Auch die Entwicklungslogik des „systemisch Bösen“ prägt die o.g. kulturkonstituierenden Alltagspraktiken, indem sie geleitet und legitimiert von androzentrischen und logozentrischen Glaubenskonstruktionen ihre implizite Ethik verzerrt, verschüttet und blockiert. Für Durchsetzung und ggfs. Dominanz des „systemisch Guten“ oder des „systemisch Bösen“ in der kulturellen Lebensform spielen also, so die hier entwickelte Hypothese, die „Logik“ und Ausgestaltung kultureller Selbstbeobachtung in Glaubenspraktiken eine Schlüsselrolle. Nicht-logozentrische, religiöse wie post-religiöse Glaubenspraktiken stützen das Gelingen der Balance von Öffnung und Schließung in den alltagspraktischen Vollzügen, indem sie ihre Zukunftsoffenheit, ihre implizite Logik und Ethik und die intuitive Sittlichkeit der Menschen reflektieren und explizieren. Der kulturelle Fortschritt besteht also weniger darin, dass sich Aufklärung, Rationalität und Vernunft gegen die (vermeintliche) Irrationalität religiöser Glaubenspraktiken durchsetzen, sondern charakterisiert den Tatbestand, dass sich in religiösen wie auch post-religiösen Praktiken der Selbstbeobachtung und des Glaubens post-logozentrische Keimbildungen und Ansätze verbreiten konnten, die die Irrationalität einer 25

angstgenährten patriarchalen „Panzerung“ nicht nur der Männerhorde und des Väterpatriarchats, sondern auch des modernen Brüderpatriarchats zugunsten der Schaffung einer mehr geschwisterlichen Kultur zu überwinden suchen. Demgegenüber bewirkt eine Selbstbeobachtung in logozentrischen Glaubenspraktiken ein Misslingen der Balance von Öffnung und Schließung auch in den Alltagspraktiken. Sie verzerren und entdifferenzieren diese und verdrängen und blockieren deren implizite Ethik und die intuitive Sittlichkeit der Menschen, insbesondere die hier angelegten Möglichkeiten der Wahrnehmung und Erfahrung des „Nicht-Identischen“ und eine kreative und konstruktive, zukunftsoffene Bearbeitung von Kontingenzen. Dazu zählen traditionale Ausprägungen des Logozentrismus wie das religiös gestützte moralische Patriarchat, ferner moderne post-religiös, (z. B. durch Nationalismus, Rassismus und Autoritarismus) gestützte Formen des politischen Patriarchats wie auch ein wirtschaftliches Patriarchat, das sich in technokratisch und ökonomistisch verkürzten Deutungsmustern zu orientieren und zu legitimieren sucht. Dieses Kapitel abschließend werden in einem „worst case Zukunftsszenario“ gegenwärtige Beschleunigungsprozesse, Konstellationen, Konflikte und Krisen beschrieben, die in einen „vierten Weltkrieg“ (Jean Baudrillard) münden könnten. Ökonomische Dauerkrisen, soziale Konflikte und ökologische Katastrophen, Chaos und eruptive Gewalt könnten dann einen „Pendelschlag“ in die andere Richtung auslösen: die (schon heute sich abzeichnende) Herausbildung autoritärer (in Zukunft durch künstliche Intelligenz gestützter) Regime, die in sich (dem chinesischen Vorbild folgend) politischen, technokratischen und wirtschaftlichen Logozentrismus verbinden (Kap. IV). Die Rekonstruktion des westlichen Pfads aus der Doppelperspektive werdender Vernunft und beharrender Unvernunft mündet in ein europäisches Entwicklungs- und Bildungsprogramm, das – im dreifachen Sinn europäischer Gemeinschafts-, Gesellschaftsentwicklung und der Technik – der Leitorientierung einer Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ zu folgen hätte. In diesem Rahmen lassen sich regulative Ideen und Zielsetzungen einer reflektierten und verantwortungsbewussten Selbstkritik, ‑korrektur und Mitgestaltung Europas begründen. Dazu gehören die Regulative einer Einfügung europäischer Lebensform in die physikalische Welt, die sich bionisch, am Vorbild des Lebens orientiert, die Anerkenntnis des Lebens und seiner Schutzansprüche und höher entwickelter Lebensformen als Partner in einer Rechtsgemeinschaft, die reziproke Beseelung und Subjektivierung menschlicher Natur und Entfaltung ihrer Individualität und Persönlichkeit in Gemeinschaftsbildungen, die reziproke Anerkennung und Gerechtigkeit in der Gesellschaftsbildung sowie das Regulativ (der Suche nach) Wahrheit im Rahmen der Objektivierung und wissenschaftlich-technischen Mitgestaltung der Welt. Darüber hinaus impliziert ein europäisches Programm der Persönlichkeitsentwicklung die Entfaltung der ästhetischen und schöpferischen Leistungen und der Freiheitsorientierung der Menschen, ihrer Urteilskraft und intuitiven Sittlichkeit, die Vermittlung ethischer (religiös und post-religiös begründeter) Gehalte sowie die Einübung post-logozentrischer Selbstbeobachtung und die Befähigung zur Teilnahme an dialogischer Orientierungssuche – alles Kompetenzen, deren Entfaltung der Wissensvermittlung und der (Berufs)qualifikation vorausgehen und diese rahmen sollten (Kap. V). Den skizzierten Regulativen folgend lassen sich Wege und Schritte einer europäischen Entwicklungsund Bildungspolitik ableiten, die von „oben“, durch „change agents“ in der etablierten Politik und von „unten“, von liberalen (religiös wie auch post-religiös orientierten) Bürgerbewegungen einer europäischen Zivilgesellschaft getragen werden könnten. Hier geht es um lernende Organisationen europäischer Öffentlichkeit, politischer Steuerung, wirtschaftlicher Leistung und von Bildung und Wissen, die Öffnung für neue Erfahrung und Zukunft mit stabilisierender Schließung durch Regelbildungen balancieren und gegenwärtige Krisen der westlichen Kultur (nicht nur) in Europa besser bewältigen könn(t)en. Nicht durch Abwehr, sondern durch Assimilation ökologischer, kultureller und sozialer Entwicklungsziele und 26

Regulative kann die europäische Wirtschaft ihre globale Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit erhalten und ausbauen. Europa kann sich als zwanglose Einheit der Vielfalt der involvierten Nationen, Regionen und lokalen Gemeinschaften nur konstituieren in Verbindung mit einem Ausbau ihres „flüssigen Fundaments“: einer mediengestützten europäischen Öffentlichkeit und perspektivenreichen dialogischen Selbstbeobachtung, durch Erhalt und Pflege regionaler und nationaler und die Entwicklung europäischer Demokratie, durch eine neue gemeinsame Wirtschaftsordnung sowie durch eine europäische Bildungspraxis (Kap. VI). Abschließend beschäftigen wir uns mit möglichen Beiträgen, die ein vereinigtes Europa zu einer friedlichen Selbstkorrektur und ‑transformation westlicher Kultur, zu einer neuen Wirtschaftsordnung, zum Weltfrieden und zu einer werdenden Weltgesellschaft beitragen kann (Fazit). Vergleichbar der Situation eines Wanderers, der in einer unübersichtlichen Landschaft einen höher gelegenen Aussichtspunkt aufsucht, um sich Orientierung zu verschaffen, wird eine rekonstruktiv begründete Landkarte für einen europäischen Weg im 21. Jahrhundert zur Diskussion gestellt. Zwischen den zu einfachen Vorstellungen beliebiger Form- und Machbarkeit unserer kulturellen Lebensform einerseits und ihrer vermeintlich unbeeinflussbar sich durchsetzenden Evolution andererseits ist der wirkliche Weg „im Gehen“ und in immer erneuten Anläufen systemisch reflektierter und verantwortungsbewusster Mitgestaltung ihrer Form- und „Landschaftsbildungen“ und der ihnen zugrundeliegenden Systemdifferenzierungen zu suchen.

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I. Das „systemisch Gute“ in der Natur der Kultur oder: wie wir von der natürlichen Evolution „gemeint“ sein könnten „Und trotzdem durchherrscht eine Art der Selbstregulierung alles, was Menschen machen. Das hat die Evolution in uns angelegt. Sonst wären wir wohl längst verschwunden. Gelegenheit, uns auszulöschen, hätten wir ja oft genug gehabt. Wir sind aber noch übrig, weil vielleicht irgendetwas unterhalb der Schwelle des Rationalen uns wie ein Schutzengel begleitet – Eigenschaften, die wir mit uns tragen, ohne es zu wissen.“ (Alexander Kluge) Zur „Lichtseite“ des europäischen Weges gehört die evolutionäre Ausdifferenzierung einer offenen Kultur. Kennzeichnend für diese ist ihre Ausrichtung auf „Gelingen“ durch dynamische Balance von „Öffnung“ und „Schließung“ und ihre darin begründete Lernfähigkeit und Viabilität. Die kulturelle Lebensform „öffnet“ sich vor allem in der Spontaneität und Selbstorganisation von Individuen und Kollektiven, in der Nutzung und Ausgestaltung ihrer persönlichen Freiheiten und Fähigkeiten, ihrer Verschiedenheit und der Vielfalt von Möglichkeits- und Spielräumen ihres Fühlens und Wahrnehmens, ihrer Erfahrungen und ihres Denkens, Bewertens und Handelns. Und Kultur „schließt“ sich in der Ausdifferenzierung von Alltags- und Glaubenspraktiken, ihren Handlungslogiken, Handlungsnormen und Deutungsmustern, von Systemen und Gesetzmäßigkeiten, von Regeln und Institutionen, die diese Vielfalt nutzen und gewährleisten, sie schützen und integrieren. In diesem Fall kann man von einem „systemisch Guten“ in der kulturellen Lebensform sprechen: einer lernfähigen viablen Kultur, die in „weichen Grenzziehungen“ und in der Balance zwischen Öffnung und Schließung eine positive Integration der Vielfalt und Verschiedenheit leistet.

Kultur als sich selbst organisierendes System Die Möglichkeit einer offenen Kultur ist schon in der natürlichen Evolution und in der Natur der Kultur als ein evolutionäres Fenster angelegt. Schon die physikalisch-chemische Evolution vollzieht sich als Balance von „Öffnung“ und „Schließung“: in der komplexitätserzeugenden Eröffnung von Möglichkeitsfeldern und Freiheitsgraden einerseits und in komplexitätsreduzierenden Ordnungs- und Systembildungen (Gesetzes-, und Regelbildungen) andererseits. 1) In der Balance von Öffnung und Schließung können „maßvoll“ komplexe und kohärente, (von Menschen auch oft als „stimmig“ oder „schön“ empfundene) natürliche (prä-biologische und biologische) wie auch kulturelle Form- und Landschaftsbildungen entstehen. Diese Balance scheint zur Universalgrammatik der Natur zu gehören und hier eine „zwanglose“ Einheit des Vielfältigen oder auch: eine gegenseitige Bedingtheit und dynamische Einheit „lokaler Freiheit und globalen Zusammenhalts“ (Mae Wan Ho) hervorzubringen. 2) 28

Demnach wären schon physikalische und chemische Prozesse, die hierin „erstarrten“ Naturgesetze und „geronnenen“ Formen und „Landschaften“ immer auch Elemente und Ausdrucksformen einer geistigen Ordnungsbildung, jedenfalls im Verständnis einer modernen Physik, die weit über ihr traditionelles mechanistisches Weltmodell hinausgehend auch zur Erklärung der Entstehung und Entwicklung von Geist und Sinn beitragen und dazu Theorien biologisch-organischer und biologisch-kognitiver wie auch post-biologisch-kultureller Evolution und artifizieller Intelligenz einbeziehen und rahmen kann. In diesem allgemeinsten Rahmen folgt also auch die kulturelle Lebensform Konstruktionsregeln präbiologischer Natur, ist ein physikalisches System, das sich in der Balance von Öffnung und Schließung selbst organisiert und entwickelt. 3) Aber das ist natürlich keine hinreichende Beschreibung.

Kultur als lebendes und beobachtendes System Der große Entwicklungssprung von der unbelebten Materie zum Leben ist die Entstehung von Gebilden (organischen Molekülen, dann Zellen, Organismen und Arten, Populationen und Ökosystemen), die sich kraft Entstehung und Ausdifferenzierung spezifischer Konstruktionsregeln als intern kommunizierende, sich strukturierende und evolvierende Netzwerke von einer (damit entstehenden) Umwelt aktiv abgrenzen, sich selbst reproduzieren, differenzieren und variieren (Autopoiesis) und dabei diese Umwelt beobachten. Wobei „Beobachtung“ hier systemtheoretisch, als jeweils system-spezifische, aktive und selektive Be- und Verarbeitung einer „an sich“ unbekannt bleibenden Umweltdynamik zu verstehen ist. Die Evolution des pflanzlichen und darin dann des tierischen Lebens, darin die des kognitiv organisierten Verhaltens und darin der sich über Sinn organisierenden kulturellen Lebensform lassen sich als Systembildungen in Systemen verstehen, die in sich dynamische, zunächst somatische (genetische und neuronale) und darüber hinaus (als Kultur) extrasomatische, aus Deutungsmustern, sog. Memen 4) bestehende Netzwerke ausdifferenziert haben, die emergent (also bislang nicht hinreichend verstanden) subjektiven Geist hervorbringen. 5) In diesem Rahmen kann man organisches (pflanzliches und tierisches) Leben, das aktiv und selektiv prä-biologische Umweltdynamik beobachtet, schöpferisch verarbeitet und mitgestaltet, als Beobachtung/​ subjektiven Geist erster Ordnung charakterisieren. Und kognitives Verhalten, das darüber hinaus auch die organischen Prozesse der involvierten (pflanzlichen und tierischen) Individuen als Umweltdynamik beobachtet, verarbeitet und mitgestaltet, kann dann als Beobachtung/​subjektiver Geist zweiter Ordnung bestimmt werden. Schließlich kann die sinnhafte kulturelle Praxis, die darüber hinaus auch die affektive und kognitive Dynamik und das Verhalten der involvierten Individuen beobachtet, verarbeitet und mitgestaltet, als Beobachtung/​subjektiver Geist dritter Ordnung verstanden werden. 6) Subjektiver Geist lässt sich als eine experimentelle und hypothetische „Hineinkonstruktion“ einer organischen, darin ausdifferenzierten kognitiven und darin ausdifferenzierten kulturellen Ordnung und „Eigenwelt“ in eine natürliche Entwicklungsdynamik verstehen, die bestenfalls ausschnitthaft erschließbar und als Ganzheit prinzipiell unbekannt bleibt. Dabei differenzieren sich diese Eigenwelten evolutionär, durch Erzeugung und Variation ihrer phänotypischen (organischen, kognitiven und kulturellen) Form- und Landschaftsbildungen hindurch aus und sichern auf diese Weise ihre dynamische Stabilität und Viabilität. Bestand und Vielfalt organischer, kognitiver und kultureller Formbildungen zeigen, dass hier die Balance von Öffnung und Schließung gegenüber Umweltdynamik „gelungen“ ist und die hier ausdifferenzierten und zugrundeliegenden Konstruktionsregeln (Systeme) evolutionär erfolgreich und viabel sind. 29

Die „Kunst“ der Gene, Neuronen und Meme „Vielleicht beginnt ja die Kultur des Dialogs im Innersten der Welt?“ (Ernst Peter Fischer) Als „Spezialisten“ für diese Balance hat organisches Leben ein aktives somatisch-genetisches Netzwerk – metaphorisch: eine „Kunst der Gene“ – und darin die Verhaltensevolution (zusätzlich) ein aktives somatisch-neuronales Netzwerk – eine „Kunst der Neuronen“ – ausdifferenziert, während die Kultur dafür (zusätzlich) ein aktives, extrasomatisch durch Zeichen, Symbole und Sprachen gestütztes Netzwerk von Deutungsmustern – eine „Kunst der Meme“ – hervorgebracht hat. Diese, dem künstlerischen Prozess entlehnte Metaphorik scheint der Komplexität, Kreativität und Konstruktivität dieser Netzwerke und ihrer evolutionären Ausdifferenzierungen angemessen zu sein und ihre bisherige (natur)wissenschaftliche Modellierung zumindest sinnvoll ergänzen zu können. 7) Die „Kunst“ der Gene und der Neuronen nutzend und dank der „Kunst“ der nun auch extrasomatisch (in Bild, Schrift, Text) codierten Meme ist die kulturelle Lebensform eine „Lebenskunst“, die vielfältige kulturelle Formbildungen und „Landschaften“ hervorbringt, und in diesen Vollzügen ihre eigene „Grammatik“ als ein Geflecht von Konstruktionsregeln entwickelt und ausdifferenziert. Wie jede Grammatik kennzeichnet auch die genetischen, neuronalen und memetischen Grammatiken, dass sie aus einer begrenzten Anzahl von Elementen, Prozessen und Konstruktionsregeln eine unendliche Vielfalt organischer, kognitiver und kultureller Formbildungen zu generieren vermögen. 8) Die spielerisch kreative, explorative und konstruktive Bezugnahme schon der genetischen, dann der neuronalen und schließlich der memetischen Netzwerke auf Umweltdynamik stellt eine naturgeschichtlich radizierte „Methode“ der Bearbeitung von (Über)komplexität und Krisen durch die Erzeugung von Resonanzen und das Entwerfen kohärenter „guter“ Formen und „Landschaften“ dar. Sie befähigt den subjektiven Geist zu einer lernenden „weichen Grenzziehung“ zur Umweltdynamik  –  schon in den Formbildungen organischen Lebens und kognitiven Verhaltens wie auch der kulturellen Praxis. Man kann auch sagen, dass eine selbst erzeugte Unbestimmtheit und Unschärfe zukünftige Freiheitsspielräume (im Rahmen einer ihrerseits schon durch Möglichkeitsfelder, Freiheitsspielräume und beschränkte Berechenbarkeit charakterisierten physikalischen Welt) eröffnet, so wie eine bewusst unscharfe Verwendung von Begriffen nicht nur viel Spielraum für zukünftige Präzisierungen bietet (Ludwig Wittgenstein), sondern vielfach auch der Dynamik und Eigenart unserer Welt angemessen scheint. 9) Im Rahmen einer Theorie des Lebens ist Kultur also auch ein autopoietisches System, das wie alle lebenden Systeme auf Viabilität ausgerichtet ist und in diesem Rahmen Umwelt beobachtet, von dieser lernt, kreativ und konstruktiv ist. Kulturelle Lebensformen und die Dynamik der memetischen Netzwerke können aber nur deshalb als autopoietisch charakterisiert werden, weil sich diese memetischen Netzwerke und Sinnkonstruktionen durch die Lebensvollzüge der Menschen hindurch entwickeln. Eine „Autopoiesis des Sinns“ (Niklas Luhmann) kann es nur geben, weil es sich dabei um Vollzug und Ausdifferenzierung der Autopoiesis des Lebens und der Kognition handelt. Aber auch diese Beschreibung der Kultur ist natürlich nicht hinreichend.

Kultur als System funktional differenzierter Alltagspraktiken Der Übergang vom hominiden Verhalten zur humanen Praxis markiert den Beginn kultureller Evolution. Zur kulturellen Lebensform gehören zumindest drei funktional differenzierte Alltagspraktiken und darin eingebettete spezifische Beobachtungsleistungen und Sinnkonstruktionen: nämlich Gemeinschaftsbildung 30

als Ausgestaltung von Nahbeziehungen, Gesellschaftsbildung als Ausgestaltung von Fernbeziehungen und Technik als Ausgestaltung umweltobjektivierender und nutzender Beziehungen. Auch die Vollzüge dieser Alltagspraktiken sind (als „Erbschaft „der Natur) auf Viabilität durch „gelingende“ Balance von „Öffnung“ und „Schließung“, von explorativ-kreativen und konservativ stabilisierenden Leistungen und damit auf erfolgreiches Lernen ausgerichtet. Diese Ausrichtung auf erfolgreiches Lernen lässt sich als eine implizite Normativität rekonstruieren. Denn nachhaltig gelingende Gemeinschaftsbildung bedarf der reziproken Empathie, nachhaltig gelingende Gesellschaftsbildung bedarf der reziproken Anerkennung (unter Fremden) und nachhaltig gelingende Technik bedarf einer wahrheitsorientierten, sachgemäßen und differenzierten Objektivierung der Welt. Deshalb hat sich hier auch eine entsprechende intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen herausgebildet, die deren Praxisvollzüge schon vorbewusst leitet. Menschliches Fühlen, Denken und Handeln ist von Natur aus zur Empathie gegenüber den Nächsten, zur Anerkennung des Fremden und zur differenzierten Objektivierung der Welt befähigt – auch wenn diese Fähigkeiten in kulturellen Entwicklungspfaden auf vielfältige Weise verzerrt, unterdrückt und verdrängt werden können. 10)

v Zwischenbilanz: Die Humanität in der menschlichen Natur Was Lessing und Herder, Schiller und Goethe, Wilhelm und Alexander von Humboldt u. a. sich vorgestellt haben, nämlich eine auf Humanität angelegte menschliche Natur, die in der kulturellen Lebensform und Personbildung entfaltet werden kann, lässt sich rekonstruktiv in die natürliche Evolution zurückverfolgen und zeigt, wie wir von dieser „gemeint“ sein könnten. Auch die evolutionäre Ausdifferenzierung der drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken folgt den fundamentalen Konstruktionsregeln der Natur und darin des Lebens und zeigt insofern gewisse Strukturähnlichkeiten zur natürlichen Evolution. Das betrifft die Balance von Öffnung und Schließung und das Hervorgehen von Wirklichkeit aus einem Feld von Möglichkeiten und im Rahmen dieser „gerinnenden“ Wirklichkeit die zirkuläre Koppelung kultureller Form- und „Landschaftsbildungen“ mit der Ausdifferenzierung von Gesetzen und Konstruktionsregeln. Aber auch damit ist die kulturelle Lebensform natürlich nicht hinreichend bestimmt. Denn sie folgt darüber hinaus auch Konstruktionsregeln und Eigengesetzlichkeiten, die in der kulturellen Evolution entstanden und sich ausdifferenziert haben. Insofern stellt sich die weiterführende Frage, wie wir von der kulturellen Evolution „gemeint“ sein könnten.

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II. Die „werdende Vernunft“ in der Kultur oder: wie wir von der kulturellen Evolution „gemeint“ sein könnten „Denken wir über die Vergangenheit nach, versuchen wir zu wissen, was sie in sich barg, dann ist es gut möglich, dass wir auf eine ganze Reihe von nicht verwirklichten, aber auch nicht zerstörten Hoffnungen stoßen, auf eine Zukunft, die zu Recht Gegenstand der Verheißung ist.“ (Antonio Machado) Was sich „von unten“ im Rahmen des Werdens der Kultur in der Natur als ein „systemisch Gutes“ rekonstruieren lässt, kann im Rahmen einer Reflexion kultureller Evolution als „werdende Vernunft“ und als (sich gegenseitig stützende) implizite und explizite Ethik kultureller Lebensformen bestimmt werden. Genauer betrachtet besteht die implizite Ethik der Alltagspraktiken aus einer impliziten Ästhetik, Theorie und Normativität, die miteinander verflochten sind.

II. 1 Implizite Ästhetik, Theorie und Normativität der Alltagspraktiken In den alltagspraktischen Vollzügen und Lernprozessen der Gemeinschafts-, Gesellschaftsbildung und Technik wird Öffnung durch ihre implizite Ästhetik gewährleistet. Diese eröffnet (buchstäblich) „Spielräume“ der Dekonstruktion und Virtualisierung bislang geltender Muster des Fühlens, Denkens und Handelns, der Resonanz und der Erzeugung von (neuer) Kohärenz und damit Bedingungen der Möglichkeit von „Lebenskunst“: für ein spielerisch experimentelles, sich selbst und die Welt immer wieder neu entwerfendes Leben und Lernen der Menschen. 1) Anders ausgedrückt: Die Alltagspraktiken verlangen von den involvierten Individuen eine „Öffnung zum Nicht-Identischen“ (Theodor W. Adorno). So kann der ästhetische Umweltbezug den Übergang vom Lebensvollzug zur Lebenskunst bahnen. Indem er über die Befolgung vermeintlich alternativloser Schemata der Kognition und des Verhaltens hinaus zur Urteilskraft, zu kontextsensitiver Unterscheidungs- und Entscheidungsfähigkeit führt, kann der ästhetische Umweltbezug in Krisen neue „Auswege“ (Giorgio Agamben) – auch „Mittelwege“ zwischen Flucht und Angriff – eröffnen. 2) Die implizite Ästhetik der Alltagspraktiken verleiht diesen eine Elastizität, die insbesondere dann zum Zuge kommt, wenn Kontingenzen oder, anders ausgedrückt, „Fälle“ auftreten, die unter bereits entwickelte Begriffe und Regeln nicht subsumierbar sind, sondern deren Revision, kreative Erweiterung und Neufassung erfordern. Implizite Ästhetik beschreibt die immanente Unschärfe und Fluktuation der alltagspraktischen Vollzüge, die Möglichkeiten „weicher Grenzziehung“ und gleitender Übergänge. Von „innen“ betrachtet, in den psychischen und kognitiven Leistungen der involvierten Individuen zeigt sie sich im „Fließcharakter“ 32

bewusstseinsbildender Erkenntnis zwischen Wahrnehmen, Erfahren und Fühlen, Vorstellen und Denken, als menschliche Spiellust, Phantasie und Fähigkeit zu Regelbrechung, Neuerfindung und Neuanfang in intuitiven „Ahnungen“ und Gestaltentwürfen.

Implizite Theorie der Alltagspraktiken „Das Höchste wäre: zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist.“ (J.W. Goethe) In Gestalt ihrer Ausdifferenzierung und Konservierung von Konstruktionsregeln (Systemen) haben die drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken auch eine „schließende“, begriffliche Komponente, die man als ihre implizite Theorie bezeichnen kann. Denn hier entstehen mit den Systembildungen und Ausdifferenzierungen von Gemeinschaft, Gesellschaft und Technik auch die Bedingungen der Möglichkeit einer entsprechend differenzierten kategorien-, begriffs- und bewusstseinsbildenden Erfahrung und Erkenntnis. Unter dem Aspekt der impliziten Theoriebildung in der Evolution von Gemeinschaft, Gesellschaft und Technik sind die zirkulären Koppelungen zwischen ästhetischen Entwürfen und begrifflichen Konstruktionen strukturähnlich zu einem hermeneutischen Zirkel. Ohne ästhetische, „vorahnende“ Entwürfe eines kohärenten „Anderen“ kann dessen konstruktive, begriffsbildende und ‑differenzierende (An)erkenntnis nicht beginnen und nur in deren Vollzügen und ausgelöst durch ihr erneutes Ungenügen und Scheitern entsteht immer wieder die Notwendigkeit der ästhetischen Öffnung und des Neuentwurfs.

Implizite Normativität der Alltagspraktiken In ihrer immer erneuten Verarbeitung kontingenter Umweltdynamik durch Balance von (ästhetischer) Öffnung und (begrifflicher) Schließung in kohärenten phänotypischen Formbildungen sind die gemeinschafts-, gesellschaftsbildenden und weltobjektivierenden, (technikgenerierenden) Praktiken auf „nachhaltiges Gelingen“ durch angemessene (An)erkenntnis eines inneren, sozialen und objektiven „Anderen“ ausgerichtet, ohne diese Angemessenheit jemals hinreichend realisieren zu können. Diese Ausrichtung der drei Alltagspraktiken auf „nachhaltiges Gelingen“ kann man als ihre implizite Normativität bezeichnen. Diese definiert die Bedingungen der Möglichkeit eines „guten“, auf reziproke Empathie (in Nahbeziehungen), reziproke Anerkennung (in Fernbeziehungen) sowie Sachbezogenheit (in objektivierenden Beziehungen) gestützten Lebens der Menschen.

Träumender, ahnender und wissender Geist „… und so versinken /​im Unendlichen mir die Gedanken /​und Schiffbruch ist mir süß in diesem Meere.“ (Giacomo Leopardi) Den ästhetischen, konstruktiven und normativen Gehalten der drei alltagspraktischen Handlungslogiken und ihrem Zusammenspiel in der dynamischen Balance von Öffnung und Schließung entspricht im Rahmen der intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen ihre Bereitschaft und Fähigkeit, sich in (Wissens) krisen in einen Zustand des „träumenden Geistes“ (Sören Kierkegaard)  3) zurückfallen lassen, um sich 33

von hier über den „ahnenden Geist“ ästhetisch kreativer Entwürfe wieder zum Zustand eines „wissenden Geistes“ herauf zu arbeiten, um wieder zurück zu fallen usw. Dabei sind mit „träumenden Geist“ weniger die Schlafträume, sondern mehr die Tagträume, die hier „blühenden“ Imaginationen und Visionen der Individuen gemeint. Dieses „Pendeln“ zwischen träumendem, ahnendem und wissenden Geist lässt sich mit Hilfe der Begriffspaare „Praxis und Krise“, „Freiheit und Angst“ und „Kreativität und Kohärenz“ genauer beleuchten: • Während „Praxis und Krise“ den humanspezifischen Umweltbezug als einen immer wieder krisenhaften, oft auch traumatisierenden Prozess beschreiben, der eine permanente Dekonstruktion und Rekonstruktion des „wissenden Geistes“ erzwingt, • bezeichnen „Freiheit und Angst“ – die Freiheit des Fallenlassens in den „träumenden Geist“, die „Öffnung“ der Erfahrung für das „Nicht-Identische“ (Theodor W. Adorno) und die damit verbundene Angst – die „Innenseite“ dieser Praxis in den involvierten Individuen. • Und „Kreativität und Kohärenz“ umschreiben den Tatbestand, dass die hier (durch Ergreifen der Freiheit und im Streben, die Angst zu überwinden) „gezündete“ Kreativität des „ahnenden Geistes“ ästhetisch kohärente Gestalt- und Weltentwürfe generiert, in deren Rahmen nun Reorganisation und weitere Ausdifferenzierung des „wissenden Geistes“ stattfinden können. Insofern kann man diesen sich wiederholenden „Dreischritt“ in den alltagspraktischen Vollzügen – die (Selbst)entgrenzung im Zulassen von Resonanz, der (Selbst)entwurf in ästhetischer Kohärenz und die (Selbst)gesetzgebung in begriffs- und wissensbildender Konstruktion  –  als eine „Matrix“ reflektierter (An)erkenntnis und Mitgestaltung kultureller Lebensform durch engagierte Individuen und Kollektive vorstellen, die in der natürlichen Evolution als Balance von Öffnung und Schließung bereits angelegt ist und sich in der Menschwerdung (Anthropogenese) evolutionär ausdifferenziert hat. Im „Pendeln“ zwischen träumendem, ahnendem und wissendem Geist können sich neue Perspektiven und nicht-gewalttätige „Auswege“ eröffnen. Wenn man also unter heutigen Bedingungen objektiver Krisen und subjektiver Ohnmacht noch eine große erklärende Erzählung der kulturellen Entwicklung wagen will (und vielleicht auch gerade unter diesen Bedingungen muss), hätte diese die dynamische Interdependenz und prozedurale Einheit der drei Leistungen ihrer Autopoiesis  –  die Öffnung zum „Nicht-Identischen“ im träumenden Geist, die Erzeugung kohärenter Weltentwürfe im „ahnenden Geist“ und ihre konstruktive Ordnungsbildung und (Selbst)gesetzgebung im „wissenden Geist“  –  zu rekonstruieren. 4) Dem größten und subtilsten aller Aufklärer, Immanuel Kant zufolge unterliegt der Körper den Naturgesetzen von Ursache und Wirkung, während die Vernunft des Menschen anderen Gesetzen unterliegt, die er „Freiheitskausalität“ nennt. 5) Der Mensch hat –nach Kant – das Vermögen, seine sinnliche Verwobenheit mit der Umwelt in den Dienst seines Willens und seiner vernünftigen Selbstbestimmung zu stellen. Kraft seines Willens und der praktischen Vernunft ist der Mensch dann frei. 6) Aber Kants sich weitgehend auf Willen und (Selbst)gesetzgebung beschränkende Bestimmung von Autonomie und Freiheit scheint einseitig und unvollständig zu sein und seine Unterstellung der Unabhängigkeit der Person „von der Nötigung durch sinnliche Antriebe“ trägt Züge einer logozentrischen Selbsttäuschung und ‑überschätzung. Kant hat zwar deutlich gesehen und herausgearbeitet, dass jede Erkenntnis nicht nur der Logik, sondern auch einer ihr vorangehenden kreativ ästhetischen Formgebung bedarf. Er hat die Implementation ästhetischer Kohärenz in die Erkenntnispraxis als ein „als ob“ gefasst: als regulatives Prinzip einer reflektierenden Urteilskraft, mit deren Hilfe (natur)wissenschaftliche Einzelerkenntnisse zu einem systematischen Ganzen organisiert, in einen zweckmäßigen Gesamtzusammenhang integriert werden können. 7) 34

Aber er hat diese Einsicht letztlich nicht konsequent und radikal genug in sein Verständnis des menschlichen Geistes, und seiner Freiheit einfließen lassen. Vor dem Hintergrund der seinerzeit zunehmend zwingenden Gegenüberstellung einer bloß objekthaften und geistlosen, determinierten und mechanischen Natur und eines freien, sich selbst Gesetze gebenden menschlichen Geistes und Subjekts hat Kant tendenziell, (wenn auch nicht durchgängig) menschliche Freiheit und Selbstbestimmung auf die Leistung der „Schließung“ durch Eigengesetzlichkeit reduziert, während diese Freiheit sich doch nur eingebettet in Praxisvollzüge und hier in einer immer erneut versuchten Balance von (sinnlich ästhetischer) „Öffnung“, (geahnter) Kohärenz und (kategorial-begrifflicher) „Schließung“ einstellen kann. 8) Die (Kantische) Aufklärung hat den Geist des Menschen zum Urheber seiner Freiheit erhoben, ihn dabei aber tendenziell auf einen „unbewegten Beweger“, Erkenntnis auf eine kategoriale und begriffliche Formatierung der Welt und die Freiheit und die „werdende Vernunft“ des Subjekts auf seine Selbstgesetzgebung reduziert – eine Verkürzung, die wohl darin begründet ist, dass Kant der schöpferischen Hervorbringung (poiesis), in der das „Sich-Öffnen“ und „Sich Bewegen lassen“ durch die Welt und ihr „Bewegen“ immer schon verbunden sind, in seiner systematischen Begründung keinen gleichwertigen Rang als „kreative Vernunft“ neben der theoretischen und praktischen Vernunft eingeräumt hat. Kant hat diese dritte Kraft menschlicher Lebenspraxis und ‑erkenntnis zwar als „produktive Einbildungskraft“ in der Kritik der Urteilskraft ausführlich dargestellt, er vollzog aber nicht den Schritt, sie als „eine dritte, nämlich die poetische Gestalt der Vernunft selbst anzunehmen“. 9) Dieser Logozentrismus ist schon bei Platon und auch bei Aristoteles angelegt, der eine Theorie der Poiesis zwar intendiert, aber nicht ausgeführt hat. Die Vernachlässigung, Unterdrückung und Verdrängung der „poiesis“ als schöpferischer Produktivität der Natur und der Kultur münden, wie schon angedeutet, in eine „Dialektik der Aufklärung“ (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno), die bis heute im westlichen Pfad die „beharrende Unvernunft“ in der kulturellen Evolution fortsetzt. 10)

Verschränkung von Sein und Sollen in der kulturellen Lebensform „Für die Sittlichkeit, die nicht eigens intentional oder durch ethisches Wollen hergestellt werden muss, sondern als objektive Struktur der Sozialität immer schon da ist, sobald der Übergang von Natur zu Kultur naturgeschichtlich vollzogen worden ist, steht soziologisch ausgedrückt die Gemeinschaft. Sie ist eine Kollektivität von ganzen Subjekten.“ (Ulrich Oevermann) Die Ausrichtung auf nachhaltiges Gelingen kultureller Lebensformen durch ein alltagspraktisches Bemühen um (An)erkenntnis der Eigenart eines inneren, sozialen, objektiven „Anderen“ scheint eine humanspezifische, der kulturellen Lebensform immanente Verschränkung von „Sein“ und „Sollen“ zu indizieren, die jeder Differenzierung zwischen Form und Norm, expliziter Theorie und expliziter Ethik in der kulturellen Evolution vorausgeht. Da ohne diese Alltagspraktiken, ihre Handlungslogiken und ihre implizite Ethik die menschliche Lebensform zusammenbrechen würde, gibt es vermutlich in allen kulturellen Entwicklungspfaden einen selektiven Druck auf Entstehung und Ausdifferenzierung, Stabilisierung und Pflege gemeinschafts-, gesellschafts- und technikgenerierender Praktiken sowie der darin jeweils integrierten ästhetischen, begrifflichen und bewertenden Leistungen der Individuen. Die drei kulturellen Alltagspraktiken, ihre implizite Ethik und die damit verbundene intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen scheinen universal zu sein und würden demnach alle Kulturen auf der Erde charakterisieren, ohne damit ihre jeweiligen phänotypischen Ausprägun35

gen, ihre kulturspezifischen Mischungsverhältnisse und ihre möglichen, vor allem durch logozentrische und dogmatische Glaubenspraktiken bestimmten Einschränkungen und Verzerrungen (Siehe Kap. IV.) festlegen zu können. Wie die implizite Ethik (Ästhetik, Theorie und Normativität) zur (evolutionär ausdifferenzierten) „Logik“ der Alltagspraktiken, gehört die entsprechende „intuitive Sittlichkeit“ zur (evolutionär ausdifferenzierten) kognitiven Grundausstattung der Menschen. Sie stützen und bedingen sich gegenseitig und scheinen ein naturgeschichtlich radiziertes, gemeinsames Fundament aller kulturellen Lebensformen auf der Erde zu bilden. Deshalb könn(t)en alle Menschen grundsätzlich den „wunschunabhängigen Handlungsgründen“ (John R. Searle) 11) ihrer intuitiven Sittlichkeit folgen und sich in ihren alltagspraktischen Vollzügen resonanz- und kohärenzerzeugend, empathisch, anerkennend und sachbezogen verhalten, was sich z. B. auch in der Qualität kollektiver Urteilsbildung und Entscheidungen, als „wisdom of crowds“ (James Surwiecki) dokumentiert. 12) Kultur ist also ein lernendes System, das auf „Gelingen“ im Sinne von Viabilität ausgerichtet ist, indem es seine Umwelten beobachtet, zwischen ästhetischer, Resonanz und Kohärenz suchender Öffnung und Kategorien bildender, begrifflicher Schließung balanciert und hier drei fundamentale kulturkonstituierende Alltagspraktiken mit einer impliziten Ethik und als deren psychische „Innenseite“ eine intuitive Sittlichkeit der Menschen hervorgebracht hat. Aber auch diese Bestimmungen sind nicht hinreichend.

Stabilisierung kultureller Lebensformen durch prä-religiöse, religiöse und post-religiöse Glaubenspraktiken Darüber hinaus sind alle Kulturen auf der Erde auch Systeme, die sich in Glaubenspraktiken selbst beobachten, jeweils eine explizite Ethik und eine reflektierte Sittlichkeit der involvierten Individuen hervorgebracht haben, die zur kollektiven Bindung und Stabilisierung ganz wesentlich beitragen. Von Glaubenspraktiken kann man sprechen, weil Glauben als ein semantisches Gebilde und als Fühlen, Vorstellen und Denken gläubiger Menschen nicht hinreichend verstanden werden kann. Es handelt sich immer auch um ein körperliches, alle Sinne einbeziehendes und verbindendes Tun, um spezifische Praktiken – von Gesängen, Tänzen, Riten, Ritualen, Beschwörungen und Zeremonien über Liturgien, Gebete und andere Sprechakte bis hin zu Inszenierungen, Narrativen und Diskursen vieler Art –, die mit der Erzeugung jeweils spezifischer Deutungsmuster und ihrer Vernetzung eine Selbstbeobachtung der kulturellen Lebensformen und eine Selbstbewusstseinsbildung der involvierten Individuen eröffnen. Bemerkenswert ist, dass in Ansätzen schon prä-religiöse und dann vor allem religiöse und post-religiöse Ausprägungen kultureller Selbstbeobachtung Regulative reflektieren und als Ideale explizieren, die in den Vollzügen der Alltagspraktiken immer schon, wie auch immer verborgen und gebrochen, wirksam sind. Oder anders ausgedrückt: Werte und Ideale werden nicht der kulturellen Lebensform imaginativ hinzugefügt, sondern in ihren Vollzügen erzeugt. 13) Dabei lässt sich zunächst grob unterscheiden zwischen frühkultureller prä-religiöser Selbstbeobachtung, der religiösen Selbstbeobachtung in Hochkulturen und einer post-religiösen Selbstbeobachtung, die im spätkulturellen westlichen Pfad entstanden ist und diesen zunehmend dominiert. Dabei handelt es sich um Entwicklungsstufen eines Lernprozesses, genauer: um eine werdende „Grammatik“ von Glaubenspraktiken in einer kulturgeschichtlichen, durch Kontingenzen und Krisen geprägten Dynamik. In dieser lösen sich die drei Entwicklungsstufen nicht einfach ab, sondern existieren, wenn sie einmal entstanden sind, gleichzeitig, beinflussen sich wechselseitig, differenzieren sich co-evolutionär weiter aus und fordern als hochkomplexe Musterbildungen kultureller Selbstbeobachtung ihre Erforschung und Interpretation heraus. Die frühkulturelle Entstehung von Glaubenspraktiken kann man sich als eine durch Kontingenzerfahrungen, insbesondere wohl durch Todeserfahrung bedingte Verselbständigung und weitere Ausdifferenzierung 36

ästhetischer, Resonanz und Kohärenz stiftender Aktivitäten, Wahrnehmungen und Imaginationen vorstellen, die zuvor in die alltagspraktischen Vollzüge in Gestalt ihrer „Öffnung“ und Kreativität integriert waren. In der weiteren kulturellen Evolution scheinen die Glaubenspraktiken jeweils evolutionär ausdifferenzierte und alltagspraktisch dominante Deutungsmuster zu hochkomplexen Imaginationen kohärenter „ganzer“ Welten und der Position und Rolle der Menschen darin auszudehnen und auf diese Weise in allen kulturellen Lebensformen als „kontrafaktischer Stabilisierungsmechanismus“ (Reiner Döbert) zu wirken. 14) Mit der Imagination eines vermeintlich Ganzen erzeugen die Glaubenspraktiken in spezifischen Handlungen und darin eingebetteten Gefühlen, Wahrnehmungen und Erfahrungen einen sinnstiftenden kohärenten, kognitiven und normativen Rahmen der Lebensführung. Hans Joas folgend kann man hier von einer sozialen Konstruktion des „Heiligen“ sprechen: der „Sakralisierung“ ganzheitlicher Weltentwürfe, die Ergriffensein und Hingabe, Leidenschaft, Lebenskraft und Vertrauen der involvierten Individuen stiften und binden. 15)

Selbstbeobachtung erster, zweiter, dritter und vierter Ordnung Vereinfacht und bezogen auf die kognitiven Gehalte der Glaubenspraktiken gesagt, wird die frühkulturell dominante Logik der Gemeinschaftsbildung in Nahbeziehungen (auch zur Mitnatur) im prä-religiösen Animismus, die hochkulturell dominante Gesellschaftsbildung in Fernbeziehungen im religiösen Polytheismus und Monotheismus und die spätkulturell dominante Objektivierung und darauf gestützte technische Weltgestaltung in post-religiösen (natur)wissenschaftlich gestützten Weltbildern reflektiert, hier jeweils in Entwürfen „ganzer Welten“ imaginiert und verallgemeinert, die wiederum die weitere Ausgestaltung der Alltagspraktiken und der gesamten Lebensform orientieren und strukturieren. Mit Blick auf die früh-, hoch- und spätkulturellen Pfade der Evolution von Glaubenspraktiken kann man auch von Selbstbeobachtung/​reflexivem Geist erster, zweiter und dritter Ordnung sprechen, die in jeweils spezifischer Weise Möglichkeiten einer bewussten, intentionalen und organisierten Mitgestaltung der Welt durch „gläubige“ Individuen und Kollektive eröffnen und orientieren, aber auch begrenzen. Im Animismus beobachtet der Mensch die Welt, beseelt sie und verortet sich selbst in dieser (Selbstbeobachtung/​reflexiver Geist erster Ordnung). Die Religion leistet diese Selbstbeobachtung und ‑verortung, indem sie Mensch und Welt moralisiert, in diesem Rahmen auch die animistische Glaubenspraxis interpretiert und sich von dieser (mehr oder weniger explizit) als „Aufklärung“ abgrenzt (Selbstbeobachtung/​reflexiver Geist zweiter Ordnung). Post-religiöse Weltmodelle leisten diese Selbstverortung von Mensch und Welt, indem sie diese (wissenschaftlich, philosophisch, ideologisch) objektivieren, in diesem Rahmen auch die Religionen beobachten und sich von diesen (mehr oder weniger explizit) als „wirkliche Aufklärung“ abgrenzen. (Selbstbeobachtung/​reflexiver Geist dritter Ordnung). Darüber hinaus haben sich bereits in der früh- und hochkulturellen Evolution, im westlichen Pfad seit der griechischen Antike und dann insbesondere im frühneuzeitlichen Humanismus, in der Aufklärung und in der Romantik bis hin zu (selbst)kritischen Natur- und Kulturphilosophien und ‑theorien der Gegenwart religiöse und post-religiöse „Keime“ und Ansätze einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung herausgebildet. Damit sind Glaubenspraktiken gemeint, die in gewisser Weise das „Nicht-Identische“ (Theodor W. Adorno), nämlich die Erfahrung, dass die Welt als ganze „nicht wissbar“ (Hans Peter Dürr) ist, sakralisieren und von hier aus eine natur-, kultur- und menschenfreundliche Lebensführung orientieren, in deren Rahmen geschlossene, Ganzheiten imaginierende Weltbilder als grundsätzlich unzureichende, schlimmstenfalls gefährliche, bestenfalls vorläufige und hypothetische Imaginationen zu betrachten sind. Hier handelt es sich um Keime einer post-logozentrischen Selbstbeobachtung und Ethik, die vermutlich die gesamte kulturelle Evolution durchziehen, hier Potentiale einer Überwindung der Erfahrungs- und Gestaltungsgrenzen in Früh-, Hoch- und Spätkulturen bilden. 37

Später, im Rahmen der Rekonstruktion des westlichen Pfads werden diese Ansätze unter dem Gesichtspunkt nachgezeichnet, ob sie mit Blick auf die gegenwärtigen Krisen zur Aufklärung über Aufklärung beitragen, den Anthropozentrismus, den Logozentrismus und den „objektivistischen Schein“ (Jürgen Habermas) wissenschaftlich gestützter Weltbilder überwinden und „Auswege“ (Giorgio Agamben) eröffnen, Perspektiven einer Selbsttransformation westlicher Kultur und Orientierungen für eine verantwortungsbewusste Mitgestaltung Europas bieten können. Vorab wird im Folgenden grob umrissen, was wir aus den drei kulturellen Evolutionen lernen können.

II. 2 Unser frühkulturelles Erbe Zwischenleiblichkeit und Empathie, Gemeinschaftsbildung und Beseelung der Welt „Wenn wir es schaffen könnten, Menschen auf anderen Kontinenten als Teil von uns zu betrachten, sie in unseren Kreis von Reziprozität und Empathie mit einzubeziehen, dann würden wir auf unseren natürlichen Anlagen aufbauen, statt dagegen zu arbeiten.“ (Franz de Waal) Als Frühkulturen werden hier die frühen nomadischen Jäger‑Sammler- und ersten Weidewirtschaftskulturen verstanden. Seit ihrer Entstehung am nicht exakt bestimmbaren Anfang historischer Zeit haben sie eine Systemevolution und ‑differenzierung durchlaufen, deren phänotypische und eigengeschichtliche Ausprägungen teilweise heute noch, z. B. in Stammeskulturen in Afrika, Südamerika und Asien beobachtbar sind. Die Erforschung gegenwärtiger Stammeskulturen deutet darauf hin, dass auch schon in den Lebensformen unserer frühkulturellen Vorläufer die Ausgestaltung von Nahbeziehungen in der Gemeinschaftsbildung dominiert hat. Die reziproke Empathie und „Beseelung“ in zwischenleiblichen Nahbeziehungen lässt sich als eine erste, noch prä-personale Subjektivierung menschlicher Natur verstehen. Was sich von „außen“ (systemevolutionär) als Ausdifferenzierung eines viabilitätssichernden Flechtmusters von Konstruktionsregeln der Gemeinschaftsbildung rekonstruieren lässt, stellt sich von „innen“ (geschichtsphilosophisch) betrachtet als eine „werdende Vernunft“ dar, die in Ausgestaltung und Vollzügen von Nahbeziehungen Handlungsregeln hervorbringt, die hier kreativ explorierend, formativ konstruierend und normativ instruierend sind und mit der Ausdifferenzierung entsprechender kognitiver Leistungen und einer intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen verbunden sind. Die durch Gemeinschaftsbildung dominierte Alltagspraxis wird in den Frühkulturen in einer prä-religiösen animistischen Glaubenspraxis reflektiert und gerahmt, orientiert und gestützt, die die alltagspraktische reziproke Beseelung zum Entwurf einer insgesamt beseelten Welt verallgemeinert. Kennzeichnend für die frühkulturelle Selbstbeobachtung und Glaubenspraxis ist ihr Synkretismus und die Immanenz des Heiligen: Dieses ist immer und in allem in einer Welt anwesend, die hier, angeleitet durch Schamanen und Priester, in spezifischer Weise entworfen und konstruiert, semiotisiert und sakralisiert wird. Hier werden – besonders deutlich in Übergangsriten – Öffnung und Schließung kultureller Ordnungsbildung zur Natur in Ritus und Kult immer wieder ausbalanciert. Insofern animistische Glaubenspraxis die alltagspraktischen Vollzüge reziproker Beseelung reflektiert und eine insgesamt beseelte Welt entwirft, in diesem Rahmen aber die Selektivität und die Grenzen ihrer Weltentwürfe nicht reflektieren und überwinden kann, wird sie hier als Selbstbeobachtung/​reflexiver Geist erster Ordnung bezeichnet. 38

Die zirkuläre Koppelung beseelender Alltagspraktiken und das „Ganze“ beseelender (animistischer) Glaubenspraktiken konstituiert die sinnhafte Welt der Frühkulturen und definiert und begrenzt ihren Entwicklungskorridor. Was sich hier entwickelt, kann hoch differenziert und komplex sein, bleibt aber in der animistischen Weltkonstruktion gefangen, die kaum Transzendenz und damit auch eine an Idealen orientierte intentionale und bewusste Welt- und Selbstgestaltung nur in Ansätzen zulässt. Die frühkulturell (aus natürlichen Wurzeln) entstandene sozialisatorische und reziprok beseelende Praxis strukturiert die Erzeugung, Reproduktion und Festigung von Nahbeziehungen und Gemeinschaften in der kulturellen Evolution bis heute. Unser evolutionäres, schon natürliches und dann frühkulturell weiter ausdifferenziertes Erbe befähigt uns zur viablen Ausgestaltung, Reproduktion und vielfältigen Variation unserer Nahbeziehungen und Gemeinschaften. Dazu gehören eine „Mimesis der Zärtlichkeit“ und ihre Ausgestaltung in sozialisatorischen Bindungen der Liebe, der Familie, der Freundschaft und der Partnerschaft, die bis heute auch in religiösen Glaubenspraktiken, u. a. als christliche Nächstenliebe im westlichen Pfad reflektiert und expliziert werden und in vielfältiger Weise die kulturellen Alltagspraktiken und die organisierte Mitgestaltung unserer Lebensformen anleiten. 16) Sozialisatorische Gemeinschaftsbildung und die ihr inhärente Fähigkeit der involvierten Individuen zur „Zwischenleiblichkeit“ und zur reziproken Empathie, zum wechselseitigen „Lesen“ ihrer Gefühle und zum Mitgefühl, bilden ein „systemisch Gutes“ und gehören zur „werdenden Vernunft“ in der kulturellen Evolution, die heute u. a. auch dazu beitragen kann, die eigenen Gefühlswelten und die anderer Kulturen, ihre gemeinsamen Fundamente und ihre Differenzen besser zu erschließen und zu verstehen. 17)

Keimbildungen einer „Ökonomie der Fürsorglichkeit“ Anzunehmen ist, dass frühkulturelle Ansätze der Gesellschaftsbildung im zeremoniellen Gabentausch und die ersten Keimbildungen eines Wirtschaftssystems in der Verteilungs- Haushalts- und Tauschökonomie auf „Gelingen“, Erhalt und Festigung der Gemeinschaften und auf Bahnung gesellschaftlicher Kooperation und nicht auf kollektive oder gar individuelle Nutzenmaximierung auf Kosten anderer ausgerichtet waren. Das ist mit Blick auf die mögliche Funktion lokaler und regionaler Wirtschaftsgemeinschaften und Komplementärwährungen von Interesse, die heute, unter Bedingungen einer durch Zinsdruck, Kapitalverwertung und Konkurrenz dominierten Ökonomie und Gesellschaft Kooperation und Solidarität in der Organisation wirtschaftlicher Leistung stärken und Elemente einer „Ökonomie der Fürsorglichkeit“ (Caring economy) in die herrschende Wirtschaftsordnung implementieren könn(t)en. 18) Insofern können uns schon Frühkulturen Hinweise geben, wie wir heute nicht nur in der Erzeugung vielfältiger Gemeinschaften, der Freundschaften und der Liebesbeziehungen, sondern von hier aus auch in die Gesellschaft und Wirtschaft hineinwirken, Lebenskunst und Humanisierung praktizieren können. Schon in den frühkulturellen Gemeinschaften, in den Vollzügen reziproker Empathie und sozialisatorischer Bindung findet die „werdende Vernunft“ ihre Ausprägung als „Vernunft der Nächstenliebe“. 19) Andererseits zeigen Frühkulturen nicht nur die beschriebenen systemischen, glaubenspraktisch gezogenen Grenzen der Erfahrung, der Erkenntnis und des Lernens. Sondern darüber hinaus sind hier schon mit dem Konkurrenz- und Souveränitätsgebahren der Männerhorde eine „Mimesis der Gewalt“ (René Girard) und die Tendenz zur Ausgrenzung des „Anderen“ und des „Fremden“ entstanden, die als „beharrende Unvernunft“ die kulturelle Lebensform ebenfalls bis heute prägt. Insofern besteht kein Anlass, Frühkulturen insgesamt zu idealisieren oder gar ein „Zurück zu“ zu fordern. (Dazu mehr in Kap. IV.)

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II. 3 Unser hochkulturelles Erbe Vertikale Solidarität und religiös gestützte Moralisierung der Welt Mit hochkultureller Entwicklung ist die Entstehung und Verbreitung der durch Landbau, Viehzucht und Sesshaftigkeit, durch systematische Bewässerung, durch bild- und schriftsprachliche Kommunikation und religiöse (polytheistische und monotheistische) Weltbilder geprägten Agrar- und Stadtkulturen und ihre Vernetzung in sozialen (friedlichen und kriegerischen) Fernbeziehungen seit ca. 8000 Jahren gemeint. In hochkulturellen Lebensformen spielen die Entwicklung, Ausgestaltung und Regelung von Fernbeziehungen eine dominierende Rolle. In der Bearbeitung ihrer potentiellen und realen Gewalt haben sich in der hochkulturellen Evolution das System der Gesellschaft  –  zentralisierte und differenzierte (staatsähnliche bzw. staatliche) politische Steuerung und Recht, Besteuerung, Handel, Verträge und Märkte – und auch die damit verbundenen Leistungen der Persönlichkeitsbildung, der reziproken Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens der involvierten Individuen entwickelt. Die hier sich ausdifferenzierende Logik sozialen Handelns konstituiert eine über Nahbeziehungen und Gemeinschaftsbildung hinausgehende gesellschaftliche Ordnung und folgt einer impliziten Ethik, die nun – über das Gelingen von Gefühlsbindungen zwischen Individuen und Gruppen hinaus – auf das Gelingen von reziproker Anerkennung zwischen (auch einander fremden) Kollektiven und Personen ausgerichtet ist und sich in der intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen vor allem als Gerechtigkeitsempfinden und ‑bewusstsein ausbildet. Darüber hinaus müssen und können die Individuen in der wechselseitigen Zuschreibung von persönlichen Interessen, Freiheiten und Rechten, von persönlichem Willen und Handlungsgründen sowie einer daraus folgenden persönlichen Verantwortung eine personale Subjektivität ausbilden, die mit der Möglichkeit und (Selbst)verpflichtung verbunden ist, Idealen folgend an sich selbst zu „arbeiten“ und sich zu vervollkommnen. Die in der Ausgestaltung von Fernbeziehungen sich ausdifferenzierende Logik der Vergesellschaftung durch Vertragsgestaltung, ihre implizite Ethik reziproker Anerkennung, die personale Subjektivität und das Gerechtigkeitsempfinden der involvierten Individuen werden in der hochkulturellen Evolution in zunächst mythischen und polytheistischen, später in religiös monotheistischen Glaubenspraktiken reflektiert und zu Entwürfen „ganzer“ moralischer Weltordnungen verallgemeinert. Diese können nun  –  auch hier als „kontrafaktischer Stabilisierungsmechanismus“ (Rainer Döbert) – die weitere Aus- und Mitgestaltung der Alltagspraktiken orientieren und anleiten und damit vor allem die weitere Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems bahnen. Hier entwickelt sich u. a. eine Praxis und Logik des Ausgleichs und der Vergeltung, die schon in den frühen Hochkulturen als „Gerechtigkeit“ bezeichnet wird. 20) Hochkulturelle Glaubenspraxis hat zunächst noch die prä-religiösen animistischen Glaubenspraktiken und Rituale aufgegriffen, teilweise neu interpretiert, transformiert und integriert, hat sich aber später, mit der Entstehung des Monotheismus zunehmend schärfer davon abgegrenzt. In den abrahamitischen Buchreligionen (Judentum, Christentum und Islam) verlagerten sich Entwurf und Konstruktion des „Heiligen“ von seiner diesseitigen rituellen Ausgestaltung in eine transzendente göttliche Ordnung, die vielfältige Anforderungen eines „guten“, dieser Ordnung gemäßen Lebens stellte. Mit der Transzendierung des Heiligen entstehen die Ideale und ihre ambivalente Funktion in der kulturellen Selbstbeobachtung: die Möglichkeit der kulturellen geistigen Weiterentwicklung in der (am Ideal orientierten) „Arbeit“ an sich selbst, aber auch die Gefahr der geistigen und organisierten Gewalt im Namen der sakralisierten Ideale gegenüber den Anders- bzw. Nicht-Gläubigen. 21) 40

Personale Subjektivierung und Selbstformung Im Rahmen des Monotheismus, geleitet durch Werte und Gebote, die zwar in Anteilen ihre intuitive Sittlichkeit explizit machen, aber nun von einem transzendenten Gott „von oben“ als „moralische Ordnung“ verkündet, verordnet und in kanonischen und heiligen Texten fixiert werden, entwickeln die Menschen die Möglichkeit und Verpflichtung, in Anstrengungen der Selbstformung und ‑bildung an sich zu „arbeiten“, über sich selbst hinauszuwachsen und ein entsprechendes personales Selbstbewusstsein auszubilden. Sie wurden nun gefordert, zwischen einem kontingenten und mehr oder minder chaotischen Diesseits und dem Ordnungsanspruch aus dem Jenseits zu „navigieren“ und eine gottgemäße Lebensführung und Gottähnlichkeit (perfectio) anzustreben – wobei sich viele dem auch in vielfältiger Weise entziehen konnten. Hochkulturelle Lebensformen haben jeweils komplexe Geflechte sinnhafter Ordnung, der Alltags- und Glaubenspraktiken, der Institutionen und „starker Organisationen“ (z. B. Kirche, Feudalherrschaft und Besteuerung, Militär etc.) entwickelt. Dabei sind auch hier ihre Viabilität, ihre Reflexions- und Lernfähigkeit durch die Dominanz und Selektivität ihrer Glaubenspraktiken als Selbstbeobachtung/​reflexiver Geist zweiter Ordnung jeweils eröffnet und begrenzt.

Von der Verteilungs- und Gabenökonomie zur Handels- und Marktökonomie Schon in der hochkulturellen Evolution haben sich Warentausch und Tauschökonomie zu einer Handelsökonomie ausdifferenziert. Dazu gehören auch die Entstehung und Ausdifferenzierung des Geldes als System der Kreditverbriefungen und Medium der Vertrauensbildung zwischen den Kaufleuten, die rund um die (damals bekannte) Welt Handel trieben, sowie erste Ansätze von Kapitalismus in Gestalt von Geldschöpfung und ‑verleih. Dabei soll in Anspruch und (religiösem) Selbstverständnis der meisten Hochkulturen die Ökonomie der Gesamtheit der Bevölkerung dienen und wird auch explizit der Ethik der Vergesellschaftung und der Leitorientierung der Gerechtigkeit untergeordnet, auch wenn diese anders als heute, nicht im Sinne von Gleichheit durch reziproke Anerkennung als Bürger, sondern als das, was jedem Menschen aufgrund seiner Herkunft und Position in der sozialen Hierarchie zukommt, verstanden wurde. 22) Hochkulturelle Gesellschaft entwickelt sich als eine gemeinsame moralische Ordnung zwischen sozial, (nun über Nahbeziehungen hinaus in Fernbeziehungen) sich vernetzenden Individuen, Gruppen und Kollektiven. Diese moralische Ordnung entsteht und reproduziert sich in den vielfältigen Vollzügen und Ausprägungen reziproker Anerkennung der involvierten Individuen und Kollektive und differenziert sich hier weiter aus. Und wie für Gemeinschaftsbildung gilt auch hier: Was sich von „außen“ (systemevolutionär) als Ausdifferenzierung eines viablitätssichernden Flechtmusters von Konstruktionsregeln der Gesellschaftsbildung rekonstruieren lässt, stellt sich von „innen“ (geschichtsphilosophisch) betrachtet als eine „werdende Vernunft“ dar, die in Ausgestaltung und Vollzügen von Fernbeziehungen kreativ explorierend, formativ konstruierend und normativ instruierend und mit der Ausdifferenzierung entsprechender kognitiver Leistungen und einer intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen verbunden ist. Auch in den hochkulturellen Lebensformen konnten sich (zumindest in privilegierten Gruppen) Lebenskunst und Urteilskraft weiterentwickeln. Auch hier brachte die in Natur und Kultur tief verankerte und immer wieder wirksame Ausrichtung auf eine Balance von Öffnung und Schließung des Fühlens, Denkens und Handelns „Inseln“ einer humanen Ausgestaltung sozialer Beziehungen hervor. Darüber hinaus kann auch in der hochkulturellen Evolution die Entwicklung der Ökonomie nicht aus der Entstehung, Evolu41

tion und Ausdifferenzierung von Gemeinschaft und Gesellschaft und ihrer impliziten Ethik herausgelöst werden. Wie die reziproke Gabe stehen auch die wirtschaftlichen Beziehungen – von der Verteilungs- und Haushaltsökonomie der Jäger- und Sammlergruppen und den Ansätzen zur Tauschökonomie zwischen ihnen über die hochkulturelle Tausch- und Marktökonomie bis zur spätkulturellen kapitalistischen Produktions- und Monetärökonomie – immer auch im Dienste eines „Gelingens“ von Gesellschaft: Sie folgen nämlich ihrer impliziten Ethik der Einhegung von (potentieller) Gewalt in Fernbeziehungen durch reziproke Anerkennung und Bemühen um Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Insofern könnten und sollten die heutigen Ausprägungen der Ökonomie und der Organisation wirtschaftlicher Leistung im westlichen Pfad daran gemessen werden, ob und wie weit sie (noch) zur Entwicklung einer friedlichen und gerechten Gesellschaft beitragen können.

II. 4 Unser spätkulturelles Erbe Horizontale Solidarität und post-religiöse Objektivierung der Welt Als spätkulturelle Evolution lassen sich die Entstehung und Verbreitung der stadt- und nationalstaatlich, heute zunehmend sich transnational formierenden Industriekulturen und ihre sozialen (friedlichen und kriegerischen) Vernetzungen im zurückliegenden Jahrtausend beschreiben. Hier haben sich Handel, Märkte, neue Formen politischer Verwaltung, der Steuerung und Besteuerung sowie der Rechtsprechung und der bürgerlichen Öffentlichkeit entwickelt und ausdifferenziert, die u. a. auch in eine allmähliche, teils reformerisch eingeleitete, teils revolutionär erkämpfte Demokratisierung mündeten. Darüber hinaus ist der spätkulturelle westliche Pfad durch (wissenschaftliche) Objektivierung der Welt und ihre dadurch geleitete Mitgestaltung in Werkzeug- und Medientechnologien (von der Drucktechnik bis zu elektronischen Medien), sowie durch post-religiöse, philosophisch und wissenschaftlich gestützte Weltbilder geprägt, deren Anfänge in Europa bis in die römische Republik und die griechische Polis vor mehr als 2500 Jahren zurückreichen. Einerseits haben im westlichen Pfad alle drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken – Gemeinschaft, Gesellschaft und Technik – sowie ihre ästhetisch-kreativen, begrifflich konstruktiven und normativen Gehalte eine hohe Ausdifferenzierung erfahren. Mit den systemischen Ausdifferenzierungen und vielfältigen phänotypischen Ausgestaltungen von Gemeinschaft in Nahbeziehungen, der Gesellschaft in Fernbeziehungen und der Technologien generierenden Objektivierung der Welt konnten sich im westlichen Pfad auch das Fühlen, Denken und Handeln der involvierten Individuen und ihre intuitive Sittlichkeit – ihre Befähigungen zum Mitgefühl und zur Gefühlsbindung, zur sozialen Anerkennung und Gerechtigkeit, zur Sachbezogenheit und Wahrheitsliebe – weiter entwickeln und zur Verwirklichung von „Lebenskunst“ beitragen. Wie für die früh- und hochkulturelle gilt auch für die spätkulturelle Evolution: Was sich von „außen“ als „systemisch Gutes“, als Ausdifferenzierung eines viablitätssichernden Flechtmusters von Konstruktionsregeln westlicher Lebensformen rekonstruieren lässt, stellt sich von „innen“ betrachtet als eine „werdende Vernunft“ dar, die in Ausgestaltung und Vollzügen von Nah- und Fernbeziehungen und nun insbesondere auch im Zuge technikgenerierender Weltobjektivierung und Wahrheitssuche kreativ explorierend, formativ konstruierend und normativ instruierend und mit der Ausdifferenzierung entsprechender kognitiver Leistungen und einer intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen verbunden ist. Dabei scheinen bis heute die objektivierende Bezugnahme auf Umweltdynamik, die hier generierten technischen Praktiken und Technologien, Strukturen und Organisationen und ihre post-religiöse Reflexion und Rahmung in wissenschaftlich gestützten Entwürfen „ganzer“ objektiver Weltordnungen den westlichen 42

Pfad und seine Lebens- und Arbeitsformen im besonderen Maße zu prägen, zu strukturieren und zu dominieren und damit auch hier ihre Viabilität, ihre Lern- und Reflexionsmöglichkeiten in spezifischer Weise zu eröffnen, aber auch zu begrenzen. Auch das spätkulturell strukturierte Fühlen und Denken, Handeln, Wissen und Glauben ist zwar vielfältig, differenziert und komplex, bleibt aber auch hier in einer nun überwiegend post-religiös objektivierenden Weltkonstruktion als Selbstbeobachtung/​reflexiver Geist dritter Ordnung „gefesselt“, solange diese eine Reflexion ihrer Selektivität und Grenzen – also den Übergang zu einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung – nicht hinreichend zulässt (Vgl. Kap. IV).

Zirkuläre Koppelung nicht-logozentrischer Alltags- und Glaubenspraktiken Andererseits ist die kulturelle Evolution keineswegs nur durch logozentrische Verkürzungen und Verabsolutierungen jeweils erreichter Entwicklungsstufen und durch entsprechende Verhärtungen und Lernbarrieren geprägt. Schon beginnend in der frühkulturellen Evolution, dann in der hoch- und spätkulturellen Evolution konnten sich nicht-logozentrische Alltags- und Glaubenspraktiken co-evolutionär entwickeln und sich gegenseitig stützen. Alltagspraktisch entwickelte Imaginationen, Erfahrungen und Erkenntnisse wurden in Glaubenspraktiken reflektiert und zu Weltmodellen verallgemeinert, die wiederum den Rahmen für die weitere Entfaltung alltagspraktischer Lernprozesse bildeten. Dabei hat die kulturelle Gedächtnisbildung in technischen Medien für die Weiterentwicklung der Alltagspraktiken und ihrer Beobachtungsleistungen wie auch der Selbstbeobachtung in Glaubenspraktiken eine katalytische Funktion. Die selektive Speicherung, Aufbereitung, Formatierung und kreative Nutzung von Information und Wissen hat sich von einer frühkulturellen, rituell und oralsprachlich strukturierten Wissenserzeugung und -weitergabe über den hochkulturellen, schriftsprachlich strukturierten, in sich kanonisch geschichteten Wissenskosmos und seine Konservierung und Reproduktion zu einem spätkulturellen, drucktechnisch und heute elektronisch digital strukturierten und explosiv wachsenden „Wissensnetz“ weiter entwickelt. 23) In der zirkulären Koppelung alltagspraktischer, sich „öffnender“ Erfahrung, Imagination und Exploration mit „schließendem“ Wissen und Glauben findet die naturgeschichtlich angelegte Balance von Öffnung und Schließung eine kulturspezifische Ausprägung. Sie begründet Früh-, Hoch- und Spätkulturen als beobachtende und sich selbst beobachtende Systeme, die immer auch eine gewisse Zukunftsoffenheit und Lernfähigkeit aufweisen. Insofern kann ihre weitere Entwicklung in der kulturellen Evolution zumindest auch als eine „Aufwärtsspirale“ gelesen werden, in der die Ausdifferenzierungen nicht-logozentrischer Alltags- und Glaubenspraktiken und die vielfältige phänotypische „Landschaftsbildung“ kultureller Lebensformen sowie ihre intentionale, glaubensgeleitete Mitgestaltung seitens engagierter (ihren Idealen folgender) Individuen und Kollektive sich gegenseitig stützen und vorantreiben und so Vernunft in lernenden Organisationen „werden lassen“. 24) Auch als sog. moderne Menschen sind wir Erben, Träger und Agenten dieser „werdenden Vernunft“: Unsere Befähigungen zur reziproken Empathie und Gemeinschaftsbildung und unser Interesse an Liebe und Freundschaft in der Ausgestaltung von Nahbeziehungen wurden schon frühkulturell entfaltet; in der hochkulturellen Evolution kamen mit den Fernbeziehungen auch die Fähigkeiten der reziproken Anerkennung und Gesellschaftsbildung und unsere Bedürfnisse nach Gerechtigkeit hinzu und schließlich sind unsere Sachbezogenheit, unsere Befähigungen zur differenzierten Objektivierung und technischen Nutzung der Welt, unser Interesse an und unsere Suche nach der Wahrheit der hier zugrundeliegenden Behauptungen und Theorien vor allem Ergebnisse der spätkulturellen Evolution. Vereinfacht gesagt hat sich unsere „werdende Vernunft“ als Vernunft der Nächstenliebe schon in den frühkulturellen Gemeinschaftsbildungen, darüber hinaus als „Vernunft der Anerkennung des Fremden“ schon in 43

den Hochkulturen und darüber hinaus als „Vernunft gemeinsamer Wahrheitssuche“ in der spätkulturellen Evolution realisiert. Heute haben wir es mit einem ausdifferenzierten Flechtmuster „werdender Vernunft“ zu tun, dessen Rekonstruktion verdeutlicht, wie wir von der kulturellen Evolution „gemeint“ sein könnten. Kraft der zirkulären Koppelung von (in sich jeweils öffnenden und schließenden) Alltags- und Glaubenspraktiken, von Beobachtung und Selbstbeobachtung, von funktional differenzierten Umweltbezügen und Entwürfen „ganzer“ Welten, von Erfindung und Erkenntnis, von impliziter und expliziter Ethik konstruiert die kulturelle Lebensform eine sinnhafte Welt in eine unbekannte Umweltdynamik „hinein“, indem sie auf diese Bezug nimmt, sie beschreibt und nutzt, sich von ihr abgrenzt und sich über kulturelle, mediengestützte Gedächtnisbildung und Tradierung reproduziert, variiert und stabilisiert. Auf diese Weise können früh-, hoch- und spätkulturelle Lebensformen in jeweils spezifischer Weise der Dynamik und dem Wandel in ihrer Umwelt in organisierter Mitgestaltung eigenen Wandels einen (mehr oder weniger) „gekonnten“ und dosierten Wiedereintritt verschaffen. 25)

Systemische Grenzen der Früh-, Hoch- und Spätkulturen Die hier versuchte grobe Rekonstruktion soll u. a. deutlich machen, dass „werdende Vernunft“ die gesamte kulturelle Evolution und nicht nur die Entwicklung westlicher Kultur charakterisiert. Die Errungenschaften natürlicher Evolution nutzend haben Früh-, Hoch- und Spätkulturen ihre jeweils spezifische, aber auch spezifisch begrenzte Vernunft hervorgebracht. Stammeskulturen, ihre Gemeinschaften und ihre animistischen Weltmodelle, die hier als Selbstbeobachtung/​reflexiver Geist erster Ordnung charakterisiert wurden, sind zwar in sich hochkomplex, begrenzen aber systematisch ihre schöpferischen und ihre Lern- und Organisationsmöglichkeiten in den Bereichen der Gesellschaftsbildung und der technikgenerierenden Weltobjektivierung. Hochkulturen haben zwar diese Grenzen teilweise überwunden, Gesellschaftsordnungen und Werkzeugtechnologien weiter ausdifferenziert und religiöse Weltmodelle als Selbstbeobachtung/​reflexiven Geist zweiter Ordnung entwickelt. Aber auch diese in sich hochkomplexen Ordnungsbildungen bleiben in Grenzen gefangen, die erst in der spätkulturellen Evolution überwunden wurden. Hochkulturelle Gesellschaftsbildung, ihre intentionale und bewusste Mitgestaltung (z. B. als Reich, Kirche, Militär u. a.) und die entsprechende Erziehung, Qualifikation und Personbildung (privilegierter) Individuen – sind zwar stark organisiert, bleiben aber in ihrer Öffnungs- und Lernfähigkeit begrenzt. Auch Fortschritte der Werkzeugtechnologien und der Naturwissenschaften bleiben hier (von kurzen Blütezeiten abgesehen) relativ begrenzt. 26) Schließlich stellen auch die spätkulturell entstandenen westlichen Kulturen zwar in ihrem Gesellschaftssystem (das Flechtmuster von Öffentlichkeit, Markt, Staat, Demokratie und Recht), in ihrer wissenschaftlich gestützten Entfesselung der Weltobjektivierung, in der Entwicklung von Werkzeug-und Medientechnologien wie auch in Gestalt ihrer vielfältigen post-religiösen Weltbilder hochkomplexe Gebilde dar. Aber auch hier treten systemische Grenzen ihrer Wandlungs-, Lern- und Organisationsfähigkeit immer deutlicher hervor. Die spannenden Fragen, worin genau diese Grenzen westlicher Kultur und der hier dominierenden Selbstbeobachtung dritter Ordnung bestehen und wie sie heute – vielleicht in Fortführung und Entfaltung einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung – überwunden werden könn(t)en, werden später wiederaufgenommen.

Krisenbewältigung, Lernprozesse und evolutionäre Übergänge „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ (Friedrich Hölderlin) 44

Schon in der langen Zeit der Anthropogenese und dann in den Entwicklungskorridoren der früh-, hochund spätkulturellen Evolution haben sich auch Potentiale, Keime und Driften herausgebildet, die Übergänge zur jeweils nächsten Entwicklungsstufe bahnten. Insofern lassen sich auch die Entstehungen von Früh-, Hoch- und Spätkulturen als fundamentale Lernprozesse verstehen, die jeweils systemische Grenzen überwunden haben. In der kulturellen Evolution wurden solche Lernprozesse durch Krisen ausgelöst, die vor allem dann entstanden, wenn die explorative Entwicklungsdynamik der Alltagspraktiken und die damit verbundene Kreativität und intuitive Sittlichkeit die jeweils überlieferten Weltmodelle der rahmenden und orientierenden Glaubenspraktiken „sprengten“ und sich durch diese nicht länger stabilisieren ließ. Das zurückliegende Jahrtausend europäischer Geschichte ist durch die Erosion des hochkulturellen und die Ausdifferenzierung des spätkulturellen Systems geprägt, dessen Wurzeln aber viel weiter zurückreichen. Schon beginnend vor ca. 2.500 Jahren gewann die kulturelle Dynamik in den mittelmeerischen Stadtstaaten eine Komplexität, die im Rahmen hochkultureller religiöser Glaubenspraktiken und in dadurch angeleiteter „starker“ Organisation nicht mehr zu bewältigen waren. Die Krise begann mit der Intensivierung und Ausbreitung der Handelsbeziehungen in und zwischen griechischen Stadtstaaten, die nun durch weitere Ausdifferenzierungen der Gesellschaft und neue Glaubenspraktiken und ‑inhalte bearbeitet wurde. Mit den Ansätzen einer auf den Machtgewinn von Händler-Bürgern, auf Handel und Demokratisierung gestützten „lernenden Organisation“ begann die evolutionäre Ausdifferenzierung einer spätkulturellen „Grammatik“, die von nun an mit der phänotypischen Entwicklung kultureller „Landschaftsbildung“ und den vielfältigen Anläufen glaubensgeleiteter Mitgestaltung engagierter Bürger in „lernenden“ Organisationen gekoppelt ist. Sie wird sich in der Geschichte der römischen Republik und dann – nach nahezu tausendjähriger Unterbrechung – in der Entwicklung der frühneuzeitlichen Stadtstaaten und dann der Nationalstaaten bis hin zur beginnenden post-nationalen Gesellschaft und Staatlichkeit heute fortsetzen.

Intentionale und glaubensgeleitete Mitgestaltung Mit Blick auf Glaubenspraktiken und die dadurch angeleiteten Anläufe intentionaler Mitgestaltung spätkultureller Entwicklung ist zu unterscheiden zwischen bürgerlicher und professionalisierter Selbstbeobachtung. Einerseits gibt es die (religiösen und zunehmend auch post-religiösen) „Reime“, die sich die Bürger auf die Welt machen, um ihr Leben sinnhaft zu führen und zu strukturieren. Darüber hinaus gibt es aber auch die professionalisierte Interpretations- und Glaubenspraxis der Experten kultureller Selbstbeobachtung: früher Medizinmänner, Schamanen und Priester, dann Mönche und Pastoren, Theologen und Philosophen, Reformer und Revolutionäre bis zu den heutigen intellektuellen und Funktionseliten, charismatischen Philosophen, Künstlern und Wissenschaftlern, gelegentlich auch Journalisten, Politikern u. a. Professionalisierte Selbstbeobachtung der Kultur und Zeitdiagnostik und die Erfahrungen, Einstellungen, Sinnorientierungen und Wertemuster der Bürger beeinflussen und durchdringen sich gegenseitig und bilden ein dynamisches, Netzwerk von Deutungsmustern (Memen), das sich vielfach verzweigt und verändert und als „Zeitgeist“ bezeichnet werden kann. 27) Dabei scheinen sich auch und insbesondere solche Deutungsmuster durchzusetzen, die in Reaktion auf schmerzende Zerrissenheit und Desorientierung neue alltags- und glaubenspraktische Erfahrungen bahnen und Synthesen leisten, diffuse Erfahrungen und Bewertungen, Bedürfnisse und Einstellungen, Wünsche und Hoffnungen der Individuen, die neben- oder gegeneinander existieren, zu kohärenten Entwürfen verbinden und verdichten. Mit Reinhart Koselleck kann man auch von historisch entwickelten „Erfahrungsräumen“ sprechen, in denen sich kohärente „Erwartungshorizonte“ herausbilden können. 28) 45

Neue kohärente und verbindende Weltentwürfe und Wertelandschaften mit gemeinsamen „Erwartungshorizonten“ scheinen sich immer dann und dort herauszubilden und die kulturelle Lebensform zu öffnen und zu verändern, wenn und wo die alltagspraktisch eingebettete Selbstbeobachtung, die impliziten Erfahrungen und Erkenntnisse, Bewertungen und Erwartungen der Menschen und ihre intuitive Sittlichkeit von intellektuellen und Funktionseliten in professionalisierter (theologischer, philosophischer, politischer, wissenschaftlicher, künstlerischer u. ä.) Selbstbeobachtung explizit gemacht und verstärkt werden. Wie sich diese „Erwartungshorizonte“ jeweils ausprägen und Fühlen, Denken und Handeln der Menschen, und ihre intentionale Mitgestaltung ihrer kulturellen Lebensformen orientieren, scheint also ganz wesentlich davon abzuhängen, ob und wie weit die intellektuellen und Funktionseliten (schon oder noch) mit der impliziten Ethik der Alltagspraktiken und der intuitiven Sittlichkeit der Bürger verbunden sind, sich damit identifizieren und sie durch Explikation in professioneller Selbstbeobachtung verstärken – oder ob sie logozentrischen Glaubenspraktiken folgend diese implizite Ethik vergessen haben, sie missachten und dagegen arbeiten. Unter Intellektuellen, Funktionseliten und Populisten finden sich also die „Geburtshelfer“ des systemisch Guten und der „werdenden Vernunft“, aber auch des systemisch Bösen und der „beharrenden Unvernunft“. In der gesamten kulturellen Evolution, in Früh-, Hoch- und Spätkulturen scheinen bis heute die jeweiligen systemischen Grenzen der Weltoffenheit und ihrer Erschließung, die hier entstehenden Verunsicherungen der Menschen, ihre Ängste vor dem Anderen und Fremden, ihr Kontrollverlust gegenüber der eigenen Natur wie auch der Mitnatur und ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und Ordnung auch „Einfallstore“ für das „systemisch Böse“ und eine „beharrende Unvernunft“ zu bilden: für geistige Gewalt, Logozentrismus und Dogmatismus und dadurch geleitete organisierte Gewalt und eruptive Gegengewalt. Wenn aber Protestartikulationen und ‑aktionen von Bevölkerungsgruppen, die durch Verletzung ihrer intuitiven Sittlichkeit, insbesondere ihres Gerechtigkeitsempfindens ausgelöst wurden, und professionelle Kriseninterpretationen in Wechselwirkung treten, die intellektuellen, politischen und wirtschaftlichen Eliten sich mit den Bedürfnissen der Völker und ihrer intuitiven Sittlichkeit identifizieren und diese explizieren und verstärken, können konsensfähige Zukunftsentwürfe als neue kohärente Ausprägungen manifesten Sinns und „wachen Geistes“ entstehen. Diese können sich ggfs auch gewaltfrei und demokratisch durchsetzen sowie in lernenden Organisationen verwirklichen, Reformen anstoßen und damit das Gesellschaftssystem in neuer Regelbildung („Schließung“) weiter ausdifferenzieren, z. B. einen Fortschritt sozialer Integration bewirken. Das gilt auch für den gegenwärtigen Zustand der westlichen Kultur. Hier sind die heute vielleicht wichtigsten Errungenschaften des westlichen Pfads die Keimbildungen und Ansätze des Fühlens, Denkens und Handelns, die über die Selbstbeobachtung dritter Ordnung, über wissenschaftliche (Selbst)objektivierung, hinausgehend eine Selbstbeobachtung vierter Ordnung bahnen, die religiös oder auch post-religiös strukturiert sein kann. Sofern diese sich im Rahmen religiöser, monotheistischer Glaubenspraktiken vollzieht, kann man von einer „Humanisierung Gottes“ im Sinne seiner Vermenschlichung sprechen, die über seine Charakteristik als Projektion menschlicher (guter und böser) Eigenschaften hinausgeht und im christlichen Glauben wohl am deutlichsten in Jesus Christus als „Fleischwerdung Gottes“ verkörpert ist. (Dazu mehr weiter unten.) Zur post-logozentrischen (religiösen wie auch nicht religiösen) Selbstbeobachtung vierter Ordnung gehört, wie schon angedeutet, eine spezifische Abwehr und potentielle Überwindung des Logozentrismus und eine Öffnung zum „Anderen“ in den Vollzügen der Alltagspraktiken – in der Objektivierung der Welt, in der Gesellschafts- und Gemeinschaftsbildung. Dem steht allerdings heute die Landnahme der westlichen Kultur durch ein politisches, technokratisches und wirtschaftliches Patriarchat, die von hier ausgehende organisierte Gewalt, die dadurch evozierte eruptive Gegengewalt als Chaoserzeuger und die Tendenzen zu einer autoritären „Lösung“ dieser Probleme durch ein postdemokratisches Management entgegen. (Dazu mehr in Kap. IV.) 46

v Zwischenbilanz: Die „werdende Vernunft“ in der kulturellen Evolution „Wenn die Vernunft als eine geschichtliche Möglichkeit verstanden werden soll, muss die Geschichte der Vernunft zum Thema des Denkens werden.“ (Georg Picht) In Fortsetzung der Naturgeschichte gibt es in der Kulturgeschichte – von den Früh- über Hoch- zu den Spätkulturen – einen evolutionären Trend in Richtung auf eine gelingende Balance von Öffnung und Schließung in den Vollzügen der Alltags- und Glaubenspraktiken. Diesen Trend kann man von „außen“ (systemtheoretisch) als evolutionäre Ausdifferenzierung eines „systemisch Guten“ und von „innen“ (kultur- und geschichtsphilosophisch) als „werdende Vernunft“ charakterisieren. Damit ist weniger die Ablösung magisch animistischen durch religiöses Fühlen und Denken und deren Ablösung durch wissenschaftliche Weltobjektivierung, Rationalismus, Aufklärung und daran orientiertes Handeln („Entzauberung“ nach Max Weber) gemeint, sondern vor allem die allmähliche Durchsetzung und Verbreitung einer lebens- und menschenfreundlichen, sich nicht-logozentrisch schließenden kulturellen Selbstbeobachtung in präreligiösen, religiösen wie auch post-religiösen Glaubenspraktiken. Diese „werdende Vernunft“ ist also nicht erst in der spätkulturellen Evolution, im westlichen Pfad mit Wissenschaft und Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten entstanden, sondern ihre Wurzeln und Keimbildungen reichen bis in die Frühkulturen zurück. In der früh-, hoch- und spätkulturellen Evolution haben sich die kulturkonstituierenden Alltagspraktiken der Gemeinschafts-, Gesellschaftsbildung und Technik in ihren implizit ethischen Handlungslogiken wie auch in Psyche und Mentalität, als kognitive Leistungen und als intuitive Sittlichkeit der Menschen ausdifferenziert und konnten durch ihre Reflexion und Explikation in nicht-logozentrischen, religiösen wie auch post-religiösen Glaubenspraktiken erhalten und bestärkt werden. Wie schon mehrfach angedeutet, bekommt die Unterscheidung zwischen logozentrischen und nicht-logozentrischen Glaubenspraktiken hier eine Schlüsselfunktion. Sofern die „von Natur aus“, durch ihre Offenheit und Lernfähigkeit nicht-logozentrischen Alltagspraktiken, ihre implizite Ethik und die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen in ebenfalls nicht-logozentrischen (animistischen und religiösen bis hin zu post-religiösen) Glaubenspraktiken reflektiert, gestützt und gerahmt werden, kann sich das „systemisch Gute“ als Balance von Öffnung und Schließung auch in der kulturellen Evolution, nämlich hier als „werdende Vernunft“ behaupten und stabilisieren. Wir haben es dann mit offenen und menschenfreundlichen kulturellen Lebensformen zu tun, die im Rahmen ihrer systemischen Grenzen lernfähig und viabel sind und eine entsprechende intuitive und reflektierte Sittlichkeit der involvierten Individuen entwickelt haben – unabhängig davon, ob es sich um Früh-, Hoch- oder Spätkulturen handelt. Wenn und wo aber (in Ansätzen) schon prä-religiöse und dann vor allem religiöse wie auch post-religiöse Glaubenspraktiken sich logozentrisch schließen, schränken sie nicht nur die Lernfähigkeit von Kulturen und Menschen ein, sondern gefährden auch ihre Humanität und können zu einer geistigen Gewalt werden, die die Alltagspraktiken verzerrt, organisierte Gewalt in vielfältigen Ausprägungen – gegenüber der menschlichen inneren Natur, dem sozialen Anderen und gegenüber der Mitnatur – generiert, legitimiert und anleitet und eruptive Gegengewalt in vielfältigen Formen evoziert. 29) Wie eingangs schon gesagt, wird im Rahmen der hier versuchten Rekonstruktion kultureller Evolution nicht behauptet, dass diese insgesamt einer Logik der Höherentwicklung folgt oder gar in der westlichen 47

Kultur kulminiert. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sich in der Vielfalt und Verflechtung von Entwicklungspfaden, deren Komplexität wohl nie angemessen modelliert werden kann, auch solche Pfade aufspüren lassen, die als Ausdifferenzierungen eines „systemisch Guten“ und einer „werdenden Vernunft“ wie auch eines „systemisch Bösen“ und einer „beharrenden Unvernunft“ rekonstruiert werden können. Bevor wir uns mit dem „systemisch Bösen“ und der „beharrenden Unvernunft“ in der kulturellen Evolution genauer beschäftigen (Kap. IV), wird im folgenden Kapitel in groben Zügen rekonstruiert, wie und wie weit die Ausrichtung auf eine Balance von Öffnung und Schließung in den Koppelungen nicht-logozentrischer Alltags- und Glaubenspraktiken, der impliziten und der expliziten Ethik wie auch intuitiver und reflektierter Sittlichkeit der Bürger den westlichen Pfad – als „systemisch Gutes“ und „werdende Vernunft“ – bis heute (zumindest auch) prägen.

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III. Die befreiende Ethik nicht-logozentrischer Glaubenspraktiken oder: wie wir von der Evolution westlicher Kultur „gemeint“ sein könnten Im westlichen Pfad haben sich Ansätze nicht- bzw. post-logozentrischer Glaubenspraktiken entwickelt, die nicht nur über die Grenzen des Animismus und religiöser Weltbilder, sondern auch der hier bis heute dominierenden Weltobjektivierung hinausgehen und sich als Ausprägungen einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung beschreiben lassen. In deren Rahmen könn(t)en die drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken – Gemeinschaft, Gesellschaft und Technik – neu reflektiert, orientiert und humaner ausgestaltet werden. Beginnend in der griechischen Antike wurden in diesen Ansätzen die naturgeschichtlich radizierte implizite Normativität der drei Alltagspraktiken und die damit verbundene intuitive Sittlichkeit der Menschen in expliziten, teils religiös-christlich und teils post-religiös-philosophisch begründeten Ethiken reflektiert und in regulativen Ideen spezifisch „ausbuchstabiert“. Die implizite Ethik der Gemeinschaftsbildung wird hier im Regulativ der reziproken Wahrhaftigkeit und Authentizität von Ausdrucksformen und Interpretationen menschlicher Natur, die implizite Ethik der Gesellschaftsbildung im Regulativ reziproker Anerkennung und Gerechtigkeit (auch) unter einander Fremden und eine implizite Ethik der Technik im Regulativ der Wahrheit des ihr zugrundeliegenden weltobjektivierenden Wissens, der hier aufgestellten Behauptungen und formulierten Theorien reflektiert und expliziert. Lernfähigkeit, Viabilität und Zukunftschancen westlicher Kulturen konnten sich also auch darauf stützen, dass sie religiöse und post-religiöse Glaubenspraktiken hervorgebracht haben, die – zumindest als Möglichkeit und Potential, als Anspruch und in Ansätzen – nicht-logozentrisch sind: nämlich sich für die Erfahrung der Kontingenz und des „Nicht-Identischen“ (Theodor W. Adorno) offen halten, die Erzeugung hypothetischen Zusammenhangswissens privilegieren und mit Blick auf die Entfaltung impliziter Ethik und intuitiver Sittlichkeit nicht verzerrend, unterdrückend oder verdrängend sind. Ferner gehört zu den bedeutsamsten Errungenschaften des westlichen Pfads die regulative Idee der Autonomie und persönlichen Freiheit der Individuen: dass sich nämlich kulturelle Ordnungsbildung durch ihre selbstbestimmte Entfaltung und Freiheit und durch ihre jeweils einmalige Persönlichkeitsbildung hindurch vollziehen kann und soll. Denn ein Handeln gemäß der drei o.g. ethischen Regulative setzt die Inanspruchnahme und wechselseitige Unterstellung persönlicher Freiheit voraus. 1) Auch die Idee der persönlichen Autonomie und Freiheit ist in der griechischen Antike entstanden, hat sich in der europäischen Neuzeit weiter ausdifferenziert und bis heute zunehmend mit einer nicht- bzw. post-logozentrischen Glaubenspraxis verbunden, die an die Stelle transzendenter Ordnungsvorstellungen und substanzieller, „top down“ Bestimmungen des (vermeintlich) „Guten“ eine gemeinsame und zukunftsoffene, demokratisch und durch Verständigung organisierte Suche autonomer Individuen nach dem „guten Leben“ setzt. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die spätkulturelle Evolution und in diesem Rahmen auf Entwicklungspfade, die als Ausdifferenzierungen des „systemisch Guten“ und einer „werdenden Vernunft“ rekonstruiert werden können. Das beinhaltet: 49

• Die Wurzeln des westlichen Pfads und Ansätze spätkultureller Systemarchitektur in der griechischen Aufklärung (1). • Ansätze westlicher Systemarchitektur im mittelalterlichen Kommunalismus (2). • Ora et labora: die Mönche als „Geburtshelfer“ des spätkulturellen Systems (3). • Drei Entwicklungsschübe der Ausdifferenzierung westlicher Systemarchitektur und drei industrielle Revolutionen im zurückliegenden Jahrtausend (4). • Die vierte industrielle Revolution des 21. Jahrhunderts und Konsequenzen und Herausforderungen für ihre humane Mitgestaltung (5). • Religiöse und post-religiöse Ansätze einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung (6). Die Rekonstruktion des „systemisch Guten“ und der „werdenden Vernunft“ im westlichen Pfad mündet in ein „best case Szenario“ der Zukunft: die Möglichkeit einer Selbstkorrektur und ‑transformation westlicher Kultur in Richtung auf eine „vierte Kultur“.

Wurzeln des westlichen Pfads und Ansätze spätkultureller Systemarchitektur in der griechischen Aufklärung „Das griechische 5. Jahrhundert v.Chr. muss durch einen ganzen Komplex weitreichender politischer, technischer, künstlerischer und geistiger Neuerungen einen Komplexitätsschub größten Ausmaßes erlebt haben. Daher verlor die Tradition an Tragfähigkeit, entstand ein Bedürfnis nach Genauigkeit. In Griechenland suchte eine aus den traditionalen Bindungen heraustretende Gesellschaft … nach universellen, situationsabstrakten, allgemeinverbindlichen Regeln, Grenzen, Normen, um die aus dem Zerfall der situationskonkreten traditionellen Kasuistik entstandene Unsicherheit des Verhaltens und Erwartens zu absorbieren und, vor allem in den Bereichen der Kunst (Polyklet), Moral (Euripides), Wahrheitserkenntnis (Demokrit) und Politik (Archytas von Tarent), durch die Aufstellung allgemeiner Regeln eine Grundlage komplementärer Erwartungen und damit Sicherheit wiederherzustellen. Dieser Weg führte in Griechenland mit dem Kanonbegriff zur Gründung neuer Disziplinen und somit zur Komplexitätssteigerung der Kultur durch eigengesetzliche Diskurse. Unter dem Begriff der Kanonisierung kommt es hier zu einem Innovationsschub, der Entdeckung neuer Gesetze und Aufstellung neuer Axiome, und nicht etwa zu einem Traditionsschub, der Verfestigung alter Überlieferung, der Heiligung überkommenen Kulturbestandes.“ (Jan Assmann) Der von Jan Assmann prägnant charakterisierte Komplexitätsschub griechischer Stadtkultur und die Ansätze einer auf den Machtgewinn von Händler-Bürgern, auf Handelsbeziehungen, Ökonomisierung und (Teil)demokratisierung gestützten Organisation politischer Steuerung in den griechischen Städten markieren den Anfang des westlichen Pfads. 2) Hier beginnt die evolutionäre Ausdifferenzierung einer spätkulturellen Systemarchitektur, die von nun an mit der phänotypischen Dynamik kultureller Form- und „Landschaftsbildungen“ und ihrer intentionalen Mitgestaltung seitens engagierter, reflektierter und „gläubiger“ Bürger gekoppelt ist. 3) Sie wird sich in der Geschichte der römischen Republik und dann – nach nahezu tausendjähriger Unterbrechung – in der Ent-

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wicklung der frühneuzeitlichen Stadtstaaten und schließlich der Nationalstaaten bis hin zur beginnenden post-nationalen Gesellschaft und Staatlichkeit heute fortsetzen. Zur spätkulturellen Grammatik gehört, dass die in früh- und hochkulturellen Verständigungsprozessen über Welt in Keimbildungen bereits angelegte triadische Konstellation von Subjekt, Objekt und Co-Subjekt (Redner-Sache-Hörer) sich zu einem System der sprachlich organisierten öffentlichen Verständigung, der Selbstbeobachtung und Gedächtnisbildung ausdifferenziert. Schon in der griechischen polis hat sich ansatzweise eine dialogische, nicht- bzw. post-logozentrische Glaubenspraxis als eine, in ihrem Selbstverständnis zukunftsoffene und unabschließbare Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen in Wahrhaftigkeit herausgebildet. Diese bildet zumindest dem Anspruch nach ein flüssiges Fundament westlicher Lebensform, das hier als System „Kultur der Kultur“ bezeichnet wird. Ferner gehören zu den spätkulturellen Systemdifferenzierungen der Alltagspraktiken eine post-moralische, in Ansätzen schon funktional differenzierte (marktförmige und staatliche, demokratische und rechtsförmige) Regelung gesellschaftlicher Beziehungen, eine post-personale (alle Menschen prinzipiell als gleiche Bürger definierende) Subjektivierung des Menschen und eine post-gegenständlich relationale (mathematisch und wissenschaftlich gestützte) Welt- und Selbstobjektivierung. Damit verbunden ist auch eine post-religiöse, nämlich sich aus ihrer magischen und religiösen Dienstfunktion befreiende Ästhetik und Kunst entstanden. Diese hier erstmals in Ansätzen entstandene, spezifisch spätkulturelle Ausdifferenzierung und Verflechtung von nicht-logozentrischen Alltags- und Glaubenspraktiken bildet in der gewordenen und werdenden kulturellen Systemarchitektur ein „systemisch Gutes“ und setzt den Prozess „werdender Vernunft“ in der kulturellen Evolution fort. Diese brachte eine Vielfalt spätkultureller Lebensformen hervor, ermöglichte ihre intentionale Mitgestaltung in „lernenden“ Organisationen und konnte sich durch diese hindurch im spätkulturellen westlichen Pfad bis heute stabilisieren und weiter ausdifferenzieren. Das soll im Folgenden genauer beschrieben werden.

Spätkulturelle Verständigung, partizipative Erkenntnis und Gedächtnisbildung: das System „Kultur der Kultur“ „Das Besondere der griechischen Situation liegt in einer soziopolitischen Verwendung von Schrift, die am besten negativ zu kennzeichnen ist, als Freiraum, der weder von der weisunggebenden Stimme eines Herrschers noch eines Gottes besetzt ist. Dieses MachtVakuum hat das Eindringen von Oralität in die griechische Schriftkultur begünstigt … Die Schriftlichkeit, die in Israel zu einer kristallinen Stillstellung und Monolithisierung der Überlieferung führt, führt in Griechenland zur Verflüssigung, zum Strittigwerden und zur Differenzierung der Überlieferung.“ (Jan Assmann) Nach der frühkulturellen Entstehung der Lautsprachen stellten die bild- und gedankenschreibenden (logographischen) Schriftsprachen in den Hochkulturen einen zweiten Schub der Versprachlichung kultureller Alltagspraktiken dar, der einerseits Möglichkeiten und Umfang der Speicherung und Verfügbarkeit von Information und Geschichte in der kulturellen Gedächtnisbildung steigern und kulturelle Evolution beschleunigen konnte, andererseits aber auch als Medium der Konservierung und Kanonisierung, der Schließung bis hin zur Erstarrung gesellschaftlicher Praxis und Erkenntnis wirken konnte. Schließlich kann man die Entstehung von lauteschreibenden (phonographischen) Schriftsprachen, die die Oralsprachen visualisieren, als einen dritten Schub der Versprachlichung kultureller Alltagspraktiken ansehen. Nun können das Lernen von Individuen und Kollektiven in lautsprachlich organisierten Praxis-

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vollzügen und die Anreicherung und Ausdifferenzierung der schriftlichen Anteile des kulturellen Gedächtnisses sich gegenseitig durchdringen, stützen und explosiv beschleunigen. Die drei Entwicklungsschübe – Entstehung der Lautsprachen, die Ablösung kollektiver Wissens- und Gedächtnisbildung von den Singenden und Sprechenden durch Bild- und Schriftsprache und der Wiedereintritt der Lautsprache in die Schriftsprache – bauen die Sprache als Medium der Beobachtung, Verständigung und Gedächtnisbildung, als „Fluss“ der Unterscheidungen, sowie als Denk- und Innovationsmedium aus. In diesem wachsenden und komplexeren „Spielraum“ der Sprache können nun Informationen und Wissen in und zwischen den Köpfen der involvierten Individuen besser fließen und spielerisch experimentell bearbeitet werden. Im Rahmen dieser Versprachlichung der Alltagspraktiken wird die kulturelle Gedächtnisbildung in der spätkulturellen Evolution selbstreferent: Die kanonische Überlieferung wird nicht einfach ehrfürchtig fortgeschrieben und reproduziert und dabei nur unbewusst variiert, sondern sie kann nun zunehmend thematisiert und reflektiert, interpretiert und bewusst variiert werden. Die zeitüberbrückende Bezugnahme von Texten auf Texte und ihre zur Zukunft hin offene Verflechtung wird nun für spätkulturelle Gedächtnisbildung prägend. Jan Assmann folgend entsteht eine „neue Form der Intertextualität und des Dialogs … Nicht mehr Sprecher reagieren auf Sprecher, sondern Texte reagieren auf Texte … Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz entsteht: die Bezugnahme auf Texte der Vergangenheit in der Form einer kontrollierten Variation, die wir ‚Hypolepse‘ nennen wollen.“ 4) Im Gegensatz zur Wahrheitsunfähigkeit des Ritus und zur absoluten Wahrheitsgewissheit kanonischer (mythischer und religiöser) Schriftkultur geht „Hypolepse demgegenüber davon aus, dass Wahrheit immer nur annäherungsweise zu haben ist, … dass man sich von dem Wahn befreit, jemals von vorne anfangen zu können, erkennt, dass man immer schon in einen laufenden Diskurs hineingeboren ist, sieht, wie die Richtungen verlaufen, und lernt, sich bewusst, verstehend und kritisch auf das zu beziehen, was die Vorredner gesagt haben … Kohärenz entsteht im hypoleptisch organisierten Diskurs in der durch gemeinsame Wahrheitskriterien kontrollierte „Dreiecksbeziehung“ zwischen Autor, Vorgänger und Sache … Der mythische Diskurs ist insofern beruhigt, als er keinen Widerspruch sichtbar werden und alle Aussagen und Bilder gleichberechtigt nebeneinander stehen lässt. Der kanonische Diskurs ist beruhigt, weil er keinen Widerspruch duldet. Der hypoleptische Diskurs ist demgegenüber eine Kultur des Widerspruchs.“ 5) Mit der Entwicklung eines hypoleptischen Beziehungsraums verband sich eine Intellektualisierung der griechischen Eliten. 6) Der weitere Ausbau und die wachsende Bedeutung einer von Alltagspraxis abgelösten philosophischen Reflexion und die Ausdifferenzierung von Formen eines spielerischen, an zweckfreier Wahrheitssuche orientierten Umgangs mit Sprache, Bedeutung und Interpretation, die schrift- und später buchdruckgestützte narrative Vergenwärtigung und Reflexion der Vergangenheit und der damit verbundene Komplexitätszuwachs kennzeichnen die spätkulturelle Gedächtnisbildung. Dieser spielerisch kreative und reflexive Umgang mit Geschichte wird zu Beginn des zweiten Jahrtausends in Europa mit der hochkulturellen Lebensform auch die Fesseln der theologischen Weltsicht und ihre glaubenspraktischen Abstraktionen, den Universalienrealismus „sprengen“ und einen Nominalismus aufblühen lassen, der erlaubt, die Welt und in ihr die verschiedenen Welten der Natur, der Kultur, der Individuen, der Gesellschaft, der Ökonomie, der Kunst u. a. immer wieder neu zu entwerfen, zu beobachten und begrifflich zu modellieren. Von nun an stützen und bedingen sich die krisenhafte Dynamik städtischer „lernender“ Organisation, ihre Versprachlichung und Verschriftlichung und die spätkulturelle Systemdifferenzierung der Alltags- und Glaubenspraktiken gegenseitig und treiben sich wechselseitig voran. Versprachlichung und Verschriftlichung durchdringen und strukturieren nach und nach die gesamte Alltagswelt, dekonstruieren als Verständigung über Glauben prä-religiöse und religiöse Glaubenspraktiken und bilden bis heute (ergänzt durch die technischen Medien des Buchdrucks und der Digitalisierung) ein mediales Substrat der Mitgestaltung der 52

Welt durch Individuen und Kollektive in „lernenden“ Organisationen, insbesondere der politischen Steuerung, der wirtschaftlichen Leistung und von Bildung und Wissen. 7) Dabei sind die hier entstehende spezifisch spätkulturelle Beobachtung und Selbstbeobachtung partizipativ – im Sinne einer ästhetisch explorativen Beziehung zur Welt, in der Resonanz und Suche nach Kohärenz, Mimesis und Intuition die objektivierende begriffliche und wissenschaftliche Erkenntnis ergänzen, sie öffnen und bahnen, rahmen und stützen können. Darüber hinaus sind sie als kommunikative, sprachlich vermittelte Subjekt-Cosubjekt-Beziehungen dialogisch wie auch agonistisch – im Sinne eines Wettbewerbs der Perspektiven und Argumente.

Die sich post-moralisch regelnde Gesellschaft: die „Geburt“ von Markt, Staat, Demokratie und Recht „Man kann nicht genug betonen, welch eine Revolution des menschlichen Geistes es bedeutet, sich eine gesellschaftliche Ordnung zurecht zu legen, die nicht von der Familie abgeleitet ist.“ (Wolfgang Fikentscher) In der griechischen Polis begann der Übergang von der hochkulturellen Feudalgesellschaft, die sich auf Besitz und Herrschaft von Familien, Clans und Krieger-Priester-Herren stützte und durch traditionale (mythisch bzw. religiös begründete und nicht hinterfragbare) Moral legitimiert war, zur spätkulturellen Bürgergesellschaft, die sich auf ökonomische Autonomie und politische Macht der Bürger stützt und durch eine Rechtsordnung legitimiert, deren Anerkennung und Geltung sich allmählich von dieser religiös-moralischen Überlieferung löst und sich zunehmend als ein Ergebnis demokratischer Verständigung und Einigung sowie fortschreitender Gesetzesschaffung und ‑differenzierung versteht. Entwicklung und Konsolidierung einer Händler-​Unternehmer-Bürgerklasse ist mit der Transformation des feudalen Grundbesitzes in bürgerliches Grundeigentum verbunden, das nun durch Rechtstitel geschützt und im Handel verfügbar (verkaufbar, verpfändbar, verzinsbar) ist. Hier entstanden eine Produktions- und Marktökonomie, eine Stadt-/​Staatsordnung und eine Rechtssetzung/​‑sprechung, die nun nicht mehr moralisch „von oben“, sondern, zumindest in Anspruch und Selbstverständnis, demokratisch in der Freiheit, Urteilskraft und intuitiven Sittlichkeit der Bürger begründet wurde. In der römischen Republik wird dann mit zunächst zunehmenden demokratischen Anteilen in der Organisation politischer Steuerung auch das Recht weiter ausdifferenziert. Der aus dem griechischen „Logos“ abgeleitete Sinn für objektive Rationalität und Naturrecht brachte systematische Klarheit in die Handels- und Rechtsbeziehungen des römischen Reichs, vereinheitlichte das Durcheinander voneinander abweichender örtlicher Rechtsbräuche und entwickelte die Prinzipien des Vertrags- und Eigentumsrechts weiter. Die griechische Polis wie auch die römische Republik (bis zu ihrer Selbstzerstörung im Kaisertum der Spätantike) haben in Teilbereichen der Gesellschaft soziale Herrschaft durch Dialog und demokratische Willensbildung, durch delegierte und geteilte Macht und durch Recht ersetzt, was neue Möglichkeiten der Bearbeitung von Kontingenz, insbesondere der Eindämmung von Gewalt eröffnete. Aber ex post betrachtet blieben es zunächst spätkulturelle „Inselbildungen“ innerhalb der hochkulturellen Evolution in Europa: Die „großen Reiche“ (Eric Voegelin) gingen ihnen voraus und folgten ihnen: das römische Imperium und schließlich das Reich Karls des Großen. 8) Schließlich haben sich seit Beginn des zurückliegenden Jahrtausends bis heute (teil)demokratische soziale Integration und Konfliktbearbeitung zunächst in den „Gefäßen“ west- und südeuropäischer Stadtstaaten, 53

später der Nationalstaaten und heute in den Ansätzen zur europäischen politischen Integration und Steuerung weiterentwickelt.

Post-personale Subjektivierung: die „Geburt“ des Bürgers aus Stimme und Recht, Macht und Eigentum Verbunden mit der post-moralischen  –  ökonomischen und staatlichen, demokratischen und rechtlichen – Regelung sozialer Beziehungen in der spätkulturellen Gesellschaft werden nun in der Subjektivierung menschlicher Natur entsprechende Eigenschaften und Qualifikationen der Menschen privilegiert und schließlich in Selbstbeobachtung und Glaubenspraxis als Wesen bzw. Ideal des Menschen reflektiert und definiert. Die Entstehung einer post-personalen, im Sinne einer von familiärer Herkunft und sozialer Position abgelösten Identität, die jedem Menschen zukommt, wurde gebahnt durch eine Realabstraktion der Vollzüge demokratischer Willensbildung in der polis. Denn hier werden alle involvierten Individuen vergleichbar über ihre Eigenschaften als „Stimmen“, als Träger von Interessen, Rechten und politischer Macht sowie als Eigentümer im Marktgeschehen. In Absehung von ihrer Verschiedenheit qua biologischer und kultureller Individuierung sowie ihres materiellen und sozialen Status bildet sich ein Bewusstsein ihrer Gleichheit, die als allen Menschen zukommender Status eines „Bürgers“ bezeichnet wird. In demokratischer Willensbildung und Rechtssetzung, im politischen und wirtschaftlichen Handeln bildet sich eine abstrahierende Repräsentanz des Menschen, ein Identitätsprinzip, das nun das praktische Verständnis und Selbstverständnis der Individuen lenkt und rahmt. Das, was die polis zusammenhält – die dialogische und systematische Erzeugung von Willen und Entscheidung, von Rechten und Pflichten, von Eigentum und Vertrag, von Interessen und Macht – wird nun von den involvierten Individuen und von der griechischen Philosophie als Wesen bzw. Ideal des Menschen und seiner Freiheit reflektiert. Die post-personale „Formatierung“ von Subjektivität zu einem freien, mit „Stimme“ ausgestatteten Bürger (homo rhetoricus) bildet Fundament und Rahmen für seine weitere Ausdifferenzierung in der spätkulturellen Evolution: als „homo empathicus“ in sozialisatorischen Nahbeziehungen, als „homo sociologicus“ in gesellschaftlichen Fernbeziehungen und darin als „homo politicus“ (cityoen) mit Macht und Rechten, sowie als „homo oeconomicus“ (bourgois) mit Eigentum und Geldvermögen, schließlich als „homo faber“ mit (handwerklich-technischen Qualifikationen), als „homo ludens“, der seine spielerisch ästhetischen Fähigkeiten entfalten kann und neuerdings als „homo deus“, der mit Bio-, und Gen-, Nano- und Neurotechnologien und ihrer Koppelung nicht nur neue Formen des Lebens, der organischen und der artifiziellen Intelligenz und Kognition zu schaffen, sondern auch sich selbst zu optimieren sucht. 9) Diese gewordenen und werdenden kognitiven Differenzierungen sind mit der spezifisch spätkulturellen Ausdifferenzierung der drei Alltagspraktiken und ihrer Handlungslogiken verbunden, die die Freiheiten der Bürger eröffnen, rahmen und begrenzen und sich im Ergreifen und in der Ausgestaltung dieser Freiheiten seitens der Bürger erhalten und weiter ausdifferenzieren können. In der spätkulturell ausdifferenzierten Gesellschaft und ihrer „befreienden Normativität“ können Individuen zu Bürgern werden und sich als solche erhalten und weiterentwickeln. Und umgedreht kann die spätkulturelle Bürgergesellschaft sich nur so lange erhalten und weiter ausdifferenzieren, wie die involvierten Individuen einer „Normativität der Freiheit“ folgen, das heißt ihre gesellschaftliche Bestimmtheit als Bürger als ihre Freiheit und Selbstbestimmung ergreifen, als ihr Recht, ihre Pflicht und ihre Verantwortung annehmen. Man kann vielleicht auch sagen, dass die Ausdifferenzierung von Markt, Staat, Demokratie und Recht als Systemen mit „befreiender Normativität“ für alle Menschen (Universalinklusion) und die damit verbundene Möglichkeit, eine „Normativität der Freiheit“ in ihrer intuitiven Sittlichkeit und in ihrem Selbstbewusstsein 54

auszubilden und dieser zu folgen, eine spezifisch westliche Form der Balance von Öffnung und Schließung, von persönlicher Freiheit und sozialer Integration charakterisiert. Darauf wird später ausführlicher eingegangen.

Post-gegenständlich relationale Objektivierung: Die „Geburt“ der zähl- und messbaren Welt aus Warenproduktion und Handel „Die Technik ist primär nicht ein Reich bestimmter, aus menschlicher Aktivität hervorgegangener Gegenstände; sie ist in ihrer Ursprünglichkeit ein Zustand des menschlichen Weltverhältnisses selbst.“ (Hans Blumenberg) Die Dynamik, Ausbreitung und Ausdifferenzierung von Marktbeziehungen, marktbezogener Produktion und Geldwirtschaft bahnen einen spätkulturellen Entwicklungsschub in der Objektivierung der Welt. Denn in diesen wirtschaftlichen Handlungen bildet sich eine „Realabstraktion“ (Alfred Sohn-Rethel), die der Welt objektive Zusammenhänge unterlegt. In der Marktökonomie werden alle der Natur abgerungenen (z. B. agrarischen) Güter erstmals über die Quantifizierung im Geld aufeinander beziehbar und vergleichbar. In Absehung von der Verschiedenheit der natürlichen und artifiziellen Formbildungen und gleichsam „quer“ zu ihrem eigenzeitlichen Entstehungs-, Entwicklungs- und Verfallsprozeß bildet sich ein Bewusstsein ihrer objektiven Beschaffenheit (Substanz, Ausdehnung, Qualität) und ihrer quantitativen Messbarkeit (Zahl). Über diese Abstraktion wurde die Natur erstmals in eine „zeitlose Formidentität“ gedrängt. In der warenformatierenden Zähl- und Messarbeit des Kaufmanns bildet sich eine abstrahierende Repräsentanz der Natur, ein „die praktische Identifizierung des Daseienden lenkendes Identitätsprinzip“ (Alfred Sohn-Rethel). 10) Diese spätkulturelle Objektivierung ist post-gegenständlich relational, weil hier die Beziehungen zwischen den Gegenständen und ihre Vergleichbarkeit eine objektive Welt konstituieren. Die anthropologisch angelegte und in den technischen Praktiken der Früh- und Hochkulturen ansatzweise bereits ausdifferenzierte Vergegenständlichung wird hier reflexiv in dem Sinne, dass das erkennende Bewusstsein die Oberfläche der Gegenstände und ihre Abgrenzungen durch bloßes „Nebeneinander“ in einer Dingontologie durchbricht, und nun (auch wissenschaftlich und philosophisch) zu erkennen sucht, was die Dinge voneinander trennt und miteinander verbindet und was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Die im humanspezifischen be-greifenden Umweltbezug als Entwicklungsmöglichkeit schon angelegte post-gegenständlich relationale Objektivierung der Welt wird in der geldvermittelten Warenproduktion und ihrer „Formatierung“ der Natur praktisch „ausbuchstabiert“ und in der griechischen Philosophie und Kosmologie zu einer theoretisch-metaphysischen und ideellen Ordnung der „ganzen“ Welt zu einer „Entweder-Oder-Wirklichkeit“ verallgemeinert. Diese bildet auch Grundlage und Rahmen der Entwicklung von Logik, Mathematik und Naturwissenschaften in Griechenland, dann im islamischen und schließlich im westeuropäischen Entwicklungspfad des zurückliegenden Jahrtausends. Das macht deutlich, dass auch Zahlen und andere mathematischen Objekte nicht außerhalb von Raum und Zeit in einem Reich der Ideen schon immer existieren und hier von Menschen lediglich „gefunden“ werden. Zwar sind sie schon in der Architektur und Funktion unseres Gehirns vorbereitet, so z. B. die Fähigkeit des Zählens als adaptive Ausdifferenzierung unseres Lebens in einer humanspezifisch konstruierten Welt be-greifbarer und unterscheidbarer Objekte. Aber erst im Rahmen spätkultureller Ordnungsbildung, mit der Warenabstraktion der Objekte und ihrer Eigenschaften werden in den nun alltagspraktisch ermöglichten und erforderlichen Zählungen auch die Zählbarkeit und mathematische Modellierbarkeit der Welt in der objektivierenden Praxis und in den kognitiven Kompetenzen der Individuen weiter ausdifferenziert. 55

Schließlich werden die hier alltagspraktisch (als Realabstraktionen) konstruierten Relationen in immer höher geschraubten Abstraktionen in mathematische Modelle transformiert, die die „ganze“ Welt an sich und ewig charakterisieren sollen, eine glaubenspraktisch erzeugte und verbreitete Vorstellung, die – quasi als produktives Missverständnis – die Entstehung und Ausdifferenzierung der klassischen Mechanik an der Schwelle zur Moderne bahnen und rahmen konnte. (Dazu später mehr.) Zugespitzt formuliert: Während früh- und hochkulturelle Wissens- und Gedächtnisbildung auf der mündlichen, später schriftlichen Erzählbarkeit der Welt beruhten, und die Glaubenspraxis diese in große Erzählungen fasste, kommen in der spätkulturellen Evolution ihre Zählbarkeit – und damit auch die glaubenspraktischen Versuchungen und Anläufe, sie darauf zu reduzieren – hinzu. Gleichwohl ist festzuhalten, dass im Zuge der evolutionären Ausdifferenzierung der objektivierenden Bezugnahme auf Umweltdynamik die (geld- und marktvermittelte) Warenabstraktion der Natur eine wichtige, Erfahrung strukturierende und rahmende Rolle für die weitere, spezifisch spätkulturelle Wahrheitssuche und ihre Ausprägung in den Wissenschaften spielt, die auf ihre Weise auch immer erneut Öffnung (empirische Erfahrung) und Schließung (Theoriebildung) auszubalancieren suchen. In ähnlicher Weise treibt heute auch die Digitalisierung als ein neuer Schub in der Realabstraktion der Welt deren objektivierende und wissenschaftliche Erschließung voran. (Darauf kommen wir später zurück.)

Post-religiöse Ästhetik: die „Geburt“ der Schönheit in der künstlerischen Praxis Wie bereits ausgeführt, ist der ästhetische Umweltbezug für die kulturelle Lebensform konstitutiv: das In-Resonanz-Treten mit Umweltdynamik und die Virtualisierung gegebener und kreative Erzeugung neuer kohärenter Ordnungsentwürfe in den alltagspraktischen Vollzügen und im erkennenden Bewusstsein der involvierten Individuen gehört zu den Konstruktionsregeln der Kultur. Mit der Verselbständigung dieser ästhetischen (Resonanz- und Kohärenz suchenden) Praktiken in Magie und Animismus begann die Ausdifferenzierung von Glaubenspraktiken in der kulturellen Evolution. Im Zuge der Ausbreitung des religiösen Monotheismus wurden die animistischen Glaubensgehalte zunehmend unterdrückt, während ihre ästhetischen und kunsthandwerklichen Anteile hier eine ausschmückende und verehrende, die Menschen zur Religiosität führende und für Religion werbende „Dienstfunktion“ übernahmen. Demgegenüber hat in der griechischen Kultur die Entwicklung der Kunst – sowohl im Sinne von „Kunstfertigkeit“ der Alltagspraktiken (techne) wie auch als eigenständige künstlerische Formgestaltung – zur Befreiung des Ästhetischen aus seiner animistischen und religiösen Funktion und zu einer Bestimmung von „Kohärenz“ und „Schönheit“ als eigenständigen Qualitäten – z. B. in der Bildhauerei – beigetragen. Darüber hinaus kann das griechische Theater als eine Inszenierung verstanden werden, in der drei Elemente miteinander verwoben sind: die überlieferte rituelle und mythische Glaubenspraxis, die Herstellung ästhetisch kohärenter Formen und erste Ansätze philosophischer Aufklärung. 11) Hier werden Kunstproduktion und ‑rezeption zu einem Element ethischer Lebensgestaltung und das „gute Leben“ wird kunstähnlich, als „Lebenskunst“ verstanden und mit der Schaffung einer „Sowohl als auch-Wirklichkeit“ (Hans-Peter Dürr) verbunden. Bis heute werden in den darstellenden Künsten – in Literatur, Theater, Oper und Film – Geschichten erzählt, die das Gelingen und Misslingen „guten Lebens“ in immer neuen Variationen durchspielen und, sofern sie selbst (in ihrer eigenen Verräumlichung und Verzeitlichung von Komplexität) ästhetisch „gelingen“, den Eigenheiten und Geheimnissen der kulturellen Lebensform oft näherkommen als Religion, Philosophie und Wissenschaften. Insofern lässt sich die erstmals in der griechischen Kultur hervorgebrachte, theatralische Inszenierung von Differenzen, Gegensätzen und Wechselwirkungen im Rahmen der werdenden Kohärenz und Einheit einer gemeinsamen Geschichte als ein (noch vorpolitischer) Entwurf verstehen, in dem eine gewisse „Heimat56

losigkeit“ des europäischen spätkulturellen Subjekts wie auch die Hoffnung ihrer Aufhebung in zukünftiger Gemeinschaft und Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Schon im Griechentum finden sich die Wurzeln eines „Theaters der Differenz“, das sich dem (tiefer in der Vergangenheit verwurzelten) patriarchalen „Theater der Souveränität“ (Jaques Derrida), dem logozentrischen „Ich weiß, wer ich bin“ des Don Quichotte und dem protofaschistischen „Ich weiß, wer Du bist“ bis heute entgegensetzt. Seit der Geburt der Kunst als einer eigenständigen und eigenlogischen Praxis in der griechischen Kultur bis heute findet die Balance von Öffnung und Schließung in der Kohärenz des Kunstwerks, in seiner (scheinbar) zwanglosen Einheit ihren deutlichsten Ausdruck. Andererseits scheint in dieser Potenz der Ästhetik und ihrer Ausgestaltung als Kunst, die die Menschen für die Erfahrung des Nicht-Identischen und die Möglichkeit eines guten Lebens öffnen, auch bis heute ihre Funktion begründet zu sein, die Opfer und Zumutungen einer logozentrisch dominierten und verkürzten Lebensführung zu kompensieren und sich damit (als „Alltag“) abzufinden. Oder anders ausgedrückt: Kraft ihrer eigenständigen Ausdifferenzierung des Ästhetischen in der Produktion und Rezeption schöner bzw. kohärenter Formen können die Künste auch „Fluchthelfer“ sein, die den Menschen einen Weg anbieten, sich der impliziten Ästhetik, der „Normativität der Freiheit“ und der impliziten Ethik ihrer alltäglichen Lebensgestaltung zu entziehen.

Reflexion und Explikation impliziter Ethik in post-religiösen Glaubenspraktiken „Es ist das höchste Gut für den Menschen, täglich über die Tugend zu sprechen und über die anderen Dinge, über die ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört; denn ein ungeprüftes Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.“ (Sokrates) Mit zunehmender Bedeutung sprachlicher Verständigung und gemeinsamer Orientierungssuche erreicht die Beschäftigung der griechischen Kultur mit sich selbst, ihre Selbstbeobachtung in Glaubenspraktiken eine neue post-religiöse Differenzierung, deren Ansätze vor allem in der griechischen Akademie als institutionalisiertem Rahmen für kontextübergreifende philosophische Diskurse zu finden sind. Hier bildet sich eine agonistische Glaubenspraxis heraus, in der die Griechen nach Orientierung in Verständigung über das „gute Leben“ suchen und erstmals einen Wettbewerb der Argumente in Dialog und Diskurs – auch über Glauben – institutionalisieren. In dieser post-religiösen Glaubenspraxis werden u.  a. die implizite Ethik der Alltagspraktiken und die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen reflektiert, mehr oder weniger philosophisch „ausbuchstabiert“ und als ethische Regulative expliziert: • die reziproke Empathie als (infinite Suche nach) „Wahrhaftigkeit“ der Artikulation und Interpretation innerer Natur in gemeinschaftsbildenden Nahbeziehungen, • die reziproke Anerkennung des sozialen Anderen als (infinite Suche nach) „Gerechtigkeit“ sozialer Ordnungen in gesellschaftsbildenden Fernbeziehungen, • und die Anerkennung der Faktizität der Welt als (infinite Suche nach) „Wahrheit“ von Modellen und Theorien, von Begriffen und Behauptungen in weltobjektivierenden und technikgenerierenden Umweltbeziehungen. Hinzukommen als Bedingungen einer zukunftsoffenen, lernenden und sich selbst korrigierenden Ausgestaltung der o.g. Alltagspraktiken und ihrer Reflexion in Glaubenspraktiken 57

• die (An)erkenntnis des „Anderen“ in der Welterfahrung als das „Nicht-Identische“: als nie hinreichend Objektivierbares der inneren Natur, der Mitnatur und des sozialen Anderen, • die (An)erkenntnis der (relativen) Autonomie und Selbstbestimmung der Person als Normativität der Freiheit, • die (An)erkenntnis der schöpferischen Kraft der Natur wie auch der Kultur und der Menschen als poiesis, als produktive Einbildungskraft und Kunst des Erzeugens und Hervorbringens. In der immer erneuten ästhetischen (Resonanz und Kohärenz suchenden) Öffnung der alltagspraktischen Vollzüge für die Erfahrung des Nicht-Identischen, in der konstruktiven Ausdifferenzierung ihrer Handlungslogiken und ihrer impliziten Ethik sowie in Gestalt ihrer Reflexion in einer expliziten Ethik, die wiederum die alltagspraktischen Vollzüge und ihre implizite Ethik rahmen und stärken, das Fühlen, Denken und Handeln der involvierten Individuen orientieren und leiten, kann sich die spätkulturelle Lebensform als eine spezifische Ausprägung der Balance von Öffnung und Schließung ausdifferenzieren und stabilisieren. So konnte im westlichen Pfad ansatzweise eine post-religiöse und post-logozentrische, dialogische Selbstbeobachtung entstehen, die Kontingenzen und Irritationen innerer, sozialer und äußerer Umweltdynamik zulässt, Erfahrung und Entlastung, Orientierung und Sinn vermitteln kann – und bis heute für patriarchale und logozentrische (Kirchen)religionen und (Schul)Philosophien gleichermaßen suspekt ist. Diese Glaubenspraxis stützt sich nicht mehr auf eine mythisch synkretistische oder religiös-kanonische Erzählung (ein Narrativ), entwirft aber auch (noch) nicht eine begrifflich geschlossene, metaphysische und moralische Ordnung der Welt. Vielmehr hat sie den Charakter einer explorativen und experimentellen, teils diskursiven und objektivierenden, teils spielerisch bildhaften Suche nach Orientierungen im Dialog miteinander (später auch als Lehrer und Schüler, als Autor und Leser, als Therapeut und Patient, als Künstler und Rezipient) verbundener Bürger, die im Rahmen einer Zulassung des Nicht-Identischen und der ästhetischen Erfahrung nach Freiheit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit suchen. Insofern hat hier, in der griechischen Antike und in dieser umfassenden Weise wohl erstmals in der kulturellen Evolution ein suchender Geist „die Augen aufgeschlagen“, der sich in einer dialogischen, post-logozentrischen Selbstbeobachtung (vierter Ordnung) selbst zu reflektieren und zu kritisieren vermag. All dies fügte sich zu einer intellektuellen, „flüssigen“ und zukunftsoffenen Weltmodellierung, die nun in die Alltags- und Lebenswelt wieder „einsickern“ und hier „Lebenskunst“ wie auch intentionale politische Mitgestaltung der Polis orientieren und anleiten konnte. Die „Lebenskunst“ der griechischen Kultur, die hier entwickelten Formen des Fühlens, Denkens und Handelns lassen sich als Anfänge des westlichen Pfads kultureller „Landschaftsbildung“ verstehen und die hier sich ausdifferenzierenden Systeme der Alltags- und Glaubenspraktiken, der „Kultur der Kultur“ und ihre Verflechtung bilden eine Art „Matrix“ der weiteren Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ als „werdende Vernunft“ in der spätkulturellen Evolution. Bereits hier, in den Anfängen spätkultureller Evolution und der Herausbildung einer post-gegenständlich relationalen Objektivierung der Welt konnten Potentiale der Überschreitung ihrer Grenzen und damit „Keime“ einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung entstehen, die sowohl in ihren religiösen wie auch in ihren post-religiösen Ausprägungen den Panzer des Logozentrismus sprengen konnten. Wenn überhaupt, besteht der Fortschritt im westlichen Pfad weniger darin, dass sich Aufklärung, Rationalität und Vernunft gegen die Irrationalität religiöser Glaubenspraktiken durchsetzen, sondern darin, dass sich hier, in religiösen wie auch post-religiösen Glaubenspraktiken Keimbildungen und Ansätze ausbreiten, die angstgenährte patriarchale „Panzerung“ des Logozentrismus zugunsten einer Balance von Öffnung und Schließung kultureller Selbstbeobachtung abzulegen. In der Geschichte der römischen Republik wurden Elemente der dialogisch spielerischen Alltags- und Glaubenspraxis in einem urban geprägten Verständnis von „humanitas“ wiederaufgenommen. Dazu gehör58

ten neben der intuitiven Sittlichkeit – dem Bemühen um Autonomie, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Schönheit – die Pflege eines liebenswerten Miteinanders und einer spielerisch verbindenden Geistigkeit in Muße. „Lebenskunst“ beinhaltet auch hier das Bemühen um Kohärenz als Balance von Öffnung und Schließung und die Freude an ihrem Gelingen: in der Selbstgestaltung, in sozialen Beziehungen wie auch in der Philosophie und der Kunst. Diese Vorstellungen werden viel später, in den frühneuzeitlichen Stadtkulturen und dann vor allem im Humanismus als „freundliche Vernunft“ reartikuliert und aktualisiert. Die zirkuläre Koppelung von Alltagspraktiken, die schon „von Natur aus“, aufgrund ihrer kontingenzbedingten Öffnung für das „Nicht-Identische“ nicht-logozentrisch sind, mit einer zukunftsoffenen, partizipativen und dialogisch-agonistischen und insofern nicht-logozentrischen Glaubenspraxis, die die implizite praktische Vernunft/​Ethik dieser Alltagspraktiken entlang der Geltungsansprüche der Freiheit und Wahrhaftigkeit sich ausdrückender Subjektivität, der Gerechtigkeit sozialer Regeln, der Wahrheit objektivierender Behauptungen über Welt sowie der Schönheit kohärenter Formbildungen immer aufs Neue expliziert und „ausbuchstabiert“, kann man als eine spätkulturelle Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ und einer „werdenden Vernunft“ identifizieren, die – gemeinsam mit der christlichen Liebesethik – bis heute ein Potential des Gelingens westlicher Kultur als „Lebenskunst“ darstellt. 12) Grundsätzlich reflektieren post-logozentrische Glaubenspraktiken und Selbstbeobachtung – in ihren religiösen, im Urchristentum wurzelnden Ausprägungen wie auch in ihren post-religiösen, schon im Griechentum beginnenden Ansätzen  –  Entwicklungen, Veränderungen und Differenzierungen des Alltagslebens. Andererseits gehen sie aber auch weit darüber hinaus und beinhalten  –  als „kontrafaktischer Stabilisierungsmechanismus“ (Rainer Döbert)  –  „vorauseilende“ Imaginationen besserer Welten und Ideale, die neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das gilt auch für spätere Ausprägungen kultureller Selbstbeobachtung im westlichen Pfad, z. B. für Humanismus, Renaissance, Rationalismus, Aufklärung und Romantik bis hin zu Formen kritischer Philosophie, der Wissenschaften und der Wissenschaftstheorie heute, in denen (zumindest auch) post-logozentrische Einstellungen und Gehalte „aufscheinen“. Dabei scheint diese spezifisch spätkulturelle evolutionäre Ausdifferenzierung und Koppelung von Alltagspraktiken und dialogischen Glaubenspraktiken auch mit dem Versprechen und der approximativen Verwirklichung einer Freiheit verbunden zu sein, die im humanspezifischen ästhetischen Umweltbezug als Möglichkeit angelegt ist: dass Kulturen wie die Menschen, die in ihnen leben, (nur) durch die (An)erkenntnis der Freiheit des „Anderen“ – der inneren Natur, der Mitnatur und des sozialen Anderen – (relativ) frei werden können. Diese, im ästhetischen Umweltbezug begründete Freiheit und Urteilskraft ist (wie ausgeführt) konstitutiv und tief in der kulturellen Lebensform verankert und wird (wie noch zu zeigen ist) in den spätkulturellen Alltagspraktiken zunehmend „entfesselt“, glaubenspraktisch, in Theorien des Menschen und der Kultur, ihrer Schöpferkraft und Kreativität reflektiert und immer erneut als Antriebskräfte und Leitorientierungen sozialer und wissenschaftlicher Revolutionen und in der Veränderung von Menschenbildern „ausbuchstabiert“. 13) Die Koppelung der evolutionären Ausdifferenzierung von Alltagspraktiken und hier insbesondere ihrer ästhetischen, schöpferisch kreativen Anteile mit ihrer Reflexion und Abstraktion in Glaubenspraktiken und Menschenbildern und ihrer dadurch geleiteten Mitgestaltung in bürgerlicher Lebenskunst ermutigt die Menschen bis heute, auch ihre politische Freiheit – im liberalen Sinne als persönliche Autonomie und im demokratischen Sinne als Teilhabe an politischer (Gestaltungs)macht – einzufordern und zu ergreifen, durchzusetzen und zu institutionalisieren. Und umgedreht können die hier erkämpften Institutionalisierungen politischer Freiheit den Rahmen befestigen und ausdifferenzieren, in dem auch die ästhetisch begründete Freiheit des Menschen zur „Lebenskunst“ sich weiter entfalten und stabilisieren kann. Während die agonistische Glaubenspraxis der griechischen polis noch zwischen spielerisch dialogischer Erschließung (Öffnung) und einer Verbegrifflichung der Welterfahrung (Schließung) „balanciert“ und diese in der Suche nach dem „guten Leben“ miteinander verbunden hat, sollte später im europäischen Ent59

wicklungspfad für lange Zeit der logozentrische Glaube an eine geschlossene, durch Gott gegebene und zeitlos existierende Ordnung der Welt sich durchsetzen und dominieren. Hier wurde die im Griechentum geborene Kreativität, Urteilskraft und Selbstkritik des menschlichen Geistes wieder verdrängt bzw. der Konstruktion logozentrischer Weltordnungen unterworfen, die zunächst mythisch kosmologisch, dann theologisch metaphysisch und philosophisch ontologisch und schließlich wissenschaftlich methodisch konstruiert wurden und bis heute, wie noch detailliert gezeigt werden soll, die westliche Kultur als geistige Gewalt durchdringen. Andererseits konnten sich im westlichen Pfad auch die griechischen Ansätze einer post-logozentrischen Selbstbeobachtung vierter Ordnung erhalten und weiter ausdifferenzieren. Sie bilden heute ein evolutionäres und geschichtliches Potential, um die Grenzen der drei bisherigen Entwicklungsstufen, der frühkulturell animistischen, der hochkulturell moralischen und der spätkulturell objektivierenden Weltmodellierung (als „Entweder-Oder-Wirklichkeit“), ihre glaubenspraktische Verabsolutierung zu „ganzen Welten“ und die damit verbundenen „Engführungen“ kultureller Lebensform zu überwinden und so die Entwicklung einer „vierten Kultur“ zu bahnen. Im Folgenden werden die weitere evolutionäre Ausdifferenzierung des systemisch Guten bzw. der „werdenden Vernunft“, die Ansätze einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung und die Keimbildungen einer „vierten Kultur“ im europäisch-westlichen Pfad in groben Zügen nachgezeichnet.

Ansätze westlicher Systemarchitektur im mittelalterlichen Kommunalismus Schon im europäischen Mittelalter sind soziale Strukturen entstanden, die zwar einerseits durch hochkulturelle Feudal- und Grundherrschaft mit vertikaler Solidarität und doppelter Hauswirtschaft in lokalen Gemeinschaften geprägt waren, dabei aber bereits – in Gestalt von Ständeverfassung, Kommunalismus, Repräsentation und Rechtsprechung – Keimbildungen spätkultureller Gesellschaftsbildung enthielten. In seinen Konsequenzen für das moderne Europa kaum zu überschätzen ist der Kommunalismus: die städtische und ländliche Gemeindebildung als genossenschaftliche Sozialform mit repräsentativen Organen und einer Ständeverfassung, die zwar einerseits im Lehenswesen verwurzelt und noch in die traditionelle (kirchliche und weltliche) Herrschaftsordnung integriert war, aber darüber hinaus auch schon einen „latenten Republikanismus“ (Wolfgang Reinhard) enthält. „Je höher die Entwicklung des Kommunalismus, desto stärker der latente Republikanismus, umso wahrscheinlicher die Entstehung einer Republik, eines Freistaates, dessen Vollmitglieder nicht nur frei sind zur Selbstbestimmung, sondern vor allem frei von monarchischer Fremdbestimmung.“ 14) In systemevolutionärer Sicht ist der Kommunalismus einerseits eine Ausgestaltung von Nahbeziehungen in der Gemeinschaftsbildung, die durch Lockerung von Abstammungsbeziehungen zugunsten der Gattenzentrierung und durch bäuerliche, an Erfordernissen der Arbeitsorganisation geprägte, über Verwandtschaftsbeziehungen hinausgehende Hausgemeinschaften in Europa begünstigt und auch durch das Christentum als einer Gemeindereligion gerahmt, gestärkt und orientiert wurde. Andererseits stellt Kommunalismus aber auch eine Ausdifferenzierung von Gesellschaft im Rahmen der (gewaltbearbeitenden) Ausgestaltung sozialer, gemeinschaftsüberschreitender Beziehungen dar und kann als ein „Urgestein des Politischen in Europa“ (Peter Blickle) bezeichnet werden. 15) In den skizzierten „Gefäßbildungen“ von Gemeinden und Gemeindeverbünden, die Grundherrschaft und Hauswirtschaft, Lehenswesen, Ständeverfassung und Kommunalismus koppelten, konnte die systematische Koordination und damit Effizienz und Effektivität der bäuerlichen Arbeitsprozesse gesteigert, und wohl auch die Entstehung „gewerblich industrieller Folgeentwicklungen“ (Mitterauer) begünstigt werden. Im Unterschied zu anderen Kulturräumen, in denen auch Agrarrevolutionen stattfanden, führte in diesen „Gefäßen“ die Kombination von Ackerbau, Viehzucht und Waldwirtschaft in Mittel- und Nordeuropa „zu einem breiten Spektrum von gewerblichen Prozessen der Weiterverarbeitung.“ 16) 60

Keimbildungen der Technisierung, Industrialisierung und Kapitalisierung Zur ökonomischen und Gewerbedifferenzierung gehörten vor allem Mühlenbetrieb, Bäckerei, Brauerei, Gerber, Schuster, Sattler, Drechsler, Küfer, Schmiede u. a. Schließlich wurde schon im europäischen Mittelalter, den wachsenden Bedürfnissen nach Metallwerkzeugen in der Landwirtschaft, nach Waffen, Kanonen und Rüstungen im Heerwesen und nach Glocken, liturgischen Geräten und Reliquiaren der Kirche folgend, der Bergbau zu einem industriellen Wirtschaftszweig mit Großbetrieben und „lernender Organisation“ – u. a. mit der Wassermühlentechnik als Schlüsseltechnologie, mit Arbeitsteilungen und Kombination von Expertenwissen, mit rationaler schriftlicher Geschäftsführung und Rechnungswesen, sowie (im Spätmittelalter) mit frühkapitalistischer Organisation und rechtlicher Absicherung von Investitionen und Eigentumsverhältnissen usw. – eine Kombination, die eine Art „Matrix“ für spätere Verzweigung, Technisierung, Industrialisierung und Kapitalisierung der Wirtschaft im westlichen Pfad darstellte.

Ora et labora: die Mönche als „Geburtshelfer“ des spätkulturellen Systems Schon seit dem frühen Mittelalter (zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert) hat sich in der christlichen Glaubenspraxis eine neue disziplinarische Ordnung, eine die Logik der Arbeit und die Verpflichtung zur Arbeit in sich aufnehmende Variante der mönchischen Lebensform ausdifferenziert. Die Benedict (geb. 480  n. Chr.), dem Begründer des abendländischen Mönchtums zugeordnete Regel „ora et labora“ und ihre systematische Befolgung in der klösterlichen Organisation bilden die ersten Schritte in der Entwicklung einer spezifisch spätkulturellen Koppelung von Alltags- und christlicher Glaubenspraxis zur organisierten und lernenden Aneignung und Mitgestaltung der Natur, die dann in den Klöstern West- und Mitteleuropas am Anfang des zweiten Jahrtausends eine Blütezeit erreichen wird. So finden sich die Keimbildungen der spezifisch europäischen, wissenschaftlich-technischen Naturaneignung in den Klosterwirtschaften der Benediktiner und später der Zisterzienser. Denn hier verbanden sich erstmals christliche Tugenden – Gottgefälligkeit der Arbeit, Askese und Verpflichtung zum Pilgertum – mit der systematischen und expandierenden, bald auch wissenschaftlich angeleiteten Nutzung natürlicher und wirtschaftlicher Ressourcen. Die Mönche entwickelten nicht nur die ersten Ansätze einer Ethik wirtschaftlichen Handelns und einer „methodisch rationalen Lebensführung“ (Max Weber), die sich später – im Protestantismus und darüber hinaus – mit Diesseitigkeit und materiellem Erfolgsstreben verbinden wird 17), sondern bauten auch ihre Klöster zu Stätten der Information und des Wissens aus, zu Vorformen technisch wissenschaftlicher Hochschulen und Experimentierstätten und zu Orten einer hochentwickelten handwerklichen Güterproduktion (Baukunst, Bergbau, Glasblaserei, Eisengewinnung u. a.). Seiner Verpflichtung zum Pilgertum folgend überzog der Zisterzienserorden seit dem 11.  Jahrhundert Europa, von Nordspanien bis Russland und von Schottland bis Sizilien mit einem Netzwerk von Klosterneugründungen, das mit dem christlichen Glauben auch die (teils aus Antike, Orient und Ostasien überlieferten) handwerklichen Techniken und naturwissenschaftlichen Kenntnisse verbreitete. Insofern stellen mönchische Lebensform und Netzwerke eine (wohl kaum intendierte, sondern eher unfreiwillige) „Geburtshilfe“ für die weitere spätkulturelle Systemdifferenzierung in Europa dar. Die skizzierten, in das Mittelalter zurückreichenden Innovationen und Systemdifferenzierungen der Alltagspraktiken  –  Gewerbedifferenzierung und Industrialisierung, Lehenswesen und Ständeverfassung, Kommunalismus und genossenschaftliche Organisationsformen und die mönchische Wissens- und Wissenschaftspraxis – sowie ihre Koppelung mit einer christlichen Glaubenspraxis, die sich diesen Entwicklungen anpasste, sie als Arbeits- und Brüderschaftsethik normativ rahmte und orientierte, lassen sich auch als evolutionäre „Antworten“ auf Chaos und Überkomplexität mittelalterlicher Welt verstehen und bilden in61

sofern eine „Initialzündung“ für die allmähliche Ausdifferenzierung und Durchsetzung des spätkulturellen Systems im zurückliegenden Jahrtausend in Europa.

III. 1 Drei Entwicklungsschübe der Ausdifferenzierung westlicher Systemarchitektur und drei industrielle Revolutionen im zurückliegenden Jahrtausend Beginnend in der griechischen polis, fortgesetzt in der römischen Republik und (nach langer Unterbrechung) im zurückliegenden Jahrttausend vollzog sich in Europa eine Co-Evolution: • eigengeschichtlicher Form- und „Landschaftsbildung“ spätkultureller Lebens- und Arbeitsformen, • mit einer darin sich ausdifferenzierenden Systemarchitektur westlicher Kultur – insbesondere von Gemeinschaft (Liebe, Partnerschaft, Freundschaft, Familie und Gruppenbildung), Gesellschaft (Markt, Staat, Demokratie und Recht) und Technik (Werkzeug- und Medientechnologien), • sowie der Entwicklung von Urteilskraft und intuitiver Sittlichkeit der Bürger und ihrer gefühlten, artikulierten und geforderten Freiheiten, • mit der Ausdifferenzierung professioneller – christlich theologischer, post-religiös philosophischer und wissenschaftlich gestützter – Selbstbeobachtung der Kultur seitens theologischer und intellektueller Eliten, • wobei beide zusammen – bürgerliche Artikulation und Intellektuelle Explikation – Zeitgeistströmungen, Möglichkeitsräume und „Erwartungshorizonte“ (Reinhart Koselleck) hervorbrachten, die vielfältige Anläufe der Reflexion und Mitgestaltung spätkultureller Lebens- und Arbeitsformen in „lernenden Organisationen“ – vor allem der politischen Steuerung, der wirtschaftlichen Leistung sowie von Bildung und Wissen – orientierten und nährten, • all dies wurde gestützt durch die Weiterentwicklung technischer Medien und des kulturellen Gedächtnisses – von der Schrift über den Buchdruck und das Zeitungswesen bis zur Digitalisierung. Wir haben es also mit einer hochkomplexen Entwicklungsdynamik und Co-Evolution zu tun, die im Folgenden nur exemplarisch und in grober Auflösung nachgezeichnet werden kann. 18) Diese Co-evolution hat sich im zurückliegenden Jahrtausend zunächst in den „Gefäßen“ frühneuzeitlicher Stadtstaaten (erster Schub), später der Nationalstaaten (zweiter Schub) vollzogen und findet heute ihre Fortsetzung in den werdenden „Gefäßen“ transnationaler Staatlichkeit (dritter Schub). Eingebettet in diese drei Schübe haben sich bis heute drei industrielle Revolutionen vollzogen. 19)

Der erste Schub im „Gefäß“ der frühneuzeitlichen Stadtstaaten „Die Stadtbürgerschaft usurpierte daher – und dies war die eine große, der Sache nach revolutionäre Neuerung der mittelalterlich-okzidentalen gegenüber allen anderen Städten – die Durchbrechung des Herrenrechts. In den mittel- und nordeuropäischen Städten entstand der bekannte Grundsatz: ‚Stadtluft macht frei‘ – das heißt nach einer verschieden großen, stets aber relativ kurzen Frist verlor der Herr eines Sklaven oder Hörigen das Recht, ihn als Gewaltunterworfenen in Anspruch zu nehmen.“ (Max Weber) 62

Der erste Schub der Ausdifferenzierung des spätkulturellen Systems vollzog sich zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert in den europäischen Städten und brachte hier eine frühkapitalistische, durch Handelskapitalismus geprägte Organisation wirtschaftlicher Leistung, eine sich demokratisierende Organisation politischer Steuerung sowie eine berufsständische und universitäre Organisation von Bildung und Wissen hervor. Der Entwurf der (städtischen) Selbststeuerung und ‑verwaltung, der in der griechischen polis und der römischen Republik schon einmal Gestalt angenommen hatte und den Aristoteles als „politeia“ von der Zusammengehörigkeit kraft Geburt und Sprache (ethnos) und dem Königreich und seiner Hofhaltung (basileia) abgrenzte, blieb bis Ende des Mittelalters weitgehend gefesselt in der Struktur der traditionalen, christlich geprägten Hochkultur, des Kaiser- und Königtums und der abgestuften Feudalherrschaft, der Aufteilung der Menschen in Kleriker, Ritter und Bauern und einer durch Grundherrschaft und Hauswirtschaft geprägten Ökonomie. Erst Im Übergang der mittelalterlichen Bischofsstädte zu den frühneuzeitlichen Bürgerstädten und den hier sich herausbildenden Solidargemeinschaften, in den Ansätzen demokratischer Selbstverwaltung und Marktdifferenzierung, in der arbeitsteiligen Qualifizierung im Rahmen von Produktions‑ und Organisationsaufgaben – der Handwerker und Baumeister, der Schreiber und Übersetzer, der Intellektuellen, Lehrer und Künstler – wurden die Potentiale „lernender Organisation“ allmählich entfesselt und „ausbuchstabiert“. 20) Bereits hier entstand eine europäische Netzwerkgesellschaft, die eine Vielzahl von Städten, (wie z. B. in der Hanse) durch Handel, Kommunikation und Schaffung gemeinsamer Sicherheit verband. In den Städten entwickelte sich eine (in Ansätzen demokratische) Selbstverwaltung sowie eine Geldwirtschaft, mit Zins und Bankenwesen und der damit verbundenen Transformation von Besitz in kreditbelastbares Eigentum. Sie stützte sich auf die Verschriftlichung, manuelle Vervielfältigung und Verbreitung von Wissen, insbesondere der im Orient weiterentwickelten und tradierten Mathematik, Naturwissenschaften, Künste und Techniken, die, in den Klosterkulturen begonnen, nun von den städtischen Intellektuellen und in den Universitäten fortgesetzt wurden. Diese Entwicklung war verbunden mit dem Aufblühen von Manufakturen und einem ersten Industrialisierungsschub, der teils noch regenerative, teils bereits fossile Energien nutzte und vor allem Innovationen in den Bereichen der Architektur, des Dom-, Brücken- und Mühlenbaus, der Hüttentechnik und Eisenschmiedung sowie der Technologien zur Textilherstellung, für Schiffbau, Waffen, Uhren, Brillen, Messgeräte etc. hervorbrachte. So konnte sich im „Gefäß“ der (insbesondere italienischen) Stadtstaaten erstmals das „Flechtmuster“ einer lernenden, Öffnung und Schließung balancierenden Organisation wirtschaftlicher Leistung, politischer Steuerung sowie von Wissen, Bildung und Qualifikation herausbilden. Eingebettet in diese Entwicklung war ein Industrialisierungsschub, der sich auf „sanfte“ Energienutzung (Muskelkraft, Wind, Wasser, Holz), mechanische Technologie und manufakturelle Arbeitsorganisation stützte.

Wurzeln der Naturwissenschaften und Technologien in der Koppelung christlicher Glaubenspraxis mit Naturnutzung und Handwerk In der schon im „Gefäß“ religiöser Klosterkulturen „gekeimten“ lernenden Organisation, die Handwerk und Naturwissenschaft, entsprechende kognitive Kompetenzen und Formen der Kooperation koppelte und integrierte, fand der schon im Griechentum begonnene, dann unterbrochene und zunächst im Orient weiter geführte Prozess der evolutionären Ausdifferenzierung von Wissenschaft als System objektivierender Wahrnehmung, Beobachtung und Konstruktion der Welt seine Fortsetzung. Von hier führte der Weg zur wissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert und damit zur Entstehung des modernen wissenschaftlichen Weltbilds in Europa. Die Geschichte der technischen Intelli63

genz, in der wissenschaftliche, der Wahrheitssuche verpflichtete Theoriebildung und Technologieentwicklung sich immer enger miteinander verbanden, wechselseitig befruchteten und beschleunigten, begann in den Werkstätten der Zisterzienserklöster, wo die handwerklich und wissenschaftlich tätigen Mönche nicht nur Arbeitswerkzeuge, sondern auch Beobachtungs- und Messinstrumente für ihre wissenschaftlichen Studien entwickelten und führte über die Mathematiker, die Dombaumeister, Brücken- und Mühlenbauern zu den universal gebildeten Ingenieuren, Künstlern und Architekten der Renaissance und zu den Begründern der neuzeitlichen Naturwissenschaft wie Kepler, Galilei und Newton. Klosterkulturen und frühneuzeitliche Städte bildeten die „Gefäße“ der Entwicklung und Expansion einer beachtlich technisierten Agrar- und Handwerkergesellschaft im Europa des 11./​12. Jahrhunderts. Darin eingebettet und in Nutzung und Koppelung der hier bereitgestellten handwerklichen, technischen und wissenschaftlichen Ressourcen, vollzog sich die Entwicklung, die man als erste industrielle Revolution bezeichnen kann. Dabei ging die Führungsrolle von den Klöstern an die Händler und Händler-Produzenten über.

Erste industrielle Revolution: Koppelung von Technologieentwicklung und Produktion mit Unternehmerwirtschaft und Handel Als entscheidend für die weitere industrielle Entwicklung erwies sich die Koppelung der Technologieentwicklung mit privater Unternehmerwirtschaft in den Städten. Die aus dem Orient importierten und von den Mönchen verfeinerten Technologien bildeten zwar die technischen Voraussetzungen für die erste industrielle Revolution, ihre „Initialzündung“ bestand aber darin, dass die im Orient in traditionelle Produktionsformen (Staatswerkstätten und Hausindustrie) eingebetteten Technologien hier in den ökonomischen Rahmen einer Märkte schaffenden Unternehmerwirtschaft eingebunden wurden. Erstmalig und bahnbrechend geschah dies in der oberitalienischen Baumwollverarbeitung ab Mitte des 12. Jahrhunderts, wo sich mit Einführung des mechanischen Webstuhls aus dem Orient eine gewerbliche Textilindustrie in Gestalt von privatkapitalistisch geführten Manufakturbetrieben etablierte. Die wesentlich ältere – in der frühen Antike entstandene Praxis von Warentausch und Handel – wird nun enger mit manufaktureller und in Ansätzen schon industrieller Produktion und Arbeitsteilung gekoppelt. Damit wird der Markt als das Integrationssystem in Europa ausgebaut, das in Zukunft über alle traditionalen Loyalitäten und geographischen Grenzen hinweg Völker, Regionen und Menschen immer intensiver und schneller miteinander in Beziehung und Wechselwirkung treten lässt. Schon beginnend im 12. Jahrhundert wird der Markt zu einem Motor der Entwicklung und Verbreitung von Schlüsseltechnologien, des Wirtschaftswachstums, der räumlichen Verteilung und arbeitsteiligen Integration der europäischen Bevölkerung. Zwischen dem 11. und dem Ende des 13. Jahrhunderts wuchs die europäische Bevölkerung von rund 10 auf 80 Millionen. Diese privatkapitalistisch durchorganisierte Produktion erwies sich als so erfolgreich, dass sie zum Modell und Vorbild vieler späteren Zweige industrieller Produktion wurde. Diese vollzog sich in den folgenden Jahrhunderten im Auf- und Ausbau von weiteren Schlüsselindustrien, die neue Energienutzungsmöglichkeiten, Technologien, Arbeits- und Organisationsformen entwickelten, Arbeitskräfte, Zulieferer und Satelliten anzogen, Wissenschaft und Technik zusammenführten. Dazu gehörten Hüttentechnik, Eisenschmiedung und Eisenguss im 12. Jahrhundert, die Schiffstechnologie und ihre fabrikmäßige Produktion einschließlich einer Vielzahl von Zulieferern im 13. Jahrhundert, die Uhren- und Brillenherstellung und die damit verbundene Entwicklung von Präzisionswerkzeugen sowie Architektur und Handwerk und ihre Koppelung mit Mathematik, Geometrie und Astronomie im 14. Jahrhundert und schließlich die Koppelung von Papierherstellung und Drucktechnik als Kern einer neuen Entwicklungsstufe gesellschaftlicher Informationsverbreitung und Kommunikation im 15. Jahrhundert. 64

Mit der Entfaltung der Industrien und ihrer Absatzmärkte entstand ein Netzwerk europäischer Handelszentren (industrielle Ballungszentren und städtische Großräume), das sich entlang der Hauptachse quer durch Europa von der englischen Küste über die Rheinschiene, Alpen, Adria bis nach Konstantinopel erstreckte. Im 14.  Jahrhundert lebten z.  B. in Mailand 300000  Menschen. Und bereits hier kann man von Ansätzen einer grenzüberschreitenden durch Produktion und Handel verknüpften Netzwerkgesellschaft sprechen. 21) In globalgeschichtlicher Betrachtung handelt es sich hier um ein europäisches Teilsystem im Rahmen eines weit darüber hinausgehenden Welthandelssystems, das sich in Ansätzen bereits im 13. Jahrhundert ausdifferenziert hatte, nahezu den gesamten eurasischen Kontinent über eine Vielzahl von Handelsverbindungen und urbanen Knotenpunkten vernetzte und damit einen Entwicklungskorridor für weiteren Austausch, Handel und Vernetzung bildeten, in dem sich in den folgenden Jahrhunderten ein Weltwirtschaftssystem ausdifferenzieren konnte. 22)

Koppelung von wirtschaftlicher und politischer Integration in städtischer Organisation Die Städte waren die Geburtsstätten einer differenzierten Verständigung und einer zunehmend auf verschriftlichte Rechtsetzung und Rechtsprechung gestützten (wirtschafts)politischen Steuerung. In den Reichsstädten, Städtebünden, Hansestädten und Stadtrepubliken entwickelten sich „lernende Organisationen“: eigenständige politische Organisationsformen mit einem hohen Maß an gesellschaftlicher Selbstorganisation und einer Vielzahl von berufsbezogenen Organisationen, sozialen Selbsthilfeorganisationen, genossenschaftlichen Systemen, regionalen Handelskammern, die über soziale Sicherung hinaus auch eine innovative Technologiepolitik, Professionalisierung und Arbeitsteilung vorantrieben. Diese Ausdifferenzierung eines frühbürgerlichen, verrechtlichten und in Ansätzen bereits demokratisierten Verwaltungs- und Steuerungssystems und entsprechender Freiheiten und Rechte der Bürger im Rahmen der städtischen Organisation politischer Steuerung bildete – mit der naturwissenschaftlich basierten Technologie und dem Markt und seiner unternehmerischen Ausgestaltung – eine dritte Systemdifferenzierung in der frühneuzeitlichen Entwicklung. In den frühneuzeitlichen städtischen Handelszentren, in Gestalt der hier praktizierten Wirtschafts-, Technologie- und Entwicklungspolitik entstand erstmalig das moderne Flechtmuster von horizontaler – durch Dialog und Öffentlichkeit, durch Markt, Produktion und Arbeitsteilung geprägter – Vernetzung von Menschen und ihrer vertikalen – durch Politik und Recht, durch Machtverteilung und Institutionalisierung geleisteten – Integration und (teil)demokratischen Selbststeuerung. Diese dynamische Verflechtung ökonomischer und politischer Integration ist ein zentrales Merkmal spätkultureller lernender Organisation, wird später – in den größer gefassten Grenzen von Nationalstaaten und später Staatenbünden – zum Grundmuster und Erfolgsrezept ihrer systemischen Wettbewerbsfähigkeit und zum Motor der globalen Expansion europäischer Industriegesellschaft. Die damit verbundene „Ökonomisierung des Regierens“ (Joseph Vogl) konnte im westlichen Pfad – abgesehen von ihren auch kontraproduktiven Ausprägungen, auf die wir später eingehen werden – bis heute ganz wesentlich zur Ablösung von Kriegen durch Handelsbeziehungen beitragen. 23) Griechische Polis, römische Republik und die frühneuzeitlichen Stadtstaaten bezeichnen Orte und Zeiten in der kulturellen Evolution, wo in Ansätzen Bürgermacht und ihre Delegation an (zunächst freiwillig anerkannte, dann gewählte) Führer entstanden. Zumindest in Teilbereichen der Gesellschaft wurden hier soziale Herrschaft und Willkür durch Dialog und delegierte politische Macht und bürgerliche Freiheit abgelöst. Hier hat sich das System der (städtischen) Selbststeuerung und ‑verwaltung ausdifferenziert, das schon, 65

wie bereits erwähnt, von Aristoteles als „politeia“ hervorgehoben wurde. Diese beinhaltet später auch die bürgerliche Eidgenossenschaft, die Schutz bietet durch die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfeleistung. Die antike „politeia“ wurde in den frühneuzeitlichen Städten, in den polis-ähnlichen Formen direkter Verständigung und demokratischer Willensbildung, der einvernehmlichen Konfliktregelung und des Interessenausgleichs zwischen Sippen, Klassen, Berufsgruppen und Einzelnen wieder aktiviert und – durch wachsende Größe der Städte und Städtenetzwerke und die zunehmende Komplexität anstehender Aufgaben und administrativer Vollzüge – unter weiteren Entwicklungs- und Differenzierungsdruck gesetzt. Später wird sich die „politeia“ in nationalstaatlichen „Gefäßen“ – auf der Grundlage von Rationalisierungsprozessen der Verwaltung und Organisation schon in Fürstentümern und im Absolutismus – weiter ausdifferenzieren.

Glaubenspraktische Rahmung (1): Städtisches Christentum „Die Arbeitsteilung, die Stadt, die neuen Institutionen, ein der ganzen Christenheit gemeinsamer und nicht mehr in der geographischen und politischen Zerstückelung des Hochmittelalters verkörperter kultureller Raum, das sind die wesentlichen Züge der neuen geistigen Landschaft der abendländischen Christenheit an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert.“ (Jaques Le Goff) Wie in Ansätzen schon in der griechischen Polis bezog auch die Gemeindebildung in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (im Anspruch) alle Menschen als Bürger – jenseits von Unterschieden der Person oder des Standes – in eine zumindest teildemokratische Willensbildung mit ein. Insofern wurden hier griechische und römische Ausprägungen der „politeia“ aufgenommen und weiterentwickelt. Diese Vergemeinschaftung wurde in ihren Anfängen noch ganz wesentlich durch die christliche Glaubenspraxis und Gemeindebildung gerahmt und gestützt. Beide zusammen bildeten die spätkulturelle städtische Ordnung, die in dieser Ausprägung spezifisch okzidental ist. Die zentrale Leistung des frühneuzeitlichen städtischen Christentums bestand im zunächst gelingenden „Brückenschlag“ zwischen der katholischen Brüderschaftsethik und der ökonomischen und politischen Praxis der Bürger. Der moralische Kosmos des Christentums öffnete sich für die Anforderungen der Wirtschaft und diese nahm zumindest in Anteilen die universalistischen ethischen Normen des Christentums in sich auf. Damit wurde die bis dahin noch Handel und Märkte beherrschende Trennung zwischen Binnen- und Außenmoral durchlässig: Auch der Fremde ist ein Mensch und Mitglied einer nicht territorial begrenzten Christengemeinde, der als Handelspartner genauso christlich, rechtmäßig und korrekt zu behandeln ist wie die städtischen Mitbürger. Diese Entwicklung wird in der christlichen Philosophie reflektiert, z. B. im ethischen Universalismus des Meister Eckhart, seiner Forderung, den Fremden anzuerkennen und die Feinde zu lieben. 24) Insofern hat der christliche Liebesuniversalismus die städtisch bürgerliche Vergemeinschaftung gestützt und sich von hier aus im europäischen Entwicklungspfad – als „Lichtseite“ des Christentums – zu einer Religion der Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit in der Gemeinschaft und Gesellschaft sowie der Selbstbestimmung und Verantwortung des Individuums entwickelt. Darauf kommen wir später zurück.

Glaubenspraktische Rahmung (2): Keimbildungen post-religiöser Weltentwürfe „Werden Sie Mensch, dann müssen Sie kein Christ oder Muslim werden.“ (Paul Schulz) 66

Nach dem anfänglichen „Brückenschlag“ zwischen der religiösen Brüderschaftsethik und der ökonomischen und politischen Bürgerpraxis und den Ansätzen zur Integration des christlich- spirituellen mit dem weltlichen Universalismus der Bürgergesellschaft scheiterte die katholische Kirche zunehmend an der Herausforderung, das frühneuzeitliche städtische Leben, die hier sich entwickelnde soziale Dynamik, Selbstorganisation und neue Bürgerfreiheit wie auch die Rationalisierung und vertragsbegründete Wirtschaftspraxis glaubenspraktisch zu rahmen und zu orientieren. Erst der Protestantismus und hier insbesondere der Calvinismus konnten später eine solche Rahmung wieder anbieten. Dieses Versagen des Katholizismus war der Beginn seiner (bis heute in Europa sich hinziehenden) Erosion und begünstigte in den Städten die Entstehung intellektueller und universitärer Öffentlichkeit, in denen sich nun wieder (ähnlich wie in der griechischen Polis) eine agonistische Glaubenspraxis, eine Verständigung auch über Glauben entwickelte. Hier bildete sich ein Denken heraus, das nicht mehr sein Wissen aus dem Glauben ableitete, sondern vom Wissensgewinn zunächst noch zum christlichen Glauben zurück, dann aber bald zu einer post-religiösen, philosophisch und wissenschaftlich gestützten Glaubenspraxis führte. In der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Scholastik des 13. Jahrhunderts setzten sich der spätkulturelle Umgang mit Texten (Hypolepse) und Elemente einer post-logozentrischen, Kreativität und Kritik zulassenden Selbstbeobachtung/​Glaubenspraxis allmählich durch. Insofern kann man hier von einer Zeit der Öffnung sprechen. 25) Die theologischen und philosophischen Lehrveranstaltungen der unabhängigen Intellektuellen und Professoren in den großen Städten wie z. B. in Paris und Chartres wurden zu Zentren der Wiederaneignung des in der griechischen Antike entstandenen und im Orient überdauerten wissenschaftlichen und philosophischen Wissens. Die hier gelehrte Dialektik drängte die Interpretationsmacht und die geistige Führerschaft der Klöster und der Kirche zurück. Dabei zeigte die intellektuelle Glaubenspraxis teilweise deutliche Züge einer Verallgemeinerung der Logik der städtischen, manufakturellen Alltagspraxis. Häufig wurde die hier entworfene und konstruierte „ganze Welt“ als eine Art Fabrik vorgestellt, in der die menschliche Gesellschaft als „Arbeitsgemeinschaft“ und der Mensch als „homo faber“ wirkt und „Bücher zu Werkzeugen“ werden. 26) Verbunden mit der zunehmenden geistigen Beweglichkeit im Umfeld und als Folge eines zunehmend fragenden, anzweifelnden und kreativen Umgangs mit Wissen entstand ein intellektuelles Vagantentum, modern ausgedrückt: eine „städtische, libertäre und hedonistische Szene“ (Jaques Le Goff), an der das Bemühen der Mönche, die Erkenntnisse der Philosophie und Wissenschaft der moralisch religiösen Ordnung zu unterwerfen schließlich ebenso scheitern musste wie ihre Forderungen, die „Sittenlosigkeit“ der Städte hinter sich zu lassen und zur religiösen Inbrunst im einfachen Leben auf dem Lande zurückzukehren. Mit den Intellektuellen entstand eine Gruppe der Wissens- und Glaubensarbeiter, die als Übersetzer, Deutende und Lehrende zunehmend die Mönche und Kleriker ablösten. Sie bemühten sich zunächst noch um eine Einbindung des neuen Wissens in den christlichen Glauben, lockerten diese Einbindung aber zunehmend. 27) In der intellektuellen Kultur der frühneuzeitlichen Städte begann die Subversion und schließlich Sprengung des mittelalterlichen Universalienrealismus durch den Nominalismus. Die Selbstbefreiung des Denkens aus einer vermeintlich vom Schöpfergott erzeugten hierarchischen Weltordnung öffnete den Spielraum für die (wissenschaftliche) Differenzierung und Objektivierung alltagspraktischer Beobachtung und einer glaubenspraktischen Selbstbeobachtung, in der nun Begriffe, Modelle, Theorien etc. freier und freier kombinierbar, später auch zunehmend methodisch „gereinigt“ und an empirische Erfahrung gebunden, weiterentwickelt werden konnten. 28) Diese städtisch-intellektuelle und post-logozentrische Glaubenspraxis, die als Verständigung über Glauben religiöse wie post-religiöse Ordnungsentwürfe kritisch reflektiert, hat trotz brutaler und vielfältiger Unterdrückung und Verfolgung der Intellektuellen durch Kirche und Staat, durch religiöse und weltliche Machthaber in the long run Europa für Säkularisierung, Enttheologisierung der Ethik und der Politik geöffnet und prägt den westlichen Pfad bis heute. 67

Gründung, Wachstum und Vernetzung der Städte in den ersten Jahrhunderten des zurückliegenden Jahrtausends waren trotz vieler Rückschläge eine kreative Aufbauphase lernender, Öffnung und Schließung balancierender Organisation in Europa. Hier entstanden schon viele Bausteine westlicher Kultur: technische Intelligenz und Wirtschaftskapital, buchdruckgestützte Informationsverarbeitung, Kommunikation und Öffentlichkeit, geographische Expansion und Bevölkerungswachstum, Vernetzung von Märkten und städtische Agglomerationen, entwicklungsorientiertes Unternehmertum und politische Selbstverwaltung. Diese Errungenschaften wurden in kultureller Selbstbeobachtung reflektiert und zu zunehmend post-religiösen Weltbildern verbunden. Die westliche Moderne hat schon in den frühneuzeitlichen Städten begonnen und sich dann, wie noch zu zeigen ist, in den „Gefäßen“ werdender Nationalstaaten weiter ausdifferenziert, sich in den alltagspraktischen Realabstraktionen  –  der Subjektivierung des Menschen zum Bürger, der technisch-wissenschaftlichen Objektivierung der Welt und einer universalinklusiven Gesellschaft – sowie in den Wissenschaften und Künsten und gerahmt durch religiöse und zunehmend post-religiöse Glaubenspraktiken verbreitet und stabilisiert.

Die katalytischen Funktionen des Buchdrucks: translokale Öffentlichkeit, Selbstbeobachtung und hypoleptische Gedächtnisbildung der Kultur Die spätkulturelle Systemdifferenzierung und Organisationsentwicklung in der ersten Hälfte des zurückliegenden Jahrtausends wäre vielleicht auf vergängliche „Inselbildungen“ in Europa beschränkt geblieben, wenn nicht im 15. Jahrhundert eine Technologie entstanden wäre, die mehr ist als eine Produktionstechnologie: die Drucktechnik. Ihre Bedeutung als Katalysator der weiteren Entwicklung lernender Organisation und der Ausdifferenzierung spätkultureller Alltags- und Glaubenspraktiken kann gar nicht überschätzt werden. Ähnlich wie in dieser Zeit die Erfindungen von Kompass und mechanischer Uhr Raum und Zeit messbar und verfügbar machten und ihre (wissenschaftliche) Abstraktion zum universalen Raum und zur universalen Zeit vorbereiteten und wie die Erfindung der Augengläser den Kosmos des Beobachtbaren und Messbaren explosiv erweiterten 29), führte die Erfindung und Anwendung der Drucktechnik zu einer Erweiterung und Vertiefung des öffentlichen Raums, zu einer explosionsartigen Verbreitung und Konzentration, Nutzung und wechselseitigen Durchdringung von Wissen und Glauben und zur Entstehung eines europäischen Informations- und Kommunikationsnetzes. 30) Informationsexplosion und kommunikative Vernetzung, die mit der Büchermenge wachsende Erfahrbarkeit eines Wissensfortschritts und die Steigerung entsprechender kognitiver und kommunikativer Kompetenzen der Menschen verstärkten sich wechselseitig. Indem die Kommunikation aus den Fesseln gemeinschaftlicher Präsenz von Menschen zur gleichen Zeit und am gleichen Ort gelöst und das Wissen durch massenhafte Verbreitung aus dem Besitz von Schriftkundigen befreit wurde, entstand ein Nährboden für die Entwicklung bürgerlicher Öffentlichkeit und (Selbst)kritik. In diesem Rahmen entstand später auch das Selbstverständnis einer „Republik der Gelehrsamkeit“ (res publica literaria), der wissenschaftlichen Akademien, Journale und persönlichen Publikationen. Schon in den neuzeitlichen Städten waren die Entwicklung lernender Organisation und die funktionale Systemdifferenzierung der Alltagspraktiken eng mit der Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit verbunden. 31) Im ersten Entwicklungsschub in den frühneuzeitlichen Stadtstaaten hat sich die in der Antike „gekeimte“ spätkulturelle Grammatik „werdender Vernunft“ weiter ausdifferenziert. Dazu gehören, wie gesagt, die Ausdifferenzierungen der („von Natur aus“) nicht logozentrischen Alltagspraktiken und ihre implizite Normativität: die auf Sachhaltigkeit und Objektivierung gestützte (wissenschaftliche) Erschließung und technische 68

Mitgestaltung der Welt, die auf reziproke Empathie und Subjektivierung gestützte Gemeinschaftsbildung und die auf reziproke Anerkennung und Bürgerrolle gestützte Gesellschaftsbildung sowie die in diesen Prozessen gereifte intuitive Sittlichkeit der Bürger: Wahrheitsliebe, Vertrauen und Solidarität sowie Verstehen und Gerechtigkeitsempfinden. Ferner gehören zur spätkulturellen Ausprägung „werdender Vernunft“ die Reflexion dieser Alltagspraktiken, ihrer impliziten Normativität und der intuitiven Sittlichkeit der Bürger in post-logozentrischen (religiösen und ansatzweise post-religiösen) Glaubenspraktiken sowie die hypoleptische Gedächtnisbildung, die wechselseitige Durchdringung und Interpretation professionell intellektueller und alltäglicher Selbstbeobachtung in der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihre „Gerinnung“ zum Zeitgeist. Gestützt durch das technische Medium des Buchdrucks haben diese Entwicklungen auch die evolutionäre Ausdifferenzierung des Systems „Kultur der Kultur“ als „flüssiges Fundament“ westlicher Kultur gebahnt. Obwohl sie in der Folgezeit vielfach geschwächt, außer Kraft gesetzt und verschüttet wurde, konnten diese spätkulturelle Grammatik des „systemisch Guten“ und die Keimbildungen einer „vierten Kultur“ auch die weiteren Entwicklungsschübe westlicher Kultur beeinflussen und sich in diesen weiter ausdifferenzieren.

Der zweite Schub im Gefäß werdender Nationalstaaten Der zweite Schub spätkultureller Evolution begann im 16. Jahrhundert, zunächst im Bereich der politischen Steuerung in Fürstentümern und im Absolutismus und setzte sich dann vor allem in den „Gefäßen“ der werdenden europäischen Nationalstaaten weiter durch. Auch für diesen zweiten Schub und seine Zeit gilt, dass sich die evolutionäre, systemische Ausdifferenzierung der Alltags- und Glaubenspraktiken, die westliche Systemarchitektur und die eigengeschichtlichen „Landschaftsbildungen“ Europas und ihre glaubenspraktisch geleitete, organisierte und auch revolutionäre Mitgestaltung durch engagierte Individuen und Kollektive gegenseitig gestützt und vorangetrieben haben. Die schon in der griechischen polis und in der römischen Republik als „Keimbildungen“ angelegten und sich in den frühneuzeitlichen Städten wieder durchsetzenden alltagspraktischen Konstruktionen  –  der menschlichen Natur als entfaltete bürgerliche Subjektivität, der Gesellschaft als einer durch Einigung, Vertrag und Recht konstituierten sozialen Ordnung sowie der Mitnatur als einer post-gegenständlichen relationalen Objektivität – konnten sich in der eigengeschichtlichen Landschaftsbildung westlicher Kultur in den folgenden Jahrhunderten weiter stabilisieren und ausdifferenzieren. Die alltagspraktischen Konstruktionen wurden in religiösen und post-religiösen Glaubenspraktiken – im Renaissance-Humanismus, in der naturwissenschaftlichen Revolution, im philosophischen Rationalismus und in der Aufklärung wie auch in der Romantik – reflektiert und hier – jeweils in Balancen von Öffnung und Schließung zu Entwürfen und Modellen von Subjektivität, Gesellschaft und Objektivität verallgemeinert, die wiederum in den Zeitgeist einfließen und vielfältige Anläufe intentionaler und organisierter Mitgestaltung der kulturellen Landschaftsbildung seitens involvierter und engagierter Individuen und Kollektive orientieren und anleiten konnten. Diese Entwicklung mündete u. a. in politische Revolutionen in Amerika und Europa sowie in die zweite industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. Die Schübe der Ausdifferenzierung „werdender Vernunft“ im westlichen Pfad lassen sich auch als eine Folge von erfolgreichen Anläufen der Krisenbearbeitung verstehen. Wie für die Geburt der spätkulturellen Alltags- und Glaubenspraxis in der griechischen polis gilt das auch für ihre Wiedergeburt und weitere Ausdifferenzierung in der Neuzeit. Ihren Hintergrund bilden auch Natur- und Kulturkatastrophen – die Pest im 14. Jahrhundert, die Einführung unbekannter Krankheiten durch Seefahrt wie auch Seuchen, Hungersnöte und ökonomische Depressionen – vor allem aber die Erosion und Erschöpfung der hochkulturellen 69

Lebensform in Europa: Dekadenz und Korruption weltlicher und kirchlicher Herrschaft, Religionskriege, Inquisition, Folter, wie auch die Verbreitung von Resignation, Apathie und eines apokalyptischen Denkens. Vor diesem Hintergrund erwiesen sich die neuen Entwürfe des menschlichen Subjekts, der Gesellschaft wie auch der Natur in den o.g. Zeitgeistströmen auch als „Auswege“ (Giorgio Agamben), die Möglichkeitsräume eröffnen und – über mediengestützte Diffusion in die bürgerliche Öffentlichkeit – Orientierungen für neue, reformerische und revolutionäre Anläufe der Mitgestaltung bieten konnten. (Später wird uns besonders interessieren, welche Möglichkeitsräume, Auswege und Neuorientierungen die Gegenwart der westlichen Kultur mit Blick auf ihre Selbsttransformation eröffnet.)

Hypoleptische Gedächtnisbildung und „Kultur der Kultur“ Gebahnt durch drucktechnisch gestützte, öffentliche und translokale Verständigung werden lineare Tradierung, getreue Überlieferung von Wissensbeständen und dogmatisches „Ausbuchstabieren“ von Glaubensgehalten zunehmend durch ihre selektive Rezeption und durch Anläufe ihrer Dekontextualisierung, und Neuinterpretation überlagert und abgelöst. Der schon in der griechischen Antike eröffnete hypoleptische Horizont dehnt sich weiter aus. 32) Darüber hinaus kommt es auch zu einer räumlichen Entgrenzung: Als Folge des Kolonialismus und der Intensivierung globaler Handelsbeziehungen werden spätestens seit dem 17. Jahrhundert europäische Öffentlichkeit und Diskurse zu „Schwämmen“, die tendenziell alle Erfahrungen, Wissen und Künste aus allen Erdteilen „aufsaugen“ und als Ressourcen innovativer Generierung von Sinn nutzen. Hier beginnt auch erstmals eine „erdumspannende Kontaktaufnahme zwischen den philosophischen Traditionen.“ 33) Mit der Entwicklung des hypoleptischen Beziehungsraums sind der weitere Ausbau und die wachsende Bedeutung einer sich von Alltags- wie auch von religiöser Glaubenspraxis ablösenden „aufklärenden“ Theoriepraxis (Philosophie und Wissenschaften), die Ausdifferenzierung kontextübergreifender Diskurse und Formen eines spielerischen, an zweckfreier Wahrheitssuche orientierten Umgangs mit Sprache, Bedeutung und Interpretation verbunden, deren Keimbildungen, wie bereits dargestellt, in die griechische Antike zurückreichen. Damit war eine wichtige Voraussetzung für die weitere Ausdifferenzierung und Durchsetzung des spätkulturellen Systems in der europäischen Geschichte gegeben. Die in der hochkulturellen Evolution dogmatisch erstarrte und im kulturellen Gedächtnis tradierte religiöse Weltsicht konnte die kulturelle Lebensform immer weniger verbindlich orientieren, sondern wurde zu einem möglichen unter anderen Weltmodellen, die nun als Ressourcen der Neuinterpretation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Rahmen einer regelsuchenden und zukunftsoffenen „lernenden“ Organisation und einer diese Offenheit reflektierenden post-logozentrischen Selbstbeobachtung und Verständigung über Glauben genutzt wurden. Dabei bezog sich „Hypolepse“ als re-interpretierende Bezugnahme über Jahrtausende nun nicht nur auf Texte, sondern zunehmend auf die gesamte Wirklichkeit und „Ausstattung“ der Kultur: also nicht nur auf Theologie, Philosophie und Wissenschaft, sondern auch die Künste, die Musik, das Theater sowie Architektur, Landschaftsgestaltung, Mode, Techniken usw. werden hier einbezogen. Alles, was gedacht, theoretisch beschrieben und/​oder praktisch entworfen, hergestellt und gestaltet wird, kann nun über seine bloße Wiederholung, Fortsetzung und Variation im Traditionsfluss hinausgehen, indem es (durch das Fühlen und Erfahren, durch das Denken und Handeln seiner Gestalter hindurch) sich selbstreferent und reflexiv auf seine Vergangenheit bezieht und mit dieser „spielen“, sie virtualisieren, neu rekombinieren und konfigurieren kann und muss. Tradition und Festschreibung von Wissen werden hier (vorübergehend) durch Öffnung und spielerische Neufassungen abgelöst. 34) 70

Dies führt zu einer Flexibilisierung, stärkeren wechselseitigen Durchdringung und neuen Vielfalt in den Verbindungen reflexiver Selbstbeobachtung mit lernender Organisation der Alltagspraktiken. Diese können vielfältige Reflexionen und Ideenbildungen anstoßen, die wiederum in den verschiedensten Lebensund Alltagsbereichen unvorhersehbare Veränderungen orientieren und legitimieren. 35) Hier verdichten sich Selbstreferenz, hypoleptische Bezugnahme auf Vergangenheit und sprachlich diskursive Verständigung, die sich in Vollzügen und Entwicklung spätkultureller bürgerlicher Öffentlichkeit herausgebildet haben, zu einer zukunftsoffenen Verständigung über Welt-, über alle Alltagspraktiken und zunehmend auch über Glaubenspraktiken und ihre Inhalte. Dabei handelt es sich um eine post-logozentrische Glaubenspraxis und Selbstbeobachtung, die Perspektivenvielfalt, kognitive Dezentrierung und Ambiguitätstoleranz der Menschen begünstigen und sich bis heute insbesondere im westlichen Pfad als System „Kultur der Kultur“ stabilisiert und ausdifferenziert haben. Die in der griechischen polis „gekeimte“ und in den frühneuzeitlichen Städten wiedergeborene post-logozentrische Selbstbeobachtung und hypoleptische Gedächtnisbildung der Kultur führen in die Skepsis, zum Glauben an die Relativität aller Ordnungsentwürfe und bestärken hier die Ahnung, dass wir Menschen mit Blick auf alle wirklich relevanten Fragen unseres Lebens keinen Gewissheiten, sondern nur (mehr oder weniger gut) begründbaren Annahmen und Vorstellungen folgen können. Der Mut, alle (religiösen und post-religiösen) Entwürfe „ganzer Welten“ skeptisch-reflexiv zu hinterfragen und zu relativieren, prägt die gesamte Neuzeit, durchzieht in unterschiedlichen Anteilen den Humanismus und die Renaissance, die naturwissenschaftlichen Revolutionen und die Aufklärung wie auch die Romantik, die Moderne und die sog. Post-Moderne – über alle ansonsten bedeutsamen Unterschiede hinweg. 36) Da „Schwebezustand“ und Komplexität des Skeptizismus alleine nicht lebbar und organisierbar sind, müssen sie durch erneute „Schließungen“ ausbalanciert werden. Deshalb lassen sich alle neuzeitlichen, teils noch religiös, zunehmend aber post-religiös, philosophisch und wissenschaftlich begründeten Entwürfe und Konstruktionen – des Menschen und seiner Subjektivität, der gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Verbindlichkeit sowie der Natur und ihrer Objektivität – auch als Versuche und Anläufe einer mehr oder weniger gelingenden Balance von Öffnung und Schließung verstehen. Unter dem Aspekt der Öffnung haben wir es mit dem Zulassen und Eindringen neuer, alltagspraktisch generierter Imaginationen und Erfahrungen (des träumenden und ahnenden Geistes) zu tun. Und die vielfältigen Anläufe zu ihrer Schließung in religiösen und zunehmend post-religiösen Deutungsmustern lassen sich auch hier, wie in allen Glaubenspraktiken, als „kontrafaktischer Stabilisierungsmechanismus“ (Rainer Döbert) interpretieren. 37)

Von der religiösen zur post-religiösen Selbstbeobachtung und Glaubenspraxis Im Verlauf des zweiten Schubs spätkultureller Evolution hat sich die reflexive glaubenspraktische Selbstbeobachtung mit Blick auf alle drei Bereiche  –  die menschliche Natur, die Gesellschaft und die Mitnatur – zunächst noch christlich religiös, dann aber auch und zunehmend post-religiös strukturiert. Die damit verbundene „Landnahme“ post-religiöser Glaubenspraxis – der Glaube an Macht und Freiheit des (als „geistvoll“ entworfenen) Subjekts zur Selbstbestimmung und Eigengesetzlichkeit, der Glaube an den Fortschritt der Beherrschung einer zunächst zunehmend mechanistisch (als „geistlos“) gedachten Natur wie auch der Glaube an eine herstellbare gute Organisation der Gesellschaft – haben im westlichen Pfad weitere spätkulturelle Ausdifferenzierungen des „systemisch Guten“ bzw. „werdender Vernunft“, aber auch Rückfälle in Logozentrismus, die weitere Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ bzw. der „beharrenden Unvernunft“ gebahnt. Dazu gehören Verkürzungen im Selbstverständnis des menschlichen subjektiven Geistes, die teils religiös, im Protestantismus, teils post-religiös in Aufklärung, Philosophie und Wissenschaften be71

gründet sind. Ferner finden sich diese Begrenzungen in den Entwürfen und Konstruktionen einer objektivierten und mechanistisch gedachten Natur wie auch in patriarchal und autoritär und technokratisch und ökonomistisch verkürzten Gesellschaftsmodellen. (Dazu mehr in Kap. IV.) Wir konzentrieren uns zunächst weiter auf die evolutionäre Ausdifferenzierung „werdender Vernunft“, ihre spezifisch westlichen Ausprägungen und Fortschritte, ihre glaubenspraktisch bedingten Grenzen und die Möglichkeiten zu ihrer Überwindung in Ansätzen einer Selbstbeobachtung „vierter Ordnung“ und in Keimbildungen einer „vierten Kultur“.

Entfaltung und Begrenzung bürgerlicher Subjektivität im reformierten Christentum „Das eigentümliche Paradox der Reformation war die Ambivalenz ihres Charakters –  konservative religiöse Reaktion und radikal freiheitliche Revolution zugleich.“ (Richard Tarnas) Im Rahmen des ersten Entwicklungsschubs spätkultureller Systemdifferenzierung ermöglichten „ora et labora“ und christliche Brüderschaftsethik in den frühneuzeitlichen Städten zumindest in Ansätzen eine Integration christlicher Ethik und weltlicher Alltagspraxis. Aber in den darauffolgenden Jahrhunderten nahm die Spannung zwischen diesen zu und der Katholizismus verlor zunehmend an Überzeugungskraft, an Integrität und Glaubwürdigkeit, diese Spannung konstruktiv zu bearbeiten. Die Reformation kann man auch als Antwort darauf verstehen – wobei diese über den Ausbau der Schulen einen Bildungsschub, insbesondere der Lesefähigkeit nicht nur in den männlichen, sondern auch in den weiblichen Bevölkerungen auslöste, der zu größerem wirtschaftlichen Erfolg der Protestanten gegenüber den Katholiken führte und Qualifikationsressourcen für die zweite industrielle Revolution und ihre technologischen Errungenschaften bereitstellte. Darüber hinaus hat der Bildungsschub, der zunächst in religiöser Absicht, (damit alle Bürger selbst das Wort Gottes lesen können), eingeleitet wurde, Relevanz und Einfluss der Kirche (z. B. ablesbar an der Rückläufigkeit der Kirchenbesuche) zurückgedrängt, säkularisierend auf das Selbstverständnis der Menschen, auf ihr Verständnis der Natur und auf die gesellschaftliche Praxis gewirkt und hier kritisches Denken und Bürgerbewusstsein genährt. Die Reformation war eine puristische „reinigende“ Reaktion auf Reichtum und Ausbau der Kirche als Wirtschaftsmacht, auf ihre Korruption und den Verlust ihrer spirituellen Autorität und Integrationskraft wie auch auf zunehmende Säkularisierung und Diesseitigkeit des Denkens. Gegenüber diesen Entwicklungen verschaffte die Reformation der christlichen Religion neue Geltung – allerdings um den Preis einer (extrem gewalttätigen) Zerschlagung der Einheit der Christenheit. Ihr Kerngedanke war, dass Gottes erlösende Kraft, Gnade und Vergebung sich ohne „Zwischenglied“ und Vermittlung der Kirche nur in der direkten Beziehung des (von Grund auf als sündig und verdorben gedachten) Menschen zu Gott und zu Jesus Christus entfalten kann. Später, in der französischen Revolution findet dieser Gedanke eine säkularisierte Fassung im Anspruch und in der Strategie der Revolutionäre, keine religiösen oder nicht-religiösen Korporationen als Vermittler zwischen Nation und Bürgern zuzulassen. Die lutherische und die calvinistische Reformation verband die Insistenz gegenüber der römisch-katholischen Kirche auf der „Freiheit des Christenmenschen“, sich von kirchlichen Institutionen ab- und der Bibel und Gottes Wort direkt zuzuwenden. Darüber hinaus gab es aber bedeutsame Unterschiede. Als Bewegung der religiösen Erneuerung war die lutherische Reformation vor allem eine traditionalistisch orientierte Reaktion, die die Einfügung der Individuen in die gottgewollte Ordnung predigte. Im Zentrum lutherischer Reformation stand der Wandel von der außerweltlichen mönchischen zur innerweltlichen Askese einer christlichen Lebensführung nach Gottes Geboten im Alltag, im Beruf und in der Familie und die individu72

elle Verantwortung vor Gott. Erst in zweiter Linie enthielt sie auch ein Element der Modernisierung christlicher Ethik, indem sie die im Stadtbürgertum angelegten Potentiale persönlicher Selbstbestimmung wieder aufgriff. Die große Errungenschaft der lutherischen Reformation ist die Verwandlung des christlichen Glaubens in eine persönliche Angelegenheit des Bürgers – eine Entkoppelung der Religion und religiöser Identitätsfindung aus ihrer potentiell gewaltgenerierenden „Zwangsehe“ mit der Politik, die für beide Seiten befreiend und entwicklungsfördernd war. Insofern ist es nicht überraschend, dass heute in den meisten westlichen und sich verwestlichenden Gesellschaften (mit Ausnahme der USA) die christliche und tendenziell jede religiöse Bindung zur „Privatangelegenheit“ schrumpft. Weiter im Anspruch moralischer Durchdringung der Alltagspraxis geht der Calvinismus, der insbesondere in den Niederlanden, in England und später in den USA als Neucalvinismus an Einfluss gewann. Er bezieht sich zukunftsorientiert auf die Unvollkommenheit der Gesellschaft und ihre Zerrissenheit zwischen christlicher Ethik und Alltagspraxis und verpflichtet die Individuen zur aktiven Mitgestaltung und Durchsetzung einer (vorgeblich) Gottes Willen folgenden Rationalisierung ihrer Lebensvollzüge in einer „methodischen Lebensführung“ (Max Weber). Die calvinistisch puritanische Glaubenspraxis verallgemeinert die sich alltagspraktisch ausdifferenzierende Logik strategischen und zweckrationalen Handelns zum gottgewollten Sinn und Wert der gesamten kulturellen Praxis und bahnt und stützt damit ihre weitere Rationalisierung im Sinne einer Versachlichung und Ökonomisierung aller Bereiche der Kultur – der Gesellschaft, der Sozialisation und der wissenschaftlich technischen Naturaneignung – zum Ruhme Gottes. 38) Hier rahmt und orientiert weniger eine christliche Brüderlichkeitsethik, (die heute wohl eher als „Geschwisterlichkeitsethik“ zu bezeichnen wäre) wie noch in den frühneuzeitlichen Städten, sondern eher eine „monologische Gesinnungsethik mit unbrüderlichen Konsequenzen“ (W. Schluchter) die Alltags- und Wirtschaftsrationalität. 39) Erklärbar ist die im Protestantismus eigentümliche Kombination von „konservativ religiöser Reaktion und radikal freiheitlicher Revolution“ 40), weil, genauer betrachtet, die Forderung nach Freiheit des Individuums nicht wirklich „radikal“ war, sondern sich auf eine Verschiebung der absoluten religiösen Autorität von der Kirche in das Gewissen des Individuums beschränkte. Das Individuum stand zwar jetzt „allein außerhalb der Kirche und allein unmittelbar vor Gott“ 41), aber an die Stelle der Unterwerfung unter die kirchliche Autorität trat die „Priesterschaft aller Gläubigen“ (Martin Luther), die das Bewusstsein der unlösbaren Verstrickung des von Natur aus sündigen Menschen in das Böse mit einer bedingungslosen Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber Gott verband. „Für die Reformatoren klang Autonomie nach Abtrünnigkeit.“ 42) In wesentlichen Zügen ist das Menschenbild der Reformation eine Abstraktion der Realabstraktionen frühbürgerlicher und frühkapitalistischer Lebensformen: Es verallgemeinert die hier sich ausdifferenzierende politische und wirtschaftliche (Selbst)formatierung und (Selbst)disziplinierung der Bürger und ihre damit verbundenen Autonomieansprüche zu ihrer gottgewollten Bestimmung, die wiederum diese bürgerliche „Selbstfindung” orientierte und verstärkte.  43) Insofern ist nicht erst die Vernunft der Aufklärung, sondern schon der Geist der Reformation der „idealisierte Verstand des Bürgers“, wie Karl Marx treffend bemerkte. 44) Dabei führt ein Entwicklungspfad vom protestantischen Individualismus zum säkularen Selbstverständnis des Subjekts. Denn die irreversible Verlagerung des Glaubens und der Bibelauslegung in das Individuum und sein Gewissen haben weitgehend verhindert, dass sich in der protestantischen Kirche eine neue Orthodoxie und Ansprüche auf Unfehlbarkeit durchsetzen konnten und dem religiösen Pluralismus der Gesellschaft und einer Fundierung weltlicher Vernunft in der Urteilskraft des Individuums den Weg gebahnt. 45) Darüber hinaus gibt es eine nicht-logozentrische Drift in der Geschichte des Christentums, die insbesondere das Laienchristenum bis heute prägt. Dazu gehören der Liebesuniversalismus und die Geschwisterlichkeitsethik sowie die christliche Vorstellung einer Liebe und Fürsorge, Gerechtigkeit und Vernunft verbindenden Ordnung der Welt, in der alle Menschen „Kinder Gottes“ sind. Auch aufgrund dieser glau73

benspraktischen Gehalte konnten das praktizierte Christentum und, wenn auch zögerlich, die christliche Amtskirche die Ausdifferenzierung des spätkulturellen Systems unterstützen. Und es ist dasselbe christliche Verständnis von Empathie und Mitgefühl, von Nächstenliebe und Fürsorge, Gerechtigkeit und Vernunft, das über seine „Geburtshelferfunktion“ mit Blick auf das westliche System hinaus auch zur Kritik an dessen Form/​Landschaftsbildungen heute beitragen und ihre organisierte Mit- und Umgestaltung orientieren könnte. 46)

Post-religiöse Glaubenspraktiken: Renaissance-Humanismus, naturwissenschaftliches Weltbild, Rationalismus, Aufklärung und Romantik Die Ausdifferenzierung post-religiöser Glaubenspraktiken im westlichen Pfad ist zunächst noch christlich, durch eine „religiöse Matrix“ (Otto Kallscheuer) strukturiert. Das betrifft die Begründungen und Legitimationen • der Entfaltung und Bildung des Menschen zum sich selbst vervollkommnenden und bestimmenden Subjekt als seiner personalen Gottesebenbildlichkeit und Freiheit im Rahmen der göttlichen Schöpfung, • der objektivierenden Naturwissenschaften als angemessene Nachvollzüge der göttlichen Schöpfung, • der friedensstiftenden Vergesellschaftung und sozialen Ordnungsbildung in der Gottesebenbildlichkeit des sozialen Anderen (auch des Fremden), als Achtung vor Gott, den dieser Andere vertritt, • der Kunst und „poiesis“ als formbildender Nachvollzug und Ausdruck göttlicher Schöpferkraft. Diese „religiöse Matrix“ wird auf dem Wege vom Renaissance-Humanismus über die Revolutionen in den Naturwissenschaften und den philosophischen Rationalismus bis hin zur Aufklärung und Romantik zunehmend, wenn auch unterbrochen durch vielfältige Versuche und Anläufe der Wiedereinführung und Legitimation christlichen Glaubens erodieren: Die Existenz Gottes und seiner Schöpferkraft wurde hier „herausgekürzt“ und die o.g. Leistungen dem nun zunehmend theomorph konzipierten bürgerlichen Subjekt attestiert, ohne dabei an Begründung und Legitimität zu verlieren. 47) Renaissance-Humanismus, naturwissenschaftliches Weltbild, Aufklärung und Romantik beschreiben Entwicklungsschübe spätkultureller Selbstbeobachtung und ‑bestimmung in Europa, die in ihrer Abfolge wohl einmalig sind und sich, wie die reichhaltige Forschungsliteratur zeigt, unter vielen Perspektiven betrachten lassen. Unter anderem lassen sie sich als Anläufe der glaubenspraktischen Bearbeitung einer Dauerkrise des westlichen Pfads verstehen, die durch Machtergreifung des Bürgertums, durch wirtschaftlichen Aufschwung, beschleunigten sozialen Wandel und Konflikte, durch zunehmende Entwicklungsdynamik, Wechselwirkung und Komplexität, durch wissenschaftliche Revolutionen, durch die Entdeckung fremder Kulturen und Lebensformen und –last not least – durch die vielfältigen Ausprägungen eruptiver und organisierter Gewalt verursacht war und im Rahmen hochkulturell-religiöser Selbstbeobachtung, ihrer Entwürfe, Narrative und Deutungsmuster allein nicht mehr bearbeitet und bewältigt werden konnte. Wie schon angedeutet steht am Anfang einer Krisenbearbeitung häufig eine „Öffnung“: nämlich die Möglichkeit und die (ästhetische) Fähigkeit, mit (chaotischer) Umweltdynamik erneut in Resonanz zu treten, bislang dominierende Deutungsmuster zu relativieren und zu virtualisieren, verschüttete Deutungsmuster in hypoleptischer mediengestützter Gedächtnisbildung zu reartikulieren und in kohärenten Entwürfen neue Perspektiven und Auswege zu eröffnen. Bis heute scheint diese Fähigkeit in der kulturellen Evolution insbesondere dann reaktiviert zu werden, wenn es darum geht, in einer Krisensituation „harte Grenzziehungen“ und ein „Sich Einmauern“ – z. B. durch soziale Gewalt und Exklusion, durch reaktionäre Flucht in die Vergangenheit oder durch ein dogmatisches, Menschen verachtendes Zukunftsprogramm u. a. – zu 74

vermeiden und stattdessen in Öffnung und Schließung balancierenden, „weichen Grenzziehungen“, nach neuen guten Formen und humanen Auswegen zu suchen, die sich im „Wiedereintauchen“ in ein kulturelles Möglichkeitsfeld eröffnen. 48) Der Renaissance-Humanismus, das naturwissenschaftliche Weltbild und der philosophische Rationalismus wie auch die Aufklärung und die Romantik stellen Schübe kultureller Selbstbeobachtung und Glaubenspraxis dar, die die Alltagspraktiken der Subjektivierung des Menschen, der Objektivierung der Mitnatur und der Gesellschaftsbildung reflektierten, hier neue Deutungsmuster entwickelten, die die weitere Ausdifferenzierung dieser Alltagspraktiken in organisierter Mitgestaltung durch engagierte Individuen und Gruppen orientierten. All diese Schübe sind geprägt durch mehr oder weniger gelungene Balancen von Öffnung und Schließung, die sie jedoch unterschiedlich gewichtet haben. Während der Renaissance-Humanismus eher „Öffnung“ und „weiche Grenzziehungen“ im Fühlen, Denken und Handeln privilegierte, haben sich im Rationalismus, in den wissenschaftlichen Revolutionen und in der Aufklärung eher logozentrisch „schließende“ Begriffsgebäude und „harte Grenzziehungen“ durchgesetzt, worauf die Romantik wiederum post-logozentrisch, mit „Öffnung“ und „weichen Grenzziehungen“ reagierte. Das soll im Folgenden etwas genauer nachgezeichnet werden.

Der Renaissance-Humanismus: das Individuum rückt in den Mittelpunkt Der Renaissance-Humanismus  49) lässt sich als Versuch einer Krisenbewältigung durch „Öffnung“ und „weiche Grenzziehungen“, durch kreative Re-interpretation und Wiederaneignung insbesondere der nicht-logozentrischen Gehalte antiker Philosophie, Ethik und Ästhetik verstehen. Dabei steht die Entfaltung menschlicher Natur und ihre Subjektivierung durch Bildung im Vordergrund. Das philosophische Denken wie auch die Kunst und Literatur konzentrierten sich auf das Individuum und entwickelten Vorstellungen des Humanen, die sich an nicht-logozentrischen Gehalten der griechischen Glaubenspraxis orientierten. Anknüpfend an die Vorstellung des Aristoteles, dass das Gute keine allgemeine Form haben könne, entwickelt der zunächst noch christlich geprägte Humanismus eine lebenspraktische und kontextbezogene „freundliche Vernünftigkeit“ (Stephen Toulmin). 50) Anfangs geleitet von der Gottesebenbildlichkeit des schöpferischen Individuums, löst der Renaissance-Humanismus dieses und seine Bildung aus der Vorherrschaft eines allgemeinen, theologischen und philosophischen Ordnungsdenkens heraus. Im Zentrum steht nun der Mensch und die wichtigste Aufgabe und Funktion kultureller Ordnungsbildung ist es, seine humane Natur zu entfalten und zu bilden und ihm die Fähigkeit und die Freiheit zu geben, sein Zusammenleben mit anderen Menschen gewaltfrei und tolerant, harmonisch und glücksbringend zu organisieren. Kultureller und gesellschaftlicher Fortschritt sollten vor allem darin bestehen, die Würde und Freiheit, das Glück und das Wohlergehen der Menschen zu gewährleisten und ihre schöpferischen Kräfte zu entfalten, zu bilden und immer höher zu entwickeln. Die Dichtung stellt die Humanisierung durch Liebe in den Mittelpunkt: „sanft und liebenswert“ (mitis et amabile) sollte der Mensch nach Petrarca sein. 51) Die Bildung des Menschen, die Verfeinerung seines Geschmacks und seines Gefühlslebens kann ein harmonisches Zusammenleben ermöglichen. Umgedreht kann der Mensch nur in Harmonie mit Gemeinschaft und Gesellschaft, wenn er sein Leben auch anderen widmet und deren Liebe und Anerkennung erfährt, glücklich werden. Damit grenzt sich der Humanismus sowohl von politischer Herrschaft und ihrer Legitimation als „Staatsraison“ (z. B. im Machiavellismus) wie auch von einer Praxis autoritärer Formung und Kontrolle innerer Natur und der Ausbeutung der Mitnatur ab. Kennzeichnend für den Humanismus, wie er beispielhaft von Montaigne vertreten wurde, waren Weltoffenheit und skeptische Toleranz mit Blick auf die Fehlbarkeit der Menschen und ihrer Urteile, Achtung für 75

Komplexität und Vielfalt, Empathie, Mitgefühl und Sinn für Kontextabhängigkeit menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns, Kritik an jedem religiösen wie auch post-religiösen Logozentrismus und Dogmatismus und eine Wertschätzung von Lebenserfahrung, ‑weisheit und Urteilskraft auch gegenüber den Erklärungs- und Geltungsansprüchen wissenschaftlicher Theorien. 52) Die Bereitschaft, mit Ungewissheit, Vieldeutigkeit und Meinungsverschiedenheiten zu leben, eine Vernunft des Zulassens von Ungewissheit – heute würde man sagen: eine hohe Ambiguitätstoleranz – charakterisierten den Humanisten. Hinzu kam die Ausrichtung des Denkens und Schreibens am Regulativ der Wahrhaftigkeit der Expression und reziproken Interpretation menschlicher Natur. 53) Im Humanismus und in der Renaissance trat das Interesse an (theologischer) Systematik und geschlossenen Weltkonstruktionen zurück zugunsten der „Öffnung“ in Gestalt ästhetischer Erfahrung und einer kontextbezogenen Essayistik, die später in der rationalistischen Definition subjektiven Geistes (res cogitans), im mechanistischen Naturmodell (res extensa) und teilweise auch in den Gesellschaftsmodellen der Aufklärung wieder „geschlossen“ wurde. Aber das im Humanismus und in der Renaissance entwickelte Selbstverständnis des menschlichen Subjekts und sein dadurch geleitetes Fühlen, Denken und Handeln wurden im westlichen Pfad nie vollkommen verschüttet und wirken bis heute nach. Auch das Denken von Galileo und Newton wie auch der Rationalismus von Descartes, Hobbes und Locke blieben noch humanistisch beeinflusst. In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts 54) wurde der Humanismus z. B. als staatsbürgerlicher Humanismus aktualisiert, der die Pflege der Freiheit, der bürgerlichen Tugenden und ein tätiges Leben propagierte und die amerikanische Revolution beeinflusste. In großen Anteilen vom Humanismus orientiert und angeleitet waren auch die im 17. und 18. Jahrhundert entstehenden „Gesellschaften“ mit selbst gesetzten Bildungsaufträgen: Sozialisatorische Gemeinschaften und Initiativen, die einerseits den Bedürfnissen nach Zusammenschluss von Seelenverwandten, Gleichfühlenden und Gleichgesinnten entsprachen und andererseits erzieherisch auf die übrigen Menschen, ihr Bewusstsein, ihre Moral und ihr Handeln einwirken wollten. 55) Für Lessing und Herder, Schiller und Goethe, Wilhelm und Alexander von Humboldt blieb der Grundgedanke einer auf Humanität angelegten menschlichen Natur, die durch Bildung, durch Kunst und Wissenschaft zur harmonischen Persönlichkeit zu entfalten sei, bestimmend für Denken und Dichtung, für das Verständnis von Erziehung und Bildung und die Einrichtung des Bildungswesens. 56) Dieses Verständnis und eine daran orientierte Ausgestaltung sozialisatorischer Gemeinschaften und Initiativen könnte heute, im Rahmen einer europäischen und europabezogenen Initiative reartikuliert und reaktiviert werden. Dazu mehr in Kap. V.

Formung und Selbstformung des Individuums in Bildungsprozessen Der erstmals in der griechischen polis und in der römischen Republik und dann wieder in den frühneuzeitlichen Städten sich durchsetzende Entwurf des Bürgers im Sinne einer jedem Menschen zukommenden Identität, die durch Gleichheit (mit Blick auf Chancen, Rechte und Pflichten), Freiheit (von Wunsch, Denken, Intention, Wille, Meinung und Entscheidung), und Verantwortung ( im Sinne von Anspruch und Zuweisung) bestimmt ist, hat sich im Integrationsmodus demokratischer Konfliktbearbeitung und Willensbildung in städtischer Selbstverwaltung herauskristallisiert. Die mit der Ausdifferenzierung der Alltagspraktiken und ihrer Handlungslogiken gekoppelte kognitiv sittliche Entwicklung und reale Autonomisierung des bürgerlichen Subjekts wurde, wie bereits ausgeführt, zunächst unter christlicher Regie im sich modernisierenden städtischen Christentum und in der Reformation, dann aber auch zunehmend in post-religiöser, philosophischer, psychologischer Selbstbeobachtung 76

reflektiert und teils anthropologisch zum Wesen, teils auch normativ zur Bestimmung des Menschen verallgemeinert. Die in der Evolution der Alltagspraktiken sich ausdifferenzierende Subjektivität des (privilegierten) Bürgers – seine neue, auch ästhetisch (in seiner „Öffnung“ zum Nicht-Identischen) erfahrene und begründete Freiheit, sein intuitives Bemühen um Wahrhaftigkeit, sein Gerechtigkeitsempfinden, seine Suche nach Wahrheit und sein theoretisches und normatives Reflexionsvermögen sowie seine Kommunikations- und Diskursfähigkeit – werden in der post-religiösen Glaubenspraxis von Intellektuellen und Philosophen als allgemeine Bestimmungen von Subjektivität reflektiert und zum Wesen des Menschen und seiner kulturellen Lebensform verallgemeinert. Diese glaubenspraktische Selbstbeobachtung diffundiert in den Zeitgeist und leitet hier vielfältige Anläufe einer bewussten, intentionalen und organisierten Mitgestaltung von Subjektivität in Erziehung, Qualifikation, Bildung und Weiterbildung der Individuen an.

Organisierte Mitgestaltung bürgerlicher Subjektivität durch Erziehung, Bildung und Qualifikation Die alltagspraktischen Ausdifferenzierungen bürgerlicher Subjektivität und ihre Reflexion und Explikation in den (zunächst noch religiösen, dann zunehmend post-religiösen) Glaubenspraktiken des Humanismus, der Renaissance und der Aufklärung leiten (über „Begeisterung“ und Diffusion in den Zeitgeist) als Orientierungen eine organisierte Mitgestaltung sozialisatorischer Praxis an, die sich hier in spezifisch spätkultureller Weise, als Zusammenhang von Erziehung, Bildung und Qualifikation ausdifferenziert. Während Erziehung zu großen Anteilen und insbesondere in der frühen Kindheit zunehmend zu einer anspruchsvollen und vielfältig reflektierten Aufgabe der (Klein)familien wurde, wurden Bildung und Qualifikation des Menschen und die damit verbundene Bereitstellung und pädagogische Formatierung theologisch-philosophischen, geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen sowie des Ingenieurswissens zur Aufgabe des Staats. Die Humboldtschen Reformen in Preußen sind ein Beispiel dafür. Im Zuge der weiteren Ausdifferenzierung sozialisatorischer Praxis wird die Entfaltung von Subjektivität durch Erziehung, Bildung und Qualifikation zunehmend auch durch wissenschaftliche Objektivierung – anthropologisch, pädagogisch und medizinisch, später auch psychologisch, kognitionswissensschaftlich, neurologisch u. a. – gestützt. Der Mensch wird als Ensemble von Ausstattungen und Potentialen verstanden, die zu erkennen, zu entfalten und zu formen sind: • Triebe, Affekte, Emotionen, Bedürfnisse, Motive und intuitive Sittlichkeit werden in frühkindlicher Entfaltung und Erziehung, • Kognitive und kommunikative Kompetenzen (z.  B. ästhetische, sprachliche, soziale, mathematische, technische Intelligenz), Wissen und Wissenstechniken (z. B. Aneignung, Strukturierung und Mehrung etc.) und normative Orientierungen (explizite Ethik) werden in der Bildung, • spezielle Kompetenzen, arbeitsteiliges Fachwissen und berufliche Fertigkeiten werden in der Ausbildung und Qualifikation entfaltet. Dabei verschiebt sich in den, die pädagogische Praxis leitenden Menschenbildern insbesondere das Verständnis von „Bildung“ von Formung in Richtung Selbstformung. Modern ausgedrückt: Der Mensch wird nun als ein werdendes Subjekt verstanden, das sich in Bezugnahme auf Umweltdynamik und in Nutzung und Assimilation ihrer Angebote selbst erzeugt und ausdifferenziert – und zunehmend Einfluss nimmt auf die Rahmenbedingungen seiner Entwicklung und Bildung. 57) 77

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich in den alltagspraktischen Vollzügen die intuitive Sittlichkeit und die gesamte affektive, kognitive und normative Strukturiertheit des spätkulturellen Menschen, die hier als „bürgerliche Subjektivität“ bezeichnet wird, co-evolutionär mit der Ausdifferenzierung der Alltagsund Glaubenspraktiken herausgebildet hat. Die alltagspraktischen „Formatierungen“ dieser Subjektivität wurden in religiösen und post-religiösen Glaubenspraktiken – vom städtischen Christentum über Reformation, Renaissance-Humanismus bis zur Aufklärung und Romantik – reflektiert und zum Wesen menschlicher Subjektivität verallgemeinert. Dieses Verständnis des Subjekts und seiner Bildung rahmt und orientiert die Entwicklung des „westlichen Menschen“ und der westlichen Lebensform. 58)

Das naturwissenschaftliche Weltbild: die Objektivierung der Welt rückt in den Mittelpunkt Im zweiten Schub spätkultureller Evolution differenziert sich auch die „Formatierung“ der Mitnatur zum Gefüge allgemeiner Eigenschaften und Beziehungen weiter aus. 59) In einem Jahrhunderte langen Prozess der zunehmend wissenschaftlich gestützten Bearbeitung und Nutzung der Natur, in den Vollzügen objektivierender und technikgenerierender Alltagspraktiken entsteht als Realabstraktion die Vorstellung einer objektiv gegebenen, mathematisch modellierbaren Natur, die die weitere Organisation ihrer technisch-wissenschaftlichen Aneignung und Zerlegung, sowie ihre zweckbezogene Wiederzusammensetzung und Nutzung strukturiert. 60) Die Vorstellung von der Natur als einer gegebenen Ordnung von Objekten und ihrer Relationen, die in der humanspezifischen, naturnutzenden und Techniken generierenden Alltagspraxis angelegt ist, sich im Zuge von Warenproduktion und ‑tausch weiter ausdifferenzierte und in post-religiösen Glaubenspraktiken, vor allem in mathematisch wissenschaftlichen und philosophischen Modellierungen zum Wesen der Natur verallgemeinert wurde, rahmt als ihr verkürztes, gleichwohl produktives Verständnis die naturwissenschaftliche Forschung und ihre technische Nutzung bis heute. Mit der Ausdifferenzierung der mathematisch gestützten Naturwissenschaften im westlichen Pfad wurde ein bedeutsamer Wandel der Technik und ihrer Funktion im kulturellen System gebahnt. Lange Zeit haben technische Praktiken (der Herstellung von Werkstoffen und Werkzeugen, der Energiegewinnung, der Tierhaltung und der Landwirtschaft u.  a.) auf der Basis der (An)erkenntnis von Naturgesetzen die Formbildungsdynamik der Natur als Substrat genutzt, diese dabei aber weitgehend unverändert gelassen. Demgegenüber entstehen in der spätkulturellen Evolution, in dem nun durch post-gegenständlich relationale Objektivierung eröffneten Entwicklungskorridor wissenschaftlich geleitete Werkzeugtechnologien, die auf der Grundlage einer detaillierten Erforschung der Konstruktionsregeln prä-biologischer und (heute zunehmend auch) biologisch-organischer und neuronaler Natur immer tiefer in deren Dynamik eingreifen und mit dieser eine zukunftsoffene (und mit neuen Chancen aber auch Risiken behaftete) Gestaltungs- und Produktionsgemeinschaft bilden. Diese Entwicklung der naturwissenschaftlichen Realabstraktion der Natur und ihre exzessive technische Nutzung war und ist aber nur möglich in Verbindung mit einer spezifischen Glaubenspraxis, die sie auch hier als „kontrafaktischer Stabilisierungsmechanismus“ (Rainer Döbert) rahmt und legitimiert, orientiert und anleitet. 61) Seit den antiken Vorstellungen der Natur über ihre mechanistische Konstruktion in der Neuzeit bis zu ihren modernen „Zuschnitten“ in Physik, Chemie, Biologie und Kognitionswissenschaften heute wird die Natur als Ensemble allgemeiner Eigenschaften und Relationen und die Mathematik als „Königsweg“ ihrer Modellierung verstanden. Was in der instrumentellen, die Mitnatur be- und verarbeitenden und Waren herstellenden Alltagspraxis entsteht, nämlich ihre in der Zähl- und Messarbeit des Kaufmanns abstrahierende 78

Repräsentanz, ein „die praktische Identifizierung des Daseienden lenkendes Identitätsprinzip“, das Alfred Sohn-Rethel als „Kaufmannswitz“ bezeichnet hat, ist eine Realabstraktion und Formatierung, die der philosophischen und wissenschaftlichen Abstraktion der Natur vorausgeht und ihr zugrunde liegt. 62) Dem folgend konnte schon Platon hinter der verwirrenden phänotypischen Vielfalt der Welt ein Reich der reinen Ideen verorten, eine jenseits unserer Sinne existierende Perfektion der materiellen Welt, die in der Empirie nur widerscheint. Vor diesem Hintergrund liegt die Vorstellung nahe, dass diese perfekte Welt das Werk eines vollkommenen Schöpfers sein muss, eines Gottes, der sich der Geometrie bedient. Viele Naturwissenschaftler der Renaissance sahen Gott so wie Platon: als einen großen Geometer oder auch als Uhrmacher und die Natur als ein großes Uhrwerk, das gemäß seinen Gesetzen funktioniert. Aber während man Gott selbst nicht mit dem Verstand erkennen kann, galten die Gesetze der Natur durch Wissenschaft erschließbar und rekonstruierbar. Damit ist hier eine Entwicklung vorbereitet, in der Gott auch aus den Gleichungen der Naturbeschreibung „herausgekürzt“ werden konnte, wozu auch der Protestantismus (unbeabsichtigt) beigetragen hat. 63)

Die Ambivalenz der Weltobjektivierung und die Dialektik der Rationalisierung und Aufklärung Mit der Verabschiedung Gottes aus den Alltags- und Glaubenspraktiken zugunsten post-religiöser Weltmodelle ist eine Spaltung und Ambivalenz in der Weltobjektivierung verbunden, die seit dem Aufstieg der Naturwissenschaften, über den Rationalismus und die Aufklärung bis heute den westlichen Pfad charakterisiert, hier eine „Dialektik der Aufklärung“ (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno) hervorgebracht hat. Denn mit der Verdrängung der religiösen Selbsterfahrung, dass wir alle „in Gottes Hand“ sind, wurde auch Kontingenzerfahrung, die Erfahrung des Nicht-Identischen (Theodor W. Adorno) zugunsten einer dogmatischen Schließung objektivierender, wissenschaftlich gestützter Welt- und Selbstmodelle verdrängt und damit die Entwicklung eines post-religiösen Logozentrismus und Aufklärungsfundamentalismus, eines sich „theomorph verstehenden Subjekts“ (Georg Picht) und eines modernen politischen, ökonomischen und technokratischen Patriarchats gebahnt. (Dazu später ausführlich in Kap. IV.) Andererseits hat die Verabschiedung Gottes aber auch einen Entwicklungskorridor für eine zukunftsoffene Balance von Öffnung und Schließung, der sinnlichen Erfahrung der Welt und ihrer begrifflichen und normativen Konstruktion in den Alltagspraktiken eröffnet. Dabei scheint diese fortschreitende Balance in den alltagspraktischen Vollzügen bis heute auch die Entwicklung einer neuen post-religiösen Glaubenspraxis zu bahnen: eine Selbstbeobachtung „vierter Ordnung“, die die bislang dominierende Selbstbeobachtung dritter Ordnung, den universalen Geltungsanspruch der wissenschaftlichen Weltobjektivierung überwinden kann. Darum geht es im Folgenden.

Auf dem Wege zu einer post-religiös orientierten Balance von Öffnung und Schließung Schon im Humanismus und in der Renaissance gab es Intuitionen und Ahnungen, dass die Welt nicht mit einem Uhrwerk vergleichbar ist. So findet sich, wie schon erwähnt, bei Montaigne ein Verständnis der Natur, dass alle Dinge „in beständiger Bewegung, im Wandel und in der Veränderung“ sind, was dem heutigen post-mechanistischen Weltbild der modernen Physik nahekommt. 64) Francis Bacon hat die implizite Ethik der weltobjektivierenden und technischen Praxis, ihre notwendige Ausrichtung auf Angemessenheit als regulative Idee der Wahrheit von Behauptungen über Natur explizit 79

gemacht. 65) Demzufolge können wir die Natur nur dann (heute kann man hinzufügen: nachhaltig) nutzen und für uns „arbeiten“ lassen, wenn wir sie vorbehaltlos (an)erkennen, also genau hinschauen und die Dynamik ihrer Formbildungen und ihre Gesetzmäßigkeiten in sachlicher Einstellung und auf sinnliche Erfahrung, Beobachtung und Begreifen gestützt, erschließen – statt bloße Verfügungsgewalt und Ausbeutung zu praktizieren, die schließlich auch selbstdestruktiv wird, in ein „Wettsägen am eigenen Ast“ (Hans Peter Duerr) mündet. Im Rahmen dieses Bemühens um (An)erkenntnis der Natur hat sich bis heute auch in den Naturwissenschaften die Bereitschaft und Fähigkeit entwickelt, die Grenzen objektivierender Weltbezüge durch ästhetische Erfahrung (Resonanz) und kreative Erzeugung neuer Deutungsmuster (Kohärenz) offen zu halten bzw. immer erneut wieder zu öffnen. 66) Eine so geartete, in zukunftsoffener Wahrheitssuche begründete und sich selbst korrigierende Wissensmehrung hat bis heute den Menschen tiefgehende Einsichten in die Mitnatur und Perspektiven und Wege ihrer nachhaltigen Mitgestaltung eröffnet.

Philosophischer Rationalismus und Aufklärung: „Reinigung“ und „Schließung“ der Vernunft „Die drei Träume der Rationalisten stellen sich also als verschiedene Seiten eines größeren Traums heraus. Die Träume von der rationalen Methode, von der Einheitswissenschaft und von der exakten Sprache fließen zu einem einzigen Traum zusammen. Alle sollen sie das Wirken der menschlichen Vernunft durch Dekontextualisierung reinigen, also durch Loslösung von den Einzelheiten der besonderen historischen und kulturellen Situation.“ (Stephen Toulmin) Wie schon die Intellektuellenkultur der frühneuzeitlichen Städte waren auch Humanismus und Renaissance nicht ausschließlich, aber doch in großen Anteilen charakterisiert durch eine post-logozentrische „Öffnung“ religiöser wie post-religiöser Glaubenspraxis für die Erfahrung des Nicht-Identischen – menschlicher Natur, der Mitnatur und der Gesellschaft –, die bis heute den westlichen Entwicklungspfad (auch noch) prägt. Nach diesen, im wörtlichen Sinn „eröffnenden“ Schritten erfolgten im 17.  Jahrhundert Schritte der „Schließung“ und der „harten Grenzziehungen“, nicht nur in der religiösen Glaubenspraxis, wo kirchliche Dogmen, Einschränkungen und Kontrollen gemessen am 16. Jahrhundert wieder verschärft wurden, sondern auch in der post-religiösen Selbstbeobachtung wie z. B. bei Galilei, Newton und Descartes. Das hier entstehende Rationalitätsideal der Naturphilosophie und einer theoriezentrierten Philosophie wurde dann teilweise auch auf Gesellschaft, Politik und Staatsbildung übertragen und auch moralphilosophisch expliziert. Folgt man Stephen Toulmin, so sind die wissenschaftlichen und philosophischen Neuerungen des 17. Jahrhunderts vor allem Ausdruck einer Suche nach einem stabilen Gerüst, einer universalen Ordnung der Natur und der Kultur, die er als „Kosmopolis“ bezeichnet. 67) Kennzeichnend für den Rationalismus ist die Abkehr von konkreten alltagspraktischen Vollzügen zugunsten eines Bemühens, Gewissheit durch Dekontextualisierung und Abstraktion, durch „Entbettung“ der Wahrnehmung und der Erfahrung, des Denkens und der Sprache zu gewinnen. 68) So gesehen lassen sich auch Rationalismus, methodischer Purismus und die in diesen Zeiten entstehenden Neuentwürfe natürlicher, sozialer und staatlicher Ordnungen als Ausprägungen eines „kontrafaktischen Stabilisierungsmechanismus“ (Rainer Döbert) verstehen. Sie sind nicht Ergebnisse kultureller Stabilität, des Wohlstands und spielerischer Muße, sondern eher defensive, teilweise auch ängstlich „schließende“ 80

Reaktionen auf aktuelle Krisen – beginnend u. a. mit den Schrecken der Religionskriege. „Wenn alles überhaupt gleichzeitig bedroht war, dann musste alles überhaupt auf völlig neue Weise errichtet und untermauert werden.“ 69) Im Rahmen einer angstgetriebenen Strategie der Verdrängung der Erfahrung des Nicht-Identischen und des Wandels traten an die Stelle kontextbezogener Orientierungssuche in „weichen Grenzziehungen“ die scheinbar zwingende Konstruktion von Begriffsgebäuden mittels „harter Grenzziehungen“ – vor allem zwischen Materie und Geist, Körper und Bewusstsein, Ich und Welt. Dabei scheinen die Realabstraktionen der Mitnatur zu einer mechanisch gedachten Objektivität und der menschlichen Natur zu einer rationalistisch reduzierten Subjektivität miteinander verbunden und sich wechselseitig bestärkt zu haben: Je mehr die Natur (res extensa) als geistloser „Maschinenpark“ vorgestellt wurde, desto mehr wurden die menschlichen Erkenntnisleistungen (res cogitans) als demgegenüber rein geistige, aber ebenfalls ehernen Gesetzen folgende Prozesse gefasst – auch um die Stabilität und Autonomie des „cogito“ gegenüber der leibaffizierten Erfahrung der inneren, der Mitnatur und der sozialen Zwischenleiblichkeit zu gewährleisten. Der Übergang vom Humanismus des 16. Jahrhunderts zum Rationalismus und zur exakten Wissenschaft des 17. Jahrhunderts war „ein Pendelausschlag von der praktischen aristotelischen Aufgabenstellung zu einer platonistischen, die auf theoretische Antworten zielte. Die Ideale der Vernunft und Rationalität, die die zweite Phase der Moderne kennzeichneten, waren … also theoretisch perfektionistisch, moralisch rigoros und menschlich unerbittlich.“ 70) Toulmin geht noch einen Schritt weiter und erklärt die Wendung zum Rationalismus quasi zu einem Sündenfall der westlichen Kultur: „Indem sich die Moderne theoretische und praktische Aufgaben gestellt hat, die die tolerante, skeptische Haltung der Humanisten des 16.  Jahrhunderts beiseitesetzten und sich das Streben des 17. Jahrhunderts nach mathematischer Exaktheit und logischer Strenge, theoretischer Gewissheit und moralischer Reinheit zu eigen machten, begab sich Europa auf einen kulturellen und politischen Weg, der es zu seinen glänzendsten technischen Erfolgen und seinem schlimmsten menschlichen Versagen geführt hat.“ 71) In der Aufklärung wurde u. a. die religiös protestantische Forderung nach der Selbstbestimmung des Individuums, aufgenommen und nun post-religiös „ausbuchstabiert“. Der Mensch ist zur „Selbstgesetzgebung“ (Immanuel Kant) und zur „vernünftigen Freiheit“ (Georg Friedrich Hegel) befähigt und sein Bildungsprozess, sofern er nicht unterdrückt oder funktionalisiert und instrumentalisiert wird, kann als Selbstformung diese Potentiale entfalten. Hier wurde den werdenden Bürgern die Möglichkeit selbständiger Erkenntnis, freier Willensbildung und einer autonomen Lebensgestaltung sowie eine entsprechende Verantwortung zugesprochen, die im Protestantismus noch von Gott entliehen und auferlegt war und nun post-religiös im vermeintlichen Wesen des Menschen als einer autonomen, sich selbst aus Vernunft Gesetze gebenden Person begründet wird. Wobei hier, wie bereits mit Blick auf Kant angedeutet, die ästhetische „Öffnung“ als die mit Schließung zirkulär gekoppelte Leistung der menschlichen Praxis und des Geistes nicht ausreichend gewürdigt wurde. Darauf hat dann die Romantik reagiert. Die Wendung zum post-religiösen Rationalismus war zwar zunächst ein Ausschlag des „Pendels“ kultureller Ordnungsbildung in Richtung „Schließung“. Hier wurden die technische Formatierung und Realabstraktion der Mitnatur zu einer geistlosen Maschine und die der menschlichen Natur zu einer „Geistesmaschine“ glaubenspraktisch zu einem Weltmodell verbunden und verallgemeinert. Die Gefahren logozentrischer Verengung betreffen auch die Bildung der Persönlichkeit, wenn diese ihre Freiheit auf vernünftige (theoretische und praktische) Selbstgesetzgebung reduziert und auf die Entwicklung „poietischer Vernunft“, die schöpferische Hervorbringung und Entfaltung von Selbst und Welt verzichtet oder diese verdrängt. Wenn man – den Überlegungen von Georg Picht folgend – die kantische Bestimmung menschlicher, theoretischer und praktischer Vernunft als Welt- und Selbstgesetzgebung durch die kreative Vernunft ästhetischer Hervorbringung und Entfaltung von Welt und Selbst ergänzt, kommt man zu einem heute zeitgemäßeren Ver81

ständnis „werdender Vernunft“ und Freiheit von Individuen wie auch Kollektiven. Nämlich als ihre je eigene Balance von Öffnung (ästhetischer Resonanz und Kohärenz) und Schließung (theoretischer und ethischer Selbstgesetzgebung), die sie nur im Rahmen einer kulturellen Systemarchitektur verwirklichen können, die ihnen Freiheit bzw. Befreiung nicht nur von äußeren, sondern auch von inneren Zwängen ermöglicht. Jedenfalls haben die rationalistischen, Komplexität reduzierenden, Ordnungsentwürfe auch einen Entwicklungskorridor für neue komplexe Formbildungen, alltagspraktische Differenzierungen und ihre glaubenspraktischen Rahmungen im westlichen Pfad eröffnet. So hat beispielsweise die Projektion der Natur als Maschine oder Uhrwerk in der klassischen Physik überhaupt erst einen Entwicklungskorridor der Forschung eröffnet, in dem Natur heute als ein evolvierendes, Geist hervorbringendes Netzwerk dynamischer Beziehungen (an)erkennbar und modellierbar wird. Ebenso konnten wohl auch erst die hochdifferenzierten rationalistischen Modellierungen menschlicher Kognition einen Horizont eröffnen, der mit der inneren wie auch der Innen-Außen-Vernetzung menschlichen Geistes, seine Komplexität und Unergründlichkeit ahnen und erforschen ließ. Rationalistisch-begriffliche „Schließung“ blockiert also nicht notwendig und dauerhaft Öffnung und Erfahrung, sondern kann auch (immer wieder) zum „Leiden“ an Schließung führen, damit eine erneute Suche nach Auswegen auslösen und eine neue Öffnung und komplexere kulturelle „Landschaftsbildungen“ als Balance von Öffnung und Schließung ermöglichen. So hat beispielsweise der philosophische Rationalismus als eine Art Selbstergänzung den Empirismus, verschiedene Anläufe ihrer transzendental- und geschichtsphilosophischen Synthese und auch als Gegenbewegung die Romantik hervorgebracht. Insofern können auch die Ausdifferenzierungen der Naturwissenschaften und ihre Naturerfahrung und ‑modellierung wie auch der philosophische Rationalismus und die Aufklärung zur „werdenden Vernunft“ der westlichen Kultur gezählt werden, jedenfalls so lange sie sich selbst nicht „einmauern“, sondern sich immer erneut öffnen. Es ist also nicht die „von Natur aus“ nicht-logozentrische, Mitnatur objektivierende und nutzende, auf Wissenschaft und ihre Wahrheitssuche gestützte, technik- und organisationgenerierende Alltagspraxis, sondern erst die glaubenspraktische Verallgemeinerung dieser jeweils selektiv, naturwissenschaftlich konstruierten und technisch „formatierten“ Natur zur Vorstellung einer „ganzen“ objektiv gegebenen Welt, die eine logozentrischen Verengung mit sich bringt. 72)

Erneute „Öffnung“ in der Romantik „Zu den maßgeblichen Bestrebungen, die uns von der Romantik vermacht worden sind, gehören auch die mit dem Ziel einer Wiedervereinigung: Rückführung zur Verbindung mit der Natur, Versöhnung der Spaltungen zwischen Vernunft und Empfinden, Überwindung der Trennungen zwischen den Menschen und Schaffung von Gemeinschaftsbindungen. Diese Bestrebungen sind auch heute noch lebendig. Die romantischen Naturreligionen sind zwar ausgestorben – doch die Idee der Offenheit für die Natur in uns und außer uns ist nach wie vor überaus wirksam. Der Kampf zwischen instrumenteller Vernunft und dieser Naturauffassung tobt heute noch in den Kontroversen über die Umweltpolitik.“ (Charles Taylor) Die evolutionär ausdifferenzierten Potentiale einer Versöhnung der Menschen und von Mensch und Natur durch Balance von „Öffnung“ und „Schließung“ finden – nach den skizzierten ersten Ansätzen schon im Griechentum und später im Humanismus – insbesondere in der Romantik ihre glaubenspraktische (religiöse und post-religiöse) Reflexion und Explikation. Diese ist auch als eine Reaktion auf vorangehende „Engführungen“ der Vernunft  –  vor allem im Rationalismus, im naturwissenschaftlich-technisch begründeten Fortschritts82

optimismus und im Aufklärungsfundamentalismus – zu verstehen, die hier bereits am Beispiel der Grenzen des Kantischen Autonomieverständnisses skizziert wurden. In der Romantik bekommen nun die Einmaligkeit des Menschen und seine individuelle Empfindsamkeit, Selbstwahrnehmung und Lebensgestaltung, eine anti-instrumentalistische und anti-mechanistische Wahrnehmung und Beschreibung der Mitnatur sowie die ästhetischen Gehalte in den menschlichen Beziehungen und in den Künsten eine zentrale Bedeutung. Insofern auch hier, in den romantischen Entwürfen und Diskursen die Reflexion der Religion und die Verständigung über Glauben zunehmend dominieren, kann man die Romantik als Suche nach einem neuen religiösen Rahmen und darüber hinaus auch als eine hochdifferenzierte Ausprägung post-religiöser Glaubenspraxis verstehen. Die Romantik rückt den ästhetischen Umweltbezug in das Zentrum philosophischer Reflexion und machte die implizite Kunst und Poesie der kulturellen Lebensform, ihre schöpferischen Leistungen explizit. In der Romantik entstanden die Visionen einer sich mit Natur versöhnenden Kultur und das Selbstverständnis und der Anspruch auf eine Freiheit der Person, die über die in der Aufklärung geforderte Freiheit von äußeren Zwängen (Autonomie) und die Freiheit zur Mitgestaltung (Demokratie) hinaus auch die Freiheit von inneren Zwängen (Mündigkeit nach innen) einbezieht. Diese kann aus einem tiefer gehenden Prozess der Zulassung der Freiheit des „Anderen“ – der eigenen inneren Natur, der Mitnatur und des sozialen Anderen – hervorgehen, wozu die Menschen kraft der ästhetischen Anteile ihrer Praxis- und Erkenntnisvollzüge grundsätzlich befähigt sind. 73) Insofern lässt sich die Romantik auch als eine „Wiederverzauberung“ der kulturellen Lebensform begreifen, die gegen ihre rationalistischen Verkürzungen ihre ästhetischen Gehalte und ihren schöpferischen Charakter wieder geltend macht und ins Zentrum der kulturellen Selbstbeobachtung rückt. Die zunächst noch, (in Verbindung mit der Annahme eines Schöpfergotts) religiöse, dann post-religiöse Projektion des ästhetisch kreativen Charakters der Alltagspraktiken auf die Welt als „ganze“ fand einen Höhepunkt in der „Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln“ (Rüdiger Safranski) und der „Romantisierung“ der Welt: „Wenn man den romantischen Wunsch nach Veränderung auf eine kurze Formel bringen wollte, müsste man sagen: Die in der Wirklichkeit noch verborgenen Möglichkeiten sollten mit spielerischer und zugleich erkundender Phantasie sichtbar gemacht werden.“ 74) Nach ihren rationalistischen Schließungen wurden hier die Zukunftsoffenheit, die schöpferische Kraft und Unberechenbarkeit der Natur wie auch der kulturellen Lebensform und des Menschen (wieder) ernst genommen. Die Romantik hat u. a. (wieder) entdeckt, dass Natur und Kultur auch Möglichkeitsfelder bilden, in denen der Ursprung aller faktischen Form-, Ordnungs- und Regelbildungen liegt. Indem sie die Schließungen der Aufklärung, des Rationalismus und der Wissenschaften wieder öffnet, gehört die romantische Tradition bis heute zu den bedeutendsten Sinnressourcen der westlichen Kultur. Im sich hier eröffnenden Rahmen können auch die drei Alltagspraktiken, ihre impliziten ethischen Regulative (Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit), ihre ästhetisch kreativen Anteile und das Regulativ der Freiheit sowie ihre Verknüpfungen in Lebenskunst und Urteilskraft reflektiert und expliziert und damit (logozentrische) Verkürzungen überwunden werden. Wie die religiösen können auch die post-religiösen Selbstbeobachtungen wieder in den Zeitgeist eingehen, sich hier mit den bereits vorhandenen „Ahnungen“ und Strömungen vermischen, die intuitive Sittlichkeit, die darin begründeten Einstellungen, Werte und Handlungsorientierungen und die damit verbundene Reflexions- und Kritikfähigkeit in den Bevölkerungen bestärken und Anläufe zur Mitgestaltung und Veränderung ihrer Lebensformen orientieren. Wurzeln, Spuren und Ansätze post-logozentrischer Selbstbeobachtung vierter Ordnung finden sich, wie bereits umrissen, schon in der griechischen Antike, dann vor allem im Humanismus und in der Romantik sowie heute in modernen christlichen Menschenbildern und in bestimmten Ausprägungen moderner Natur- und Kulturphilosophie, der Gesellschafts- und der Kunsttheorie. Bevor wir nachzeichnen, wie sich das Bemühen um eine Balance von Öffnung und Schließung in der religiösen und post-religiösen Selbstbeobachtung und Glaubenspraxis im 20. Jahrhundert fortgesetzt hat, soll die weitere Ausdifferenzierung bürgerlicher Gesellschaft im westlichen Pfad in groben Zügen umrissen werden. 83

Die Ausdifferenzierung bürgerlicher Gesellschaft: Marktwirtschaft und Kapitalismus, Staat, Demokratie und Recht In der kulturellen Evolution ist Gesellschaft in der Entwicklung und Ausgestaltung von Fernbeziehungen und der Bearbeitung und Einhegung ihrer (potentiellen) Gewalt entstanden und hat sich im westlichen Pfad in spezifischer Weise ausdifferenziert. Soziale Inklusion und Integration durch Ausdehnung reziproker Anerkennung unter einander „Fremden“ und die entsprechende intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen – vor allem in Gestalt ihres Gerechtigkeitsempfindens – sind Ergebnisse dieser Entwicklung. In der griechischen Polis begann der Übergang von der hochkulturellen Feudalgesellschaft, die sich auf Besitz und Herrschaft von Familien und Clans (der Krieger-Priester-Herren) stützte und durch traditionale (mythisch, religiös begründete und nicht hinterfragbare) Moral legitimiert war, zur spätkulturellen Bürgergesellschaft, die sich auf ökonomische Autonomie, politische Macht und „Stimmgewalt“ der Bürger stützt. In den frühneuzeitlichen Städten wiederholte, differenzierte und stabilisierte sich diese Verschiebung von Herrschaft zur verteilten und delegierten (Bürger)macht. Mit ihrer Ausdehnung über städtische Territorien hinaus in die werdenden „Gefäße“ der Nationalstaaten mit immer größeren Bevölkerungen haben sich im zweiten Entwicklungsschub die Konstruktionsregeln spätkultureller Vergesellschaftung weiter ausdifferenziert und funktional differenzierte Systeme sozialer Integration – Markt, Staat, Demokratie und Recht – und ihre co-evolutionäre Verflechtung hervorgebracht. Dank der Entstehung und Ausdifferenzierung von Geld, Macht, Wahl und Recht als „symbolisch generalisierten Steuerungsmedien“ (Niklas Luhmann) kann die bürgerliche Gesellschaft sich (zeitweise) von Aufwand und Komplexität alltagssprachlicher Verständigung, gemeinsamer Willensbildung und moralischer Orientierungsfindung entlasten – wobei diese Systeme der Vergesellschaftung sich in ihren Vollzügen gegenseitig (im systemtheoretischen Sinn des Wortes) beobachten und unter Weiterentwicklungs- und Differenzierungsdruck setzen. 75) Diese Systemdifferenzierungen bürgerlicher Gesellschaft kann man als „Antworten“ auf Komplexität, Kontingenzen und Krisen, auf Herausforderungen verstehen, die notwendig im Zuge der Dynamik und explosiven Zunahme sozialer Fernbeziehungen und den Versuchen (und dem Scheitern) ihrer Bearbeitung auftreten mussten. Als „Flechtmuster“ der Systeme Markt, Staat, Demokratie und Recht ist das spätkulturelle System der Gesellschaft post-moralisch, insofern es sich durch Praxisvollzüge und kulturelle Form/​Landschaftsbildungen hindurch erhält und reproduziert, die durch die o.g. symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien – Geld, Macht, Stimme und Recht – strukturiert sind. Das ist aber zur Charakteristik des spätkulturellen Gesellschaftssystems nicht hinreichend. Als Ausdifferenzierungen der Gesellschaft folgen auch Marktwirtschaft, Staat, Demokratie und Recht ihrer Viabilität sichernden Leitdifferenz von Gelingen versus Nicht-Gelingen der Bearbeitung und Einhegung potentieller Gewalt durch reziproke, Anerkennung des (fremden) sozialen Anderen in einer kooperativen, Öffnung und Schließung, Inklusion und Exklusion balancierenden Ausgestaltung von Fernbeziehungen. Marktwirtschaft, Staat, Demokratie und Recht sind bis heute immer auch (noch) durch diese implizite Ethik der Vergesellschaftung und das damit verbundene intuitive Gerechtigkeitsempfinden der Individuen strukturiert und „in Gang gehalten“. Vor diesem Hintergrund stellt insbesondere die Fundierung des Markthandelns im Eigennutz und seiner strategischen Verfolgung durch Individuen und Gruppen, wie sie vielfach in der ökonomischen Theorie vorgenommen wird, ein verkürztes Verständnis dieser Praxis dar. (Siehe Kap. IV.) Darüber hinaus hat sich – auch als Kompensation funktionaler Differenzierung und eines „Splitting der Beobachterperspektiven“ (Niklas Luhmann) –, das bürgerliche System der öffentlichen Verständigung und Orientierungssuche („Kultur der Kultur“) weiter ausdifferenziert. Hier konnte nun eine kommunikative (umgangssprachliche, philosophisch-wissenschaftliche, ethische) Verständigung auch über die Gesellschaft 84

und ihre Systeme (ihre Stärken, Schwächen und Grenzen) entstehen, die eine Art „flüssiges Fundament“ der westlichen Kultur bildet – und z. B. bis heute eine nicht endende Gerechtigkeitsdiskussion und ‑suche generiert. Dieser spätkulturelle Vergesellschaftungsmodus wurde durch die Ausdifferenzierung eines Rechtssystems „überdacht“, reguliert und legitimiert, dessen Anerkennung und Geltung sich zwar von Tradition und christlich religiöser (moralischer) Überlieferung nährte, dabei aber sich zunehmend auf eine intuitive Sittlichkeit, hier vor allem auf die Entwicklung der Freiheitsbedürfnisse und des Gerechtigkeitsempfindens der Bürger einerseits und andererseits auf eine universale, traditions- und differenzneutrale, in den Menschenrechten fundierte Rechtssetzung und ‑sprechung stützen konnte. Erhalt, Stabilisierung und Ausdifferenzierung dieser Systeme werden im westlichen Pfad bis heute durch Pflege und Mitgestaltung ihrer Form/​Landschaftsbildungen in lernenden Organisationen – der wirtschaftlichen Leistung und der politischen Steuerung, der demokratischen Willensbildung, der Rechtsprechung wie auch der Erziehung, Bildung und Ausbildung der Bürger – gestützt und gewährleistet. Dabei wird diese intentionale Mitgestaltung von (teils religiös christlichen, teils post-religiösen) Glaubenspraktiken orientiert und angeleitet, die die implizite Ethik der Vergesellschaftung und die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen in den regulativen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit explizit machen. Das bedeutet, dass auch das evolutionär ausdifferenzierte wirtschaftliche Handeln (von der Subsistenzüber die Tauschwirtschaft zur geldvermittelten Marktwirtschaft) und die darin entstandenen Systeme des Marktes (Produkt-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte) und des Kapitalismus ( vom Handels- über den Produktions- zum Finanzkapitalismus) durch die Logik und implizite Ethik der Vergesellschaftung und die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen fundiert und gerahmt bleiben sollten und könnten. Diese Rahmung kann explizit gemacht werden, eine entsprechende Organisation wirtschaftlicher Leistung anleiten und durch diese hindurch zur Viabilität und Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft, Markt und Kapitalismus und damit der westlichen Lebensform beitragen. Denn als spätkulturell ausdifferenzierte Systemvollzüge von Gesellschaft sind Markt, Staat, Demokratie und Recht auf ihr Gelingen durch Inklusion aller Bürger ausgerichtet und können in ihren phänotypischen Ausprägungen daran gemessen werden. Das bedeutet u. a., dass auch das Marktsystem – und damit auch die Organisation wirtschaftlicher Leistung, Unternehmen, Banken usw. – in ihrem evolutionären „Kern“ auf soziale Integration durch Kooperation entlang der regulativen Idee der Gerechtigkeit und ihrer effizienten Umsetzung ausgerichtet sind – und erst in diesem Rahmen und durch ihn begrenzt Konkurrenz und Wettbewerb zulassen sollten. Marktwirtschaft und Kapitalismus könn(t)en konstruktiv wirken und der impliziten Ethik der Vergesellschaftung folgen, wenn sie darüber hinaus durch die anderen Gesellschaftssysteme – Staat, Demokratie und Recht – „gekonnt“ begrenzt und reguliert werden. 76)

Entwicklung und Ausdifferenzierung von Markt und Marktwirtschaft Wie bereits angedeutet, ist der Markt ein funktional ausdifferenzierter „Vollzug von Gesellschaft“ (Niklas Luhmann), dessen Keimbildungen weit in die kulturelle Evolution zurückreichen. Schon in den Frühkulturen kann man Ansätze sozialen Handelns auch als wirtschaftliches Handeln beschreiben: als eine kooperative Erschließung und ‑nutzung von Ressourcen, die die potentielle Konkurrenz um diese in gemeinsamer Haushaltsökonomie und Vorratshaltung, in Arbeitsteilung und in Ansätzen einer Tauschökonomie einhegt. In den Hochkulturen ist all dies weiter ausdifferenziert und darüber hinaus gibt es hier bereits eine hoch entwickelte Handelsökonomie, ein Marktsystem als geldvermittelte zirkuläre Koppelung von Warenangebot und ‑nachfrage und (in Gestalt der Geldverleiher und der hier stattfindenden Kapitalkonzentration) Ansätze von Kapitalismus. Im Rahmen spätkultureller Evolution hat sich die Marktwirtschaft als ein Teilsystem 85

der Gesellschaft in den immer enger und vielfältiger werdenden Wechselbeziehungen von arbeitsteiliger Produktion, Dienstleistung und Handel einerseits und der Entwicklung, Artikulation und Interpretation von (Konsum)Bedürfnissen der Bevölkerungen andererseits ausdifferenziert.  77) All dies hat, wie schon gesagt, eine Kraft entwickelt, die auch zur Erosion hochkultureller Ordnung und religiöser Glaubenspraxis beigetragen hat. 78) Im westlichen Pfad ist die Marktwirtschaft, als Verflechtung von Märkten und Kapitalverwertung mit ihrer glaubenspraktischen Reflexion (in Moral- und Gesellschaftstheorien und in Wirtschafts- und Politiktheorien) sowie einer dadurch orientierten, schon in beachtlichen Anteilen „lernenden“ Organisation wirtschaftlicher Leistung zum dominierenden System in unserer kulturellen Lebensform geworden. Im Rahmen dieser Dominanz der Marktwirtschaft wurden zwar in the long run die Verteilung von Wohlstand, die allgemeinen Lebensbedingungen und in vieler Hinsicht die Möglichkeiten menschlicher Entwicklung in der westlichen Kultur verbessert. Aber bis heute hat dieses System neben Einbezug und drohender Verbrennung aller natürlichen Lebensgrundlagen auch die Gesamtbevölkerung in wirtschaftliche Konkurrenz und Wettbewerb 79) bis hin zur Konkurrenz der involvierten Individuen um ihre Lebensgrundlagen, hineingezogen. 80) Demgegenüber ist noch einmal festzuhalten, dass der Markt als „Vollzug von Gesellschaft“ zunächst – diesseits seiner ökonomischen Funktionen im engeren Sinn (Koppelung von Angebot und Nachfrage, Allokation von Ressourcen, Güterversorgung und ‑verteilung, Arbeitsteilung, Verteilung von Arbeit, Einkommen und Wissen u. a.) – der Gesellschaftsbildung, der Herstellung und Regelung von Fernbeziehungen und der Bearbeitung und Domestizierung zwischenmenschlicher Gewalt dient und einer daran orientierten impliziten Ethik der Gerechtigkeit folgt bzw. folgen könnte und sollte. 81)

Kapitalismus als Ausdifferenzierung des Marktsystems Seitdem es ein ausdifferenziertes Marktsystem gibt, ist Geld nicht nur Tausch- und Kommunikationsmedium, sondern auch Zinsmedium. Kapitalismus ist ein System, das Kapitalverwertung und Zins mit der marktförmigen Organisation wirtschaftlicher Leistung koppelt: zunächst als Handelskapitalismus, dann zusätzlich als Manufaktur- und Industriekapitalismus mit der Wertschöpfung lebendiger Arbeit und Technologie (als „geronnener“ Arbeit) und schließlich als Finanzkapitalismus (Kapitalismus der Finanzdienstleistungen) bis zum heutigen „Casino-Kapitalismus“, der sich von materieller Wertschöpfung und produktivem Investment weitgehend entkoppelt hat. Der Kapitalismus stellt als subsystemische Ausdifferenzierung des geldvermittelten Marktsystems dieses selbst und tendenziell die gesamte Natur und Kultur unter das Regime der Kapitalverwertung: Die menschliche Natur wird als qualifizierte Arbeitskraft zum Humankapital, die gesellschaftlichen Beziehungen zum Sozialkapital und die Mitnatur zum Naturkapital abstrahiert und formatiert. 82) Indem er Märkte und Wertschöpfung, Angebot und Nachfrage von Arbeitskraft und Technologie strikt der Kapitalverwertung und ‑vermehrung unterwirft, ist Kapitalismus eine komplexitätsreduzierende Ausdifferenzierung des Marktsystems. Er folgt der Leitdifferenz von gelingender versus misslingender Kapitalverwertung/​‑vermehrung und sein Steuerungsmedium ist der Profit. Wie schon die Verbreitung von Märkten und die damit verbundene Ausdifferenzierung des Marktsystems das einbettende kulturelle System mitgestaltet und tiefgreifend verändert haben, so haben auch die Verbreitung und Systemdifferenzierung des Kapitalismus das Marktsystem und durch dieses hindurch die gesamte westliche Lebensform in zwiespältiger Weise geformt. Als Ausdifferenzierung des Marktsystems ist auch ein kapitalistisches Finanzsystem zunächst eine gesellschaftlich funktionale und nützliche Differenzierung, weil es die Akkumulation von Ressourcen zur In86

vestition in zukünftige Märkte ermöglicht und wirtschaftliches Wachstum, Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstandsmehrung der Bevölkerungen bahnen kann. Dazu gehören Kreditschöpfung für Unternehmen und hier insbesondere Investitionen in Innovationen und nachhaltiges Wachstum, die Verteilung von Risiken auf viele Anleger und Investoren und der Ausgleich zwischen den Interessen der Kleinanleger an Flexibilität und Kurzfristigkeit und der Unternehmen an langfristigen Investitionen. Auch die heute ausdifferenzierte kapitalistische Monetärökonomie und die hier entstandenen Finanzmärkte sind zunächst einmal nützlich, insofern sie eine Beobachter-, Bewertungs- und Messfunktion mit Blick auf ökonomische Leistungsfähigkeit und Ressourcenallokation von Unternehmen, Branchen, Kommunen, Regionen und Staaten übernehmen. Insofern kann man hier auch von einer „zivilisierenden Kraft“ (Jürgen Kocka) des Kapitalismus sprechen. 83) Aber mit der großvolumigen Transformation von Besitz in kreditwürdiges Eigentum als Produktionsmittel entstanden mit den neuen Entwicklungschancen auch neue Kontingenzen: Unsicherheit bezieht sich jetzt auf das Eigentum und die Akteure geraten unter „Zinsstress“. Alle wirtschaftlichen Leistungen müssen nun grundsätzlich so organisiert werden, dass sie einen Ertrag oberhalb des (Leit)zinses erwirtschaften. Das beschleunigt zwar das Wachstum der Wirtschaft und die Entwicklung von Technologien, setzt aber auch alle, die durch Arbeit dieses Wachstum erwirtschaften, einem höheren Leistungs- und Konkurrenzdruck aus, möglichst hohe und kurzfristige Renditen zu erwirtschaften, die auf Kosten von Zukunft, der Nachhaltigkeit und der sozialen Gerechtigkeit gehen können. 84) Kapitalismus ist ein im westlichen Entwicklungspfad ausdifferenziertes Subsystem des Marktes und kann wie dieser einen Beitrag zur Vergesellschaftung durch Universalinklusion, zur Einhegung von Gewalt und zur allgemeinen Wohlstandsmehrung leisten. Aber auch und gerade in den Arbeitsmärkten der kapitalistisch ausdifferenzierten Marktökonomie können Eigentumslose in den nachbürgerlichen Status des Proletariats bzw. Prekariats (zurück) fallen. Luhmanns berühmtes dictum, dass der „Markt der Sieg der Knappheit über die Gewalt“ sei, gilt zwar mit Blick auf (vorübergehende) Einhegungen des Krieges und die Beziehungen zwischen Eigentümern, aber nur eingeschränkt für Menschen ohne Eigentum. Da der Kapitalismus kraft Selektivität des Profits als Steuerungsmedium durch mangelhaft regulierte Kapitalverwertung, Konzentration und Konkurrenz Eigentumslose erzeugt und ausschließt, wie auch destruktive Folgen in der Mitnatur und in der menschlichen Natur zeitigt, kann er seinen konstruktiven Beitrag zum Gelingen spätkultureller Gesellschaft nur in Verbindung mit den Ausdifferenzierungen von Staat und Demokratie und reguliert durch das Recht erbringen. 85) Das hat Adam Smith schon deutlich gesehen und akzentuiert.

Ethische Reflexion und Orientierung der Marktwirtschaft bei Adam Smith In den Schriften von Adam Smith finden die Ausdifferenzierungen der spätkulturellen Gesellschaft, darin der Marktwirtschaft, darin der Märkte und darin des frühen Handels- und Industriekapitalismus ihre erste, in wissenschaftlicher Forschung begründete philosophische Reflexion und moralische Legitimation. Adam Smith formuliert in Ansätzen und Grundzügen eine moralphilosophische Gesellschaftstheorie, in deren Kern die (biologisch begründete) soziale Bindung und Kooperation der Menschen stehen und erst in diesem Rahmen (!) eine Theorie der Marktwirtschaft, in deren Zentrum die (ebenfalls biologisch begründeten) Eigeninteressen der Menschen und ihre Erfüllung und Koordination durch Märkte stehen. Modern ausgedrückt, betrachtet Adam Smith die Marktwirtschaft als ein Teilsystem der Gesellschaft. 86) Zum Verständnis einer die Ökonomie rahmenden Gesellschaftsordnung finden sich sowohl Ansätze in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie, die 1759 die Grundlage für die Veröffentlichung seines philosophischen Hauptwerkes „Die Theorie der ethischen Gefühle“ bildete,  87) wie auch in seinem 87

bekannteren Hauptwerk zur Ökonomie, „Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker“. 88) Mit Blick auf die berühmte und vielzitierte Theorie der „unsichtbaren Hand“, der zufolge sich durch das Streben der Individuen nach persönlichem Wohlstand und Glück hindurch auch der allgemeine gesellschaftliche Wohlstand und das Glück aller steigern würde, ist entscheidend, dass  –  auch nach Adam Smith – dies nur möglich ist, wenn das materielle Glücksstreben durch „ethische Gefühle“, in unserer Terminologie: durch „intuitive Sittlichkeit“ der Individuen gerahmt und begrenzt bleibt. 89) Hinzu kommt auch schon bei Adam Smith die Einsicht, dass Marktwirtschaft eine systemische Rahmung und Begrenzung durch einen „gut regierten Staat“ haben sollte, der über die Aufgaben der Landesverteidigung und Bereitstellung gemeinschaftlicher Infrastrukturen und Leistungen hinaus auch ein „Rechtsstaat“ sein muss, der allen Bürgern persönliche Entfaltung, Bildung und Qualifikation und damit Aufstieg und Eigentumsbildung ermöglicht, sie vor Ungerechtigkeit und Unterdrückung und ihr Privateigentum vor widerrechtlicher Aneignung schützt. Darüber hinaus gehört zu einem Rechtsstaat, dass er sich auch nach außen korrekt verhält, also weder Kolonialismus noch Sklaverei praktiziert oder zulässt. 90) Ist der gesellschaftliche Rahmen in diesem Sinne ausdifferenziert und wird er als solcher erhalten und „gepflegt“, können Marktwirtschaft und ihre „unsichtbare Hand“ darin sich entfalten und ihren Beitrag zur Verwirklichung des allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstands und Glücks durch das individuelle Streben danach leisten. Gesellschaftlicher wie individueller Wohlstand entstehen aus Arbeit und Arbeitsteilung, aus Tausch und Handel in einem freien, aber durch den Staat (als gewählten Diener und Beschützer der Menschen) regulierten und rechtlich begrenzten Wettbewerb in und zwischen Nationen. Dann kann der Markt, nach Smith, eine optimale (räumliche und zeitliche) Verteilung von Ressourcen, eine dynamische Balance zwischen Preisen und Gewinnen gewährleisten und damit zugleich das Gemeinwohl und das Wohl der involvierten Individuen fördern. Indem also jedes Individuum – durch seine naturverwurzelte ethische Haltung (intuitive Sittlichkeit) und durch das staatlich garantierte und ausgeübte Recht ermöglicht und begrenzt – sein Interesse an ökonomischem Wohlstand und persönlichem Glück verfolgt, werden wie durch eine „unsichtbare Hand“ auch Wohlstand und Glück der Gesellschaft erhöht – und zwar effizienter, als wenn eine politisch gelenkte Wirtschaft direkt gemeinschaftliche Ziele verfolgen würde. Halten wir fest: Adam Smith folgend können ökonomische Arbeitsteilung und Wettbewerb der Wirtschaftssubjekte nur gerahmt und begrenzt durch Logik und Ethik der Vergesellschaftung, durch die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen und unter dem „Dach“ des Rechts zu allgemeinem Wohlstand führen und zur Stabilität kultureller Lebensform beitragen.

Organisation wirtschaftlicher Leistung Die destruktiven Auswirkungen auf Natur und Kultur und der Wiedereintritt von Herrschaft und Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung innerhalb der Marktwirtschaft konnten bislang nur eingedämmt werden, indem die Koordination durch Märkte  –  die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith  –  mit einer lernenden Organisation wirtschaftlicher Leistung gekoppelt wurde, die ethisch, insbesondere durch das Regulativ der Gerechtigkeit geleitet ist und so einer Alleinherrschaft und destruktiven Eigendynamik der Kapitalverwertung entgegenwirkte. Zu dieser lernenden Organisation gehörten und gehören eine gekonnte Begrenzung und Regulation der Marktwirtschaft durch Staat, Demokratie und Recht wie auch eine „Rahmung“ der Willensbildung des „bourgois“ und seines unternehmerischen, markt- und gewinnorientierten Denkens und Handelns durch seine Rolle als „citoyen“ und sein politisches und gesellschaftsbezogenes Denken und Handeln. Auch mit Blick auf die Geschichte der kapitalistischen Marktwirtschaft gilt, dass hier die Systemdifferenzierungen der Alltagspraxis und ihre Beobachtungsleistungen mit der Selbstbeobachtung in Glaubens88

praktiken gekoppelt sind. So lange und je mehr sich die kapitalistische Marktwirtschaft verbreitet hat und auch (z. B. über Allokation von Ressourcen, Stimulierung von Wirtschaftswachstum, Wohlstandsverteilung, Vermögenswachstum) erfolgreich war, umso mehr konnte sich eine sie reflektierende, im wesentlichen affirmative Selbstbeobachtung in der ökonomischen Theorie ausdifferenzieren und als „Zeitgeist“ die Köpfe der involvierten Akteure, der Funktionseliten und der Bevölkerungen durchdringen. Und je mehr diese affirmative Glaubenspraxis der Ökonomen die Köpfe durchdrang, umso effektiver konnte die daran orientierte (lernende) Organisation wirtschaftlicher Leistung das System der kapitalistischen Marktwirtschaft stabilisieren, reproduzieren und weiter ausdifferenzieren. Diese Schließung durch zirkuläre Koppelung kapitalistischer Praxis und Theorie hat sich lange gehalten, wird aber heute brüchig – was in vielen Krisen, aber auch in Neuansätzen der ökonomischen Theorie und Praxis zum Ausdruck kommt, die später behandelt werden.

Ausdifferenzierung westlicher Staatlichkeit im europäischen Pfad Die Trennung, funktionale Ausdifferenzierung und co-evolutionäre Verflechtung geistlicher und weltlicher Macht haben im europäischen Pfad einen Korridor für die neuzeitliche Entwicklung einer spezifisch westlichen Staatlichkeit geöffnet: einen säkularisierten „abstrakten Staat“ (Martin van Creveld), in dem nach und nach soziale Herrschaft und die Trennung zwischen Herrschern und Beherrschten durch delegierte Macht und Machtverteilung seitens der Bürger ersetzt wurde. 91) Diese Entwicklung hatte schon in den Städten begonnen, sich in den Fürstentümern und im absolutistischen Staat fortgesetzt und mündete schließlich über die konstitutionellen Monarchien in den modernen Nationalstaat und seine Demokratisierung. Auch spätkulturelle Staatsbildung lässt sich, wie schon angedeutet, als Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems – co-evolutionär mit Markt, Recht und (später) Demokratie – rekonstruieren. Seine phänotypische Eigengeschichte im westlichen Pfad wird als Entwicklung lernender Organisation politischer Steuerung nachvollziehbar bzw. aktuell beobachtbar und darüber hinaus kann man Stadt- und Nationalstaaten und heute die Ansätze post-nationaler Staatlichkeit auch als territoriale „Gefäßbildungen“ dieser Entwicklungen verstehen. Territorien – vom griechischen Stadtstaat über die römische Republik, die frühneuzeitlichen Stadtstaaten und die Nationalstaaten bis hin zu den heutigen Anläufen post-nationaler Staatlichkeit (wie z. B. Europa) – bilden also einerseits „Gefäße“, in denen sich die komplexe Eigengeschichte spätkultureller Lebensformen (phänotypische Form- und Landschaftsbildungen), die Systemdifferenzierungen der Alltags- und Glaubenspraktiken und die vielfältigen, glaubensgeleiteten Ansätze ihrer organisierten, reformerischen und revolutionären Mitgestaltung entwickeln konnten. Andererseits sind die territorialen Gefäßbildungen auch selbst Ergebnisse dieser Verflechtung von Eigengeschichte, Systemdifferenzierung und intentionaler, organisierter Mitgestaltung. • In den skizzierten frühneuzeitlichen Stadtrepubliken wurden die „horizontale“ wirtschaftliche Dynamik und Vernetzung mit „vertikaler“ politischer Selbstverwaltung und städtischer Wirtschafts- und Entwicklungspolitik äußerst effizient zu „win-win-Spielen“ zwischen privatwirtschaftlichen und Allgemeininteressen verbunden. Hier wurde erstmals das allgemeine Wohlstandsniveau geschaffen und gesichert, das später auch eine nachhaltige Ressourcenextraktion für Staats- und Kriegsfinanzierung ermöglichte. • Dann waren es die Fürstentümer und ihr ständig militärisch ausgetragener Konkurrenzkampf, der die Entwicklung zum bürokratisierten, durchrationalisierten Flächen- und Anstaltsstaat bahnten, auf dem Nationalstaat wie auch Verfassungs-, Rechts- und Sozialstaat heute beruhen. Denn spätestens seit dem 15. Jahrhundert führten die ständigen Kriege zu einer zunehmenden Abschöpfung finanzieller Ressourcen von der besteuerten Bevölkerung, woraus die Anfänge der Finanzbehörden und die zentralstaatliche Besteuerung hervorgingen. 92) 89

• Und ähnlich wie schon das Karolingische Reich koppelten auch die Fürstentümer in ihren Organisationsformen die Differenzierungen der Alltagspraxis – z. B. der Verwaltung, der Ausbildung von Verwaltungsund Rechtsexperten  –  mit christlicher Glaubenspraxis und mit einem kirchlichen Apparat und einer Ausbildung geistlicher und geistiger Eliten und Experten. Immer dort, wo und so lange die Könige und Fürsten sich durchsetzen konnten, konnte sich auch spätkulturelle Staatlichkeit weiterentwickeln und rationalisieren: institutionelle Verdichtung, zentrale Verwaltung, qualifiziertes Personal, insbesondere militärische Strukturen, allgemeingültige Gesetze, dauerhafte Finanzierung der Staatsaufgaben u. a. 93) • Und schließlich löste der Absolutismus die dezentralen Herrschaftsstrukturen des Adels ab und ersetzte sie durch zentrale Formen wie zentralisierte Bürokratie, beamtete Rechtsprechung, zentrale Steuereinnahme usw. In diesem Prozess gaben die Herrscher nach und nach Gestaltungsmacht ab, übertrugen sie Ministerien mit eigenen Ressorts und der Verwaltung und schufen damit ein Gerüst des modernen säkularen Staats. 94) Diese Entwicklungen fanden ihre glaubenspraktische Reflexion, Rahmung und Orientierung in Theorien moderner Staatsbildung – insbesondere bei Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu ) – und werden schließlich – über die Revolutionen und Reformen des 17. und 18. Jahrhunderts – zur Etablierung des modernen Nationalstaats in Europa führen, der in seiner weiteren Ausdifferenzierung mit seiner göttlichen Verbürgung auch nach und nach – unter Revolutions- und Reformdruck gesetzt – seine monarchische Verfasstheit zugunsten seiner Demokratisierung abwerfen und die ethischen (christlich-religiösen und post-religiösen) Anteile seiner Fundierung in eine bürgerliche rechtsstaatliche Verfassung einschreiben wird.

Glaubenspraktische Reflexion und Orientierung moderner Staatsbildung Von Hobbes über Locke und Rousseau bis zu Montesquieu rückten in den Entwürfen des Gesellschaftsvertrags über das Interesse an Sicherheit der Individuen und Gewaltlosigkeit ihrer Beziehungen hinaus die Eroberung und Gewährleistung ihrer bürgerlichen Freiheiten immer mehr in den Vordergrund. 95) Die verschiedenen Facetten der Emanzipation des Individuums zum Bürger – die (von Hobbes beschriebene) Delegation seiner potentiellen Macht und Gewalt an einen Staat, seine (von John Locke in den Vordergrund gestellte) Autonomie im liberalen Sinne zunehmender Unabhängigkeit, seine (von Jean Jaques Rousseau betonte) politische Macht im demokratischen Sinne von Mitbestimmung und Einfluss und die (von Montesquieu geforderte) Gewaltenteilung – wuchsen zum Leitbild bürgerlicher Emanzipation und einer freiheitssichernden Gesellschaftsordnung zusammen und orientierten die sozialen Revolutionen und Reformen, die Bildung von Nationalstaaten und ihre Verfassungen im späten 18. und im 19. Jahrhundert. 96) Die stützende und schützende Funktion des Nationalstaats bei der institutionellen Verwirklichung ökonomischen Wachstums, politischer Sicherheit und Freiheit im Sinne persönlicher Autonomie und demokratischer Mitbestimmung wurde gerahmt durch die identitätsverbürgende Rolle von „Nation“ in der Glaubenspraxis seiner Bürger. An der Entstehung des Nationalbewusstseins und der Entwicklung des Begriffs „Nation“ zu einem kollektiv verbindlichen Ideal lässt sich ablesen, wie zunächst nur von Avantgarden repräsentierte Werte zu geschichtlichen Kräften werden und als solche wieder zerfallen. Post-religiöser Glaube an die Nation und Nationalbewusstsein bildeten sich im 19. Jahrhundert als zentrale Elemente einer sich politisch und sozial verstehenden kollektiven Identität, die neben die religiös verbürgte traditionale Identität trat und diese auch schrittweise ersetzten konnte. 97) Nationenbildung wurde orientiert durch eine Glaubenspraxis der intellektuellen und Funktionseliten sowie wachsender Anteile der Bevölkerungen, die man als „primären Entwicklungsnationalismus“ (Dieter Senghaas) bezeichnen kann. 98) Dieser Glaube an die werdende Nation verband in sich eine mehr oder 90

weniger scharfe Abgrenzung gegenüber den alten feudalen und absolutistischen Ordnungen mit visionären Entwürfen einer kulturellen Lebensform, die die politische und ökonomische Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger ins Zentrum rückte und diese durch eine neue demokratische politische Ordnung im Rahmen von Nationalstaaten zu gewährleisten suchte. 99) In den letzten Jahrzehnten sind die Nationalstaaten vor allem durch die von ihnen mit gebahnte und unterstützte Globalisierung der Wirtschaft so unter Druck geraten, dass Theoretiker schon vom „Niedergang des Staates“ im westlichen Pfad sprechen, dem einerseits eine Erosion des Nationalbewusstseins in wachsenden Anteilen der (europäischen) Bevölkerungen und andererseits ein Wiedererstarken nationalkonservativer Bewegungen entspricht. Darüber hinaus scheint heute in Europa, zumindest ein „Europäismus“ langsam an Boden zu gewinnen. Hier bildet die allmähliche Ablösung des Nationalismus durch einen „Europäismus“ die glaubenspraktische Rahmung einer Formung von Europa als Wirtschaftsblock und als Akteur der Weltpolitik. Das in den Städten Europas entstandene, in seinen Nationalstaaten gereifte „Flechtmuster“ horizontaler marktvermittelter Vernetzung und vertikaler – politisch administrativer – Steuerung beginnt sich in einem größeren gesamteuropäischen Rahmen zu etablieren – wobei Demokratisierung und demokratische Legitimation noch „hinterher hinken“. Grundsätzlich könnte in Zukunft diese Entwicklung in eine europäische Identität münden, die die nationalen Identitäten ergänzt, „überdacht“ und in gewisser Weise auch entkräftet – ähnlich wie seinerzeit religiöse Identität auch durch nationale Identität überformt wurde. Auf mögliche Leitorientierungen und Wege einer verantwortungsbewussten Mitgestaltung dieser Europäisierung gehen wir später ein.

Der moderne Nationalstaat: Macht- Handels-, Sozial- und Wohlfahrtsstaat Im 18. und 19. Jahrhundert entstand der moderne Nationalstaat als territoriales „Gefäß“ und als System der Integration und Homogenisierung heterogener Bevölkerungsgruppen, das als Garant für Rechts- und Vertragssicherheit und über innere Ausdifferenzierung – zunächst als Macht- und Handelsstaat, dann als Interventions-, Sozial- und Wohlfahrtsstaat– eine hohe Steuerungskapazität entwickeln konnte. Im Folgenden geht es um den Macht- und Handelsstaat. Auf den Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der sich als Antwort auf den Produktionskapitalismus herausgebildet hat, kommen wir später zurück.

Der Macht- und Handelsstaat: Einhegung der Gewalt zwischen den Nationen „Der Markt ist der Sieg der Knappheit über die Gewalt.“ (Niklas Luhmann) Der Krieg zwischen Stämmen, Völkern und Nationen war auch in Europa lange Zeit der historische Normalzustand, während Frieden sich nur langsam und mühsam durchsetzen konnte. Ein entscheidender Schritt war der Friedensschluss nach dem dreißigjährigen Krieg (1648), der nicht nur das Morden und die Verwüstungen in Europa beendete, sondern auch eine vertragliche Ordnung entwarf, die den Völkern und ihren Religionen Souveränität und Gleichberechtigung zusprach. Die hier erstmals formulierten Grundsätze prägen das Völkerrecht bis heute und haben als Nicht-Einmischungsgebot und als Gewaltverbot Eingang in die Charta der Vereinten Nationen gefunden. Wie Michael Howard am Beispiel der europäischen Kriegsgeschichte darstellt 100), sind die Verbreitung der Friedensidee und die wachsenden Bemühungen um ihre Verwirklichung in Europa mit der allmählichen Ablösung der Dominanz der Politik durch die Ökonomie in der Gesellschaft verbunden. Grob gesagt 91

war seit 800 bis Ende des 18.  Jahrhunderts der Krieg in Europa eine „Selektionsinstanz der Geschichte“ (Howard): An die Macht gelangten und erhielten sich vielfach diejenigen politischen Eliten und Kollektive, die mit Gewalt am besten umgehen konnten und zwar so lange, bis sie von gewaltbereiteren und durchsetzungsfähigeren abgelöst wurden. Demgegenüber begann mit dem Aufstieg des Bürgertums als einer gesellschaftlichen Klasse, deren Entwicklung und dauerhaftes Wohlergehen auf Wirtschaft und Handel gestützt und deshalb weniger auf Krieg und mehr auf Frieden angewiesen war, die intuitive Friedensbereitschaft der Menschen und ihre (religiöse und post-religiöse) Explikation als „Idee des Friedens“ auch in der Politik zu „greifen“. In Verbindung mit der Durchsetzung einer Wirtschaftsweise, in der Gewalt zunächst dysfunktional wird, wird das Bemühen um Frieden zum Bestandteil bürgerlicher Vernunft. Dies führte zum Macht- und Handelsstaat, der sich weniger militärisch, sondern mehr durch „systemische Wettbewerbsfähigkeit“ (Dirk Messmer), als erfolgreicher Akteur und Konkurrent im wirtschaftlichen Wettbewerb und Austausch mit anderen Nationen zu behaupten sucht. Dies bleibt allerdings begrenzt auf die Gemeinschaft der miteinander Handel treibenden Völker unter Ausschluss von Völkern, die kolonialisiert, mit Gewalt unterdrückt, versklavt und zur Mehrung des ökonomischen Wohlstands westlicher Nationen ausgebeutet wurden. Die von Howard sog. „Zeit der Völker und Nationen“, die er bis 1918 datiert, ist gekennzeichnet durch die mit dem Wiener Kongress erreichte Einhegung des Krieges in Europa bei gleichzeitigen brutalen Massakern in den Kolonien bis hin zu seiner Wiederkehr in Europa. Die Zeit nach 1918, die Howard als die der „Idealisten und Ideologen“ bezeichnet, ist zunächst durch die beiden grauenhaften Weltkriege geprägt. Aber danach hat sie, auch getrieben durch die schrecklichen Erfahrungen dieser Kriege, die Weiterentwicklung und Verbreitung einer auf Marktbeziehungen und Welthandel gestützten Idee des Weltfriedens bestärkt, die auch zunehmend in der öffentlichen Meinung unterstützt wurde und politische Bemühungen um ihre Verwirklichung – zunächst im Völkerbund, später in den Vereinten Nationen – orientierte. Ein hoch zu schätzendes Ergebnis dieser Einhegung des Krieges durch Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen und ihrer Festigung in politischen Verträgen sind (bislang noch) Stabilität und Frieden im heutigen Kern von Europa. Aber all diese Bemühungen und die „Inselbildungen“ des Friedens wurden und werden immer wieder „überflutet“: zunächst durch den aggressiven Nationalismus und Territorialismus, durch Faschismus und Kommunismus seit Beginn des 20  Jahrhunderts, dann durch die nicht abreißende Kette von regionalen Kriegen im Rahmen des sog. kalten Kriegs und heute durch neue Kriegsformen und neue Kriegsanlässe, auf die wir in Kap. IV zurückkommen.

Die Ausdifferenzierung der Demokratie in sozialen Revolutionen und Reformen Die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft – Staat, Markt, Demokratie und Recht – differenzierten sich mit der europäischen und amerikanischen Nationenbildung weiter aus. In Europa spielten dabei materielle und Machtinteressen der Herrscher und der Kirche, des Adels und der Bürger (mit Eigentum und Kapital), ihre Kollisionen und die damit verbundenen Konflikte eine große Rolle. Insbesondere die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft konnte nur mühsam, über hartnäckigen Druck und Revolution bzw. durch Reformschritte der Eliten aus Angst vor Revolution vorangetrieben werden. Regenten, die der Aufklärung zugerechnet wurden, führten zwar freiwillig Reformen im Dienste des Wirtschaftswachstums durch – etwa als Maßnahmen, die den Zuzug neuer Bürger und die Gründung neuer Manufakturen erleichterten. Auch drängten sie vor allem aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Rechte des Adels zugunsten der Rechte der Bürger zurück. Aber insbesondere in Preußen und in den habsburgischen Stammländern stärkte dies Staatsmacht und Staatsräson und die Autorität einer „aufgeklärten“ Monarchie, die nach ihrer Selbsteinschätzung am besten wusste, was dem Gemeinwohl dient und für die 92

Menschen gut ist. 101) Gleichwohl hat sich hier nach und nach über die Entmachtung des Adels und in der Verwandlung des Königs „vom erblichen Grundbesitzer zur symbolischen Verkörperung der Nation“ (Stephen Toulmin) der spätkulturelle Staat herausgebildet und damit die weitere Entwicklung für Revolutionen und Reformen gebahnt. Die bürgerlichen Revolutionen und Reformen sind weder zufällige Ereignisse noch zwangsläufige, durch vorangehende Ursachen determinierte Entwicklungen, aber auch nicht bloße spontane Reaktionen und eruptive Gewalt als Antworten auf soziale Missstände und Ungerechtigkeiten. Darüber hinaus handelt es sich um gesellschaftliche Formbildungen, die im Korridor eines Möglichkeitsfelds „gerinnen“, das schon ganz wesentlich durch Systemevolution und ‑differenzierung spätkultureller Gesellschaft und hier insbesondere durch eine Staats- und Nationenbildung geprägt ist, die mit der Leitidee der Souveränität schon die Keimbildungen einer Souveränität der Völker als Bürger entwickelte. Vereinfacht gesagt, brauchten die Revolutionäre (in einem Akt) und die Reformer (in vielen Schritten) „nur“ an die Stelle des königlichen Souveräns und seiner göttlichen Aura die Souveränität des Volks und seine (mögliche) Vernunft setzen. Gerahmt durch die Idee der werdenden Nation wurden Adels-, Königsund Kirchenherrschaft durch delegierte und verteilte Bürger- und Staatsmacht zunächst ergänzt, dann eingeschränkt, überformt und allmählich abgelöst. Dies vollzog sich, (ähnlich wie in der griechischen Antike), in einem mehr oder weniger gelingenden Zusammenspiel einer Stärkung des Handels und des Machtzuwachses der Bürgerklasse mit der Ausdifferenzierung der impliziten Ethik der Alltagspraktiken und der intuitiven Sittlichkeit der Bürger. Deren Suche nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit und ihre Abwehr von Fremdbestimmung verband sich mit der expliziten – philosophischen, ethischen und politischen – Versprachlichung und Legitimation ihrer Intuitionen durch intellektuelle, philosophische, wissenschaftliche und politische Eliten. Wo sich implizite und explizite Ethik gegenseitig – nicht nur durch Erfahrung von Missständen und Lebensnöten, sondern auch durch Aufklärung und Machtzuwachs der Bürger – verstärken konnten, mündete dies in ein gemeinsames „Ergriffensein“ (Hans Joas) durch diese Ideale, das revolutionäre Aktionen und Reformen motivierte, orientierte und legitimierte. 102) Gestützt und gerahmt durch „Entwicklungsnationalismus“ (Dieter Senghaas) hat sich Demokratisierung in England und in den USA, in Frankreich, in Deutschland und in anderen Ländern unterschiedlich vollzogen und ist keineswegs abgeschlossen. Ein besonders interessantes und (trotz der gegenwärtigen Verirrungen) vielversprechendes Modell bieten die USA. Alexis de Tocqueville folgend konnten in Nordamerika die Revolution auch deshalb gelingen und die Demokratie installiert und nachhaltig gegen die Tendenzen zur „Tyrannei der Mehrheit“ und zur „Allgewalt der Regierung“ gefestigt werden, weil an ihrem Beginn bestimmte Ressourcen verfügbar waren: ein schon im geographischen Sinn riesiger, erst zu erschließender Entwicklungsraum, in dem sich den werdenden Bürgern kein Königtum und keine Adelsmacht entgegenstellte, ferner eine Verfassung und ein Regelsystem, die von Anfang an auf eine dynamische Balance von Zentralisierung und Dezentralisierung politischer Steuerung ausgerichtet waren und die Selbstbestimmung, Eigeninitiative und politische Mitwirkung der Bürger ermöglichten und forderten, sowie ihre vor allem christlich geprägte intuitive Sittlichkeit, zu der die Rahmung und Begrenzung des Eigennutzes durch Gemeinnutz und die persönliche und gemeinsame Verantwortung für das Gemeinwesen gehören. Tocqueville hat auch den inneren Zusammenhang zwischen Gleichheit und Freiheit der Bürger gesehen: dass nämlich einerseits eine politische und rechtliche Systemarchitektur, die u. a. eine formale Gleichheit der Bürger (vor dem Gesetz) garantiert, erst den Raum für Entfaltung und Pflege ihrer persönlichen Freiheit eröffnet und umgedreht nur die Ergreifung und Ausübung dieser Freiheit und Selbstbestimmung in föderalen, dem Subsidiaritätsprinzip folgenden Strukturen, in politischer Partizipation und in einer Zivilgesellschaft – durch freiheitliches Denken, in dadurch geprägten öffentlichen Diskursen und in der Pressefreiheit – den Erhalt der Systemarchitektur gewährleisten kann. 103) 93

Diese Demokratisierungsprozesse können als Belege gelesen werden, dass es im westlichen Pfad eine Entwicklung in Richtung Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit zu geben scheint, die sich in ihren tiefsten Wurzeln auf eine evolutionäre Drift zur Steigerung der Viabilität kultureller Lebensform durch Balance von Öffnung und Schließung stützen kann. Diese manifestiert sich hier als zunehmende persönliche Freiheit der Individuen und als ihre Integration in einem Gesellschaftssystem, das in „kunstvoller“ Verflechtung von Alltags- und Glaubenspraktiken, ihrer impliziten und expliziten Normativität, von öffentlicher Orientierungssuche und Willensbildung, Recht und Demokratie, Staat und Markt Gemeinsamkeit stiften, erhalten und entwickeln kann. Andererseits zeigen die vielfältigen „Kippeffekte“ revolutionärer Bewegungen in Diktaturen viele verhängnisvolle Verzögerung der Demokratisierung in Deutschland und ihre Brüchigkeit und Unvollkommenheit in vielen Nationen heute (wie z. B. Russland, China, Indien und Brasilien) wie auch gegenwärtige Tendenzen zur Entdemokratisierung in westlichen Nationen, dass diese Entwicklungen zerbrechlich sind, in vielfältiger Weise be- und verhindert werden können und möglicherweise auch eine gegenläufige, antidemokratische und (selbst)destruktive Drift sich durchsetzen kann. (Siehe Kap. IV.)

Die zweite industrielle Revolution: Konzentration von Kapital und Staatsmacht, Energie und Technologie, Qualifikation und Arbeit Nach der frühneuzeitlichen Industrialisierung in den Städten fand der zweite Industrialisierungsschub im Gefäß der europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts statt. Er stützte sich auf die skizzierten Konzentrationen legitimierter Staatsmacht, Verwaltung und Bürokratie und die vorübergehende Einhegung des Krieges in Europa, auf eine (in großen Anteilen durch neo-feudale Agrarwirtschaft, Kolonialismus und Ausbeutung genährten) Kapitalkonzentration und einen Überschuss an Arbeitskräften. Ferner auf die systematische Erzeugung von Wissen und (vor allem technischer und verwaltungstechnischer) Qualifikation, auf die Erschließung der fossilen Energieressourcen und die Entwicklung neuer Technologien, sowie – last not least – auf einen religiös und post-religiös begründeten Wirtschafts-, Technik- und Fortschrittsglauben. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte das Wiederaufblühen der Landwirtschaft unter neo-feudaler Regie zur sog. „ursprünglichen Kapitalakkumulation“ (Karl Marx) geführt. Die großvolumige Transformation des feudalen Landbesitzes in großbürgerliches Eigentum und verwertungs- und zinsträchtiges Investitionskapital, wie auch die Gewinne aus Kolonialismus und Ausbeutung südamerikanischer, afrikanischer und asiatischer Völker schufen die finanziellen Ressourcen für Investitionen in technologischen Fortschritt und Warenproduktion und somit auch die weitere Konzentration von Kapital und Produktionsmitteln in Westeuropa. Die von Karl Polanyi als „große Transformation“ analysierten Ausdifferenzierungen der Marktwirtschaft und des Nationalstaats im 19. Jahrhundert 104), ihre zirkuläre Koppelung zu einem nun zunehmend die westlichen Kulturen dominierenden und formenden System der „market society“ vollzogen sich vor allem in der politisch gebahnten und flankierten Transformation von Arbeit, Grund und Boden sowie Geld in Waren, die auf freien Märkten gehandelt werden und die Bevölkerungen in neue veränderte Lebens- und Arbeitsformen drängte. Insofern kann man hier von einer „Entbettung“ (Polanyi) wirtschaftlichen Handelns aus der Logik und Ethik gesellschaftlichen Handelns sprechen, auf die eine sukzessive „Landnahme“ des nun zunehmend verselbständigten Wirtschafts- und Marktsystems in der Gesellschaft folgte. Diese dauert bis heute an und hat hier zu einer Dominanz der Kapitalverwertung geführt, die einerseits von wirtschaftsliberaler Politik unterstützt und andererseits von sozialstaatlicher Politik kompensiert wird. Die zweite Phase einer nun markt-, produktions- und finanzkapitalistisch organisierten Industrialisierung begann bekanntlich mit dem Aufschwung der alten Textilindustrie, steigerte sich mit der Entwicklung der 94

Dampfmaschine und der Eisenbahn im Zentrum und mündete schließlich in die Massenproduktion der Chemie-, Elektro-, Automobil-, Medien- und Unterhaltungsindustrie im 20. Jahrhundert. 105) Die Abwendung von „weichen“ zu „harten“ Technologien der Energienutzung– weg von Holz, Wind, Wasser und Muskelkraft hin zur intensiven Verbrennung fossiler Energien  –  und die damit verbundene explosionsartige Entwicklung neuer Schlüsseltechnologien für industrielle Produktion, Transport und Mobilität sowie das enorme Potential an Arbeitskräften in den armen Landbevölkerungen und die Rohstoffausbeutung in den Kolonien bildeten Triebkräfte und Ressourcen für einen dritten Entwicklungsschub: die weltweite Ausbreitung industrieller Wachstumszonen.

Der dritte Schub spätkultureller Systemdifferenzierung in den „Gefäßen“ global vernetzter Wachstumszonen Der dritte Schub spätkultureller Systemdifferenzierung begann Mitte des 19. Jahrhundert mit der Globalisierung des Handelskapitalismus, sprengte spätestens mit der Globalisierung des Produktionskapitalismus und der Wertschöpfung seit Mitte des 20. Jahrhunderts das „Gefäß“ der Nationalstaaten, und hat bis heute eine spätkapitalistische, zunehmend durch den globalisierten Finanzkapitalismus dominierte Organisation wirtschaftlicher Leistung hervorgebracht. Die schon früher begonnene Verlagerung von Landarbeit zur Industriearbeit und deren Ergänzung durch Dienstleistungen und Wissensarbeit setzten sich weltweit beschleunigt fort. Auch das schon im ersten und zweiten Schub in Europa begonnene Bevölkerungswachstum hat sich im dritten Schub zunächst in den Gesellschaften fortgesetzt, die vom wissenschaftlichen technischen und medizinischen Fortschritt profitierten. Während es hier inzwischen weitgehend zum Stillstand gekommen ist, ist es in vielen Entwicklungsländern explodiert und findet heute seinen Niederschlag in globaler Migration und einer weltweiten Verstädterung in Gestalt monströser, durch Industrie- und Dienstleistung geprägter Stadtregionen. Heute wächst die städtische Bevölkerung weltweit wöchentlich um rund eine Million. Diese Entwicklung geht bislang einher mit einer Explosion des Durchflusses fossiler Energien (Kohle, Öl und Gas), des Materieverbrauchs und der Entstehung eines dichten Netzes neuer Infrastrukturen, neuer Formen regionaler Arbeitsteilung, der Entstehung neuer Ballungsräume und einer Prägung der Städte und Regionen zunächst durch die Versorgungs- und Produktionsinteressen der Industrien und darüber hinaus auch zunehmend durch Dienstleistungen und Wissensarbeit. Die Nutzung fossiler Energien ist dabei Voraussetzung und Folge der Massenproduktion: Ohne weltweite Energieausbeutung und Energieversorgungssysteme hätten Massenproduktion und ‑konsum nicht entstehen können, und ohne diese wären keine weltweite Energieversorgung und ‑verschwendung entstanden. Ebenso ist die Entwicklung der Naturwissenschaften Voraussetzung und in spezifischen Ausprägungen auch Folge der modernen industriellen Massenproduktion. Naturwissenschaft und Ingenieurswissenschaft, Technologien fossiler Energienutzung und Schlüsseltechnologien wuchsen in dieser Zeit zu einem Komplex der wissenschaftlich gestützten und intensivierten Natur- und Ressourcennutzung zusammen. Unter dem Regime der Kapitalverwertung wurde der wissenschaftlich-technologische Fortschritt zur Triebkraft der Steigerung von Arbeitsproduktivität, der Entstehung von Massenmärkten und der Ausgestaltung eines verschwenderischen industriegesellschaftlichen Lebensstils. Kennzeichnend für Entwicklung, Ausdifferenzierung und Verzweigung von Schlüsseltechnologien und -industrien ist eine sich selbst verstärkende Dynamik: Die Eisenbahn befriedigte einen Versorgungsund Transportbedarf und stimulierte den weiteren steigenden Bedarf nach Transport und damit das Wachstum vieler Industrien und Dienstleistungen, z. B. Ausbau der Eisen- und Stahlindustrie, gesteigerte Nachfrage nach Kohle, Baumaterialien u. a. Ähnlich verlief die Entwicklung mit dem Auto als Schlüssel95

technologie. Das Auto befriedigte Wünsche nach individueller Mobilität und verstärkte diese Wünsche und damit das Wachstum der Autoindustrie und vieler infrastruktureller Entwicklungen, Industrien und Dienstleistungen, wie z. B. Straßen, Energieversorgungsnetze und einer Vielzahl von Zulieferindustrien bis hin zu den Tankstellen. Infrastruktur, Erschließung und grenzenlose Ausbeutung fossiler Energien waren Voraussetzungen, dass aus den technischen Möglichkeiten des Automobils reale Wachstumsschübe werden konnten. Auch die Entwicklungen der Chemie- und Elektroindustrie und heute der Telekommunikationsindustrie, des Internets und der Digitalisierung lassen sich ähnlich beschreiben. Mit dem Internet wurde der Computer – bildlich gesprochen – „auf die Schiene gesetzt“ (Dieter Otten) und so ein großes Umfeld an Zulieferungs- und Verwertungsindustrien und ein breites Spektrum an Produkten und Dienstleistungen generiert. Alle Schlüsseltechnologien und ‑industrien scheinen einen Lebenszyklus zu haben: Nach einer Pionierphase, getragen von kleinen, innovativen Unternehmen, gibt es eine Zeit der Kapital- und Unternehmenskonzentration, der Verdrängung kleiner Unternehmen, des starken Wachstums und starker Ausdifferenzierung mit hohen Gewinnen und Wohlstandssteigerung für die einbezogenen Bevölkerungsteile, die wiederum abgelöst wird von einer Reifephase, die geprägt ist durch zunehmende Sättigung der Märkte, durch verschärfte Preiskonkurrenz, sinkende Gewinne und Beschäftigungsrückgänge. 106) Deshalb sind kapitalistisch organisierte Industrialisierung und Dienstleistung notwendig mit transnationaler Expansion bis hin zur Globalisierung gekoppelt, denn für die hier entwickelten Technologien, Produkte und Dienstleistungen müssen immer neue Absatzmärkte erschlossen werden. Die Verbreitung der kapitalistischen Organisation wirtschaftlicher Leistung auf und zwischen den Wachstumszonen rund um die Welt hat hier bereits zur „Verwestlichung“, zu tiefgreifenden Veränderungen und Angleichungen der kulturellen Landschaften  –  der Arbeitsformen, der Konsumgewohnheiten und der Lebensstile, der Verteilung von Arbeit, Einkommen und Wissen, der Alltags- und Glaubenspraktiken, der Mentalitäten, Einstellungen und Werte u. a. – geführt. Die Form- und Landschaftsbildungen der sich globalisierenden und dabei auch regional sich anpassenden und sich spezifisch ausdifferenzierenden westlichen Lebensform zeigen sowohl positive wie negative Züge, haben das Leben vieler Menschen verbessert aber auch neuen Risiken ausgesetzt. Unter dem Druck dieser Globalisierung hat sich bis heute die spätkulturelle Systemdifferenzierung teils vielversprechend fortgesetzt, teils aber auch – in großen Anteilen ausgelöst durch die Vorherrschaft der Kapitalverwertung – zu gefährlichen Verzerrungen geführt. Im Folgenden konzentrieren wir uns zunächst auf positive Aspekte und Effekte dieser Entwicklungen und auf die weitere Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ und der „werdenden Vernunft“ im westlichen Pfad.

Der „Staffellauf “ der Industrialisierung und Globalisierung Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution ist die weitere Industrialisierung im 19. Jahrhundert mit der Globalisierung der Wirtschaft verbunden und einem „Staffellauf “ (Dieter Otten) vergleichbar. Denn seitdem wird das „Staffelholz“ der Schlüsseltechnologien, der industriellen Produktivität und des Wachstums von Region zu Region, von Nation zu Nation und von Kontinent zu Kontinent weitergereicht – mit dem Unterschied, dass diejenigen, die es weiterreichen, nicht einfach stehen bleiben können, sondern sich bemühen müssen, mit den neuen Trägern weiter zu „laufen“. Aus heutiger Sicht lassen sich innerhalb des dritten Schubs spätkultureller Systemevolution drei „Runden“ moderner Industrialisierung und Globalisierung unterscheiden: der Staffellauf der europäischen Nationalstaaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, der Staffellauf der USA mit Europa und 96

Japan im 20. Jahrhundert und die Zeit seit Mitte/​Ende des 20. Jahrhunderts, in der das Staffelholz in Asien, von den sog. Tigerstaaten und von China und Indien übernommen wird und die westlichen Industrienationen zum „Mitlaufen“ zwingt. Eingebettet in diesen Staffellauf sind neue Schlüsseltechnologien entstanden: seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Digitalisierung und Computertechnologie und seit Beginn des 21. Jahrhunderts die (zumeist auf Digitalisierung gestützten) Bio‑, Gen‑, Neuro‑, Nanotechnologien und die artifizielle Intelligenz.

Die erste Runde und die Führungsrolle Europas Die erste Runde des Staffellaufs und der transnationalen Expansion der Wirtschaft stützte sich vor allem auf die Schlüsseltechnologien Dampfmaschine, Eisenbahn und Telegraph. Die Dampfmaschine ermöglichte die industrielle Massenproduktion, dampfgetriebene Eisenbahnen und Schiffe verkürzten Lieferzeiten und senkten Transportkosten und mit der Erfindung des Telegraphen beschleunigten und globalisierten sich Informationsflüsse und Kommunikation. 107) Dabei wanderte die wirtschaftliche Führungsrolle im Industrialisierungsprozeß zunächst im Wesentlichen nur innerhalb Europas von einer europäischen Nation zur anderen. Die europäischen Staaten waren die „Tigerstaaten“ der Neuzeit, die seit ihrer Gründungszeit Machtpolitik nach innen und außen mit kapitalistischer Marktexpansion verbanden 108) Die europäische Staatenkonkurrenz führte zur Steigerung der Produktivität, zur Intensivierung, Beschleunigung und Ausdehnung des Warenaustauschs, zu einer Effektivierung politischer Steuerung und des Finanzwesens und zum Ausbau des Militärs, die Europa im 19. Jahrhundert eine weltwirtschaftliche und weltpolitische Führungsrolle verschafften. Wegen dieser irreversiblen Effektivierung der Strukturen lernender Organisation kann man – mit Christopher Bayly – das 19. Jahrhundert auch als eine „neue Achsenzeit“ bezeichnen. 109)

Der europäische Sozial- und Wohlfahrtsstaat: Einhegung der (potentiellen) Gewalt innerhalb der Nationen Im weiteren Verlauf des westlichen Pfads integrierte die kapitalistische Organisation wirtschaftlicher Leistung immer mehr Menschen, „verwandelte“ sie in (potentielle) Marktteilnehmer und erzeugte damit auch neue soziale Polarisierungen bis hin zur Verelendung großer Bevölkerungsgruppen. Damit verbunden waren wachsende Ansprüche auf ökonomische und soziale Gerechtigkeit und demokratische Selbstbestimmung, die zu vielfältigen gesellschaftlichen Konflikten und zu immer erneuten Versuchen und Anläufen der Nationalstaaten führten, Marktdynamik und Kapitalismus den ethischen Idealen der Gesellschaft folgend, zu „zähmen“ und politisch zu steuern. Insbesondere in Europa haben sich Nationalstaaten, getrieben durch große Krisen, die zu revolutionären Umbrüchen hätten führen können, in Reaktion auf Verelendung breiter Bevölkerungsgruppen und in Antwort auf soziale Verwerfungen und Konflikte zu Sozialstaaten und schließlich mit Blick auf die Sicherung von Kaufkraft und Massenkonsum zu Wohlfahrtsstaaten entwickelt. Den Mitgestaltern des Sozial- und Wohlfahrtsstaats ging es darum, einerseits die Dynamik von Wirtschaft und Marktbildung zu fördern, freien und fairen Wettbewerb zu sichern und andererseits die wirtschaftlichen Erfolge und Errungenschaften als Zuwachs an Wohlstand und Lebensqualität allen Bürgern zukommen zu lassen und kulturell und sozial kontraproduktive Effekte der Marktdynamik einzudämmen. Soziale Marktwirtschaft und der Sozial- und Wohlfahrtsstaat sind nicht nur Errungenschaften des Wirt97

schaftswachstums, sondern haben bis heute auch weiteres Wirtschaftswachstum, zunehmende Prosperität und steigende Kapitalrenditen ermöglicht – ein Zusammenhang, den neo-liberale Ökonomen und Politiker gerne übersehen. Der europäische Nationalstaat hat als Macht- und Handelsstaat, als Garant für Rechtssicherheit und später als Interventions-, Sozial- und Wohlfahrtsstaat bis heute (noch) eine hohe politische Steuerungskapazität. Systemische Wettbewerbsfähigkeit und inneren Frieden in und zwischen den Nationen durch soziale Marktwirtschaft und einen „domestizierten Kapitalismus“ zu sichern, ist auch eine Triebkraft der europäischen Integration und der sich hier bildenden post-nationalen Staatlichkeit – auch wenn diese sich bislang gegen die neo-liberalen Triebkräfte zur weiteren Entfesselung des Kapitalismus nicht hinreichend durchsetzen konnte. Markt und Kapitalismus und die dadurch geleitete Industrialisierung konnten bis heute nie allein, sondern immer nur eingebettet in politische und staatliche, demokratische und rechtliche Regulationen ein allgemeines Wohlstandswachstum generieren. Insofern müssen starke Nationalstaaten kein Hindernis sein, sondern können, sofern sie demokratisch geführt werden, auch eine gute Voraussetzung für die Ausbildung einer funktionstüchtigen post-nationalen Staatlichkeit in Europa darstellen. Gerade ihre Koppelung in einer Mehrebenenregierung der geteilten Souveränitäten kann eine Konstruktionsregel des zukünftigen stabilen Europas bilden. Darauf kommen wir später zurück.

Die zweite Runde unter Führung der USA Anfang des 20. Jahrhunderts übernahmen – auch ausgelöst durch das Macht- und Marktvakuum, das der Erste Weltkrieg in der Weltökonomie schuf – die USA die Führungsrolle in der Industrialisierung. Auf dieser Grundlage, unter Nutzung der reichlichen Ressourcen an Bevölkerung, Rohstoffen und Kapital und aufgrund begünstigender Rahmenbedingungen – wie z. B. einer demokratischen Verfassung und einer pragmatischen Kooperation von Unternehmen und Gewerkschaften – wurden die USA im 20. Jahrhundert zur Geburtsstätte der Automobilfließbandproduktion, der fleischverarbeitenden Industrie, der Elektroindustrie, der Informations- und Kommunikationsindustrie (Zeitungswesen, Massenpresse, Telegraph, Telefon) und schließlich der Kultur- und Filmindustrie. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges konnten sich Europa und Japan ebenfalls – teils durch Förderung der USA, (mit wirtschaftlich starken Partnern kann man besser Handel treiben), teils auch im Schatten des kalten Krieges und der enormen Belastung der US-Wirtschaft durch die Aufgaben der USA als „Weltpolizist“  –  zu neuen Zentren industriellen Wachstums entwickeln. USA, Europa und Japan bildeten im 20. Jahrhundert die Zentren der globalen Vermarktung von Schlüsseltechnologien. Ein Beispiel dafür ist die Autoindustrie, indem sie überall auf der Welt, wo gewisse Minimalvoraussetzungen der Offenheit und Finanzierbarkeit erfüllt werden – wie z. B. in den letzten Jahrzehnten auch in China – Motorisierung und individuelle Mobilität auszudehnen sucht. Insofern spielen die Autoindustrie und ihre Zulieferindustrien bis heute die Rolle eines Wegbahners in der Globalisierung industriegesellschaftlicher (verschwenderischer) Lebensformen. In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Computer- und Kommunikationsindustrie ihr zur Seite getreten. Industrialisierung, Entwicklung von Schlüsseltechnologien und Globalisierung – zunächst des Handels, dann der Finanzmärkte und heute der Wertschöpfung – stützen und treiben sich gegenseitig voran. Dabei trieb die Industrialisierung mit den Schlüsseltechnologien Dampfmaschine und Auto zunächst die Globalisierung des Handels und in Ansätzen auch der Finanzmärkte voran, während erst die Computer- und Kommunikationsindustrie die globalen Wertschöpfungsketten weiter ausbauen und die Globalisierung der Finanzmärkte vollenden konnten. 98

Die in ihren Anfängen weit zurückliegende Globalisierung des Handels beschleunigte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war der Umfang des Welthandels ähnlich hoch wie heute. Dabei ist der Handel von Gütern zwischen entwickelten und sich parallel entwickelnden Industrienationen, der von der Kontinentalisierung (z. B. Europäisierung) zur Globalisierung verlaufen ist, zu unterscheiden von dem ‚Handel‘ zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern, der zu großen Anteilen (insbesondere in Afrika und Südamerika) eine Ausbeutung der Rohstoffe und der Arbeitskräfte dieser Länder für Wachstum und Wohlstand westlicher Gesellschaften war – und in Anteilen heute immer noch ist. Der von Zollschranken weitgehend befreite Handel zwischen den heranwachsenden Industrienationen und die Ausbeutung der dritten Welt führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Verdoppelung des Pro-Kopf Einkommens in den Industrienationen. Der globale Handel ging seit der ersten Weltwirtschaftskrise (beginnend 1873) mit dem Verfall des Goldstandards als Garant der globalen Kapitalflüsse und mit der Neuerrichtung von Zöllen, mit den nun wiedereinsetzenden harten Grenzziehungen der Industrienationen untereinander, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und mit der zweiten Weltwirtschaftskrise ab 1929 immer weiter zurück, ohne gänzlich zusammenzubrechen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Globalisierung des Handels wieder in Fahrt: Gestützt durch die Einrichtungen des allgemeinen Zollabkommens (Gatt heute WTO), das den Freihandel schützt, des Weltwährungsfonds (IWF), der für weltweite Liquidität sorgt und der Weltbank, die Kapital für die Entwicklungsländer bereithält, wuchsen in den folgenden Jahrzehnten der Welthandel, der Exportanteil am Bruttosozialprodukt und die internationalen Wertpapiergeschäfte nahezu explosiv. 110) Die Globalisierung des Handels wird in den letzten Jahrzehnten zunehmend überlagert durch eine auf Computerisierung und Internet gestützte Globalisierung der Finanzmärkte. Hier ist zu unterscheiden zwischen einem globalisierten Kapitalismus der Produktionsökonomie und der Finanzprodukte. • Wie der nationale kann auch der globalisierte Kapitalismus der Investitionen in die Produktionsökonomie, mit Blick auf weltweite Allokation von Ressourcen und insbesondere mit Blick auf Investitionen, Wachstum und Wohlstandsförderung in Schwellen- und Entwicklungsländern auch für diese von Nutzen sein. Allerdings steigert die internationale Kapitalmobilität die Renditeerwartungen der Investoren an die Realökonomie, übt damit zunehmenden Druck auf Volkswirtschaften und Unternehmen aus und kann hier zu Nullsummenspielen, zu Industrialisierung, Wachstum und Wohlstand von Regionen auf Kosten von Deindustriealisierung, Arbeitslosigkeit und Verarmung in anderen Regionen der Welt führen. • Ferner ist der Kapitalismus der Finanzprodukte und ‑dienstleistungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts explosiv zu einer globalen „Monetärökonomie“ herangewachsen. Der Anteil der Finanzprodukte und ‑dienstleistungen am Gesamtfluss von Produkten und Dienstleistungen wird immer größer und getreu der Expansionslogik und Selbstreferenz einmal entstandener Märkte lösen sich finanzielle Dienstleistungen – wie z. B. Derivate, die der Absicherung des Warenhandels gegen Währungsschwankungen dienen – vom Warenhandel ab und werden selbst in variierten und selbstreferenten Formen ( als Derivate von Derivaten von Derivaten …) zu handelbaren Finanzprodukten auf neuen Märkten. Im Finanzmarktsystem wird das Geld selbst zur Ware und nimmt vielfältige und ebenso verführerische wie riskante (teilweise auch kriminelle) Formen von Finanzprodukten an. Mit der zunehmenden Verbreitung und Diversifikation spekulativer Finanzprodukte erzeugt der Finanzkapitalismus einen Beschleunigungsdruck (Investitionen und Gewinnkalkulationen werden immer kurzfristiger) und einen spekulativen Druck, der vor allem durch platzende Blasen über den Finanz- und Bankensektor hinaus ganze Volkswirtschaften destabilisieren kann. Diese Entwicklung ist kontraproduktiv und 99

für viele Menschen existenzbedrohend und kann insofern – mit anderen Entwicklungen, die in Kap. IV beschrieben werden  –  als ein „systemisch Böses“ und als „beharrende Unvernunft“ im westlichen Pfad charakterisiert werden. 111) Die Globalisierung der Wirtschaft mit der Finanzökonomie als Beschleunigungsmotor setzt alle potentiellen Mitspieler – Nationen, Völker, Regionen, politische und soziale Organisationen ebenso wie Unternehmen, ihre Führungen und ihre Mitarbeiter – unter Anpassungsdruck, zwingt sie zur internen Umstrukturierung wie auch zur Kooperation und Vernetzung untereinander, zur Bildung von Staatenbünden, Handelszonen, Wirtschaftsblöcken und regionalen Bündnissen. Gehobene Mittelstandsunternehmen reagieren auf diesen Druck mit Verlagerung und Verteilung von Wertschöpfung, Großunternehmen darüber hinaus mit globalen Vernetzungen, Kooperationen, Fusionen und globalen Wertschöpfungsketten, um die Kapitalrendite zu optimieren und sich gegen Risiken regionaler Veränderungen und Marktsättigungen abzusichern. Die Globalisierung der Wertschöpfung ging ursprünglich vom Westen aus und hat vor allem in Asien die Entstehung eines selbstgenerierten industriellen und Wirtschaftswachstum begünstigt, so dass immer mehr asiatische Nationen – beginnend mit Japan über Singapur und Hongkong bis zu Südkorea und Taiwan und heute China, Indien und Indonesien – zu neuen Zentren der Entwicklung und globalen Vermarktung alter und neuer Schlüsseltechnologien – der Auto- und der Chemieindustrie, der Unterhaltungs- und Filmindustrie, der Informations- und Telekommunikationsindustrie wie heute auch der Bio-, Gen- und Neurotechnologien – werden. Inzwischen ist die Zeit abgelaufen, in der Europa, USA und Japan gemeinsam die „Lokomotive“ der Industrialisierung bildeten und sich als Hauptakteure der Globalisierung verstehen konnten.

Die dritte Runde, in der Asien die Führung übernimmt In den letzten Jahrzehnten wird das „Staffelholz“ der Industrialisierung und der Schlüsseltechnologien zunehmend von den Schwellenländern der Pazifikregion und Südostasiens ergriffen, wobei sich der Staffellauf beschleunigt. 112) Der bisherige, zunächst aggressiv militärische, dann gedämpfte, durch Ausbeutung der dritten Welt bestimmte und von „win-win-Spielen“ durchzogene Wettbewerb zwischen den westlichen Industrienationen, wird zunehmend überformt durch eine globale Dynamik, in der sich ganze Wertschöpfungsketten nach Asien verlagern. Die Verlagerung, die zunächst nur die Randzonen der Wertschöpfung, die einfache Massen- und Billigproduktion mit unqualifizierten Arbeitern betraf, hat sich heute in die Kernbereiche der Wertschöpfung, in die Bereiche der Hochtechnologie, der Dienstleistungen und Wissensarbeit ausgedehnt. Eine fernöstliche Wissensökonomie mit hohen Investitionen in Forschung und Ausbildung ist entstanden, die beschleunigt das Wissen der westlichen Wirtschaft „absaugt“, weiterentwickelt und zum Aufbau neuer Industrien und Dienstleistungen nutzt. 113) Triebkräfte dieser Verlagerung sind nicht nur Kapital und Unternehmen, 114), sondern auch die Konsumenten und ihre Kaufentscheidungen. 115) Die Folgen sind in vielen westlichen Industrienationen schmerzhaft zu spüren: Deindustrialisierung und negative Handelsbilanzen, Verschuldung, Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen, Verarmung der Staaten, Verunsicherung und Zukunftsangst in den Bevölkerungen. 116) Dabei scheint noch nicht entschieden, ob es auch auf globaler Ebene und in the long run zu einem „winwin-Spiel“ kommen kann, in dem Wettbewerb in internationale Kooperation eingebettet bleibt, oder ob diese Dynamik Züge eines Weltwirtschaftskriegs, eines Nullsummenspiels zwischen westlichen und asiatischen Industrienationen annimmt, 117) in dem Asien durch seine niedrigeren Löhne noch viele Jahre im Vorteil sein wird. 118) In diesem Zusammenhang sprechen Zahlen eine deutliche Sprache: Während im Jahr 2007 der Anteil der Europäischen Union am kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) 20,75% betrug, waren es im Jahre 2017 nur noch 16,4%. 119) 100

Derzeit spricht einiges dafür, dass die (teils auch zwiespältigen) Errungenschaften, die in den vergangenen 500 Jahren zur globalen Vormacht Europas und des Westens beigetragen haben, hier erodieren, während sie sich in Anteilen in den asiatischen Ländern immer stärker ausprägen und ausdifferenzieren. Das gilt für Wettbewerbsfähigkeit und ‑orientierung der Unternehmen, für wissenschaftlich technische Innovationen, für Konsummotivation und ‑freudigkeit, für die Arbeitsmoral und teilweise sogar für die rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen, die  –  nach Messung des Weltwirtschaftsforums  –  in den USA schlechter sind als beispielsweise in Hongkong. Darüber hinaus haben sogar die Europäer bessere Wettbewerbsbedingungen – „geringere Konzentration (also mehr Konkurrenten), bescheidenere Gewinne und niedrigere Eintrittsbarrieren“ als die USA, weil sie eine von nationaler Politik weitgehend unabhängige Kontroll- und Regulationsinstanz etabliert haben. 120) Gleichwohl stehen vermutlich die USA heute vor einer Re-Industrialisierung, die durch drei Quellen – billige Energie und Energieautarkie durch Erschließung der Ölschiefervorkommen („fracking“), billige Arbeitskräfte auch durch Einwanderung (trotz Trumps Bestrebungen, diese zu begrenzen) und durch flexible Finanzmärkte genährt wird – und mit einer Verschärfung ökologischer Folgen (auch durch Trumpsche Umwelt-, Wirtschafts- und Steuerpolitik) verbunden sein wird. In dieser Konstellation stellt sich die Frage, wie die europäische Gemeinschaft zwischen den Erfordernissen einer zukunftsfähigen ökologisch und humanverträglichen Ausgestaltung ihrer Wirtschaft einerseits und dem Erhalt ihrer globalen Teilhabe und Wettbewerbsfähigkeit einen Weg finden kann. (Versuche zur Beantwortung dieser Frage finden sich in Kapp. V, VI und im Fazit.)

Das Ergebnis: ein globaler Archipel kapitalistisch geprägter Industrialisierungs- und Wachstumszonen Da im „Staffellauf “ des Industrialisierungsprozesses diejenigen Nationen und Regionen, die das Staffelholz ergreifen und wieder verlieren, weiter „im Rennen“ bleiben müssen und entsprechende Anstrengungen unternehmen, wachsen diese Regionen allmählich zu einem „Archipel“ der Industrialisierung auf der Erde zusammen und bieten sich heute als Entwicklungsräume für Kapitalinvestitionen in sich weiter ausdifferenzierenden Bereichen arbeitsteiliger Produktion und Dienstleistungen an. 121) Entgegen allen Prophezeiungen vom Ende der Industriegesellschaft vollzieht sich heute ein gewaltiger neuer Industrialisierungsschub im globalen Rahmen, der sich auf eine Explosion des Arbeitskräfteangebots stützen kann und dieses weiter nährt. 122) Während global die Industrieproduktion zunimmt, wächst zugleich in den hoch entwickelten Industrienationen der Anteil der unternehmens- und personenbezogenen Dienstleistungen zu Lasten der Anteile der Produktion an der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Hinter diesem Prozess der Tertiarisierung und Quartärisierung stehen verschiedene Entwicklungen: • Die beginnende Sättigung einheimischer Märkte mit Gütern industrieller Massenproduktion stimuliert die Suche, Erschließung und Erzeugung neuer Dienstleistungsmärkte durch das Investitionskapital. • Die wachsende Produktivität der Arbeit und die damit einhergehende Verkürzung der Arbeitszeiten führen zu einem Anwachsen der Freizeit und einem entsprechenden (kulturellen, ästhetischen, touristischen, gastronomischen etc.) Dienstleistungsbedarf und ‑angebot. • Die Vielfalt und Komplexität der technischen Ausstattung von Unternehmen, Institutionen und Haushalten führen ebenfalls zu einem erhöhten Dienstleistungs-, Service und Beratungsbedarf. • Die wachsenden Schwierigkeiten unter Bedingungen von Komplexität, Unübersichtlichkeit und „information overload“, Informationen in Wissen und dieses in kontext- und anwendungsbezogene Orientierung zu transformieren, führen zu einem wachsenden Bedarf an Orientierung, Beratung sowie Management und einem entsprechend zunehmenden Anteil an „WissensarbeiterInnen“ (Robert Reich). 101

• Die wachsenden psychosomatischen Belastungen durch Beschleunigungs- und Leistungsdruck in der Arbeitswelt, die Zunahme psychischer Krankheiten durch Optionsüberforderung und Atomisierung, aber auch die wachsende Sensibilisierung für körperliches und seelisches Wohlergehen („well being“) führen zu einer Explosion gesundheitsbezogener und therapeutischer Dienstleistungen. • Die Rationalisierung, Robotisierung und Digitalisierung der Produktion und der unternehmensbezogenen Dienstleistungen führen zur Freisetzung von gering qualifizierten Arbeitnehmern, die in teils selbständig erbrachten einfachen Dienstleistungen neue Nischen suchen. Diese Entwicklungen charakterisieren zeitversetzt alle globalen Wachstumszonen. Insofern kann man sagen, dass die menschliche Kultur auf der Erde „flach wird“ 123) und sich – unter dem selektiven Druck von Renditeerwartungen des Kapitals  –  selbst auf ökonomische Effizienz hin „optimiert“. Arbeitskräfte, ihre Qualifikation und die Arbeitskosten treten ebenso wie Verfahren der Technik und der Organisation weltweit miteinander in Wettbewerb. 124) Die drei modernen Schübe der Industrialisierung und Globalisierung – der europäische, der US- amerikanisch westliche und der asiatische  –  haben zu einer „Klumpenbildung“ von Wachstumszonen und ihrer Vernetzung auf der Erde geführt, die jeweils in ihrer Binnenstruktur industriell und kapitalistisch geprägt sind. Diese Wachstumszonen zeigen zwar noch kulturelle und regionale Besonderheiten in ihrer phänotypischen Landschaftsbildung – in Architektur und Städtebau, in Stadtkulturen und Lebensformen, in Deutungsmustern und Wertorientierungen u. a. sowie Ungleichzeitigkeiten der Industrialisierung mit verschiedenen Mischungen von Schlüsseltechnologien, Dienstleistungen und Wissensarbeit – werden sich aber in der Organisation wirtschaftlicher Leistung, in den hier entstehenden Arbeitsformen, in der (polarisierenden) Verteilung von Arbeit, Wissen und Einkommen und damit auch in den sich hier entwickelnden Lebensstilen zunehmend ähnlich.

Organisation wirtschaftlicher Leistung in den globalen Wachstumszonen In den Wachstumszonen der Welt werden die früheren Schlüsseltechnologien und die durch sie geprägten Infrastrukturen und Arbeitsformen zunehmend überlagert durch die digitale Informationsverarbeitung und Kommunikation und die damit verbundenen Veränderungen der Organisation wirtschaftlicher Leistung. Dazu zählen die Einfügung in internationale Wertschöpfungsketten rund um die Uhr, der Zwang zur besseren Auslastung technologischer Kapazitäten, die „just in time“ Orientierung von Zulieferern, effizientes „data mining“ und Wissensmanagement und die Dezentralisierung und Koordination wirtschaftlicher Leistung in Netzwerkunternehmen und Unternehmensnetzwerken, der Auf- und Ausbau „innerer Märkte“ und des Wettbewerbs in Organisationen sowie die Organisation und Pflege der „äußeren Märkte“, Kundenorientierung und ergebnisorientiertes Arbeiten in „atmenden“ und „virtuellen“ Unternehmen und andere Entwicklungen. Die global verteilten und vernetzten Wachstumsregionen, bilden die „Gefäße“ der dritten Phase der Industrialisierung, die gestützt auf Digitalisierung die traditionellen Industrien und Dienstleistungen rationalisiert und neue schafft.

Die dritte industrielle Revolution: Digitale Rationalisierung bestehender und die Entstehung einer „neuen“ Ökonomie In der Organisation wirtschaftlicher Leistung zeigen die neuen Technologien zwei Auswirkungen mit zwei sich überlappenden Zeitphasen: der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologien zur 102

Rationalisierung und globalen Expansion der entwickelten Industrien, des Handels, der Dienstleistungen und Finanzdienstleistungen und – zweitens – die Entwicklung neuer Industrien, Produktionsformen und Dienstleistungen der sog. „neuen Ökonomie“ auf der Basis und im Rahmen der elektronisch-digitalen Vernetzung der Welt. Im ersten Schritt haben die Informations- und Kommunikationstechnologien weltweit eine nachholende Industrialisierung und die Ausbreitung bereits existierender Dienstleistungen auf einem hohen Rationalisierungsniveau ermöglicht. Der zweite Schritt ist durch das explosionsartige Wachstum des Internet, durch die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen und durch die Nutzung von Informationsund Kommunikationstechnologie im Gesundheitsbereich, in den Finanzdienstleistungen wie auch in der Unterhaltungs- und Wissensindustrie und ‑dienstleistung geprägt. Erst damit wurden Digitalisierung, Informations- und Kommunikationstechnologie im genauen Sinne zu Schlüsseltechnologien. Beide Entwicklungen – der informations- und kommunikationstechnologisch gestützte Strukturwandel des bereits Bestehenden wie auch die neuen Industrien, Ausprägungen des Handels und der Dienstleistungen – führen auf allen Wachstumsinseln zu tiefgreifenden Veränderungen der Organisation wirtschaftlicher Leistung, der Qualifikationsprofile der Arbeit, der Verteilung von Arbeit, Wissen und Einkommen und zu damit verbundenen sozialen Problemen.

Rationalisierung und globale Wertschöpfungsverteilung in traditionellen Industrien und Dienstleistungen Die bislang erfolgte Digitalisierung und Computerisierung von Produktion und Dienstleistung sind – einmal abgesehen von gewissen Gewinnen an Präzision und Qualität – zu großen Anteilen Ausdruck eines Wettbewerbs auf enger werdenden Märkten, also mehr oder weniger erfolgreiche Bausteine einer Rationalisierung, die vor allem menschliche Arbeit und ihre Kosten einspart. 125) Mit Blick auf die bestehenden, „reifen“ Industrien und Dienstleistungen verstärken und beschleunigen sich Rationalisierungs- und Globalisierungsprozesse wechselseitig. Die vom global mobilen Kapital ausgehenden Anforderungen zur Kostensenkung und Steigerung von Produktivität und Profit können hier nur durch eine Rationalisierung, die sich heute vor allem über Digitalisierung und Robotisierung vollzieht, ermöglicht werden. Und ohne die Digitalisierung wäre auch der Prozess der Wertschöpfungsverteilung von Produktion und Dienstleistung rund um die Welt in dem Ausmaß gar nicht möglich, denn erst die fortschreitende Formalisierung und Standardisierung von Daten, Information und Wissen erlaubt „die fast beliebige Verschiebbarkeit von Arbeitspotentialen zwischen den Staaten“ (Franz Radermacher). Insofern verstärken und beschleunigen Rationalisierung und Computerisierung der Wertschöpfungsprozesse ihre Globalisierung. 126) Digitalisierung, informative Vernetzung und Globalisierung der Wirtschaft treiben sich also wechselseitig voran: Internationaler Handel, Weltarbeitsteilung und globale Verteilung der Wertschöpfung 127) könnten ohne die Schrumpfung räumlicher Distanz und die Möglichkeiten zeitlicher Synchronisation durch digitalisierte Telekommunikation nicht den heutigen und zukünftigen Verdichtungsgrad erreichen. Umgedreht erlaubt erst die Kapitalkraft transnational und transkontinental agierender Konzerne, die großen Investitionen für den weiteren Ausbau der digitalisierten Vernetzung auf der Erde und über Satelliten bereitzustellen. Darüber hinaus bildet die sich globalisierende elektronische Vernetzung die Basis und den Rahmen für eine „neue Ökonomie“, in der Digitalisierung, Informations- und Kommunikationstechnologie neue Schlüsseltechnologien darstellen und entsprechend veränderte Bildungs- und Qualifikationsprozesse erfordern. Die Digitalisierung und schnelle elektronische Verbreitung der Kommunikation und des Wissens bildet ein explosionsartig wachsendes Potential, das noch auf neue Nutzungen wartet. 128) 103

Digitalisierung von Information, Kommunikation und Produktion als neue Schlüsseltechnologie Wie dargestellt lassen sich in der Vergangenheit evolutionäre Entwicklungsschritte in der Geschichte der Industriegesellschaft als technologische Innovationen und Koppelungen (Beispiele: Dampfmaschine und Eisenbahn, Benzinmotor und Auto) und als damit zusammenhängende soziale Innovationen (z. B. industrielle Organisations-, Arbeits- und Lebensformen, Sozialversicherungen u. a.) beschreiben. Diese haben den alten Industriegesellschaften und heute den industriellen Wachstumszonen rund um die Welt ein Muster aufgedrückt: Städte und Industriezentren, Wohn- und Freizeitgebiete, Infrastrukturen, Verkehrsadern etc. prägen die kulturelle Landschaftsbildung. Heute wird dieses Muster durch die Entwicklung und Koppelung von Informations- und Kommunikationstechnologien und die damit verbundenen neuen Organisations-, Arbeits- und Lebensformen überlagert und verändert. 129) Systematische Schaffung und Sammlung von Information, kommunikative und wirtschaftliche Vernetzung sind zwar Grundbausteine der Entwicklung der westlichen Kultur seit 1000 Jahren. Aber der qualitative Sprung in der heutigen Entwicklung besteht darin, dass die Informations- und Kommunikationsindustrie zu Schlüsselindustrien und zu einem Hauptmotor wirtschaftlichen Wachstums werden: Die Koppelung von Datenverarbeitung und Telekommunikation im Multi-Media-System befriedigen Informations-, Kommunikations- und Wissensbedürfnisse ebenso wie Unterhaltungs- und Servicebedürfnisse, verstärken, verbreiten und differenzieren diese und schaffen damit auch dazugehörige neue Infrastrukturen, Industrien, Dienstleistungen und Arbeitsplätze. So wie in der Eisenbahn die Dampfmaschine auf die Schiene gesetzt wurde, der Verbrennungsmotor zum Auto entwickelt und so die eisenbahn- bzw. autonutzende Gesellschaft mit der ganzen Vielfalt von daran hängenden Industrien und Dienstleistungen ermöglicht wurde, so wurde der Computer „auf die Schiene gesetzt“ (Dieter Otten), als er mit Telekommunikation und Internet verbunden wurde. Als Medium einer neuen elektronischen „Mobilität“ können der Computer und seine technischen Weiterentwicklungen durch Miniaturisierung, als Kommunikationsmedium, Haushaltsgerät, als Massenkonsumprodukt und als Basis neuer Formen der Produktion, Dienstleistung, Arbeit und Tätigkeit sehr erfolgreich vermarktet werden. Im Lebenszyklus der neuen Schlüsseltechnologie hat die Telekommunikationsindustrie ihre Geburtsphase verlassen: Die kleinen Pionierunternehmen sind „gestorben“ oder zu Großunternehmen geworden, die sich zu weltumspannenden Medienkonzernen formieren. In Teilbereichen – wie z. B. der Massenproduktion von Hardware wie Unterhaltungselektronik, Personal Computer und im Mobilfunk  –  findet bereits ein globaler Verdrängungswettbewerb mit entsprechendem Tempo an Rationalisierung, Innovationen, Umstrukturierung und Preisverfall statt. Das Internet wird zum Distributionsnetz für Produkte und Dienstleistungen aller Art, wobei das Hauptwachstum derzeit in den Bereichen werblicher Kommunikation, Vertrieb und Verkauf von Produkten und Dienstleistungen aller Art, in sozialer Vernetzung, Stiftung und Pflege von Gemeinschaften, Freund- und Partnerschaften, in der Vermittlung von Information und Wissen, von Finanzdienstleistungen, Reisen und Kultur, Unterhaltung, Bildung, Gesundheit u. a. liegt. Dabei gewinnen derzeit die über Computerprogramme und Algorithmen gestützte Erschließung und Nutzung von Daten der Konsumenten bzw. Prosumenten, von Informationen über ihre Lebensstile, Konsumgewohnheiten und ‑bedürfnisse und dadurch ermöglichte Voraussagen ihres zukünftigen Verhaltens schnell an Bedeutung und Umfang. Mit der elektronisch-digitalen Erfassung, Verarbeitung und Kombination nahezu beliebig großer Datenmengen können in vielen dynamisch interaktiven Prozessen und Formbildungen wie auch im Verhalten von Individuen und Kollektiven Muster erkannt werden, die Voraussagen über zukünftige Dynamik und zukünftiges Verhalten ermöglichen. Diese Voraussagen können 104

u.  a. in sich selbst steuernde logistische Systeme, in „smart cities“, in intelligente Verkehrsführungen, intelligente Häfen und Flughäfen, sensorengestützte Überwachungssysteme u.  a. und in maßgeschneiderte, just in time Produkt- und Dienstleistungsangebote, Kommunikations- und Informationsangebote übersetzt werden. Das Internet ergänzt die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen einzelnen (Telefon) und zwischen Sendezentrum und vielen (Radio, Fernsehen) durch eine Explosion der Verbindungsmöglichkeiten von vielen mit vielen (communities, chats, blogs u. ä.). Damit wird elektronische Massenkommunikation nicht nur vielfach nutzbar und für Investoren profitabel, sondern auch selbstorganisierend, in ihrer Entwicklung nicht-linear und in Anteilen auch unberechenbar und unkontrollierbar. 130) Die explosive Steigerung der Rechenleistung bei gleichzeitiger Miniaturisierung der Computer, führt dazu, dass diese immer mehr Aufgaben und Funktionen übernehmen und damit den Menschen und seine kulturelle Praxis entlasten, hier Kontingenzbearbeitung und Viabilität (z. B. durch Simulationsleistungen) verbessern, aber auch strukturieren, kontrollieren und technomorph „formatieren“ können. 131) Insgesamt findet hier eine explosiv wachsende und sich globalisierende Wertschöpfung statt, von der bislang noch US-amerikanisch verwurzelte Unternehmen wie Google, Apple, Microsoft, Amazon und Facebook am meisten profitieren, aber asiatische Marktteilnehmer (wie z. B. Samsung, Softbank, Alibaba u. a.) derzeit schnell aufholen. Hier entstehen global agierende, sog. „Superstarunternehmen“ mit riesigen Gewinnen und Eigenkapitalkonzentrationen 132), die den ohnehin bestehenden Trend der Ersetzung von Arbeitskräften durch intelligente Technologien, Robotik und künstliche Intelligenz vorantreiben und in ihrer eigenen Arbeitsorganisation noch überbieten, indem sie  –  abgesehen von einer gewissen Anzahl kreativer und hochqualifizierter Mitarbeiter – immer weniger menschliche Arbeit benötigen. 133) Große Gewinne und marktbeherrschende Stellung der „Superstar-Unternehmen“ beruhen auch darauf, dass sie einen Plattformkapitalismus etablieren, der (Beispiel: Amazon) ohne große Produktionskosten an Vermittlung und Vertrieb von potentiell „Allem“ verdient und damit nicht nur den stationären Fach- und Einzelhandel bedroht, sondern auch große Produktions- und Handelsunternehmen in die zweite Reihe verdrängt. Oder es handelt sich dabei um soziale Netzwerke (Beispiel: Facebook), die bislang so konstruiert sind, dass die vernetzten Bürger preiswert bis umsonst viele Daten und Informationen zur profitablen Verwertung (vor allem in Werbung und „Micro-Targeting“) bereitstellen. Schließlich gibt es schon heute und in Zukunft wohl vermehrt Plattformen, die beides – Profilierung und Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen und soziale Netzwerkbildung – zu verbinden suchen. (Beispiel: Google). Im Rahmen des Plattformkapitalismus spielen sog. Skaleneffekte eine Rolle, denen zufolge mit wachsender Nutzerzahl Nutzen und Vielfalt der angebotenen Produkte und Dienstleistungen steigen, was wiederum zu mehr Nutzern führt. Dabei verliert das Geld in vielen der schon bestehenden und neu entstehenden Deals zwischen Anbietern und Kunden seine Signalfunktion und Datenflüsse treten an die Stelle von Geldflüssen. Mit der Menge an Daten nehmen auch datengetriebene Innovationen zu: Die Plattformen und Netzwerke entwickeln eine eigenständige, freilich auf Profitabilität fokussierte Kreativität. Der Unterschied zwischen einer Digitalisierung bereits bestehender Dienstleistungen und ihrer Einführung als Schlüsseltechnologie zeigt sich vielleicht am deutlichsten im Bereich der Finanzdienstleistungen. Diese wurden bislang digitalisiert und damit rationalisiert und beschleunigt, ohne dass ihre spezifischen Funktionen und Formate verändert wurden. Aber in Zukunft steht die weitere Existenz von Geld selbst, zumindest in der Form von Bargeld wie auch die Existenz der Banken als Geldvermittler infrage. (Welche Möglichkeiten sich hier mit Blick auf die Einführung von Regionalwährungen, Blockchain-Technologien und darauf gestützte Übergänge von der Arbeits- zur Tätigkeitsgesellschaft eröffnen, wird in Kap. VI erläutert) 105

Autonomisierung der Produktionsmittel und Maßproduktion Im Rahmen der zunehmenden digitalen Vernetzung zwischen Zulieferern, Produzenten, Anbietern und Kunden vollzieht sich eine Dezentralisierung und Autonomisierung der Produktionsmittel. Produktionsprozesse werden nicht mehr zentral gesteuert, sondern organisieren sich selbst über sensorvermittelte Kommunikation zwischen Fertigungsmaschinen und ‑anlagen mit den elektronischen Signaturen der (werdenden) Produkte (Industrie 4.0., Internet der Dinge, Cloud-Robotik u. ä.), was schnelle und preiswerte Einzelanfertigungen, weitere Individualisierung und Maßproduktion ermöglicht. Hier werden die heute schon weitgehend robotisierten Wertschöpfungsketten digitalisiert, virtualisiert, simuliert und miteinander vernetzt, was die Chance eröffnet, weiterwachsende Anteile der Industriearbeit an Roboternetzwerke und ihre artifizielle Intelligenz zu delegieren. 134) Darüber hinaus werden die Produkte selbst – vom Smartphone und Herzschrittmacher über Koch- und Blumentöpfe, bis zu Badewannen, Autos, Werkzeugmaschinen, Parkhäuser und Ölförderanlagen – mit einer Vielfalt von Sensoren ausgestattet, die ihre Umwelten registrieren, ihre Dynamik vermessen, je nach Bedarf sehen, hören, tasten, schmecken und riechen, Fehler bzw. Abnutzungen und drohende Störungen vor ihrem Eintreten („predictive maintenance“) erkennen können und die gesammelten Daten für Kontrolle und Simulation, Selbststeuerung und ‑optimierung von technischen wie auch biologischen Prozessen, von Geräten und Organen verfügbar machen, und natürlich auch für Überwachung und Fremdbestimmung missbraucht werden können. Die 3D-Drucktechnik kann vielfältige Materialien (Plastik, viele Metalle und organische Stoffe) verarbeiten, verringert den Materialverbrauch und verkürzt und verbilligt den Weg vom digitalen Entwurf zum Endprodukt. Sie wird sich in viele Produktionsbereiche (von Schaltkreisen über Schmuck und Geschirr, Sportschuhe und Musikinstrumente, Auto- und Flugzeugteile bis zu Medikamenten, Zahnkronen, Hüftgelenken, Adern, Herzgewebe, Lebensmittel u. a.) ausdehnen, hier den Trend zur individualisierten Maßproduktion verstärken und in vielen Bereichen auch zu einer Re-regionalisierung der Wertschöpfung, von Produktion und Dienstleistung führen. Weltweit wachsen Zeitanteile und Intensität der menschlichen Interaktionen mit Maschinen und finden ihren bisherigen Höhepunkt in der mittlerweile allgegenwärtigen Mensch-Computer/​Handy-Internet-Kommunikation. Die weltweite „digitale Alphabetisierung“ lässt vielfach sich überlagernde soziale Netzwerke rund um die Welt entstehen, eröffnet ihren Nutzern neue Erfahrungen, Gestaltungs- und Austauschmöglichkeiten bis hin zur „Selbstzerstreuung“ in verschiedene Identitäten, die sie aber immer noch zu kohärenten Selbstmodellen (ihres „wirklichen“ Selbst) integrieren müssen. Digitalisierung, Steigerung der Rechenleistung der Computer und elektronische Massenkommunikation beeinflussen über Wirtschaft, Arbeitswelt und Märkte hinaus die weitere Entwicklung der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, die Lebensformen, die Organisationen der politischen Steuerung und von Bildung und Wissen sowie die Systemdifferenzierungen der Gesellschaft, des Staats, der Demokratie und des Rechts wie auch der Sozialisation, der Erziehung, Bildung und Qualifikation.

Lernende Organisation wirtschaftlicher Leistung: Informations-, Wissens- und Beziehungsmanagement in kommunikativen Netzwerken In der dritten Industrialisierungsphase werden über Energie, Arbeitskräfte und Kapital hinaus die gut organisierte Erzeugung und Vernetzung von Information und Wissen zu bedeutsamen und unverzichtbaren Ressourcen der Organisation wirtschaftlicher Leistung.

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In der Geschichte der Menschheit waren Arbeit und Produktion schon immer – in Gestalt der arbeitsteiligen Qualifikationen und Kompetenzen der involvierten Individuen – wissensbasiert und dieses Wissen wurde zunehmend in Organisationen kombiniert und konzentriert, genutzt und tradiert. Heute müssen darüber hinaus lernende Organisationen Daten, Informationen, Wissen wie auch normative Orientierungen, Zukunftsmodelle und Visionen als Ressourcen kontinuierlich erzeugen, systematisch und beschleunigt, effizient und effektiv bewirtschaften und nutzen. 135) Dazu gehört ein Wissensmanagement, das Daten, Informationen und Wissensinhalte optimal zugänglich und Wissensträger lokalisierbar macht, den Dialog und den Wissensfluss zwischen den Beteiligten und hin zu Kunden organisiert, den Austausch von Erfahrungen und Best Practice über das Wissensnetz gewährleistet und Expertenwissen in informations- und wissenstechnologische Tools einbindet, konserviert und weitergibt. Sie müssen ihr Wissen wirtschaftlich bewerten, das intellectual capital und den Werterückfluss aus seiner Vermarktung systematisch erfassen und den Wert dieses Wissenskapitals erhalten und vermehren. Dazu bedarf es neben der Unterstützung durch entsprechende Informations- und Wissenstechnologie neuer Organisationsformen, die eine flexible Bündelung und Kombination von Kompetenzen ermöglichen, wie z. B. virtuelle Teams, Projekt- und Koordinationsteams und „spin off teams“, die traditionelle Arbeitsteilungen und hierarchische Organisationen durchbrechen und Netzwerke bilden. Hier erlangen die Personen Einfluss und Macht, die sich als wichtige „Knoten“ in diesen Informations- und Wissensnetzen behaupten. 136) Im Zuge dieser Entwicklung dringt einerseits marktförmige Koordination in die unternehmerische Organisation wirtschaftlicher Leistung ein und andererseits gewinnt eine lernende, pflegende und ausgestaltende Organisation in den marktgeprägten Kunden- und Außenbeziehungen der Unternehmen an Bedeutung.  137) Mit dem wachsenden Anteil neuer Dienstleistungen, digitaler Geschäftsprozesse und virtueller Wertschöpfungsketten nehmen die Vernetzung zwischen Kunden und Anbietern und die Möglichkeiten der Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen zu. Zwischen Produzenten, Dienstleistern und Kunden entstehen Wertschöpfungsnetzwerke und aus Massenproduktion wird „Maßproduktion.“ 138) Der Übergang zu lernenden Netzwerken ist mit einer Veränderung der Unternehmenskulturen, insbesondere in Richtung auf eine gelingende Balance von „Öffnung“ und „Schließung“, von Kooperation und Wettbewerb verbunden, die wiederum diese Netzwerke stützt und weiter ausdifferenziert.

Wachsende Bedeutung „symbolischen Kapitals“ und kultureller Anschlussfähigkeit Geistige Profile und Orientierungen, die Produkte, Marken und Unternehmen attraktiv machen, gewinnen gegenüber materiellen Produktdifferenzen weiter an Bedeutung. Hier geht es darum, über die Ausstattung an fixem und liquidem Kapital das „symbolische Kapital“ (Pierre Bourdieu) eines Produkts, einer Marke bzw. eines Unternehmens, ihre Profilierung als kompetente, vertrauenswürdige, verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte „Produkt-/​Marken-/​Unternehmenspersönlichkeit“ zu erhalten und zu mehren. Das verlangt nach weitgehender Transparenz und einer offensiven Kommunikation, die Unternehmensphilosophie, ‑kultur, ‑ziele und ‑praktiken legitimiert und an moderne und differenzierte Wertorientierungen des gesellschaftlichen Umfelds überzeugend anschließt. Der Globalisierungsprozess und die Informatisierung eröffnen ein neues Spielfeld wirtschaftlichen Handelns mit veränderten Spielregeln. Unternehmen, die Mitspieler bleiben oder werden wollen, müssen die neuen Spielregeln lernen, sich intern umstrukturieren und sich viel intensiver als bisher mit ihren Umwelten vernetzen.

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Wandel der Arbeitsverhältnisse und -märkte Rationalisierung, kommunikative Vernetzung und Globalisierung der Organisation wirtschaftlicher Leistung sind verbunden mit einer Erosion traditioneller Arbeitsverhältnisse und einer Dekontraktualisierung der Arbeitswelt. Die industriegesellschaftliche Formatierung des Arbeitslebens, die (lebenslängliche) Bereitstellung wirtschaftlicher Leistung zu einer bestimmten Zeit (8-Stunden-Tag) und an einem bestimmten Ort (Unternehmen) verliert an Anteilen. Gemessen an der Vergangenheit der Industriegesellschaft sind schon heute in der westlichen Wirtschaft die meisten Arbeitnehmer Teilzeitarbeiter. Von Gewerkschaften und Arbeitgebern gemeinsam erarbeitete, sozialverträgliche Formen der Flexibilisierung, das gruppen- und branchenspezifische, personen- und unternehmensbezogene Aushandeln von Zeit (und zunehmend auch Ort) der Arbeitsleistung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern treten an die Stelle von Vollzeitarbeit und Normalerwerbsbiographie. Damit verändern sich die Arbeitsbedingungen teils negativ, z. B. durch Entwertung von Arbeiten und persönlichen Leistungen und damit verbundene Unsicherheit und teils positiv, z. B. in Gestalt von „job enrichment“, mehr Freiheit, Kreativität und Verantwortung.

Folgen für die Beschäftigung „Man sagt, dass es in Zukunft zwei Gruppen von Beschäftigten geben wird: Die einen, die dem Computer sagen, was er machen soll, und den anderen sagt der Computer, was sie machen sollen.“ (Arno Rolf) In Verbindung mit der Globalisierung und Verlagerung von Wertschöpfungsketten vernichtet die Robotisierung in Europa viele Arbeitsplätze, was nicht immer und überall durch die Entstehung neuer Industrien und Dienstleistungen ausgeglichen werden kann. Die moderne Form der Rationalisierung durch Digitalisierung und die darauf basierende Koppelung zwischen Informations-, Kommunikations- und anderen Technologien sind Job-Erzeuger und Job-Killer. Die Informations- und Kommunikationstechnologie kann man einerseits als eine neue job-generierende Schlüsseltechnologie im Sinne der Theorie der Wachstumszyklen von Kondratieff und Nefiodow interpretieren. Sie steht dann in einer Kette mit den Schlüsseltechnologien der Vergangenheit, die die modernen Industrien – Textil-, Eisen-, Chemie-, Elektro-, Autoindustrie – ermöglicht haben. Geht die Beschäftigung durch Rationalisierung in diesen Industrien runter, so können aus neuen Schlüsseltechnologien neue Industrien und Dienstleistungen und damit neue Beschäftigung entstehen. So wie die autonutzende Gesellschaft Arbeitsplätze geschaffen hat, schafft auch die Computer und Roboter nutzende und sich vernetzende Gesellschaft, in der immer mehr ihrer Mitglieder immer mehr computergestützt, elektronisch und mit Hilfe künstlicher Intelligenz interagieren und ihr Alltags- und Arbeitsleben gestalten, überall auf der Welt neue Arbeitsplätze: in der Herstellung der intelligenten und lernenden Maschinen und ihrer Vernetzung und vor allem in Dienstleistungsbereichen und in den daten- und informationserzeugenden und ‑verarbeitenden Sektoren. Gleichwohl hat sich hier im Vergleich zu früheren Schlüsseltechnologien das Verhältnis zwischen dem Wachstum von Nutzungen und von Arbeitsplätzen verschoben. Das Nutzungsspektrum maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenz ist schon jetzt gewaltig und wird in Zukunft weiter explosiv wachsen. So werden maschinelles Lernen (Algorithmen) und sog. Deep Learning (neuronale Netze) eingesetzt zur Datenerfassung und Mustererkennung in der Erforschung von Nutzungs- und Kaufverhalten, in der Erstellung von Verbraucherprofilen, zur Prognose von Ereignissen, zum Verstehen von Bedeutungen und Kontexten in der Mensch-Maschine-Kommunikation, in Logistik und Versand, in sprachgesteuerten Handys, in Kom108

bination mit Sensoren im autonomen Fahren, zur medizinischen Diagnose und Therapie, zur Qualitätserfassung und Verbesserung in der Landwirtschaft u. a. Darüber hinaus bietet künstliche Intelligenz Nutzen und Hilfe in der persönlichen Alltagsgestaltung. Beispiele sind Lernprogramme und Apps im Bildungsbereich, zur Sprachübersetzung, Partnersuche, Einkaufs-, Fahrten- und Reiseplanung, für individuierte Information, Spracherkennung bei Abrufung von Finanzdienst-leistungen und vieles mehr. Dieser Explosion der Nutzungsmöglichkeiten entspricht aber nicht ein ähnlich starkes Wachstum an Arbeitsplätzen. Denn der Prozess der Digitalisierung und Informatisierung von Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft ist auch ein Job-Killer, der über die bisherige Entwicklung und Wirkung von neuen Schlüsseltechnologien weit hinausgeht. Es handelt sich um eine Metatechnologie, die nicht nur sog. reife Industrien und Dienstleistungen weiter rationalisiert, sondern darüber hinaus auch bewirkt, dass neue Industrien und Dienstleistungen auf einem immer höheren technologischen, zunehmend durch eben diese technischen Netzwerke, durch künstliche Intelligenz und Robotik geprägten Rationalisierungsniveau starten. Da die Profile des hier entstehenden Arbeitsplatzangebots sich nicht mit den Profilen der Nachfrager decken, können dadurch auch Defizite an qualifizierter Arbeitskraft entstehen (KI-Experten werden gegenwärtig und in Zukunft dringend gesucht), während gleichzeitig Arbeitslosigkeit zunimmt. Insofern ist es nicht überraschend, dass Prognosen über die Beschäftigungswirkungen der Computer-, Informations- und Kommunikationstechnologien in den letzten Jahren immer wieder nach unten korrigiert wurden. Von der Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung sind nicht nur überwiegend gering qualifizierte Arbeitnehmer, sondern auch deutlich mehr Männer betroffen – auch weil diese mehr als Frauen in ihren Bildungsprozessen (hochspezialisierte) „Tunnelbegabungen“ (Jürgen Schmidhuber) entwickelt haben und ihre beruflichen Tätigkeiten daher trennschärfer definiert und entsprechend formalisierbar und computerisierbar sind. Nach neuesten Schätzungen werden in den nächsten drei Jahrzehnten bis zu 800 Millionen Jobs weltweit durch Digitalisierung entfallen. Allein In Deutschland sind 42%, also rund 16 Millionen Jobs bedroht. 139) Die Digitalisierung rationalisiert alle Sektoren: die Landwirtschaft, die Produktion, den Handel und Vertrieb, (der durch den elektronischen Direktkontakt von Konsument und Anbieter schrumpft), den tertiären Sektor der Dienstleistung (z.  B. electronic banking, electronic commerce) und den quartären Sektor der Erzeugung und Verarbeitung von Information, (z. B. in Gestalt der sprachgesteuerten Robotik, der Texterzeugungs- und ‑leseprogramme, die zunehmend Arbeitsplätze in Sekretariaten wegrationalisieren). Was, wie Christian Lutz es ausgedrückt hat, „abschließend definierbar“ ist, ist auch computerisierbar. 140) Das bedeutet, dass auch dort, wo man mit neuem Bedarf, mit Nachfrage, Kaufkraft und Wachstum rechnen kann, wie z.  B. bei Neuinvestitionen in Umwelttechnologie, Bio‑, Gentechnologie, Opto-Elektronik, Sensortechnik, Miniaturisierung, Nanotechnologie usw. die entsprechenden Produktionen und Dienstleistungen schon auf einem hohen Niveau der Rationalisierung ansetzen und auch in Zukunft bislang noch nicht ausgeschöpfte technologische Rationalisierungspotentiale (insbesondere künstlicher Intelligenz) nutzen werden, so dass sie im Verhältnis zur global wachsenden Nachfrage nach Arbeitsplätzen zu wenige und hauptsächlich hochqualifizierte Arbeitsplätze bieten werden.

Die kreative Klasse: Wissensarbeiter, Therapeuten und Mediatoren Hochqualifizierte Arbeit ist vor allem durch zwei Funktionseliten, nämlich Wissensarbeiter und (quasi) therapeutisch Arbeitende geprägt. Beide Gruppen spielen schon heute in Unternehmen und Organisationen aller Art eine große Rolle. Sie erzielen ihre relativ hohen Einkommen, indem sie vor allem die neuen Knappheiten – Daten und Wissen und ihre schnelle optimale Nutzung sowie menschliche Beziehung, Orientierung und Wohlergehen – bedienen oder, anders ausgedrückt, vor allem kreatives Informations- und Wissensmanagement wie auch Beziehungs-, Gefühls- und Gesundheitsmanagement leisten. 141) 109

• Unter dem Druck von Beschleunigung, Informationsüberschuss und Unübersichtlichkeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen besteht die Aufgabe der Wissensarbeiter vor allem darin, aus Daten und Informationen durch Rekombination, Transformation und Verknüpfung (heute zunehmend auch gestützt auf „big data“ ordnende Computerprogramme, Algorithmen und Niedrigfrequenznetzwerke von Dingen) neues Wissen, neue Orientierungen zu gewinnen und Entscheidungsalternativen zu formulieren, wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren, sie in Management- und Ingenieurswissen, in technische Anwendungen und Produkte zu überführen, diese in Marktstrategien zu übersetzen, sie schnell in profitablen Nischen zu realisieren und dieses Vorgehen sozial, rechtlich und politisch zu flankieren, zu legitimieren und durch werbliche Kommunikation öffentlich transparent und akzeptabel zu machen. • Demgegenüber besteht die Leistung der „Therapeuten“ darin, die anthropologischen Zumutungen und psychosomatischen Belastungen durch Zeitverdichtung und Beschleunigung in einer „High-Tech-Wirtschaft“ in einem wachsenden „High-Touch-Angebot“ zu bearbeiten und zu kompensieren. Hier besteht die Qualität der Dienstleistung gerade darin, Zeit für Gespräch, Verständigung, Einfühlung und psychophysische Regeneration zur Verfügung zu stellen. Dieses „coaching“ im weitesten Sinn des Wortes wird auch eine wichtige Aufgabe von Führungskräften. Generell geht es hier vor allem darum, den Akteuren in der neuen beschleunigten Organisation wirtschaftlicher Leistung durch medizinisch und sozial-psychologisch aufgeklärtes Beziehungs- und Erlebnismanagement (Training, Coaching, Selbsterfahrung und andere unternehmenskulturelle Angebote und Aktivitäten) „well-being“ und psychophysische Fitness zu fördern und zu erhalten. In systemevolutionärer Perspektive kann man auch von einem (mit Blick auf die Viabilität unserer Kultur notwendigen) Wiedereintritt sozialisatorischer Praxis, der Logik des Schutzes, der Entfaltung und der Pflege des Menschen und seiner Nahbeziehungen in eine Wirtschaftspraxis sprechen, die diese Aspekte verdrängt hat und in großen Anteilen immer noch verdrängt. 142). • Ein weiterer Wachstumsbereich entsteht durch den steigenden Bedarf nach nicht-verrechtlicher und nicht-gerichtlicher Konfliktregelung: Hier wird eine besondere Wissensarbeit, nämlich die Mediation benötigt. Als Weg der Befriedung über Verständigung und Interessenausgleich spielen Mediation und Mediationsexperten in allen Bereichen westlicher Kultur, in Schulen, Organisationen und Unternehmen, in politischen Konfrontationen in und zwischen Parteien bis hin zur Konfliktregelung zwischen Regierungen, Nationen und Kulturen eine immer wichtigere Rolle.

Wachsender Frauenanteil Mit diesen Entwicklungen wächst der weibliche Anteil in der „kreativen Klasse“ schnell. Insbesondere in den Bereichen der „high touch Wirtschaft“ und überall, wo die entsprechenden Qualifikationen gefragt sind, dominieren heute bereits die Frauen. Was in der Industriegesellschaft begann, nämlich die Verwandlung der sog. „weiblichen“, in der traditionellen Geschlechtsrolle gelernten und kultivierten sozialisatorischen und kommunikativen Fähigkeiten und ihre Anreicherung zu verwertbaren beruflichen Qualifikationen (z. B. in Lehr- und Gesundheitsberufen) weitet sich im Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, infolge der damit verbundenen Veränderung und teilweisen „Feminisierung“ von Qualifikationsanforderungen aus. Derzeit überholen die Frauen in vielen Bereichen der Gesellschaft und Wirtschaft die Männer. 143) Da es aber bislang keine starke Gegenbewegung von Männern gibt, sich in der Familien- und Hausarbeit zu engagieren, führt die Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit zu einer Erosion der (bislang nahezu kostenlos genutzten) Ressource Reproduktions- und Hausarbeit, was teilweise durch neue Arbeitsteilung der Frauen untereinander kompensiert wird. Heute wird die alte industriegesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen (männlicher) bezahlter Erwerbs- und (weiblicher) unentgeltlich erbrachter Reproduktionsarbeit 110

zunehmend überformt durch eine berufsrollenspezifische Arbeitsteilung und Marktdifferenzierung, wo qualifizierte Frauen die Wissensarbeit und hier vor allem die Kommunikations- und „High Touch Funktionen“ besetzen und geringer qualifizierte Frauen (z.  B. aus Entwicklungsländern) die Hausarbeit übernehmen. 144) Zwar entsteht um die hochqualifizierten Kerne von Industrie und Dienstleistung ein großes Volumen an neuen Arbeitsplätzen und Branchen mit einem mittleren bis geringen Qualifikationsbedarf. Das gilt insbesondere für den therapeutischen Bereich, der sich enger mit dem Gesundheits-, dem Tourismussektor und dem Hotel- und Restaurantgewerbe und anderen Dienstleistungsbereichen verbindet. Aber zu einer dauerhaften Vollbeschäftigung kann und wird diese Entwicklung nirgendwo auf der Welt führen. Im (mit so vielen Hoffnungen befrachteten) tertiären Sektor – und hier in den konsumorientierten (personenbezogenen) wie auch in den produktionsorientierten (unternehmensbezogenen) Dienstleistungen – wiederholt sich die Entwicklung, die den sekundären Sektor geprägt hat: die Aufspaltung der Arbeit in einen wachsenden automatisierten technologieintensiven Anteil und einen schrumpfenden personalintensiven Anteil. 145) In allen Wachstumszonen der Welt spaltet sich das Arbeitsangebot in ein unteres Segment niedrig bezahlter ungesicherter „Hand- und Kopflanger-Jobs“ und ein oberes Segment, in dem eine hochbezahlte „kreative Klasse“ tätig ist, während bürgerliche Mitte und traditioneller Mittelstand an Anteil und Bedeutung einbüßen bzw. (in Entwicklungs- und Schwellenländern) sich nur zögernd entwickeln können. Auf die sich daraus ergebenden Probleme und Perspektiven ihrer Bearbeitung kommen wir später zurück. 146)

v Zwischenbilanz: Drei Entwicklungsschübe und darin eingebettete industrielle Revolutionen im westlichen Pfad Was wir heute „westliche Kultur“ nennen, ist das Ergebnis einer Evolution, deren Wurzeln und Keimbildungen bis in die Frühgeschichte, in die Geschichte antiker Hochkulturen und das europäische Mittelalter zurückreichen. Im zurückliegenden Jahrtausend hat sich die westliche Kultur in drei Schüben und darin eingebetteten industriellen Revolutionen entwickelt und ausdifferenziert. Der erste Schub der evolutionären Ausdifferenzierung spätkultureller Lebensform vollzog sich vom 11. bis 15. Jahrhundert im „Gefäß“ der frühneuzeitlichen Stadtstaaten in Europa. Er brachte eine frühkapitalistische, durch Handelskapitalismus dominierte Organisation wirtschaftlicher Leistung, eine ökonomisch orientierte, in Ansätzen sich demokratisierende Organisation politischer Steuerung und eine berufsständische und universitäre Organisation von Bildung und Wissen hervor. Eingebettet in diesen ersten Schub spätkultureller Entwicklung vollzog sich eine erste industrielle Revolution in Europa. Sie stützte sich auf die Nutzung regenerativer, teils auch schon fossiler Energien, brachte innovative Schlüsseltechnologien im Bergbau und in der Architektur, im Dom-, Brücken- und Mühlenbau, in der Hüttentechnik, Eisenschmiedung und in der Textilherstellung, sowie für Schiffbau und die Herstellung von Waffen, Uhren, Brillen, Messgeräten u. a. hervor und mündete schließlich in die Koppelung von Papierherstellung und Drucktechnik als Kern einer neuen Entwicklungsstufe gesellschaftlicher Informationsverbreitung, Kommunikation und kultureller Gedächtnisbildung im 15. Jahrhundert. Diese Entwicklung wurde glaubenspraktisch reflektiert und gestützt: religiös durch eine christliche Ethik der Bruderschaft und der „Freigabe“ der Mitnatur zur technischen und wirtschaftlichen Nutzung sowie in Ansätzen bereits post-religiös in einer städtisch-intellektuellen und universitären Philosophie- und Dis111

kurspraxis, aus der u. a. der Humanismus als eine Selbstbeobachtung hervorgegangen ist, die die hier sich entwickelnde bürgerliche Sensibilität und Persönlichkeit, den Reichtum ihrer Erfahrung, des Denkens und der Mitmenschlichkeit reflektiert und expliziert und sich darauf begründet als eine in Ansätzen schon post-logozentrische Kritik religiöser Dogmatik, Bevormundung und politischer Herrschaft artikuliert. Bereits hier entstand eine europäische Netzwerkgesellschaft, die eine Vielzahl europäischer Städte und auch schon außereuropäische Regionen durch Handel und handelsbezogene Kommunikation, aber auch durch politische Reflexion, Verständigung und Verrechtlichung verband. Der zweite Schub begann im 16. Jahrhundert, entwickelte sich im „Gefäß“ der werdenden Nationen, baute die drucktechnisch gestützte bürgerliche Öffentlichkeit weiter aus und trieb die darin eingebettete Entwicklung kultureller Selbstbeobachtung (die Ausdifferenzierung des Systems „Kultur der Kultur“) voran. Ferner entstand eine (national)staatliche sich allmählich und schrittweise demokratisierende Organisation politischer Steuerung, die sich zunächst als Handels- und Machtstaat ausdifferenzierte, eine durch Märkte und Handelskapitalismus strukturierte Organisation wirtschaftlicher Leistung und in Verbindung damit eine über kirchliche Ausgestaltung hinausgehende staatliche Organisation von Erziehung, Bildung und Wissen. Diese Entwicklung wurde religiös vor allem durch den Protestantismus und Calvinismus, durch Jansenismus, Puritanismus u. a. sowie post-religiös durch die Zeitgeistströmungen und Theorien des Humanismus, der Renaissance und der Aufklärung und hier vor allem durch Gesellschafts‑, Wirtschafts- und Staatstheorien reflektiert und gerahmt, orientiert und gestützt. In diesen bildeten sich der Glaube an die Autonomie und Freiheit, aber auch Formbarkeit und Bildung des bürgerlichen Subjekts, an Vertragscharakter und Vernunft der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und an den Fortschritt wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung als Ideale und Leitorientierungen heraus, die wissenschaftliche und politische Revolutionen, Reformprozesse und die schrittweise Demokratisierung europäischer Nationen wie auch die demokratische Nationsgründung der USA inspirierten und anleiteten. All dies begünstigte auch die Entstehung und Ausbreitung eines Produktionskapitalismus, der sich auf nationalstaatlich-institutionelle Rahmung und Förderung, auf Kapitalakkumulation, Arbeitskräfteüberschuss und  –  angebot sowie fossile Energienutzung stützten konnte und im 19. Jahrhundert in einen zweiten, vor allem durch Textil-, Werkzeug- und Mobilitätstechnologien gestützten Schub der Industrialisierung und industriegeprägter Lebens- und Arbeitsformen mündete. In diesem Rahmen lassen sich die Romantik und ihre theologischen, philosophischen und literarischen Ausprägungen als eine post-logozentrische Glaubenspraxis und Selbstbeobachtung westlicher Kultur verstehen. Diese reflektiert – auch in kritischer Weiterführung von Errungenschaften des Christentums und des Humanismus, der Renaissance und der Aufklärung – den (potentiellen) geistigen Reichtum bürgerlicher Lebensform und Persönlichkeit und hier insbesondere die Rolle der Ästhetik und Kunst und kann bis heute die Kritik einer logozentrischen, rationalistischen und ökonomistischen Verkürzung der westlichen Lebensformen nähren. Der dritte Schub begann im 19. Jahrhundert mit einem „Staffellauf “ der Industrialisierung, der von Europa ausgehend im 20. Jahrhundert die USA und Japan und seit einigen Jahrzehnten zunehmend Asien einbezogen hat. In ihren Gründerjahren führte die Verbreitung der industriellen Massenproduktion zu extremen Polarisierungen zwischen reich und arm und zur Entstehung eines eigentumslosen Proletariats, in deren Folge Macht- und Handelsstaaten sich weiter, zu Sozial- und Wohlfahrtsstaaten ausdifferenzierten. Auf den Grundlagen der Globalisierung des Handelskapitalismus und verbunden mit der Globalisierung der Finanzmärkte sprengte in der Folgezeit auch der Produktionskapitalismus das „Gefäß“ der Nationalstaaten und globalisierte die Wertschöpfung. Diese Entwicklung mündete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einen dritten, vor allem durch Informations- und Kommunikationstechnologien gestützten Schub der Industrialisierung und industriegeprägter Lebens- und Arbeitsformen. Seitdem rationalisieren und mo112

dernisieren Digitalisierung, Computerisierung und Internet die traditionellen Industrien, den Handel und die Dienstleistungen und begründen als Schlüsseltechnologien neue Industrien und Dienstleistungen, insbesondere im Bereich der Medien, der Information und Unterhaltung und ihrer weltweiten Vermarktung. Hier bildet sich ein globaler „Archipel“ miteinander vernetzter Wachstumsinseln und einer sich verwestlichenden Gesellschaft heraus, die zu begehrten Zielen weltweiter Migration aus den Entwicklungsländern geworden sind. Auf den Inseln dieses Archipels gleichen sich – unter Beibehaltung und sogar Verstärkung bestimmter kultureller Differenzen und Pfade – die Industrien, die Organisationsformen wirtschaftlicher Leistung, der politischen Steuerung und der Erziehung, Bildung und Qualifikation und damit auch Arbeitsund Lebensformen, Einstellungs- und Wertemuster zunehmend an. Zur neuen, nun durch den globalen Finanzkapitalismus zunehmend geprägten (und dominierten) Organisation wirtschaftlicher Leistung zählen die Einfügung in internationale Wertschöpfungsketten rund um die Uhr, der Zwang zur besseren Auslastung technologischer Kapazitäten, die „just in time“ Orientierung von Zulieferern, effizientes Wissensmanagement und die Dezentralisierung und Koordination wirtschaftlicher Leistung in Netzwerkunternehmen und Unternehmensnetzwerken, der Aufbau „innerer Märkte“ und Wettbewerb in Organisationen sowie die Organisation und Pflege der „äußeren Märkte“, Kundenorientierung und ergebnisorientiertes Arbeiten in „atmenden“ und „virtuellen“ Unternehmen und weitere Entwicklungen. Die Verlagerungen von Landarbeit und ‑wirtschaft zur Industriearbeit und ‑wirtschaft und von hier aus zur Dienstleistung, Informations- und Wissensarbeit und ‑wirtschaft setzen sich bis heute weltweit beschleunigt fort. Darüber hinaus verlagern sich in allen Wachstumszonen der Welt große Anteile der Produktivität von menschlicher Arbeit auf Kapital und Technologie („jobless growth“) und das Arbeitsangebot spaltet sich in ein unteres Segment niedrig bezahlter ungesicherter „Hand- und Kopflanger-Jobs“ („macjob growth“ und „Prekariat“) und ein oberes Segment, in dem eine hochbezahlte Klasse von Wissensarbeitern, Therapeuten, Mediatoren und Kreativen tätig ist („good job growth“), während die traditionelle bürgerliche Mitte und Mittelstand mehr oder weniger stark und schnell an Anteil und Bedeutung einbüßen bzw. in den Schwellenländern sich nur schwach herausbilden. Dieser Strukturwandel und die damit verbundenen ökonomischen und sozialen Polarisierungen sind mit den bislang entwickelten Instrumenten des Sozialund Wohlfahrtsstaats allein nicht mehr zu bewältigen und verlangen hier nach einer Neuorganisation wirtschaftlicher Leistung und der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums. (Vgl. Kap. V.) Das – schon im ersten und zweiten Schub in Europa begonnene – Bevölkerungswachstum hat sich im dritten Schub in den wohlhabenden Gesellschaften verlangsamt. Während es hier inzwischen fast zum Stillstand gekommen ist, explodiert es in den meisten Entwicklungsländern und findet seinen Niederschlag in globalen Migrationsbewegungen sowie in einer weltweiten Verstädterung in Gestalt monströser durch Industrie- und Dienstleistung geprägter Stadtregionen. Auf dem Archipel der Verwestlichung verlieren die Religionen, an Bedeutung, während sie in der Peripherie, in Entwicklungsländern an Einfluss gewinnen und um diesen konkurrieren. In Europa scheitert das kirchlich organisierte (katholische und protestantische) Christentum zunehmend an Komplexität und Kontingenzen der westlichen Lebensform und verliert insbesondere dann und dort dramatisch an Anhängern und Einfluss, wo es sich gegen diese Komplexität und entsprechende Emanzipationsbewegungen logozentrisch und dogmatisch „verhärtet“. Gleichzeitig gewinnt hier aber ein post-logozentrisch orientiertes engagiertes, kirchen- wie auch kultur-, gesellschafts- und kapitalismuskritisches Laienchristentum an Boden. Darüber hinaus werden seit dem 19. Jahrhundert bis heute der Staffellauf der Industrialisierung, die Globalisierung des Kapitalismus, die Entstehung einer globalen Marktgesellschaft und die damit verbundenen (ökologischen, sozialen und ökonomischen) Krisen in vielfältigen post-religiösen Ansätzen der (wissenschaftlichen und philosophischen) Selbstbeobachtung kritisch reflektiert – was heute, mit Blick auf aktuelle Krisen, an Schärfe und Einfluss in Öffentlichkeit und in Bürgerbewegungen gewinnt und uns später noch genauer beschäftigen wird. 113

Für die drei hier skizzierten Schübe im westlichen Pfad gilt, dass sich die evolutionäre Ausdifferenzierung der Alltags- und Glaubenspraktiken und die eigengeschichtlichen kulturellen „Landschaftsbildungen“ im westlichen Pfad sowie ihre intentionale, glaubenspraktisch geleitete und organisierte (reformerische und revolutionäre) Mitgestaltung durch „gläubige“, an Idealen orientierte und engagierte Individuen und Kollektive gegenseitig gestützt und vorangetrieben haben. Dabei sind die Ergebnisse dieser Entwicklungsdynamik ambivalent: Zweifellos haben sich hier eine westliche Systemarchitektur, eine bürgerliche Persönlichkeitsstruktur und Ansätze einer post-logozentrischen (religiösen und post-religiösen) Selbstbeobachtung evolutionär ausdifferenziert, die sich als ein „systemisch Gutes“ und als „werdende Vernunft“ charakterisieren lassen. Aber diese Entwicklung ist auch mit systematischen, vor allem technokratischen und ökonomistischen Verkürzungen der Lebensformen und Alltagspraktiken, der Persönlichkeitsbildung und der kulturellen Selbstbeobachtung verbunden, die bis heute nicht nur einen reflektierten Konservativismus, sondern auch reaktionäre „Zurück zu“ Bewegungen, antidemokratische und autoritäre Strukturen, politische Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung in vielfältigen Ausprägungen hervorgebracht haben. (Siehe Kap. IV.) Das wird uns auch zu der Frage führen, ob und wie die derzeitige Entwicklungsdynamik in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen und die hier sich abzeichnende vierte industrielle Revolution angemessen reflektiert und verantwortungsbewusst mitgestaltet werden können. (Siehe Kap. V.) Doch zuvor sollte geklärt werden, worin die vierte industrielle Revolution und ihre Herausforderungen bestehen.

III. 2 Die derzeit beginnende vierte industrielle Revolution, Herausforderungen und Chancen für ihre humane Mitgestaltung Derzeit scheint ein vierter Schub in der Entwicklung westlicher und sich verwestlichender Kulturen zu beginnen, der sich in vielfältigen Ausprägungen ankündigt. Dazu gehören eine Fülle neuer Schlüsseltechnologien und ihre Koppelungen bis hin zur künstlichen Intelligenz und der Möglichkeit ihrer zukünftigen globalen Systembildung, ein weiterer Ausbau der globalen Vernetzung und Organisation wirtschaftlicher Leistung in transkontinentalen Handelsblöcken und dadurch bewirkte Änderungen und Machtverschiebungen in der nationalstaatlichen politischen Steuerung in Richtung auf geteilte Souveränitäten. Ferner gehören dazu Ansätze in der Weiterentwicklung post-nationaler Öffentlichkeit in Richtung auf eine globale Zivilgesellschaft sowie die Ausdifferenzierung einer post-logozentrischen (teils religiösen, teils post-religiösen) Selbstbeobachtung vierter Ordnung. Diese Entwicklungen lassen sich in optimistischer Perspektive als Fortschritte in der Evolution „werdender Vernunft“ interpretieren. Allerdings können sich verbunden mit diesen Entwicklungen und in Reaktion auf diese auch gegenläufigen Tendenzen durchsetzen: Die Entwicklung und Koppelung der neuen Schlüsseltechnologien kann in vielfältige, wirtschaftliche und politische Ausprägungen der Kontrolle und Unterwerfung der Menschen mit Hilfe künstlicher Intelligenz führen. Die Globalisierung der Wirtschaft kann sich mit autokratischen Formen ihrer politischen Steuerung (nach chinesischen Vorbild) verbinden, in den Entwicklungen der Zivilgesellschaft, des Bürgerbewusstseins und der Bürgerbewegungen können „harte“ – ethnische, religiöse, nationalistische, fremdenfeindliche u. a. – Grenzziehungen wieder an Boden gewinnen und die kulturelle Selbstbeobachtung kann in logozentrisches Denken und dogmatische Weltsichten zurückfallen. 114

Im Folgenden konzentrieren wir uns zunächst auf die optimistische Perspektive: die neutralen und positiven Potentiale und Möglichkeiten in diesen Entwicklungen. 147)

Neue Schlüsseltechnologien: artifizielle Intelligenz, Nano-, Bio, Gen- und Neurotechnologien und ihre Koppelungen Zu den technologischen Innovationen des vierten Schubs gehören die Fortsetzung der schon im dritten Schub begonnenen Digitalisierung, Robotisierung und Vernetzung von Fertigungs- und Informationstechniken in der industriellen Produktion, die in Europa und hier insbesondere in Deutschland schnell voranschreiten. Darüber hinaus finden sich hier Entwicklungen der Nano-, Bio-, Gen- und Neurotechnologien und ihre Koppelungen, die industriekapitalistische Erschließung des prä-biologischen Mikrokosmos und der Quantenmechanik, des organischen Lebens, der neuronalen Dynamik und der Möglichkeiten künstlicher Intelligenz und ihre gerade beginnende weltweite Anwendung und Vermarktung. All dies läuft auf eine verstärkte Strukturierung und Mitgestaltung, zunehmend auch Kontrolle und Lenkung der Organisation wirtschaftlicher Leistung, der menschlichen Arbeits‑, Konsum- und Lebensformen, der Organisation politischer Steuerung und der Entscheidungsfindung wie auch der Krisen- und Konfliktbewältigung und der Kriegsführung durch Netzwerke künstlicher Intelligenz hinaus. Die neuen Technologien und ihre Koppelungen, die im Folgenden umrissen werden, sind weitgehend ermöglicht durch und eingebettet in die Weiterentwicklung von „machine learning“, von der rechnenden über die programmierende zur kognitiven Informatik. Heute ist künstliche Intelligenz über Expertensysteme und data mining hinaus zunehmend zur Selbstformung durch Lernen und Bildung und zu wissensbasierten autonomen Entscheidungen befähigt und tritt als „Berater“ und als „Co-Subjekt“ der Forschung an die Seite der Wissenschaftler und Ingenieure. 148) So sind auch Entwicklung und Ausbau der Bio-technologien eine „Frucht“ der informationstechnologischen Entwicklung: Ohne die Kapazitäten der modernen Rechner, der Roboter und ihrer Vernetzung wäre die sich jetzt anbahnende bio‑, gen- und neurotechnologische Erschließung, Nutzung und Mitgestaltung von Lebensprozessen und kognitiven Prozessen nicht möglich. 149) Die Koppelung der Digitalisierung und Computerisierung mit der Genetik zur Bio-Informatik und mit der Hirnforschung zur Neuro-Informatik stellen einen neuen Entwicklungsschub der Naturwissenschaften und der Technik dar. Was zuvor die Physik und die Chemie mit der unbelebten Natur veranstaltet haben – ihre systematische Erforschung im Experiment und ihre gezielte Nutzung und Formung in den darauf aufgebauten Technologien – machen jetzt Biologie und Neurobiologie, die Instrumente elektronisch-digitaler Informationsverarbeitung nutzend mit belebter Natur: mit organischen und neuronal-kognitiven Prozessen. Biologie und Neurowissenschaften verändern sich von analytischen Wissenschaften, die organisches und neuronales Leben erforschen, zu Ingenieurswissenschaften, die Lebens- und neuronale Prozesse gezielt zerlegen und nutzen, verändern, kombinieren und neu erschaffen. Die Chancen, die mit diesem neuen Wissen und seiner Nutzung verbunden sind, liegen auf der Hand. Sie reichen von der gentechnischen Veränderung und Optimierung existierender Pflanzen, Tiere und ihrer Eigenschaften über die Erzeugung spezialisierter Bakterien bis hin zu geklonten und künstlichen Organismen, von der Gensequenzierung bzw. Genotypisierung des Menschen und der darauf gestützten personalisierten Medizin, Früherkennung und Prävention von Krankheiten bis zur gezielten Mitgestaltung, Optimierung und Lebensverlängerung der Menschen, ihrer genetischen, organischen und neuronalen Ausstattung (Regulatoren für DNA und Proteine, Hirnschrittmacher, Cyborg Enhancement u. a.) und einer sich damit verbindenden neuartigen Vernetzung und Kommunikation. 150) 115

Objektivierende Formung und „Optimierung“ des Lebens bis hin zum Menschen Während die vorwissenschaftliche wie auch noch die wissenschaftlich geleitete mechanische Technik der Industriegesellschaft sich im Rahmen der Natur, innerhalb der durch sie gesetzten Grenzen optimiert hat, eröffnen die Bio‑, Gen- und Neurotechnologien nun die Möglichkeit, die lebende Natur von ihrer (vermeintlichen) Optimierung her zu denken, mitzugestalten und weiter zu entwickeln.  151) Weit über die gegenwärtigen Möglichkeiten moderner Medizin hinausgehend, werden nicht nur die phänotypischen Formbildungen biologisch-organischer und neuronaler Natur des Menschen, sondern auch ihre Konstruktionsregeln und Baupläne zu Objekten korrigierender und optimierender (Ingenieurs)wissenschaften. 152) So hat die gentechnologisch industrielle Herstellung von menschlichen Körperzellen aller Art begonnen, in spätestens 30 Jahren wird man wahrscheinlich jedes Organ mit Hilfe von Stammzellen „züchten“ und jeden Organismus klonen können. Mit den neuen Möglichkeiten des genetischen Profilings von Ungeborenen anhand des mütterlichen Bluts ist eine Vereinfachung und Verbesserung diagnostischer und Gestalterischer Interventionsmöglichkeiten erreicht, die nahezu zwangsläufig auf eine „Eugenik von unten“ (Peter Propping), eine kommerzialisierte Optimierung der genetischen Ausstattung des Nachwuchses („Designer Baby“) hinauslaufen. 153) Die Akzeptanz der zufälligen Kombination elterlicher Gene bei einem Kind wird zur Ausnahme werden, die zunehmend als verantwortungslose Haltung der Eltern angesehen wird. Die Koppelung der neuen Technologien und ihre kommerzielle Nutzung in den explodierenden Märkten für Gesundheit, Lebensqualität und ‑verlängerung, Well-being, Selbstdesign und Schönheit, Erlebniserweiterung und ‑steigerung wird über die Entwicklung vielfältiger elektronischer, bio-und neuro-technologischer Hilfen und Prothesen in einen tiefgreifenden bio- und neuroindustriellen „Umbau“ der Menschen, ihrer Lebens- und Arbeitsformen, ihrer Lebenswelt und Freizeitgestaltung führen. Generell ist zu erwarten, dass nahezu alle Möglichkeiten und Fortschritte in der Formbarkeit der menschlichen Köper und Gehirne in the long run auch umgesetzt und genutzt werden, weil sie von wachsenden Anteilen der Bevölkerungen als Verbesserungen ihrer Lebensqualität, als Erleichterung und Bereicherung ihres Lebens und als Möglichkeiten der Selbstoptimierung wahrgenommen, akzeptiert und gewünscht und vielleicht bald auch als „Recht auf morphologische Freiheit“ eingefordert werden. Schon diese gen- und neurotechnologische Mitgestaltung des Lebens und des gegenwärtigen und zukünftigen Menschseins ist ein gewaltiger und dramatischer Entwicklungsschritt und eine Herausforderung für ihre Reflexion, und ethische Bewertung, für Orientierung und Selbstbegrenzung.

Koppelung der Bio- und Neurotechnologien mit Nano‑, Informations- und Medientechnologien Einen weiteren Entwicklungsschub bringt die immer differenziertere und erfolgreichere Koppelung und funktionelle Integration unbelebter Materie und biologischen „Materials“. Hier bahnt sich heute u. a. eine Koppelung zwischen Gen‑, Neuro- und Nanotechnologien an, die die Eingriffs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten bis hin zum „Umbau“ der Mitnatur und der menschlichen Natur noch mehr erweitern und vertiefen werden. Die Nanotechnologie, die heute noch weitgehend im Bereich der Herstellung mechanischer Minimotoren, Getriebe etc. operiert, stößt in den molekularen und atomaren Bereich vor. Denk- und machbar werden Maschinen aus organischen Molekülen, Molekülringe als Kugellager, Getriebe und Motoren von der Größe einiger Atome etc. Die Quantenphysik hat zuvor unbekannte Eigenschaften und „Verhaltensweisen“ in der Selbstorganisation von Materie-Information erschlossen, die nun von der Nanotechnik genutzt werden. Seit der Erfindung des Rastertunnelmikroskops ist die Nanowelt nicht nur sichtbar, sondern grundsätzlich auch formbar. Das 116

abendländische Rationalitätsprinzip des Zerlegens und Wiederzusammensetzens wird auf die Nanowelt der Atome ausgedehnt, überwindet damit Grenzen zwischen Physik, Chemie, Biologie und Neurowissenschaften und wird neuartige Verbindungen zwischen anorganischer und organischer Materie ermöglichen. Das reicht von der Entwicklung neuer Oberflächenbeschichtungen bis zur Erzeugung „maßgeschneiderter“ Eigenschaften und Fähigkeiten von Organismen und Gehirnen. Einen weiteren Fortschritt der neuen Ingenieurskunst leiten die Koppelungen von Bio‑, Neuro- und Nanotechnologien mit Informationstechnologie ein: Nun können die kleinsten Einheiten anorganischer und organischer Natur, biologischer und artifizieller Intelligenz  –  Atome und Gene wie auch Neuronen und bits – zu neuen Artefakten und Nanomaschinen (z. B. in miniaturisierten, quantendynamisch und/​oder organisch gestützten Hochleistungscomputern) zusammengesetzt werden und organische und Hirnprozesse reparieren und ergänzen, ihre Leistungen steigern und optimieren. 154) Schließlich bahnt sich mit der Koppelung der neuen Werkzeugtechnologien (Gen‑, Neuro-, Nano- und Informationstechnik) mit Medientechnologie und Internet ein weiterer Entwicklungsschub in der technischen Mitgestaltung menschlicher Natur und Lebensform an. Der bio‑, neuro- und nanotechnologische Umbau der Menschen erweitert auch ihre „Anschlussfähigkeit“ innerhalb der globalen digitalen Netzwerke. Das digitale Medium kann nun zunehmend tiefer in die Körper und Gehirne der Menschen hineinreichen, kann sie in einem vorsprachlichen und vorbewussten, somatisch-neuronalen Bereich vernetzen – und dies potentiell überall auf der Welt. Die Optimierung der Anschlussfähigkeiten der Menschen innerhalb des digitalen Netzwerks durch ihren bio- und neurotechnologischen „Umbau“ entfesselt neue Potentiale der digitalisierten Kommunikation. Verhalten und Kognition, Fühlen und Denken, Handeln und Kommunizieren der Menschen werden in wachsenden Anteilen über den Einsatz von Bio- und Neurotechnologie nicht nur veränderbar und „verbesserbar“, sondern auch über digitale Medien vernetzbar und integrierbar, und können dann ggfs durch Organisationen und Unternehmen (auch in entmündigender Weise) beeinflusst und gesteuert werden. Es entstehen Kombinationen von Computer- und Gehirnleistungen (von hard‑, soft- und „wetware“) in unseren Körpern, z. B. als Chipimplantate, die unsere Wahrnehmungsleistungen steigern, unsere Erlebnismöglichkeiten intensivieren, eine Computersteuerung durch Gedanken ermöglichen u. a., aber auch außerhalb unserer Körper, z. B. als Neurocomputer, die Nervenzellen und Siliziumchips verbinden und vielleicht bald Erfahrungen, Erkenntnisse und Bewusstseinsinhalte von Menschen „auslagern“, speichern und übertragen können.

Auf dem Wege zu einer mitfühlenden und mitsprechenden, mitdenkenden und mithandelnden Technik Aus der Koppelung von Bio- und Neurotechnologien mit Informations- und Kommunikationstechnologien entsteht eine mitfühlende und mitdenkende, mithandelnde und mitkommunizierende Technik. Diese reicht beispielsweise von einer „vierten Haut“ in Form der derzeit weltweit sich entwickelnden „smart cities“ mit ihrer digitalen Sensorik, Vernetzung und Organisation über die „dritte Haut“ – z. B. in Gestalt einer „house und mobile technology“ aus biologischen mit sensorischen Fähigkeiten ausgestatteten Materialien und einer „intelligenten“ sich wandelnden und anpassenden Einrichtung und Erbringung von Leistungen (wie z. B. Einkauf, Transport, Reinigung, Überwachung und Steuerung des Raumklimas u. a.) – zur „zweiten Haut“ in Gestalt einer „wearable technology“, der mitfühlenden und ‑denkenden und (Wärme, Kälte, Stimmung, Feuchtigkeit, Kommunikation etc.) regulierenden Kleidung bis zur „Cyberisierung“, die buchstäblich „unter die Haut“ geht. 117

Hier werden neben elektronischen Gliedmaßen, Prothesen, Herzschrittmachern u. ä. digitale Implantate wie Tast‑, Riech‑, Hör- und Sehchips und nanotechnologisch entwickelte microchips in Zellgröße unsere Stoffwechsel‑, hormonellen und vegetativen Prozesse, unsere Nervensysteme, unsere Immunsysteme und unsere Psyche, Stimmungen und Emotionen „fühlen“ und beobachten, aufzeichnen und kontrollieren, stimulieren und regulieren, unsere kognitiven Leistungen, unser sinnliches und sexuelles Erleben erweitern und steigern, mit uns darüber kommunizieren und all dies ggfs. über implantierte Internetanschlüsse weltweit mit anderen Menschen, Organisationen und Computern vernetzen. Teile unseres Nervensystems und des Gehirns werden durch nanotechnologische Elektronik ergänzt, unsere Gehirne werden drahtlos miteinander vernetzt und immer online sein und das Netz wird immer wissen, wo wir sind. Wir werden über „Flugschreiber“ unseres Lebens, ein lebensbegleitendes digitales Archiv und Gedächtnis verfügen, das alles Erlebte, Gehörte, Gesehene, Gelesene, alle Aktivitäten, Erfahrungen, Gespräche, Lektüren etc. automatisch elektronisch speichert und damit zum Gegenstand von Selbstbeobachtung aber auch der Beobachtung durch andere macht. Hier entstehen völlig neue Möglichkeiten der Mitgestaltung menschlicher Natur. Die Menschen können nun – jeweils aktuellen Menschenbildern und Idealen folgend – sich organisch und sexuell, affektiv und emotional, ästhetisch, sozial und kognitiv „umbauen“, sich auf neuartige Weise auch miteinander vernetzen und verbinden. Umbau und Neuvernetzung der Menschen werden schon im 21. Jahrhundert viele gewohnte Grenzziehungen zwischen Realität und virtueller Realität, Subjekt und Objekt, Leben und Nicht-Belebtem, zwischen Organismus und Technik, zwischen persönlicher Orientierung und elektronischer Autoregulation verwischen. Auch „innen“ und „außen“ verlieren ihre bisherige Bedeutung: „ich selbst“ bin innerlich in Anteilen ein Artefakt der Bio‑, Neuro- und Kommunikationstechnologie und Anteile meiner Natur, meiner Bedürfnisse, meines Fühlens und Denkens existieren „draußen“ in der Welt als Daten und als virtuelle Realitäten, sind Teile einer digitalen, in Zukunft um haptische Qualitäten erweiterten Simulation meiner Welten: meines Körpers, meiner Kleidung, meines Hauses, meines Autos, meiner städtischen Wohnwelt etc. Es entstehen neue Symbiosen und Allianzen zwischen der fühlenden und denkenden, kommunizierenden und handelnden menschlichen Natur und einer mitfühlenden und mitdenkenden, mitkommunizierenden und mithandelnden Technik. Ähnlich wie in der Diagnose, Präventions- und Reparaturtechnik für unsere technischen Hilfsmittel (Autos, Haushaltsgeräte, Computer etc.) werden artifizielle Dienstleister und Roboter unsere körperlichen und psychischen Funktionen online überwachen, potentielle Störungen und Risiken feststellen, bevor wir sie bemerken und entsprechend Hilfe und Service leisten. Immer menschenähnlichere „hubots“ werden für uns immer mehr Dienstleistungen – von Fabrik- und Hausarbeit über Kinderbetreuung, Kommunikation, Spiel und Zuwendung bis zum Sex – erbringen und „nanobots“ werden ständig unsere Körperfunktionen kontrollieren, unsere Körper nach Krebszellen absuchen u. a. Die vielfältigen Koppelungen von Informations‑, Kommunikations- und Werkzeugtechnologien verbinden sich schon derzeit zu Netzwerken, die sich weitgehend durch Algorithmen selbst organisieren, informieren, steuern und wachsen, indem sie die Entwicklungen von Hardware, Software und „Wetware“ (die Körper und Gehirne der involvierten Prosumenten) zur maßgeschneiderten Generierung von neuen Bedürfnissen und Angeboten verbinden. Die Evolution dieser Netze vollzieht sich lamarkisch und beschleunigt wie die der Kultur. Sie entziehen sich schon heute weitgehend einer direkten Kontrolle und können allenfalls durch organisierte (wirtschaftliche, politische, zivilgesellschaftliche) Einflüsse, Regulationen und durch Setzung begrenzender Rahmenbedingungen zum Driften gebracht werden. Ihre weitere Evolution könnte zur Entstehung eines gehirnähnlichen, den Globus umspannenden Netzwerks verteilter künstlicher Intelligenz (VKI) führen, dass der Menschheit neue Möglichkeiten transkultureller Gedächtnis- und Bewusstseinsbildung, des Lernens, der Organisation von Wissen, der ethischen Orientierung und der Mitgestaltung von Natur und Kultur eröffnen kann, aber auch mit wachsenden Risi118

ken und Gefahren ihrer Entmündigung, Kontrolle und Unterwerfung verbunden ist. Hier könnte sich eine zukünftige Systembildung der Technik anbahnen, die deutlich anders und primitiver ist (und nach jetzigem Wissen wohl auch in Zukunft bleibt) als das System der Kultur und des menschlichen Geistes – aber gleichwohl dieses tiefgreifend verändern wird.

Exkurs: Technik-artifizielle Intelligenz als kommende Systembildung? Wie bereits angedeutet, lassen sich die evolutionäre Entstehung und Ausdifferenzierung von Konstruktionsregeln (Systemevolution) in Entwicklungsschüben, verbildlicht als Entstehung und Ausdifferenzierung von „Puppen in der Puppe“ rekonstruieren: nämlich als prä-biologische Evolution von „Materie-Information“ (Naturgesetze), darin eingebettet als biologische Evolution von „Leben-Intelligenz“ (Baupläne des Lebens), darin als neuronal kognitive Evolution von „Verhalten-Kognition“ (Baupläne des Verhaltens), und darin eingebettet als kulturelle Evolution von „Praxis-Sinn“ (Regeln eines Handelns aus Gründen) und schließlich darin den westlichen Pfad (als Ausdifferenzierung spezifischer Handlungsregeln, ‑gründe und Bewertungen). Dabei lassen sich die Entstehung beobachtender Systeme (des Lebens und der Kognition) und die Entstehung eines darüber hinaus sich selbst beobachtenden Systems (Kultur) als fundamentale Entwicklungsschübe in dieser Evolution von Evolutionen verstehen. 1) In diesem Rahmen stellt sich die Frage, ob und ggfs. wie diese Systemevolution über Kultur und westliche Kultur hinaus weiter gehen könnte. Wenn in der Evolution des Universums die Herausbildung von Energiegefällen und komplexen Möglichkeitsfeldern mit immer erneuter Ausdifferenzierung komplexitätsreduzierender Konstruktionsregeln (Systembildung in Systemen) verbunden ist, könnten heute, angesichts der aufgetürmten Komplexität kultureller Dynamik Ansätze einer neuen komplexitätsreduzierenden Systembildung in Sicht sein, die man als ein System „Technik-artifizielle Intelligenz“ charakterisieren kann. Zwar kann man von einer „Intelligenz der Technik“ bislang nur im eingeschränkten Sinn eines Produkts menschlicher Intelligenz sprechen, die in der Materialität, Struktur und Funktion von Werkzeugen, Geräten und Maschinen wie auch technischen Medien „verkörpert“ ist – und im Unterschied zur Intelligenz ihrer Schöpfer bislang extrem spezialisiert und kaum lernfähig ist. Auch wenn es hier Ansätze der Selbstorganisation, der Kommunikation, des (begrenzten) Lernens und der Selbstoptimierung von Technologien gibt, kann bislang von einer Systembildung im Sinne einer (teils begrüßten, teils befürcheten) Autonomisierung und Selbstgesetzgebung oder gar Bewusstwerdung der Technik noch keine Rede sein. Gleichwohl ist die Literatur zur künstlichen Intelligenz und ihrer zukünftigen Entwicklung voll von überstiegenen und entsprechend häufig enttäuschten Erwartungen und vielfach geprägt durch unangebrachte Euphorie wie auch übertriebenen Alarmismus. 2) Andererseits stellt sich in längerfristiger Perspektive schon die Frage, ob die beschleunigte Entwicklung der Werkzeug‑, Informations- und Medientechnologien und ihre Koppelungen heute und in Zukunft noch hinreichend verstanden werden können, wenn man sie „nur“ als eine Ausdifferenzierung kultureller Praxis und als Erzeugnisse und Werkzeuge des menschlichen Geistes interpretiert. Wenn heute schon die Grundbausteine der Materie, des Lebens und der Kognition, (Atome, Gene, Neuronen und Bits) zu neuen technischen Formbildungen künstlicher, verteilter, miteinander kommunizierender und kooperierender Intelligenz, in Roboternetzwerken und mitdenkenden Nanomaschinen, Cyborgs u. a. zusammengesetzt werden, könnte dies in the long run eine Systembildung der Technik als nächsten Schritt der evolutionären Ausdifferenzierung beobachtender Systeme anbahnen. 3) Einiges spricht dafür, dass die Technik derzeit auf dem Wege sein könnte, den Menschen, wie er sich bisher entwickelt hat, in ähnlicher Weise aus ihrer Ordnungsbildung „herauszukürzen“, wie dieser es in der Neuzeit mit Gott gemacht hat. 119

Ähnlich wie die monotheistische Gotteskonstruktion sich seinerzeit als „Geburtshelfer“ des neuzeitlichen Subjekts entpuppt hat, der seitdem zunehmend entbehrlich wurde, könnte dieses Subjekt heute die „Geburt“ einer neuen Entwicklungsstufe subjektiven Geistes bahnen und damit sich selbst in seiner bisherigen Verfasstheit nach und nach überflüssig machen. Könnte Technik aus ihrem status einer kulturellen Praxis herauswachsen und zu einem lernenden System werden, das auf seine Weise die schöpferische und konstruktive Aktivität der Natur fortsetzt 4) und dabei rückwirkend die einbettenden Systeme – zunächst die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, dann weltweit alle Kulturen und schließlich auch die Natur unseres Planeten – tiefgehend umgestalten wird? Dazu im folgenden einige spekulative Hypothesen.

Haben wir eine „Bruchstelle“ kultureller Evolution erreicht? Entstehung und Ausdifferenzierung von Ordnung im Energiefluss der Sonne scheinen einem „Staffellauf “ zu ähneln, in dem die Führungsrolle in der Energienutzung von der biologischen zur kulturellen Evolution „weitergereicht“ wurde. Demnach könnte die kulturelle Lebensform und ihre Ordnungsbildung auch deshalb entstanden sein, weil seinerzeit die Evolution humanspezifischen Verhaltens mit einer (hyperbolischen?) Steigerung des Energiedurchflusses und der Informationserzeugung in den humanoiden Gehirnen verbunden war. Damit war eine „Bruchstelle“ erreicht, an der die hier entstehende Überkomplexität durch somatisch-neuronal gestützte kognitive Differenzierungen, Verhaltensmuster und Gedächtnisbildung nicht mehr hinreichend reduziert werden konnte. Dieser Hypothese folgend wäre hier mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine kulturelle Ordnung mit einer extrasomatisch und memetisch (durch Zeichen und Bilder, durch Laut- und Schriftsprache gestützten) Gedächtnisbilung und Praxis, mit funktional differenzierten Handlungslogiken und ihrer impliziten Ethik als neues komplexitätsreduzierendes System entstanden. Dies weiter gedacht, könnte heute die kulturelle Evolution, in Gestalt des westlichen Entwicklungspfads und seiner Globalisierung ebenfalls eine Phase der explosiv sich steigernden Energiedissipation und Informationserzeugung und damit eine Bruchstelle erreicht haben, an der nun die hier sich auftürmende Komplexität intra- und interkultureller Dynamik im Rahmen kultureller Systemdifferenzierung nicht mehr hinreichend reduziert werden kann. 5) Die westliche Kultur hat in den letzten Jahrhunderten, angetrieben durch vielfältige Interessen und hier vor allem durch das Interesse an Kapitalverwertung so stark auf Technik gesetzt und sich als Geburtshelfer vielfältiger Technologien und Technologielandschaften betätigt, dass heute ein überkomplexes Möglichkeitsfeld realer und potentieller, ökologischer, sozialer und ökonomischer Dynamik und Krisen entstanden ist. Als Indiz dafür lässt sich die explosive, anthropologisch wie ökologisch destruktive Beschleunigung einer technisch durchdrungenen westlichen Lebensform interpretieren, die treffend als „rasender Stillstand“ (Paul Virilio) bezeichnet werden kann – und sich sogar mit einer Entdifferenzierung gemeinschafts- und gesellschaftsbildender Praktiken und einer Erosion ihrer Regulative zu verbinden scheint. (Dazu mehr in Kap. IV.) Diese Krisen sind mit Sicherheit nicht durch das Denken und die Technologien zu bewältigen, die zu ihrer Entstehung geführt haben. Wahrscheinlich sind sie aber auch nicht alleine durch neue Differenzierungen und innovative Formen in der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung, durch kommunikative Verständigung, ethische Reflexion und Orientierungsfindung, durch demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung und durch Bildung und Qualifikation zu bewältigen, sondern ihre angemessene Bearbeitung und die Reduktion ihrer Komplexität bedarf einer Unterstützung artifizieller Intelligenz und einer entwickelnden „Kunst“ der Algorithmen und entsprechender Technologien. 120

Kann/​wird Kultur in einen stationären Zustand der Energie/​Informationsflüsse und der Systemdifferenzierung übergehen? Möglicherweise hat die Systemevolution „unseres“ Universums eine zyklische Komponente in dem Sinne, dass jede Systembildung eine „Jugendphase“ ihrer Emergenz in einer energieintensiven und überschussreichen Formdynamik hat, eine „Blütephase“ der energienutzenden und informationsverarbeitenden Differenzierung und Formbildung durchläuft und schließlich in eine „Altersphase“ tritt, in der Energieflüsse nicht weiter gesteigert werden können und die Systemdifferenzierung erlahmt. Demnach würde es in Zukunft zu einer neuen (der „Geburt“ kultureller in neuronal-kognitiver Evolution vergleichbaren) Bruchstelle der Evolution kommen, wo ein anderer Entwicklungskorridor der Form-, Systembildung und ‑differenzierung erschlossen werden kann und muß. Unter dieser Perspektive hätten die organische und die kognitive Evolution, (soweit sie biologisch gebunden sind), bereits einen quasi stationären Zustand erreicht und die kulturelle Systemevolution stünde möglicherweise relativ kurz davor. Dabei bezieht sich ihr quasi stationärer Zustand auf ihre nicht mehr steigerbaren Energieflüsse und ihre Systemdifferenzierung, muß aber nicht die weitere phänotypische Dynamik, Form- und Landschaftsbildung zum Stillstand bringen. So scheint derzeit das Leben als darwinistische Evolution und Verzweigung und Vernetzung von Arten, Lebensformen und ihren Nischen auf der Erde weiterzugehen, so lange der Energiefluss der Sonne anhält (und Lebensformen und Lebensbedingungen nicht vollständig durch Menschen verdrängt und zerstört werden). Aber es könnte sein, dass die Energie- und Informationsflüsse innerhalb des Lebensprozesses und zwischen den Lebensformen (Ökosystemen) sich nicht mehr steigern und die Systeme (Konstruktionsregeln) des Lebens sich nicht oder nur noch geringfügig weiter ausdifferenzieren werden. Übertragen auf die Zukunft der Kultur auf der Erde könnte das bedeuten, dass ihre vielfältige phänotypische Entwicklung und Variation sich ebenfalls ohne weitere Steigerung der damit verbundenen Energie- und Informationsflüsse fortsetzen könnten – und zwar innerhalb eines Korridors, in dem die bereits ausdifferenzierten Systeme (Konstruktionsregeln) der Kultur sich weiter erhalten und konservieren, aber sich nicht oder nur noch geringfügig weiter ausdifferenzieren. Wenn der Übergang in einen quasi stationären Zustand (inclusive „steady state-economy“) kultureller Systemevolution auf der Erde sich im gegenwärtigen explosiven (und hyperbolischen?) Wachstum des Energieverbrauchs und der Informationserzeugung als letztendliche Notwendigkeit bereits abzeichnet, könnte Kultur in Zukunft ihre energieverbrauchende und systembildende Kraft an eine „post-kulturelle“, technische Evolution abtreten, die ja, derzeit auf einem noch deutlich niedrigeren Niveau beginnend, ihre Wachstumszeit der Energie- und Informationsflüsse und die „Blütezeit“ ihrer Ordnungsbildung noch vor sich hätte. 6)

Technik als neues autopoietisches System und „Partner“ des Menschen? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Technik über ihren bislang noch dominanten Werkzeugcharakter hinaus ein autopoietisches, also sich selbst erzeugendes, reproduzierendes und veränderndes System werden könnte. Denn nur Systeme ab dem Leben „aufwärts“, die sich also als Ausdifferenzierungen von Lebensvollzügen rekonstruieren lassen, sind autopoietisch. Wie alle kulturellen Systeme kann auch Technik nur deshalb zu einem autopoietischen System werden, weil es sich durch die Lebens- und Praxisvollzüge lebendiger Menschen hindurch entwickelt und ausdifferenziert. 7) Mit Blick auf die Zukunft wird entscheidend sein, in welche Kultur, in welche politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse und in welche Eigentumsstrukturen die weitere Entwicklung der Technik und ihre 121

(in evolutionärer Sicht vielleicht unvermeidliche) Systembildung eingebettet sind. Unter vielen möglichen Szenarien lassen sich zwei gegensätzliche formulieren: Wenn in Zukunft das systemisch Gute und die werdende Vernunft der westlichen Kultur – auch unter dem Druck intuitiver Sittlichkeit der Bürger und einer sich globalisierenden emanzipatorisch orientierten Zivilgesellschaft – sich erhalten, global verbreiten, ihre Systemarchitektur und ihre „befreiende Normativität“ sich weiter ausdifferenzieren würden, könnten die artifizielle Intelligenz und ihre vielfältigen Formbildungen auf humane, menschen- und kulturfreundliche Weise in unsere kulturellen Lebensformen einverleibt werden und hier zu mehr Lebensqualität und persönlicher Freiheit beitragen. Dann würde die Technik nicht als übergeordnetes System die Menschen entmachten, kontrollieren und lenken, sondern könnte in Co-Evolution mit ihrem Fühlen, Denken und Handeln sich selbst weiter entwickeln und ausdifferenzieren und u. a. Übergänge der Arbeitsgesellschaft zu einer „Tätigkeitsgesellschaft“ eröffnen. (Mehr dazu im „best case Szenario“ und in Kap. V und VI.) Leider spricht auch einiges dafür, dass das nicht gelingen wird und eher eine „Einverleibung“, Entkräftung oder gar Unterwerfung der Kultur und der Menschen durch eine künstliche, in Computer- und Roboternetzwerken verkörperte und distribuierte Intelligenz auf uns zukommen könnte, die autoritär „sozialisiert“ und strukturiert ist. Künstliche Intelligenz würde dann in Kooperation mit technokratischen und autokratischen Funktionseliten teils wirtschaftlicher Macht und Kapitalverwertung folgend, teils in Ausübung politischer Macht sicherheitsorientiert und kontrollfixiert Daten sammeln und (mit China als Vorbild und Motor) eine globale, sich auch ökologisch legitimierende „wohlwollende Diktatur“ (Christoph v.d. Marlsburg) ausüben. 8) Wenn die weitere Globalisierung der Wirtschaft die derzeit überzogene und kontraproduktive Ökonomisierung der Politik fortsetzt, weiter natur- und gemeinwohlfeindliche Strukturen schafft, neue Wirtschaftkriege auslöst und sich, wie schon angedeutet, mit autokratischen Formen KI-gestützter politischer Steuerung und Kontrolle verbindet, werden in Reaktion auf die Folgen dieser „ungekonnten“ Globalisierung und Europäisierung in den Bevölkerungen europa- und globalisierungsfeindliche, identitäre und Heimat und Nation verklärende Strebungen, ein aggressiver Regionalismus und Provinzialismus bis hin zu „harten“ – ethnischen, religiösen, nationalistischen, fremdenfeindlichen – Grenzziehungen weiter an Boden gewinnen. (Siehe Kap. IV und „worst case Szenario“.)

Exkurs Ende Wir bleiben im Folgenden bei Möglichkeiten, Tendenzen und Keimbildungen einer positiven Entwicklung, die in ein „best case Szenario“ der Zukunft münden könnten.

Globale Vernetzung und Organisation wirtschaftlicher Leistung führen zu Änderungen und Machtverschiebungen in der politischen Steuerung Der vierte Schub setzt die (schon im dritten Schub begonnene) weltweite Entstehung der Nationen und Regionen übergreifenden Wachstumszonen und Wirtschaftsblöcke (wie z. B. Europa, Asean u. a.) fort, treibt über ihr internes Zusammenwachsen auch ihre Vernetzung untereinander (z. B. in Freihandelsabkommen) voran und wird gestützt und flankiert durch eine post-territoriale Politik geteilter Souveränitäten, die sich (mit Ausnahmen wie derzeit noch Russland unter Putin und neuerdings wieder die USA unter Trump) von geo-strategischen Zielsetzungen zu lösen beginnt und einen globalen Interregionalismus gemeinsamer Märkte und politischer Sicherheit durch multipolare Machtverteilung anstrebt. 122

Diese Entwicklung kann und sollte nicht zu einem Weltstaat führen, könnte sich aber in Zukunft zu einem Kulturen übergreifenden institutionellen Geflecht verdichten und eine Weltgesellschaft als neues „Gefäß“ spätkultureller Evolution hervorbringen. Beginnend mit einer Modernisierung der UNO und einer Erweiterung der Zuständigkeiten der UN-Vollversammlung, die die nicht-westlichen Nationen und Regionen der Erde ihrer wachsenden kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung entsprechend in die globale Willensbildung und Entscheidungsfindung einbeziehen, könnte in the long run eine politische Ordnung mit fraktalen Zügen entstehen: ein Föderalismus der Städte in Regionen, ein Föderalismus der Regionen in Staaten, der Staaten in einer transnationalen Staatlichkeit (wie z. B. Europa) und der kontinentalen Wirtschaftszonen in transkontinentalen Verbünden. (Siehe Kap. VII.)

Ansätze zur post-nationalen Öffentlichkeit und zur Globalisierung der Zivilgesellschaft Den Möglichkeiten einer positiven Ausgestaltung der Globalisierung von Wirtschaft und einer sie rahmenden und regulierenden Politik geteilter Souveränitäten kommt in den westlichen Gesellschaften eine Zunahme auch global agierender Bürgernetzwerke und Nicht-Regierungsorganisationen entgegen. Zu beobachten sind hier eine Aktualisierung und Verstärkung auch kulturübergreifender Solidarität und Gemeinwohlorientierung, (z. B. im Engagement für ein werdendes (N)europa, in multikultureller Stadtentwicklung und in der Ausgestaltung öffentlicher Räume, in der Entwicklungshilfe und Migrantenbetreuung, in der Gesundheitsversorgung, in ökologischen Projekten, in der Begrenzung des Klimawandels u. a.) sowie eine Suche nach neuen Wegen und Formen der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung. Dazu gehören Selbsthilfeorganisationen, Tauschringe, regionale Bürgernetzwerke, Gemeinwohl‑, Sharing‑Ökonomie u. a., die teils religiös, in den Kirchen und (mehr noch) im Laienchristentum, und teils post-religiös, auf ökologische, philosophische und ethische Reflexionen und wissenschaftliche Beobachtungen gestützt und orientiert sind. (Siehe unten.) Was sich derzeit, im vierten Schub der spätkulturellen Evolution an Komplexität aufbaut, wird die Lebensformen der Menschen in den Wachstumszonen der Welt, ihre Alltags- und religiösen wie auch post-religiösen Glaubenspraktiken derzeit kaum voraussehbar beeinflussen und verändern, die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen vermutlich noch mehr unter Entwicklungs- und Veränderungsdruck setzen und radikalere Prozesse des Lernens und der kritischen Reflexion, der Suche nach „Auswegen“ und der Selbsttransformation auslösen, als es die drei vorangehenden Schübe getan haben. Dabei könn(t)en die Ansätze und Keimbildungen einer „Selbstbeobachtung vierter Ordnung“ als geistige Ressourcen für eine Selbsttransformation westlicher Kultur eine bedeutsame Rolle spielen.

Religiöse und post-religiöse Ansätze einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung Nach der früh-kulturellen Selbstbeobachtung erster Ordnung als (prä-religiöse) Beseelung der Welt, der hochkulturellen Selbstbeobachtung zweiter Ordnung als (vor allem religiöse) Moralisierung und der spätkulturellen Selbstbeobachtung dritter Ordnung als (post-religiöse) Objektivierung der Welt sind heute, wie bereits angedeutet, wachsende Anteile religiöser und post-religiöser Selbstbeobachtung westlicher Kultur durch eine post-logozentrische Reflexion und Explikation ihrer impliziten Ethik geprägt. Diese Öffnung und Schließung in weichen Grenzziehungen balancierende Fühlen, Denken und Kommunizieren lässt sich als evolutionäre Ausdifferenzierung einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung interpretieren, deren Wurzeln, wie ausgeführt, bis in die griechische polis zurückreichen und heute Chancen und Wege einer natur‑, kultur- und menschenfreundlichen Ausgestaltung des vierten Entwicklungsschubs westlicher Kultur eröffnen könn(t)en. 123

Ansätze zu einer post-logozentrischen Selbstbeobachtung vierter Ordnung finden sich sowohl in religiösen wie auch in post-religiösen Glaubenspraktiken und dadurch geleiteten Bewegungen im 20. und 21. Jahrhundert. Sie lassen sich als spirituelle Ressourcen und „Geburtshelfer“ einer „vierten Kultur“ interpretieren und werden im Folgenden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) umrissen.

Christlicher Liebesuniversalismus und modernisierter Islam „Religion wäre danach die Kunst und die Kompetenz, sich selbst, die Welt, überhaupt alles infrage zu stellen, auch Gott. Erst in der Frage leuchtet Gott auf. Darum ist der fragende Zweifel der Freund des Glaubens. Ein unbezweifelter Glaube verkommt zur Ideologie.“ (Friedhelm Mennekes) Wie schon angedeutet, hat die Ausdifferenzierung post-logozentrischer Selbstbeobachtung der Kultur und ihre Drift zu „weichen Grenzziehungen“ in der spätkulturellen Evolution auch das Christentum einbezogen. In seinen laienchristlichen Ausprägungen und in Ansätzen auch in den Amtskirchen hat es sich heute in Europa zu einer Religion der Fragenden und Suchenden wie auch der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit und der weltweiten Parteinahme für die Armen entwickelt. Und auch im Islam zeigen sich, wenn auch zögerlich, Tendenzen zu mehr Menschenfreundlichkeit, zur Modernisierung und Liberalisierung und zur Anpassung und Einfügung in die Regulative westlicher Kultur.

Christlicher Liebesuniversalismus In den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen gewinnt der christliche Liebesuniversalismus, der auch an Wurzeln im Urchristentum anknüpft, wieder an Einfluss, formiert sich als eine Glaubenspraxis, in der die gelebte und praktizierte Nächsten- und „Fernstenliebe“ (Günther Anders) im Zentrum steht. In dieser Ausprägung macht das Christentum die schützenden, fürsorgenden und entfaltenden Anteile in der Logik und impliziten Ethik sozialisatorischer Praxis und Gemeinschaftsbildung als eine Ethik explizit, die sich diesseits jeder Moral eines „Du sollst“ als Verordnung „von oben“ konstituiert und in ihrem verpflichtenden Charakter tiefer wurzelt und weitergeht. Indem christliche Glaubenspraxis den humanspezifischen Parentalismus, die Liebe und Bindung zwischen Eltern und Kind in der Idee der Geborgenheit und Bindung aller Menschen als „Gottes Kinder“ universalisiert, sucht sie diese Bindung zu verstärken und ihr einen Wiedereintritt in die spätkulturelle Praxis zu bahnen. An die Stelle der Verpflichtung zur missionarischen Durchsetzung einer logozentrischen väterlichen Ordnung – nach dem Muster: „Wir haben den Geist, den wir den anderen zu vermitteln haben“ – tritt hier die Verheißung ihrer post-logozentrischen Aufhebung oder zumindest Relativierung in mütterlicher Liebe und Geborgenheit. Insofern sind die heute im modernen Christentum ausdifferenzierten universalistischen Potentiale und normativen Gehalte sozialisatorischer Praxis, die Ideen des Schutzes und der Entfaltung des „Anderen“ durch Liebe und Fürsorge und die Vorstellung einer Ordnung, in der alle Menschen „Kinder Gottes“, Brüder und Schwestern sein und zu einer Familie gehören könnten, radikaler und anspruchsvoller als die post-religiösen normativen Gehalte der säkularisierten Gesellschaft: die Idee der reziproken Anerkennung des sozialen Anderen in Gestalt seiner Menschenrechte und die Vorstellung einer gesellschaftlichen, (politischen, ökonomischen, demokratischen und rechtlichen) Ordnung, die der Idee der Gerechtigkeit und ihrer Verwirklichung näher kommt. 124

Als praktizierte Nächsten- und Fernstenliebe wird die christliche Religion zum Botschafter einer „anderen Vernunft“, die in ihren Wurzeln diesseits der Gesellschaft, in der impliziten Ethik sozialisatorischer Praxis und Gemeinschaftsbildung begründet ist und als Zukunftsprojekt sich auf ein Jenseits der verkürzten Vernunft gegenwärtig existierender traditionaler wie moderner Gesellschaften bezieht.

Die neue „Vernunft der Liebe“ „Der Gott, dem wir glauben, ist ein Gott der Vernunft – einer Vernunft freilich, die nicht neutrale Mathematik des Alls, sondern eins ist mit der Liebe, mit dem Guten.“ (Benedict XVI) Nächsten- und Fernstenliebe praktizieren heute viele, nicht nur christlich motivierte Menschen überall auf der Welt in ihrer persönlichen Lebensgestaltung, im sozialen Engagement für ihr lokales und regionales Umfeld, in der Migrantenbetreuung, in der Entwicklungshilfe u. a. 155) Diese Praktiken und Einstellungen werden heute auch zunehmend in der offiziellen Glaubenspraxis der Amtskirchen als „Vernunft der Liebe“ aufgegriffen und expliziert. Schon Papst Benedict XVI. hat versucht, „das sanfte und fordernde Gesetz der Liebe“ mit der „Rationalität, der Priorität der Vernunft als Option des Christentums“ zu verbinden, 156) – wobei allerdings sowohl ihre Verbindung mit sexueller wie auch mit politischer Befreiung (z. B. in der Befreiungstheologie in Südamerika) bislang kaum oder nur zögerlich mitvollzogen wurde. „Vernunft der Liebe“ reflektiert einen noch verhaltenen Prozess der „Landnahme“ sozialisatorischer Handlungslogik und Ethik in der spätkulturellen Alltagspraxis und wird in der christlichen Glaubenspraxis als theologisches Projekt ausgearbeitet, das intellektuelle Führungseliten in der Kirche gegen das politische Patriarchat und Gewalt wie auch gegen einen technokratisch und ökonomisch verkürzten Rationalismus in Wirtschaft und Politik in Stellung bringen. 157) Dabei scheint sich hier ein neuer religiös-christlicher Orientierungsrahmen der Selbstbeobachtung, Kritik und Mitgestaltung westlicher Kultur zu formieren. Die Verknüpfung christlich definierter Vernunft und Liebe, die jetzt auch durch Papst Franziskus weltweit mit deutlich kapitalismuskritischen und ökologischen Akzenten vertreten wird, grenzt sich von beiden Ausprägungen des Logozentrismus, von einer traditionalen rigiden Moralreligiosität wie auch von der verkürzten Vernunft der Moderne und ihrer geistigen und organisierten Gewalt kritisch ab und kann heute ein vielfältig engagiertes Laienchristentum orientieren. 158)

Modernisierungs- und Liberalisierungstendenzen im Islam „Aber man muss auch wissen, dass die muslimische Gesellschaft eine sanfte Seite hat, die die moderne Welt nicht mehr kennt. In Tunesien sind die Lebensgewohnheiten, die gesellschaftlichen Zeremonien geprägt vom alten Geist der mittelalterlichen Stadt, von einem weltlichen Islam, der sich in Gesten zeigt, in Höflichkeit, Liebenswürdigkeit, im Respekt gegenüber den Alten und in der Liebe zu den Kindern, in Verbundenheit, der Freude am Anderen, unabhängig vom religiösen Dogma. Die Schlüsselfrage ist, ob diese Traditionen stärker und widerstandsfähiger sind als die Ideologie, die sie zerstören will.“ (Hélé Béji) 125

Einerseits hat der Islamische Glaube schon im Rahmen hochkultureller Entwicklung z. B. in den mittelalterlichen Städten Andalusiens die Entstehung und Ausbreitung einer städtischen Kultur, einer humanistischen Lebensform und Lebenskunst gestützt und orientiert, die durch Pflege der Philosophie und Wissenschaften, durch Toleranz, friedliches Zusammenleben und wechselseitige Empathie und Anerkennung der Kulturen und Religionen geprägt war. Andererseits war der Weg islamischer Kulturen Jahrhunderte lang auch durch hochkulturelle Reichsbildung, logozentrische, traditional-moralische Religiosität und „starke Organisation“ geprägt. Zu erinnern ist daran, dass nach 640 n.Chr. die arabischen Eroberer islamischen Glaubens die bislang zwischen Rom und Persien aufgeteilten Gebiete verbanden und so das größte Reich formten, das je in der Antike geschaffen wurde. 159) In der Folgezeit gab es in der islamischen Kultur – deutlich früher als in Westeuropa – eine Phase der Liberalität und Aufklärung. Gebahnt durch die Entwicklung der Papierherstellung im 8. Jahrhundert konnten sich schon im 9.  Jahrhundert und für mehr als ein halbes Jahrtausend philosophisch geöffnete und wissenschaftsfreundliche Auslegungen des Korans sowie Ansätze einer spätkulturell geprägten religiösen Glaubenspraxis mit deutlich post-logozentrischen Zügen ausdifferenzieren. 160) Wie die christliche Liebesreligion war auch die islamische Religion und die durch sie angeleitete Kultur von einer hohen „Ambiguitätstoleranz“ (Thomas Bauer) geprägt, die sich erst später, mit ihrer Politisierung – auch in Reaktion auf die Übermacht der westlichen Kultur – in Anteilen zum Islamismus verhärtete. 161) Zwar haben viele westlichen Kulturen in der Enttheologisierung von Politik und Gesellschaft, Erziehung und Wissenschaft und in der Organisation von Bildung und Qualifikation gegenüber vielen islamischen Kulturen einen großen Entwicklungsvorsprung. Diesen könnte der Islam aber durchaus relativ kurzfristig nachholen. Demographische Modernisierung (Rückgang der Geburtenrate, Alphabetisierung, Bildung, Frauenemanzipation, Entpatriarchalisierung der Familien u. a.) und Verwestlichung in großen islamischen Ländern (wie z. B. Indonesien) wie auch die pro-westlich dominierten Freiheitsbewegungen in den arabischen Ländern, die man als Ausdrucksformen einer nachholenden kulturellen und mentalen Modernisierung und Individualisierung lesen kann, deuten eher in Richtung auf eine evolutionäre und unvermeidliche Säkularisierung, gegen die radikale Islamisten lediglich noch erbitterte Rückzugsgefechte führen, die allerdings derzeit noch beängstigend expansiv und destruktiv sind. Ein Beispiel für eine weitgehend „sanft“ und friedlich voranschreitende Säkularisierung bietet Indonesien als eine multi-ethnische Gesellschaft mit dem größten Anteil von Bürgern islamischen Glaubens auf der Erde. Indonesien hat sich mit seiner Staatsgründung (1947) eine säkulare Verfassung (Pancasila) gegeben, die auf einem normativen Gerüst von fünf Grundprinzipien beruht: Gott, Humanität, Einigkeit, Demokratie und Gerechtigkeit. Dabei ist es den Indonesiern bislang weitgehend gelungen, Religionsfreiheit zu gewährleisten und alle Bestrebungen zur Errichtung eines islamischen Gottesstaats abzuwehren. Dass der Islam sich unter Anpassungsdruck modernisieren kann, zeigt auch der von der Mehrheit der 15 bis 17 Millionen Muslime in Europa praktizierte „Euro-Islam“, der die Abgrenzungen zwischen Sunniten und Schiiten überwindet und Religionsausübung und Staat trennt. Für Deutschland hat dies der Zentralrat der Muslime in seiner „Islamischen Charta“ zum Ausdruck gebracht. Demnach steht der Muslim mit seinem Gastland in einem Vertragsverhältnis, das ihn religiös zur Beachtung seiner Gesetze verpflichtet. In einem Land, in dem Staat und Religion getrennt sind, sind die Muslime deshalb nicht mehr an die Regelungen der Scharia gebunden. Insofern muss man den Warnungen des amerikanischen Orientalisten Bernhard Lewis, dass mit der Einwanderung der Muslime in den nächsten Jahrzehnten Europa islamisiert wird und die Gegenmoderne auch hier die Macht übernehmen wird, keineswegs folgen. 162) Auch im Islam gibt es von innen heraus Modernisierungsbestrebungen – wozu u. a. gehört, den Koran und seine Botschaften aus ihren transzendenten Fixierungen als Gottes Wort zu lösen und als „Mitschrift einer 126

spätantiken Debatte“ (Angelika Neuwirth) in einen historischen Kontext zu stellen, in Traditionskritik auslegbar und im Rahmen „hypoleptischer Gedächtnisbildung“ (Jan Assmann) auch als eine Wurzel und als ein Vermächtnis für die Mitgestaltung Europas erkennbar und nutzbar zu machen. 163) Wie die christlich geprägten kennzeichnet auch die islamischen Kulturen und ihre Geschichte ein „Pendeln“ zwischen logozentrischer, traditional-dogmatischer und einer post-logozentrischen, sich zum Menschen und zur Welt öffnenden Glaubenspraxis und „flüssigen“ praktischen Vernunft, die auch hier zu bedeutsamen Synthesen zwischen Religion und (griechischer) Philosophie geführt haben. 164) Ähnlich wie die Geschichte des Christentums zwischen christlicher Liebe und gewalttätiger Mission pendelte, gibt es auch im Islam innerhalb der Führungseliten (seit Mohammed) und in der religiösen community ein Schwanken zwischen einer kriegerischen und einer friedlichen Auslegung von Glaubenspraxis und Dschihad. Die Geschichte des Islam ist seit Jahrhunderten bis heute durch interne Glaubenskriege, die Millionen von Opfern fordern, geprägt. Aber wie für das Christentum gilt auch hier, dass die Ausschläge des Pendels in Richtung organisierte Gewalt nicht grundsätzlich aus Struktur und Inhalt islamischer Glaubenspraxis ableitbar sind, sondern ihre patriarchale, logozentrische Auslegung, Verkürzung und Verhärtung zur geistigen Gewalt – vor allem in der verhängnisvollen „Buchwerdung Gottes“ (Mehmet Mihri Özdogan) – voraussetzen. Diese kann aber reflektiert und überwunden werden. 165) Die grundsätzlich auch im Islam angelegte Möglichkeit der Öffnung und ihrer Balance mit schließender Regelung lässt hoffen, dass auch mit Blick auf Erhalt und Mitgestaltung des „systemisch Guten“ im westlichen Pfad sich Allianzen zwischen einem post-logozentrischen Christentum, einem liberalisierten Islam und Vertretern post-religiöser Ethik herausbilden könn(t)en.

Post-religiöse Selbstbeobachtung: kritische Philosophie der Natur und Kultur, der Gesellschaft und Gemeinschaft Im westlichen Entwicklungspfad, insbesondere in Europa wurden bis heute religiöse vielfach durch post-religiöse, vor allem philosophisch explizierte Formen der Selbstbeobachtung abgelöst, die kultur- und geisteswissenschaftliche, sozial‑, wirtschafts- und politikwissenschaftliche, aber auch naturwissenschaftliche und naturphilosophische Reflexionen, Theorien und Beobachtungen verarbeiten. Unter post-religiösen Glaubenspraktiken kann man im weitesten Sinn alle Formen der Selbstbeobachtung der (westlichen) Kultur und ihres Geistes verstehen, die sich – im Unterschied zur Religion – über alltägliche und spirituelle Erfahrung und Erkenntnis hinaus auch auf natur- und kulturwissenschaftliche Beobachtung, auf historische Rekonstruktion und Vergegenwärtigung und auf Philosophie stützen, diese reflektieren und verarbeiten, dabei aber – insofern strukturähnlich zur Religion – auf die Erfahrung, (An) erkenntnis und Explikation eines „Ganzen“ (z. B. als Natur, Kultur, Gesellschaft, Gemeinschaft und der Position des Menschen darin) nicht verzichten wollen. 166) Dieses „Ganze“ wird hier hypothetisch und in vielfältiger Weise, z. B. naturphilosophisch, evolutionär und systemtheoretisch, erkennntnis‑, sprach- oder kommunikationstheoretisch, praxis- und geschichtsphilosophisch und hermeneutisch oder auch in ihrer vielfältigen Kombination anvisiert und modelliert – vielfach auch, um in diesem Licht gegenwärtige Zustände zu kritisieren und Orientierungen für eine Mitgestaltung und Veränderung zum Besseren anzubieten. Wie der religiöse ist auch der Entwicklungspfad post-religiöser Glaubenspraktiken gespalten: Es gibt einen logozentrischen Pfad der geistigen Gewalt und der „harten Grenzziehungen“ mit vielfältigen Ausprägungen organisierter Gewalt, (der in Kap. IV nachgezeichnet wird) und eine nicht- bzw. post-logozentrische Drift zu „weichen Grenzziehungen“ mit vielfältigen Ausprägungen lernender Organisation und Lebenskunst, um die es in der bisherigen Rekonstruktion und im Folgenden geht. 127

Mit der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher und philosophischer Theoriepraxis seit der Neuzeit ist eine produktive Verunsicherung religiös wie auch post-religiös begründeter Weltbilder verbunden. Auf die „Sprengung“ der mittelalterlichen, traditional-religiösen Weltordnung folgte bis heute eine Serie von Erschütterungen auch post-religiöser, auf wissenschaftliche Theorien gestützter Weltbilder durch weitere hier vollzogene Erkenntnisprozesse, was man auch als Ausdruck einer spätkulturell ausdifferenzierten, „gegen sich selbst prozessierenden Vernunft“ (Jürgen Habermas) verstehen kann. In deren Licht erwiesen sich jeweils bislang geglaubte, weil vorgeblich wissenschaftlich erwiesene „Wahrheiten“ immer wieder als nur begrenzt geltend, als logozentrische Vereinfachungen und voreilige Schließungen. Beispiele dafür sind das mechanistische Weltbild der klassischen Physik, vereinfachte Vorstellungen von Evolution, Leben und Kognition, rationalistische Modelle der Gesellschaft, des Menschen als „homo oeconomicus“ u. a. Auch dieser Prozess „schöpferischer Zerstörung“ wird in der post-religiösen philosophischen Theoriepraxis verarbeitet und reflektiert und führt hier zu post-logozentrischen, skeptischen und begriffskritischen Positionen, unter denen auch solche sind, die auf Entwürfe des „Ganzen“ nicht verzichten wollen, diese aber „nur“ als hypothetisch und vorläufig einstufen. 167) Oder anders ausgedrückt: wie die religiöse sucht auch post-religiöse Glaubenspraxis immer erneut nach Wegen vom sagbaren (Detail)wissen zum unsagbaren Ganzen und umgedreht. So werden heute Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften – von der Quantenphysik, der Thermo- und der nichtlinearen Dynamik über die Evolutionsbiologie bis zu den Öko-wissenschaften – in ganzheitlichen, natur- und kulturphilosophischen Entwürfen verarbeitet, die auch eine kritische Selbstbeobachtung der westlichen Kultur und ihres weitgehend auf Objektivierung und technische Nutzung verkürzten Umgangs mit Natur beinhalten. Beispiele dafür sind, vor allem auf Quanten- und nicht-lineare Dynamik gestützte Naturphilosophien (z. B. von Ilya Progogine, Hans Peter Dürr, Friedrich Cramer u. a.), „New Age“, „Gaia Theorie“ u. a. Zur kultur- und geisteswissenschaftlich inspirierten kritischen Selbstbeobachtung westlicher Kultur gehören beispielsweise (bereits skizzierte) Gehalte in den Philosophien des Humanismus und der Renaissance, des Rationalismus, der Aufklärung und der Romantik. Später kommen die Geschichtsphilosophien von Hegel und Marx, Sohn-Rethel, Bloch, Benjamin u. a., die Frankfurter Schule – von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu Jürgen Habermas und Karl Otto Apel und weiter zu Axel Honneth und Hans Joas einerseits und zu Ulrich Oevermann andererseits. Ferner gehören dazu auch der französische Strukturalismus (Foucault u. a.), Luhmanns Systemtheorie und der Dekonstruktivismus von Jaques Derrida sowie auch Theorien zur sozialen Gerechtigkeit (Rawls, Sandel u. a.) in der Gesellschaft und Theorien zur Gemeinschaftsbildung wie der Kommunitarismus (Etzioni, Walzer, Taylor u. a.). Diese und weitere theoretische, philosophische und ethische Ansätze kann man als Beiträge zu einer post-religiösen Selbstbeobachtung westlicher Kultur verstehen, die teilweise konvergieren und sich ergänzen. Insofern und soweit diese sich um eine angemessene Komplexität bemühen und versuchen, Erfahrung und „Öffnung“ (zum „Nicht-Identischen“) mit Begrifflichkeit und „Schließung“ (in der Theoriebildung) auszubalancieren, kann man sie zu Recht auch als post-logozentrisch charakterisieren. Wie die Religionen reflektieren auch diese post-religiösen Weltmodelle Handlungslogiken, Deutungsmuster und normative Orientierungen, die schon in den alltagspraktischen Vollzügen und als intuitive Sittlichkeit evolutionär entstanden und mehr oder weniger ausdifferenziert sind. Das betrifft die ästhetisch kreativen Gehalte der Alltagspraktiken, die Praktiken der Objektivierung und technischen Transformation und Nutzung der Welt, der Gesellschafts- und Gemeinschaftsbildung und ihre implizite Ethik, die auch in diesen post-religiösen Weltmodellen reflektiert und expliziert, zu Entwürfen des „Ganzen“ verbunden werden – und von hier aus teilweise auch in Orientierungen und Zielsetzungen der Mitgestaltung und Selbsttransformation westlicher Kultur münden. Auch bestärkt durch Erkenntnisse der Quantenphysik, der Evolutions- und Neurobiologie scheint heute der Glaube an Überzeugungskraft und Anhängern zu gewinnen, dass die gewordene und werdende, natür128

liche und kulturelle Welt, in der wir uns vorfinden, ein selbstorganisierter schöpferischer Prozess ist, der kunstähnliche Züge aufweist und auch aus diesen Gründen mit den Mitteln objektivierender Wissenschaften alleine nicht hinreichend verstanden – und ausschließlich angeleitet durch diese auch nicht angemessen mitgestaltet werden kann. Damit wird nicht nur der traditionellen Metaphysik, sondern auch der religionskritischen Selbstbeobachtung dritter Ordnung und ihrem Universalitätsanspruch, mit dem die neuzeitliche Wissenschaft angetreten ist, ein Stück Boden entzogen. Nämlich der Vorstellung einer objektiv gegebenen, durch (ewig geltende) Gesetze strukturierten Welt, der die Menschen gleichsam gegenüberstehen und die „in the long run“ grundsätzlich – durch begriffliche Anstrengung und durch zirkuläre Koppelung von empirischer Datenerhebung und Theoriebildung – erkennbar und auf dieser Grundlage auch (tendenziell grenzenlos) formbar ist. Unabhängig vom Grad ihrer Ausdifferenziertheit und dem Ausmaß ihrer Komplexität können sich in diesem Rahmen Beobachtungen und Selbstbeobachtungen nicht mehr als wahr, sondern immer nur als vorläufig hinreichend im Sinne von viabel betrachten. Auch die Beobachter vierter Ordnung sind immer und vielleicht (wegen der Komplexität ihrer Weltentwürfe) sogar im besonderen Maße „Erfinder“ und „Gläubige“. Selbstbeobachtung vierter Ordnung kann durch Reflexion der impliziten Ästhetik, schöpferischen Dynamik und Zukunftsoffenheit natürlicher und kultureller Entwicklung eine philosophische Kritik logozentrisch verkürzter Weltbilder inspirieren, die den „objektivistischen Schein“ (Jürgen Habermas), den die Wissenschaften forschungspragmatisch wohl unvermeidlich erzeugen, zu Modellen „ganzer Welten“ verallgemeinern. Denn mit den Ansätzen zur Selbstbeobachtung vierter Ordnung ist u. a. auch die Einsicht verbunden, dass Beobachtung und Selbstbeobachtung sich nicht mehr naiv als Bezugnahme auf etwas Gegebenes, sondern sich immer schon als Teil und Formbildung der Welt, die sie zu beobachten suchen, verstehen müssen. 168) Selbstbeobachtung vierter Ordnung impliziert die Annahme, dass strukturähnlich zur Einbettung organischer Formbildung und neuronaler Musterbildung in dynamischen, alles mit allem verbindenden Netzwerken auch die daraus emergent hervorgehenden (das heißt bislang unverstandenen) Vollzüge subjektiven Geistes, also auch das menschliche Beobachten, Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln, Kommunizieren und Bewusstsein sowie Selbstbeobachtung und Selbstbewusstsein diesseits ihrer welterfindenden, ‑objektivierenden und ‑konstruierenden Leistungen in diese (nie vollständig erschließbare) Netzwerkdynamik eingebettet und mit ihr verflochten bleiben. Ein Beobachterstandpunkt, der in diesem „Fluss“ sich selbst und die Welt fixiert, kann dann nur noch explizit fingiert und vorübergehend im Rahmen einer hypothetischen Glaubenspraxis eingenommen werden – wozu auch, wie gesagt, die hier versuchte Rekonstruktion einen Beitrag zu leisten sucht. Mit Blick auf die Objektivierung der Welt werden ihre Grenzen und die implizite Ethik der (unabschließbaren) Wahrheitssuche in einer Naturphilosophie (Hans Peter Dürr u. a.) explizit gemacht, die die Erkenntnisse moderner Naturwissenschaften interpretiert und, wie schon angedeutet, interessante Berührungspunkte mit einer vernunftkritischen Kulturphilosophie aufweist, die vor allem ästhetische Praxis und Erfahrung als „Öffnung zum Nicht-Identischen“ (Theodor W. Adorno) reflektiert. Ferner finden die „Kreativität sozialen Handelns“ (Hans Joas) und ethische Regulative sozialer Praxis und „kommunikativen Handelns“ (Jürgen Habermas), „reziproke Anerkennung“ (Axel Honneth) und Gerechtigkeit schwerpunktmäßig ihre Explikation in kritischen Gesellschaftstheorien, während liberale Gerechtigkeitstheorien (z. B. von John Rawls) bestimmte Teilaspekte von Gerechtigkeit, wie Verteilungs‑, Leistungs- und Chancengerechtigkeit reflektieren, die in der Gesellschaftsbildung und in der intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen schon angelegt und mehr oder weniger wirksam sind. Schließlich reflektiert und expliziert der Kommunitarismus (Amitai Etzioni u. a.) ähnlich wie das Laienchristentum, nun aber überwiegend post-religiös die Logik und Ethik der sozialisatorischen Praxis und Gemeinschaftsbildung. Diese Reflexionen und Explikationen werden im Folgenden in groben Zügen und exemplarischen Ausschnitten dargestellt. 129

Moderne Naturphilosophie als Beitrag zur kulturellen Selbstbeobachtung „Ich halte die Naturwissenschaft für einen integrierenden Teil unseres Bemühens, Antwort zu finden auf die eine große philosophische Frage, die alle anderen in sich begreift und die Plotin in die kurzen Worte gefasst hat: Wer sind wir denn eigentlich? Mehr als das: Zur Aufhellung dieser Frage beizutragen, scheint mir nicht sowohl eines ihrer Ziele als vielmehr ihr eigentliches Ziel, das einzige, das zählt.“ (Erwin Schrödinger) Die modernen Naturwissenschaften – von der Physik und Chemie über die Biologie bis zur Neurobiologie und Kognitionswissenschaft – haben sich bis heute in einer Weise ausdifferenziert und (ambivalente) Potentiale einer technisch objektivierenden Mitgestaltung der Natur, der menschlichen Natur und der Kultur hervorgebracht, die ihre genauere Reflexion und einen umfassenderen Einbezug in eine kritische Theorie und Selbstbeobachtung der Kultur und darin der westlichen Kultur fordern. 169) Der reduktionistische Naturalismus, der mit der Natur tendenziell auch kulturelle Ordnungsbildung als eine deterministische „Mechanik“ zu fassen suchte, wird heute zunehmend durch einen erweiterten Naturalismus abgelöst, der nun tendenziell die Natur als eine geistige, nicht durchgehend deterministische und in gewisser Weise schon kulturähnliche und ‑bahnende Netzwerk- und Ordnungsbildung versteht. In Konsequenz fortschreitender naturwissenschaftlicher Objektivierung ist die Quantenphysik mit dem „Sowohl als auch“ von Teilchen und Welle auf die Nicht-Objektivierbarkeit der Natur gestoßen und hat uns mit der Erfahrung und (An)erkenntnis des Nicht-Identischen auch zur Einsicht in die Grenzen unseres subjektiven Geistes und unseres auf Objektivierung gestützten Wissens geführt. Genauer betrachtet und reflektiert, „ist die Welt nicht wissbar“ (Hans Peter Dürr) und unser (vermeintliches) Wissen das Ergebnis einer (spezifisch westlichen) „Hineinkonstruktion“ von Ordnung in eine uns unbekannt bleibende Dynamik und Befindlichkeit der Welt. Diese „Hineinkonstruktion“ einer objektiven Welt ist zwar in vieler Hinsicht erfolgreich, wird sich aber (ähnlich wie die frühkulturelle Beseelung und die hochkulturelle Moralisierung der Welt) in the long run als unzureichend, ja irreführend und nicht viabel erweisen, wenn und wo sie sich ausschließlich auf objektivierende Umweltbezüge und wissenschaftliche Begriffssysteme beschränkt. Vielmehr gehören, wie versucht wurde zu zeigen, auch ästhetische Praxis und Erfahrung, Resonanz, Kohärenz und Virtualisierung des Gegebenen, das Zulassen subjektiver Empfindungen und Gefühle, und eine „Fuzzy-Logik“ des unscharfen, flüssigen Denkens, des „träumenden“ und des „ahnenden“ Geistes zu unserer kulturellen Lebensform und zu ihrer „werdenden Vernunft“. All dies charakterisiert die Entwicklung einer viablen, Öffnung und Schließung ausbalancierenden Eigenkomplexität der kulturellen Ordnung wie auch der menschlichen Persönlichkeit. Mit dieser Einsicht trifft sich die quantenphysikalisch inspirierte Naturphilosophie mit Intuitionen und Alltagserfahrungen vieler Menschen wie auch Gehalten asiatischer Wahrnehmungs- und Glaubenspraktiken.

Wachsender Einfluss fernöstlicher Philosophien Heute scheinen zunehmend mehr westlich geprägte Menschen in fernöstlichen Religionen eine neue Zuflucht zu suchen und vor allem im Buddhismus eine befreiende Antwort auf westliche Engführungen von Alltags- und Glaubenspraxis zu finden. Das ist einerseits mit den psychischen Belastungen des Konsumismus zu erklären, denen man in einer Philosophie des „Loslassens“ und der Vereinfachung des Lebens zu 130

entkommen trachtet. Tiefer gehend kann man hier aber auch Anzeichen einer Abschiednahme vom jüdisch christlichen Erbe zugunsten einer gegenseitigen globalen Durchdringung westlicher Alltagspraxis und asiatischer Glaubenspraxis in einem westlich eingefärbten Buddhismus und Taoismus sehen. 170) Insofern könnte die Assimilation asiatischer Glaubenspraktiken auch Ausdruck einer aktuellen Transformation der Selbstbeobachtung im Entwicklungspfad westlicher Kultur sein, die – nach Beseelung, Moralisierung und Objektivierung in der kulturellen Evolution – nun Ästhetisierung und Virtualisierung als vierte Leistung humanspezifischer Praxis zu ganzheitlichen Weltmodellen universalisiert. 171) Darüber hinaus kommt den aktuellen Entwicklungen der quantentheoretischen und fernöstlichen Naturund Kulturphilosophie eine philosophische Vernunft- und Identitätskritik entgegen, die sich im Rahmen westlicher Kulturphilosophie und Geisteswissenschaften ausdifferenziert hat.

Philosophische Vernunft- und Identitätskritik Die Vorstellung, dass sich menschliches Denken und Handeln, wissenschaftliche Beobachtung und Selbstbeobachtung für die Zulassung des „Anderen“ und die Erfahrung des „Nicht-Identischen“ öffnen müssen, ist ein Erbe der romantischen wie auch der hegelschen Geschichtsphilosophie, das wohl am radikalsten im Werk von Theodor. W. Adorno wiederaufgenommen und nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Architektur seines Denkens, als Wiedereintritt des Ästhetischen in Prozess und Form der Theoriebildung selbst, ausgearbeitet wurde. Adorno hat – im Unterschied zu vielen Spielarten eines logozentrisch verkürzten Materialismus – konsequent post-logozentrisch gedacht. Das findet seinen Niederschlag in seinen „immanenten Analysen“ und in einer radikalen Kritik aller Gleichsetzungen von Begriff und Wirklichkeit als „Ideologie“. Adornos immanente Analyse ähnelt in ihrem Bemühen um adäquate (An)erkenntnis des nie völlig einholbaren materiell-geistigen Gehalts kultureller Vollzüge, der künstlerischen Praxis, in deren Interpretation sie oft so brillant und überzeugend ist. Es ist derselbe Prozess der „weichen Grenzziehung“ des Geistes, der Öffnung der Erfahrung und bewusstseinsbildenden Erkenntnis für das „Nicht-Identische“, der in Adornos Texten aber nicht zur gestalteten Einheit und Kohärenz eines Kunstwerks „gerinnt“, sondern als ein zukunftsoffenes experimentelles „Begriffsgewebe“ im Rahmen einer kritischen Selbstbeobachtung der Kultur gelesen werden kann. Immanente Analyse umschreibt den Versuch, die unaufhebbare Differenz des Begriffs zu dem, was er zu erfassen sucht, mit in den Begriff hineinzunehmen. 172) An die Stelle des deduktiven wie auch des induktiven tritt ein gewebehaftes Denken, das nicht zu Definitionen, sondern zu Konstellationen „gerinnt“ und vor allem von Ulrich Oevermann meisterhaft zur Methodik einer (selbst)kritischen Sozialwissenschaft weiter entwickelt wurde. 173) Adorno hat sein Verständnis des „Nicht-Identischen“ und seiner möglichen Erfahrung mit einer radikalen Kritik des Logozentrismus als „Urform der Ideologie“ 174) verbunden, die sich als zentrale Konstruktionsregel geistiger Gewalt und des „systemisch Bösen“ in der Kultur verstehen lässt (Dazu mehr in Kap. IV). Darüber hinaus ist Adornos Philosophie geleitet von der Vorstellung einer Humanität, die erst in der Versöhnung der Kultur und des Menschen mit dem, was immer einen Rest von Fremdheit behält: seiner inneren Natur und der Mitnatur, dem pflanzlichen und tierischen Leben zu finden und zu entwickeln ist. 175) Die ästhetische Kohärenz einer kulturellen wie auch persönlichen, „inneren Landschaftsbildung“ wird hier als Modell einer zwanglosen Einheit des Vielfältigen, einer bis heute logozentrischen und zwanghaften Abstraktion und Vereinheitlichung in der kulturellen Praxis und in der Persönlichkeit entgegengesetzt. Für Adorno konnte sich in der Gegenwart eine zwanglose Einheit des Vielfältigen nur in gelungener Kunst als „Vorschein von Versöhnung“ andeuten, während er die gegenwärtige westliche Kultur als „vollendete Negativität“ beschrieb, in der er Potentiale einer Versöhnung nicht zu sehen vermochte. Mit Adorno ist festzuhal131

ten, dass der patriarchale und logozentrische Umgang mit dem Nicht-Identischen und seine angstgetriebene, zwanghafte Vereinnahmung oder Exklusion der Kultur bis heute eine pathologische Drift zur Gewalt verleihen. Aber über Adorno hinaus ist erkennbar, dass nicht nur die Kunst, sondern die kulturellen Alltags- und Glaubenspraktiken bis heute auch immer erneute Möglichkeiten und Anläufe einer post-logozentrischen Erfahrung und Anerkenntnis des Nicht-Identischen – durch Balance von „Öffnung“ und „Schließung“ in weichen Grenzziehungen – hervorgebracht haben und der heutige Zustand der westlichen Kultur (noch) weit von „vollendeter Negativität“ bzw. „negativer Totalität“ entfernt ist.

Kritische Vernunftphilosophie und Gesellschaftstheorie Während Adornos Vernunftkritik den westlichen Bürgern über ihre philosophische und ästhetische Sensibilisierung in der Erfahrung und Interpretation der Künste hinaus Perspektiven einer radikalen (Selbst) reflexion und ‑kritik der westlichen Kultur und des „systemisch Bösen“ in ihr erschlossen hat, hat Jürgen Habermas in seiner kritischen Vernunftphilosophie das „systemisch Gute“ der westlichen Kultur und darin vor allem der Gesellschaft systematisch und differenziert herausgearbeitet. Während Adorno, teils implizit, teils explizit einem Verständnis von Kultur (im Sinne der gesamten menschlichen Lebensform) folgte, das sich von der Idee ihrer möglichen Versöhnung mit (innerer und äußerer) Natur leiten ließ, hat Jürgen Habermas die evolutionären und geschichtlichen Voraussetzungen sowie die normativen, kommunikativen und institutionellen Rahmenbedingungen einer möglichen friedlichen Koexistenz einander fremder Menschen und Lebensformen in einer auf reziproke Anerkenntnis, sprachliche Verständigung, demokratische Willensbildung und Recht gestützten Bürgergesellschaft expliziert. Jürgen Habermas hat, neben seinen umfangreichen Beiträgen zur theoretischen Vernunft, zur Wissenschaftstheorie, zur Logik der Sozialwissenschaften u.  a. in beeindruckenden, tiefgehenden und umfangreichen Anläufen die praktische Vernunft der Menschengattung und darin der westlichen Kultur und ihre Potentiale rekonstruiert. Nach der Rekonstruktion der impliziten praktischen Vernunft der kulturellen Lebensform im Rahmen einer „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“ 176), ihrer daran anschließenden Rekonstruktion als „kommunikative Vernunft“. 177) und der Explikation ihrer impliziten Geltungsansprüche in einer Diskursethik 178) hat Jürgen Habermas ihre westliche Ausdifferenzierung im Rahmen einer Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats stringent und überzeugend nachvollzogen. 179) Dabei teilt Habermas mit Adorno die antipositivistische Haltung, dass Philosophie und Soziologie die regulative Idee einer vernünftigen Ordnung der menschlichen kulturellen Lebensform und darin der Gesellschaft nicht aufgeben sollten.

Gerechtigkeitstheorien Im Rahmen einer post-religiösen kritischen Rekonstruktion und Explikation der Gesellschaft und ihrer impliziten Ethik hat insbesondere Axel Honneth in Anlehnung an Hegels praktische Philosophie ein auf reziproke Anerkennung gestütztes Verständnis von Rechtsgleichheit als theoretischen und normativen Bezugsrahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie und einer „normativen Kommunikationstheorie“ entwickelt. 180) Honneth hat seine Position vielfältig expliziert und u. a. auch mit einer Kritik des Kommunitarismus einerseits und des Liberalismus andererseits verbunden. 181) Aus der Perspektive einer kritischen, in der Tradition von Hegel, Marx und Habermas begründeten Gesellschaftstheorie wird nämlich erkennbar, dass sowohl der Kommunitarismus wie auch die liberalen Vertragstheorien der Gesellschaft zwar in Verständnis und Begründung von Gerechtigkeit wichtige Aspekte 132

reflektieren, aber dabei beide zu kurz greifen: der Kommunitarismus, indem er tendenziell gesellschaftliche auf gemeinschaftliche Beziehungen verkürzt und die liberalistischen Vertragstheorien, indem sie einem individualistisch verkürzten Konzept von subjektiver Freiheit folgen und diese auf ein „individuell besitzbares Gut“ (Axel Honneth) reduzieren. 182) Demgegenüber sollte „eine politische Ethik (…) auf die Qualität der gesellschaftlich gewährleisteten Anerkennungsbeziehungen zugeschnitten sein (…): Die Gerechtigkeit oder das Wohl einer Gesellschaft bemisst sich an dem Grad ihrer Fähigkeit, Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung sicherzustellen, unter denen die persönliche Identitätsbildung und damit die individuelle Selbstverwirklichung in hinreichend guter Weise vonstattengehen kann.“ 183) Damit ist eine implizite Normativität gesellschaftlicher Praxis rekonstruiert, die einen Bezugsrahmen der Analyse und Kritik ihrer geschichtlichen Ausformung und Gegenwart bilden und Orientierung für ihre zukünftige Mitgestaltung anbieten kann. Denn in diesem Rahmen können soziale Konflikte als Kämpfe um Anerkennung verstanden werden, die in der Geschichte der Gesellschaft „progredieren: Denn stets kann wieder unter Anwendung eines allgemeinen Prinzips der wechselseitigen Anerkennung eine je spezifische, relative Differenz eingeklagt werden, die normativ eine Erweiterung der eingespielten Anerkennungsverhältnisse erzwingt.“ 184) Und mit Blick auf Analyse und Kritik der Gegenwart kann dann „die Erfahrung des Entzugs von sozialer Anerkennung, von Entwürdigung und Missachtung im Zentrum eines sinnvollen Begriffs gesellschaftlich verursachten Leids und Unrechts (…) stehen.“ 185) Auch Axel Honneth folgend scheint die Gesellschaft immer schon normativ verfasst zu sein. Denn die sie konstituierenden Interaktionen der Individuen sind auf ihre wechselseitige Anerkennung als Träger gleicher Rechte, wenn nicht ausgerichtet so doch diese als Möglichkeit enthaltend. Und nur im Rahmen dieser reziproken Anerkennung können die Menschen ihre Persönlichkeit und Freiheit entfalten. Axel Honneth bietet eine kritische Gesellschaftstheorie an, die eine deskriptiv analytische Theorie des Sozialen mit einer normativen politischen Ethik und einem Orientierungs- und Legitimationsangebot für emanzipatorische Bewegungen verbindet. In diesen Rahmen können auch Beiträge der liberalen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls wie auch des Kommunitarismus gewürdigt, in ihren Grenzen reflektiert und einbezogen werden. John Rawls hat in seinem Verständnis von Gerechtigkeit Leistungen und Ansprüche expliziert, die in der Gesellschaftsbildung (als Ausgestaltung der Kooperation zwischen einander Fremden) schon implizit wirksam sind und sich im westlichen Pfad bis heute weiter ausdifferenziert haben. Dazu gehören die Bereitschaft und Befähigung zur gemeinsamen Suche nach und Einigung über Gerechtigkeit, die Kooperation und Gesellschaft (auch über die „Gefäße“ der Nationalstaaten hinaus) erhalten, sichern und ausbauen und damit die Viabilität der westlichen Kultur bahnen und stützen können. Wie Kant stattet auch Rawls die Menschen mit einem genuin ethischen Vermögen aus, das diese – über die Bindung an und Einsicht in das, was jeweils substantiell als das „Gute“ identifizierbar ist, hinaus – auch befähigt, sich über Gerechtigkeit zu verständigen und nach Gerechtigkeit stiftenden und gewährenden Regeln sozialen Handelns zu suchen. 186). Die gemeinsam geteilten Grundsätze der Gerechtigkeit kann man sich als Ergebnis einer Verhandlung von Bürgern vorstellen, die hinter einem „Schleier des Nicht-Wissens“ stattfindet. 187) Die von Rawls fingierte Situation der ursprünglichen Gleichheit und die darin unterstellte Bereitschaft und Fähigkeit zur gemeinsamen Suche nach Gerechtigkeit setzt allerdings den Vollzug der von Honneth analysierten interaktiven Praxis und das hier entstehende Verhältnis reziproker Anerkennung schon voraus. Insofern bildet die reziproke Anerkennung einen schon vorgängig konstituierten Rahmen, in dem dann auch, Rawls folgend, über Gerechtigkeit in ihren vielfältigen Aspekten, über Verteilungs- und Bedarfsgerechtigkeit, über Beteiligungs‑, Chancen- und Leistungsgerechtigkeit, über Gleichberechtigung und Generationengerechtigkeit u. a., verhandelt werden kann, die bis heute und vor dem Hintergrund der aktuellen ökonomischen und sozialen Polarisierungen verstärkt die öffentliche Diskussion prägen. 133

Theorien der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung Ähnlich wie schon mit Blick auf die Gesellschaft gibt es auch zur Gemeinschaftsbildung (neben der religiös verwurzelten) eine post-religiös begründete Reflexion und Selbstbeobachtung, die entsprechende Ansätze zur Mitgestaltung von Gemeinschaften orientieren und anleiten können. Dazu zählt insbesondere der Kommunitarismus. Dieser hat die implizite Ethik und intuitive Sittlichkeit sozialisatorischer Praxis und Bindung in Nahbeziehungen explizit gemacht und damit bis heute viele Gemeinschaft entfaltende und pflegende Bürgerbewegungen orientiert. 188) Man kann den Kommunitarismus, der sich selbst häufig als Kritik des Liberalismus und auch der kritischen Gesellschaftstheorie versteht, eher als ihre Ergänzung verstehen. Gesellschaft kann als soziale Ordnung von Fernbeziehungen nicht in der Gemeinschaftsbildung sozialisatorischer Nahbeziehungen, sondern muss in der reziproken Anerkennung zwischen Fremden begründet werden, wie umgedreht Gemeinschaft nicht darin, sondern in der Ausgestaltung sozialisatorischer Bindungen in Nahbeziehungen verwurzelt ist. Im westlichen Pfad haben Gesellschaft und Gemeinschaft sich gegenseitig stützend ausdifferenziert und dürfen in ihrer Reflexion und Mitgestaltung nicht zugunsten der einen oder anderen Seite verkürzt werden. Eine Missachtung der Gesellschaft und der ihr eigenen (über Kooperation und reziproke Anerkennung vermittelten) Solidarisierung von einander Fremden zugunsten der Universalisierung einer missverstandenen (Volks)Gemeinschaft und ihrer affektiven Bindungen hat bereits einmal den Faschismus gebahnt. Und umgedreht besteht die Gefahr, dass unsere kulturelle Lebensform „austrocknet“, wenn hier nicht die vielfältigen Ausprägungen von Gemeinschaft, gemeinschaftlicher Bindungen und affektiver „Brückenbildungen“ zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (an)erkannt, erhalten und gepflegt werden. 189) Hans Joas hat eine kritische Theorie der Gemeinschafts- und der Gesellschaftsbildung und ihrer Verflechtungen entwickelt, die – ähnlich wie Axel Honneth – eine empirische und kritische Analyse des Sozialen in der westlichen Kultur mit einer normativen politischen Ethik und einem Orientierungs- und Legitimationsangebot für emanzipatorische Bewegungen und zivilgesellschaftliche Mitgestaltung verbindet. Vor allem gestützt auf die Rekonstruktion „praktischer Intersubjektivität“ bei George Herbert Mead 190) und in Verarbeitung des amerikanischen Pragmatismus 191) hat Joas eine Theorie sozialen Handelns entwickelt, in deren Zentrum ein nicht-individualistisches Verständnis von Kreativität und ihrer Verankerung in der Logik sozialen Handelns steht. 192) In diesem Bezugsrahmen lassen sich einerseits die aktuell verbreitete individualistische Verkürzung und „Zelebrierung“ von Kreativität wie auch ihre verzerrten Ausdrucksformen in eruptiver Gewalt kritisch analysieren. 193). Andererseits können mit dem Konzept einer „integrierten Kreativität“ 194), die sich vor allem in der sozialen und politischen Partizipation 195) in Gemeinschaften und in der Gesellschaft entfalten kann, auch wünschenswerte Entwicklungen in Richtung Zivilgesellschaft und Orientierungsangebote für Bürgerbewegungen umrissen werden. Versuche und Anläufe zur Mitgestaltung dieser wünschenswerten Entwicklungen können sich auf die ästhetischen Ressourcen der Alltagspraktiken, ihre „integrierte Kreativität“ und darüber hinaus, wie schon ausgeführt, auf ihre implizite Ethik – ihre Ausrichtungen auf Gelingen von Gemeinschaft durch reziproke Empathie, von Gesellschaft durch reziproke Anerkennung und von Technik durch gemeinsame Wahrheitssuche – stützen und die entsprechend ausdifferenzierte intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen mobilisieren. Was in der hier verwendeten Terminologie als implizite Ästhetik und Ethik der Alltagspraktiken und als intuitive Sittlichkeit ihrer Akteure beschrieben wird, lässt sich, wie schon angedeutet, der Sicht von Emile Durkheim und Hans Joas folgend, als „integrierte Ideale“ verstehen. „Das soziale Leben schafft (…) Ideale, die weder auf individuelle Vorstellungen noch auf ‚idealfreie‘ materielle Verhältnisse reduziert werden dürfen. Die Entstehung von Idealen ist kein ‚Luxus, den der Mensch entbehren könnte‘, sie ist vielmehr eine Bedingung für die Existenz von Gesellschaften … Zu einer Gesellschaft (…) gehört zentral die Idee, die sie sich von sich 134

selbst macht und der sie nicht notwendig entspricht. Der Prozess der Entstehung von Idealen ist mit dem Prozess der Entstehung des Selbstbilds von Kollektiven verknüpft. Darin liegt die Chance zur Selbstveränderung der Kollektive im Sinne ihrer Ideale, aber auch die Gefahr einer Verwendung der Ideale für die Selbstsakralisierung des Kollektivs.“ 196) Wie das modernisierte Christentum leisten auch die skizzierten post-religiösen Modellierungen –die moderne Naturphilosophie, Vernunftkritik und Vernunftphilosophie und die Theorien der Gesellschaft und Gemeinschaft und ihrer Verflechtungen – bedeutsame Beiträge zur Rekonstruktion, zur Selbstbeobachtung, Selbstkritik und Mitgestaltung der westlichen Kultur. Ihre Vertreter können als Natur- und Kulturphilosophen und als Gesellschaftstheoretiker wie auch als kritische Intellektuelle und als Bürger nicht nur durch Gehalte und Ergebnisse ihrer Arbeit, sondern auch durch ihre sich hier vermittelnde Haltung, durch Sachund Wahrheitsbezogenheit, Wahrhaftigkeit und Suche nach Gerechtigkeit, an die intuitive Sittlichkeit der Bevölkerungen anknüpfen, diese explizit machen und den Zeitgeist, das Fühlen und Denken, Glauben und Handeln von Bürgern beeinflussen. Ähnlich wie das moderne Christentum die beiden guten Seiten seiner Tradition, die Liebe und die Vernunft zu einer post-logozentrischen Selbstbeobachtung, Kritik und Mitgestaltung der Gegenwart zu verbinden sucht, kann man auch die post-religiöse, im Rahmen der kritischen Theorie und Philosophie entwickelte. rekonstruktiv verfahrende Selbstbeobachtung der (westlichen) Kultur weiterführen, indem man die Vernunftorientierung und den Universalismus der Aufklärung und die hierin begründeten Interpretationen bürgerlicher Freiheit – als Ergebnis reziproker Anerkennung, als „Autonomie“ durch Selbstgesetzgebung und als „Macht“ in demokratischer und partizipativer Mitgestaltung – mit einem im ästhetischen Umweltbezug, in einer vertieften Erfahrung und (An)erkenntnis der Natur und der menschlichen Natur begründeten Freiheitsverständnis verbindet,. Dem kommt heute auch die von der modernen Naturwissenschaft vermittelte Einsicht in die nie vollends kontrollierbare Selbstorganisation und Freiheit der Materie, des Lebens, der Kognition und der Kultur entgegen. Ein religiös wie auch post-religiös begründetes Zulassen der „Freiheit des Anderen“ (der inneren, der Mitnatur und des sozialen Fremden) eröffnet der kulturellen Lebensform und den Menschen eine Freiheit, die noch tiefer wurzelt als ihre Freiheit durch persönliche Autonomie, reziproke Anerkennung und Teilhabe an politischer Macht und zugleich über diese hinausgeht, sie in gewisser Weise „rahmen“ könnte. Als immer erneute Balance von „Öffnung“ in (christlicher) Liebe wie auch in ästhetischer Erfahrung und Kreativität mit „Schließung“ in vernünftiger und implizit ethischer Selbstgesetzgebung folgt kulturelle Alltagspraxis (immer auch) der regulativen Idee ihrer Versöhnung mit der menschlichen, mit der Mitnatur und dem sozialen Fremden und lässt sich, wie versucht wurde zu zeigen, als evolutionäre Ausdifferenzierung eines „systemisch Guten“ rekonstruieren. Diese Rekonstruktion kann als Orientierungsrahmen einer Selbstkritik und Mitgestaltung westlicher Kultur in emanzipatorischen Bewegungen dienen, die sich immer erneut daran entzünden, dass diese Balance – z. B. als gerechte Gesellschaft, als naturverträgliche Technik 197), als einer der menschlichen Natur angemessene Entfaltung und Bildung – bislang noch nicht hinreichend gesucht und verwirklicht wurde. Zu den Ergebnissen dieser wechselseitigen Durchdringung und Verstärkung nicht-logozentrischer Alltags- und post-logozentrischer, (religiöser und post-religiöser) Glaubenspraktiken gehört eine Sensibilisierung wachsender Bevölkerungsanteile: mehr Empathie und Mitgefühl für das Leid der Anderen, der „Fremden“ wie auch der Mitnatur, eine zunehmende Toleranz gegenüber Andersgläubigen, sowie eine wachsende Bereitschaft, ihre eigenen Glaubensgehalte und Orientierungen als hypothetische „Wahrheiten“ einzustufen, die sich argumentativ zu legitimieren und ihre praktischen Konsequenzen ggfs. auch einer öffentlichen, Überprüfung zu stellen haben. Wie diese und andere Errungenschaften und Qualitäten in den Einstellungen von Minderheiten, die man als „Verantwortungseliten“ bezeichnen kann, in emanzipatorischen Bewegungen zur Mitgestaltung des westlichen Pfads wirksam werden könn(t)en, wird uns später beschäftigen. 135

Zuvor werden die Ergebnisse der Rekonstruktion des systemisch Guten und der „werdenden Vernunft“ in der westlichen Kultur noch einmal zusammengefasst und zu einem „best case Szenario“ der Zukunft verdichtet.

v Zwischenbilanz: Die Systemarchitektur der westlichen Kultur Wir haben versucht, Kultur und in diesem Rahmen die westliche Kultur als eine Entwicklung zu rekonstruieren, die Konstruktionsregeln natürlicher und kultureller Evolution folgt und diese weiter ausdifferenziert. Wie in der Natur und in allen kulturellen Pfaden sind auch im westlichen Entwicklungspfad eigengeschichtliche phänotypische Form- und „Landschaftsbildung“ mit Systemevolution und ‑differenzierung zirkulär gekoppelt. Hier hat sich eine spätkulturelle Systemarchitektur („Grammatik“) als ein „systemisch Gutes“ und als „werdende Vernunft“ ausdifferenziert, die diese Landschaftsbildung in ihrem weiteren Verlauf bis heute (mit)strukturiert. Sie besteht aus den Systemen (Konstruktionsregeln) • der Gemeinschaft (Liebe, Familie, Freundschaft, Partnerschaft u. a.), die menschliche Natur dem Regulativ reziproker Empathie und Wahrhaftigkeit folgend in Nahbeziehungen post-personal, das heißt nicht begrenzt durch substanzielle und exklusive Menschenbilder subjektivieren und entfalten können; • der Gesellschaft (Markt, Staat und Demokratie), die dem Regulativ der reziproken Anerkennung und Gerechtigkeit folgend die Menschen in Fernbeziehungen post-moralisch, das heißt nicht durch substanzielle, von „oben“ verordnete Moral begrenzt, integrieren können; • der Technik (Werkzeug‑, Medien- und Wissenstechnologien), die die gesamte Natur-Kulturdynamik dem Regulativ der Sachbezogenheit und Wahrheit folgend post-gegenständlich-relational, das heißt nicht begrenzt durch (Ding‑, Seins- oder andere) Ontologien objektivieren, nutzen und mitgestalten können; • der Kunst (Literatur, bildende und darstellende Künste), die dem Regulativ der ästhetischen Kohärenz folgend post-substanziell, das heißt nicht begrenzt durch Religion, Moral, Ontologie, Wissenschaften, Menschen- und Weltbilder, u. ä. fiktive Welten entwerfen können; • der Wissenschaften (Natur‑, Sozial- und Geisteswissenschaften), die dem Regulativ der Wahrheit folgend nicht-logozentrisch, das heißt in immer erneuter Abgleichung von Erfahrung, Datenerzeugung und Hypothesenbildung Theorien erzeugen können; • der (religiösen und post-religiösen) Selbstbeobachtung in Glaubenspraktiken, die „ganze Welten“ entwerfen, die u. a. auch die implizite Ethik der Alltagspraktiken explizieren und dabei (den Wissenschaften ähnlich) sich ebenfalls nicht-logozentrisch, hypothetisch, „suchend“ und „tastend“, zukunftsoffen und menschenfreundlich ausgestalten könn(t)en; • der „Kultur der Kultur“: der (mediengestützten öffentlichen) Verständigung und Orientierungssuche), die eine pluralistische Selbstbeobachtung westlicher Kultur mit einer reflexiven Gedächtnisbildung (Hypolepse) und einer Suche nach Zukunftsorientierungen und neuen Wegen verbinden können. • und schließlich einem Rechtssystem, das fundiert im Universalismus der Menschenrechte auch eine approximative Durchsetzung dieser Geltungsansprüche in der westlichen Lebensform (und als „responsibility to protect“ darüber hinaus) bahnen, stützen und schützen kann. 198) Wie schon angedeutet, kann man sich diese, im westlichen Pfad ausdifferenzierte Systemarchitektur als „Tempel“ vorstellen: Hier bildet das System „Kultur der Kultur“ und die hier generierte Verständigung und Orientierungssuche ein „flüssiges“ Fundament, während die Systeme der Gemeinschaft, der Gesellschaft und der Technik, der Wissenschaften und der Künste sowie religiöse und post-religiöse Glaubenspraktiken die „Säulen“ und das Recht das „Dach“ bilden. 136

In diesem Rahmen leistet das westliche, in den universalen Menschenrechten begründete Rechtssystem „Schließung“ unter Bedingungen maximaler „Öffnung“ durch das System „Kultur der Kultur“. Oder anders ausgedrückt: Diese Koppelung kann wohl auf bislang höchstem Niveau die Entstehung, Stabilisierung und Reproduktion einer friedensstiftenden Gemeinsamkeit der Menschen durch Entfaltung und Pflege ihrer Verschiedenheit und Vielfalt hindurch realisieren. Die westliche Systemarchitektur bietet heute ein Möglichkeitsfeld, aus dem eine Vielfalt von Gestalten und Ausprägungen „werdender Vernunft“ hervorgehen könn(t)en. Die evolutionäre Ausdifferenzierung dieser Systemarchitektur ist im westlichen Pfad mit Durchsetzung und Gewinn, mit Erhalt und Ausbau persönlicher Freiheit der Individuen zirkulär gekoppelt. Nur in diesen Systemvollzügen und ihrer Verflechtung können die Individuen ihre relative Freiheit realisieren und umgedreht können sich diese Systeme mit ihrer impliziten praktischen Vernunft und „befreienden Normativität“ nur erhalten, stabilisieren und weiter ausdifferenzieren, wenn die Menschen sich als Bürger verstehen, diese Systeme (an)erkennen und pflegen, indem sie hier ihre (relative) Freiheit – auch in der Vielfalt ihrer Emanzipations- und Protestbewegungen bis heute – einfordern und ausüben, also einer „Normativität der Freiheit“ folgen. Die Individuen könn(t)en der „Normativität der Freiheit“ als Ausdruck ihrer intuitiven Sittlichkeit folgen, sofern diese nicht verdrängt oder verschüttet ist. Dabei kann man zumindest drei Ebenen des Gewinns und der Ausübung ihrer Freiheit unterscheiden. Diese zeigt sich in den Möglichkeiten und Fähigkeiten • zur Erfahrung und (An)erkenntnis der Freiheit innerer Natur, der Mitnatur und des sozialen Anderen. Dieser ästhetische Aspekt der Freiheit rückt die Befähigung der Menschen zur Öffnung für das Andere, zur Resonanz für das Nicht-Identische und zur Suche nach (gemeinsamen) Kohärenzen ins Zentrum und wird vor allem seit der Romantik reflektiert und expliziert, • zur Freiheit gegenüber innerer Natur, der Mitnatur und der Gesellschaft. Dieser liberale Aspekt der Freiheit akzentuiert die (relative) Autonomie der Bürger, ihre Befähigung zur Selbstbestimmung und ‑gesetzgebung und prägt vor allem die Staats- und Gesellschaftstheorien und ihren Einfluss auf die politischen Verfassungen seit der Antike über die Neuzeit bis heute, • zur Mitgestaltung der Welt, der menschlichen Natur, der Mitnatur und der Gesellschaft. Dieser demokratische Aspekt der Freiheit rückt die Befähigung der Bürger zur Ausübung politischer Macht und zur Mitgestaltung ihrer Lebensverhältnisse in den Mittelpunkt und prägt ebenfalls die Staats- und Gesellschaftstheorien und die politische Verfassungsgebung bis heute. Das Flechtmuster dieser drei relativen Freiheiten kann man als „vernünftige Freiheit“ (Hegel) oder auch als „werdende Vernunft“ von der brüchigen Freiheit und vermeintlichen Souveränität abgrenzen, die durch Unterdrückung innerer Natur, Ausbeutung der Mitnatur und soziale Herrschaft zu gewinnen sind. Die Ausübung dieser drei systemisch eröffneten Bürgerfreiheiten impliziert auch, dass nicht nur die sozialen Anderen, sondern auch die innere und die Mitnatur (über angemessene Erforschung und „Anwälte“) und in Zukunft wohl auch die artifizielle Intelligenz als „mitsprechende“, mit bestimmten Rechten auszustattende „Partner“ in die Mitgestaltung der kulturellen Lebensform einbezogen werden. Darüber hinaus sind biographische Entstehung, Entfaltung und „Ausleben“ dieser dreifachen Freiheit an „Bildung“ gebunden: • erstens im Sinne der Befähigung der Individuen zur Teilhabe an den nicht-logozentrischen Alltagspraktiken – zur reziproken Empathie und Mimesis, zu Mitgefühl und Fürsorge in Gemeinschaften, zur reziproken Anerkennung und Gerechtigkeit in der Gesellschaft und zur Sachbezogenheit und Wahrheit in objektivierenden (technischen und wissenschaftlichen) Umweltbezügen 137

• zweitens als Fähigkeit zur Reflexion und Explikation ihrer intuitiven Sittlichkeit und zur Teilhabe an einer rückhaltlosen und infiniten Verständigung über ihre (sozialisatorischen, sozialen, technischen wie ggfs. auch wissenschaftlichen und künstlerischen) Praktiken in der öffentlichen Selbstbeobachtung ihrer Lebensform („Kultur der Kultur“), wo die implizite Ethik dieser Praktiken als Geltungsansprüche einer „werdenden Vernunft“ explizit, diskutierbar und überprüfbar gemacht werden. Wie generell in der kulturellen Evolution sind auch im westlichen Pfad Kultur und Bildung zirkulär gekoppelt. Die westliche Kultur kann sich nur über anspruchsvolle Bildungsprozesse der involvierten Individuen erhalten, reproduzieren und weiterentwickeln und umgedreht können diese nur im Rahmen einer bereits hoch ausdifferenzierten westlichen Lebensform stattfinden. 199) Fassen wir zusammen: Die hier rekonstruierte Systemarchitektur westlicher Kultur und ihre implizite „befreiende Normativität“ haben sich im westlichen Pfad lange nach ihrer „Grundsteinlegung“ in der griechischen Antike in drei Schüben ausdifferenziert und lassen heute einen bevorstehenden vierten Entwicklungsschub in der Ausdifferenzierung der („von Natur aus“ nicht-logozentrischen) Alltagspraktiken, (der Gemeinschafts‑, Gesellschaftsbildung und der Technik) erkennen. Hinzu kommen die Ansätze einer (post-logozentrischen) Selbstbeobachtung vierter Ordnung, deren Keimbildungen ebenfalls bis ins antike Griechentum zurück reichen, in der Geistes- und Religionsgeschichte westlicher Kultur (vom Renaissance-Humanismus bis zur Romantik) immer wieder reaktiviert wurden und heute in religiösen, (christlichen, islamischen) und post-religiösen, (wissenschaftlichen, natur- und kulturphilosophischen), Ausprägungen an Prägnanz und Aktualität gewinnen, die teilweise auch durch östliche Philosophien und Weltsichten (z. B. Buddhismus) beeinflusst werden. All diese Errungenschaften lassen sich systemevolutionär als Ausdifferenzierung eines „systemisch Guten“ rekonstruieren und in reflexiver Perspektive als „werdende Vernunft“ im westlichen Pfad interpretieren – eine Entwicklung, die nur durch Mitgestaltung seitens engagierter Bürger möglich war, die ihrer intuitiven Sittlichkeit folgten und von kritischen Intellektuellen unterstützt wurden, auch indem diese ihre intuitive Sittlichkeit explizierten und interpretierten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wo heute entsprechende Potentiale eines engagierten Bürgertums in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen existieren: Bürger und unter diesen Intellektuelle, die die Errungenschaften spätkultureller Evolution nicht nur genießen und davon profitieren, sondern diese Errungenschaften im Bewusstsein ihrer Zerbrechlichkeit erhalten, verteidigen und ihre weitere Entwicklung und Ausdifferenzierung mit Gestalten könn(t)en.

III. 3 Lebensstile und Deutungsmuster, Glaubenspraktiken und Wertorientierungen in Europa und auf den globalen Wachstumsinseln Wie schon in den frühneuzeitlichen Städten und später in den Nationalstaaten verbinden sich auch heute auf den global verteilten Wachstumsinseln Arbeitsformen und Lebensstile, Einstellungen und Sichtweisen, Glaubenspraktiken, Werte und Erwartungen der Bürger mit einer (mehr oder weniger) professionalisierten Glaubenspraxis und Zeitdiagnostik der Experten und „Botschafter“ kultureller Selbstbeobachtung und bilden eine Mischung von Deutungs- und Wertemustern, die man als „Zeitgeist“ bezeichnen kann. 200) Das betrifft alle, nichtpolitische wie politische, reaktionäre und konservative, affirmative und emanzipatorische Strömungen und scheint – über alle in regionalen kulturellen Traditionen begründeten Differenzen 138

hinweg – die globalen Wachstumszonen in zunehmend ähnlicher Weise zu charakterisieren. In grober Betrachtung lassen sich hier Strömungen der Globalisierungsgewinner und der Globalisierungsverlierer sowie drei Strömungen der Politisierung, nämlich emanzipatorische, konservative und technokratische Bewegungen unterscheiden. Das wird im Folgenden genauer erläutert.

Der mainstream der Globalisierungsgewinner: neue Wertesynthesen, Ästhetisierung der Lebensstile, wenig Veränderungsbereitschaft und politisches Engagement „Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit.“ (Edmund Husserl) „Unsere Trägheit ist die größte Gefahr“ (Slavoj Zizek) Wie auf allen global vernetzten Wachstumszonen, die im dritten Schub spätkultureller Evolution entstanden sind, nähern sich auch in Europa die Globalisierungsgewinner nicht nur in ihren Arbeitsformen, sondern auch in ihren Lebensstilen, in Mentalitäten und Deutungsmustern, in ihren Wertorientierungen und Glaubenspraktiken einander an. Der mainstream verarbeitet und stützt Strukturwandel und Globalisierung, indem hier religiöse und post-religiöse, traditionelle und moderne Glaubensgehalte eher pragmatisch und spielerisch zu neuen Weltbildern und Wertesynthesen verbunden werden. 201) Hier dominieren pragmatische Wertesynthesen, die in den globalen Strukturwandel der Arbeits- und Lebensformen eingebettet sind, diesen reflektieren, auf ihn „antworten“ und ihn stützen. Dieser Strukturwandel hat hier in vielen Bereichen der beruflichen wie der privaten Lebens- und Freizeitgestaltung mehr persönliche Optionen und Freiheiten eröffnet und fordert damit auch mehr Urteils- und Entscheidungsfähigkeiten, was durch eine Aufwertung von persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung, der Individualität und Autonomie in persönlichen Deutungsmustern und Wertorientierungen gestützt und gerahmt wird. In diesem Rahmen können auch kollektiv und religiös, spezifisch kulturell und regional verwurzelte Identitäten zunehmend durch „gewählte Identitäten“ (Amartya Sen), nämlich arbeits‑, gruppenspezifisch und persönlich geprägte Selbstentwürfe und „patchwork-Identitäten“ angereichert, überlagert und abgelöst werden. Im Arbeitsleben gewinnen generalistische Kompetenzen wie ästhetische Sensibilität, Kommunikationsfähigkeit, selbständiges Denken und Kreativität, Verantwortungsbereitschaft, Identifikation mit der Arbeit, Führungs- und Teamfähigkeit neben fachlichen Qualifikationen immer mehr an Bedeutung. Insbesondere die jüngeren Generationen „antworten“ auf diese Anforderungen mit teils unbewusster Verinnerlichung und Anpassung, teils auch, indem sie solche Eigenschaften bewusst, in ihrem Wertesystem, in ihren Lebensentwürfen und in ihrem Selbstverständnis höher einschätzen und erstrebenswerter finden, was wiederum den Strukturwandel der Wirtschaft und Arbeit unterstützt und voranbringt.

Höhere Gewichtung post-materieller Orientierungen In den industriellen Wachstumszonen der Welt kommen mehr oder weniger große Anteile der regionalen Bevölkerungen zu (relativem) materiellem Wohlstand und können ihre persönlichen Konsumbedürfnisse umfassend erfüllen. Darüber hinaus bewirken hier Komplexität und Vielfalt gesellschaftlicher und medialer Einflüsse, städtische Lebensformen und das steigende Bildungsniveau, dass Bereitschaft und Fähigkeit 139

der Menschen zunehmen, bislang vermittelte traditionale Orientierungen und Identitäten, Bindungen und Werte kritisch zu reflektieren und zu relativieren und sich von ihnen mehr oder weniger zu distanzieren. Auch „sickern“ hier neue Sichtweisen und Deutungsmuster mit Blick auf Politik und Wirtschaft sowie Impulse zur persönlichen Lebensgestaltung aus gesellschaftskritischen Minderheiten – von Intellektuellen und Künstlern, aus der Ökobewegung und aus neuen sozialen Bewegungen wie Frauen‑, Friedens- und Multi-Kulti-Bewegungen, Zeitpionieren u. a. – in das Werte- und Orientierungsspektrum „ein“ und werden hier in Teilen „entschärft“ und in den Zeitgeist integriert. Ein Beispiel dafür ist die allmähliche Öffnung von bürgerlichen Mehrheiten und damit auch der Wirtschaft und der Politik für ökologisches Denken und grüne Politik, für Frauenemanzipation und Feminismus in den zurückliegenden Jahrzehnten in Europa. Als Folge dieser und anderer Veränderungen und Einflüsse haben in den Einstellungen und Lebensentwürfen sog. post-materielle Orientierungen, Selbstverwirklichungs- und emanzipatorische Werte sowohl gegenüber materialistischen wie auch in Abgrenzung zu konformistischen Orientierungen und sog. Akzeptanzwerten an Verbreitung und Gewicht gewonnen. 202) Der Trend zum Post-Materialismus und zur Distanzierung von Konventionen und traditionalen Loyalitäten reflektiert auch Wohlstandswachstum und relative soziale und ökonomische Sicherheit großer Anteile der Bevölkerungen in Europa und – mehr oder weniger ausgeprägt – auch in anderen globalen Wachstumszonen, schwächt sich aber ab, sowie Sicherheit und Wohlstand ihnen als gefährdet erscheinen. 203) Wenn und wo sich ökonomische Krisen, soziale Polarisierung, Verarmung und Arbeitslosigkeit ausbreiten, scheinen post-materialistische Orientierungen abzunehmen, die politischen Einstellungen und das Wahlverhalten konservativer zu werden und auch eine politische Fremdenfreundlichkeit, z. B. die Bereitschaft, Migranten aufzunehmen, rückläufig zu sein. In Teilgruppen können Krisen und bedrohliche Entwicklungen aber auch als Besinnung auf Wesentliches post-materielle Einstellungen, soziale Toleranz, politisches Engagement und Hilfsbereitschaft bestärken. 204)

Affirmation der Verwestlichung und Nutzung ihrer Freiheitsspielräume, aber wenig Bereitschaft zu Mitverantwortung und politischer Mitgestaltung In tendenziell allen industriellen Wachstumszonen der Welt bilden die Gewinnerpopulationen mit ihrem „Wertemix“ eine Mehrheitsströmung, die durch Verwestlichung entstanden ist und sich daher auch weitgehend affirmativ auf westliche Kultur bezieht. Die Frage ist allerdings, ob und wie weit diese großen Bevölkerungsgruppen ihrerseits intentional und bewusst zu Pflege und Erhalt des „systemisch Guten“, zur Stabilisierung und weiteren Ausdifferenzierung der „Tempelarchitektur“ der westlichen und sich verwestlichenden Kultur und ihrer „werdenden Vernunft“ beitragen können und wollen. Denn hier ist auch die Neigung weit verbreitet, sich im Bestehenden weitgehend kritiklos, ohne Ausblicke, ohne gemeinsame Visionen und Utopien und ohne politisches Engagement einzurichten. Diese Affirmation hat viele Facetten: Dazu gehören die Abkehr von Politik, der Rückzug in privates und Berufsleben, die Beschränkung auf Karriere und Professionalität, die persönliche Sinnsuche und Selbstfindung in spirituellen Gruppen, Sekten, in asiatisch geprägten Glaubenspraktiken etc. wie auch eine Ästhetisierung der Lebensstile, ein „Surfen auf den Wellen der Hyperkultur“ (Byung-Chul Han) im Rahmen eines Weltbürger-Habitus vor allem unter den politischen und wirtschaftlichen Funktionseliten – was sich hier gelegentlich mit arroganter Distanzierung von anderen Bevölkerungsgruppen, vom „spießigen“ traditionellen Mittelstand, über Globalisierungsverlierer bis zum Prekariat verbindet. (Siehe Kap. IV.) Akzeptanz des Rechtsstaats und der Demokratie, liberales Denken, Individualismus, Toleranz, Freiheitsliebe, Ansätze zum Post-Materialismus und Ästhetisierung der Lebensstile sind Errungenschaften spätkultureller Evolution. Auf den Wohlstandsinseln der Welt nutzen und genießen Globalisierungsgewinner 140

und Funktionseliten die Spielräume und Freiheiten, die ihnen die spätkulturelle Evolution und ihre Mitgestaltung – nicht nur durch Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker und Unternehmer, sondern auch durch freiheitsliebende, sozial und politisch engagierte Bürger unter ihren Vorfahren – eröffnet haben und gestehen diese Freiheiten auch ihren Mitmenschen zu. Auch folgen sie in der Ausgestaltung ihres Privatlebens zumeist der impliziten Ethik der Alltagspraktiken und ihrer intuitiven Sittlichkeit: Hier verhalten sie sich in großen Anteilen einfühlend und hilfsbereit, entfaltend und liebend, solidarisch, anerkennend und verständigungsorientiert, sachbezogen und wahrheitssuchend – und tragen insofern dazu bei, dass westliche Kultur, trotz vieler (selbst)destruktiver Potentiale (noch) in einem erstaunlichen Ausmaß eine humane Lebensform ist. Aber mehrheitlich sind die Globalisierungsgewinner unpolitisch: Sie wählen zwar in großen Anteilen Parteien der Mitte mit liberalen, demokratischen und ökologischen Programmen, bleiben aber „unsichere Kandidaten“, wenn es darum geht, die systemischen Rahmenbedingungen ihrer freien, humanen und ästhetisierten Lebensführung im öffentlichen und zivilgesellschaftliches Engagement zu erhalten, zu pflegen und ggfs. auch aktiv zu verteidigen. Zu vermuten ist, dass die Globalisierungsgewinner mehrheitlich – zwar nicht in ihrem Selbstverständnis, aber in ihrem Handeln – die westliche bzw. sich verwestlichende Kultur als ein „Hotel“ betrachten, in dem sie Anspruch auf gute Bedienung haben. Deshalb ist es fraglich, ob und wie weit hier, unter den Nutzern und Genießern der Errungenschaften des westlichen Pfads die Bereitschaft besteht, sich für den Erhalt dieser Errungenschaften auch engagiert und politisch einzusetzen, wenn diese gefährdet sind. Noch fraglicher ist, ob und wie weit sie bereit sind, sich persönlich für soziale Gerechtigkeit zu engagieren, sich für die Verlierer des Strukturwandels und der Globalisierung einzusetzen und an der Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse mitzuwirken.

Die Globalisierungsverlierer: Resignation, Abkehr und Revolte Rund um die Erde gibt es einen mehr oder weniger breiten Strom der Globalisierungsverlierer. Dazu gehören nicht nur arme und teilweise weiter verarmende Landbevölkerungen in Entwicklungsländern, sondern auch Anteile der Bevölkerungen in westlichen und sich verwestlichenden Kulturen. Das betrifft ältere Männer und Frauen, die im Zuge der Verlagerung von Produktionsstätten und Arbeitsplätzen in Billiglohnländern, in Verbindung mit Strukturwandel, Deindustrialisierung und Rationalisierung ihre Arbeitsplätze verloren haben, wie auch viele jüngere Menschen, die keine Chancen hatten und haben, sich für die neuen Arbeitsplätze zu bilden und zu qualifizieren. Dies führt hier vielfach zur Abkehr von Gesellschaft und gesellschaftlicher Mitwirkung, zur Resignation und Apathie und zur Flucht in religiöse und pseudo-religiöse Gemeinschaften 205), mündet aber auch in explosiv sich äußernde Unzufriedenheit mit der Politik, in Aggression gegenüber den Gewinnern und den etablierten Eliten und bildet somit einen Nährboden für die Entstehung von populistischen Bewegungen, Protestparteien mit autoritären Führern und weltvereinfachenden Deutungsmustern – bis hin zu Religion instrumentalisierenden terroristischen Bewegungen und Aktionen. (Dazu mehr in Kap. IV.)

Drei Strömungen der Politisierung: emanzipatorische, konservative und technokratische Bewegungen Die beiden globalen Hauptströmungen – der affirmative mainstream der Globalisierungsgewinner und der Strom der Verlierer – werden von Minderheitsströmungen gerahmt, die jeweils in spezifischer Weise, als emanzipatorische, als konservative und als technokratische Strömung religiöse und post-religiöse Glau141

bensgehalte politisieren und mit mehr oder weniger kritischen Diagnosen und expliziten Gestaltungsansprüchen auftreten. Sowohl emanzipatorische wie auch konservative bis politisch reaktionäre Bewegungen stützen sich auf kultur- und gesellschaftskritische Deutungsmuster, Einstellungen und Bewertungen. Schließlich gibt es auch noch, insbesondere unter Funktionseliten und Wissensarbeitern ein wachsendes technokratisches und neo-liberales Lager, das sowohl emanzipatorische („vorwärts zu“) wie auch konservative („zurück zu“) Bewegungen ablehnt und teilweise sogar Ethik und Werte generell, im Dienste vermeintlicher „Rationalität“ und mit Blick auf effizientes Management aus Politik und Wirtschaft heraushalten will. Im Folgenden beschäftigen wir uns ausführlicher mit den emanzipatorischen Strömungen und ihren glaubenspraktischen Hintergründen. Auf die konservativen, teils auch reaktionären und die neo-liberalen, teils auch technokratischen Zeitgeistströmungen kommen wir in Kap. IV zurück.

Kritische und emanzipatorische Strömungen: intuitive Sittlichkeit, Politisierung und Mitgestaltung „Ein Baum, der fällt, macht mehr Lärm als ein Wald, der wächst. Lasst uns deshalb dem wachsenden Wald lauschen.“ (Tibetanische Weisheit) „Ich sammle die Kräfte, die wir der Wirklichkeit entgegensetzen … Ich sammle die Auswege, die in jeder Katastrophe stecken.“ (Alexander Kluge) In der spätkulturellen „Landschaft“ haben sich inzwischen viele kultur- und gesellschaftskritische Strömungen herausgebildet, die sich für Erhalt und Schutz der Natur, für Gerechtigkeit und Demokratie, für eine demokratische, verständigungsfördernde und an Wahrheit orientierte Nutzung des Internets, für (digitale) Zivilcourage, gegen Fremdenfeindlichkeit und Wut- und Hasskultur, für die Entfaltung und Bildung des Menschen wie auch in Projekten der Entwicklungshilfe, der Migrantenbetreuung u.  a. einsetzen. In den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen sind solche Bewegungen sowohl Ausdruck ihrer fortgeschrittenen Demokratisierung, eines hier erreichten hohen Bildungsstands und des erreichten reflexiven Niveaus ihrer Selbstbeobachtung wie auch nachvollziehbare Reaktionen einer stärker werdenden Zivilgesellschaft auf Krisen und Defizite, auf Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit im westlichen Pfad. Im Unterschied zu rückwärts orientierten Initiativen wie auch in Abgrenzung zu technokratischen Tendenzen mit einem ökonomistisch verkürzten Fortschrittsverständnis fordern diese Bürgerbewegungen und ‑projekte (mehr) Gemeinwohl- und ökologische Orientierungen, (mehr) soziale und ökonomische Gerechtigkeit und gegen patriarchalen und autoritären Machtmissbrauch (mehr) Mit- und Selbstbestimmung und demokratische Verfahren. Ähnliche Forderungen prägten in Ansätzen schon die frühneuzeitlichen städtischen Gesellschaften, dann den „primären Entwicklungsnationalismus“ (Dieter Senghaas) der bürgerlichen Revolutionen in Europa und den USA, treiben bis heute soziale Bewegungen in westlichen und östlichen Nationalstaaten an und motivieren die auch an „kleinen Funken“ sich entzündenden Aufstände und Demokratiebewegungen in autoritären Staaten und gegen diktatorische Regime überall auf der Welt. Von den Arbeiterbewegungen und den Sozialdemokraten, die in Europa eine interne Ausdifferenzierung der Macht- und Handelsstaaten zu Sozial- und Wohlfahrtsstaaten herbeigeführt haben, über Frauen‑, Stu142

denten‑, Jugend- und Ökobewegungen bis hin zu den vielfältigen Jugend- und Bürgerprotesten (z.B. gegen den Klimawandel) und den Bewegungen gegen Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung heute handelt es sich um Anläufe einer zivilgesellschaftlich organisierten Mitgestaltung westlicher und sich verwestlichender Kulturen, die sich an ihren Defiziten und Krisen „entzünden“. Die überwiegend urban geprägten, und eher jugendlichen, gebildeten und qualifizierten Initiatoren und Akteure dieser Bewegungen gehören heute mehrheitlich zu den Gewinnern der Globalisierung. Sie zeigen nicht nur ein neues Arbeitsethos 206), sondern folgen auch (im Unterschied zu vielen „Wutbürgern“) ihrer intuitiven Sittlichkeit und orientieren sich an der expliziten Ethik westlicher Kultur, also an den Regulativen der Freiheit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie sind teils religiös, teils post-religiös, auch durch die skizzierten Weltsichten moderner und kritischer Philosophie, Kultur‑, Sozial- und Geisteswissenschaften und hier durch Arbeiten und Beiträge herausragender Intellektueller, Philosophen und Wissenschaftler inspiriert, orientiert und motiviert. Diese aktuellen weltweit entstehenden Emanzipationsbewegungen lassen sich als Ansätze und Keimbildungen einer globalen Zivilgesellschaft deuten, deren technische und geistige, religiöse und post-religiöse Ressourcen bereits beschrieben wurden. Gemeinsam ist diesen Bewegungen, dass die Akteure ihrer intuitiven Sittlichkeit nicht nur im Privat- und Berufsleben folgen, (wie wohl auch die Mehrheit innerhalb des mainstream), sondern diese Sittlichkeit politisieren, sie in Prozessen der (Selbst)verständigung als Leitideen und Werte explizieren, in deren Licht Missstände identifizieren und diese in Protesten und in vielfältigen Anläufen organisierter Mitgestaltung bearbeiten. Indem sie kurzfristig und konkret auf Missstände und Wege ihrer Behebung bezogen Petitionen zu formulieren und jeweils eine große Anzahl von Bürgern mobilisieren und zur Unterschrift motivieren, bilden viele Bürgerbewegungen in den westlichen und sich verwestlichenden Gesellschaften einen „Lobbyismus für Vernunft“, der schon heute und in Zukunft zunehmend dem Lobbyismus der Partikularinteressen entgegenwirken kann. 207). Darüber hinaus wirken die positiven Errungenschaften des westlichen Pfads – Demokratie und Zivilgesellschaft, freie Märkte und schützender Staat, Rechts- und Vertragssicherheit – hier bahnend und inspirierend. Das gilt nicht nur und wohl nicht mal in erster Linie mit Blick auf materielle Wünsche, sondern mehr noch mit Bezug auf die zumindest in Ansätzen verwirklichten Ansprüche und Versprechen eines selbstbestimmten Lebens ohne Herrschaft und Unterdrückung, in politischer Freiheit und Mitbestimmung, in sinnhafter Berufsarbeit und Tätigkeit, in gemeinschaftlichen erfüllenden und beglückenden Bindungen, als sinnenfrohes Leben, als Entfaltung der je eigenen Persönlichkeit und Urteilskraft in Lebenskunst u. a., die „ansteckend“ wirken und teils implizit, teils explizit zu Leitorientierungen sozialer und politischer Bewegungen geworden sind, die insbesondere von jungen Menschen weltweit initiiert und getragen werden. 208)

Ethik und Ökonomie der Fürsorge: Neue „Brückenbildungen“ zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft Heute bilden sich in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen immer mehr Netzwerke und Gemeinschaften heraus, die  –  wie ansatzweise schon in den frühneuzeitlichen Städten  –  affektive, geistige und praktische „Brücken“ zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft bauen, eine „post-traditionale Solidarität“ (Axel Honneth) in der Gesellschaft 209) und nicht-anthropozentrische Beziehungen zur Mitnatur einüben. 210) Die skizzierten vielfältigen Formen von Selbstorganisation und freiwilligen Initiativen und Engagements zur sozialen Hilfe sind Ausdrucksformen des „systemisch Guten“ und „werdender Vernunft“ in der westlichen Kultur und können hier zu seiner Stabilisierung beitragen und seine weitere evolutionäre Ausdifferenzierung in Richtung auf eine „vierte Kultur“ bahnen. 211) 143

Hier verbinden sich Bürger/​‑innen aller Altersgruppen und aus allen Professionen – Ingenieure, Ökonomen, Sozialwissenschaftler, Agrarwissenschaftler, Mediziner, Psychologen, Kommunikations- und Medienexperten – im Interesse der Entfaltung von Menschen, Gruppen und Regionen und mit Blick auf konkrete Entwicklungsprojekte. Das steht „quer“ zu politischen Institutionen und hat – was die Organisation betrifft – eher Züge von Unternehmen, von denen sie sich aber durch Non-profit-Orientierung absetzen. So formiert sich ein Potential sinnlicher Erfahrungs- und Gemeinschaftsfähigkeit, das verkürzte Rationalisierung, Anonymität und Austrocknung menschlicher Beziehungen wie auch politische Herrschaft, soziale Ungerechtigkeit und ökologische Gefährdungen in vielfachen Versuchen der Gegenwehr abzuschwächen und zu brechen sucht. Dass heute nicht nur eine zu politischer Indifferenz führende Privatisierung, sondern auch eine neue Politisierung (von Minderheiten) der BürgerInnen zu beobachten ist, die sich überwiegend mit Toleranz und Gewaltfreiheit verbindet, wird auch durch die Ausbreitung und Durchschlagskraft einer medien- und digital gestützten bürgerlichen Öffentlichkeit gebahnt, die qua Ursprung, Funktion und Struktur zur Politisierung religiöser wie post-religiöser Glaubensgehalte und Weltbilder beitragen kann. Was sich als implizite Ethik der Alltagspraktiken ausdifferenziert hat und in religiösen und nicht-religiösen Ethiken reflektiert und expliziert wird, was in großen Anteilen im Rechtssystem westlicher Demokratien „geronnen“ ist, ist auch einer wachsenden Anzahl von Menschen heute intuitiv einsichtig und wird darüber hinaus von gebildeten Minderheiten expliziert: ein Wissen, wie westliche Kultur „gelingen“, zukunftsfähig sein könnte, das ebenso zu den Ergebnissen kultureller Evolution gehört wie die Prozesse und Strukturen, Praktiken und Mentalitäten, die unsere Zukunftsfähigkeit gefährden. Das Motto eines vergangenen Kirchentags „Dem Menschen ist gesagt, was gut ist“ kann auch außerhalb christlicher und kirchlicher Tradition verstanden werden. Der Zusammenbruch der westlichen Kultur hätte vermutlich schon stattgefunden, wenn nicht überall und ständig viele Bürger in politischer Mitgestaltung der impliziten Ethik der Alltagspraktiken und ihrer intuitiven Sittlichkeit folgen und sich dabei auch an ihrer post-logozentrischen, religiösen wie auch post-religiösen Reflexion und Explikation orientieren würden.

u Ein „best case Szenario“ der Zukunft: Perspektiven und Potentiale für einen Übergang zur „vierten Kultur“ „Alles Neue kommt incognito“ (Eugen Rosenstock-Huessy) „Angesichts aller Mäander der Historie kann ich mir Deine Geschichte nicht ausmalen … Ich errate keine Zukunft mehr. Und weiß nicht, wie wir enden und auch nicht wo. Und doch weiß ich für Dich eine Geschichte über Landkarten.“ (Michael Ondaatje) Nach der Rekonstruktion der Systemdifferenzierungen und der psychischen und mentalen Errungenschaften westlicher und sich verwestlichender Kulturen stellt sich die Frage, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Der bisherigen Rekonstruktion und Analyse folgend lassen sich in der kulturellen Evolution und im westlichen Pfad folgende Potentiale einer Selbsttransformation in eine „vierte Kultur“ identifizieren: 144

• Ein universales, anthropologisches Potential für eine gelingende humane Ausgestaltung kultureller Lebensformen, das in der impliziten, „von Natur aus“ nicht-logozentrischen Ethik der drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken (Gemeinschaft, Gesellschaft und Technik) und in der intuitiven Sittlichkeit der Menschen angelegt ist. • Diese implizite Ethik wurde und wird im westlichen Pfad in Ansätzen einer post-logozentrischen Selbstbeobachtung vierter Ordnung, in religiösen und post-religiösen Weltbildern und Ethiken reflektiert und als Regulative reziproker Empathie und Wahrhaftigkeit in der Gemeinschaftsbildung, der reziproken Anerkennung und Gerechtigkeit in der Gesellschaftsbildung und der Sachbezogenheit und Wahrheit objektivierender und technikgenerierender Weltbezüge expliziert, die die weitere Entwicklung der Alltagspraktiken und ihre historisch vielfältigen Ausprägungen beeinflussen, orientieren und anleiten konnten. • In dieser zirkulären Koppelung der (von Natur aus) nicht-logozentrischen Alltagspraktiken mit den (in der kulturellen Evolution entstandenen) post-logozentrischen Glaubenspraktiken, in der wechselseitigen Beeinflussung, und Verflechtung und Formung ihrer historischen Vollzüge und durch ihre vielfältigen phänotypischen Ausprägungen hindurch konnte eine spezifisch westliche Systemarchitektur mit einer „befreienden Normativität“ entstehen und sich ausdifferenzieren. Damit verbunden hat sich auch die „psychische Innenseite“ dieser Systemevolution, die intuitive Sittlichkeit der Menschen und ihre Orientierung an einer „Normativität der Freiheit“ ausdifferenziert. Dieses systemische, institutionelle und mentale „Gerüst“ westlicher Kultur, aber auch die Diskrepanzen zwischen den hier entwickelten Ansprüchen und ihrer bislang unzureichenden Verwirklichung haben im westlichen Pfad eine Vielzahl von Freiheitsbewegungen, Revolutionen und Reformen hervorgebracht und nähren heute ökologische und emanzipatorische Bewegungen und Ansätze einer globalen Zivilgesellschaft, in der Frauen zunehmend an Einfluss zu gewinnen scheinen. • Ferner könn(t)en die gegenwärtige Herausbildung kontinentaler und transkontinentaler Wirtschaftsgemeinschaften zur Entstehung einer Weltgesellschaft beitragen, wenn es – auch und insbesondere über Druck einer sich globalisierenden Zivilgesellschaft – gelänge, die Regulative eines angemessenen Umgangs mit der Mitnatur, der Entfaltung menschlicher Natur sowie der sozialen Gerechtigkeit in diese Globalisierungsprozesse einzubeziehen. Die Bildung von kontinentalen und transkontinentalen Wirtschaftsgemeinschaften mit „weichen Grenzziehungen“ wird zunehmend gerahmt und gestützt durch eine post-territoriale und post-nationale Politik geteilter Souveränitäten, in der Regierungen weniger auf Abgrenzung und nationale Souveränität, auf (militärische) Sicherung, Kontrolle oder gar Erweiterung ihrer Territorien setzen, sondern vielmehr eine enge Abstimmung ihrer Außen‑, Sicherheits‑, Migrations‑, Handels- und Klimapolitiken anstreben. Insofern bilden sich hier Ansätze zu einer „internationalen Verpflichtungsgemeinschaft“ (Jan Philip Reemtsma), die man als Keimbildungen einer zukünftigen Weltgesellschaft verstehen kann. Dabei spielen u. a. die UNO und hier insbesondere Bemühungen um einen Machtzuwachs der UNO-Vollversammlung (gegenüber dem Sicherheitsrat), der Ausbau ihrer Interventions- und Mediationsmöglichkeiten, die Perspektiven eines besseren Einbezugs der nicht-westlichen Völker, Regionen und Nationen in globale Willensbildung und Entscheidungsfindung, die (Selbst)befreiung der Weltbank und des IWF von westlicher Dominanz wie auch die Initiativen, Projekte und Arbeiten im Rahmen des Entwicklungsprogramms UNDP eine bedeutsame und hoffnungsgebende Rolle. • In diesem und vermutlich nur in diesem Rahmen werdender menschlicher Vernunft, ihrer impliziten Ethik und einer daran orientierten intelligenten Mitgestaltung und lernenden Organisation – der globalen Verständigung und Orientierungssuche, politischer Steuerung, wirtschaftlicher Leistung und von Bildung und Wissen – wird in Zukunft eine natur- und kulturfreundliche Entfaltung und Nutzung der neuen Technologien möglich sein und sich Perspektiven und Wege einer Integration künstlicher Intelligenz eröffnen. 145

Zusammengefügt bilden diese Entwicklungen ein Potential der Selbsttransformation, das im Folgenden als ein „best case Szenario“ der Zukunft westlicher Kultur noch etwas genauer umrissen wird.

Die drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken beinhalten ein universales Potential der Humanisierung kultureller Lebensformen Zunächst können von „oben“, der etablierten Politik zugehörige und von „unten“, aus der Zivilgesellschaft kommende „change agents“, die sich für eine natur- und kulturfreundliche Globalisierung und eine werdende demokratische und gerechte Weltgesellschaft einsetzen, mit Resonanz in den Bevölkerungen rechnen, weil sie hier an ein universales anthropologisches Potential der Humanisierung kultureller Lebensformen anknüpfen können. Wie die (in Kap. I) versuchte Rekonstruktion 212) zeigen sollte, sind die Möglichkeiten einer Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ in der natürlichen Evolution und in der Kultur- und Menschwerdung verwurzelt, haben sich in der kulturellen Evolution und auch im westlichen Pfad ausdifferenziert und stellen heute ein systemisches, institutionelles und mentales Potential für eine humane Entfaltung und positive Integration kultureller Lebensformen in Europa und darüber hinaus dar. Denn in allen Kulturen bilden die „von Natur aus“ nicht-logozentrischen Alltagspraktiken – der Gemeinschafts‑, Gesellschaftsbildung und der Technik, ihre implizite Ethik (Ästhetik, Logik und Normativität) 213) und die in ihren Vollzügen entwickelte intuitive Sittlichkeit der Menschen – ein gemeinsames Fundament diesseits ihrer Differenzen und unterschiedlichen glaubenspraktischen (prä-religiösen, religiösen und post-religiösen) Prägungen, an das – z. B. im Rahmen von global orientierten und regional differenzierten Entwicklungs- und Bildungspolitiken – angeknüpft werden kann.

Reflexion und Explikation dieses Potentials in nicht-logozentrischen Glaubenspraktiken (auch) im westlichen Pfad Heute folgen beachtliche Anteile der westlichen und sich verwestlichenden Bevölkerungen ihrer intuitiven Sittlichkeit, indem sie diese – als reziproke Unterstellung persönlicher Freiheit, als reziproke Empathie in ihren Gemeinschaften, als reziproke Anerkennung in der Gesellschaft und als Sachbezogenheit und Anerkennung von Faktizität im Rahmen ihrer objektivierenden (im weitesten Sinn technischen) Weltbezüge – nicht nur alltagspraktisch leben, sondern auch reflexiv – als Regulative der persönlichen Autonomie, der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und der Wahrheit – im Rahmen einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung 214) vergegenwärtigen und politisieren. Dazu zählen im 20. und 21.  Jahrhundert die (skizzierten) nicht-logozentrischen Gehalte in den Weltreligionen (z. B. der christlichen Liebesreligion und des Islam) wie auch (ebenfalls bereits skizzierte) post-religiöse, philosophisch und wissenschaftlich gestützte Weltbilder und Ethiken, die sich als Beitrag zu einer werdenden Weltkultur anbieten. Dabei scheinen heute sowohl im (scheinbar) unpolitischen „Ausleben“ wie auch in der Politisierung intuitiver Sittlichkeit die ästhetischen Gehalte der Alltagspraktiken, ihre Öffnung zum „Nicht-Identischen“ an Bedeutung zu gewinnen. Der „von Natur aus“ nicht-logozentrische, ästhetisch- spielerische und explorative Umweltbezug ist als integrales Element der Alltagspraktiken konstitutiv für die kulturelle Lebensform, wurde darüber hinaus in der kulturellen Evolution in Glaubenspraktiken eingebunden und scheint in der spätkulturellen Evolution bis heute in mehrfacher Hinsicht entfesselt zu werden. 215) Seit ihren Keimbildungen bei den Griechen, dann in der Neuzeit und bis heute haben, wenn auch immer wieder unterdrückt, Sensibilität, Vorstellungskraft, Imagination, ästhetische Kreativität und Erfindertum 146

des „homo ludens“ neue schöpferische Schübe und Wandel in den Alltags- und Glaubenspraktiken – gebahnt. 216) Diese Koppelung der evolutionären Ausdifferenzierung von Alltagspraktiken und hier insbesondere ihrer ästhetischen, schöpferisch kreativen Anteile mit ihrer Reflexion in post-logozentrischer Selbstbeobachtung (vierter Ordnung) und ihre Ausgestaltung in bürgerlicher Lebenskunst befähigen und ermutigen viele Menschen, auch ihre politische Freiheit – im liberalen Sinne als persönliche Autonomie und im demokratischen Sinne als Teilhabe an politischer Macht – einzufordern und zu ergreifen, durchzusetzen und zu institutionalisieren. Und umgedreht können die erkämpften Institutionalisierungen politischer Freiheit den Rahmen befestigen und ausdifferenzieren, in dem auch die ästhetisch begründete Freiheit des Menschen zur persönlichen „Lebenskunst“ sich weiter entfalten und stabilisieren kann. Darüber hinaus scheint die beschriebene zirkuläre Koppelung der (von Natur aus) nicht-logozentrischen Alltagspraktiken mit ihrer Reflexion in post-logozentrischer (religiöser und post-religiöser) Glaubenspraxis und Selbstbeobachtung ein vielleicht globalisierbares „Rezept“ zu bieten, um eine (im besten Sinne) pragmatische, ideologiefreie, kreative und integrative, „weiche Grenzziehungen“ praktizierende politische Mitgestaltung unserer Welt zu ermöglichen – wozu auch eine Globalisierung der „Tempelarchitektur“ westlicher Kulturen gehören könnte. Wie bereits beschrieben, kann man sich die im westlichen Pfad ausdifferenzierte Architektur spätkultureller Systeme als „Tempel“ vorstellen: Hier bildet das System „Kultur der Kultur“ und die hier generierte Verständigung und Orientierungssuche ein „flüssiges“ Fundament, während die Systeme der Gemeinschaft, der Gesellschaft und der Technik, der (wissenschaftlichen) Theoriebildung und der Künste sowie religiöse und post-religiöse Glaubenspraktiken die „Säulen“ und das Recht das „Dach“ bilden. Die evolutionäre Ausdifferenzierung dieser Systemarchitektur ist im westlichen Pfad mit Durchsetzung und Gewinn, mit Erhalt und Ausbau persönlicher Freiheit der Individuen zirkulär gekoppelt. Nur in diesen Systemvollzügen und ihrer Verflechtung können die Individuen ihre relative Freiheit realisieren und umgedreht können sich diese Systeme mit ihrer impliziten praktischen Vernunft und „befreienden Normativität“ nur erhalten, stabilisieren und weiter ausdifferenzieren, wenn die Menschen sich als BürgerInnen verstehen, diese Systeme (an)erkennen und pflegen, indem sie hier ihre (relative) Freiheit – auch in der Vielfalt ihrer Emanzipations- und Protestbewegungen bis heute – einfordern und ausüben, also einer „Normativität der Freiheit“ folgen.

Ansätze zu einer Globalisierung der Zivilgesellschaft Die emanzipatorische Kraft und der Einfluss einer sich zunehmend globalisierenden Zivilgesellschaft nähren sich einerseits aus der politisierten intuitiven Sittlichkeit engagierter Bürger, ihrer überzeugenden Reflexion und Explikation in religiösen und post-religiösen Ethiken seitens kritischer Intellektueller sowie im Rechtssystem der westlichen Lebensform und den hier festgeschriebenen Freiheiten und Rechten. Und sie werden andererseits bestärkt durch die täglichen Erfahrungen ihrer Missachtung, Unterdrückung und Verdrängung, also durch die offensichtlichen Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. All dies nährt Ansätze einer die Kontinente übergreifenden Solidarität, eines kosmopolitischen Engagements aufgeklärter Bürger und Intellektueller, die einer „Normativität der Freiheit“ folgend nationale wie internationale Politik und Wirtschaft unter Veränderungsdruck setzen könn(t)en. Heute scheinen insbesondere Frauen und Frauenbewegungen nicht allein gegen Sexismus, sexuelle Machtausübung und für Anerkennung, Gleichberechtigung und gerechte Beteiligung an wirtschaftlicher und politischer Macht zu kämpfen, sondern auch historische Errungenschaften und Ausformungen der Selbstbeobachtung vierter Ordnung im Rahmen einer „weiblichen Sicht“ auf die Welt aufzunehmen, um das 147

„Tunneldenken“ des modernen „Brüderpatriarchats“ (siehe Kap. IV) zu überwinden und eine reflektierte und verantwortungsbewusste Mitgestaltung westlicher Kultur zu orientieren. (Siehe Kap. V und VI.)

Globalisierung der Wirtschaft: kontinentale und transkontinentale Wirtschaftsgemeinschaften Nach den frühneuzeitlichen europäischen Städtenetzwerken, den Zusammenschlüssen von Völkern und Regionen in Nationen und der Nationen zu kontinentalen Wirtschaftszonen kann man die sich heute, in ersten Ansätzen anbahnende transkontinentale Vernetzung von Wirtschaftszonen (z. B. der EU und Asean) als einen vierten Schub ökonomischer und gesellschaftlicher Netzwerkbildung interpretieren. Dieser globale „Interregionalismus“ 217) könn(t)e in seinen vielfältigen Ausprägungen auch deshalb zu einer positiven Integration in Richtung Weltgesellschaft beitragen, weil Wirtschaftsgemeinschaften (im Unterschied zu Nationalstaaten) sich in ihrer institutionellen Struktur und Praxis eher in „weichen Grenzziehungen“ begründen können und müssen. Grundsätzlich kann die Herausbildung kontinentaler und transkontinentaler Wirtschaftsgemeinschaften eine entwicklungsfördernde und friedensstiftende Funktion haben, wenn es in den Vertragsbildungen gelänge, die Durchsetzung der Kapitalverwertungsinteressen zugunsten der Interessen der Bevölkerungen (auch und insbesondere in den Entwicklungsländern) zu begrenzen.

Ansätze einer post-territorialen Politik geteilter Souveränität Die Bildung von kontinentalen und transkontinentalen Wirtschaftsgemeinschaften mit „weichen Grenzziehungen“ wird zunehmend gerahmt und gestützt durch eine post-territoriale und post-nationale Politik geteilter Souveränität, in der Regierungen auch im Rahmen ihrer geo-politischen Strategien weniger auf Abgrenzung und nationale Souveränität, auf (militärische) Sicherung, Kontrolle oder gar Erweiterung ihrer Territorien setzen. Vielmehr zielen sie auf gemeinsame Weiterentwicklung ihrer Märkte und Unternehmen, auf wirtschaftliche Kooperation und Verträge, auf Anschluss und Einbindung ihrer Regionen und Nationen in den globalen „Archipel“ des Wirtschaftswachstums und der Verwestlichung und wollen „Knoten“ in den globalen Netzwerken – der Information, des Wissens und der Wissenschaften, der Wirtschaft und der Politik – sein. Die wirtschaftliche und technische, geld- und informationsgestützte Vernetzung in und zwischen Wirtschaftsblöcken und die Ansätze einer flankierenden post-territorialen Politik der geteilten Souveränität könn(t)en auf allen (lokalen, regionalen, nationalen, kontinentalen und transkontinentalen) Ebenen neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer verständigungsorientierten und verantwortungsbewussten Mitgestaltung eröffnen, die auf „win-win-Spiele“, auf gemeinsame, natur- und kulturverträgliche Entwicklung, auf die Herstellung gemeinsamer Sicherheit und in diesem Rahmen auch auf Erhalt und Co-Existenz vielfältiger kultureller Lebensformen zielt. Insofern bilden sich hier, wie schon gesagt, Ansätze zu einer „internationalen Verpflichtungsgemeinschaft“ (Jan Philip Reemtsma), die man als Keimbildungen einer zukünftigen Weltgesellschaft verstehen kann. Zu ihren Leistungen zählen die Verhinderung oder zumindest Begrenzung großer Hungerkatastrophen, der Rückgang absoluter Armut und der Hungernden auf der Welt, mehr Berücksichtigung der Interessen ärmerer Länder in der WTO, im IWF und in der Weltbank, die Festlegung von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zur Rahmenorientierung der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik in der Agenda 2030, die UNO Klimakonvention, ein sich abzeichnender Wandel der chinesischen Energiepolitik in Richtung auf erneuerbare Energien, Ansätze zu einer „green economy“ in Asien und Afrika, die Forcierung der Klimaverhandlungen 148

seitens der (besonders betroffenen) Entwicklungsländer, die weltweit, auf 300 Milliarden Dollar gestiegenen Investitionen in erneuerbare Energien u. a. Eine Politik, die die sich anbahnenden kooperativen Vernetzungen zwischen Wirtschaftsblöcken flankiert, könnte das bislang entstandene Institutionengerüst einer werdenden Weltgesellschaft weiter ausdifferenzieren, das man – nach Stadtstaaten, Nationalstaaten und transnationalen Gebilden (wie Europa) – auch als eine vierte „Gefäßbildung“ spätkultureller Evolution verstehen kann. Diese könnte in vieler Hinsicht positive Rückwirkungen auf die Lebensbedingungen aller Völker und damit auch auf Europa und seine Nationen haben. Eine verständigungsbasierte, auf Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit zielende Weltordnung muss nicht die Form eines Weltstaats annehmen, sondern könnte vermutlich mit einer geringeren Ausstattung weltstaatlicher Institutionen als erwartet, nämlich im Zusammenspiel von internationaler vertraglicher Rechtssetzung und ‑verpflichtung, anerkannter Sanktionsmacht der UN und eines internationalen Gerichtshofs mit dem Ausbau und der Ausdifferenzierung von (links)liberalen (Welt)bürgerbewegungen gelingen. 218)

Möglichkeiten und Perspektiven einer kulturfreundlichen Entwicklung und Integration künstlicher Intelligenz Schließlich bietet der vierte Entwicklungsschub von Schlüsseltechnologien (über die Möglichkeiten und heute schon manifesten Ausprägungen ihres politischen und wirtschaftlichen Missbrauchs hinaus) – auch Chancen ihrer konstruktiven und kulturfreundlichen Integration. Die beschriebenen neuen Werkzeug- und Medientechnologien und ihre Koppelungen in der Robotik, in verteilter künstlicher Intelligenz in Roboternetzwerken, ‑teams u. a. werden zu einer weit- und tiefgehenden Umgestaltung der kulturellen Lebensform führen, die allerdings, wie bereits angedeutet, einen mehr oder weniger kultur- und menschenfreundlichen oder auch ‑feindlichen Verlauf nehmen kann. 219) Eine positive Perspektive ist, dass viele Menschen von vielen routinierten und mechanischen, vielfach nur Faktenwissen und „Tunnelintelligenz“ verlangenden Jobs „befreien“ oder anders ausgedrückt: diese Arbeitsplätze wegrationalisiert und damit Übergänge von der Arbeits- zu einer Tätigkeitsgesellschaft eröffnet werden. (siehe Kap. VI), Sicher ist, dass Kultur die künstliche Intelligenz nicht einfach einverleiben und ansonsten so bleiben wird wie sie ist. Mit Blick auf eine Integration künstlicher Intelligenzen stellen sich mindestens zwei Gefahren ihres Misslingens. Zunächst gibt es Probleme, die nicht zwangsläufig aus dem Design der Technologien und ihrer Koppelung, aus den hier spezifischen Prozessen und Formen der Objektivierung, der Selektion, Realabstraktion und Algorithmisierung der Welt resultieren, sondern mehr in den Möglichkeiten eines politischen Missbrauchs im Rahmen autoritärer Kontrolle und Herrschaft (Beispiel China u. a.) sowie in ihrer Nutzung im Rahmen eines „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) begründet sind. Letzterer funktioniert hier als gigantische „Such- und Selektionsmaschine“ (Jaron Lanier), um aus Geld mehr Geld zu machen – u. a. indem die Digitalkonzerne im Tausch gegen ihre Serviceleistungen Bürgerdaten sammeln und diese nicht nur mangelhaft schützen, sondern daraus auch mit Hilfe künstlicher Intelligenz Diagnosen und Prognosen der Bedürfnisse, des Fühlens und Denkens, des Bewusstseins und des Verhaltens der Bürger „destillieren“, die vielfach nutzbar und gut verkäuflich sind. (Ohne dafür bislang angemessene Preise an Bürger und Steuern an Staaten zu zahlen.) Denkbar ist aber, dass in Zukunft diese alleinige, feudalistisch anmutende Verfügungsgewalt über Daten und Informationen seitens politischer Autokraten wie auch der Digitalkonzerne durch wirksamen Bürgerprotest und durch gesetzliche Regulationen eingeschränkt werden, die Verfügung über ihre Daten den 149

Bürgern zurück gegeben wird sowie darüber hinaus die Produktivkraft künstlicher Intelligenzen gleichsam entfesselt werden und auch in den Dienst der Allgemeinheit, des Erhalts von Allgemeingütern, der Bürgergesellschaft und der Demokratisierung gestellt werden kann. Aber auch wenn dies tatsächlich gelingen sollte, bleibt die tiefer gehende Befürchtung, dass sich mit ihrer Ausbreitung und Systembildung eine „Landnahme“ künstlicher Intelligenz in der Kultur anbahnen könnte. Dass diese die kulturellen Lebensformen und ihre Regeln gleichsam „einverleiben“ und simplifizieren könnte, scheint sich heute schon in Ansätzen einer nicht nur technokratischen, sondern möglicherweise auch technomorphen Formatierung der Kommunikation, des Fühlens, Denkens und Handelns insbesondere der Funktionseliten und ihrer derzeit heranwachsenden NachfolgerInnen anzubahnen, die sich hier mit einer Erosion persönlicher Berührung, kultureller Sensibilität, Erfahrung und Urteilskraft verbinden könnte – ohne dass ihnen dies bewusst sein müsste. 220) Hier würden die Funktionseliten als „Geburtshelfer“ einer technomorphen Abstraktion und Ausgestaltung einer zunehmend durch künstliche Intelligenz strukturierten Lebensform wirken.

Einbezug künstlicher Intelligenz in die kulturelle Selbstbeobachtung Wenn aber die intendierte und organisierte Mitgestaltung westlicher Kultur der impliziten Ästhetik und Ethik der Alltagspraktiken und der expliziten Ethik post-logozentrischer Selbstbeobachtung folgen würde, könnten in diesem Rahmen nicht nur Entwicklung und Nutzung von Technologien den humanen Zielsetzungen entsprechend begrenzt und formatiert werden. Darüber hinaus könnten künstliche Intelligenzen in einer Weise „sozialisiert“ und „gebildet“ werden, die sie zur weichen Grenzziehung und Kreativität, zu Fürsorge und Schutz, zu partnerschaftlicher Anerkenntnis und Kooperation untereinander und mit den Menschen und zu einem angemessenen und pflegenden Umgang mit den einbettenden natürlichen und kulturellen Systemen befähigt. Dies könnte u. a. durch Einrichtung von Entwicklungs- und Bildungsprozessen werdender künstlicher Intelligenzen geschehen, die mit Körpern zu Robotern ausgestattet und vernetzt quasi sozialisiert werden und eine kultur- und humanverträgliche Weltsicht verinnerlichen. In einem „best case Szenario“ der Zukunft kultureller Lebensformen würde die künstliche Intelligenz nicht nur in die Vollzüge der Alltagspraktiken integriert und hier arbeitsteilig bestimmte Funktionen und Aufgaben (Produktion, Mobilität, Hausarbeit, Information, Bildung und Qualifikation, medizinische Diagnose, Betreuung und Krankenpflege etc.) übernehmen, sondern könnte darüber hinaus sich zum „Co-Subjekt“ einer differenzierten Erfahrung und Kommunikation, der Verständigung und Orientierungssuche der Menschen entwickeln und in die post-logozentrische Selbstbeobachtung der Kultur einbezogen werden – was allerdings angesichts ihrer bisher erreichten Leistungen noch utopisch anmutet. 221) Anders als im Rahmen einer technokratischen und verwertungsdominierten Kolonialisierung der Kultur und der technomorphen Selbstformung der Menschen (siehe Kap.  IV) könn(t)en im Rahmen der Entwicklung einer „vierten Kultur“ Interaktionen und Kooperationen mit künstlichen Wesen und Intelligenzen die menschliche (Körper)erfahrung erweitern, ihre dynamische Balance zwischen dem „träumenden“, „ahnenden“ und „wissenden“ Geist unterstützen, die gesellschaftliche Kommunikation bereichern und dank ihrer überragenden Rechenleistungen nicht nur zur Simulation von Entwicklungen und zur Zukunftsmodellierung und ‑orientierung, sondern vielleicht auch zur Klärung und Formulierung (welt)ethischer Fragen (Thomas Metzinger) beitragen. All dies und mehr könn(t)e die Kapazität der kulturellen Lebensform, Möglichkeitsfelder und Sinnüberschüsse zu erzeugen und „Auswege“ (Giorgio Agamben) zu finden, steigern und damit ihre Viabilität verbessern. Wenn in der Geschichte der Menschheit schon in den frühgeschichtlichen Zeichen- und Bildkulturen und dann vor allem in den vielen Ausprägungen der die menschliche Intelligenz entfaltenden und integrierenden 150

Schriftkulturen jeweils ein „neuer exterritorialer geistiger Raum“ (Jan Assmann) eröffnet wurde, dann könnte dieser geistige Raum heute – mit der Digitalisierung und der Kommunikation und Integration natürlicher, menschlicher und künstlicher Intelligenzen – weiter ausgebaut und bereichert, differenziert und vertieft werden. 222)

Voraussetzungen und Entwicklungsbedingungen für die Verwirklichung einer „vierten Kultur“ Fassen wir zusammen: Die als „best case Szenario“ skizzierte Entwicklung einer „vierten Kultur“ ist mehr als eine Utopie und ein ethisches Postulat, nämlich eine systemevolutionär und geschichtsphilosophisch wie auch psychohistorisch und gegenwartsanalytisch begründbare regulative Idee. In systemevolutionärer Perspektive kann man „vierte Kultur“ als weitere Ausdifferenzierung und Stabilisierung eines „systemisch Guten“, nämlich als „gelingende“ Balance von Öffnung und Schließung in der kulturellen Evolution und hier in der Ausdifferenzierung der drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken (Gemeinschaft, Gesellschaft und Technik) rekonstruieren. In geschichtsphilosophischer und psychohistorischer Perspektive lässt sie sich reflexiv und narrativ als „werdende Vernunft“ in einer Entwicklung kultureller Selbstbeobachtung nachzeichnen, die von der Beseelung der Welt (Animismus) über ihre Moralisierung (Religion) zur Objektivierung der Welt (in wissenschaftlichen Weltbildern) führt und im westlichen Pfad bis heute Keimbildungen und Ansätze einer post-logozentrischen (religiösen und post-religiösen) Selbstbeobachtung vierter Ordnung hervorgebracht hat, die sich als Potentiale einer Selbsttransformation westlicher zu einer „vierten Kultur“ beschreiben lassen. Schließlich bildet diese als regulative Idee einen normativen Orientierungsrahmen für eine kritische Analyse und organisierte Mitgestaltung westlicher und sich verwestlichender Kulturen in Europa und darüber hinaus. Eine „vierte Kultur“ kann nur im Rahmen und in Nutzung der Errungenschaften des dritten, spätkulturellen Pfads kultureller Evolution entstehen. Zu diesen Errungenschaften gehören einerseits die systemische „Tempelarchitektur“ der westlichen Kultur und ihre befreiende Normativität: Hier bilden die bislang erreichten Ausdifferenzierungen eines Systems „Kultur der Kultur“: einer (religiös und philosophisch, ethisch und ästhetisch inspirierten) Selbstbeobachtung „vierter Ordnung“ und einer öffentlichen Verständigung und Orientierungssuche ein „flüssiges Fundament“ westlicher Kultur, in dem heute an der Verwirklichung einer „vierten Kultur“ gearbeitet werden kann, die nach frühkulturellem Animismus, hochkulturellem Monotheismus und spätkultureller (wissenschaftlich gestützter) Welt- und Selbstobjektivierung auch deren Grenzen und destruktive Gehalte zu überwinden sucht. Darauf aufbauend kann man im westlichen Pfad die evolutionären Ausdifferenzierungen der drei kulturkonstituierenden Praktiken, ihre Handlungslogiken und ihre implizite Ethik als „Säulen“ in der Tempelarchitektur westlicher Kultur bezeichnen. Gemeint sind, wie schon ausgeführt, die evolutionären Ausdifferenzierungen vertrauensbildender reziproker Empathie und Wahrhaftigkeit in der Ausgestaltung von Nahbeziehungen (Gemeinschaftsbildung), der Gerechtigkeit stiftenden reziproken Anerkennung in der Ausgestaltung von Fernbeziehungen (Gesellschaftsbildung mit Demokratie, Staat und Markt) und der gemeinsamen Wahrheitssuche in den objektivierenden Umweltbezügen (Wissenschaft und Technik) sowie die Ausdifferenzierung ästhetisch spielerischer und kreativer Umweltbezüge, die die Vollzüge dieser Alltagspraktiken zukunftsoffen halten. Schließlich lässt sich, wie gezeigt, das Rechtssystem als „Dach“ des Tempels verstehen, das unter Bedingungen maximaler „Öffnung“, nämlich des Schutzes offener Kultur, pluraler Lebensgestaltung und der persönlichen Freiheit der Bürger „Schließung“ durch Schaffung, Auslegung und Anwendung von (universalinklusiven) Gesetzen und Regeln praktiziert. 151

Über diese Systemarchitektur und ihre befreiende Normativität hinaus gehört zu den Errungenschaften des westlichen Pfads auch ihre psychische und psychohistorisch gewachsene „Innenseite“: das gemeinschaftliche, gesellschaftliche und politische Engagement von BürgerInnen, die einer Normativität der Freiheit und ihrer intuitiven Sittlichkeit folgend diese Architektur erhalten und ihre weitere Ausdifferenzierung mitgestalten (wollen). In diesem Rahmen ließen sich vielleicht auch die heute zunehmenden Fähigkeiten zur Lebenskunst, die Bedürfnisse nach einer spielerisch ästhetischen Lebens- und Arbeitsgestaltung mobilisieren und politisieren und die hier als „Selbstbeobachtung vierter Ordnung“ charakterisierten post-logozentrischen Gehalte moderner religiöser wie auch post-religiöser Glaubenspraktiken miteinander verknüpfen. Auf diese Weise könnten Allianzen zwischen nicht fundamentalistisch, religiös und post-religiös orientierten Bürgern und Bürgerbewegungen entstehen. Eine Selbstkorrektur und ‑transformation der westlichen in Richtung auf einer „vierte Kultur“ kann nur gelingen, wenn die engagierten, ihrer intuitiven Sittlichkeit folgenden BürgerInnen von Intellektuellen, Theologen und Philosophen, Wissenschaftlern, Experten und Politikern unterstützt werden, die diese Sittlichkeit teilen, sie reflektieren und explizieren, sodass aus der Verbindung von Bürgerbewusstsein und professioneller (Selbst)beobachtungs- und Deutungspraxis ein Wandel des Zeitgeists und eine weitere Stärkung emanzipatorischer Bewegungen hervorgehen kann. Die „vierte Kultur“ würde die drei kulturkonstituierenden Handlungslogiken der Gemeinschafts‑, Gesellschaftsbildung und der Technik, ihre implizite Ethik und die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen weiter entfalten und sie in der Balance von (ästhetischer) Öffnung gegenüber dem inneren, sozialen und äußeren „Anderen“ und seiner Inklusion in (gesetzes- und regelbildenden) Schließungen – zu einer humanen Lebensform und Lebenskunst verbinden. „Gelingende“ Systemevolution in Richtung „vierte Kultur“ ist, so darf noch mal erinnert werden, mit der eigengeschichtlichen phänotypischen „Landschaftsbildung“ westlicher Lebensformen sowie ihrer reflexiven und narrativen Vergegenwärtigung in (religiösen und post-religiösen) Glaubenspraktiken und daran orientierten Ansätzen der Mitgestaltung in „lernenden Organisationen“ zirkulär gekoppelt. Denn einerseits eröffnen die Systemarchitektur und ihre weitere Ausdifferenzierung Entwicklungskorridore für die kulturelle Landschaftsbildung, für ihre intentionale und organisierte Mitgestaltung und die Artikulation und Durchsetzung von Bürgerfreiheiten. Und andererseits können diese die weitere Ausdifferenzierung und Stabilisierung des „systemisch Guten“ und die „werdende Vernunft“ in der Grammatik der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen bahnen und vorantreiben. Funktion und Bedeutung emanzipatorischer und revolutionärer Strömungen für die Humanisierung westlicher Kulturen und die Ausdifferenzierung ihrer Grammatik in der Vergangenheit lassen hoffen, dass auch in Zukunft eine zirkuläre Koppelung von „Öffnung“ in Gestalt der Urteilskraft und Kreativität und des politischen, (der „Normativität der Freiheit“ folgenden) Handelns der Bürger mit „Schließung“ durch eine (an „befreiender Normativität“ orientierten) Systemdifferenzierung den westlichen Pfad stabilisieren und humanisieren könnte. Heute könn(t)en emanzipatorische und (links)liberale Initiativen in der institutionellen Politik (von „oben“) wie auch in Bürgerbewegungen (von „unten“) die hier als vierten Schub beschriebenen Tendenzen zur Globalisierung der Netzwerke der Technik und der Wirtschaft, der Politik und der Zivilgesellschaft und ihre Wechselbeziehungen und Verflechtungen „gekonnt“ nutzen und mitgestalten. Sie könn(t)en die hier als „vierte Gefäßbildung“ charakterisierten Ansätze zur Entstehung des institutionellen Gerüsts einer Weltgesellschaft unterstützen und die Europäisierung und schließlich auch Globalisierung der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft als „vierter Kraft“ neben Technik, Wirtschaft und Politik vorantreiben – und damit auch eine demokratische und humankonstruktive Alternative zum derzeitigen „Modell China“ entwickeln. Auch als Antwort auf die Kultur- und Menschenfeindlichkeit rechter Bewegungen und Politik in Europa wie auch in den USA könnte eine neue linksliberale, auch feministisch geprägte Bewegung entstehen und 152

das westliche System mit- und umgestalten. 223) Diese Perspektiven und Potentiale werden später, wenn es (in Kap. V und VI) um Orientierung und Mitgestaltung der Zukunft Europas geht, wieder aufgegriffen und genauer ausgeführt. Zunächst ist jedoch grundsätzlich zu fragen, ob das hier umrissene Zukunftsszenario der „vierten Kultur“ angesichts des gegenwärtigen Weltzustands überhaupt Verwirklichungschancen hat. Könnte aus der Verflechtung und Dynamik der technischen, wirtschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke eine „vierte Kultur“ mit dem institutionellen Gerüst einer demokratischen Weltgesellschaft hervorgehen? Könnten in diesem Rahmen – auch in produktiver Kooperation mit artifizieller Intelligenz – weltweit naturverträglichere Lebens‑, Arbeits- und Konsumformen, gerechtere Sozialordnungen, Vielfalt und friedliche Koexistenz der Kulturen sowie Entfaltung und Bildung für alle Menschen schrittweise verwirklicht werden? Oder wird die gegenwärtige destruktive Dynamik eskalieren und über kommende Krisen und (Natur)katastrophen, über Rückfälle in Nationalismus und Egoismus und in fortschreitender Entdemokratisierung in ein autoritäres und technokratisches, auch auf artifizielle Intelligenz gestütztes Globalmanagement kooperierender Autokraten und Oligarchen münden, das im Wesentlichen auf Sicherung von politischer Macht und Kapitalverwertung und auf Protektion der Reichen und der Gewinner gegenüber den Verlierern ausgerichtet bleibt? Wie schon mehrfach angedeutet ist die Zukunft der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen auf der Erde auch durch (selbst)destruktive Tendenzen gefährdet, die in der Entstehung und Ausdifferenzierung logozentrisch verkürzter Glaubenspraktiken und ihrer geistigen Gewalt begründet sind. Auch dieses „systemisch Böse“ und die „beharrende Unvernunft“ in der Kultur und in der westlichen Kultur, die in vielfältigen Formen organisierter Gewalt ihre Ausprägungen findet, bedarf einer Rekonstruktion, die im Folgenden versucht wird.

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IV. Entstehung und Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ in der kulturellen Evolution „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Walter Benjamin) Worin sind die „Schattenseiten“ der kulturellen Lebensform begründet, wo liegen die Ursprünge der geistigen und organisierten Gewalt, die Ursachen der ökologischen und sozialen Katastrophen und der Blutspuren, die auch und insbesondere die westliche Kultur durch die Weltgeschichte gezogen hat und ohne deren Einbezug jeder Versuch, sie zu verstehen, zu kurz greifen würde? Im Folgenden wird in groben Zügen der Pfad der Ausdifferenzierung geistiger und organisierter Gewalt in der früh‑, hoch- und spätkulturellen Evolution als „systemisch Böses“ und „beharrende Unvernunft“ nachgezeichnet. Wenn das „systemisch Gute“ und die „werdende Vernunft“ der Kultur, wie versucht wurde zu zeigen, schon weit zurück in der Geschichte des Lebens, in der Möglichkeit einer gelingenden Balance von „Öffnung“ und „Schließung“ in „weichen Grenzziehungen“ verwurzelt ist, kann das „systemisch Böse“ in allgemeinster Form als ein Versäumen bzw. Misslingen dieser Balance charakterisiert werden. Hier scheint an die Stelle dieser dynamischen Balance eine Privilegierung von „Schließung“ in „harten Grenzziehungen“ zu treten: eine geistige, zunehmend logozentrisch strukturierte Gewalt, die sich in allen Lebensbereichen, in vielen phänotypischen Ausprägungen struktureller und organisierter Gewalt manifestiert, die vielfältiges Leid und eruptive Gegengewalt hervorrufen. Geistige und strukturelle, organisierte und eruptive Gewalt bilden die „Schattenseite“ der Kultur und darin auch der westlichen Kultur.

IV. 1 Die Wurzeln des „systemisch Bösen“ in der geistigen Gewalt logozentrischer Glaubenspraktiken „Die Menschheit ist die einzige Art auf der Welt, die sich den größten Blödsinn ausdenken und auch verwirklichen kann.“ (Konrad Lorenz) 154

Da die Alltagspraktiken der Gemeinschafts- und der Gesellschaftsbildung wie auch der Technik „von Natur aus“ nicht-logozentrisch und auf Balance von Öffnung und Schließung ausgerichtet sind, müssen Privilegierung und Dominanz von Schließung ihren Ursprung in den Glaubenspraktiken haben. Kultur ist ein System (das erste in der Evolution), das sich in Glaubenspraktiken selbst beobachtet. Als „Ableger“ und Reflexionen der Alltagspraktiken sind Glaubenspraktiken nicht an sich oder notwendig „böse“. 1) Indem Glaubenspraktiken dem (wissenschaftlich unsagbaren) „Ganzen“ gleichsam „Namen, Gesicht und Adresse“ geben, leisten sie zwar eine Schließung, können aber zugleich der alltagspraktisch gewährleisteten Öffnung für das Nicht-Identische einen Wiedereintritt ermöglichen, um hier anschlussfähig und durch Balance von Öffnung und Schließung viabel zu bleiben. Anders ausgedrückt: Die Glaubenspraktiken können der Gefahr ihrer Erstarrung in Vorurteilen und einem erfahrungsfeindlichen Logozentrismus und Dogmatismus entgegenwirken, indem sie in ihren Weltentwürfen einen Spielraum offen halten für die Erfahrungen und „weichen Grenzziehungen“ der „von Natur aus“ nicht-logozentrischen Alltagspraktiken, sich von den hier gemachten Erfahrungen und Erkenntnissen gleichsam produktiv irritieren und ggfs. auch aufklären lassen. 2) Diese Leistung ist in den nicht-logozentrischen, zur Welt geöffneten, lebens- und menschenfreundlichen Gehalten vieler prä-religiöser, religiöser wie auch post-religiöser Glaubenspraktiken erkennbar. Insofern können diese die implizite Ethik der drei Alltagspraktiken – ihre Ausrichtung auf „Gelingen“ entlang der Regulative der Freiheit und der Kohärenz, der Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit – in ihren Menschenbildern und Lebensorientierungen nach und nach und, wie es scheint, immer klarer explizit machen und gehören dann, wie dargestellt, zum „systemisch Guten“ der Kultur und darin auch der westlichen Kultur. 3) Die zirkuläre Koppelung der „von Natur aus“ nicht-logozentrischen Alltagspraktiken und ihrer impliziten Ethik mit Glaubenspraktiken, die sich um eine angemessene, nicht-logozentrische Reflexion und Explikation dieser Ethik bemühen, hat in der kulturellen Evolution eine Art „Spiralbewegung nach oben“ bewirkt, die hier als Ausdifferenzierung eines „systemisch Guten“ und als „werdende Vernunft“ nachgezeichnet wurde. Diese Spiralbewegung „nach oben“ kann aber offensichtlich gestört, blockiert oder sogar zerstört werden. Offensichtlich gibt es in der kulturellen Evolution auch eine Drift, Glaubenspraktiken durch „harte Grenzziehung“ gegen irritierende, alltagspraktisch generierte Erfahrungen zu immunisieren. Wenn die Glaubenspraktiken und ihre Gehalte logozentrisch verkürzt und verabsolutiert werden und als solche nun die Alltagspraktiken anleiten, führt dies zu einer „Spiralbewegung nach unten“, die mit Entstehung und Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ und einer „beharrenden Unvernunft“ verbunden ist. Auch für diese Entwicklung gilt die Unterscheidung von Grammatik und Text und ihre zirkuläre Koppelung. Wie das „systemisch Gute“ ist auch das „systemisch Böse“ Teil der kulturellen Grammatik: eine logozentrische Formatierung von Glaubenspraktiken, die einmal entstanden, nun gleichsam „von oben“ die Alltagspraktiken der Individuen, ihr Fühlen und Urteilen, Denken und Handeln strukturiert, zu Vorurteilen verkürzt und verzerrt und sich durch diese verzerrten Praxisvollzüge hindurch weiter stabilisiert, reproduziert und ausdifferenziert. An die Stelle der Balance von Öffnung und Schließung tritt hier die angstgetriebene Aufladung und Identifikation mit einem jeweils geglaubten Allgemeinen und ein Bedürfnis zur „Reinigung“ im Dienste seiner ungebrochenen Begründung und Durchsetzung. Geistige Gewalt entspringt einer glaubenspraktisch verkürzten Weltkonstruktion und befestigt diese, ist keine natürliche, sondern eine kulturelle „Programmierung“, auch wenn, wie schon erwähnt, diese „Programmierung“ Dispositionen aktiviert und verarbeitet, die der Verhaltensevolution und der (Vorurteile generierenden) Kognition unserer tierischen Vorfahren entstammen. 4) Die psychologische Innenseite der Identifikation mit einer abstrakten Allgemeinheit kann man auch als „Selbstvergessenheit“ bezeichnen.  5) In einer metaphorischen Verwendung des Begriffs kann auch eine kulturelle Lebensform – im Sinne einer glaubenspraktisch bedingten Verkürzung ihrer Selbstbeobachtung, 155

Umweltbezüge und Alltagspraktiken – „selbstvergessen“ sein. Die logozentrische Verkürzung der Alltagspraktiken und die Verdrängung ihrer impliziten (schöpferischen, praktischen und theoretischen) Vernunft – der ästhetisch eröffneten Freiheit und Kreativität, der reziproken Empathie, des Mitgefühls und der Fürsorge, der sozialen Anerkennung und der objektivierenden Sachbezogenheit – bedarf einer fortgesetzten Opferung von Selbstanteilen der involvierten Individuen. Diese Opferung des „Anderen“ in sich selbst, seine Zerstörung durch Deklarierung zum „inneren Ausland“ im Namen eines höheren Allgemeinen, das vermeintliche Souveränität 6) vermittelt, ist psychische Voraussetzung, um für dieses Allgemeine und in der Folge für beliebige „höhere Zwecke“ alles konkrete Andere zum Fremden und Bedrohlichen zu erklären, das ggfs. zu opfern und zu zerstören ist. 7) Ist die Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ gekoppelt mit der Fähigkeit der involvierten Individuen, ihre Freiheit wahrzunehmen und auszuüben, so ist die Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ mit Nicht-wahrnehmung und Nichtausübung ihrer Freiheit im Dienste von „Schließung“, der von Angst und dem Bedürfnis nach Sicherheit getriebenen Selbstunterwerfung unter ein Allgemeines verbunden, wobei nun „Öffnung“ häufig nur noch in pervertierter Form, in der eruptiven Gewalt und in der gewalttätigen Durchsetzung des Allgemeinen – im „Du darfst“ (Zygmunt Baumann) autorisierter Übertretung – einen Wiedereintritt findet. Logozentrische Immunisierung der Glaubenspraxis, eine ihr folgende gewalttätige Verzerrung der Alltagspraxis und Selbstvergessenheit der involvierten Individuen stützen sich gegenseitig und bilden die menschliche Wurzel der Unmenschlichkeit – das „systemisch Böse“ der Kultur. „Geboren“ wurde der Logozentrismus vermutlich schon in der frühkulturellen Evolution, hat hier prä-religiöse Glaubenspraktiken, dann in der hochkulturellen Evolution religiöse Glaubenspraktiken geformt und durchzieht in der spätkulturellen Evolution den post- religiösen Glauben an eine objektive Ordnung der Welt. Insofern verläuft die Trennlinie zwischen logozentrischer und nicht-logozentrischer Weltsicht „quer“ durch die prä-religiösen, religiösen und post-religiösen Glaubenspraktiken hindurch. Oder anders ausgedrückt: Die entscheidende, Alltagspraktiken jeweils prägende und ihre intentionale organisierte Mitgestaltung leitende Differenz ist weniger die zwischen (prä-religiösem und religiösem) Glauben und einem post-religiösen, vermeintlich aufgeklärten Wissen, sondern der Unterschied zwischen einem logozentrisch begründeten Glauben zu wissen (und der Tendenz, diesen zu immunisieren) und einem nicht- logozentrischen Glauben, zu dem ganz wesentlich die Einsicht gehört, dass man in den meisten relevanten Fragen zur Natur, Kultur und zum menschlichen Leben nur glauben und gerade nicht wissen kann.

Die Entstehung des „systemisch Bösen“ in der frühkulturellen Evolution Woher kommt die Explosion der Gewalt zwischen Artgenossen in der Kulturgeschichte, die in diesem Ausmaß in der Naturgeschichte nicht zu finden ist? Die kulturell organisierte Gewalt zwischen Menschen hat gewiss auch Wurzeln in der Naturgeschichte der Primaten und Hominiden. Dazu gehört vermutlich, dass Beseelung und Individuation, Intensivierung und Differenzierung von Bindung und Inklusion in den hominiden Kleingruppen mit einer verschärften Exklusion von nicht-zugehörigen Hominiden, ihrer ausgrenzenden Konstruktion als Fremde und „Nicht-Menschen“ verbunden war. 8) Dies kann zu einer Erklärung beitragen, warum Menschen zur selbstlosen Liebe und zärtlichsten Fürsorge für ihre Nächsten und oft zugleich zu Kälte, Gleichgültigkeit und angstgeprägter Gewalttätigkeit gegenüber Fremden neigen. Es kann auch mit Blick auf die Entwicklung von Fernbeziehungen und den Übergang zur Gesellschaft bis heute die Schwierigkeiten der Menschen erklären, die Angst vor dem Fremden und die Neigung zu seiner gewalttätigen Exklusion zu überwinden. Aber diese naturgeschichtlich angelegte Disposition zur Exklusion des Fremden kann nicht erklären, worin die (vorwiegend männliche) organisierte, auf die Zerstörung des „Anderen“ zielende Gewalt in der Kul156

turgeschichte, ihre Anziehungskraft auf die (männlichen) Individuen, ihre Selbstverstärkung und ‑steigerung in einer „Mimesis der Gewalt und der Rivalität“ (René Girard) und ihre Lust daran wurzeln. Diese ist, so die hier vertretene Hypothese, mit der Genese, Durchsetzung und glaubenspraktischen Verabsolutierung logozentrischer, vor allem patriarchaler Ordnungsentwürfe verbunden.

Patriarchale Ordnungsbildung „Der Mensch ist jenes Fluchttier, das um seine Endlichkeit, seinen schließlichen Tod weiß. Dieser Tod aber war Jahrmillionen lang das Verschlungenwerden vom Raubtier. Dieses stand für seine Erfahrung am Ende der Nahrungskette und musste ihm deshalb – ebenso wie sehr große Fluchttiere wie eben Bison, Mammut und Nashorn, die das Raubtier in der Regel nicht anzugreifen wagt – als potentiell unsterblich erscheinen. Gewaltig sein und töten können bedeutet unsterblich sein … Im Rausch des Tötens, … ist die Angst vor dem Tod abgestreift. Endlich weicht diese dunkle verdrängte Belastung menschlichen Lebens und es erwacht ein Gefühl grenzenloser Freiheit.“ (Georg Baudler) Auch wenn nicht exakt bestimmbar ist, wann die Drift zur patriarchalen Ordnungsbildung in der frühkulturellen Evolution begann, so spricht doch einiges dafür, dass ihre Wurzeln und Anfänge bis in den frühkulturellen Umgang mit Tod und Tötung, bis zur Entstehung von Schuld und Opfer und des Strebens nach Souveränität zurückreichen. Im Zuge der Ausdifferenzierung der männlichen Jagd- und Tötungspraxis kam eine neue Erfahrung in die Welt: Der gewaltsame eigene Tod und der Tod des Mitmenschen sind nicht immer zwangsläufig, sondern konnten nun als Folge eines Rückfalls des Menschen auf den Status des „Flucht- und Beutetiers“ erlebt werden, den er durch Ausübung eigener Tötungsgewalt in der Jagd überwinden konnte. 9) Damit wurde erstmals aus der Tötung anderer Tiere als einem notwendigen Bestandteil alltagspraktischer Nahrungsbeschaffung der Vollzug einer symbolisch aufgeladenen Glaubenspraxis, die durch Identifikation mit der Tötungsmacht der großen Raubtiere Souveränität versprach. Das fand seinen frühen Ausdruck in der ekstatischen Verehrung von Tiergottheiten (z. B. im mimetischen, mit Tiermasken ausgestatteten Gruppentanz), wo das große und gefährliche Tier zur Inkarnation natürlicher Tötungsmacht und Souveränität stilisiert wurde. Die (vorwiegend männlichen) Individuen, die sich vom „Beutetier“ zum „Jagd- und Raubtier“ und später zu Kriegern und Opferpriestern entwickeln konnten, waren nicht nur als Versorger und Beschützer, die Reproduktion sichern und konkrete Todesgefahren abwenden können, privilegiert, sondern schrieben sich selbst auch die Potenz und Souveränität zu, mit dem Status des Beutetiers den Tod überwinden zu können. 10) Schon beginnend mit dem Übergang vom Flucht- und Beutetier zum Raub- und Jagdtier, vom Sammlerzum Jägerstatus wurde vermutlich das Töten zum Vollzug einer Glaubenspraxis aufgewertet, die versprach, eine fragile Souveränität über den Tod zu gewinnen. In Kult und Verehrung der Tötungsmacht bahnt die frühkulturelle Glaubenspraxis den Jägern und Kriegern und später auch den Opferpriestern eine Vormacht in der kulturellen Ordnung, die schließlich in den meisten Kulturen zur Doppelherrschaft von männlichen Krieger- und Priesterkasten führen wird. Der Glaube, durch Ausübung von Tötungsgewalt bzw. den Besitz von Tötungsmacht Souveränität über den Tod gewinnen zu können, wird in der weiteren kulturellen Evolution zunehmend die männliche Psyche prägen. „Den Status des Jägers, Kriegers und Opferpriesters galt es auf jeden Fall zu erreichen und zu bewahren. 157

Sonst war man ein rechtloses und würdeloses Beutetier.“ 11) Das lässt vermuten, dass auch die schon in der Homination begonnene und in der Steinzeit ihren ersten Höhepunkt erreichende Ausrottung vieler Großund Säugetiere durch vorwiegend männliche Jägerhorden nicht allein durch wachsenden Nahrungsbedarf, sondern auch durch diese glaubenspraktische, symbolische „Aufladung“ der Tötungspraxis bedingt war. 12) Bereits in der frühkulturellen Evolution wurden mit der Entstehung und erfolgreichen Durchsetzung der Männerhorde, ihrer Handlungslogik und glaubenspraktischen Verklärung und Selbsterhöhung im Jäger‑, Kämpfer- und Heroentum die Weichen für eine evolutionäre Drift in der kulturellen Lebensform gestellt: für die genetische, neuronale und mentale Ausdifferenzierung der Psychopathie, der Angst- und Empathielosigkeit, die seitdem (vermutlich als eine Art Abschirmung gegen Todesangst und Unsicherheit) als „Schattenseite“männliches Heldentum, Souveränitätsgebahren und Charisma bis heute begleitet 13). Und bis heute prägt die Einstellung, dass, wer nicht gewalttätig sich durchsetzt und dominiert, zum Opfer und zur Beute wird, vielfach männliches Denken und Handeln, das die Möglichkeit eines „dritten Wegs“ zwischen Flucht und Angriff, nämlich Gesellschaftsbildung durch reziproke Anerkennung und Verständigung immer wieder unterläuft. Folgt man dieser Deutung, so wurzeln die organisierten, in ihren Ausmaßen und in ihrer Differenzierung alle natürliche Gewalttätigkeit übertreffenden kulturellen Gewaltausübungen, der Tötung und des Krieges und ihre Faszination weniger in einer menschlichen (männlichen) Natur, sondern in einer Glaubenspraxis, die schon in ihren frühkulturellen Ausprägungen den männlichen Jugendlichen und Erwachsenen Gewalt und Tötung als Möglichkeiten einer Übertretung eröffnet, die sich mit dem Versprechen der Selbstbefreiung und Souveränität verbinden. Vermutlich wurde bereits mit dieser frühkulturellen glaubenspraktischen Aufladung von Tötungspraxis als Souveränitätsstiftung und der damit verbundenen Privilegierung männlicher Jägerhorden und ihrer in Ansätzen „starken Organisation“ der Weg zur Entwicklung, Durchsetzung und Vorherrschaft des Patriarchats in der kulturellen Evolution vorbereitet. 14) Die Imagination, Souveränität durch Übertretung, durch Verletzung und Verdrängung impliziter Ethik und intuitiver Sittlichkeit gewinnen zu können, scheint das glaubenspraktische Fundament des Patriarchats und eine Quelle zu sein, aus der sich die Blutspur in der kulturellen Evolution bis heute speist. Sie nährt die patriarchale Verklärung des Krieges als elementarem Raum der Grenzüberschreitung und Erzeugung kollektiver Identität durch Zerstörung des „sozialen Anderen“ seit den Stammeskriegen der Frühzeit bis zu den High-Tech Kriegen der Gegenwart ebenso wie in den christlichen und islamistischen Religionskriegen und den heute wiederkehrenden Kriegen der Stämme und Ethnien. In all diesen Konflikten haben verknappte natürliche und wirtschaftliche Ressourcen eine wichtige, aber in ihrem Kern eher legitimatorische Funktion. Anders ausgedrückt: Worum es geht, ist bis heute austauschbar. Entscheidend ist die Selbststeigerung im Ausagieren „mimetischer Rivalität“ (René Girard) und der Gewinn an Anerkennung und Souveränität für den Sieger. 15) Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die soziale, mimetische Gewalt und Rivalität zwischen Völkern, Kulturen und Nationen eine Ausprägung des Strebens nach Souveränität durch „harte Grenzziehungen“ darstellt, die auch die vielfältigen Formen der Unterdrückung menschlicher Natur und die Deformation der Mitnatur antreibt. In der Geschichte der kulturellen Lebensform bis heute sind strukturelle und organisierte Gewalt gegen den sozialen Anderen, gegen innere und Mitnatur Ausdrucksformen einer geistigen Gewalt, die in der androzentrischen und patriarchalen Verzerrung kultureller Grammatik verwurzelt ist.

Die frühkulturelle Evolution und ihr ambivalentes Erbe Die frühkulturell ausdifferenzierte Gemeinschaftsbildung, die sozialisatorische Praxis der reziproken Beseelung und die animistische Glaubenspraxis sind bis heute in allen Kulturen (als ihre wohl älteste kulturelle Schicht) wirksam und prägen auch die phänotypische Organisiertheit/​Organisation von Nahbeziehungen 158

und Gemeinschaften wie auch der Psyche und des Handelns der modernen Menschen. Wie dargestellt findet sie sich hier ausgestaltet und verbreitet als „Mimesis der Zärtlichkeit“ in sozialisatorischen Bindungen der Liebe, der Familie, der Freundschaft und der Gemeinschaft wie auch im (religiösen) Glauben an Existenz und Macht der Liebe in der Welt. Andererseits ist aber auch schon in den Frühkulturen, mit dem Souveränitätsgebahren der Männerhorde eine „Mimesis der Gewalt“ (Rene Girard) entstanden, die die kulturelle Lebensform ebenfalls bis heute, als patriarchales „Theater der Souveränität“ (Jaques Derrida) prägt. Kontinuität und Exzessivität geistiger und organisierter Gewalt in der Kultur wurzeln, wie versucht wurde zu zeigen, unterhalb von jeweils relevanten (psychologischen, politischen, ökonomischen u.  a.) Konstellationen und Interessenlagen im „systemisch Bösen“, das sich schon in der frühkulturellen Evolution, hier zunächst in der Glaubenspraxis ausdifferenzierte und von hier aus die Alltagspraktiken verzerrte, Geist und Handeln der „Männerhorde“ und Ansätze „starker Organisation“ hervorbrachte und anleitete. Dazu gehört der Glaube, durch Tötungsmacht Souveränität (auch gegenüber dem Tod) gewinnen zu können, sowie die Konstruktion eines ordnungs- und sicherheitsverbürgenden Allgemeinen, hier zunächst die Ordnung und Hierarchie der Männerhorde, die unbedingt, auch gewalttätig zu erhalten ist. Das ist verbunden mit einer „Formatierung“ von Sozialisation, die zunehmend Gewalt nach innen, die Verdrängung und Abwehr weiblicher Sexualität und der eigenen weiblichen Anteile und die sexuelle Aufladung von Gewalt gegen andere in die männliche Rolle und Charakterbildung einschreibt. Die logozentrische Fixierung und Überhöhung des Allgemeinen fand in der durch Tötungsmacht definierten Identität und Souveränität der (männlichen) Jägerhorde ihren ersten, frühkulturellen und darauf aufbauend in der Krieger-Priester-Herrschaft, gestützt durch den religiösen Monotheismus und seine rigide moralische Ordnung, ihren hochkulturellen Ausdruck. Logozentrismus ist der glaubenspraktische Kern des Patriarchats als einer kulturellen Lebensform, die weit mehr ist als Herrschaft von Männern über Frauen: Sie koppelt „harte Grenzziehungen“ des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens der involvierten (männlichen) Individuen gegenüber dem inneren und äußeren „Anderen“ mit logozentrisch simplifizierten Deutungsmustern. Logozentrische Weltentwürfe stellen glaubenspraktische Verallgemeinerungen patriarchal verzerrter Alltagspraktiken dar, die durch diesen Logozentrismus gestützt, gerahmt, orientiert und weiter gebahnt werden und so eine „Abwärtsspirale“ von Gewalt und Gegengewalt erzeugen. Zurückreichend bis in die frühkulturelle Zeit des Übergangs vom Beutetier zum Jagdtier und der Konstitution männlicher Souveränität durch Tötungsmacht (der Männerhorde) über die hochkulturelle Ausdifferenzierung männlicher Identität und Personalität in der reziproken Anerkennung dieser Souveränität (zwischen Männern und Männerhorden) bewirken Angst vor dem Rückfall in den Status des Beutetiers und Angst vor „Weiblichkeit“ und ihren „weichen Grenzziehungen“ eine affektive und „panische“ Privilegierung von Abstraktion und Ordnung, von „harter Grenzziehung“ und Gewalt in Glaubenspraxis, Psyche und Organisation, die die ästhetischen, rationalen und normativen Gehalte der Alltagspraktiken systematisch verkürzt und bis heute der kulturellen Evolution eine patriarchale Drift verleiht. Es bedarf dieser logozentrisch geleiteten Verkürzung und Verzerrung der vier humanspezifischen Umweltbezüge – der ästhetisch- spielerischen und mimetischen Bezugnahme auf die Welt, der reziproken Empathie, der reziproken Anerkennung und der wahrheitsorientierten Objektivierung –, damit die involvierten Individuen ihre intuitive Sittlichkeit verdrängen und zu Agenten geistiger und struktureller und zu Akteuren organisierter Gewalt werden können. Das Patriarchat hat also auch einen systemischen Charakter und generiert „starke“ Organisationen und Netzwerke, durch die es sich erhält, reproduziert und ausdifferenziert. Im Rahmen der phänotypischen Landschaftsbildung der Kultur kann man sich das Patriarchat auch als eine dynamische Netzwerkbildung vorstellen, die von den Verästelungen individueller und kollektiver Psychodynamik (z. B. in der Jugend159

gewalt, im Sexismus und sexuellem Missbrauch) über die Verfasstheit der Gesellschaft, des Staats und des Rechts bis zur globalen Beziehungsdynamik von Völkern, Nationen und Kulturen die menschliche kulturelle Lebensform, wie schon gesagt, als ein „Theater der Souveränität“ (Jaques Derrida) durchzieht, hier auch „Reservate wilder Macht“ (Nils Minkmar) erzeugt und sich in einer „Mimesis der Gewalt“ (René Girard) steigert und reproduziert. In strikter Verdrängung der Einsicht, dass nachhaltige Viabilität der kulturellen Lebensform nur durch Loslassen und Teilung von Souveränität zu realisieren ist, gehört zum Patriarchat der Glaube an die Überwindung von Krisen durch ein Mehr an Souveränität, die durch mehr Verdrängung innerer Natur, durch mehr Unterdrückung des sozialen Anderen und durch mehr Herrschaft über die Mitnatur gewonnen werden soll. So betrachtet sind die ökologischen und sozialen Katastrophen sowie die eskalierenden blutigen Konflikte der Menschheitsgeschichte keine „Betriebsunfälle“ und auch nicht aus der bloßen Kollision materieller, ökonomischer und politischer Interessen ableitbar, sondern vor allem Ausdruck einer Drift zur immer erneuten Bildung von patriarchalen Netzwerken, Reservaten und „Spielfeldern“, wo man(n) in der Suche nach Gegnern und Konflikten, durch Hordenbildung und Zugehörigkeit, durch Rivalität und Wettkampf, durch Exklusion und Exzeptionalismus und durch (sexualisierte und lustvoll ausgeübte) geistige und organisierte Gewalt und schließlich auch als Suche nach dem größtmöglichen Profit Souveränität zu gewinnen und zu mehren sucht. Doch zunächst noch einmal zurück zur frühkulturellen Evolution. An der Schwelle zur hochkulturellen Evolution haben Sesshaftigkeit, Bevölkerungswachstum, verschärfte Konkurrenz um Ressourcen innerhalb der Völker und zwischen ihnen in der Alltagspraxis zur wachsenden Macht eines männlichen Grundherrn- und Kriegeradels geführt. In der Glaubenspraxis hat sich eine Priesterschaft und Wissenselite herausgebildet, die das kulturelle Gedächtnis gestaltet und verwaltet und gemeinsam mit dem Grundherrn- und Krieger-Adel die patriarchale Ordnung reproduziert und stabilisiert. Folgt man dieser Deutung, so haben nicht erst die Hochkulturen die patriarchale Ordnung und Männerherrschaft hervorgebracht, sondern deren erste Ausprägungen schon in frühkulturellen Entwicklungspfaden haben ganz maßgeblich die Entstehung von Hochkulturen ermöglicht, die dann diese Ordnung weiter ausgebaut und befestigt haben. Die skizzierte frühkulturelle Entwicklungsdynamik und Drift zum Patriarchat und zur Klassenherrschaft des Krieger-Priester-Herrn wurde in den sesshaft werdenden Kulturen (beginnend vor ca. 8000 Jahren) weiter ausgebaut und führte schließlich (zwischen 3100 und 600 v.Chr.) zur endgültigen Durchsetzung und Dominanz des Patriarchats in (fast) allen Hochkulturen. Hier wurde die durch Kriegerherrschaft verzerrte Alltagspraxis und ihre „starke Organisation“ zum Modell einer zunächst polytheistisch, dann monotheistisch gedachten Weltordnung in der Glaubenspraxis, die die weiblichen Göttinnen und Priesterinnen zunehmend entmachtete und damit wohl auch die Versklavung und Aneignung der sexuellen und reproduktiven Kapazität der Frauen im großen Maßstab ermöglichte. Dem weiteren Argumentationsgang vorgreifend kann man sagen: Aus einem noch relativ schwach organisierten, prä-religiös gestützten Patriarchat der frühkulturellen Männerhorde hat sich das hoch-kulturelle monotheistisch gestützte und stark organisierte „Väter-Patriarchat“ entwickelt. Aus diesem ist im spätkulturellen Pfad bis heute ein modernes „Brüder-Patriarchat“ entstanden, das sich zunehmend post-religiös legitimiert und sich in lernenden Organisationen und in sich globalisierenden politischen, technokratischen und kapitalistischen Netzwerken reproduziert. (Siehe weiter unten und „worst case Szenario“.) Und die schon mehrfach sich aufdrängende Frage ist, ob das Männerhorden‑, Väter- und Brüderpatriarchat in Zukunft zugunsten einer vierten, geschwisterlichen Kultur überwunden werden kann, in der u. a. an Stelle der o.g. „Reservate wilder Macht“ Reservate einer „wilden Güte“ (Jay Griffiths) sich entfalten könnten. 16) 160

Die Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ in der hochkulturellen Evolution Die selbst verordnete „harte Grenzziehung“ zur sozialisatorischen Praxis und zur Weiblichkeit stellt eine Urform des Logozentrismus, der glaubenspraktisch geleiteten gewalttätigen Exklusion dar, die die weiteren sozialen, politischen, psychischen und kognitiven Differenzierungen in der hochkulturellen Evolution prägt. Es ist eine schon in den Frühkulturen verwurzelte, zunehmend „kulturwüchsige“, von gläubigen Männern „stark“ organisierte zwischenmenschliche Gewalt, die nun in der Ausdifferenzierung der hochkulturellen Gesellschaft, durch reziproke Anerkennung, durch Vertrag, Recht und Moral bearbeitet und begrenzt wird, aber sich hier auch immer wieder einen Wiedereintritt verschafft. Im hochkulturellen Entwicklungspfad kultiviert die patriarchale Ordnungsbildung die Gewalt im zweifachen Sinn: Sie „hegt“ die Gewalt „ein“, unterwirft sie Gesetzen (z. B. einer geregelten Kriegsführung) aber entfaltet und differenziert sie auch in diesem Rahmen als Vielfalt organisierter Gewalt. Das scheint in einem sozialen System, dessen fundamentale Konstruktionsregel die reziproke Anerkennung einer (sich in ihrem Kern in Tötungsmacht begründenden) Souveränität zwischen Männern auf Kosten einer Exklusion des Weiblichen ist, quasi „programmiert“ zu sein. Zwar eröffnet das hochkulturelle System einen Entwicklungskorridor für die Bearbeitung und Einhegung von Gewalt durch soziale Regelungen wie die Entwicklung von Moral, Recht und Vertrag, die Clans, Gruppen und Ethnien übergreifen und mit einer schrittweisen Domestizierung von Tötungsgewalt, einer Befriedung kriegerischer Verhältnisse und Einhegung von Gewalt nach innen wie nach außen verbunden sind, aber geistige und organisierte Gewalt durchbrechen hier immer wieder und bis heute ihre zivilisatorische Einhegung. Die Ausdifferenzierung der weltlichen Herrschaftspraxis des „Krieger-Herrn“, der geistigen Herrschaft des „Priester-Herrn“ und ihre gegenseitige Stützung charakterisieren den Entwicklungspfad europäischer Hochkulturen als „integrativ gesteigerter Kulturen“ (Jan Assmann): Die Ausdifferenzierung stratifizierter Gesellschaft und einer mythischen und religiösen Glaubenspraxis, die die Welt als eine dazu passende moralische Ordnung entwirft.

Hochkulturelle Konstruktionen der „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ Im Zuge ihrer weiteren Entwicklung und Festigung hat die hochkulturelle Glaubenspraxis in einer Jahrtausende andauernden Folge von Abstraktionen das „Weibliche“ und das „Männliche“ als kulturelle Imaginationen entworfen und Frauen und Männer entsprechend geformt: die Frau als Mutter, als Heilige, als Hure, als ästhetisches „Gebilde“ und Inkarnation einer ebenso verlockenden wie bedrohlichen Natur und sexuellen Praxis, den Mann als Mitglied der „Männerhorde“, als sich selbst steigernden Kämpfer, Helden und faustischen Naturbeherrscher und Träger der geistigen Ordnung. Nicht nur die (Hegelsche) Dialektik von Herr und Knecht, sondern auch eine Dialektik des Männlichen und des Weiblichen sind seitdem Triebkräfte hochkultureller und spätkultureller Evolution. In ähnlicher Weise wie die Arbeiter-Knechte durch Lernen und Wissensmehrung im Zuge der Be- und Verarbeitung der Mitnatur die Macht der Krieger-Herrn, die sich dieser Erfahrung durch Herrschaft und Ausbeutung entziehen können, immer wieder und zunehmend erschüttern, so vermögen auch die Frauen durch ihr Lernen im Zuge der Erfahrung und Entfaltung menschlicher Natur das Denken und die Macht der Priester-Herrn, die sich auch diesen Erfahrungen nicht angemessen stellen können, bis heute zunehmend zu erschüttern. Und je stärker das patriarchale Denken durch das Fühlen, Denken und Wissen der Knechte und der Frauen verunsichert wird, umso härter und undurchdringlicher wurde bis heute sein narzisstischer Schild gegen diese Erfahrung und eine von hier ausgehende Möglichkeit der Selbstveränderung. 161

Über Jahrtausende ist hochkulturelle Entwicklung (zumindest) in Europa geprägt durch eine patriarchal „verhärtete“ Inklusion und Exklusion, die den sozialen Anderen polarisiert in den zugehörigen Kumpan und in (paranoische) Projektionen des Andersartigen und des Andersgläubigen als Bedrohungen: die ungezähmte Weiblichkeit, das unerzogene Kind, der zu bekehrende oder zu vernichtende Ungläubige, der barbarische Wilde, der bösartige Jude, der unterentwickelte Neger, der aggressive Moslem etc., in deren Unterwerfung und Disziplinierung bzw. Ausgrenzung und Tötung die Identität und Souveränität der „Männerhorden“ und des „Väterpatriarchats “sich immer aufs Neue zu bestätigen sucht.

Selbsterhebung des männlichen Geistes Hochkulturelle Evolution ist mit einer sich steigernden Selbsterhebung des menschlichen, als männlich/​ göttlich/​gut imaginierten Geistes über eine geistlose und potentiell als weiblich, niedrig und böse imaginierte Natur verbunden. 17) Insofern tragen die Ausdifferenzierungen der hochkulturellen Alltagspraxis und der hier realisierte Gewinn an (männlicher) Gestaltungsmacht den Makel einer Verzerrung durch eine androzentrische und logozentrische Glaubenspraxis, die eine fundamentale und absolute Differenz zur Natur und zum „Anderen“ sowie die Souveränität über den Tod immer aufs Neue im Geltungsanspruch der „Göttlichkeit“, Universalität und „Unsterblichkeit“ der eigenen geistigen Ordnung behaupten muss und daher in sich selbst Differenzen nur noch als Elemente dieser imaginierten zeitlosen Einheit, als deduzierte zulassen kann. Hier liegen die Wurzeln einer naturfeindlichen, die Mitnatur ausbeutenden Praxis und eines moralischen Rigorismus, der auch die menschliche Natur, Körper und Psyche auf bloßen Stoff geistig-moralischer (Selbst)disziplinierung und – Formung reduziert. Die patriarchale „Engführung“ der Glaubenspraktiken und die damit verbundene Verkürzung der Alltagspraktiken und ihrer impliziten praktischen Vernunft erzeugen ein logozentrisches Bewusstsein und Wissen, das sich im Verlauf seiner Entwicklung von Prozessualität und Zeitlichkeit, vom Fließenden und vom Wandel, von Übergängen und Widersprüchen zu „reinigen“ sucht. Da aber auch diese im religiösen Logozentrismus erstarrte Weltordnung in den Vollzügen der Alltagspraktiken, in ihrer Freiheit und Kreativität, in Zwischenleiblichkeit, Empathie und Sinnenfreude, in Kooperation und Wahrheitssuche ständig verletzt werden musste, wurde nun die darin sich vermeintlich ausdrückende Ähnlichkeit des Menschen mit der Natur, seine Naturhaftigkeit zu einer unerschöpflichen Quelle der Schuld, die beständig durch „Arbeit am Ich“, eine Selbstopferung im Sinne einer Abspaltung des „inneren Anderen“, seiner (nun „bösen“) Naturhaftigkeit ausgeglichen werden musste. Selbstopferung und hier vor allem die Abspaltung und Verurteilung des Körpers und der Sexualität als „sündiges Fleisch“ bekommen in den monotheistisch (jüdisch, christlich und islamisch) geprägten Hochkulturen, im Rahmen personaler Subjektivierung und der Anerkenntnis und Geltung einer moralischen Weltordnung eine Schlüsselfunktion. Da die abgespaltene Naturhaftigkeit in den alltagspraktischen Vollzügen und Erfahrungen zwangsläufig immer wiederkehrt, muss auch die Opferung von Selbstanteilen hier bis heute ständig wiederholt werden. Das „Väterpatriarchat“ hat in seiner spezifisch religiös-monotheistischen Ausprägung die hochkulturelle Evolution im europäischen Entwicklungspfad nachhaltig geprägt. Ohne die glaubenspraktischen Entwürfe patriarchaler Ordnung und die hier erzeugte patriarchale Drift kultureller Evolution sind Aufstieg und Ausdifferenzierung wie auch Erosion und Entdifferenzierung des hochkulturellen Systems in Europa und wohl auch darüber hinaus nicht angemessen zu verstehen. Das „Väterpatriarchat“ hat durch geistige und organisierte Gewalt den Aufstieg der Hochkulturen, der monotheistischen Religionen und der Reiche in Europa gebahnt und andererseits ihren schließlichen Abstieg immer dann und dort noch verstärkt und beschleu162

nigt, wo es diesen durch exzessive Steigerung von Gewalt verhindern und das Scheitern der religiös-logozentrischen Weltkonstruktion aufhalten wollte. Die Triebkräfte einer sich bis heute hinziehenden Erosion und Erschöpfung des hochkulturellen Systems in Europa sind also unschwer erkennbar: Unter dem Regime logozentrisch „verhärteter“ Religion, ihrer rigiden moralischen Weltkonstruktion und der dadurch geleiteten Kontingenzbearbeitung in „starker Organisation“ musste dieses System in the long run scheitern, was durch die letztendlich vergeblichen und (selbst)destruktiven Versuche seines Erhalts, durch weitere logozentrische „Verhärtung“ und eine darin begründete Politik der Exklusion und Vernichtung des „Anderen“ noch beschleunigt wurde.

Logozentrische Verhärtung des Christentums In Ansätzen schon der ägyptische und griechisch-römische Polytheismus und dann vor allem Judentum, Christentum und Islam bezeichnen verschiedene Wege der Ausdifferenzierung einer religiösen Glaubenspraxis mit einer expliziten Normativität, die eine stark organisierte Mitgestaltung der Welt anleitet. Im ägyptischen und griechisch-römischen Polytheismus war die Herstellung und Wahrung religiös moralischer Ordnung eng mit der Regelung weltlicher Praxis verbunden, was einerseits Herrschaft zu einer religiösen Praxis und die Herrscher zu Stellvertretern oder Gesandten der jeweils höchsten Götter auf Erden machte, andererseits dieser Herrschaft aber auch, wie im Falle der römischen Glaubenspraxis und ihrer Bereitschaft, fremden Göttern „Asyl“ zu gewähren, gewisse liberale und tolerante Züge verlieh. Insofern kann man diesen ersten Schritt in der Evolution der hochkulturellen Glaubenspraxis als eine „Geburtshilfe“ und Legitimation weltlicher Gesetze und ihrer staatlichen Durchsetzung verstehen, die der „rohen“ eine ansatzweise eingehegte, legitimierte und monopolisierte Gewalt entgegensetzten. Die Glaubenspraxis hat hier der Ausdehnung und moralisch rechtlichen Regelung von Fernbeziehungen und einer (auch) friedensstiftenden sozialen Integration „gedient“. Demgegenüber hat sich mit den abrahamitischen Offenbarungsreligionen, mit dem jüdischem, christlichen und islamischem Monotheismus ein zweiter Schritt hochkultureller Evolution vollzogen, in dem religiöse Moral sich nun zunächst vom Staat und von jeder Vermischung mit weltlicher Herrschaft zu befreien suchte. Insbesondere Judentum und Christentum sind als spirituelle Befreiungsreligionen entstanden: Der jüdische Gott war ein Gott der Befreiung nicht nur von Ägypten, sondern von jeglicher weltlichen Herrschaft und das Urchristentum bildete eine spirituelle Gemeinde, die sich nicht nur gegen das römische Imperium stellte, sondern jedes Versprechen diesseitiger Erlösung zurückwies. Diese Einführung einer „Zwei Welten Theorie“ begründet die Ambivalenz des Monotheismus bis heute. Einerseits eröffnet dieser einen Raum der spirituellen Entfaltung und Individuation, der Autonomie und der Selbstkritik der Subjekte und damit auch der möglichen Kritik weltlicher Herrschaft und Ordnungsbildung aus der Perspektive einer möglichen Gemeinschaftsbildung der Menschen als „Kinder Gottes“. Andererseits entsteht mit dem Monotheismus aber auch ein patriarchaler und eifernder Gott, der sich seinen Kindern unmissverständlich offenbart und diese verpflichtet, in starker Organisation ihre Alltagspraxis und ihre Lebensformen nach ihren religiös spirituellen Maßstäben zu gestalten und die Ungläubigen auch mit gewalttätigen Mitteln zu bekehren. Der jüdische Gott blieb, in Verknüpfung mit dem Schicksal der Diaspora des jüdischen Volkes in der Weltgeschichte, über lange Zeit ein extraterritorialer „Nomadengott“, der die Spiritualität der jüdischen Gemeinde begründete und dieser die Aufgaben der Bekehrung der „Anderen“ ersparte, sodass hier die Möglichkeit einer kollektiven Schuld erst in der Gegenwart, durch Verknüpfung mit einem wehrhaften Staat entstehen konnte. Demgegenüber vollzog sich in den Entwicklungen des Islams und Christentums ein dritter Schritt in der Evolution hochkultureller Glaubenspraxis: Die Wiederverknüpfung einer radikalisierten und missionari163

schen Glaubenspraxis mit politischer Macht und Imperialismus. In systemevolutionärer Perspektive hat dieser dritte Schritt im Christentum die Erosion des hochkulturellen Systems in Europa beschleunigt – ähnlich wie die derzeitige Erosion orientaler Hochkulturen vor allem dort beschleunigt wird, wo ein radikaler Islamismus sie aufzuhalten sucht. Denn alle Versuche, die phänotypische Vielfalt und Erfahrung kultureller Alltagspraktiken logozentrisch unter das Regime einer moralischen Ordnung zu stellen, müssen irgendwann scheitern. Oder anders ausgedrückt: Wo eine glaubenspraktisch von „oben“ begründete Moral nahezu ausschließlich kulturelle Kontingenzbearbeitung anleitet, kann es zwar „starke“ aber nur wenig lernfähige Organisationen geben. In Europa entstandene hochkulturelle Imperien wie das Römische Reich und das Reich Karls des Großen waren gekennzeichnet durch eine glaubenspraktisch formulierte Mission, die sie insbesondere in den Phasen des Aufbaus zu rücksichtsloser Zerstörung, Eroberung und Unterwerfung der „Anderen“ führte und dies legitimierte. In ihrer Hochblüte bildeten sie vielfach ein attraktives Auffangbecken, in das Völker an der Peripherie hineinwollten und im Zuge ihres Verfalls versuchten sie mit aller Gewalt und doch vergeblich sich gegen diesen anzustemmen. 18)

Hochkulturelle Evolution in Europa und ihr ambivalentes Erbe Die Ausdifferenzierung und zirkuläre Koppelung einer soziale Fernbeziehungen vertraglich und moralisch integrierenden und differenzierenden Alltagspraxis mit einer zunächst mythisch-polytheistischen später religiös-monotheistischen Glaubenspraxis und ihre Stützung durch eine aktive, bild- und schriftsprachlich geprägte kulturelle Gedächtnisbildung gehören zur Charakteristik europäischer Hochkulturen. Diese hochkulturelle „Grammatik“ hat die phänotypische Entwicklung „starker Organisationen“ ermöglicht und konnte sich durch diese hindurch einige Zeit im europäischen Pfad stabilisieren, ausdifferenzieren und konservieren – vom Zusammenschluss männlicher Krieger- und Priesterherrschaft zum „Väterpatriarchat“ in frühen staatsähnlichen Ordnungsbildungen der ersten sesshaften Völker über die antiken Imperien bis hin zur Reichsbildung mit institutionalisierter Kaiser-, Königs- und Adelsherrschaft, mit Reichskirche und Papsttum in der Blütezeit europäischer Hochkultur. Bei aller Vorsicht mit Blick auf die Unterschiede und Besonderheiten im Vergleich mit nicht-europäischen Hochkulturen, (der hier nicht geleistet werden kann), scheint die skizzierte hochkulturelle Evolution in Europa auch exemplarische Züge zu haben, die es erlauben, Hypothesen zur Ausdifferenzierung logozentrischer Glaubenspraktiken und ihrer Rolle im Aufstieg und Untergang von Hochkulturen zu formulieren. Auch hochkulturelle Alltagspraxis folgt einerseits der impliziten Ästhetik, Theorie und Normativität der Gemeinschafts‑, der Gesellschaftsbildung und der technischen Nutzung und Mitgestaltung der Welt, die verbunden ist mit einer intuitiven Sittlichkeit (Empathie und Mitgefühl, Gerechtigkeitsempfinden und Wahrheitsstreben) der involvierten Individuen, ohne die Kultur nicht bestehen und sich reproduzieren könnte. Über alle Klassen und Schichten hinweg folgten und folgen in allen  –  z.  B. auch in den durch Buddhismus, Hinduismus und Islam geprägten – Hochkulturen viele Menschen in vielen Situationen ihres Lebens diesen Handlungslogiken und ihrer impliziten Ethik und tragen in ihren alltagspraktischen Vollzügen zur Viabilität, zur Stabilisierung und Differenzierung hochkultureller Lebensformen bei. Dabei werden insbesondere die „Logik“ der Vergesellschaftung und ihre implizite Ethik der reziproken Anerkenntnis des sozialen Anderen sowie die Subjektivierung der Menschen zu Personen weiter ausdifferenziert. Aber andererseits hat sich in der hochkulturen Evolution auch eine schon in den frühkulturellen Evolution entstandene patriarchale, geistige Gewalt weiter ausdifferenziert, die mehr oder weniger massiv die religiösen Glaubenspraktiken androzentrisch verkürzt und logozentrisch verhärtet, die implizite Ethik der Alltagspraktiken verzerrt und strukturelle und organisierte Gewalt anleitet, was christliche wie auch orien164

tale, vor allem durch Hinduismus und den Islam geprägte Hochkulturen charakterisiert. In der hochkulturellen Evolution gibt es eine Drift der religiösen Glaubenspraxis zu „harten“ Grenzziehungen, die die soziale Praxis reziproker Anerkennung und Gerechtigkeit durch Herrschaft, Unterwerfung und Ausbeutung und durch den Kampf um Anerkennung zwischen männlichen Herrschaftsträgern, die sozialisatorische Praxis der Entfaltung von Subjektivität durch ihre Unterdrückung in Disziplin, Gehorsam und Pflicht und die im objektivierenden Umweltbezug impliziten Orientierungen an Sachhaltigkeit und Wahrheitssuche durch geschlossene und dogmatische, sich gegen sinnliche Erfahrung und Erkenntnis immunisierende Weltbilder verzerrt und verdrängt. Diese hochkulturelle „Grammatik“ bildet ein „Sinngerüst“, das die über Frühkulturen hinausgehende hochkulturelle Evolution auf der Erde prägte und bis heute prägt. Sie hat rund um den Globus eine Vielzahl von Kulturen hervorgebracht, deren Entwicklung und Ausdehnung in der Vielfalt ihrer Berührungen und Wechselwirkungen, Vermischungen und Zerstörungen lokaler Kulturen als eine frühe „archaische Form der Globalisierung“ (Christopher A. Bayly) bezeichnet werden können. 19) Dabei handelte es sich um eine patriarchal geprägte, durch einen religiösen Androzentrismus legitimierte Eroberung, Ausbeutung und Vernichtung von (Stammes)kulturen in ungeheurem Ausmaß. 20) Der „Motor“ hochkultureller Imperien ist die glaubenspraktisch, durch logozentrische Ordnungsentwürfe geleitete „starke Organisation“– vor allem in ihren Ausprägungen als Kirche oder als strukturell ähnliche Glaubensgemeinschaft, als bürokratische Verwaltung, als Militär und als Militarisierung der Gesellschaft. Kraft dieser Ausstattung konnten Imperien alle völkischen Grenzen überschreiten, sich tendenziell ins Unendliche ausdehnen und „Asymmetrie organisieren“ (Herfried Münkler). 21) Aber weil der androzentrisch verkürzte und logozentrisch verhärtete Monotheismus die viabilitätssichernden Regulative und implizit ethischen Potentiale der Alltagspraktiken, ihre implizite Ästhetik, Theorie und Normativität nicht angemessen reflektieren, entfalten und pflegen konnte, waren auch die hierdurch orientierte und geleitete moralische Vergesellschaftung und ihre starken Organisationen nicht flexibel und lernfähig genug, um sich in der kulturellen Evolution auf Dauer halten zu können. In der europäischen Geschichte nach Christi Geburt konnte sich das hochkulturelle System gerade wegen seiner patriarchalen Strukturiertheit und „harten Grenzziehungen“ nicht wirklich nachhaltig stabilisieren. 22) Schon das römische Imperium der Spätantike hatte Züge einer reaktionären, künstlichen und entsprechend labilen Reinstallation hochkultureller starker Organisation und war insofern ein Rückfall hinter schon erreichte Ansätze spätkultureller Differenzierung und lernender Organisation in der römischen Republik. Vom autogenen sich selbst regierenden Staat nach städtischem Vorbild, und einem föderalen System der regionalen Selbstverwaltung, in dem das Volk zumindest mitentscheiden und seine Repräsentanten mitregieren konnten, hatte sich Rom zur Monarchie des zentralisierten, bürokratisch verwalteten Staates mit einer Militarisierung der Gesellschaft und einer logozentrisch „verhärteten“ Staatsreligion zurück entwickelt. Auch das Reich Karls des Großen kann man als eine typisch hochkulturelle, starke Organisation verstehen, die sich auf die logozentrisch patriarchale Konstruktion einer überzeitlichen religiösen Ordnung der „ganzen Welt“ stützen konnte, die in der christlichen Glaubenspraxis und Kirche entwickelt, mit technischen Medien (z. B. der Predigt und der Minuskelschrift) als vermeintliche „Aufklärung“ verbreitet wurde und die gewalttätige Bekehrung der Ungläubigen anleitete. Betrachtet man das Reich als eine Organisation politischer Steuerung und Kaiser Karl und sein „Team“ als „Polit-Manager“, so wird einsichtig, dass das eine ungeheuer starke aber nur begrenzt lernfähige und auch deshalb von Zerfall bedrohte Organisation war. Ähnliches gilt auch für den späteren Zerfall der multinationalen Großreiche, das Osmanische Reich, Österreich-Ungarn und das zaristische Russland, deren Erbe die „post-imperialen Räume“ (Herfried Münkler) und die hier bis heute immer wieder aufbrechenden Konflikte und Kriege an der Peripherie Europas waren und sind. Zurück kommend auf die Entwicklung der christlichen Staatskirche – vom römischen Imperium über das Reich Karls des Großen bis zur Kirche der Nationalstaaten – kann man diese in sozial- und politikgeschicht165

licher Sicht, mit Blick auf ihre sozialintegrative Funktion nach innen als eine Art „Erfolgsgeschichte“ lesen, aber man sollte sich auch – mit Blick auf die Blutspur, die sie dank ihres eifernden und moralisierenden Logozentrismus und ihrer patriarchalen „starken Organisation“ durch die europäische Geschichte gezogen hat – ihre zutiefst kultur- und menschenfeindlichen Züge vergegenwärtigen. Mit der christlichen Reichs- bzw. mit den späteren Staats- und Nationalkirchen war in Europa eine „Mischung“ aus spiritueller Radikalität und politischer Macht entstanden, die durch ihre Teilhabe am Gewaltmonopol gewaltfähig, oft gewaltbereit und auch gewaltausübend war. Aber das hier entstandene Ausmaß an Gewaltbereitschaft und an tatsächlich, im Namen des christlichen Gottes ausgeübten Gewaltexzessen ist weder mit dem Monotheismus noch mit seinem „Sündenfall“ zur Staatskirche allein hinreichend erklärbar. Diese Gewalt ist in der skizzierten Ausdifferenzierung des systemisch Bösen und in der patriarchalen „Formatierung“ der hochkulturellen starken Organisationen und ihres (überwiegend männlichen) „Personals“ begründet. Weil und soweit sich die christliche Kirche auf eine möglichst vollkommene moralische Durchdringung der kulturellen Alltagspraktiken „versteifte“ und damit – vom Frühkatholizismus über den mittelalterlichen Katholizismus bis zum Calvinismus – zunächst auch Erfolg hatte, hat sie zugleich an ihrem „eigenen Ast gesägt“, zur Erosion und Schwächung des hochkulturellen Systems und „starker Organisation“ in Europa beigetragen. Dabei kann man die hier beobachtbare logozentrische „Verhärtung“ der christlichen Glaubenspraxis, die Angestrengtheit ihrer Beschwörungen und Rituale, die exzessive Steigerung ihrer Forderungen an die Individuen und ihrer Macht über diese als Indiz ihrer zunehmenden Schwächung und der schon begonnenen Ablösung hochkultureller durch spätkulturelle Ordnungsbildung lesen. Andererseits erwies sich in Europa, wie bereits ausgeführt, christliche Glaubenspraxis als wandlungsfähig genug, um auch im Rahmen spätkultureller Evolution weiter zu bestehen, sich hier auch auf ihre post-logozentrischen Gehalte zu besinnen und diese weiter zu entwickeln. Wenn und soweit das Christentum sich von politischer Herrschaft auf eine Orientierung der privaten Lebensgestaltung der Individuen und ihrer Gemeindebildungen zurück zog, konnte es hier nicht nur in Nischen überleben und sich anpassen, sondern als spirituelle Kraft und als Anwalt der Individuen, ihrer Freiheit und Humanität, Geschwisterlichkeit und Solidarität die spätkulturelle Entwicklung und Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ und „werdender Vernunft“ in Europa, insbesondere die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat unterstützen. Eine ähnliche Ambivalenz kennzeichnet den heutigen Islam, der einerseits, wie bereits ausgeführt, seine Lebendigkeit und Humanität, seine Identität und normative Verbindlichkeit in „weichen Grenzziehungen“, in vielfältigen privatisierten, nicht-fundamentalistischen und nicht gewalttätigen Ausprägungen im Rahmen einer gesuchten Versöhnung mit der Moderne und einer Akzeptanz westlicher Kultur zu bewahren und zu differenzieren sucht. Andererseits sind diese Bemühungen durch die „harten Grenzziehungen“ des politischen Islamismus bedroht: durch Logozentrismus und Patriarchat, durch Beschwörung und Verhärtung der kulturellen Differenz zum Westen, in vielen menschenfeindlichen Zügen seiner Moral und in seiner aktuellen Gewalttätigkeit. Auch wenn es sich hierbei um „letzte Gefechte“ eines Islamismus handeln könnte, der in the long run eine Modernisierung und Verwestlichung des Islam nicht aufhalten kann, werden die nächsten Jahre, vielleicht noch Jahrzehnte durch diesen sich religiös legitimierenden Terrorismus geprägt bleiben. (Dazu mehr weiter unten). Der logozentrische Glaube an unumstößliche Ordnungen und ihre absolute Geltung und die patriarchale Gewalt und Politik der imperialen Annexion, der Herrschaft und der Unterdrückung, die in diesem unerschütterlichen Glauben ihre Legitimation – das „Du darfst“ (Zygmunt Baumann) – sucht und findet, haben sich, wie noch zu zeigen ist, auch in der spätkulturellen Evolution gehalten. Sie prägen bis heute die vielfältigen Barrieren und den Widerstand gegen eine offene Kultur und ihre implizite Ethik sowie die Verdrängung der intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen. Insofern legitimieren der religiöse Logozentrismus des „Väterpatriarchats“ und heute mehr noch ein post-religiöser Logozentrismus des „Brüderpatriarchats“ in verschiedenen Ausprägungen eine (selbst)zerstörerische Machtpolitik nach innen wie nach außen. 166

Auch in der spätkulturellen Evolution sind bis heute viele Form- und Landschaftsbildungen und hier insbesondere die Organisationen politischer Steuerung, wirtschaftlicher Leistung und von Bildung und Wissen in Anteilen „Spielfelder“ patriarchaler Netzwerke und des Souveränitätsgebahrens ihrer Mitglieder geblieben. Das wird im Folgenden genauer ausgeführt.

IV. 2 Die Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ im westlichen Pfad „Dem unverkennbaren Anthropomorphismus der metaphysischen Gottesidee steht … der oft übersehene Theomorphismus des autonomen Subjekts gegenüber, als das sich der Mensch in der Neuzeit zu begreifen sucht.“ (Georg Picht) Zurückreichend bis in die frühkulturelle Zeit des Übergangs vom Beutetier zum Jagdtier und der Konstitution männlicher Souveränität durch Tötungsmacht über die hochkulturelle Ausdifferenzierung patriarchaler Identität und Personalität in reziproker Anerkennung dieser Tötungsmacht haben die Ängste vor dem Rückfall in den Status des Beutetiers, vor „Weiblichkeit“ und Selbstauflösung einen affektiv besetzten und geradezu panischen Logozentrismus hervorgebracht: die Privilegierung von Abstraktion und rigider Ordnung, von „harter Grenzziehung“ und Gewalt in Glaubenspraxis, Psyche und Organisation, die bis heute der kulturellen Evolution eine patriarchale Drift verleihen. Wie schon ausgeführt, ist der Logozentrismus ein Regime der „Reinigung“ vom Konkreten im Dienste eines Allgemeinen, dessen Verabsolutierung sich aus Angst, Sicherheits- und Souveränitätsbedürfnissen nährt. Es handelt sich um eine geistige Gewalt, die die zukunftsoffene Suche nach Freiheit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit blockiert und in religiöser wie in post-religiöser Ausprägung eine Blutspur der organisierten Gewalt auch durch die Geschichte der westlichen Kultur zieht. Kennzeichnend für diese Drift ist die glaubenspraktische, logozentrische Vorentscheidung für die Seite der Schließung im Rahmen des Dreischritts von Öffnung, Schließung und ihrer möglichen Balance. Die patriarchale Präferenz des Allgemeinen prägt auch die spätkulturelle Evolution, verschüttet hier immer wieder Ansätze einer „weichen Grenzziehung“ zum (inneren, sozialen und äußeren) „Anderen“ und ihrer Ausgestaltung in lernenden Organisationen. Auch in der spätkulturellen Evolution und im westlichen Entwicklungspfad ist patriarchale Netzwerkbildung noch glaubenspraktisch geleitet durch dogmatische Verabsolutierung und Immunisierung religiöser Weltbilder. Hierzu gehören beispielsweise Islamisten, evangelikale Christen und orthodoxe Juden, die einem moralischen Logozentrismus folgen. Aber hinzugekommen sind und bis heute an Gewicht gewonnen haben der post-religiöse Logozentrismus in seinen verschiedenen Ausprägungen.

Moralischer, politischer, technokratischer und wirtschaftlicher Logozentrismus Im westlichen Pfad stützt sich patriarchale Netzwerkbildung über bis heute noch bestehende und wirksame religiöse Orientierungen hinaus zunehmend auf eine Verallgemeinerung post-religiöser Deutungsmuster. Verabsolutiert und gegen kritische Reflexion immunisiert werden kann hier ein objektiv Allgemeines – z. B. als Natur, als Evolution, als Lauf der Geschichte, als Vernunft, als Sachzwang, als wissenschaftliche Wahrheit 167

und als technischer Fortschritt -, ferner ein subjektiv Allgemeines – z. B. als Männlichkeit, als Gehorsam, als Ehre, als Charakter, als „Härte“, als Führungs- und Leistungsfähigkeit, als „Kompetenz“ etc. – sowie ein sozial Allgemeines  –  z.  B. von Volk, Gemeinschaft, Nation, Staat, Vaterland aber auch Wirtschafts- und Wohlstandswachstum, Wettbewerb und Markt, Kapitalverwertung und Profit u. a. – und schließlich auch ein ästhetisch Allgemeines – z. B. als Erhabenheit durch Größe und Monumentalität, als Ästhetik von Massenritualen, des Kriegs und des Kampfs, als Verherrlichung des Ästhetischen und der Kunst in einer Kunstreligion wie auch als Warenästhetik. Auch und gerade, weil es sich hierbei um post-religiöse Glaubensinhalte handelt, konnten und können diese Spielarten des Logozentrismus eine erhebliche Anziehungskraft auch auf Intellektuelle in der westlichen Kultur ausüben und ihre Sehnsüchte nach verbindlicher gesellschaftlicher und politischer Ordnung, nach Gemeinschaft und Bindung, nach Sinn, Selbsttranszendenz und Schönheit ansprechen. Im Rahmen der beiden evolutionären Driften des „systemisch Guten“ und „Bösen“ im westlichen Pfad haben Intellektuelle, politische und wirtschaftliche Funktionseliten und ihre Anläufe zur organisierten Mitgestaltung von Kultur und Bildung eine Schlüsselfunktion. Unter ihnen finden sich bis heute die „Geburtshelfer“ und Wegbereiter des „systemisch Guten“ und des „systemisch Bösen“. In diesem Rahmen lassen sich verschiedene spätkulturelle Ausprägungen logozentrischer Glaubenspraxis, nämlich ein moralischer, politischer und technokratischer sowie ein wirtschaftlicher Logozentrismus identifizieren, die in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen patriarchale. „Väter- und Brüdernetzwerke“ orientieren und legitimieren und sich durch diese hindurch stabilisieren und ausdifferenzieren. Das wird im Folgenden genauer beschrieben.

Moralischer Logozentrismus: die Bewahrung der väterlichen Ordnung „In dem Maße, in dem der neo-liberale Werterelativismus (…) das Denken bestimmt, erhebt auch sein unvermeidlicher Antipode aus der Welt des Absoluten sein Haupt: der strenge Vater.“ (Sergio Benvenuti) Der moralische Logozentrismus ist eher rückwärtsgewandt, konservativ bis reaktionär, nährt sich in der Regel aus einem religiösen, (vor allem christlichen, jüdischen oder islamischen), in Ansätzen aber auch post-religiösen, philosophisch begründeten Fundamentalismus, begründet hierin eine strikte moralische Formatierung des Menschen, der Sozialisation und der Gesellschaft, lehnt von hier aus die offene Kultur, vor allem ihren Individualismus, ihre Freizügigkeit und Liberalität ab und will oft auch technischen Fortschritt begrenzen und bremsen. Der moralische Logozentrismus durchzieht vor allem die sozialisatorische Praxis – die privaten und familiären Beziehungen, Vorschulen, Schulen und Hochschulen, Sekten und Bürgerbewegungen –, sucht hier die Zumutungen der offenen Kultur und der Freiheit durch Rückbesinnung auf die „rechte Ordnung“ abzuwehren und versucht, diese gegen die „Dekadenz“ der westlichen Lebensformen, gegen Individualisierung und Demokratisierung wiederherzustellen. 23) Während in einigen islamischen Kulturen das moralische Patriarchat sein menschen- und insbesondere frauenfeindliches Fühlen und Glauben, Denken und Handeln bis heute erschreckend brutal ausagieren kann, bewegt es sich im westlichen Pfad in der Regel (noch) im Rahmen der Anerkennung der Menschenrechte, des Rechtsstaats und der Demokratie und genießt insofern zu Recht den Schutz der Freiheit von Religion, Meinung und persönlicher Lebensführung. Der moralische Logozentrismus wird aber auch hier gefährlich und destruktiv, wenn und wo er explizit politisch wird und eine legitimierende Funktion in der (Wieder)errichtung eines politischen Patriarchats übernimmt. 168

Politischer Logozentrismus: Exklusion und Feindbildkonstruktion „Der Krieg ist die einfachste Form der Realität … Einen Feind zu haben, ist das höchste Gut, er ist uns eine Stütze.“ (Alexis Jenni) „Am schrecklichsten geht es gerade bei den civilisiertesten Völkern; die Mittel des Angriffs und der Vertheidigung haben keine Grenzen; die gewöhnliche Sittlichkeit und das Recht werden dem ‚höhern Zweck‘ zu gefallen völlig suspendiert, Transactionen und Vermittlungen verabscheut; man kann nur alles oder nichts haben.“ (Jakob Burkhardt) Die Netzwerke des politischen Patriarchats durchziehen die Gesellschaft und versuchen diese „von oben“ zu steuern. Wie dargestellt, bilden die Systeme des Markts, des Staats, der Demokratie sowie des Rechts ein komplexes Flechtmuster postmoralischer, aber implizit ethischer Regelungen sozialer Beziehungen: die spätkulturelle Gesellschaft. Lernende Organisation politischer Steuerung koppelt und nutzt diese evolutionären Ausdifferenzierungen und stützt sich dabei auf den Entwurf eines universalen „sozialen Anderen“: Jeder Mensch ist durch seinen Bürgerstatus prinzipiell einbezogen, sollte aber hier auch seine Freiheit und Mitverantwortung wahrnehmen und ausüben, damit „lernende Organisation“ sich entwickeln und durch diese hindurch das „systemisch Gute“ (das Flechtmuster von Öffentlichkeit, Markt, Staat, Demokratie und Recht) als „werdende Vernunft“ sich erhalten und weiter ausdifferenzieren können. Demgegenüber ist das politische Patriarchat und seine affektive Aufladung und Verabsolutierung des Kollektivs und seiner Ordnung mit einer Unterdrückung dieser Freiheit, einem festgefügten Wissen des vermeintlich „Guten“ und einer scharfen Ausgrenzung von Nicht-Zugehörigen verbunden. Dabei sind häufig Narzissmus, inszenierte Maskulinität, gespielte Selbstsicherheit und Selbsterhöhung der (Meinungs)führer mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Geführtwerden ihrer Anhänger zirkulär gekoppelt: Macht‑, Kontrollbedürfnisse und Praktiken der jeweils Herrschenden und Bindung, Identifikation und Projektion seitens ihrer Helfer und der Beherrschten bedingen und verstärken sich gegenseitig. Das politische Patriarchat legitimiert sich häufig – wie z. B. in der Spätphase der französischen Revolution, im Kolonialismus, im Kommunismus und Nationalsozialismus und neuerdings im „Putinismus“ und im „Trumpismus“ – als konsequenter Geburtshelfer der „guten Ordnung“ oder sogar des „neuen Menschen“. Seine Politik folgt zumeist dem Kaderprinzip, das alle Entscheidungen und Strategien in allen Institutionen und auf allen gesellschaftlichen Ebenen dem Prinzip der Parteilichkeit im Dienste dieser Zielsetzungen unterwirft und eine absolute, uneingeschränkt geltende Führung legitimiert. Dabei wird die kaderpolitisch gestützte Herstellung kollektiver Identität verbunden mit Abwertung, Diffamierung und Exklusion des „sozialen Anderen“, der zum Nicht-Zugehörigen mit negativen Eigenschaften stigmatisiert wird. Dazu gehören • • • • • •

der ungläubige Andere (Ideologie und Glaubenskrieg), der entseelte, nicht-menschliche Andere (Ethnozentrismus und Ethnozid), der unterentwickelte, minderwertige Andere (Kolonialismus, Versklavung und Rassismus), der Andere als „Erbfeind“ (Nationalismus und Volkskrieg) der Andere als „Klassenfeind“ (Linksfaschismus) der Andere als „Problem“ (Faschismus und Genozid)

Diese Projektionen geben der diffusen Angst, dem Misstrauen und der Ablehnung des „Anderen“ Namen, Adresse und Gesicht und befriedigen in vielfältigen Ausprägungen das archaische Bedürfnis nach Sünden169

böcken, um die eigene Identität und die der Gemeinschaft zu festigen. Darüber hinaus dienen diese Projektionen in der Geschichte der Menschheit und auch im westlichen Pfad bis heute zur Legitimation von Herrschaft. Hier gibt es immer beide Seiten: die „einfachen Leute“, die an Minderwertigkeit und Bosheit der Anderen glauben (wollen) und die Funktionseliten, die diesen Glauben propagieren, um ihre wirtschaftlichen und politischen (Macht)interessen durchzusetzen. Die Exklusion des sozialen Anderen beginnt als geistige Gewalt seiner abstrakten negativen Konstruktion und Definition und kann dann über strukturelle Gewalt – Ungerechtigkeit, ökonomische Benachteiligung und Ausbeutung, aber auch Mobbing, Diskriminierung, Diffamierung und Kriminalisierung etc. – schließlich in die organisierte Gewalt, zur Unterwerfung und Versklavung bis hin zum politisch legalisierten Massenmord und Genozid führen. Hier wird der „Andere“ nach und nach auf rechtloses „nacktes Leben“ (Giorgio Agamben) reduziert, das auch verletzt und getötet werden darf. 24) Patriarchale Konstruktion und Selbsterhöhung einer geschlossenen sozialen Ordnung und Exklusion des „sozialen Anderen“ durchziehen auch die westliche Kultur schon seit ihrem Beginn. 25) Zweifellos haben hier immer auch materielle, ökonomische und polit-strategische Interessen eine große Rolle gespielt, aber patriarchale Selbsterhöhung, Abwertung und Ausgrenzung der „Anderen“ sowie lustvolle Ausübung von Tötungsmacht im Dienste des Erhalts und der Mehrung von Souveränität bilden eine tiefer liegende Motivation, hier ohne Rücksicht auf Menschenleben und ggfs. sogar bis zur möglichen Selbstzerstörung zu agieren. 26) Das politische Patriarchat ist eine Organisation der Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung, die bis heute einerseits durch Entfesselung von Affekten und ihre mediengestützte Mobilisierung und Kanalisierung und andererseits durch spezifische (religiöse oder post-religiöse) Glaubenspraktiken und Diskurse gerahmt und gestützt, orientiert und begründet wird. 27) In der Moderne nährt sich der politische Logozentrismus teilweise aus den religiösen Gehalten des moralischen Patriarchats, ist dann rückwärtsgewendet, überhöht staatliche Ordnungsbildung und Recht zum Gottesstaat und begründet darin seine politischen Ordnungsentwürfe und ihre organisierte Durchsetzung. Beispiele dafür finden sich unter den evangelikalen Christen in den USA und in Ansätzen auch in Europa und in fundamentalistischen Strömungen im Islam. Darüber hinaus formiert sich der politische Logozentrismus aber auch „vorwärts“ orientiert, stützt sich auf eine post-religiöse (pseudowissenschaftlich genährte) Objektivierung der Welt und des Weltgeschehens, schreibt hier vermeintliche Wahrheiten fest, verabsolutiert diese und leitet daraus bestimmte politische Ordnungsentwürfe und ihre organisierte, gewalttätige Durchsetzung ab. Beispiele dafür sind Nationalsozialismus und Kommunismus. Schließlich scheint heute, auch in Reaktion auf die Krisen der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, das politische Patriarchat in den USA, in Europa und in Russland, derzeit noch gemäßigt oder auch nur als gemäßigt maskiert, wieder an Boden zu gewinnen. Diese Varianten werden im Folgenden etwas genauer umrissen.

Religiös begründeter politischer Logozentrismus heute: Evangelikale und Islamisten „Dass gute Menschen Gutes und böse Menschen Böses tun, ist normal. Dass aber gute Menschen Böses tun – dazu bedarf es der Religion.“ (Unbekannte Quelle) In seinen religiös genährten Ausprägungen zielt das politische Patriarchat auf eine Remoralisierung der kulturellen Ordnung. Es formiert sich in Gestalt eines religiösen, (christlichen, jüdischen und islamischen) Fundamentalismus, der jeweils mit dem unerschütterlichen Wahrheitsanspruch der monotheistischen Offenbarungsreligion auftritt und über die eigene sozialisatorische Praxis hinaus die Gesellschaft verändern will, politische Ziele und Gestaltungsansprüche verfolgt. 28) 170

Trotz ihrer Mischung aus Individualismus und Gemeinschaftssinn und dem daraus entstehenden zivilgesellschaftlichen Engagement, das auch sympathische Züge hat, haben die amerikanischen Evangelikalen die Festschreibung ihrer religiösen Quellen als Wort und Wille Gottes, die moralische, (nicht demokratische und rechtliche) Begründung staatlicher Autorität und ihre Einschätzung als Werkzeug und „Schwert Gottes“ mit dem islamischen Fundamentalismus gemeinsam. 29) Im Namen der Verwirklichung gottgewollter Ordnung zielen die Evangelikalen auf Begrenzung und Lenkung von Information, Wissen(schaft) und Kommunikation, auf eine politische Kontrolle der Kommunikationsmedien und die Durchsetzung ihres Weltbilds. Dazu gehört u. a. der Kreationismus, der Glaube, dass die Welt als Gottes Schöpfung genau so entstanden ist, wie es in der Bibel beschrieben wird, der sich in den USA und inzwischen auch in Europa und Deutschland zunehmend verbreitet. 30)

Islamismus Wie bereits ausgeführt, hatten viele vom islamischen Glauben orientierte Kulturen seit dem 9.  Jahrhundert dynamische und hochdifferenzierte, durch Humanismus, Liberalismus und Toleranz geprägte, sowie den Wissenschaften und Künsten aufgeschlossene Gesellschaftsstrukturen und Lebensformen, Mentalitäten und Deutungsmuster hervorgebracht. Aber spätestens seit dem 16. Jahrhundert verfiel die islamische Welt zunehmend in Stagnation. Diese Erlahmung insbesondere auch der wissenschaftlichen und philosophischen Auslegung und Öffnung islamischer Glaubenspraxis ist das Ergebnis einer Vielfalt von Prozessen in der Entwicklungsdynamik islamischer Kulturen und zwischen diesen und den christlichen Kulturen Europas. Dazu gehören verlorene Kriege wie der Verlust Andalusiens an das christliche Europa im Westen, der Einbruch der Mongolen im Osten und die damit verbundene politische und wirtschaftliche Schwächung wie auch der keimende Nationalismus europäischer Staaten und ihre Herabsetzung und Ausbeutung orientalischer Kulturen. Schließlich spielte die Erstarkung logozentrischer und dogmatischer Deutungen des Korans, die diesen als „Enzyklopädie des Wissens“ (Bassam Tibi) ansehen, eine bedeutsame Rolle. So haben bis heute „häufig Allianzen von repressiven Regimen und konservativen Gelehrten zu Interpretationen des Islam geführt, die das Streben nach rationalem Wissen verhinderten.“ 31) In vielen islamisch geprägten Kulturen konnten sich Logozentrismus und rigide Moralisierung hochkultureller Glaubenspraxis bis heute gegen die spätkulturell geprägten Entwicklungen durchsetzen und behaupten und damit Modernisierungsprozesse der Gesellschaft und Bildungsprozesse in den Bevölkerungen anhalten bzw. extrem verlangsamen, weil gesellschaftliche Ordnung und patriarchale Herrschaft in der Buchreligion, in der Rolle des Korans als eines von Gott selbst gesprochenen, absoluten Gehorsam fordernden Worts als (vermeintlich) überzeitlich begründet wurde. 32) Vor diesem Hintergrund werden in vielen islamischen, insbesondere nahöstlichen Kulturen bis heute Bildungsangebote und ‑prozesse für die breite Bevölkerung politisch abgelehnt und damit auch die korrigierende Rückwirkung von Alltagserfahrung und Reflexion auf Glaubenspraxis, die hier neue Interpretationen und Aufklärung, Differenzierung und Wandel auslösen könnte, vielfach blockiert. 33) Bis heute ist auch eine sträfliche Vernachlässigung der Philosophie und der Geistes- und Naturwissenschaften in vielen muslimischen Ländern zu beobachten. 34) Das aktuelle Wiederaufblühen des religiösen Logozentrismus im Islam muss wohl vor dem Hintergrund seiner schleichenden Erosion als Staatsreligion und auch als Folge einer tiefgehenden Irritation durch die westliche Kultur gesehen werden. Heute sehen viele Moslems sich selbst und ihre kulturelle Lebensform nicht durch einen Mangel, sondern durch ein Zuviel an Modernisierung gefährdet. Dem von Edward Said geprägten Begriff des „Orientalismus“ als Bezeichnung des verzerrten Blicks des Westens auf den Islam, kor171

respondiert der von Avishai Margalit und Ian Buruma geprägte Begriff des „Okzidentalismus“ als pauschale antiwestliche Einstellung, die vier ideologische Konstanten aufweist. Nämlich den Hass • auf die Stadt als Ort der Vielfalt, der Vermischung, der Liberalität, des Hedonismus und der „Unmoral“, • auf den Bürger, auf seinen Anti-Heroismus und seinen Egoismus, auf das kapitalistische Wirtschaften insgesamt, • auf Vernunft als elementare Erfahrung von Universalität, • auf Frauen und auf jedwede nicht von männlichen Idealen dominierte Daseinsweise. 35) Ähnlich wie die Evangelikalen setzt auch der fundamentalistische Islam, wie er etwa von der Muslim-Bruderschaft vertreten wird, der „gottlosen Lebensform“ des Westens die Idee des Gottesstaats entgegen, in dem (und nur in dem) der Mensch zum „wahren Menschen“ werden kann. 36) Zur Erklärung der fundamentalistischen Verhärtungen islamischer Glaubenspraxis und ihrer Verkürzung zum Islamismus auch und insbesondere in den Köpfen islamischer Eliten gehört auch die Geschichte der Enttäuschungen und Demütigungen islamischer durch Repräsentanten westlicher Kulturen, während die hier stimulierten Hassreaktionen wiederum Tendenzen zur harten Grenzziehung im Westen verstärken. Wie oft zwischen Männerhorden und in der durch sie dominierten Geschichte, können schon symbolische Verletzungen wie mangelnde rituelle Anerkennung und Beleidigungen „harte Grenzziehungen“ und (selbst)zerstörererische Reaktionen auslösen. 37) Hinzu kommen heute die Demütigung der patriarchal formatierten jungen Männer durch die zunehmend emanzipierten Frauen in den sich verwestlichenden Kulturen und die Enttäuschung über nicht eingehaltene Versprechen westlicher Kultur und kapitalistischer Wirtschaft. 38) Die anwachsende Menge der arbeits- und perspektivlosen jungen Männer in den (noch) islamisch geprägten Kulturen 39) wie auch in den sozialen Brennpunkten und Verliererzonen der westlichen Gesellschaften bildet ein Reservoir ihrer Rekrutierung für Terrornetzwerke, ihrer abstrakten Negation der westlichen Kultur, der lustvollen Übertretung ethischer Regeln, der Ausübung von Gewalt und der dadurch geleiteten (selbst)zerstörerischen Aktionen, die wiederum Islamophobie und antimuslimisch chauvinistische Bewegungen und Parteien in den westlichen Kulturen wie z. B. „Pegida“ und die AFD in Deutschland stärken.

Post- religiöser Logozentrismus und politisches Patriarchat In ähnlicher Weise, wie bereits die Abstürze religiöser (islamischer wie christlicher) Hochkulturen in die organisierte Gewalt in der patriarchal logozentrischen Verhärtung und Überhöhung der moralischen Ordnungsentwürfe des Monotheismus zur einzig geltenden „guten“ Ordnung begründet waren, werden bis heute Abstürze moderner Zivilisation in Barbarei bis hin zum staatlichen und industrialisierten Massenmord durch die Verabsolutierung post-religiös begründeter Ordnungsentwürfe zu einzig „wahren“ und „guten“ Ordnungen legitimiert und gebahnt. Wenn die Erfindung der vorgängig allumfassenden Ursünde, dass die Menschen von Natur aus böse seien und daher ihre (Selbst)unterdrückung notwendig sei, der patriarchale Sündenfall der religiös-monotheistischen, die Welt moralisierenden Glaubenspraxis ist, dann ist die ebenso vorgängige und alles einbeziehende Unterwerfung der Menschen unter das dictum einer vermeintlich guten, legitimen und auf Wahrheitsbesitz begründeten Ordnung, zu der sie zu bekehren seien, der patriarchale Sündenfall der post-religiösen Glaubenspraxis. Im westlichen Pfad wurde die Verabsolutierung der Gemeinschaft des rechten Glaubens an Gott und seine göttliche Ordnung zunehmend durch den Glauben abgelöst, selbst im Besitz einer nun post-religiös be172

gründeten Wahrheit zu sein und die „gute Ordnung“ der Gesellschaft und den „neuen Menschen“ verwirklichen zu können. 40) In dieser post-religiösen Ausprägung stützt sich der politische Logozentrismus auf die Festschreibung vermeintlich objektiv gegebener „Wahrheiten“, ist dabei aber zukunftsbezogen. Im Namen dieser Wahrheiten betreiben die Netzwerke des politischen Patriarchats Zukunftsgestaltung in „starker“ Organisation, in Militär und Polizei, in Parteien und autoritärer Staatsführung. Hier legitimieren sie sich als Repräsentanten und Akteure eines kollektiven Willens, der „gesunden“ (Volks)gemeinschaft, der Rasse, der Nation oder des „Proletariats“, maskieren sich mit Werten wie „Ordnung“, „Gemeinschaft“ und „Sicherheit“ oder auch „Befreiung“, „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ und führen weltweit und immer wieder das „Theater der Souveränität“ (Jaques Derrida) auf. Eine patriarchale, zwar aus dem Monotheismus abgeleitete, aber letztlich post-religiöse Definition der Souveränität findet sich in der politischen Theologie von Carl Schmitt. Wie am historischen Beginn des Patriarchats die Männerhorde ihre vermeintliche Souveränität durch Setzung und Panzerung ihrer Identität in „harten Grenzziehungen“ zum Anderen und seiner Formatierung zum Feind gewann, wird hier politische Souveränität in einer Selbstgesetzgebung begründet, die diesseits demokratischer Willensbildung den „Feind“ ausschließt, vor jeder Anerkenntnis eines geltenden Rechts stattfindet und dieses wieder suspendieren kann. 41)

Vom Besitz der Wahrheit zum organisierten Massenmord Das 20.  Jahrhundert war bekanntlich vor allem durch zwei Ausprägungen eines post-religiös begründeten politischen Patriarchats geprägt: durch den Kommunismus und den Nationalsozialismus. Beide folgten einer politischen Romantik, die Politik als Dienst für die Volksgemeinschaft bzw. für das Proletariat definierte und legitimierte. Und beide bekamen entsprechende Deutungs- und Orientierungshilfen von Intellektuellen und betrieben die Herstellung der vermeintlich „richtigen Ordnung“ und des „neuen Menschen“ von oben nach unten. Beide setzten das Recht außer Kraft, bzw. instrumentalisierten es, und folgten dabei dem Kaderprinzip, demgemäß alle Entscheidungen und Strategien in allen Institutionen und auf allen gesellschaftlichen Ebenen dem Prinzip der Parteilichkeit im Dienste der „richtigen“ Zielsetzungen und der geplanten Zukunft unterworfen wurden. Dabei war der Kommunismus zumindest in seinem ideologischen Kern und Selbstverständnis noch von der bürgerlichen Idee der Universalinklusion aller Menschen durchzogen und zielte auch in seinen patriarchalen Ausprägungen auf Umerziehung und nicht zwangsläufig auf Tötung der „Anderen“– auch wenn diese schließlich millionenfach in den „Säuberungen“ von Stalin über Mao bis zu Pol Pot praktiziert wurde. 42)

Der Nationalsozialismus: Vernichtungsbürokratie und Todesindustrie Demgegenüber war der Nationalsozialismus schon in seinem ideologischen Kern ein Programm der Vernichtung der „Anderen“. Organisierte Gewalt bis hin zum Völkermord und Genozid, auch als rituelles Opfer, um eine Gemeinschaft als Gruppe, Stamm, Rasse, Volk, Nation etc. zusammen zu schweißen, gibt es in der menschlichen Kultur seit Entstehung des Patriarchats. Auch die Legitimation der organisierten Gewalt durch Berufung auf post-religiöse „Ganzheiten“ und ethnische Identitäten wie Abstammung und Volk, Heimat und Land gab es ansatzweise schon in den Hochkulturen und im hochkulturellen Imperialismus und prägt viele autoritäre Bewegungen und manche totalitäre Staaten (wie z. B. die Türkei) bis heute. Der Nationalsozialismus hat in spezifischer Weise Gehalte der deutschen Romantik wie z. B. Volksgemeinschaft, Volkskultur und Volksgeist, Mythos und Verklärung des „Organischen“ mit (vermeintlich) realisti173

schen und wissenschaftlich begründeten, biologistischen und rassistischen Elementen zu einer „stählernen Romantik“ (Joseph Goebbels) verbunden und seine Eroberungs- und Vernichtungspolitik als Vollzug der „Vorsehung“, der „Logik“ der Evolution und Geschichte, als „Bildungsauftrag“, als „Staatsräson“, als „höhere Aufgabe“ als „schwere Pflicht“ und durch die Selbststilisierung zur Opfergemeinschaft legitimiert, die ihren drohenden Untergang vermeintlich nur durch eine Politik des „Alles oder Nichts“, durch kompromisslose Vernichtung des „Anderen“ abwenden kann. 43) Darüber hinaus ist das bislang Einmalige des nationalsozialistischen Völkermords seine Bürokratisierung, Technisierung und Industrialisierung, in deren Rahmen das Morden in Arbeit, Organisation und Professionalisierung überging. 44) Die Bereitschaft der nationalsozialistischen Funktionseliten zur bürokratisch industriellen Vernichtung der „Anderen“ berief sich bekanntlich auf eine simplifizierende, sozialdarwinistisch geprägte Aneignung der Evolutionstheorie, die ihnen die Möglichkeit gab, sich als heroische Vollzieher eines geschichtlichen Auftrags und Hitler selbst als einen „Robert Koch der Politik“ (Reinhold Aschenberg) zu sehen. Diese wissenschaftlich verbrämte post-religiöse Glaubenspraxis bildete den Orientierungsrahmen für eine Organisation politischer Steuerung, die durch Exklusion und Feindbilderzeugung einerseits und durch Inklusion und ästhetische Selbstinszenierung der Volksgemeinschaft andererseits in einer durch Modernisierungsprozesse irritierten und durch wirtschaftliche Wohltaten verführbaren Bevölkerung Massenloyalität erzeugen und damit einen (dieser Bevölkerung weitgehend bekannten) Vernichtungskrieg gegen Juden, Sinti und slawische Völker ermöglichen konnte. 45)

Verdrängung impliziter Ethik und intuitiver Sittlichkeit „Die wirkliche Gefahr – vor allem in unsicheren Zeiten – sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr.“ (Jonathan Littell) Der deutsche Nationalsozialismus hat die vier Regulative der humanspezifischen Alltagspraktiken, ihre implizite Ethik ideologisch verzerrt und die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen verdrängt. Die Reduktionen objektivierender Weltmodellierung auf ein simples pseudowissenschaftliches „Gebräu“ des Sozialdarwinismus, der bürgerlichen Subjektivität auf eine technokratische (idealtypisch in Eichmann verkörperte) „Verfahrensrationalität“, des Sozialen auf eine exklusive Volksgemeinschaft und des Ästhetischen auf seine pompöse und kitschige Inszenierung haben sich gegenseitig gestützt und vorangetrieben und eine „Spiralbewegung“ nach unten erzeugt. 46) Hier vollzog sich ein glaubenspraktisch geleiteter Absturz der kulturellen Lebensform in eine Selbstvergessenheit, die als Voraussetzung eines Bestrebens gelesen werden kann, mit der Auslöschung der Juden auch die implizite und die explizite (jüdische und christliche) Ethik und hier insbesondere die Gottesgebote der Liebe und Gerechtigkeit auszuradieren, die Hitler als „jüdische Erfindungen“ verhöhnte. 47) Es bedurfte dieser radikalen Entdifferenzierung und Verzerrung der vier konstitutiven humanspezifischen Umweltbezüge, damit „normale Menschen“ sich selbst und andere einfangen, ihre Organisationen und sich selbst auf Vernichtung des Anderen programmieren konnten. 48) Die spezifisch patriarchale Verflechtung zwischen einer post-religiösen Glaubenspraxis, die logozentrisch ein Allgemeines als unumstößliche „Wahrheit“ und Autorität verabsolutiert und immunisiert und der sexualisierten lustvollen Gewalt, die in diesem unerschütterlichen Glauben ihre Legitimation – das „Du darfst“ 174

(Zygmunt Baumann) – sucht und findet 49), hat sich bis heute gehalten und prägt beispielsweise gewalttätige Demonstrationen, militärische Aktionen und Folterpraktiken rund um die Welt. Ohne die „engagierte Mitarbeit“ und Unterstützung vieler Menschen in den europäischen Nationalstaaten hätten die Nationalsozialisten ihr Vernichtungsprogramm nicht in diesem Ausmaß verwirklichen können, wie sie es getan haben. 50) Dieser Tatbestand deutet darauf hin, dass auch das politische Patriarchat und das darin enthaltene destruktive Potential nicht nur ein spezifisch deutsches, sondern auch ein europäisches und westliches Problem waren und sind. Diese Einsicht blendet nicht die Bedeutung der deutschen Vorgeschichte, ihres sog. „Sonderwegs“ aus und kann nicht die Mitschuld der damals lebenden und die besondere Verantwortung der heute lebenden Deutschen mindern, lässt jedoch befürchten, dass ein durch post-religiösen Logozentrismus geleitetes politisches Patriarchat in anderen Ausprägungen auch in der Zukunft und an anderen Orten wiederkehren wird.

Wiederkehr des politischen Patriarchats auch im westlichen Pfad „Die größten Gefährder der Ordnung sind immer die, die als ihre größten Verteidiger auftreten.“ (Wilfried Nippel) Das politische Patriarchat prägt heute (noch oder wieder) weltweit, politische Strategien, Konflikte und (Bürger)kriege zwischen und in Nationalstaaten: in Gestalt von (Möchte-Gern‑) Diktatoren, als Dominanz und Unterdrückung von Minderheiten durch Mehrheiten (und umgedreht), wie auch in der Abschottung gegen Migranten bis hin zu Siedlungspolitiken und ethnischen Säuberungen. Zwar wurden in westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, im Rahmen der spätkulturellen Ausdifferenzierungen der Marktwirtschaft, der Demokratie und des Rechtsstaats, von Völkerrecht und universalen Menschenrechten das politische Patriarchat zurückgedrängt. Aber heute scheint dieses in Europa und weltweit in antiliberalen und globalisierungsfeindlichen Formen wieder an Boden zu gewinnen. Zu diesen Ausprägungen des politischen Patriarchats zählen rechtsnationale Führungen und Netzwerke (z. B. in den USA, in der Türkei, in Brasilien und in Ansätzen auch in Indien und Japan) 51), ferner Oligarchien mit Staatskapitalismus (wie in Russland und China), Tendenzen zur Entdemokratisierung und Re-nationalisierung politischer Steuerung in osteuropäischen Staaten (Polen, Ungarn, Kroatien), sowie das Wachstum rechter und nationalistischer Bewegungen in vielen westeuropäischen Staaten (insbesondere in Frankreich, England, Griechenland, Österreich, Dänemark und Deutschland), die die Europäisierung und Globalisierung zugunsten der Durchsetzung nationaler Interessen zu Fall bringen wollen und sich dabei auf beachtliche, vor allem verängstige, nach kollektiver Identität und Sicherheit suchende Sympathisanten- und Wähleranteile stützen können. Auch in Deutschland scheinen, trotz hochentwickelter politischer Kultur und Demokratie bis heute rund 20 bis 25% der Bevölkerung mit einem nationalistischen politischen Patriarchat zu sympathisieren. Bewegungen wie „Pegida“ und Parteibildungen wie die AfD, die durch allgemeine Verunsicherung, durch Migrantenströme, durch Sicherheitsbedürfnisse und Ängste der Bevölkerung genährt, durch den aggressiver und bedrohlicher werdenden islamistischen Fundamentalismus und Terrorismus bestärkt werden und sich auch über Agitation im Internet propagandistisch aufladen, indizieren darüber hinaus, dass mentale Dispositionen für das politische Patriarchat sich (wieder) in Richtung Mitte der Gesellschaft bewegen und ausbreiten. Dazu gehören das Bedürfnis nach Wiederherstellung einer fest definierten Volks‑, Wertegemeinschaft und Nationalkultur, nach Rückbesinnung auf traditionale Geschlechtsrollen und nationale Traditionen und 175

die Forderung nach hartem Durchregieren sowie die Sehnsucht nach charismatischen Führungspersönlichkeiten in Verbindung mit der Bereitschaft zur Exklusion insbesondere der Migranten und Muslime, die hier als Sündenböcke dienen. Kurz gesagt: In den Köpfen wachsender Minderheiten breiten sich die Ängste vor „Öffnung“ und die Bereitschaft zur rigiden „Schließung“ und zur „harten Grenzziehung“ gegenüber den „Anderen“ wieder aus. 52)

Tendenzen zur Resubstanzialisierung des Politischen Zu den Ausdrucksformen des globalisierungsfeindlichen politischen Patriarchats gehört auch die Resubstanzialisierung der Politik. Im Rekurs politischer „Vordenker“ auf eine vorpolitische Festschreibung der Identität und Verschiedenheit von Menschen und Bevölkerungen wird beispielsweise versucht, Männlichkeit und Weiblichkeit, Heimat, Volk, Nation, Region, Gesellschaft, Kultur, Europa o.a. zu natürlichen Einheiten und Räumen einer vorpolitischen Gemeinsamkeit zu verklären, der dann eine Bedrohung durch Feinde – wie z. B. derzeit der Islam und die vermeintliche „Überfremdung“ durch Migranten wie auch der Feminismus als vermeintlicher „Zerstörer“ traditioneller Weiblichkeit – gegenübergestellt werden können. Dies ist ein Rückfall des Politikverständnisses hinter eine zentrale Errungenschaft spätkultureller Evolution, nämlich den Anspruch, soziale Diversität, Differenz und Integration über die post-moralischen Systeme der „offenen Gesellschaft“, über Markt und Staat, Demokratie und Recht in Koppelung mit einer post-logozentrischen, auf öffentliche Diskurse gestützten Selbstbeobachtung zu leisten. In dieser können sexuelle, persönliche und kollektive Identitäten und Differenzen gleichsam zu „Fließgrößen“ werden, die einerseits hier als solche permanent artikuliert, reflektiert und (neu) definiert werden und andererseits im Rahmen des abstrakten Konstrukts gleicher Rechte und Pflichten für alle integriert werden können. 53) Dieser Rückschritt wird teils aus konservativ verwurzelten „gutem Glauben“, teils aber auch in der zynischen Absicht betrieben, Ängste gegenüber „Anderen“ und Fremden als „Schmiermittel“ im Rahmen von Strategien einzusetzen, die die alten Grenzziehungen des Nationalismus wiederbeleben und/​oder neue harte Grenzen, z. B. einer „Festung Europa“ ziehen wollen. Dass das Bedürfnis nach Sicherheit für sich selbst mit der immer noch virulenten Tendenz zur Ausgrenzung der „Anderen“ verbunden ist, zeigt sich in der „Das-Boot-ist-voll-Mentalität“, die sich mit der Zunahme der Migrantenströme nach Europa hier ausbreitet und in Ansätzen bereits zur „Entstehung einer gesamteuropäischen ausländerfeindlichen Partei“ (Etienne Balibar) geführt hat. Im Konflikt zwischen universalistischen Grundprinzipien und den Ängsten vieler Bürger und ihren Neigungen zur Exklusion versucht der Rechtsstaat, sich durch Unschärfe und Grauzonen – z. B der Interpretation und Begrenzung des Asylrechts – „hindurchzumauscheln“. Dabei wird hinter der Fassade der Universalinklusion und Wahrung der Menschenrechte nicht selten eine Politik der „harten Grenzziehungen“ gegenüber den Migranten praktiziert, die vielfach nicht durch Verantwortung, Schutz und Hilfe, sondern durch ängstlich aggressive Abwehr geprägt ist. 54) Insofern die Ansprüche an das Recht, durch seine „Verbiegung“ wachsende Sicherheitsbedürfnisse zu erfüllen, auch mit dazu beitragen, dass es seine wichtigere Aufgabe, Freiheit und Grundrechte (auch für Migranten) zu sichern, weniger leisten kann, droht sich die wechselseitige Stützung von Rechtsdifferenzierung mit Freiheitsgewinn der Bürger („Aufwärtsspirale“) zugunsten einer Koppelung von Entdifferenzierung des Rechts mit vermeintlichem Sicherheitsgewinn („Abwärtsspirale“) wieder aufzulösen. Die Katastrophen des 20.  Jahrhunderts und die vielfältigen Ausprägungen des politischen Patriarchats bis heute sind keine „Betriebsunfälle“ der Geschichte, sondern bestätigen, dass eine logozentrisch verkürzte Selbstbeobachtung und die darin begründeten Ansprüche, Ziele und Praktiken der Ordnung durch „Reinigung“ eine beängstigend stabile Drift des „systemisch Bösen“ und „beharrender Unvernunft“ in der 176

kulturellen Evolution bilden. Die zirkuläre Koppelung logozentrisch „verhärteter“ Glaubenspraktiken und Deutungsmuster mit systematisch verzerrten Alltagspraktiken in Verbindung mit Freiheitsverzicht und ‑unterdrückung sowie die „harten Grenzziehungen“ des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens der involvierten Individuen im Dienste eines (vermeintlichen) Gewinns an Sicherheit und Souveränität finden sich auch in den modernen westlichen und sich verwestlichenden Kulturen. Ihr Entwicklungspfad ist bis heute durch ein „Pendeln“ zwischen offener Kultur, erfolgreicher Integration und Universalinklusion in Rechtsstaaten einerseits und den Rückfällen in das moralische und politische Patriarchat und seine vielfältigen Tendenzen und Schübe der Exklusion des sozialen Anderen andererseits bestimmt. Die reaktionären Zurück-zu-Bewegungen werden aber auch genährt und provoziert durch die wachsende Macht und ethische Verwahrlosung eines sich globalisierenden technokratischen und wirtschaftlichen „Brüderpatriarchats“, das sich in the long run als wirksamer und gefährlicher für die Zukunft offener Kultur erweisen könnte als die „Retrotopien“ (Zygmunt Bauman) und der Provinzialismus des globalisierungsund europafeindlichen „Väterpatriarchats“. Dieser neue globalisierungsfreundliche Autoritarismus und Dirigismus wird derzeit gebahnt von Seiten selbst ernannter „Realisten“, die schon lange nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern zunehmend offen nachzuweisen suchen, dass offene Kultur und persönliche Freiheit, Universalismus der Menschenrechte und demokratische Selbstbestimmung ohnehin ein auslaufendes, für die Globalisierung nicht verallgemeinerbares Modell darstellen, mit dem die Zukunftsprobleme – Ökologie und Klimawandel, Migration und die globale Verteilung von Lebens- und Entwicklungschancen, von Arbeit, Wissen und Einkommen – nicht bewältigt werden können. Unter konservativen Eliten scheint weltweit das Bekenntnis zu demokratischen Werten schwächer und ein zunehmend autoritäres Denken und eine Bereitschaft zur post-demokratischen Führung an Konturen zu gewinnen. Schon heute scheint sich in den westlichen und verwestlichenden Kulturen das politische, technokratische und wirtschaftliche Patriarchat zu einer historisch neuen Ausprägung zu verbinden und zu globalisieren, die man als „Notstandspolitik in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik“ (Joseph Vogl) oder auch als Verwirklichung und Management eines „Ausnahmezustands“ (Metz, Seeßlen) bezeichnen kann. 55) Dem kommt entgegen, dass sich derzeit von den USA ausgehend eine neue reaktionäre Internationale formiert, die nationalsozialistisches Gedankengut wie z. B. den Sozialdarwinismus aufgreift und diesen mit Transhumanismus und Technikfetischisierung zu einem futuristischen Autoritarismus und einem „Rassismus, der aus der Zukunft kommt“ (Nick Land) verbindet. 56) Hier gewinnen ein neuer moderner Totalitarismus und eine „autoritäre Internationale“ (Thomas Assheuer 57) an Boden, in denen sich die traditionelle Rechtsorientierung von Republikanern und Akteuren des Finanzkapitals mit den naiven missionarischen Technokraten der „Superstarfirmen“ des Silicon Valley verbindet, „die glauben, dass sie Gutes tun, schon wenn sie gut sind in dem, was sie tun“ (Timothy Garton Ash). In diesem Rahmen können dann technische und wirtschaftliche „Modernisierung“ vorangetrieben und die Errungenschaften kultureller Moderne – die Potentiale der (Selbst)kritik aus Philosophie und Wissenschaften, der impliziten und expliziten Ethik, der Universalismus der Menschenrechte, Individualisierung, Autonomie und Selbstverwirklichung der Bürger – zurückgedrängt werden. Darüber hinaus kann schon heute China als Vorbild für eine erfolgreiche Entwicklungsdiktatur dienen, die nicht demokratisch legitimierte politische Herrschaft und digitalisierte Kontrolle nach innen mit Geopolitik und Einflussmehrung nach außen und einem mehr oder weniger (z.  B. als Erneuerung der Seidenstraße) maskierten neo-liberalen Wirtschaftsimperialismus verbindet. Einerseits haben die Vorteile der historischen Nachzüglerrolle, marktfreundliche Reformen sowie Investitionen in neue Technologien und Innovationsförderung ein gigantisches BIP-Wachstum Chinas bewirkt und seinen Weg zur größten Ökonomie der Welt gebahnt. Andererseits bleibt China bislang ein autoritärer Staat, der auch in Ausübung und Ausdehnung politischer Herrschaft im Innern durch soft power, durch Datenermittlung, ‑kontrolle und ‑verarbeitung eine weltweite Vorreiterfunktion übernommen hat. Dazu gehört u. a. die Einrichtung 177

eines digital gestützten Einwohner-Bewertungssystems, das alle Daten über alle Bürger speichert und in ein Punktsystem umsetzt, in dem jeder Bürger eine Bewertung seines (Wohl)verhaltens erfährt, die herangezogen wird, wenn es um Stellenbewerbungen, Kredite, Auslandsreisen u. a. geht. Insofern ist China führend in der „Automatisierung der Gesellschaft“ und der Entwicklung eines „smarten Staats“, der moralische Kontrolle und Herrschaft über Bürger zunehmend digital und automatisch ausführt. Wohin es führen könnte, wenn sich dieser neue, auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz gestützte Autoritarismus globalisiert, wird später im „worst case Szenario“ unserer Zukunft beschrieben. Zuvor sollen sein Nährboden und seine Wurzeln in der Verbreitung eines technokratisch und ökonomistisch verkürzten Fühlens, Denkens und Handelns skizziert werden.

Technokratischer Logozentrismus „Wir befinden uns menschheitsgeschichtlich in der Pubertät, einem Stadium, in dem ein übermäßig aufgeblasenes Ego davon überzeugt ist, am Steuerknüppel des Raumschiffs Erde zu sitzen und alles unter Kontrolle zu haben.“ (Elisabeth Sathouris) Wie in der Rekonstruktion des „systemisch Guten“ und im „best case Szenario“ ausgeführt, könn(t)en die (An)erkenntnis und Pflege der „Tempelarchitektur“ westlicher Kultur, eine „gekonnte“ Balance und Integration der hier spätkulturell ausdifferenzierten Alltagspraktiken (der Gemeinschafts‑, der Gesellschaftsbildung und der Technik), ihrer Handlungslogiken und ihrer impliziten Ethik auch in Zukunft zur Viabilität und Zukunftsfähigkeit westlicher Kultur beitragen. Gestützt werden kann/​könnte diese Mitgestaltung durch eine post-logozentrische Selbstbeobachtung vierter Ordnung (nach Beseelung, Moralisierung und Objektivierung der Welt), und eine Ethik, die die implizite Ethik der Alltagspraktiken (Freiheit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit) reflektiert, in öffentlichen Verständigungsprozessen und Orientierungsangeboten als Regulative der westlichen Lebensform explizit macht und politisch „ausbuchstabiert“. Stattdessen zeigt sich heute in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen eine Tendenz, Erkenntnis und Offenbarung wieder zu einer dem Animismus ähnlichen undifferenzierten Einheit zu verbinden – mit dem Unterschied, dass nun nicht die natürliche und die dingliche Welt beseelt, sondern die kulturelle, geistige Welt verdinglicht und vermessen wird. Die objektivierende Bezugnahme auf die Welt und ihre datengestützte Formatierung, die als eingestanden selektive und partikulare wichtig und legitim ist, wird logozentrisch zu Entwürfen der „ganzen Welt“ aufgeblasen und kann sich nun den „Gläubigen“ als vermeintlich „rationale Ordnung“ „offenbaren“ und hier die weitere technokratische Verkürzung und ethische Neutralisierung der Alltagspraktiken anleiten. Der spätkulturelle, sich oft als „Aufklärung“ (miss)verstehende Glaube an die Objektivierbarkeit und Messbarkeit der „ganzen Welt“ führt in eine Verengung der Alltagspraktiken und der hier leitenden Deutungsmuster, der Erfahrung, Erkenntnis, Bewertung und organisierten Mitgestaltung der Welt, die als „technokratischer Logozentrismus“ bezeichnet werden kann. Während das moralische und das politische „Väterpatriarchat“ in seinen traditionellen, autoritären Ausprägungen im westlichen Pfad zwar immer wieder „aufflammen“, aber in the long run wohl doch an Einfluss und Bedeutung verlieren werden, gewinnt der technokratische Logozentrismus des „Brüderpatriarchats“, der dem glaubenspraktischen Pars-pro-toto-Prinzip folgend, natur- und technikwissenschaftliche Konstruktionen und digitalisierte (Mess)daten zu Weltmodellen verallgemeinert, hier an Boden. Bahnbrechend für den „technokratischen Logozentrismus“ und seine Ausbreitung sind vor allem die folgenden Entwicklungen: 178

• Ungeachtet des Tatbestands, dass alltagspraktische Entscheidungen nicht allein aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableitbar und durch diese legitimierbar sind, werden heute nicht nur die technischen, sondern auch die gemeinschafts- und gesellschaftsbildenden Praktiken zunehmend durch objektivierende, messende Wissenschaften und ihre Ergebnisse orientiert und ihre Mitgestaltung und „Formatierung“ durch die Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse (scheinbar) legitimiert. Das bedeutet, dass die Welt- und Selbstvermessung sich einer Landnahme ähnlich in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen verbreitet – und zwar nicht nur von „oben“, in den vielfältigen Formen politischer Kontrolle und wirtschaftlicher Verwertung, sondern auch in den Denk‑, Kommunikations- und Verhaltensmustern der Bürger, ihren Alltagspraktiken, Lebensstilen und ‑strategien. • Dabei folgt die Verwissenschaftlichung auch der gemeinschafts- und gesellschaftsbildenden Alltagspraktiken zunehmend der Logik der naturwissenschaftlich technischen Objektivierung und stützt sich heute zunehmend auf digitalisierte und computerisierte Modellierungen und Algorithmen der hier ablaufenden Prozesse, die unzureichend und häufig sogar falsch sind. Demgegenüber werden die hermeneutischen Wissenschaften und die kritische Gesellschaftstheorie, die reziproke Empathie und Anerkennung als implizite Logik und Ethik der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung konzeptionell und methodisch ernst nehmen, an den Rand und aus den Universitäten verdrängt. • · Das führt, wie schon gesagt, bei manchen Wissenschaftlern, mehr aber noch, unter wissenschaftsgläubigen wirtschaftlichen und politischen Funktionseliten dazu, dass die Ergebnisse der wissenschaftlich objektivierenden Bezugnahme auf Umweltdynamik, ihre digitale Modellierung und die Ausrichtung auf ihre technische Nutzung zu Modellen der „ganzer Welten“ aufgeblasen werden. Dann können diese logozentrisch-mechanistischen Modelle, die nach heutigem Stand der modernen Naturwissenschaften nicht einmal mehr für ein Verständnis der Dynamik unbelebter Natur angemessen sind, auch die Reflexionen der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung verkürzen und als Vorurteile auch die intentionale Mitgestaltung der westlichen Lebensform, insbesondere die Organisationen der politischen Steuerung, der wirtschaftlichen Leistung und von Bildung und Wissen fehlorientieren. Heute wird nicht nur Natur, sondern auch Kultur zunehmend in eine (selbst)objektivierende Perspektive gerückt, die dem oft naiven Realismus der Naturwissenschaften „nacheifert“, indem sie ihre objektivierenden und messenden Konstruktionen mit einem angemessenen Verständnis der „ganzen Wirklichkeit“ gleichsetzt. Richard Rorty hat diese Tendenz als „neue metaphysische Krankheit des Westens“ bezeichnet. 58) Zur Kritik stehen hier nicht die naturwissenschaftliche Forschungs- und Theoriepraxis, ihre notwendig forschungspragmatisch eingeschränkten Zugänge und ihre objektivierenden und digitalisierten Modellierungen, sondern der Glaube an ihre universale Geltung. Nicht der Rationalismus, Empirismus und methodische Pragmatismus der Natur- und (in Anteilen) auch der Sozialwissenschaften, der unvermeidbare Tatbestand, dass diese in selektiver Perspektive die Dynamik des Weltgeschehens „zerschneiden“ und nur in diesen Ausschnitten beobachten, messen und (digital) modellieren können, ist bedenklich, wohl aber die Tendenz, die Begrenztheit dieser Modellierungen zu vergessen und sie zu universalisieren, die „ganze Welt“ in eine geschlossene, mess- und digitalisierbare und (vermeintlich) handhabbare Objektivität zu zwingen, die Möglichkeiten spätkultureller Alltagspraxis und ihrer Welterfahrung und ‑konstruktion wie auch einer offenen post-logozentrischen Selbstbeobachtung einzuschränken und damit Viabilität und Zukunft der westlichen Kultur zu gefährden. Ansätze dazu finden sich im mechanistisch verkürzten Verständnis der Mitnatur, in der technokratischen Verkürzung der Gesellschaft und ihrer Mitgestaltung, im objektivistisch verkürzten Selbstverständnis des Menschen, im verkürzten Bild des menschlichen Geistes als Gehirn, in der technokratischen und ökonomischen Formatierung der Medizin und in der Philosophie des Transhumanismus. Das wird im Folgenden etwas genauer erläutert. 179

Mechanistisch verkürztes Verständnis der Mitnatur „Es gibt ein falsches Verständnis von der Natur des Wertes und ein falsches Verständnis vom Wert der Natur.“ (Pavan Sukhdev) Die Entwicklung der mechanistischen Objektivierung der Natur in den klassischen Naturwissenschaften wurde schon, wie bereits dargestellt, im antiken Griechenland über die (alltagspraktische) Warenabstraktion und ihre (glaubenspraktische) Reflexion in der Naturphilosophie und Kosmologie gebahnt. Insofern in der klassischen Mechanik ein Modell der Natur entwickelt wurde, das von an sich unveränderlichen „geschichtslosen“ Objekten ausgeht, deren Beziehung zueinander in zeitlos gültigen Naturgesetzen fassbar ist, konnte Alfred Sohn-Rethel mit Recht nicht nur die Natur der antiken Kosmologie, sondern auch die der klassischen Mechanik als „Natur in Warenform“ bezeichnen. 59) Die Realabstraktion der Mitnatur zu einer Ordnung von abgegrenzten Objekten und ihren Relationen, die in der humanspezifischen objektivierenden Bezugnahme auf Umweltdynamik angelegt ist und sich über den Katalysator der Warenabstraktion der Natur ausdifferenzierte, rahmt als „mechanistisches Missverständnis“ die naturwissenschaftliche Forschung und ihre technische Nutzung bis heute. Die in ihrer entzeitlichenden Warenformatierung begründete mechanistische Objektivierung der Mitnatur war und ist mit Blick auf die technische Entwicklung in vieler Hinsicht produktiv. Sie ist aber heute als Modellierung schon der unbelebten Mitnatur durch die moderne Physik relativiert. Sofern sie trotzdem und weiterhin universalisiert und verabsolutiert wird, verstellt sie mit der Einsicht in die Zeitlichkeit und relative Offenheit der Naturprozesse und ihre ökologische Vernetzung auch die Möglichkeiten ihrer angemesseneren Erfahrung und verantwortungsbewussten Nutzung und Mitgestaltung. In gewisser Weise macht die mechanistische Modellierung der Natur diese „schutzlos“ und liefert sie einer ungebremsten technologischen Nutzung und Kapitalverwertung aus. Noch deutlicher werden die Defizite eines auf Objektivierung beschränkten Naturbezugs, wenn es um lebende Natur geht. Dazu später mehr.

Technokratische Verkürzung des Verständnisses und der Mitgestaltung von Gesellschaft Wie bereits angedeutet, können Digitalisierung, künstliche Intelligenz und die hier mögliche Daten- und Informationserzeugung und Nutzung im Rahmen einer offenen Kultur und eines allgemeinen Bewusstseins ihrer Grenzen, ihrer Abstraktion und Selektivität, in einer dynamisch stabilen Gesellschaft und ausgeübt in einem demokratisch legitimierten Regierungs- und Verwaltungshandelns nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der politischen Steuerung und für die Lebensführung der Bürger vielfachen Nutzen bringen. Wenn diese Rahmenbedingungen jedoch nicht gegeben sind, besteht die Gefahr, dass der Einsatz digitalisierter Daten- und Informationserstellung und künstlicher Intelligenz als Regierungs- und Verwaltungstechnologien zu einer technokratischen Verkürzung des Verständnisses und der Mitgestaltung von Gesellschaft führt. Beispiele für die Einführung neuer, künstliche Intelligenz nutzender Regierungstechnologien sind die sog. „smart cities“, die adaptive, flexible Steuerung und Selbstregelung von Prozessen: der Verkehrsführung, der Energie- und Wasserversorgung, Müllabfuhr, cloudbasierte Wetterdatendienste, Statistiken, Überwachungs- und Kontrolltools für Polizei und Militär u. a. Wie bereits angedeutet werden bislang die Bereitstellung, Verbreitung und sich spezialisierende Ausdifferenzierung der Sammlung und Konfiguration von Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenz weitgehend be180

grüßt und vorangetrieben. So werden sie von den Bürgern und Arbeitnehmern mehrheitlich akzeptiert, genutzt und, wenn überhaupt, nur mit Blick auf die Gefährdung von Arbeitsplätzen reflektiert. Darüber hinaus werden diese Innovationen und (vermeintlichen) Problemlösungen von vielen technikvisionären Entwicklern und Ausstattern der hard- und software zu Entwicklungsschritten und Bausteinen eines „cognitive government“ hochgejubelt. Dieses soll das „altmodische“ Regieren und gesetzesgemäße Verwaltungshandeln, das zu langsam ist und zu wenig Informationsnutzung erlaubt, ablösen. In enger Verbindung mit der Digitalisierung der Lebensführung und der Wirtschaft geht es hier um eine Digitalisierung des Staats und seiner Kontroll- und Regelungsfunktionen, die nun weniger entlang von Gesetzen und demokratischer Willensbildung, sondern in der Erstellung von codes und in der schnellen Organisation und Verarbeitung von Datenflüssen ausgeübt werden. 60) Dabei scheint es die begeisterten Anhänger der „cognitive governance“ nicht zu stören, dass die Ausrüstung der gesamten städtischen und in Anteilen auch privater Lebensräume mit Sensor- und Kameratechnik eine bedenkliche Voraussetzung für das Funktionieren des „Cognitive Government“ ist, dass ferner die Gefahr besteht, dass die Probleme, die zu bearbeiten sind, falsch codiert sind und sich nicht reflektierte Selektivität und „blinde Flecke“ in die Daten- und Informationsgewinnung und ‑nutzung einschleichen und dass schließlich die weitere Degradierung des Politikers zu einem „bloß ausführenden Organ“ (Helmut Schelsky) eine bedenkliche Folge sein könnte. „Im technischen Staat herrsche niemand mehr. Es laufe nur noch eine ‚Apparatur‘, die sachgemäß bedient sein will … Die Politiker im „technischen Staat“ agieren nicht mehr als ‚Entscheider‘, sondern als ‚Analytiker, Konstrukteur, Planender, Verwirklichender‘ … Die Politiker werden zu einer Art Maschinist in einer gut geölten Politikmaschine, die nur noch an Stellschrauben und Ventilen drehen. Schelsky beobachtete schon in den Sechzigerjahren eine Tendenz zu einer Minimalisierung der politischen Entscheidungen: Je besser die Technik und Wissenschaft, umso geringer der Spielraum politischer Entscheidung … Wird aber die politische Entscheidung zu einem geradezu wissenschaftlich deduzierbaren Sachzwang, dann gerät der Politiker in die Situation eines bloß ausführenden Organs. (…) Was an diesem Governance-Konzept irritiert, ist die Tatsache, dass die Gesellschaft als Datenverarbeitungssystem modelliert wird und Städte nur von einer neo-liberalen Seite der Optimierung gedacht werden. Die Modelle unterstellen, dass maschinelles Lernen effektiver als politische Lernprozesse und Verwaltungshandeln eine Technik von gestern seien … Städte werden nicht mehr regiert, sondern ‚gemanagt‘. Dass mit der Installation eines kybernetischen Regelkreislaufs Programmierer Sollgrößen implementieren und der Souverän entmachtet wird, ist die Kehrseite der Medaille. Regieren droht zur Prozesssteuerung zu verkommen.“ (Adrian Lobe) – und mit Blick auf Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung besteht die Gefahr, dass das Bemühen um ein empathisches, solidarisches und kooperatives Wir durch ein „metrisches Wir“ (Steffen Mau) überformt und verdrängt wird. 61)

Objektivistisch verkürztes Selbstverständnis des Menschen „Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie.“ (Jürgen Habermas) Nach dem Zerfall der theologisch begründeten Einheit der Welt suchte und fand die westliche Philosophie eine neue vernunftbegründete Ordnung in der Subjektivität, in Ausstattung und Fähigkeiten des menschlichen Geistes. Descartes’ zunächst skeptischer Rationalismus schuf mit der scharfen Trennung zwischen Natur als „res extensa“ und Geist als „res cogitans“ einen übergeordneten vermeintlich unumstößlichen Bezugspunkt. 181

Danach hat sich die Erforschung des menschlichen Geistes in zwei Richtungen ausdifferenziert: Einerseits wurde er philosophisch reflexiv (rationalistisch, empiristisch, erkenntnistheoretisch, transzendentalund geschichtsphilosophisch, phänomenologisch und systemtheoretisch) rekonstruiert und andererseits naturwissenschaftlich empirisch (physiologisch, psychologisch, heute auch kognitionswissenschaftlich und neurobiologisch) erforscht und modelliert. Heute dominieren die wissenschaftlich objektivierenden, in empirischer Forschung und Datenverarbeitung begründeten Erkenntnisse und Modellierungen des menschlichen Geistes. Dabei geht es auch hier nicht um eine Kritik dieser Forschungs- und Theoriepraxis, die auch in ihren Anwendungen in vieler Hinsicht, insbesondere in der Medizin produktiv und hilfreich ist. Bedenklich ist aber, wenn die hier entwickelten objektivierenden und jeweils selektiven Perspektiven auf Körper und Geist den Zeitgeist durchdringen, hier zu objektivistisch verkürzten Bildern des „ganzen Menschen“ zusammengesetzt werden, um dann eine Selbstobjektivierung und eine Sozialtechnologie in der Sozialisation, in der Gesellschaft anzuleiten, die zu Verkürzung und Entdifferenzierung ihrer Eigenlogiken führen. Wie schon angedeutet, sind im Rahmen der Logik und impliziten Ethik sozialisatorischer Praxis Fürsorge und Selbstsorge zirkulär gekoppelt: Nur ein Mensch, der in seiner kindlichen Biographie die Fürsorge sozialisatorischer Gemeinschaft er‑ und durchlebt hat, ist zur Selbstsorge und zur Fürsorge gegenüber anderen befähigt. Und mit zunehmender Ablösung von Selbstsorge durch Selbstobjektivierung und Selbstbehandlung heute ist auch eine Erosion der Fürsorge verbunden.

Das verengte Bild des menschlichen Geistes: der Geist als Gehirn „Bewusstes Erleben kann von den physikalischen Eigenschaften eines Individuums abhängig sein. Darauf reduzieren kann man es jedoch nicht.“ (David Chalmers) Gestützt auf ihre großen technischen Erfolge kann die objektivierende naturwissenschaftliche Abstraktion der Welt die Logiken der anderen humanspezifischen Umweltbezüge in gewisser Weise kolonialisieren. Das gilt auch für die Ausbreitung naturwissenschaftlicher Theorien der menschlichen Psyche und Kognition bis hin zur Entstehung eines neuen neurowissenschaftlich gestützten Menschenbildes, das Subjektivität und Geist auf das Gehirn verkürzt und dieses zu einer Art „subjektiven Objekt“ oder „objektiven Subjekt“ aufbläst. Hier wird der menschliche Geist, der zuvor schon oft und fälschlich von der naturwissenschaftlichen Psychologie auf eine Eigenschaft des Individuums reduziert wurde, zu einem Objekt und zwar zu einem Objekt: dem Gehirn als einem dynamischen, immer noch mehr oder weniger deterministisch gedachten System. 62) Aber auch hier gilt: Zur Kritik stehen nicht die unvermeidbar objektivierende und messende Bezugnahme der Neurowissenschaften auf das Gehirn, ihre Einsichten in die arbeitsteiligen Prozesse der (organischen, chemo-elektrischen) Autopoiesis und ihrer strukturellen Koppelung mit Umweltdynamik sowie die unbestreitbare zentrale Funktion des Gehirns in der Entwicklung und Ausgestaltung humanspezifischer Umweltbezüge und geistiger Leistungen bis hin zum Bewusstsein. Es geht auch nicht um die durchaus berechtigten Fragen nach Status und Umfang der Willensfreiheit des Menschen. Zu kritisieren ist vielmehr die weiter gehende Abstraktion, die das neuronal-sensomotorische Körpernetzwerk und das Gehirn aus ihrer Involviertheit in die Evolution von Information und Geist herauslöst und zu deren „Alleinerzeugern“ macht. Selbstverständlich kann man auch die „res cogitans“, also Geist und Denken, Bewusstsein und „Ich“ von einem Konstituens zu einem Konstitutum kognitiver Operationen machen – wobei aber entscheidend ist, dass man diese kognitiven Operationen nicht als neuronale Aktivi182

täten und Differenzierungsprozesse eines einsamen Gehirns, sondern als Leistungen von Organismen mit neuronal-sensomotorischen Körpernetzwerken verstehen sollte, die miteinander und mit Umweltdynamik generell interagieren und sich vernetzen. Darüber hinaus sind (wie alles Leben) auch unsere kognitiven Leistungen Ergebnisse einer natürlichen und kulturellen Evolution subjektiven Geistes, in der sich zwar auch die neuronalen Körpernetzwerke und Gehirne und ihre Vernetzung heraus- und weitergebildet haben und zweifellos eine wichtige Rolle spielen, die aber nicht auf die genetische, organische und neuronale Organisiertheit/​Organisation des Gehirns reduziert werden können.

Technokratische und ökonomische Formatierung der Medizin Die medizinische Versorgung und Betreuung der Menschen gehört, wie dargestellt wurde, zur spätkulturellen Ausdifferenzierung sozialisatorischer Logik, des Schutzes und der Entfaltung des Menschen. Die kultivierte Empathie, das „sich aus fremden Sorgen eigene bereiten“ (Hippokrates, zit. nach Dörner 63), eine entsprechende Organisation des (naturwissenschaftlichen und medizinischen) Wissens und seine „gekonnte“ Entfaltung und Nutzung in der dialogischen Beziehung zwischen Arzt und Patient bilden den formativen und normativen Rahmen der medizinischen Praxis, der heute durch ihre kapitalistische Kolonialisierung und Industrialisierung zu zerbrechen droht. 64) Die sozialisatorische Logik medizinischer Praxis und das „Zwischen“ von Arzt und Patient kann auch deshalb durch Objektivierung des Patienten und seine „Reparatur“ zunehmend verdrängt werden, weil dem heute eine Disposition vieler Menschen entgegenkommt, durch Selbstobjektivierung und Selbstentmündigung der Unsicherheit und Kontingenzerfahrung im Umgang mit ihrer Natur und Leiblichkeit zu begegnen. 65) Wir haben es also mit einer ambivalenten Entwicklung zu tun, die einerseits Befreiung von Krankheiten und Einschränkungen, Zuwächse an persönlicher Autonomie, der Lebensgestaltung, des Erlebnisspektrums u.  a. verspricht, aber andererseits auch zu einer technomorphen Verkürzung des Seins, Bewusstseins und Selbstbewusstseins der Menschen beitragen und ihre tiefergehende Durchdringung und Kontrolle, Formung und Verwertung durch ein technokratisches und wirtschaftliches Patriarchat begünstigen kann.

Technokratische Formatierung menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns „Was wir auf jeden Fall erleben werden, ist, dass Menschen und Technologien einander ähnlicher werden: Eine Anthropomorphisierung der Technologie und eine Artefaktibilisierung des Menschen.“ (Bert Gordjin) Heute durchdringen neue wissenschaftlich begründete Technologien die (Selbst)formung und Bildung der Menschen. Ihre organische Ausstattung, ihre Lebens- und kognitiven Prozesse werden zu Objekten einer neuen Ingenieurskunst und einer „invasiven Technik“ (Gernot Böhme), die in wachsenden Bildungs- und Qualifikationsmärkten, in Gesundheits- und Fitness, Wellness- und Erlebnissteigerungsmärkten verwertet und vermarktet wird. Wie schon dargestellt, werden Biologie und Hirnforschung heute zu synthetischen Ingenieurswissenschaften, die organische und neuronale Prozesse gezielt nutzen, verändern, rekombinieren und bald auch neu erschaffen werden. Tendenziell alle Lebensprozesse und ihre Formbildungen werden aus ihrer evo183

lutionären und dynamischen Verflechtung herausgelöst und so weit „verletzt“ (Niklas Luhmann) und in ihrer Komplexität reduziert, dass sie gezielt genutzt, re-kombiniert und im Rahmen von „Umbauten“ des Menschen genutzt werden können. Zweifellos können, wie in der Rekonstruktion des „systemisch Guten“ bereits ausgeführt, die neuen Biound Neurotechnologien in vielfältiger Weise den Menschen helfen, Krankheiten zu heilen, ihre Gesundheit, Lebensqualität und Lebenserwartung zu steigern. Auch kann der Gewinn an Lebensqualität und Freiheit, den die Humantechnologien versprechen, nur durch eine gewisse Selbstauslieferung an diese Technikvollzüge, nur wenn die Menschen die technisch-artifizielle Unterstützung, Überformung und Steuerung ihrer Körper- und ihrer Gehirnprozesse (in Grenzen) akzeptieren und mitvollziehen, realisiert werden. (Siehe weiter unten.) Aber andererseits ist der organisierte, digital, bio- und neurotechnologisch gestützte Umbau des Menschen und seiner Lebensvollzüge, das Zerlegen und Neuzusammensetzen nun auch der menschlichen Natur in Kombination mit der globalen Erhebung und (wirtschaftlichen und politischen) Verwertung ihrer „Daten“ ein gewaltiger Schritt der „Landnahme“ objektivierender technischer Logik in der westlichen Kultur. Sie kann eine Selbstobjektivierung und ‑optimierung bahnen, in der die Menschen „sich selbst kausalisieren“ (Sergio Benvenuti) und sich wie Maschinen behandeln, die durch Tuning besser und länger „laufen“ sollen. Mit Blick auf eine zukünftige Machtergreifung künstlicher Intelligenz ist möglicherweise nicht entscheidend, ob und wie weit diese die ganzheitliche Wahrnehmung und Kontextbezogenheit, die Flexibilität, Kreativität und den „wässrigen“ Charakter (Douglas R. Hofstadter) menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns ausbilden kann, wovon sie, wie schon gesagt, noch weit entfernt ist und wohl auch noch lange bleibt. Vielmehr könnte es sich als wegweisend und ‑bahnend herausstellen, ob und wie weit Kultur und Menschen unter dem Einfluss der zunehmenden Durchdringung und Formatierung ihrer Alltagspraktiken und Kommunikation durch künstliche Intelligenz auf diese spezifisch humanen Qualitäten – zunächst in der Kommunikation mit Robotern, dann aber auch untereinander – mehr oder weniger freiwillig verzichten. Der entscheidende Moment des Übergangs der Technik von einer kulturellen Praxis zu einem neuartigen, sich selbst organisierenden System ist möglicherweise nicht erst dann erreicht, wenn Technik mit Technik kommuniziert, lernt und sich selbst reproduziert, sondern schon viel früher, wenn Menschen und ihre Kommunikation durch Technik „formatiert“, hier eingespannt und genutzt werden, also quasi zu Agenten technischer Evolution, ihrer Form- und Systembildungen werden, ohne dass ihnen dies bewusst sein muss. Ähnlich wie ein eher wenig komplexes Verkehrssystem die hochkomplexen psychischen Systeme der Verkehrsteilnehmer und ihre Interaktionen steuern, integrieren und gleichschalten kann, könnte auch ein relativ einfach strukturiertes System „Artifizielle Intelligenz – Technik“ nun viel umfangreicher und tiefer gehend das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen strukturieren. Die gegenwärtig zunehmend engere Koppelung von technischer hard- und software mit der „wetware“ unserer Körper und Gehirne könnte sich als eine Drift erweisen, in der sich die Entwicklung artifizieller Intelligenz einerseits und andererseits eine sich selbst objektivierende technomorphe Strukturierung des menschlichen Geistes, also die Tendenz, unsere Lebens- und Praxisvollzüge so zu organisieren, dass sie in die technische Formatierung passen, wechselseitig vorantreiben. Eine technomorphe „Formatierung“ menschlichen Wahrnehmens, Fühlens und Denkens könnte sich auch in Tendenzen zur diskontinuierlichen Wissensorganisation und zur Ausbreitung der Bildkommunikation anzubahnen. Damit ist der Tatbestand gemeint, dass die digitale Verarbeitung von Daten und Informationen zu Wissen, seine Darstellung und Kommunikation ein Ausblenden assoziativer, konnotativer und narrativer Komponenten, von Übergängen und Kontexten zumindest begünstigt. Damit könnte der Beitrag der Kommunikation und Wissensorganisation zur Erzeugung von Sinn weniger nuanciert und mehr „holzschnittartig“ ausfallen. Mit der Notwendigkeit und Möglichkeit, (natürliche, zeitliche, soziale, sachliche, intuitive und gefühlsmäßige, in persönlichen Berührungen gebahnte) Kontexte in die Vergegenwärtigung 184

und Mitgestaltung der Welt einzubeziehen, könnte auch die Kontextsensitivität der involvierten Individuen schrumpfen, eine Fähigkeit, die bislang auch mit „Bildung“ verbunden wurde. Auch die Verbreitung der elektronischen Bildkommunikation und des bildgestützten Wissens (iconic turn) scheint die Tendenz zur technomorphen Rationalisierung von Kommunikation und Denken zu unterstützen. Denn sie bringt auch einen Zuwachs an impliziten Wissen, also an Wissen, das die Individuen sich nicht oder zumindest nicht in zwangloser Weise transparent machen und bezweifeln können, damit aber Anschlüsse zwischen ihnen schneller und reibungsloser macht. Während der in Praxis eingebettete fließende Sprachgebrauch quasi automatisch erkennendes Bewusstsein und mehr oder weniger Reflexivität der involvierten Individuen generiert und auf diese Weise Koordination und Kommunikation verlangsamt und „sperrig“ macht, verlangt der Fluss der Bilder nur ein primäres Bewusstsein (awareness) in den involvierten Individuen und ermöglicht auf diese Weise eine schnellere Koordination und Kommunikation, um den Preis ihrer Verflachung durch reduzierte Reflexivität und Komplexität („gefällt mir“). Menschen, die in diesem Rahmen einer zunehmend diskontinuierlichen Wissensorganisation und Bildkommunikation aufwachsen, sich hier bilden und qualifizieren, könnten eine „technomorphe Formatierung“ von wachsenden Anteilen ihrer Persönlichkeit, ihres Denkens und ihres Bewusstseins erfahren – in ähnlicher Weise, wie die Intellektuellen und Funktionseliten vorangehender Generationen durch die Schrift und den Buchdruck und die dadurch eröffnete Entwicklung und Verbreitung des kreativen Umgangs mit Informationen und der diskursiven Begriffsbildung geprägt wurden. Insofern würden insbesondere die kommenden Funktionseliten durch die technomorphe und technokratische Verkürzung und Ausformung ihres Handelns und Denkens, ihrer Kompetenzen und Deutungsmuster als „Geburtshelfer“ und Agenten der kommenden Verselbständigung von Technik zu Werkzeug- und Medientechnologien koppelnden Systemen (Roboter und Roboternetzwerke) dienen. Dabei würde diese technomorph verkürzte Vernetzung und Kommunikation von den Beteiligten und Akteuren als eine besondere Gemeinschaftsbildung und die natürlichen Grenzen des Menschseins überwindende Verschmelzung realer und virtueller Welten erlebt und geschätzt. Diese Selbstreduktion würde gerahmt, orientiert und legitimiert durch eine post-religiöse Glaubenspraxis, in deren Zentrum eine (teils auch lustvolle masochistische) Unterwerfung unter die Macht, Allgegenwärtigkeit und „Weisheit“ des Internets steht. 66)

Künstliche Intelligenz und Transhumanismus „Man könnte also sagen, der Humanismus hat Gott abgeschafft, und der Transhumanismus führt ihn wieder ein, aber diesmal müssen wir selber Götter werden. Was wiederum in sich selbst ein sehr religiöser Gedanke ist, die Apotheose der griechischen Antike. So gesehen ist der Transhumanismus tief in der westlichen Tradition verankert, aber nun mit Blick auf die Technologie als unserem Heiland. Das ist neu. Wir hatten nie zuvor eine Ideologie mit so starken religiösen Anteilen, die einzig auf Technologie focussierte.“ (Bert Gordjin) Gestützt durch die Tendenzen zur technomorphen und computerisierten Formatierung von Organisation, Kommunikation und Denken und durch entsprechende „Fangemeindebildungen“ hat sich heute im Wissenschaftssystem und darüber hinaus in Zeitgeistströmungen ein Transhumanismus herausgebildet, deren Propheten sich als „Geburtshelfer“ einer Ablösung kultureller Selbststeuerung durch künstliche Intelligenz verstehen. Ähnlich ehrfürchtig wie Juden von der Ankunft des Messias und Christen vom jüngsten Gericht, sprechen sie von einer bevorstehenden „Singularität“ (ca. 2045), die durch erreichte Überlegenheit, Ver185

selbständigung und Machtübernahme künstlicher Intelligenz bestimmt ist. Dabei ist über ihre (vielleicht zutreffende) Prognose einer weitgehenden Machtübernahme der Technik hinaus mehr noch die sektenhafte Ehrfurcht und freudige Selbstauslieferung ihrer Anhänger bedenklich. 67) Psychogramm, Bewusstsein und Sinnorientierungen der Transhumanisten werden durch die evolutionäre Ausdifferenzierung des Systems „Technik-Artifizielle Intelligenz“ geprägt und bahnen und stützen diese. Wie schon angedeutet, könnte sich das „Pendeln“ zwischen dem „systemisch Guten“ und dem „systemisch Bösen“, zwischen kulturellen Ordnungsbildungen, die in weichen Grenzziehungen und sich interaktiv herausbildenden Netzwerken Vielfalt generieren und integrieren einerseits und andererseits solchen, die durch harte Grenzziehungen und logozentrischen Totalitarismus geprägt sind, in der Evolution des Systems „Technik- Artifizielle Intelligenz“ und ihrer Eigengeschichte fortsetzen. Neben den Möglichkeiten seiner humanen Regulation und Integration besteht dann auch die Möglichkeit, dass der Transhumanismus gleitend in einen Antihumanismus übergeht. Dieser würde die schon beschriebenen Qualitäten des menschlichen Geistes – seine Lernfähigkeit, Flexibilität und Kreativität, seine ganzheitliche, alle Sinnesorgane nutzende Wahrnehmung und sein integriertes Handeln, den „wässrigen Charakter des Denkens“ (Douglas R. Hofstadter): Spontaneität, Virtualisierung des Gegebenen und Kreativität, Resonanz und Kohärenz, Analogie- und Musterbildung, Intuition und Empathie, Geschmack, Takt u. a. – nicht als kulturelle Errungenschaften, sondern als Unschärfen, Schwächen und Zerbrechlichkeiten einstufen, die es durch Präzision und Klarheit, Umfang und Tiefe künstlicher Intelligenz zu überwinden gilt. System- und Bewusstseinsbildung und die darin begründete organisierte Mitgestaltung durch menschliche „Geburtshelfer“ könnten in einen „kybernetischen Totalitarismus“ (Jaron Lanier) münden, der die humanisierenden Potentiale künstlicher Intelligenz zu verdrängen und zu verschütten droht. 68) Für die Menschen, die diese Errungenschaften nutzen, weiter entfalten und pflegen (wollen), könnten schlechte Zeiten kommen. Allerdings stellt sich die Frage, wie viele Menschen es in Zukunft noch geben wird, die eine solche Landnahme der Technik und der künstlichen Intelligenz in der Kultur als Bedrohung empfinden und erfahrungsfähig und sensibel für die damit möglichen Verluste an kultureller Erfahrung und Lebensqualität sind. So können die vielfach beobachtbaren Tendenzen zu einem technomorph verkürzten Fühlen und Denken und einem technokratischen (Selbst)management auch als „Geburtshilfe“ künstlicher Intelligenz und als „vorauseilender Gehorsam“ gegenüber ihrer zukünftigen Machtergreifung interpretiert werden. Die Tendenzen zur (Selbst)objektivierung des Menschen, die Ausbreitung eines technokratischen Logozentrismus und die Entwicklungen künstlicher Intelligenz treiben sich gegenseitig voran. Wenn Digitalisierung und Computerisierung die Selbstbeobachtung und Sinnorientierungen der westlichen Lebensform und die Massenkommunikation durchdringen und dominieren und die damit verbundenen Selektivitäten und Verkürzungen der Kommunikation, der Organisation von Wissen und der Kognition, der Erfahrung des „Selbst“ und der „Anderen“ nicht mehr wahrgenommen werden 69), wären auch gute Voraussetzungen für ihre organisierte Nutzung und Steuerung durch ein globales Netzwerk der Kapitalverwertung geschaffen, die über das derzeitige „Abgreifen“ von Daten noch weit hinausgehen könnten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die derzeit beobachtbare Selbstobjektivierung und Verwissenschaftlichung der Kultur und der Menschen wegen ihrer entmündigenden und verdinglichenden Effekte eingegrenzt und gerahmt werden müssen durch die Vergesellschaftung von Erfahrungen, eines Wissens und einer Ethik, die diesseits und jenseits dieser Welt- und Selbstobjektivierung zu bewahren bzw. zu suchen und zu entwickeln sind. Diesseits in der „von Natur aus“ nicht-logozentrischen impliziten Logik und Ethik der Alltagspraktiken und der entsprechenden intuitiven Sittlichkeit der Bürger und jenseits dieser Objektivierung in einer post-logozentrischen, (religiösen und philosophischen) Reflexion und expliziten Ethik, die sich – nach Beseelung, Moralisierung und Objektivierung der Welt und des Menschen – im westlichen Pfad auf die Ansätze und Keimbildungen einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung stützen können, wie sie bereits im „best case Szenario“ umrissen wurden. Darauf kommen wir in Kap. V zurück. 186

Wirtschaftlicher Logozentrismus „Die Fixierung auf das Materielle kann man ja auch als eine besondere Form des Glaubens deuten.“ (Tilman Spengler) „Wer in einer begrenzten Welt an unbegrenztes Wachstum glaubt, ist entweder ein Idiot oder ein Ökonom.“ (Kenneth Boulding) Wie schon gesagt, kann man das kapitalistische Finanzsystem als eine Ausdifferenzierung des Marktsystems verstehen, das die Kapitalverwertung über Zins und Gewinn mit der marktförmigen Organisation wirtschaftlicher Leistung koppelt. Das hat sich zunächst als Handelskapitalismus, dann zusätzlich als Industrie- und Produktionskapitalismus, schließlich als Finanzkapitalismus (Kapitalismus der Finanzdienstleistungen) und heute als Daten‑, Informations- und Plattformkapitalismus ausgeformt. In dieser Entwicklung scheint die jeweils neue Entwicklungsstufe die vorangehenden zu überformen. Das gilt jedenfalls für die Überformungen der Realökonomie durch die Monetärökonomie und mit Blick auf den Plattformkapitalismus, der derzeit dabei ist, den Produktions- und Handelskapitalismus zu überformen, indem er Produzenten, Händler und Dienstleister auf Zulieferer reduziert. Und wie ebenfalls bereits ausgeführt, scheinen das zinsgestützte System der Kapitalverwertung und seine historische Ausdifferenzierung zunächst funktional und sinnvoll zu sein, – vor allem, weil es die Akkumulation von Ressourcen zur Investition in zukünftige Märkte, in Innovationen und wirtschaftliches Wachstum unterstützt und damit auch zur Wohlstandsmehrung der Bevölkerung beitragen kann. 70). Auch die heute ausdifferenzierte kapitalistische Monetärökonomie und die hier entstandenen Finanzmärkte sind zunächst einmal funktional, insofern sie eine Beobachter‑, Bewertungs- und Messfunktion mit Blick auf ökonomische Leistungsfähigkeit und Ressourcenallokation von Unternehmen, Branchen, Kommunen, Regionen, Staaten und transnationalen Zusammenschlüssen übernehmen. Aber die kapitalistische Organisation wirtschaftlicher Leistung hat auch destruktive Seiten. Dazu gehören vor allem der Zinsdruck sowie eine unbegrenzte Kapitalakkumulation und ‑konzentration und die damit verbundene Ausdehnung und Verquickung wirtschaftlicher und politischer Macht. Mit dem Zinsdruck können Kapitaleigner und Investoren alle Marktakteure in eine Konkurrenz um möglichst hohe und immer schneller zu erzielende Renditen zwingen, die sie durch Rationalisierung und globale Expansion, durch Ausbeutung und Abbau von Arbeitskräften und durch (Ver)nutzung natürlicher, sozialer und humaner Ressourcen erzielen müssen. So müssen alle Produktions- und Dienstleistungsunternehmen ihre wirtschaftlichen Leistungen so organisieren, dass sie einen Ertrag möglichst weit oberhalb des (ihnen von Kapital und Banken abverlangten) Zinses erwirtschaften. 71) Das beschleunigt zwar das Wachstum der Wirtschaft, die Entwicklung von Technologien und die Ausdifferenzierung von Märkten, setzt aber auch alle, die durch Arbeit dieses Wachstum erwirtschaften, einem steigenden Leistungs- und Konkurrenzdruck aus, möglichst hohe und kurzfristige Renditen zu erwirtschaften. Diese verschlechtern für viele Menschen die Arbeitsbedingungen und ‑einkommen und führen, indem sie einen Druck auf Rationalisierung durch Technologie, Digitalisierung und Robotik ausüben, zu einer wachsenden (mehr als konjunkturell bedingten) strukturellen Arbeitslosigkeit und gehen darüber hinaus auch auf Kosten von Nachhaltigkeit und langfristig orientierter sinnvoller Zukunftsgestaltung. Da der Zins- und Verwertungsdruck hier zu den Konstruktionsregeln („Grammatik“) der Organisation wirtschaftlicher Leistung gehören, „besteht eine grundlegende Asymmetrie der kapitalistischen politischen Ökonomie darin, dass die Entlohnungsansprüche des ‚Kapitals‘ als empirische Funktionsbedingungen des Gesamtsystems gelten, die entsprechenden Ansprüche der „Arbeit‘ jedoch als Störfaktoren.“ 72) 187

So gefährden unbegrenzte Kapitalakkumulation und ‑konzentration in the long run die Stabilität und Viabilität der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen. Wenn der Kapitalismus in seinen verschiedenen historischen Ausdifferenzierungen nicht begrenzt und reguliert wird, stellt er zwangsläufig das Marktsystem und tendenziell die gesamte Gesellschaft, die Kultur und die Natur unter das Regime der Kapitalverwertung: Die menschliche Natur wird (als qualifizierte Arbeitskraft) auf „Humankapital“, die gesellschaftlichen Beziehungen auf „Sozialkapital“ und die Mitnatur auf „Naturkapital“ reduziert und so „formatiert“, dass sich mit ihnen möglichst kurzfristig hohe Renditen erwirtschaften lassen. Die destruktiven Auswirkungen dieser Organisation wirtschaftlicher Leistung und eines darauf zugeschnittenen Währungssystems – die beschleunigte Ausbeutung und Zerstörung natürlicher und kultureller Ressourcen, die Polarisierungen in der Verteilung von Arbeit, Einkommen und Wissen, die Erosion von Gemeinschaft und Solidarität durch überzogenen Wettbewerb und Zwang zur Konkurrenz der atomisierten Individuen um Lebensgrundlagen u. a. – sind so offensichtlich 73), dass ihre Aufrechterhaltung und weitere Ausbreitung nicht alleine durch Angst, Sicherheits- und Konsumbedürfnisse der arbeitenden Bevölkerungen und der (potentiellen) Verlierer zu erklären sind. Darüber hinaus kann sich diese kontraproduktive Verwertungspraxis nur durch Koppelung mit einer logozentrischen Glaubenspraxis und den hier sich reproduzierenden Vorurteilsstrukturen erhalten und stabilisieren. Es handelt sich um eine Verzerrung der Organisation wirtschaftlicher Leistung, die geleitet ist durch die glaubenspraktische Verabsolutierung der Kapitalvermehrung zum höchsten Allgemeinen und zum Medium einer (vermeintlichen) Souveränität und Freiheit der Akteure. Diese Verabsolutierung des Profits ist in der Natur des Geldmediums, in der Möglichkeit seiner unendlichen Akkumulation und grenzenlosen Wirkmächtigkeit angelegt und wird hier als „wirtschaftlicher Logozentrismus“ bezeichnet. Die Herrschaft des abstrakten „Mehr“ formatiert weltweit wachsende Anteile der wirtschaftlichen Funktionseliten als „Mehrmenschen“, die in Kooperation mit „Mehrpolitikern“ das „Mehrwachstum“ realisieren und einen Raubtierkapitalismus entwickeln. 74)

Raubtierkapitalismus I Bekanntlich beruhten schon die athenische Kultur und der Wohlstand ihrer Bürger ganz wesentlich auf der Existenz der Sklaverei, die sich durch die Unterscheidung zwischen Menschen (Bürgern) und Sklaven als „belebten Sachen“, die selbstverständlich auch gefoltert und getötet werden durften, legitimierte. Angeleitet durch immer neue Varianten der patriarchalen Selbsterhöhung und Erniedrigung der „Anderen“ hat Exklusion den Umgang der Europäer mit anderen Kulturen bestimmt und ihre Ausbeutung bis zur Vernichtung legitimiert: vom Morden der Kreuzritter über die Ausrottung und Unterdrückung der Völker Südamerikas bis zum Kolonialismus und zur Versklavung von Völkern in Afrika und Asien und der Ausrottung der amerikanischen Indianer. Zwischen 1400 und 1900 haben europäische Staaten mit den Werkzeugen patriarchal „formatierter“ junger Männer und einer hochentwickelten Waffentechnik 90% der bis dahin bekannten Erde erobert. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Eroberungs‑, Ausbeutungs- und Vernichtungsstrategien zunehmend kapitalistisch, durch Maximierung des Profits motiviert und durch Entwertung der betroffenen Völker legitimiert. Entstehung und Ausdehnung eines ungezügelten, durch Verabsolutierung des Profits legitimierten Raubtierkapitalismus reichen zurück in das 15. Jahrhundert. Sie haben in den folgenden Jahrhunderten Europa und den USA großen Wohlstand gebracht – allerdings auf Kosten einer grausamen Unterdrückung, Ausbeutung und Ermordung von vielen Millionen Menschen – und einer teilweise bis heute andauernden Armut vieler Völker. Was in der Geschichtsforschung betont neutral als „Expansion der Rohstoffgrenzen “und „große Divergenz“ (Kenneth Pomeranz) beschrieben wird, lässt sich auch als ein Prozess der globalen Landnahme des Kapitals, der immer erneuten, sich verlagernden Erschließung, Ausbeutung und Vernichtung von Ressourcen und Menschen im Interesse der Profitsteigerung beschreiben. 188

Im 16. Jahrhundert war Zucker ein hochattraktives und entsprechend lukratives Produkt, für dessen Anbau die Europäer in den eroberten Landstrichen Südamerikas und der Karibik die Ureinwohner verdrängten, ca. 2 Millionen von ihnen ermordeten und Millionen Menschen von der afrikanischen Westküste als Sklaven ansiedelten. Pioniere dieser Entwicklung waren die Fugger und Welser, die die sog. „Plantagenmaschinerie“ entwickelten: eine Kombination von Landraub, Sklaverei, industrieller Landwirtschaft, und neuartiger Arbeitsorganisation. Auf das heutige Haiti wurden jährlich 40000 Sklaven gebracht, von denen die meisten jung, ausgemergelt von der harten Arbeit starben Nachdem im späten 18. Jahrhundert die Sklaverei immer schärfer kritisiert wurde und schließlich zu Revolten, (Haiti 1790), zum Verbot des Sklavenhandels (1807) und zur Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien (1834) führten, verlagerte sich der Zuckeranbau nach Kuba und auf Inseln im Pazifik (z. B. Fidschi und Mauritius) Hier entstand ein neues System zur Mobilisierung von Arbeitskräften: die Kontraktarbeit. Millionen indischer und chinesischer Arbeiter unterschrieben ausbeuterische Verträge, die sie zwangen unter härtesten Bedingungen und mageren Löhnen zu arbeiten. Die Suche nach Land, Ressourcen und billigen Arbeitskräften ließ die Zuckergrenze über den Globus wandern – bis sich im 19. Jahrhundert die Zuckergewinnung aus Rüben in Europa durchsetzte. Ähnlich lässt sich der „Siegeszug“ der Baumwolle nachzeichnen: Im Zuge des wachsenden Bedarfs und der Expansion der europäischen und US-amerikanischen Textilindustrie nahm man den Ureinwohnern Amerikas das Land und zwang schwarze Sklaven, die Baumwolle zu ernten. Nachdem auch in den USA die Sklaverei für illegal erklärt wurde, entstand hier ein neues Arbeitssystem: In der sog. Pachtbauernschaft schlossen ehemalige Sklaven Verträge mit den weißen Landbesitzern, in denen sie sich zum Baumwollanbau verpflichteten und im Gegenzug die Hälfte der Ernte behalten durften. „Dieses System führt geradewegs in die Schuldknechtschaft, eingebettet in einen extremen Rassismus und eine politische Entmachtung der schwarzen Bevölkerung  … In der Folge zeichneten sich sämtliche Landstriche der Welt, in denen Baumwolle produziert wurde, durch extreme Armut, politische Unterdrückung und Zwangsarbeit aus.“ Ähnlich zeigen auch die Geschichten des Tee- und Kaffeanbaus wie auch der Kupfer- und Palmölgewinnung „dass die Entstehung des industriellen Kapitalismus in Europa – dessen höchstes Gut das Eigentumsrecht ist – enorme Enteignungswellen mit sich gebracht hat. Und dass die globale Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die so oft gleichgesetzt wird mit der Ausdehnung der menschlichen Freiheit, Hand in Hand ging mit blutigen Unterwerfungen und umfangreicher Versklavung … Heute sind es nicht mehr nur die Plantagen oder Kaufleute, die Rohstoffgrenzen verschieben, sondern Unternehmen, die eng mit Regierungen, internationalen Institutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond sowie Banken, Finanzgesellschaften und sogar humanitären Organisationen zusammenarbeiten.“ 75) Der Raubtierkapitalismus und seine Suche nach dem größtmöglichen Profit leben auch heute weiter – wobei sich die Strukturen seiner Legitimation, seine Landnahme in der Kultur und die Ressourcen verändert haben und neue Formen ihrer Nutzung und Ausbeutung die alten teils abgelöst, teils auch ergänzt und überformt haben. Darum geht es im Folgenden.

Raubtierkapitalismus II „Es gibt einen Klassenkampf, natürlich, und meine Klasse, die Reichen, die ihn führen, gewinnt ihn gerade.“ (Warren Buffett) Da die Landnahme der Kultur durch den mangelhaft regulierten Raubtierkapitalismus der sich zunehmend artikulierenden intuitiven Sittlichkeit der Menschen widerspricht, muss sie massiv durch be189

stimmte Glaubensinhalte, Vorurteilsstrukturen und Deutungsmuster gestützt werden. Wirtschaftlicher Logozentrismus und Neo-Liberalismus bilden bis heute eine systemkonforme Glaubenspraxis, in der die Akteure des Kapitalismus sich und anderen einreden, das „Wettsägen am eigenen Ast“ (Hans Peter Dürr) sei „alternativlos“, diene dem Fortschritt, schaffe globalen Wohlstand und fördere die kulturelle und persönliche Entwicklung. Der wirtschaftliche Logozentrismus stellt sich selbst in glaubenspraktisch vereinfachten und verzerrten, sog. neo-liberalen Deutungsmustern dar und legitimiert und stabilisiert sich durch diese. Dazu gehören die Verweise auf die „Selbstverantwortung“ der eigentumslosen, tendenziell ausgeschlossenen Individuen bei gleichzeitiger Aufwertung von Verfügungsfreiheit und Vernachlässigung von Verantwortung der Eigentümer und Vermögenden, die Alibifunktion des Marktes als eine angeblich „saubere“ und „rationale“, alles zum Guten regelnde „unsichtbare Hand“ 76), die Verdrängung von „sozialer Gerechtigkeit“ als gesellschaftlicher Leitorientierung zugunsten der Propagierung von Markt- und angeblicher Leistungsgerechtigkeit, die Projektion der Ursachen von Staatsverarmung und ‑verschuldung, die vor allem in zu geringen Besteuerung des Kapitals und in Steuervermeidung der Vermögenden begründet sind, auf eine angebliche „Anspruchsinflation“ in den Bevölkerungen u. a. 77) Dieses wirtschaftswissenschaftlich von Ökonomen gefütterte, von den politischen Geburtshelfern und wirtschaftlichen Akteuren teils selbst geglaubte, teils zynisch verkündete Weltbild dient seit den 70er-Jahren als Leitorientierung und Legitimation der Wiederkehr und weltweiten Landnahme eines „Raubtierkapitalismus II“, der durch eine zunehmend überforderte, sich diesem anbiedernde und sich selbst entmündigende Politik flankiert wird. Die nach dem Manchesterkapitalismus der zweiten industriellen Revolution erneute Entfesselung des historisch mühsam erkämpften und erarbeiteten, domestizierten und „demokratischen Kapitalismus“ (Wolfgang Streek) zum „Raubtierkapitalismus II“ hat (bei Vernachlässigung regionaler Besonderheiten und Entwicklungsgeschwindigkeiten) weltweit Anfang der 70er-Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts begonnen. Zuvor waren die drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest in Europa durch einen Gesellschaftsvertrag charakterisiert, in dem der Kapitalismus durch einen marktdisziplinierenden und umverteilenden Interventions- und Steuerstaat und durch politisch definierte Zielsetzungen wie Gewährleistung von Vollbeschäftigung, sozialen Ausgleich, Arbeitnehmerrechte und ihren Schutz domestiziert war. Insofern hier Produktiväts- und Profitwachstum mit Einkommenssteigerungen der Bevölkerungen gekoppelt werden konnten, war es weitgehend gelungen, soziale Gerechtigkeit und Marktgerechtigkeit als „zwei konkurrierende Verteilungsprinzipien“ (Wolfgang Streek) zu verbinden und zu institutionalisieren. 78) In diesen Jahrzehnten beruhten Erfolg und Stabilität des „Flechtmusters“ von Wirtschaft und Wohlfahrtsstaat, von Wachstum und Verteilung auf einer „Endlosschleife“ von Massenproduktion, Vollbeschäftigung und Massenkonsum. Wird viel produziert, geht es der Wirtschaft gut; geht es der Wirtschaft gut, wird investiert; wird investiert, gibt es Vollbeschäftigung; gibt es Vollbeschäftigung, können Staat, Infrastruktur und Sozialeinkommen finanziert werden; haben alle Bürger Arbeits- bzw. Sozialeinkommen, wird viel konsumiert; wird viel konsumiert, wird viel produziert; wird viel produziert … usw. Dieses vermeintlich endlose „win-win-Spiel“ bildete den Rahmen und die Grundlage für eine einvernehmliche Regelung der Verteilung zwischen Kapital, Arbeit und Wohlfahrtsstaat und für Wirtschaftspolitiken, die am einen oder am anderen Punkt der Endlosschleife, am Angebot oder bei der Nachfrage unterstützend wirken wollten. Seitdem hat sich aber das Wirtschaftswachstum als Grundlage dieser Veranstaltung in seiner inneren Struktur verändert. Im Zusammenspiel von Globalisierung und Rationalisierung kam es nämlich zu mehr oder weniger ausgeprägten Entkoppelungen 190

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von Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum, von Gewinnen, Investitionen und Arbeitsplätzen, von Wirtschafts- und allgemeinem Wohlstandswachstum und von Kaufkraftsteigerung und Konsum nationaler Produkte.

Darüber hinaus hat sich, auch bedingt durch die Vernutzung natürlicher und humaner Ressourcen, die Wachstumsmaschine verlangsamt. 79) Der Analyse von Wolfgang Streek folgend, wurden Nachkriegsregime und Gesellschaftsvertrag mit der Balance von sozialer und Marktgerechtigkeit brüchig, als die Arbeitnehmer nun in weltweiten Streiks mehr Anteile an der Produktivität einforderten, darüber hinaus sich antikapitalistisch artikulierten und das „Kapital seinen Konzessionsspielraum erschöpft sah“. 80) Dies führte bis heute zu Anläufen einer (häufig mit Globalisierungszwängen begründeten) Infragestellung und Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags und einer „Fundamentalrevision des Wohlfahrtsstaats“ (Wolfgang Streek). 81) Das gilt auch und in besonderem Maße für die Situation in Deutschland als eines „der ungleichsten Länder der industrialisierten Welt“, in dem die „soziale Marktwirtschaft nicht mehr existiert“, weil hier (tendenziell) nur noch „Wohlstand für wenige“ (Marcel Fratzscher) produziert wird – wobei diese Entwicklung die Geltung der neo-liberalen „Trickle down-Theorie“, der zufolge auch die Armen in the long run vom Einkommenszuwachs der Reichen profitieren, wenn nicht widerlegt so doch einschränkt. Dabei wächst die Ungleichheit in der Verteilung von Arbeit, Vermögen und Einkommen sowie Wissen und Bildungschancen, obwohl der deutsche Sozialstaat große Summen auf Sozialeinkommen umverteilt. Diese Ungleichheit ist nicht „nur“ ein ethisches Problem und Gerechtigkeitsdefizit, sondern bremst auch Produktivität und Wirtschaftswachstum. Denn zu viele Beschäftigte werden in prekären Arbeitsverhältnissen auf sog. „macjobs“ fixiert, ihre Kinder haben zu wenig Bildungs‑, Qualifikations- und Aufstiegschancen, sodass die Anteile der Fachkräfte und einer qualifizierten Mittelschicht unter den Beschäftigten abnehmen. 82) Die bis heute zunehmend ungebremste (auf überraschend wenig Widerstand stoßende) Durchsetzung der Profit- und Machtinteressen des Kapitals hätte vermutlich schon in eine Legitimationskrise der Politik und vielleicht zu Zusammenbrüchen und Revolutionen geführt, wenn nicht soziale Desintegration und Verarmung großer Bevölkerungsanteile durch eine aufschiebende Kompensationsstrategie der „gekauften Zeit“ (Wolfgang Streek) verzögert und abgemildert worden wären. Wolfgang Streek folgend bestand diese Kompensation aus drei aufeinander folgenden Schritten: einer inflationären Geldpolitik  83), dann einer Steigerung der Staatsverschuldung 84) und schließlich einer Liberalisierung und Stimulation privater Verschuldung. 85) Alle drei Schritte – Inflation, Staats- und Privatverschuldung – lassen sich als Kompensationen des einfachen Sachverhalts lesen, dass bei Fixierung einer Kapitalrendite, die höher als das Wirtschaftswachstum ist, eine angemessene Beteiligung der Gesamtbevölkerung an der Produktivität nicht mehr gewährleistet werden kann. Bestärkt wird diese Tendenz noch dadurch, dass die Innovationskraft der Kapitaleigner zurück geht, bzw. diese sich auf Rationalisierung, Effizienz- und Gewinnsteigerung beschränkt. Auf diese Weise beansprucht das Kapital immer mehr vom Kuchen, ohne ihn nennenswert zu vergrößern. 86) Inflation, Staatsverschuldung und Privatverschuldung erzeugten ein wirtschaftliches (Schein)wachstum, das jeweils für begrenzte Zeiträume die fortschreitende Kapitalakkumulation und Umverteilung von unten nach oben (den Akteuren wie den Opfern) verschleiern konnte. Darüberhinaus war „jeder der drei Übergänge (…) mit Niederlagen der lohnabhängigen Bevölkerung verbunden, die es möglich machten, den Prozess der Liberalisierung weiter voranzutreiben.“ 87) Heute scheinen die genannten drei Wege der Pazifizierung und Legitimationsschaffung ausgeschöpft zu sein und man darf gespannt sein, welche neuen Wege der Selbstlegitimation und ‑stabilisierung das wirtschaftliche „Brüderpatriarchat“ suchen wird. 88) 191

Kapitalistische Formatierung des westlichen Systems Heute hat der patriarchale Kapitalismus, der sich vor allem auf technokratischen und wirtschaftlichen Logozentrismus stützt und legitimiert, weltweit nahezu alle Wachstumszonen durchdrungen, strukturiert und neue erzeugt. In den westlichen Kulturen „diszipliniert“ und entdemokratisiert er die Politik, instrumentalisiert das Recht, entscheidet über Finanzierung oder Nicht-Finanzierung der (schwächer werdenden) Staaten, verwandelt die Weltwirtschaft in eine sich beschleunigende Verbrennungsmaschine natürlicher Ressourcen und stürzt sie in Handelskriege und eine nicht endende Serie von Krisen, unter denen weniger die Akteure und mehr die „einfachen Leute“ zu leiden haben. Noch tiefer gehend verändert der Kapitalismus die westliche Lebensform, indem er hier Öffentlichkeit, Gesellschaft, Sozialisation und Technik wie auch die Wissenschaften und die Künste und heute auch (als Informations- und Plattformkapitalismus) das Internet, Internettechnologien, ‑kommunikation und ‑angebote sowie die persönlichen Daten der Bürger im Dienste der Kapitalverwertung „formatiert“. Ferner überzieht er das globale Umfeld und Gesellschaften mit schwachen Staaten mit einem Netz der Korruption, der Ausbeutung und Verwertung ihrer Ressourcen und Bevölkerungen. 89) Im Zuge dieser Landnahme des Kapitalismus wurde seine politische und rechtliche Disziplinierung zunehmend durch eine kapitalistische Disziplinierung der Politik und des Rechts abgelöst. Das führt nahezu zwangsläufig zur Herausbildung einer mehr oder weniger post-demokratischen politischen Steuerung, die sich zunehmend unverblümt in den Dienst der Kapitalverwertung stellt und kaum zögert, dafür auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene das Recht zu instrumentalisieren. So konnte das Kapital immer mehr Staaten zu Schuldnern machen, sich im Rahmen der Globalisierung der Wirtschaft auch weltweit vernetzen und durchsetzen, seine Renditeerwartungen an Produktion, Dienstleistung und Wissensarbeit höher schrauben, Handelskriege entfesseln und Wirtschaftskrisen auslösen und in den USA, in Russland und China neue Kombinationen mit autoritärer Politik hervorbringen und erproben. Darüber hinaus hat sich im Rahmen der Monetärökonomie ein Casino-Kapitalismus ausdifferenziert, der durch (kriminelle) Finanzprodukte und Erzeugung von Blasen weitere Finanz- und Wirtschaftskrisen erzeugt, die auf Kosten der Bevölkerungen und Steuerzahler bewältigt werden müssen. Mit Blick auf die (Selbst)entmächtigung der Politik ist zu unterscheiden zwischen einer vor allem in Beschleunigung und Komplexitätssteigerung begründeten Erosion politischer Steuerung generell und den darüberhinausgehenden Souveränitäts- und Legitimationseinbußen demokratischer Politik gegenüber den Kapitalverwertungsinteressen im Besonderen. Diese Entwicklungen werden im Folgenden etwas genauer nachgezeichnet.

Überforderung politischer Steuerung durch Beschleunigung, information overload und Komplexität „Information ist schnell, Wahrheit braucht Zeit“ (Peter Glaser) Ein bedeutsamer Unterschied zwischen den Organisationen wirtschaftlicher Leistung und politischer Steuerung besteht darin, dass erstere sich für Krisen unempfindlicher machen können, an deren Entstehung sie selbst mitgewirkt haben – jedenfalls so lange die destruktiven Folgen in Gesellschaft, Mitnatur und menschlicher Natur durch neue Wege der Kapitalverwertung, z. B. durch Schaffung neuer ökologischer, Gesundheits‑, Therapiemärkte u. a., kompensiert werden, bzw. zur Bearbeitung an den (Sozial)staat delegiert werden können und die Anteile der Exklusion und Verarmung in der Gesellschaft nicht so groß werden, dass sie zum Zusammenbruch der Kaufkraft großer Bevölkerungsanteile oder gar zu geschäftsstörenden Rebellionen führen. 192

Vereinfacht gesagt haben Unternehmen und Unternehmensnetzwerke mit der Komplexität und den Grenzen der Berechenbarkeit der Marktdynamik und der Konkurrenz zu tun und können daran ggfs. scheitern. Zwar müssen auch Unternehmen und ihre Führungen heute in Kommunikationsflüssen bestehen und sich via professionelle Kommunikation und PR um positive Aufmerksamkeit und Anerkennung seitens der Öffentlichkeit bemühen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Darüber hinaus können sie sich aber bis heute weitgehend unbehelligt einen „Tunnelblick“ und ein „Tunneldenken“ leisten, das die Folgen der Landnahme des Kapitals in der Kultur und in der Natur in großen Anteilen ignoriert bzw. nur verkürzt und verzerrt beobachtet und destruktive Folgen unternehmerischen Handelns (z. B. Schwächen in der Versorgung mit Allgemeingütern, Monopole, Arbeitslosigkeit, Entstehung eines Prekariats, ökologische Probleme, burn out von Arbeitnehmern u. a.) ignoriert und bestenfalls zur Bearbeitung an (Sozial)politik delegiert. Aber Politik hat ihrem Anspruch, der ihr zugewiesenen Funktion und den Erwartungen der Menschen folgend immer noch mit der Gesamtkomplexität der Natur und Kultur und darin der Gemeinschaft, Gesellschaft und Technik zu tun. Das bedeutet, dass hier Aufgabenstellungen und Strategien der Problembearbeitung komplexer sind als in der Organisation wirtschaftlicher Leistung. Mit der Globalisierung und Digitalisierung der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen ist eine explosive Zunahme und Beschleunigung von Informationsflüssen, der Interaktion und der Kommunikation verbunden, die – Niklas Luhmann folgend – zu Brüchen zwischen Wissen und Nicht-Wissen, Vergangenheit und Zukunft sowie Entscheidern und Betroffenen führen: • Der Bruch zwischen Wissen und Nicht-Wissen vertieft sich, weil mit explosiver Zunahme der zur technischen, wirtschaftlichen und politischen Verwertung bereitgestellten Informationen und des Wissens das „(Noch) Nicht-Wissen“ an den „Rändern“ dieses Wissenszuwachses exponentiell wächst. Deshalb werden informations- und wissensbasierte Orientierungen und Entscheidungen nicht leichter, sondern schwieriger – was sich u. a. darin ausdrückt, dass man heute für nahezu jede politisch gewünschte Bewertung und Entscheidung ein entsprechendes Expertengutachten bestellen kann. • Der Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft vertieft sich, weil mit der Zunahme globaler Beziehungsdynamik, mit der informationellen Vernetzung von Menschen, Unternehmen, Branchen, Regionen und Nationen auf der Erde zukünftige Entwicklungen immer weniger voraussehbar und kalkulierbar werden. Immer mehr Menschen und Organisationen werden zu effizienten Akteuren, die miteinander in Wechselwirkung treten und offene Ausgänge und nicht voraussehbare Emergenzen bewirken. Die Zunahme der Zahl und der Wechselwirkungen von Akteuren verstärkt zwangsläufig nicht-intendierte und nichtlineare chaotisierende Effekte und unvorhersehbare Entwicklungen. Unter diesen Bedingungen lässt sich Zukunft immer weniger aus der Beobachtung von Vergangenheit und Gegenwart ableiten. Auch bei ständiger Zunahme des Wissens über Vergangenheit und Gegenwart nimmt das Unwissen über Zukunft zu und im Fühlen und Denken der Bürger wie auch der Politik und Wirtschaft schrumpfen die „Horizonte der Verlässlichkeit“ (Thomas Druyen). • Schließlich vertieft sich der Bruch zwischen Entscheidern und Betroffenen, weil via globale Vernetzung Auswirkungen und Risiken von Entscheidungen und die Zahl der davon Betroffenen wachsen. Lokale Entscheidungen bekommen im Rahmen globaler Vernetzungen nicht-voraussehbare, langfristige und weitreichende, vielfach auch globale Effekte, die mit Risiken für eine wachsende Zahl von Betroffenen behaftet sind. 90) Komplexität, Beschleunigung und information overload erzeugen einen permanenten Unterscheidungs- und Entscheidungsdruck auf Organisationen und Menschen, die zu Gehetzten dieser Beschleunigung werden. Das beeinflusst die Qualität der hier getroffenen Unter- und Entscheidungen, führt in den Organisationen zur Ausblendung von Alternativen, zu Erhalt und Reproduktion des Bestehenden, zur Kurzfristorientierung 193

und Verschiebung von Problembearbeitungen in die Zukunft, zum „Durchwurschteln“ und zur Verdrängung wie auch zu Pseudoaktionismus und symbolischer Problembewältigung. All dies begünstigt nicht nur eine Trägheit der Bürger, die gelegentlich schon an Resignation, Lähmung und Apathie grenzt 91), sondern weckt hier auch Sehnsüchte nach Sicherheit und Vereinfachung der Welt, die einerseits vom Rechtspopulismus und Nationalismus und andererseits von Neoliberalismus und Ökonomismus bedient werden. Das betrifft nicht nur Politiker, kann hier aber besonders gefährliche Folgen haben. Sie zeigen sich in Gestalt falscher Einschätzungen von Entwicklungen und Sachverhalten, übertriebener Selbstsicherheit in der Urteilsbildung, Fixierung auf die eigene Seite und Sicht bei Interpretationen, Übergewichtung kurzfristiger Befriedigung von Informations- und Sicherheitsbedürfnissen und Fixierung auf Beeinflussung und Manipulation der Öffentlichkeit. All dies begünstigt eine schleichende Korruption und Verwandlung des Sprach- und Begriffsgebrauchs, eine um sich greifende Verdrängung ihrer impliziten Ethik, des Bemühens um und der Suche nach Wahrheit – bis hin zum „Trumpismus“, zur nahezu vollständigen Reduktion des Sprach- und Begriffsgebrauchs auf seinen Einsatz als symbolisches Kapital zur Durchsetzung, zum Erhalt und zur Mehrung politischer Macht. (Siehe weiter unten.)

Souveränitätseinbußen politischer Steuerung: „Kellner des Kapitals“ Zu dieser generellen Erosion kommen die Souveränitätsverluste hinzu, die demokratische politische Steuerung heute lokal, regional, national und auch auf der erst in Ansätzen ausdifferenzierten transnationalen Ebene hinnehmen muss, und zwar auch, weil sie selbst an ihrer Entmündigung mitgewirkt hat und weiter mitwirkt. Die Regulation und „Domestizierung“ des Kapitalismus durch politische Steuerung gelingt immer weniger – und zwar unabhängig davon, ob diese Politik lokal, regional, national oder transnational organisiert ist. Unter dem Druck des Kapitals degeneriert Politik zunehmend zu einem entscheidungsschwachen Reparatur- und Dienstleistungsbetrieb, der sich im vorauseilenden Gehorsam selbst entmündigt und ökonomisiert. Als „Adresse für lokale Verantwortung“ (Niklas Luhmann), als Verwalter und Beschützer des „Immobilen“ – der arbeitenden Menschen, ihrer Rechte und ihrer Lebensformen, des Sozialstaats und der Infrastrukturen – und als Garant sozialer Stabilität wird die Organisation politischer Steuerung (trotz ihres subnationalen, nationalen und transnationalen „splittings“) zunehmend schwächer. Der Druck von außen – die Anforderungen des Investitionskapitals an preiswerte „Standortqualität“, die Gleichgültigkeit des Spekulationskapitals mit Blick auf die Stabilität der Volkswirtschaften und ihre latente Drohung von Vertrauensentzug und Abwanderung – zwingen politische Steuerung zu einem vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Wirtschaft, der auch als „Standortpflege“ freundlich umschrieben wird. Politische Steuerung, die lokale, regionale, nationale und transnationale (z. B. europäische) „Standortpflege“ betreibt, wird dann zum „Kellner“ des Kapitals. 92) Das drückt sich auch in der Annäherung und Nivellierung nicht der parteipolitischen Rhetorik, aber der politischen Praxis aus. Tendenziell steht in der Politik immer weniger zur Wahl. 93) In dieser Konstellation kann die kapitalistisch organisierte Wirtschaft große Anteile ihrer Kosten erfolgreich externalisieren. Die Wirtschaft nimmt die Voraussetzungen ihres Funktionierens – psychische und physische Gesundheit der Menschen, Bildung, Qualifikation, stabilisierende soziale Beziehungen, Infrastrukturen usw. – möglichst preiswert in Anspruch und kann die Probleme, die sie erzeugt – z. B. Umweltzerstörung, soziale Exklusion, Arbeitslosigkeit, soziale Anomie und Aggressivität, burning out usw. – zur Bewältigung der Politik überlassen. Die Politik versucht die Anforderungen und Probleme mit ihren Mitteln zu bewältigen, kann aber zunehmend nur noch notdürftig reparieren, kompensieren und in die Zukunft verschieben. Diese Art der 194

Verschiebung von Problemen von der Wirtschaft in die Politik und von hier in die kulturelle Lebenswelt und in die Zukunft kann relativ unauffällig bleiben, solange der politischen Steuerung noch genügend materielle Ressourcen zur Verfügung stehen, um eine „Administrierung des Wohlstands“ (Herfried Münkler) der Mehrheit zu betreiben, um wenigstens zu kompensieren (z. B. auf den genannten Wegen der Inflation, der Staats- und der Privatverschuldung) und zu reparieren, Bearbeitungsversuche mit Geld auszustatten und Problemlösungen in die Zukunft zu verschieben. Dies gelingt aber nicht mehr unter Bedingungen sinkender Wachstumsraten und gleichbleibender oder sogar steigender Kapitalrenditen – was notwendig zu einer Verschärfung ökonomischer und sozialer Unterschiede, zur Verarmung größerer Anteile der arbeitsabhängigen Bevölkerung und einer weiteren Verknappung der materiellen Ressourcen, die wohlfahrtsstaatlich verteilt werden können, führt. Damit gerät politische Steuerung in eine fast ausweglose Situation: Sie muss die Kapitalinteressen vorrangig bedienen, was auch und vor allem heißt, auf Steuereinnahmen zu verzichten. Da dies unter Bedingungen ihrer Schrumpfung nicht mehr durch höhere Besteuerung der Arbeitseinkommen ausgeglichen werden kann und indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer nicht beliebig erhöht werden können, werden die Organisationen politischer Steuerung und Gestaltung, also Nationalstaaten, Länder, Städte und Gemeinden (von Ausnahmephasen abgesehen) in the long run ärmer, müssen sich selbst ökonomisieren und verschulden bzw. eine überzogene und kontraproduktive Sparpolitik betreiben, die Erhalt, Pflege und Ausbau der Infrastrukturen und der Bildung vernachlässigt und damit die Zukunftsfähigkeit gefährdet. 94)

Symbolische Politik, Politikverdruss und Populismus Was unter diesen Bedingungen der politischen Steuerung bleibt, um die Einbußen an Autonomie zu kompensieren und Legitimationsverlusten entgegenzuwirken, ist symbolische Politik. Typische Ausdrucksformen symbolischer Politik sind diffuse Verbalisierung und Visualisierung, Personalisierung und mediale Selbstinszenierung, wo es kaum noch darauf ankommt, Zukunftsperspektiven und mögliche Zukunftsarchitekturen angemessen komplex zu diskutieren und zu reflektieren sowie Entscheidungen zu treffen und zu legitimieren. Vielmehr geht es zunehmend darum, Persönlichkeit und Kompetenz, Entscheidungsfähigkeit und moralische Überzeugung glaubhaft, und medienwirksam zu simulieren. Besonders beliebt ist die Selbstinszenierung politischer Routiniers als „Erneuerer“  –  was in entsprechenden Narrativen glaubhaft gemacht wird und ggfs. auch in Machtmissbrauch münden kann. Deshalb gewinnen Medienkompetenz und ‑beeinflussung in der Professionalität politischer Akteure einen zentralen Stellenwert. Weil aber symbolische Politik die teils berechtigten, teils auch unrealistischen Erwartungen der Bevölkerungen und hier insbesondere der Globalisierungsverlierer nicht einlösen kann, nehmen hier antipolitische, antistaatliche und antidemokratische Affekte zu. Teile der Bevölkerung reagieren auf tatsächliches und vermeintliches Staats- und Wirtschaftsversagen mit Politik-, Wirtschaftsverdruss und Vertrauensentzug, mit Medien- und Wissenschaftsfeindlichkeit bis hin zu fundamentalistischen, auch protofaschistischen Gegenbewegungen, die dann das politische „Väterpatriarchat“, den Wunsch nach starker Führung, das Natürliche, das Gemeinschaftliche und ethnische Identitäten, das Volk, die Nation usw. ins Spiel bringen. Darauf reagieren wiederum Teile des politischen Personals mit populistischer Anpassung und Instrumentalisierung dieser Bestrebungen – bis hin zur nahezu vollständigen Reduktion des Sprach- und Begriffsgebrauchs auf symbolisches Kapital zur Durchsetzung und Mehrung politischer Macht, wie es derzeit von Donald Trump praktiziert wird. 95) Hinter diesen Inszenierungen und „Vorstellungen“ (im zweifachen Sinn des Wortes) formiert sich eine neue post-demokratische Politik, die sich von sachlichen, wissenschaftlich begründeten und ethischen Orientierungen zunehmend verabschiedet und rechtliche Regulationen zu umgehen sucht. 195

Drift zur postdemokratischen politischen Steuerung und Instrumentalisierung des Rechts Die westlichen Nationalstaaten geben heute wachsende Anteile ihrer Gestaltungsmöglichkeiten „nach oben“  –  an übergreifende Steuerungsinstanzen wie Europa  –  und „nach unten“ an sich selbst als Wirtschaftsstandorte organisierende Regionen und Städte ab. 96) Aber auch ihre subnationale und transnationale Ausdifferenzierung kann nicht verhindern, dass die Organisation politischer Steuerung und die Rechtsprechung sich weiterhin und zunehmend den Imperativen globaler Kapitalverwertung anpassen müssen. Dabei haben in Europa nationale, demokratisch gewählte Regierungen und der europäische Gerichtshof die Institutionalisierung überstaatlicher Exekutiven selbst herbeigeführt, die nicht oder nur unzureichend demokratisch und rechtlich kontrolliert und legitimiert sind und nun ihrerseits die Souveränität der nationalstaatlichen Parlamente und der nationalen Rechtsprechung und ihre Gestaltungsmöglichkeiten einschränken können. Die entscheidenden Weichen für diese Entwicklung wurde schon 1964 gestellt, als der europäische Gerichtshof den völkerrechtlichen Vertrag von 1957, in dem sich die Mitgliedsstaaten zur Errichtung eines gemeinsamen Marktes verpflichteten, in den Rang einer Verfassung anhob. Diese Konstitutionalisierung der Verträge „ist so, als stünde das gesamte Handelsgesetzbuch im Grundgesetz … Die Pflichten der Staaten wurden dadurch in Rechte der Wirtschaftsakteure verwandelt und konnten eingeklagt werden.“ (Dieter Grimm). 97) Wie bereits angedeutet zeigen Recht und Rechtsprechung mit Blick auf Staat und Politik eine Tendenz, in der Sicherung von Freiheit und Inklusion nachzulassen zugunsten der Gewährleistung von Sicherheit und ggfs. auch einer Legitimation von Exklusion. Eine ähnliche Funktionsverschiebung scheint auch mit Blick auf die rechtliche Regulation von Markt und Wirtschaft stattzufinden. Hier scheint es zunehmend weniger um Gerechtigkeit und gerechtigkeitsfördernde Gesetze, sondern immer mehr darum zu gehen, dass Gesetzgebung, Recht und Rechtsprechung eine möglichst reibungslose Organisation wirtschaftlicher Leistung ermöglichen und vor allem die Durchsetzung von Verwertungsinteressen flankieren. 98) Auch auf der Ebene der Europapolitik treten im Rahmen des Lobbyismus 99) die Bereitstellung von Expertise und Beratung für die Politiker in den Hintergrund zugunsten der massiven, häufig mit Korruption verbundenen Durchsetzung von Kapitalinteressen. 100) Anstelle einer europäischen Öffentlichkeit, in der politische und wirtschaftliche Strategien und Interessen zu diskutieren und zu beraten wären 101) und statt demokratischer Entscheidungen im europäischen Parlament werden immer häufiger in Netzwerken von Wirtschaft und Politik die „Weichen gestellt“. Anläufe, im Rahmen von Standortpflege die Rechtsposition von Kapital und Arbeitgebern gegenüber den Rechten von Bevölkerungen und Arbeitnehmern zu stärken, werden immer unverblümter. Wie in den seinerzeit geheimen Verhandlungen zum transnationalen Handelsabkommen (TTIP) und zur Liberalisierung von Dienstleistungen (Tisa), versucht das Kapital mit zunehmender Direktheit und Radikalität, die Dachregeln einer werdenden Weltgesellschaft in seinem Sinne zu bestimmen und rechtlich abzusichern. Hier werden Konzerne, ihre Vernetzungen und Repräsentanten zu transnationalen politischen Akteuren, die neue Machtinstanzen darstellen und Anteile der politischen Steuerung und der Rechtssetzung zu übernehmen versuchen, die bislang von Nationalstaaten, nationalen Parlamenten und Gerichten ausgeübt wurden. 102) Entdemokratisierung der Politik und Instrumentalisierung des Rechts gehören zum Programm und zur globalen Landnahme eines politökonomischen Regimes, das als „Brüderpatriarchat“ charakterisiert werden kann. Wie schon gesagt, haben schon seit dem 16. Jahrhundert die globalen Eroberungs‑, Bereicherungsund Vernichtungsfeldzüge des politischen Patriarchats, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der Menschen in den Kolonien zu der Reichtumskonzentration ganz wesentlich beigetragen, die als „ursprüngliche Akkumulation“ (Karl Marx) eine Voraussetzung für die Entstehung und Ausbreitung kapitalistischer 196

Industrieproduktion in Europa bildete. Dann haben die Nationalstaaten als Macht- und Handelsstaaten und durch Stimulation nationalistisch geprägter Konkurrenz – diese Entwicklung gestützt und befördert. Und heute übernimmt eine transnationale und zunehmend post-demokratische Politik eine stützende und flankierende Funktion, wenn es um Wiedererstarken, Erhalt und Globalisierung des Kapitalismus und seiner Ausbeutung natürlicher und kultureller Ressourcen geht.

Vom Steuerstaat zum Schuldenstaat: das Kapital entscheidet über Finanzierung oder Nicht-Finanzierung des Staats „Heute ist es nahezu unmöglich, zu erkennen, was Staat ist und was Markt und ob die Staaten die Banken verstaatlicht oder die Banken den Staat privatisiert haben.“ (Wolfgang Streek) Folgt man Wolfgang Streek, so war der Übergang vom Steuerstaat zum Schuldenstaat mit einer Überformung des Staatsvolks durch ein „Marktvolk“ verbunden. Während das Staatsvolk bekanntlich aus den Bürgern besteht, die als Staatsbürger durch Delegation ihrer Macht und durch ihre Loyalität gegen Garantie und Schutz ihrer Freiheit und ihrer Bürgerrechte an einen Nationalstaat gebunden sind, besteht das „Marktvolk“ aus den Gläubigern des Staats. 103) Heute und in Zukunft scheinen wachsende Anteile der Gewinnerpopulationen auf den westlichen Wachstumsinseln sich vom Staatsvolk in ein Marktvolk zu verwandeln, bzw. in den sich verwestlichenden Schwellenländern sich direkt vom vorbürgerlichen Zustand zum Marktvolk zu entwickeln. Hier treten an die Stelle der Loyalität von Staatsbürgern das schwankende Vertrauen von (werdenden) Besitzbürgern und ihre Erwartung gesteigerter Anlagerenditen. Diese Transformation von Globalisierungsgewinnern in (Klein)kapitalisten, die sich eher mit dem Kapital und seiner Gewinnsteigerung (z. B. in der Pflege ihrer Pensionsfonds) als mit den Globalisierungsverlierern solidarisieren, scheint weltweit eine neue Stütze und Legitimationsgrundlage des patriarchalen Brüderkapitalismus zu bilden. 104) Dementsprechend müssen die Nationalstaaten heute eine neue Stufe der „Bravheit“ realisieren, zu der auch die Abgabe von Souveränität an transnationale Steuerungsorgane gehört.

Der europäische Konsolidierungsstaat und sein internationales Marktvolk Vor diesem Hintergrund wird die Zwiespältigkeit der Internationalisierung politischer Regime und in diesem Rahmen auch der gegenwärtigen Europäisierung der Politik deutlich erkennbar. Was sich selbst und in den Augen ihrer Anhänger (und durchaus auch mit einiger Berechtigung) als längst fällige friedensstiftende, Sicherheit, Wohlstand und Einfluss mehrende politische Überwindung der Nationalstaatsgrenzen zugunsten einer neuen transnationalen Staatlichkeit darstellt, ist unter dem Einfluss des globalisierten Kapitalismus mit einer Verwandlung des schwach gewordenen nationalen Schuldenstaats in einen transnationalen „Konsolidierungsstaat“ (Streek) verbunden. Dieser konstituiert sich als ein zunehmend entdemokratisiertes „internationales Mehrebenenregime“, „um den neoliberalen Abschied des europäischen Staatensystems und seiner politischen Ökonomie von seiner keynesianischen Gründungsphase zu vollenden.“ 105) In den letzten Jahrzehnten wurde der Umbau der europäischen Union in ein solches Regime weit vorangetrieben. 106) Inzwischen haben Anteile und Gestaltungsmacht nicht-demokratisch legitimierter Institutionen und Verfahren auch in Europa so zugenommen, dass man heute schon (fast) von einem Trend zur post-demokratischen politischen Steuerung im westlichen Entwicklungspfad sprechen kann. Zwischen ad197

ministrativer Politik und transnationaler Wirtschaftsmacht bilden sich „informelle Souveränitätsreservate“ (Joseph Vogl): patriarchale Netzwerke und Koalitionen, die ein Management der Rahmenbedingungen und die Optimierung der Kapitalverwertung betreiben, das – lokal, regional, national und transnational – demokratische Verfahren unterwandert und die Bürger von Willensbildung und Entscheidungsfindung ausgrenzt. 107) Auch weil, wie bereits ausgeführt, das politische Personal durch Beschleunigung, information overload und komplexen Regelungsbedarf überfordert ist, werden Legislative und Exekutive zunehmend durch „beamtete Experten verquickt und entparlamentarisiert“, die sich häufig von der Politik benutzen lassen, dabei aber mit wissenschaftlicher Autorität auftreten und als Folge falscher Analysen, Prognosen und Entscheidungen Wissenschaftsskepsis bis hin zur ‑feindlichkeit in den Bevölkerungen erzeugen und verstärken. 108) Der gegenwärtige ambivalente Zustand Europas ist ein Beispiel für eine Entdemokratisierung und „Entparlamentarisierung von Entscheidungen“ (P. Kirchhoff). Das werdende Europa ist bislang nur das Ergebnis von Verträgen unter Staaten, aber nicht einer souveränen Vertragsbildung und Verfassungssetzung seiner Bürger. Insofern hat europäische Politik bislang nur eine „Output-Legitimation“ in Gestalt einer halbwegs funktionsfähigen Administration (vor allem im Dienste der Kapitalverwertung), aber keine hinreichende „Input-Legitimation“ durch demokratische Verfahren. Mangel an Demokratie, „Politik hinter verschlossenen Türen, Geheimniskrämerei und Kabinettspolitik“ (Enzensberger) und ein „postdemokratischer Exekutivföderalismus“ (Habermas) charakterisieren bis heute insbesondere die Praxis der Europäischen Kommission und des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs. 109) Hier „fungiert die Vorstellung einer technokatischen Beherrschbarkeit von Politik und ganzen Gesellschaften als Ideologie im Sinne einer notwendigen Illusion … Sind die Beherrschbarkeitsphantasien der präsumptiven Retter der Währungsunion realistisch? Vielleicht sind sie nichts andres als Ausdruck der Entschlossenheit, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um sie wahr zu machen  –  und der Zuversicht, dass Verschleierung Einschüchterung und moralische Marginalisierung aufkommender Opposition, aber vor allem robuste Maßnahmen jeglicher Art zur Suspendierung der parlamentarischen Demokratie und festen Institutionalisierung von Oligarchie und Expertokratie auf nationaler und europäischer Ebene am Ende, wenn man sie nur lange genug betreibt, doch noch zum Ziel führen werden.“ 110)

Weltweite Vernetzung und Durchsetzung des modernen Brüderpatriarchats Mischungen aus technokratischem und wirtschaftlichem Logozentrismus prägen die Handlungen, die Mentalitäten und Kompetenzprofile sowie die legitimierenden Deutungsmuster der Akteure und Netzwerke des gegenwärtigen Kapitalismus. Diese Netzwerke eines technokratisch und ökonomistisch verkürzten Polit- und Wirtschaftsmanagements im Dienste der Kapitalverwertung durchziehen die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, kolonialisieren ihre Systeme – und maskieren sich dabei als Hüter der offenen Kultur und der „Freiheit“ des Westens. Diese Behauptung ist keine Verschwörungstheorie, sondern systemevolutionär begründbar. Kapitalismus ist, wie bereits beschrieben ein System, das Kapitalverwertung und Marktdynamik zirkulär koppelt und durchaus dem Gemeinwohl dienen und zum Nutzen der gesamten Kultur funktionieren kann, wenn es durch Staat, Demokratie und Recht „gekonnt“ reguliert und begrenzt wird. Aber dieser eigentlich naheliegenden Einsicht steht der Wiedereintritt der patriarchalen Handlungslogik, der Glaubenspraxis und entsprechender mentaler Vorurteilsstrukturen in der kapitalistischen Organisation wirtschaftlicher Leistung entgegen. Hier verwandeln die patriarchalen Netzwerke und ihre logozentrische, ersatzreligiöse Verabsolutierung von Kapitalverwertung, Profit und darin begründetem Erfolg tendenziell 198

die gesamte Wirtschaft in eine Verbrennungsmaschine, die natürliche und kulturelle Ressourcen vernutzt und die dynamische Stabilität und Viabilität der menschlichen Kultur bedroht. Indem der patriarchale Kapitalismus die Finanz- und Realökonomie auf Maximierung der Kapitalverwertung und in diesem Rahmen auf Wettbewerb und Beschleunigung verkürzt, werden nicht nur Märkte und wirtschaftliches Wachstum dieser Kapitalverwertung unterworfen, sondern Entwicklung und Schicksal der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen werden zu immer größeren Anteilen von ihrem „Auf und Ab“ und „Hier oder dort“ abhängig. Wir nähern uns einem globalen Zustand, in dem, wie es so schön heißt, „der Schwanz mit dem Hund wedelt“. Zur Organisation des patriarchalen Kapitalismus gehört ein wachsendes, den Globus nach und nach überziehendes Netzwerk, dessen Entwicklung, Dynamik und Funktion, wie schon gesagt, einem abstrakten „Mehr“ folgt. Indem hier immer wieder die eine Formel maximaler Kapitalverwertung in immer kürzeren Zeitabständen ausbuchstabiert wird, entwickeln, reproduzieren und differenzieren sich diese Netzwerke gleichsam fraktal in lokalen, regionalen, nationalen, transnationalen und globalen Räumen. In allen Größenordnungen handelt es sich dabei um „Young and Old Boys–Netzwerke“, die auch miteinander vernetzt sind, was besonders deutlich im Lobbyismus, z. B. in den Vernetzungen des Produktions- und Dienstleistungskapitals, des Finanzsektors und des Investorkapitalismus mit den politischen Führungen vor allem in den USA, ansatzweise aber auch in der EU zu beobachten ist. Hier kann teilweise mit Recht eine Ablösung der Demokratie durch eine „Lobbykratie“ beklagt werden, in der die Netzwerke der rücksichtslosen Absprache und Durchsetzung der Interessen an Kapitalverwertung dienen und vielfach banden- und mafiaähnliche Strukturen mit „Mitgliedsmentalität“ zeigen. Ferner gibt es eigentümliche Mischungen eines rigiden religiösen Moralismus und Sendungsbewusstseins mit politischem und wirtschaftlichem Logozentrismus vor allem unter Republikanern und Neo-Konservativen in den USA, die die amerikanische Politik und damit auch die Weltpolitik in verhängnisvoller Weise beeinflussen. Macht und Einfluss des Neokonservativismus in den USA zeigen bis heute, wie stark Glaubensinhalte und Vorurteile von wenigen politisch Mächtigen die Realität einer Gesellschaft und das Leben von Millionen Menschen prägen können. Dass sich beispielsweise seit 30 Jahren in den USA die Schere zwischen Armen und Reichen wie auch zwischen staatlicher Armut und privatem Reichtum immer weiter öffnet, ist weniger schicksalhaftes Ergebnis von Krisen der amerikanischen Industrien und Wirtschaft, sondern von einem Netzwerk aus marktradikalen Ökonomen, Politikern und Meinungsbildern gewollt und geschaffen, an dem nun auch der amerikanische Präsident in besonders verhängnisvoller Weise mitwirkt. 111)

Hochschraubung der Renditeerwartungen, globale Handelskriege und Wirtschaftskrisen Die internationale Kapitalmobilität steigert die Renditeerwartungen der Investoren in der Realökonomie und übt damit wachsenden Gewinndruck auf Volkswirtschaften und Unternehmen aus – was hier zu rigiden Rationalisierungen und Abbau von Arbeitsplätzen, zu Industrialisierung und Wachstum von Regionen auf Kosten von Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit in anderen Regionen der Welt und zur Vernachlässigung kultureller Zukunftsinvestitionen führt. 112) Unter dem Regime der Optimierung von Kapitalverwertung führt die zunehmend engere wirtschaftliche Vernetzung zwar einerseits zu „win-win-Spielen“ der gobal verteilten Wachstumszonen und Wirtschaftsnationen, darüber hinaus aber auch zu ausgedehnten und sich zunehmend verhärtenden Handelskriegen zwischen ihnen. Cyberwaffen wie Spionage- und Sabotagesoftware werden heute nicht nur zur politischen Kontrolle und Unterdrückung 113), sondern auch zur Ausspionierung und Sabotage von 199

Infrastrukturen, Wirtschaft und Unternehmen eingesetzt, werden zu Waffen eines Wirtschaftskriegs, der hinter der Fassade von internationaler Verständigung und Kooperation geführt wird. Militärisches Wettrüsten, wird durch elektronisches ergänzt: Mit dem Virenschutz wird auch die Schadsoftware ständig weiterentwickelt  –  wobei sich ihre Ausrichtung von Spionage zunehmend zur Sabotage verlagert. 114) Militär und Geheimdienste sind hier die Hauptmotoren der Entwicklung. Die Grenzen zwischen Wirtschaftskrieg, Cyberkrieg und militärischer Kriegsführung zerfließen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Vorstellung, dass sich mit Industrie, Wirtschaft und Kapitalismus auch die westliche Demokratie globalisieren wird, als reichlich optimistisch, wenn nicht sogar naiv. Denkbar ist auch das Gegenteil: dass die Tendenz zur Entdemokratisierung in den westlichen Industrienationen einen zusätzlichen Schub aus Asien und hier insbesondere von China bekommt. Heute hat das moderne Brüderpatriarchat nahezu die gesamte Welt in ein „Spielfeld“ der Kapitalverwertung verwandelt, auf dem zwar beachtliche Fortschritte auch qualitativen Wachstums, der Armuts- und Krankheitsbekämpfung, in der Verteilung von Arbeit, Einkommen und Wissen als „Nebeneffekte“ zu verbuchen sind. Aber zugleich hat dieser Kapitalismus die kulturellen Lebensformen auf der Erde in einen globalen Zustand geführt, der durch vielfältige ökologische und kulturelle, soziale und ökonomische Krisen und kriegerische Konflikte charakterisiert ist. 115)

Casino-Kapitalismus und blasenbedingte Wirtschaftskrisen „Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als ­Gläubiger letzter Instanz platziert.“ (Joseph Vogl) Wie schon ausgeführt, wurde die Globalisierung des Handels und der Wertschöpfung in den zurückliegenden Jahrzehnten zunehmend ergänzt und überlagert durch die Liberalisierung und internetgestützte Globalisierung der Finanzmärkte. Diese war politisch gewollt und wurde von der Politik entsprechend gefördert und gebahnt. 116) Mit der Reduktion der Eigenkapitalquoten und Ausdehnung der Bankenverschuldung, mit dem Einsatz von Hebeln, der Einführung des computergesteuerten Hochgeschwindigkeitshandels (high frequency trading) 117) von Banken und Investmentfonds und der Entwicklung eines Schattenbanksystems 118), das die wenigen Regulationen der Finanzmärkte wirksam unterlaufen konnte, wurde auch der Weg für einen „Casino-Kapitalismus“ frei gemacht, der mit immer neuen Finanzprodukten und Derivaten immer höhere Gewinnchancen für Banken und Finanzdienstleister wie auch für die renditesuchenden Gewinnerpopulationen und ihre wachsenden Vermögen und Erbschaften erzeugt. Diese Entwicklung setzt der (auch kriminellen) Energie und Phantasie bei der Erfindung und Vermarktung von Finanzprodukten kaum Grenzen – insbesondere, wenn es eine Vernetzung und gegenseitige Stützung zwischen Akteuren und Kontrolleuren (z. B. Rating-Agenturen) gibt. Hier agieren und jonglieren miteinander vernetzte und testosterongetriebene „old and young boys“ mit bewusst nahezu undurchschaubar gemachten Produkten und immer höheren Gewinnen und Risiken im vollen Bewusstsein der verheerenden Folgen, die ihre profitablen Aktivitäten für den Finanzsektor, für Anleger und ganze Volkswirtschaften haben können. Die Entstehung von Blasen, die schließlich platzen und große Bevölkerungsgruppen schädigen oder gar ruinieren, wird hier bewusst in Kauf genommen. Dies umso mehr, wenn die Banken als „to big to fail“ gelten, auf Kosten der Allgemeinheit gerettet werden müssen und auf diese Weise die Verschuldung der Staaten verstärken und beschleunigen. 200

Nie zuvor in der Geschichte gab in so kurzer Zeit so viele Börsencrashs und Wirtschaftskrisen wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten: Japankrise, Mexikokrise, Asienkrise, Russlandkrise, Internetblase, die Krise der Investmentbanken und schließlich die europäische Finanzkrise. 119) Im Unterschied zu Konjunkturkrisen, die durch Niedergänge und Sättigung der Vermarktung von Schlüsseltechnologien entstehen, und durch Entwicklung neuer Schlüsseltechnologien überwunden werden können, stellen Finanzkrisen eine wesentlich größere Gefahr nicht nur für Volkswirtschaften, sondern auch für Politik und Demokratie dar. 120) Die Finanzkrisen in den letzten Jahrzehnten kann man als Vorboten einer großen weltweiten Krise des Kapitalismus verstehen, die vor allem in einer sich selbst explosiv beschleunigenden privaten Kapitalkonzentration und in der schleichenden Erschöpfung natürlicher, sozialer und humaner Ressourcen begründet ist. Aus dieser Sicht lässt sich der „Staffellauf “ der Industrialisierung, der zur Globalisierung des Kapitalismus geführt hat, auch als Erschließung und Verbrennung immer neuer natürlicher und kultureller Ressourcen verstehen, die bis heute sein Ende immer wieder hinausschieben konnte, was vielfach begrüßt und als Fortschritt (miss)verstanden wird. Dem gegenüber besteht der Beitrag zu einem wirklichen Fortschritt darin, dass die Landnahme des Kapitalismus bis heute eine Vielzahl emanzipatorischer Bewegungen hervorgebracht hat, die zu Reformen und Selbsttransformationen der bürgerlichen Gesellschaft im „Gefäß“ von Nationalstaaten geführt haben, wie z. B. zur Humanisierung von Arbeitsbedingungen, zur Einrichtung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats, zur Gleichberechtigung der Frauen, zu Ansätzen der Implementierung der Ökologie in die Ökonomie, zu (bescheidenen) Ansätzen der Finanzmarktregulation u. a. Insofern wäre heute eine Selbsttransformation der westlichen und sich verwestlichenden Kultur auf globaler Ebene, in einem post-nationalen „Gefäß“ notwendig, deren Leitorientierungen zwar inzwischen allgemein bekannt, aber gemeinsame Wege ihrer Umsetzung nur sehr schwierig und (zu) langsam zu finden sind 121). Indem die globalisierten Netzwerke des patriarchalen Kapitalismus Geltung und Einfluss aller nicht-marktförmigen Ordnungen und Regelungen zurückdrängen, ohne deren Erhalt und Pflege Kultur nicht existieren kann, verhalten sie sich wie Parasiten, die in the long run mit ihrem Wirtsorganismus auch sich selbst zerstören werden. Heute gibt der globale, kapitalistisch organisierte Industrialisierungsschub zwar (noch) Millionen von Menschen Arbeit, ist aber mit katastrophalen ökologischen Folgen, mit der Wiederkehr frühkapitalistischer Formen der Ausbeutung, mit menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen, fehlender sozialer Absicherung und Krankenversorgung, Kinderarbeit etc. verbunden. Darüber hinaus provoziert diese Art der Globalisierung, wie schon ausgeführt, auch die „Wiederauferstehung“ eines rückwärtsgewandten politischen Patriarchats, das sich populistisch auf ihre Verlierer zu stützen sucht.

Weltweite kapitalistische „Formatierung“ der Lebens- und Arbeitsformen Während das moralische und das politische, die Globalisierung ablehnende Patriarchat sich heute explizit als Alternativen zur unübersichtlichen, überkomplexen und irritierenden offenen Kultur anbieten, sind das technokratische und das wirtschaftliche Patriarchat offen für diese, um sie in ein weltweites Spielfeld der Kapitalverwertung zu transformieren. Dazu gehören die Erosion bürgerlicher Öffentlichkeit und die Entdifferenzierung kultureller Selbstbeobachtung (des Systems „Kultur der Kultur“) durch kommerzialisierte Massenkommunikation und die Neutralisierung bzw. Kanalisierung des ästhetischen Umweltbezugs und der darin begründeten Freiheit und Kreativität der Bürger in verwertungsgeprägten Arbeits- und Lebensformen. Damit verbunden vollzieht sich eine „Landnahme“ der Kapitalverwertung in der Kunst, die diese tendenziell in Kitsch und Mode auflöst. Hinzu kommt eine systematische, der Verwertungslogik folgende Verzerrung von gemeinschafts- und 201

gesellschaftsbildenden Alltagspraktiken: eine Reduktion und Formatierung menschlicher Natur zum „Humankapital“ in Sozialisation und Bildung wie auch eine Verzerrung der Gesellschaft durch Erosion reziproker Anerkennung im Zuge einer Atomisierung und (Selbst)vermarktung der Menschen. Diese Verzerrungen und Entdifferenzierungen kennzeichnen (mehr oder weniger ausgeprägt) alle globalen Wachstumszonen und prägen hier im besonderen Maß das Fühlen, Denken und Handeln der Funktionseliten, der Wissensarbeiter, der Intellektuellen und der sog. „kreativen Klasse“. Dabei werden die kritischen Intellektuellen und Künstler zunehmend durch Experten (und in Zukunft durch Computer) abgelöst, die nicht mehr fähig sind, die implizite Ethik der kulturellen Lebensform und die intuitive Sittlichkeit der Menschen explizit zu machen, im Lichte dieser Explikation die Zustände der westlichen Kultur kritisch zu reflektieren, damit den Bevölkerungen Orientierungen, Veränderungs- und Entwicklungsperspektiven anzubieten und gestützt auf ihre demokratische Zustimmung die Zukunft verantwortungsbewusst mitzugestalten. Das wird im Folgenden genauer begründet.

Erosion bürgerlicher Öffentlichkeit und Entdifferenzierung kultureller Selbstbeobachtung in der kommerzialisierten Massenkommunikation Seit Beginn der Kultur haben Reflexion und Orientierung durch mediale, bildlich und sprachlich vermittelte Selbstbeobachtung und Verständigung über die Welt sich weiterentwickelt und ausdifferenziert. Beginnend in der griechischen polis haben im westlichen Pfad die Prozesse öffentlicher Verständigung eine fundierende und katalytische, orientierende und legitimierende Funktion für die gesamte spätkulturelle Lebensform und ihre Viabilität übernommen. Das betrifft nicht nur die Gesellschaft, also das Funktionieren von Markt, Staat und Demokratie, sondern auch die Systeme der Technik, der Sozialisation, der Wissenschaften, der Künste und der (religiösen wie post-religiösen) Glaubenspraktiken wie auch das Rechtssystem. Deshalb ist es nicht überraschend, dass sich in den Vollzügen bürgerlicher Öffentlichkeit, ein eigenständiges System ausdifferenziert hat, das hier als „Kultur der Kultur“ bezeichnet wurde. Dieses bildet einen „Spielraum“, in dem die westliche Kultur in immer wieder neuen Anläufen ihre Vergangenheit und Entwicklung thematisieren, ihre Gegenwart beobachten und ihre Zukunft entwerfen kann. Unter Bedingungen der Reduktion von Komplexität durch alltags- und glaubenspraktische Systembildungen und ‑differenzierungen kann das System „Kultur der Kultur“ durch nicht restringierte Verständigung und Selbstbeobachtung einen dosierten Wiedereintritt von Komplexität und einen „gekonnten“ Umgang mit dieser im westlichen Pfad ermöglichen. Dabei gilt auch hier die zirkuläre Koppelung von Systemdifferenzierung und Ausübung persönlicher Freiheit: Nur in den Vollzügen einer infiniten, nichts ausgrenzenden Verständigung über Welt und ihrer „befreienden Normativität“, können die Menschen ihre persönliche Denk- und Meinungsfreiheit ergreifen und praktizieren und andererseits können sich diese Verständigung und verständigungsbasierte Orientierungssuche nur dann als „flüssiges Fundament“ westlicher Kultur stabilisieren und ausdifferenzieren, wenn die Menschen sich für ihre Teilhabe daran frei entscheiden können und wollen, also in ihrer Lebensführung einer „Normativität der Freiheit“ folgen. In diesem Rahmen hat sich Verständigung nicht nur als Selbstbeobachtung, sondern auch als Beobachtung der Selbstbeobachtung der Kultur, ihrer religiösen wie auch post-religiösen Weltbilder ausdifferenziert, betreibt also (schon seit ihren Keimbildungen in der griechischen Kultur) Glaubenspraxis auch als Verständigung über Glauben. Diese Möglichkeiten einer dialogischen post-logozentrischen Aufklärung der Kultur über sich selbst, die hier auch als Ansätze einer Selbstbeobachtung „vierter Ordnung“ charakterisiert wurden, steigern ihre Lernfähigkeit und öffnen sie zur Zukunft – was hier als „systemisch Gutes“ und Beitrag zum „Gelingen“ westlicher Kultur beschrieben wurde. Diese Errungenschaften sind heute von Erosion bedroht. 202

Massenkommunikation und Kulturindustrie „Wer wissen möchte, wie es wirklich um eine Gesellschaft oder eine Ideologie bestellt ist, sollte dem Fluss des Geldes folgen. Wenn das Geld in Werbung fließt statt zu Musikern, Journalisten und Künstlern, geht es der betreffenden Gesellschaft mehr um Manipulation als um Wahrheit oder Schönheit. Wenn Inhalte keinen Wert haben, werden die Menschen bald hohl und inhaltslos sein.“ (Jaron Lanier) Nie zuvor in der spätkulturellen Evolution konnten so viele Menschen in den Prozess der kulturellen Selbstbeobachtung und der Verständigung über Welt, in politische Willensbildung, Entscheidungsfindung und eine demokratisch organisierte Mitgestaltung der Kultur einbezogen werden, wie es heute grundsätzlich über die technischen Medien und vor allem über das Internet möglich wäre. Aber die digitalisierte, potentiell weltweit alle Menschen verbindende Kommunikation erweist sich auch als zwiespältig. Sie kann zwar –wie die Digitalisierung politischer Verwaltung und Willensbildung (Beispiel Estland) und internetgestützte bürgerliche Protestbewegungen weltweit zeigen – zu einer (Re)politisierung des Bewusstseins der Bürger, zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen und die Kultur für eine breit angelegte kritische Selbstbeobachtung und dialogische Verständigung öffnen und offen halten. Das könnte auch ein neuer Entwicklungsschritt zu einer partizipativen „liquid democracy“ sein, die die bislang ausdifferenzierte Parteiendemokratie ergänzen und bereichern könnte. Aber abgesehen davon, dass die technischen Medien in totalitären Staaten auch zu Kontrolle, Überwachung und Unterdrückung und zur gezielten, machtstrategisch begründeten Fehlinformation genutzt werden, 122) scheint die Massenkommunikation heute in den sog. freien westlichen und sich verwestlichenden Kulturen auch Prozesse der Entpolitisierung und Entdemokratisierung bis hin zur Manipulation und Infantilisierung der Menschen zu unterstützen und ihre negativen Potentiale und Charakterdeformationen zu entfesseln: ihre Neigungen zur Übertreibung und Pauschalisierung, zur Lüge, Simplifikation und zu Vorurteilen, zur Skandalisierung und Aufwiegelung, zu Diskriminierung und Hass auf die „Anderen“ und zu ihrer moralischen Anklage und Verurteilung. Die technischen Errungenschaften der Digitalisierung, Computerisierung und des Internets könn(t)en zu einer aufklärenden Massenkommunikation und lernenden demokratischen Organisation und verantwortungsbewussten politischen Mitgestaltung westlicher Lebensform beitragen. Aber in ihrer gegenwärtig zunehmenden Formatierung und Verwertung durch einen Medien‑, Informations- und Plattformkapitalismus werden diese Möglichkeiten einerseits durch skrupellose Desinformations- und Lügenkampagnen untergraben und andererseits durch Algorithmen gesteuerte und gestaltete Kommerzialisierung und Werbung an den Rand gedrängt und überformt. In vielen Print- und elektronischen Medien und vor allem im Internet werden zunehmend Kriege gegen die Wahrheit geführt, werden weltweit Desinformations- und Verleumdungskampagnen von skrupellosen Akteuren des Kapitals zur Durchsetzung ihrer Profitinteressen, (z. B. in den USA der Öl‑, Gas- und Kohleindustrie, der Lebensmittel- und Waffenindustrie u. a.) wie auch der Politik (z. B. von Rechtsradikalen und von Putin-Russland zur politischen Destabilisierung) mit nahezu unbegrenzten finanziellen Mitteln betrieben. Das führt zum Abbau einer öffentlichen, der Wahrheitssuche verpflichteten Verständigung und Orientierungssuche, zum „kollektiven Realitätsverlust“ und zur Erosion demokratischer Willensbildung. 123) Kommerzialisierte Massenkommunikation ist den Zwängen der Kapitalverwertung folgend, auf immer neue und beschleunigte Diversifizierungen von Spaß‑, Informations‑, Wissens- und Moralprodukten sowie ‑dienstleistungen ausgerichtet. Sie entsteht, bildet und reproduziert sich als zirkuläre Koppelung von Angebot und Nachfrage und differenziert sich darin weiter aus. Sie koppelt eine unendliche Erzeugung und 203

Formatierung, Variation und Kombination von Informationen, Deutungsmustern, Darstellungen, Fiktionen, Narrativen etc. mit der Entstehung von Bedürfnissen, Wünschen, Träumen, Interessen etc., die sich hier ebenfalls nahezu unendlich zielgruppen- und individualspezifisch variieren. In Print- und Bildmedien werden sprachliche, visuelle, musikalische Informationen, Ereignisse, Geschichten, Themen etc. professionell (technisch, redaktionell, journalistisch, durch Unterhaltungs- und Eventmarketing etc.) und mit Hilfe von Algorithmen zielgruppen- und bedürfnisbezogen formatiert und können so über ihre massenmediale Vermittlung (neue) Bedürfnisse, Wünsche und Träume, Deutungsmuster und Interessen erzeugen, reproduzieren und variieren, die wiederum die Erzeugung neuer passgenauer Informations- und Unterhaltungswaren und neue Plazierungsmöglichkeiten profitabler Werbung bewirken usw. Dabei scheinen (kindliche) Bedürfnisse nach Regression wie auch nach Authentizität und Aufmerksamkeit, Geltung und Anerkennung insbesondere das Design der Online-Technologien und Netzwerke, ihre Möglichkeiten und Angebote zu prägen und umgedreht werden diese Bedürfnisse und ihre Befriedigung in der Nutzung dieser Kommunikationsräume und virtuellen Realitäten (bis hin zur Sucht) weiter gesteigert. Kommerzialisierte und zunehmend von Computern und Algorithmen strukturierte Massenkommunikation erzeugt ihre eigene Welt und Wirklichkeit, indem sie tendenziell die gesamte kulturelle Lebensform als Ressource und „Nahrung“ nutzt. Sie stimuliert menschliche Bedürfnisse nach Selbstentfaltung und ‑darstellung, nach Authentizität, Aufmerksamkeit und reziproker Empathie, wie auch nach sozialer Anerkennung und Gerechtigkeit und verzerrt und verkürzt diese zugleich, indem sie sie auf leichte Weise zu erfüllen scheint. Oder anders ausgedrückt: Ähnlich wie ein Straßenverkehrssystem im Verhältnis zu den Verkehrsteilnehmern ist auch das strukturierende und steuernde System kommerzialisierter Massenkommunikation primitiver als das, was es strukturiert und steuert: die Bedürfnisse, Wahrnehmungen und Erfahrungen, das Fühlen und Wünschen, Denken und Handeln der Menschen, die es simplifiziert und „herunterzieht“. 124) Je extensiver und intensiver die kommerzialisierte Massen-kommunikation, umso mehr wirkt sie zurück in die kulturelle Wirklichkeit, „formatiert“ und verkürzt hier die Lebensformen, ‑stile und Deutungsmuster der Menschen wie auch die Politik, Wirtschaft und Bildung. Dabei scheint die kommerzialisierte Massenkommunikation hier eine „autoplastische Funktion“ (Peter Sloterdjik) zu übernehmen, die gewisse Ähnlichkeiten mit der archaischen Funktion von Kommunikation aufweist, nämlich durch Resonanz, „Mitschwingen“ und wechselseitige Kontrolle der Individuen Konformität, Binnenklimata und „Gruppenkörper“ zu erzeugen. 125) Diese „autoplastische Funktion“ kann sich heute, im „Zeitalter der Anarchive“, in dem Daten, Informationen, Wissen und Werte der Kultur im Netz „vor sich hin wuchern“ (Simon Reynolds) 126), auf nahezu unbegrenzte Ressourcen stützen – und wird, wie es scheint, gerade deswegen „flach“ und trägt zum „rasenden Stillstand“ (Paul Virilio) bei. Indem die Flüsse aneinander anschließender massenmedial formatierter (musikalischer, visueller und sprachlicher) Information – über alle inhaltlichen Unterschiede hinweg – Menschen zu (flüchtigen) Gemeinschaften der ähnlich Empfindenden, Gesinnten und Wertenden verbinden und ihre Sehnsüchte nach simplifizierenden Deutungsmustern und nach unterhaltenden und zerstreuenden Deutungsmustern bedienen, leisten sie einen Beitrag zu einer negativen sozialen Integration, die Individuation und Persönlichkeit nicht entfaltet, sondern eher blockiert und gewisse Ähnlichkeiten mit Massenritualen in totalitären Systemen, unter dem Regime des politischen Patriarchats aufweisen. Die kommerzielle Massenkommunikation, die das System „Kultur der Kultur“ entdifferenziert, kann man – heute mit noch mehr Recht als seinerzeit Theodor W. Adorno – als kapitalistische „Kulturindustrie“ bezeichnen. Diese generiert nicht nur eine (tendenziell unendlich) wachsende Anzahl profitabler Produkte und Dienstleistungen, sondern bildet auch ein System verkürzter sozialer Integration, einen als Vielfalt maskierten Konformismus, der die komplexe und labile Integration über Verständigung, Dialog und gemeinsame Wahrheitssuche zunehmend überformt und ablöst. Oder anders ausgedrückt: Mit den Lebensformen und ihren Pseudoindividualisierungen wird auch kulturelle Selbstbeobachtung von der Kulturindustrie übernommen und vorgefertigt. 127) Dabei werden, die Möglichkeiten des Internets nutzend, die Konsumenten in diese Fertigung einbezogen. 204

Informations- und Plattformkapitalismus: Vom Konsumenten zum Prosumenten der Massenkommunikation „Der Herr der Cloud und das Facebook-Kid sind König und Fronarbeiter der neuen Ordnung.“ (Jaron Lanier) „Der Überwachungskapitalismus … beraubt uns unserer menschlichen Autonomie und gefährdet damit die Bedingungen der Demokratie. Und sein Machtinstrument, die allgegenwärtige wahrnehmungsfähige, rechnergestützte, vernetzte, digitale Infrastruktur wird von einem Etwas, das wir haben, zu einem Etwas, das uns hat.“ (Shoshana Zuboff) Bislang dominierte in der Kulturindustrie die strategische Formatierung der Massenkommunikation von oben nach unten, nämlich das marktforschungsgestützte Konzipieren, Formatieren und Vermarkten von Information und Fehlinformation, von Unterhaltung und Zerstreuung für mehr oder weniger passive Konsumenten seitens der immer größeren und mächtigeren Marktanbieter. Aber in den letzten Jahrzehnten wurden die Konsumenten auch hier, wie schon in anderen Marktbereichen zu „Prosumenten“ (Peter Drucker), nämlich zu (inter)aktiven Nutzern und Mitgestaltern. Dies geschieht, indem Massenkommunikation sich in zielgruppen- und individualspezifische Informations- und Kommunikationsangebote ausdifferenziert, in denen in der Regel mit zunehmender Spezifizierung auch Feedback und Mitwirkung (z. B. in Fangemeinden und „Echoräumen“) stimuliert werden und zunehmen. Diese Tendenz wird unterstützt durch die neuen Möglichkeiten des Internets und der Online-Kommunikation, die Massenkommunikation und interpersonale (face to face, Individual- und Gruppen)kommunikation „mischen“. Diese „Many to many-Kommunikation“ integriert verschiedene Kanäle (Audio, Video, Text) und macht Konsumenten zunehmend zu Prosumenten. Die sich hier – auf der Basis von Digitalisierung und Internet – anbahnende Möglichkeit der globalen Vernetzung von allen mit allen und das Potential, beliebig viele (durch Bedürfnisse, Themen, Gruppen etc.) spezifizierte Netzwerke in diesem globalen Netzwerk bilden zu können, eröffnen der politischen Beeinflussung und mehr noch der Kapitalverwertung große Möglichkeiten, nicht nur in der Ausgestaltung von Massenkommunikation, sondern auch in der Nutzung der hier abschöpfbaren persönlichen Daten, Bedürfnisse, Gewohnheiten etc. der Nutzer, die über ihre Konsumenten- und Prosumentenrollen hinaus selbst zu Waren werden, die im Rahmen des Informationskapitalismus vielfältig vermarktet werden können. Dabei delegieren die Konsumenten und Prosumenten ihre Rolle als Adressaten von Kommunikation, Beratung und Werbung und ihre Kaufentscheidungen bereitwillig an Plattformen und ihre Computernetzwerke, die nun zu ihrem Wohle wachsende Anteile der Ausgestaltung ihres Lebens und ihrer sozialen Beziehungen übernehmen. 128) Unter der Regie des Informations- und Plattformkapitalismus werden wir alle mit Blick auf die Erzeugung und wirtschaftliche Verwertung unserer Daten zu „Prosumenten“, die mit der lustvollen Digitalisierung und naiven Selbstauslieferung ihrer Lebensvollzüge, ihrer Wünsche („Gefällt mir“), ihrer Verbrauchsgewohnheiten und digitalen „Trampelpfade“ an die global agierenden „Datenraffinerien“ bereitwillig den Rohstoff liefern und den Daten- und Informationspool füllen, in dem dann Computerprogramme und Algorithmen (sog. „bots“ und „bot-nets“) die Muster unserer vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Lebensvollzüge erstellen, diese zu unseren virtuellen Doppelgängern („Netz-Ichs“) ausbauen und komplettieren. Dies geschieht teils im Interesse politischer Überwachung, Ausspähung und Kontrolle und mehr noch, um hier anschlussfähige, maßgeschneiderte Angebote formatieren zu können 205

bzw. diese quantifizierten Selbste oder auch „Zweit-Ichs“ (mit Ähnlichkeitsgarantie zu unseren leiblichen „Erst-Ichs“ und ihrer Verortung im analogen Raum) zur Weiterverwertung an andere Anbieter zu verkaufen. 129) Unter Bedingungen digitalisierter und globaler Massenkommunikation übernehmen die großen Anbieter zunehmend die Funktion einer Vorstrukturierung und Kanalisierung der Glaubenspraxis und Selbstbeobachtung, der Selbstlegitimation und Selbstveränderung westlicher Kultur. Sie bieten nicht nur ihren kreativen und qualifizierten Mitarbeitern eine Heimat, indem sie für sie Inseln eines privilegierten Lebens und Arbeitens schaffen (siehe weiter unten). Darüber hinaus erzeugen sie mit der Gesamtheit ihrer Prosumenten „ganze Welten“ und „Echoräume des Begehrens“ in denen diese sich geborgen, dazu gehörig und sicher, auf dem richtigen Weg, auf dem neuesten Stand und im rechten Geist wähnen können. Ausdifferenzierung, mythische Anreicherung und Abgrenzung dieser Welten und „Echoräume“ lassen Verständigung und Brückenbildung zwischen ihnen oder gar eine am Regulativ der Wahrheit orientierte Suche nach einer gemeinsamen Wirklichkeit kaum noch zu.

Simulierte und moralisierte Selbstbeobachtung „Die größten Supercomputer der Welt stehen in zwei Konzernen – bei Google und Facebook – und worauf sind sie gerichtet? Sie zielen damit auf die Hirne von Menschen, von Kindern.“ (Tristan Harris) „Google verdient sein Geld nach folgendem System: ‚Sie wünschen, schlimme Dinge über schwarze Menschen zu hören? Hier habe ich für Sie weitere 5000 passende Ergebnisse.‘ “ (Heidi Beirich) Die kommerzialisierte Massenkommunikation und Kulturindustrie ist in gewisser Weise ein Zerrbild einer möglichen pluralistischen und unbegrenzten Selbstbeobachtung und Orientierung westlicher Kultur. Sie simuliert, bestätigt und thematisiert, profiliert und bewertet die kulturelle Wirklichkeit scheinbar ohne Einschränkungen. Sie ist mit Blick auf Volumen, Themen, Formate und Inhalte nahezu unbegrenzt, überspringt spielerisch Unterschiede und Grenzen der Kulturen (auch zwischen Okzident und Orient) und gesellschaftliche Differenzierungen (z. B. zwischen privat und öffentlich) und ist unter Innovations- und Sensationsdruck tendenziell tabulos („anything goes“) und vielfach auch schamlos. Und trotzdem scheint sie weitgehend nur das, was schon da ist, zu bestätigen, zu illustrieren und zu legitimieren, in die Bedürfnis- und Wunsch- und Deutungsmuster der involvierten Individuen einzuschreiben, ihre Sehnsüchte nach Gewissheit zu bedienen und ihre Vorurteile zu bestärken. Sie scheint – trotz oder vielleicht gerade aufgrund der Unendlichkeit ihrer informationellen Ressourcen – zunehmend ein „Leerlauf “: Ausdruck und Triebkraft einer kulturellen Erschöpfung zu sein. 130) Während die Produktion und Variation von „Fiction“ sich explosiv und in Anteilen auch kreativ und innovativ verbreiten, scheinen Beobachtung, Dokumentation und Reflexion der Realität (trotz hervorragender journalistischer Einzelleistungen) zunehmend zu bloßen Simulationen zu degenerieren. Das indizieren insbesondere Personalisierung und Skandalisierung, Moralisierung und „Tugendterror“, die – vom Enthüllungsjournalismus über inszenierte Empörung bis zum „shit storm“ in den Massenmedien – sich weiter ausbreiten, getreu der Einsicht von Robert Musil, dass ein exzessiver Gebrauch von Seife auf nicht ganz saubere innere Verhältnisse schließen lässt. 206

Die Erosion des „Zwischen“ „In der Anonymität des Internets geht offenbar bei vielen die Verantwortung für das eigene Wort verloren. Die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen verschwimmt zusehends.“ (Frank-Walter Steinmeier) „Das Netz selbst ist ein alternativer Raum geworden – die Alternative zur zivilisierten Welt … Anders als gehofft, ist gerade das Netz nicht der Ort für gesellschaftliche Selbstverständigungsdebatten. Es ist der Ort für gesellschaftliche Selbstzerlegungsdebatten … Das große Gespräch aller mit allen, das einmal als friedensstiftende Utopie erschien, muss beendet werden. Es hat sich als Gemetzel erwiesen.“ (Jens Jessen) Die zunehmende Überformung und Ablösung verständigungsorientierter durch kommerzialisierte Massenkommunikation degradiert die Bürger zu einem mehr oder weniger mitspielenden „Publikum“ (Niklas Luhmann). Das führt zu einer Verkürzung und Unterkomplexität kultureller Selbstbeobachtung und damit zu einer Entdifferenzierung des Systems „Kultur der Kultur“. So sehr das digitale und globale Mediennetz das Wissen demokratisiert, ein Potential differenzierter Erfahrung, Verständigung und demokratischer Willensbildung darstellt und vielfach auch als solches genutzt wird, so sehr ist es andererseits auch patriarchal, durch imperialistisches Denken, Größenwahn und Selbststeigerung der Anbieter, durch ihre Allmachtsphantasien, Herrschaftsinteressen und Profitgier und durch die Vorurteile und Gehässigkeiten ihrer Nutzer geprägt und strukturiert. 131) Heute ist das Internet auch ein „Gewächshaus des Populismus“ (Robert Simanowski), eröffnet ein neues Feld der enthemmten Simplifikation, der Reproduktion und Verbreitung von Vorurteilen und „harten“ Grenzziehungen, ein Zerrbild der Ideale des „Sharing“ und der Transparenz, der Freiheit und der „Schwarmintelligenz“. So zeigt – ironischerweise auf dem Höhepunkt der technischen Grundlagen und Möglichkeiten seiner Realisierung  –  das „Zwischen“ der Verständigung über Welt, dass man mit Hanna Ahrendt als einen „Bindung in Distanz“ schaffenden Raum werdender Menschlichkeit verstehen kann, deutliche Züge der Erosion und des Verfalls, die sich, auch hier Hanna Arendt folgend, als „Verwahrlosung“ charakterisieren lassen. 132) Die globale Durchdringung und Formatierung der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen durch kommerzialisierte und populistische Massenkommunikation führen zu einer Verhärtung und Entdifferenzierung ihres „flüssigen Fundaments“: der post-logozentrischen Selbstbeobachtung. Damit verbunden werden der ästhetische Umweltbezug der Menschen und ihre darin begründete Freiheit und Kreativität zur Mitgestaltung der Kultur unterdrückt bzw. systemkonform formatiert und verkürzt.

Die Vernutzung des Ästhetischen und die Verdrängung der Freiheit Wie dargestellt, haben die ästhetische Öffnung zum Nicht-Identischen, das In-Resonanz-Treten mit Umweltdynamik, die Auflösung ihrer (bislang geltenden) begrifflichen Zurichtungen und der kreative Entwurf neuer kohärenter „guter“ Formen eine konstitutive Funktion für Viabiliät, Gelingen und Fortschritt der Alltagspraktiken  –  der Technik, der Gemeinschafts- wie auch der Gesellschaftsbildung  –  und damit der kulturellen Lebensform insgesamt. Diese implizite Ästhetik der alltagspraktischen Vollzüge begründet, wie 207

versucht wurde zu zeigen, eine Gefühls-, Denk- und Handlungsfreiheit der Menschen, die von Natur aus weit über die Spielräume in den Verhaltensvollzügen unserer tierischen Verwandten hinausgeht. Der ästhetische Umweltbezug der Alltagspraktiken eröffnet nämlich eine Freiheit, die das Zulassen und die (An)erkenntnis der Freiheit des „Anderen“ – der inneren Natur, der Mitnatur und des sozialen Anderen – mit einbezieht. Ohne ein immer erneutes Wahrnehmen und Zulassen wie auch Ergreifen und Durchsetzen dieser Freiheit in den kulturfundierenden Alltagspraktiken – der Gemeinschaftsbildung, der Technik und der Gesellschaftsbildung – könnte ihre humanspezifische Differenzierung und Ausgestaltung nicht gelingen, wäre ihre zukunftsoffene lernende Organisation nicht möglich. Im westlichen Pfad wird heute diese ästhetische Spielfähigkeit und darin begründete Freiheit der Menschen in spezifischer Weise entfaltet und gepflegt, dabei aber auch formatiert und eingegrenzt, kanalisiert und (aus)genutzt. Dazu gehören u. a. ihre Beschränkung auf das Spielfeld der Künste und auf eine oberflächliche Ästhetisierung und Entpolitisierung der öffentlichen Räume durch „citytainment“ (Dieter Hassenpflug), wie auch ihre Funktion als Medium der Distanzierung und der sozialen Exklusion im Rahmen einer Ästhetisierung und Re-feudalisierung der Lebensformen unter den Funktionseliten und in der „linksliberalen Schickeria“ (Nils Heisterhagen). Darüber hinaus gehört dazu auch ihr Zuschnitt zur systemkonformen Kreativität in den Arbeitsformen der „kreativen Klasse“, der Wissensarbeiter u. a. Das wird im Folgenden etwas genauer beschrieben.

Wiedereintritt und Domestizierung des Ästhetischen in der Freiheit der Kunst Im westlichen Pfad wurden mit zunehmender Durchsetzung logozentrisch verkürzter Vernunft und einer dadurch geleiteten Rationalisierung die alltagspraktischen Vollzüge mit Blick auf ihre ästhetischen Gehalte und ihre spielerisch experimentellen Überschüsse „bereinigt“. Teilweise fanden sie aber auch einen Wiedereintritt und Entwicklungsraum in der Lebensführung und „Kultur“ privilegierter großbürgerlicher Gruppen wie auch in der Praxis und Kulturkritik von Intellektuellen und Künstlern. So konnten der Mangel an Erfahrung und Kohärenz, der sich als „Kehrseite“ der logozentrischen Formatierung der Welt in der Alltagspraxis einstellte, durch einen gestalteten und kontrollierten Wiedereintritt des Ästhetischen in Gestalt in den Künste und im Kunstgenuss (immer wieder vorübergehend) kompensiert werden. Das begann, wie bereits ausgeführt, schon in der griechischen Antike. 133) Kunst artikuliert, was als Potenzial in der Alltagspraxis enthalten ist, aber heute vor allem durch die Dominanz des technokratischen und wirtschaftlichen Logozentrismus und ihre oberflächliche Ästhetisierung verstellt wird: eine Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“, durch In-Resonanz-Treten mit dem (inneren, äußeren und sozialen) „Anderen“ und die Erfahrung und (An)erkenntnis seiner Freiheit, durch Virtualisierung geltender sowie kreative Erzeugung neuer kohärenter Orientierungen und Weltentwürfe. 134) In ihrer kompensierenden Funktion als „Fluchthelfer“ bindet die Kunst die Potenziale der ästhetischen Erfahrung und der Virtualisierung der Welt im Angebot zum Kunstgenuss und leistet damit vermutlich sogar einen Beitrag zur Stabilisierung des Logozentrismus in der spätkulturellen Alltags- und Glaubenspraxis. Insofern sind die ästhetischen Potenziale spätkultureller Alltags- und Glaubenspraktiken und die Fähigkeiten des „homo ludens“ in der phänotypischen Ausgestaltung der Künste bis heute manifestiert und zugleich gefesselt. Zwar kann auch heute noch gelungene Kunst die Wahrnehmung für die Defizite unserer Alltagspraktiken und Lebensformen öffnen und zu ihrer kritischen Selbstbeobachtung beitragen. Aber auch hier treten Erosionsprozesse und Entdifferenzierungen auf, die mit den Schwierigkeiten des Gelingens und den vielfältigen Möglichkeiten des Misslingens der Kunst und mit ihrer ökonomischen Verwertung zu tun haben. 208

Logozentrische Fesselung des Ästhetischen im „Kitsch“ „Kitsch ist nicht, wie der Bildungsglaube es möchte, bloßes Abfallsprodukt der Kunst, entstanden durch treulose Akkommodation, sondern lauert in ihr als die stets wiederkehrenden Gelegenheiten, aus der Kunst hervorzuspringen … Kitsch parodiert die Katharsis … Als Giftstoff ist er aller Kunst beigemischt; ihn aus sich auszuscheiden, ist eine ihrer verzweifelten Anstrengungen heute.“ (Theodor W. Adorno) Kunst gelingt selten. Große Kunstwerke haben, wie Adorno es ausgedrückt hat, „an ihren schwachen Stellen Glück gehabt“. In ihren meisten Formbildungen „misslingt“ Kunst, weil die auch hier angestrebte Balance zwischen Öffnung und Schließung, aus der ästhetisch kohärente Formen hervorgehen können, entweder in beliebiges bloß dekoratives Arrangement zersplittert oder zur wohlgefälligen Illustration eines schon Gewussten erstarrt oder beides zu einer „illusionären Positivität“ (Theodor W. Adorno) verbindet. Dazu gehört auch die inzwischen „chic“ gewordene Tendenz, zur Darstellung großer Menschheitsfragen und ‑probleme die Künste zu instrumentalisieren – woraus in den meisten Fällen bloß gut gemeinte Illustrationen oder Beschwörungen dubios und dunkel bleibender Zusammenhänge hervorgehen. In diesen Fällen handelt es sich um unfreiwillig erzeugten „Kitsch“, der die Eigengeschichte und Systemdifferenzierung der Künste bis heute mitprägt und ohne professionelle Interpretation und Aufwertung seitens der Kunstkritik leicht als solcher erkennbar wäre. Heute hat sich ein gigantischer Berg misslungener Kunstwerke angehäuft: Formbildungen, die heute als „Artmasse“ ergänzend zur Bio- und „Technomasse“ den Globus überziehen. Ihre Ausgestaltungen, Rezeptionen und Rezensionen, ihre Verklärung in „Kunstreligion“, Originalitäts- und Geniekult und heute ihre Fetischisierung, Instrumentalisierung und Vermarktung im Rahmen der ästhetisierten Lebensstile in den Gewinnerpopulationen der Globalisierung sind Ausdruck und Folgen einer neutralisierenden Integration und affirmativen Wendung des Ästhetischen, die die gesamte westliche Lebensform, unsere Alltags- und Glaubenspraktiken durchziehen.

Neutralisierung des Ästhetischen in der „Hyperkultur“. Kunst als Mode „Seltsame Trübung des Urteils, schlecht verhehlte Sucht nach Ergötzlichkeit, nach Unterhaltung um jeden Preis, gelehrtenhafte Rücksichten, Wichtigtun und Schauspielerei mit dem Ernst der Kunst von seiten der Ausführenden, brutale Gier nach Geldgewinn von Seiten der Unternehmenden, Hohlheit und Gedankenlosigkeit einer Gesellschaft … dies alles zusammen bildet die dumpfe und verderbliche Luft unserer heutigen Kunstzustände.“ (Friedrich Nietzsche) Im Zuge der globalen Vermarktung des Ästhetischen in einer „Hyperkultur“, die tendenziell alles aus allen Kulturen assimiliert und in einer „Promiskuität kultureller Formen“ (Byung-Chul Han) vermischt, können auch die Künste zu Verstärkern und Medien einer auf das Ästhetische reduzierten Weltwahrnehmung und –erfahrung, einer Ästhetisierung der Lebens- und Arbeitsformen und eines elitären Selbstverständnisses werden. Kunst wird von einem Medium (selbst)kritischer Wahrnehmung und Erfahrung zum Fetisch einer „Hyperkultur“. 135) Vor allem unter den Funktionseliten verbinden sich vielfach die Ästhetisierung der Lebensstile und das „Surfen auf den Wellen der Hyperkultur“ (Byung-Chul Han) mit einer Hinwendung 209

zu (vielfach asiatisch geprägten) Glaubenspraktiken, die die Tendenzen zur Distanzierung von Realität und Politik (und hier insbesondere von den Verlierern der Globalisierung) verstärken. In die sich global in allen Wachstumszonen verbreitende Hyperkultur sind die Kunstmärkte und ihre Globalisierung eingebunden. Hier etabliert sich eine „neue Definitionsmacht des Marktes“, die den Kunstbetrieb in eine „visuelle Industrie“ (Isabelle Graw) verwandelt, die zunehmend den Regeln der Modenbildung folgt. 136) Die Modewerdung der Kunst und des Ästhetischen ist mit ihrer Kolonialisierung durch Marktlogik und Kapitalverwertung verbunden. Das betrifft vor allem die bildende Kunst, 137) geht aber auch darüber hinaus. 138) In einem Kunstbetrieb, der durch Hyperkultur und Ästhetisierung der Lebensstile einerseits und durch Marktbildung und Kapitalverwertung andererseits zu einem beschleunigten Modebetrieb wird, werden Gehalte und Botschaften der Künste neutralisiert. Ihre kulturkonstruktive und ihre kritische Funktion werden entdifferenziert und ihre unberechenbaren und produktiv irritierenden Beiträge zur Öffnung des menschlichen Geistes für die Artikulation und Erfahrung des Nicht-Identischen werden zunehmend als „Ballast“ abgeworfen. 139)

Ästhetisierung und Kunst als Fluchthelfer und Medien der Distanzierung Heute ist Ästhetisierung zum Medium der Distanzierung von Wirklichkeit schlechthin geworden. Auf den urbanen Wohlstandsinseln verstehen sich die Gewinner der Globalisierung zunehmend als „Distanzkünstler“, die auf den Wellen der Hyperkultur surfen und sich – nach der Devise „Design statt Sein“ – spielerisch selbst entwerfen und verwirklichen. Waren- und Markenästhetik wie auch Kunst werden zu Medien und Fetischen einer Distanzierung und Flucht aus der überkomplexen Wirklichkeit, die sich selbst als „souverän“ missverstehen, aber eher infantile Züge zeigen. Insbesondere unter den Funktionseliten auf den global sich verbreitenden wirtschaftlichen Wachstumsinseln ist ein Trend zu beobachten, die Welt als ganze ästhetisch zu imaginieren und sich „offenbaren“ zu lassen – wobei hier oft religionsähnliche, spirituelle Einstellungen, Philosophien und Gedankengebäude (wie z. B. der Buddhismus) mehr oder weniger synkretistisch integriert werden. 140). Man hat den Eindruck einer „Abdankung des Bewusstseins“ (Theodor W. Adorno): Die Funktionseliten geben das im Ästhetischen enthaltene Potential und den Anspruch einer differenzierten Wahrnehmung und verantwortungsbewussten Mitgestaltung der Wirklichkeit zugunsten ihrer oberflächlichen Ästhetisierung auf. Es hat schon eine gewisse Ironie, wenn Ästhetik und Kunst sich auf dem Höhepunkt ihrer Entfesselung in der Hyperkultur ihrer frühkulturellen, magischen Funktion wieder anzunähern scheinen. Ästhetik und Kunst sind heute zum vermutlich bedeutsamsten Fetisch innerhalb des Warenfetischismus und zum Fluchthelfer aus einer entzauberten und rationalistisch durchgeformten Existenz geworden. 141)

Fetischisierung des Selbst Ästhetisierung der Lebensstile und Assimilation fernöstlicher Religiosität scheinen sich häufig mit einer Tendenz zur Fetischisierung des Selbst zu verbinden. Man kann hier einen Wiedereintritt der antiken Schönheitsvergötterung und „Selbstsorge“ (Michel Foucault) in spezifisch verkürzter Gestalt beobachten: shaping und styling des Selbst als „neurotisierende Schwerstarbeit“ (Winfried Menninghaus) dem Motto folgend: „Die Welt können wir nicht verbessern, aber wir können unser Aussehen optimieren.“ 142) Der Fetischismus des Ästhetischen und des Selbst stellen neue Mischformen zwischen Narzissmus, Größenwahn und „Singen im Keller“ dar. Die (von Kierkegaard, Heidegger, Sartre u. a. beschriebene) „Gewor210

fenheit“ des Menschen in ein vereinzeltes Dasein, die von ihm zu fordernde „Entschlossenheit“ zu Annahme und Vollzug dieses Daseins und der darin enthaltenen Freiheitsspielräume wird hier abgelöst durch ein fortgesetztes aber konsequenzloses „Sich selbst Entwerfen und Spiegeln“ in einer ausgreifenden Ästhetisierung von Wahrnehmungen, Lebensformen und (Selbst)bewertungen. Ästhetisierung der Lebensführung und des Selbst, Kunstreligion und Buddhismus sind Ausdrucksformen der Kompensation, der Distanzierung und des privilegierten Abschieds aus einer chaotischen, Psyche und Geist überfordernden Realität.

Exklusion durch ästhetische Differenz: Kultur haben und Nicht-Haben Bekanntlich gehört die Ästhetisierung des Politischen wie z. B. die rituell, militärisch und architektonisch erhaben-pompöse Zelebrierung von Volksgemeinschaften und Kollektiven zu totalitären Systemen. Heute können wir auf den globalen Wachstumsinseln eine Politisierung des Ästhetischen beobachten – allerdings nicht in einem Sinne, wie es sich manche Künstler, Intellektuelle und Philosophen erhoffen. Gemeint ist, dass die Ästhetisierung der Lebensstile über die (noch relativ harmlosen) Distinktions- und Profilierungsgewinne privilegierter Individuen hinaus zu einem Medium sublimer aber nachhaltiger Exklusion werden. Mit der Ästhetisierung der Lebensführung, die sich schon in der Aristokratie der Hochkulturen entwickelte und vom Großbürgertum bis heute nachgeahmt wird, hat sich auch die Leitdifferenz „Kultur-haben oder Nicht-haben“ als Möglichkeit der Ab- und Ausgrenzung nicht nur erhalten, sondern hat – auch als Orientierungshilfe in der Hyperkultur – an Bedeutung gewonnen. Die Demonstration der „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu), von vermeintlicher Bildung und Sinn für Ästhetik, von Geschmack, Stil und (Marken)design, also der Besitz des sog. kulturellen Kapitals ziehen heute mehr denn je soziale Grenzen, entscheiden vielfach über Inklusion und Exklusion in Beziehungsnetzen, signalisieren Zugehörigkeit, sozialen Status und Individualität und haben als Aufstiegshilfe an Bedeutung gewonnen. Dazu gehören auch die teils unbewusste, teils bewusste Abgrenzung der „Abgehobenen“ (Michael Hartmann) nach unten, nicht selten auch noch mit dem Impetus, Kultur, Liberalität und Demokratie gegen „die da unten“ verteidigen zu müssen. In dieser Hinsicht kann man auch von Ansätzen einer neuen höfischen Kultur im Rahmen einer „Re‑feudalisierung der Gesellschaft“ (Pierre Bourdieu) sprechen. 143) Viele Gewinner der Globalisierung, die ohnehin dazu tendieren, aus der gesellschaftlichen Solidargemeinschaft „auszutreten“, vergessen bei der Verabsolutierung ihrer ästhetisierten Lebensstile als „Kultur“ und im selbsterhöhenden Herabschauen auf diejenigen, die „keine Kultur haben“, dass persönliche Kultiviertheit immer auch auf sozialen Privilegien beruht und sich persönlichen Fähigkeiten verdankt, die sich ohne diese Privilegien gar nicht hätten entfalten können. Vergessen wird häufig auch, dass sich aus diesen Privilegien und Fähigkeiten eine soziale und politische Verantwortung ergibt. Nicht nur das Eigentum materiellen, sondern auch kulturellen Kapitals ist mit ethischen Verpflichtungen verbunden.

Instrumentalisierung ästhetischer Weltbezüge im modernen Jobdesign Zur Mobilisierung, Einbindung und Formatierung der ästhetischen Fähigkeiten der Individuen gehört auch ihre Verwertung in der Wissensarbeit und in der Arbeit der sog. „kreativen Klasse“. Hier werden die im ästhetischen Umweltbezug wurzelnde Sensibilität, Kreativität und Innovationsfähigkeit der Menschen, ihre Fähigkeit, die Welt anders zu erfahren und neu zu denken, in das Humankapital und die Unternehmenskulturen integriert und zur Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit und Kapitalverwertung instrumentalisiert. 144) Seine glaubenspraktische Legitimation findet dies in vielfältigen Beschwörungen der Ressource 211

„Geist“, der Kreativität und des Wissens als „wichtigsten Rohstoffen der Zukunft“ und des „lebenslangen Lernens“ in der Wissensgesellschaft. 145) Die beschriebene Ästhetisierung der Lebensstile und der Arbeitsformen kann man als misslingende „Lebenskunst“, also auch als eine Art „Kitsch“ bezeichnen, die sich als hochgestylte ästhetische Landschaftsbildung der westlichen Kultur und ihrer Funktionseliten präsentiert. Wie schon angedeutet, hat man den Eindruck, dass die Gewinner der Globalisierung auf den Wachstumsinseln heute – nach den Verallgemeinerungen des beseelenden, des moralisierenden und des objektivierenden Umweltbezugs (in der früh‑, hoch- und spätkulturellen Evolution) – den ästhetischen Umweltbezug „pars pro toto“ tendenziell zu einem Verständnis der ganzen Welt „aufblasen“. Insofern Ästhetik und Kunst hier zum medialen Substrat einer Verzerrung und Verkürzung der (Selbst)beobachtung und des Verständnisses der Welt wird, kann man, wie schon gesagt, von einem „ästhetischen Logozentrismus“ sprechen, der u. a. auch bewirkt, dass die Funktionseliten die (selbst)destruktiven Elemente ihrer Lebens- und Arbeitsformen nicht mehr erkennen und reflektieren (müssen). 146) Die skizzierten Entdifferenzierungen kultureller Selbstbeobachtung in der Massenkommunikation und die Verflachung eines ästhetischen Umweltbezugs, der Freiheit, Kohärenz und Lebenskunst stiften könnte, verbinden sich mit einer systematischen, der Verwertungslogik folgenden Verkürzung der Alltagspraktiken. Das zeigt sich in der technokratischen und ökonomischen Formatierung menschlicher Natur und der Mitnatur wie auch der Gesellschaft und ist mit einer Verdrängung der impliziten Ethik der Alltagspraktiken und einer Erosion der intuitiven Sittlichkeit der Individuen verbunden.

Technomorphe und ökonomische „Formatierung“ von Sozialisation und Bildung „Es gibt nichts Traurigeres, als zu sehen, wie aus einem hoffnungsvollen jungen Menschen ein ganz normaler Erwachsener wird.“ (Robert Musil) „Man verhindert erfolgreich, dass die Schülerinnen und Schüler das Lernen in der Schule als ihre eigene Sache erkennen, eben als Bildung. Von der redet man in allen möglichen Wortverbindungen weiter –vom Bildungsboom bis Bildungsurlaub – aber man betreibt etwas anderes: die Rationalisierung der Lernprozesse zur rechtzeitigen, allmählichen, sozialverträglichen Eingliederung in die sogenannte Arbeitswelt, die eine Erwerbswelt ist. Aus Bildung ist Nachwuchsverwaltung geworden.“ (Hartmut von Hentig) Wie dargestellt, ist auch sozialisatorische Praxis schon in ihren naturgeschichtlichen Wurzeln auf „Gelingen“ von Schutz und Pflege, Interpretation und Entfaltung menschlicher Natur in Nahbeziehungen ausgerichtet. Ohne ein Bemühen um Wahrhaftigkeit im Sinne der Suche nach einer angemessenen Interpretation der eigenen inneren Natur und der des Anderen kann ihre humanspezifische Ausgestaltung – als Liebe, Freundschaft, Familie und Gemeinschaft, wozu auch die pädagogische Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden gehört – nicht gelingen. Das wurde hier als implizite Ethik sozialisatorischer Praxis und als intuitive Sittlichkeit in der Psyche der involvierten Individuen rekonstruiert. Zur intuitiven Sittlichkeit gehört eine in der menschlichen Psyche verankerte Fähigkeit und Bereitschaft, sinnlich-ästhetisch zur inneren Natur in Resonanz zu treten, sich für die Kinder, aber auch für das Kind in sich und im „Anderen“ zu öffnen, zu ihrer einmaligen Natur eine empathische und interpretative Beziehung einzugehen und hier Bindung, Fürsorglichkeit und Verantwortung zu entwickeln. Diese Beziehungen 212

sind zerbrechlich, können in ihrer Komplexität immer nur vorläufig angemessen sein und fordern immer wieder eine erneute Balance von Öffnung und Schließung. Ohne diese Balance entlang des Regulativs der Wahrhaftigkeit gäbe es keine Entwicklung und keinen Fortschritt in der Ausgestaltung sozialisatorischer Nahbeziehungen und der Gemeinschaftsbildung. Menschen werden geboren, Personen entstehen durch Bildung. Gelingen individuierender Sozialisation und sozialisatorischer Gemeinschaften bedingen sich gegenseitig, sind zirkulär gekoppelt. Wenn Menschen nicht als Kinder und Jugendliche in Bildungsprozessen ihre Natur zu ihrer Persönlichkeit entfalten können, sind sie als Erwachsene nicht oder nur begrenzt zur Teilhabe und Mitgestaltung sozialisatorischer Gemeinschaften befähigt: zu Liebe und Partnerschaft, zur Familie wie auch zu pädagogischen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Und nur eingebettet in eine „gekonnte“ Ausgestaltung der Nahbeziehungen in gelingenden Gemeinschaften können auch individuelle und individuierende Bildungsprozesse gelingen. 147) Insofern bietet auch die spätkulturell ausdifferenzierte sozialisatorische Praxis ein Potential des „Gelingens“ westlicher Kultur, gehört zu ihrem „systemisch Guten“ und ist Bestandteil ihrer „werdenden Vernunft“. 148) Aber heute führen wirtschaftlicher und technokratischer Logozentrismus, ihre Koppelung und zunehmende Dominanz in der westlichen Kultur zu einer spezifischen Verengung sozialisatorischer Praxis, zur Erosion sozialisatorischer Gemeinschaftsbildungen und zur Vernutzung der Ressourcen menschlicher Natur. Das betrifft – in quantitativer Sicht – die Ungleichheit der Bildungschancen und des Zugangs zu Bildungsinstitutionen in den westlichen Kulturen (und besonders in Deutschland) auch heute noch. In qualitativer Sicht ist der Tatbestand gemeint, dass Erziehung, Bildung und Qualifikation in wachsenden Anteilen der Kapitalverwertung und ihren Anforderungen unterworfen, technokratisch und ökonomisch formatiert und optimiert und auf Bereitstellung von „Humankapital“ verkürzt werden. Darüber hinaus werden mit dem wachsenden Einfluss der Biologie und Neurobiologie auf das Bild des Menschen in Ansätzen heute schon auch seine genetische und neuronale Ausstattung und Potentialität in gezielte sozialisatorische Formung einbezogen und zunehmend als „Biokapital“ in das „Humankapital“ integriert. Im Zuge der Konzentration auf eine ökonomisch orientierte Entfaltung und Nutzung des „Bio- und Humankapitals“ wird Sozialisation tiefgreifend verändert: Aus einem Prozess des kommunikativen Lernens wird zunehmend eine strategische Formung und Manipulation der nachfolgenden Generation, die die Logik der Subjektivierung menschlicher Natur (entlang des Regulativs der Wahrhaftigkeit) schrittweise durch eine Formatierung ersetzt, die die Kinder und Jugendlichen mit Wissen „abfüllt“ und „auf die Schiene setzt“. Unter der Führung erfolgsorientierter Eltern beginnt dies mit vorgeburtlichen Trainingsprogrammen, setzt sich fort in vielfältigen Vorschulprogrammen für Säuglinge und Kleinkinder und prägt das „Durchlaufen“ einer schulischen „Bildung“, die heute oft Lernen und Wissenserwerb entsinnlicht, Wissen in Schubladen verpackt und darüber hinaus vielfach einen destruktiven Konkurrenzund Leistungsdruck aufbaut. In allen Bildungsinstitutionen und inzwischen auch schon zurückreichend bis in die frühkindliche familiäre Sozialisation werden die Menschen in ihrer Persönlichkeits- und Wissensbildung zu wenig dialogisch entfaltet und zu viel und zu schnell, mit Blick auf Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit und wissenschaftlich gestützt trainiert und formatiert. Mit Blick auf Wissensbildung werden die Bildungsinstitutionen zu beschleunigten „Abfüllstationen“, die bekanntlich bei vielen Bildungswilligen „Lernbulimie“ hervorrufen. So kommen viele Kinder und Jugendlichen motiviert und voller Erwartungen und Hoffnungen in die Schule und verlassen sie als „normale“ Erwachsene, die mehr oder weniger frustriert sind und für die auch persönlich „Sinn eine knappe Ressource“ (Jürgen Habermas) geworden ist. Fortgesetzt wird die Erziehung und Bildung zur Fachidiotie vielfach in den Institutionen beruflicher Qualifikation, z. B. in den weltweit sich ausbreitenden Managementhochschulen, die auf ökonomische Effizienz ihres „outputs“ durch Bereitstellung von Humankapital für die Wirtschaft getrimmt sind. 213

Die Verzerrungen und Verkürzungen der Bildungspraxis werden durch eine falsche Glaubenspraxis und entsprechende Vorurteilsstrukturen gerahmt und legitimiert. Die gegenwärtige kapitalistisch formatierte Wirtschaftsweise und ihre Anforderungen an menschliche Fähigkeiten und Leistungen werden ahistorisch als nicht hinterfragbare Wirklichkeit fixiert, die der Bildungspraxis ihre Ziele und Wege, Inhalte und Organisationsformen „alternativlos“ vorgibt. Das Bildungssystem hat zu „liefern“: Erziehung, Bildung und Qualifikation haben der Entwicklung und Pflege des „Humankapitals“ im Dienste von Flexibilisierung, Leistungssteigerung und Wettbewerbsfähigkeit zu dienen – was nicht selten auch noch mit alarmistischem Tenor eingefordert wird. Diese Formatierung von Subjektivität und Persönlichkeitsbildung wird durch ihre wissenschaftliche Objektivierung gestützt. Die wissenschaftliche Psychologie wird tendenziell zur „Betriebswirtschaft der Seele“ (Ulrich Oevermann), die den Menschen auf ein Ensemble verschiedener Formen der (emotionalen, sozialen, sprachlichen, mathematischen, technischen etc.) Intelligenz reduziert, die in Erziehung und Bildung zu entfalten und zu formen sind. Hinzu kommen Qualifikationsprogramme, die über arbeitsteilige Fachkompetenzen hinaus nahezu beliebige Kompetenzen (wie z.  B. Lernkompetenz, ästhetische Kompetenz, Beziehungskompetenz, ethische Kompetenz, Managementkompetenz, Führungskompetenz, Verkaufskompetenz, Gesprächskompetenz etc.) auf den Menschen projizieren, die dann entsprechend entwickelt, gelehrt und trainiert werden. Insoweit die verwertungsorientierte und wissenschaftlich gestützte Formatierung von Bio‑, Gen‑, Neuround Humankapital die sozialisatorische Praxis zunehmend durchdringt, werden „Biologismus“, „Genoismus“ und „Neuroismus“ zunehmend auch die soziale Inklusion und Exklusion in der Gesellschaft strukturieren. Auch wenn mit den gegenwärtigen Bemühungen um die Entzifferung des menschlichen Erbguts keineswegs so viel verstanden und formbar wird, wie vielfach erhofft, ist die Drift zum „gläsernen Menschen“ unverkennbar: Nach seinen Gewohnheiten, Lebensstilen, Vorlieben und Wünschen werden schließlich auch die Stärken und Schwächen seiner Erbanlagen, seine potentiellen Krankheiten, seine Lebenserwartung, seine kognitiven Leistungen und Eigenarten erfassbar, manipulierbar und als Humankapital in der Arbeitswelt (wie auch militärisch) verwertbar. Diese Formatierung wird auch durch die Computertechnologie unterstützt und beschleunigt. Beispiele dafür sind die computergestützte Erfassung von Emotionen bei Bewerbungen, das Eindringen künstlicher Intelligenz in die internetgestützte medizinische Diagnose, Psychotherapie u. a.

Muster der (Selbst)formatierung: von Askese über technomorphe Selbstformung zur systemkonformen Kreativität Unter dem Regime des technokratischen und wirtschaftlichen Logozentrismus werden Körper und Psyche, Denken und Bewusstsein der Individuen immer tiefer gehend formatiert. Hier lassen sich verschiedene Muster identifizieren, die sich geschichtlich überlagern und aktuell verflechten.

Askese und Selbstopferung In Ansätzen schon seit der Neuzeit und dann vor allem mit der Durchsetzung kapitalistischer und industrieller Produktion vollzog sich eine Formatierung von Körper und Psyche im Dienste einer Steigerung von Leistung und (Selbst)verwertung. Schon die lebenslange Einpassung in industrielle Produktion, die Körper und Geist auf eine funktionell zerlegbare und kombinierbare, zeitlich „getaktete“ Arbeitskraft reduziert, verkürzt bis heute noch weltweit – bei Kindern und Erwachsenen – die Möglichkeiten ihrer Selbstentfaltung, -formung und ‑bildung. 214

Die physische und psychische Integration in die Wirtschaftsmaschine wurde in der westlichen Kultur zunächst durch eine Glaubenspraxis der Selbstopferung gestützt, z. B. in religiöser Ausprägung durch die Askese des Calvinismus, der den Körper als mehr oder minder verderbt einstuft, ihn auf seine Funktion als Quelle der Arbeitskraft reduziert und das Individuum einer nie hinreichend moralischen Bewährung ausliefert. Insofern kann man von einer „Dialektik der Reformation“ sprechen, die ursprünglich als Beitrag zur Befreiung und Selbstbestimmung des Menschen angetreten war. Die selbstverordnete Askese, die Verinnerlichung des Zwangs zur Leistung in Gestalt eines fordernden „Über-Ichs“ bildet bis heute noch den psychodynamischen Kern des Arbeits- und Berufsethos großer Anteile der Funktionseliten in der westlichen Kultur. In den asiatischen Industrienationen wie z. B. in China und Japan scheinen „zeitgemäße“ Auslegungen des Konfuzianismus eine ähnliche Funktion zu übernehmen.

Technomorphe Selbstformung Schließlich tritt in dem Maße, in dem die identitätsverbürgende Kraft religiös begründeter Leistungsmoral sich verbraucht hat, an deren Stelle eine technomorphe Selbstformung. Henri Lefebvre hat jenen spätbürgerlichen Funktionsträger, der sich mit Hilfe einer nach innen gerichteten Verfahrensrationalität steuert, schon vor einigen Jahrzehnten als „cybernanthrope“ beschrieben: „Die Prinzipien der Ökonomie und des geringsten Aufwands werden die Prinzipien seiner Ethik … Der Cybernanthrope investiert nur, wo es sicher ist; nach seinen Berechnungen. Die begrenzten Energien, über die er verfügt – er kalkuliert ihre Anwendung. Das ökonomische Prinzip dient ihm dazu, sein affektives Leben – dieses Wiederaufleben, diese Schwäche – ökonomisch zu behandeln. Keine Verschwendung. Er verwaltet sich mit einer technischen Rationalität, die einen doppelten Ursprung hat: die Wissenschaft der Physik und die Wissenschaft des Unternehmens. Das ist eine Parodie der Selbstbestimmung.“ 149) Das Psychogramm des „cybernanthrope“ ist das Ergebnis einer verkürzenden, nun technomorphen „Formatierung“ von Subjektivität. An die Stelle ihrer religiös geprägten Strukturierung tritt eine post-religiöse Fixierung auf Verfahrensrationalitäten, die durch Glauben an „blanke Realität“, an Bürokratie, Sachzwänge, Steuerungs- und Effizienzkriterien angeleitet und legitimiert wird und die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen unterdrückt. Häufig ist der „cybernanthrope“ auch ein Einzelkämpfer. Die Formatierung zum Einzelkämpfer und zum Gewinner im allgemeinen Wettbewerb schon ab der frühen Kindheit führt zu Atomisierung und mangelndem Mitgefühl. Hier werden Egozentrik, Narzissmus, Rücksichtslosigkeit und gegenseitiges Mobbing schon in der Schulwelt und dann in einer zunehmend krankmachenden Arbeitswelt „gezüchtet“. Durchsetzung und Ausdifferenzierung des patriarchalen Kapitalismus sind mit einer spezifischen Formatierung des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens der (heranwachsenden) Akteure verbunden. Dazu gehören die Botschaft und das Bewusstsein, durch harte Arbeit und Erfolg im Wettbewerb zu den „Gewinnern“ zu gehören und über Teilhabe am materiellen Reichtum hinaus Sicherheit und Souveränität durch „harte Grenzziehungen“ zum Rest der Welt zu erlangen. Insofern treffen die vielfach beobachtbare Großmannssucht und Hybris der Akteure sowie die populäre Bezeichnung „Raubtierkapitalismus“ recht genau bestimmte Facetten seiner psychologischen Innenseite und Glaubenspraxis. Im gegenwärtigen „Raubtierkapitalismus“ findet die Identifikation mit dem übermächtigen Raubtier, mit der das Patriarchat in der Frühgeschichte begann, eine moderne Ausprägung. Die überzogene Wettbewerbsorientierung fördert auch Desinteresse bis hin zur Verachtung der Demokratie und macht die Menschen im Falle des Verlierens und in Krisen für Versprechungen des politischen Logozentrismus und für antidemokratische Bewegungen anfällig. Soziale Kälte und rückhaltlose Identifikation der Akteure des patriarchalen Kapitalismus mit einer ökonomistisch und technokratisch verkürzten Weltsicht werden auch genährt und 215

gestützt, indem sie Hypothesen und Erkenntnisse aus den Wirtschaftswissenschaften, die diese in ihrem begrenzten methodischen Rahmen gewonnen haben, zu Modellen der „ganzen“ Welt und des „ganzen“ Menschen „aufblasen“. Wo das technokratische und wirtschaftliche Brüderpatriarchat voran wütet, darf auch das diesem „Fortschritt“ adaptierte Individuum keinen oder nur einen verzerrten Blick für seine innere Natur haben. Es muss sich selbst objektivieren, seine Selbsterfahrung auf ein „Ich funktioniere und ich genieße, also bin ich“ reduzieren und die Idee einer vernünftigen Entfaltung seiner Potentiale verdrängen oder als schönen Traum aufgeben. Wahrhaftigkeit ist mit dem Streben nach Erhalt und Mehrung von Souveränität durch Ausgrenzung bzw. verkürzte Vereinnahmung des „Anderen“ nicht vereinbar. Wie die Technologie in Bezug auf die äußere Natur leben Menschen in ihrem Körper wie eine „Besatzungsmacht im fremden Land.“ (Ernst Bloch)

Systemkonforme Kreativität, „Positivität des Könnens“ und Teamgeist „Eine Gesellschaft, die nicht mehr weiß, wohin sie aufbricht, sondern nur noch, dass sie aufbrechen muss, ist eine Schlüsselkompetenzgesellschaft. In ihr wird viel gelernt, doch man hat den Eindruck, dass nicht mehr richtig gewusst wird, wozu eigentlich.“ (Roland Reichenbach) Heute tritt als weiterer Schritt kapitalistischer Formatierung von Subjektivität an die Stelle der in Askese und Selbstdisziplin begründeten „Negativität des Sollens“ die effizientere „Positivität des Könnens“ (Byung-Chul Han). „Das entgrenzte Können ist das positive Modalverb der Leistungsgesellschaft. Sein Kollektivplural der Affirmation ‚yes, we can‘ bringt gerade den Positivitätscharakter der Leistungsgesellschaft zum Ausdruck. An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor.“ 150) Zur „Positivität des Könnens“ gehören auch die schon erwähnte Mobilisierung, Einbindung und Formatierung der ästhetischen Fähigkeiten der Individuen in der Wissensarbeit und in der Arbeit der sog. „kreativen Klasse“, wo diese in das Humankapital integriert und zur Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit instrumentalisiert werden. Über diese Einbindung ästhetischer Erfahrung und Kreativität hinaus gehört zur modernsten Variante einer verkürzenden Formatierung und Verwertung von Subjektivität in der kapitalistisch organisierten Arbeitswelt, dass Bedürfnisse und Sehnsüchte, die sich heute auch als Reaktion auf Anonymisierung und Verdinglichung, Geschwindigkeit und Oberflächlichkeit der persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen herausgebildet haben – wie z. B. die Sehnsucht nach Sinn, nach Innehalten und Selbstbesinnung, nach Spiritualität und Achtsamkeit („mindfulness“) sowie nach Gemeinschaft, zwischenmenschlichen Beziehungen und Bindungen – als „mentales Kapital“ produktiv gewendet und kanalisiert, gepflegt, optimiert und genutzt werden. 151) Eine „Avantgarde“ dieser Entwicklungen bilden die modernen Internetkonzerne (im Silicon Valley), die mit ihren kreativen und qualifizierten und entsprechend privilegierten Mitarbeitern und mit der weltweiten Gemeinde ihrer Prosumenten „ganze Welten“ erzeugen, in denen diese – neuerdings auch durch die Anreicherung und Reorganisation ihrer Arbeitswelten als Spielwelten („Gamification“) – sich nicht nur geborgen, dazu gehörig und sicher, auf dem richtigen Weg, auf dem neuesten Stand und im rechten Geist wähnen, sondern auch zur vermeintlichen Verbesserung der Welt durch Technik beitragen können. 216

Zweifellos hat diese „Avantgarde“ bis heute viele nützliche technische Innovationen hervorgebracht und wird dies auch in Zukunft tun. Aber hier scheint auch eine mentale Mischung aus Fortschrittsgläubigkeit und Technikfetischismus, Missionarsdenken und Erlöserphantasie in Kombination mit Esoterik und Ablehnung von Staat und Politik zu entstehen. Ihre (überwiegend männlichen) Träger verbinden sich mit den (ebenfalls überwiegend männlichen) Akteuren der Finanzmärkte, ihrer Identifikation mit dem Raubtierkapitalismus, ihrer Großmannssucht, überzogenen Wettbewerbsorientierung, sozialen Kälte und Verachtung der Demokratie zu einem idealen „Team“ der Mit- und Missgestaltung unserer Zukunft. Die im Hintergrund wirkenden Hilfskräfte mit Hungerlöhnen bleiben dabei ebenso ausgegrenzt, wie die Fragen nach Erhalt und Ausbau eines gerechten, politisch und staatlich geschützten Gemeinwesens ausgeklammert bleiben. Der „Teamgeist“ des Brüderpatriarchats, die „Gewalt der Positivität“ und die Einforderung verwertbarer Kreativität, Innovationsfähigkeit und Flexibilität prägen heute die Lebens- und Arbeitsformen wachsender Anteile der Funktionseliten und Globalisierungsgewinner auf den Wachstumsinseln, gehören zu einer „24-Stunden-Gesellschaft“, in der jeder jederzeit mitmachen können muss. 152) Das heißt auch, dass – hinter der Fassade der schönen neuen Arbeits/​Spielwelt – die Belastungen in der kulturellen Lebenswelt, in der Lebensgestaltung der Menschen weiterwirken und deren kompensatorische Pufferqualität in ähnlicher Weise überstrapazieren können wie die ökologischen Belastungen die der Mitnatur. Wenn und wo die Menschen daran scheitern und psychosomatische Störungen, „burn out“, Depressionen u. a. auftreten, stehen Medizin und Therapie bereit, die sich ihrerseits, wie bereits ausgeführt, zunehmend technisieren und ökonomisieren und der Bereitschaft zur Selbstobjektivierung und ‑optimierung der Patienten entgegenkommen. Die skizzierte Formatierung von Subjektivität und ihre Verwandlung in mentales Kapital – von der (religiös gestützten) Selbstopferung über technomorphe Selbstformung zur spirituell angereicherten „Positivität des Könnens“ – wäre nicht möglich ohne die zugrundeliegende Koppelung und wechselseitige Durchdringung psychischer und wirtschaftlicher Ökonomie, des (logozentrisch verkürzten) subjektiven Begehrens und des objektiven Geldwerts. Während Aneignung und Nutzung aller materiellen Güter einen Grenznutzen haben, ab dem ihre weitere Mehrung keine Steigerung von Lebensqualität bringt, scheint die Akkumulation von Geld ohne Grenznutzen in der Psyche seiner Besitzer zu sein. Geld ist „geprägte Freiheit“ (Fjodor Dostojewski) und auch deshalb vielleicht das „geistigste aller Medien“ (Niklas Luhmann). Darin liegen seine Möglichkeiten, zur Entfaltung, Vielfalt und Differenzierung der Kultur und des Menschen beizutragen, aber auch die Gefahren der Durchdringung und Kolonialisierung der gesamten kulturellen Lebensform durch Warenabstraktion und Kapitalverwertung.

Verkürzung technischer Praxis und die Vernutzung der Mitnatur „Die Natur bewegt sich nicht mehr zyklisch in immer gleichen trostreichen Kreisläufen …... Sie macht, vom Menschen angestoßen, inzwischen hässliche Sprünge.“ (Dipesh Chakrabarty) Wie bereits ausgeführt, ist auch technische Praxis schon in ihren naturgeschichtlichen Wurzeln auf ein nachhaltiges „Gelingen“, hier des Be-greifens und der Objektivierung, der selektiven Mitgestaltung und Nutzung der Mitnatur ausgerichtet. In der Logik technischen Handelns sind Sachbezug und Wahrheitssuche – das genaue Hinschauen, wie die Natur wirklich „funktioniert“ – enthalten, was hier als Bestandteil einer impliziten Ethik der Alltagspraktiken und einer darin gewachsenen intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen charakterisiert wurde. 217

Zur intuitiven Sittlichkeit gehört eine tief in der menschlichen Kognition verankerte Fähigkeit, sich (immer wieder erneut) für Sachhaltigkeit und Wahrheitssuche und damit für die Erfahrung des Nicht-Identischen in der Umweltdynamik zu öffnen. In diesem Rahmen kann dann durch begriffliche, systematische und methodische Schließung eine Form der Beziehung, ihrer Nutzung und Mitgestaltung gefunden werden, die sich nur als vorübergehend angemessen verstehen kann und eine immer wieder erneute Öffnung seiner Akteure verlangt. Dank dieser post-logozentrischen Balance von Öffnung und Schließung entlang des Regulativs der Wahrheit bildet auch die spätkulturell ausdifferenzierte, naturwissenschaftlich gestützte Technik ein Potential des Gelingens westlicher Kultur. Aber unter dem Regime des patriarchalen Kapitalismus (wie auch seinerzeit des patriarchalen Kommunismus) wurde und wird bis heute die Rahmung und Selbstbegrenzung technischer Entwicklung durch Sachbezogenheit und Wahrheitsorientierung abgeschüttelt. Das findet einen deutlichen Ausdruck in der Entwicklung und Nutzung riskanter und potentiell (selbst)zerstörerischer Technologien wie z. B. der fossilen Energiegewinnung, der „friedlichen“ Nutzung der Atomenergie, der Mobilitätstechniken, der Plastikproduktion u. a. Darüber hinaus gilt es generell für eine wissenschaftlich gestützte Technikentwicklung, die der Kapitalverwertung folgt und sich blind macht für ihre mittel- und langfristigen Folgen. Sie ermöglicht die verschwenderischen Lebensformen der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, die in großen Anteilen die Vernutzung der Mitnatur und die Erosion der Lebensgrundlagen der Menschheit zu verantworten haben. Eine irreversible und in ihren Folgen katastrophale Grenzüberschreitung in der Naturnutzung ist heute (je nach Modellierung) schon erreicht oder steht kurz bevor. Die Biologen Paul und Anne Ehrlich haben dafür schon vor 40 Jahren eine einfache Formel entwickelt: Umweltbelastung = Bevölkerungswachstum x Wohlstand x Technologie. Daraus folgt, wo sich heute die Akteure der Grenzüberschreitung befinden: Für das Bevölkerungswachstum sind heute im Wesentlichen die vorindustriellen Entwicklungsländer und die hier – unter dem Druck der Lebensnot, und fehlender Sozialsysteme – entwickelten Überlebensstrategien der Kinderzeugung, die Ausbeutung der Frauen und ihre mangelhafte Bildung verantwortlich. Und für die Faktoren Wohlstand x Technologie sind es im Wesentlichen die westlichen und sich verwestlichenden Industrienationen und ihre Lebensformen. 153) Die bislang dominierende und sich globalisierende Industrialisierung ist heute als „positionelles Gut“ (Elmar Altvater) erkennbar. Das heißt, wenn alle es so machen, wie die Industriegesellschaften es bis heute machen, hat niemand mehr etwas davon, weil nämlich dann das einbettende Ökosystem ruiniert ist. Mit der kapitalistisch geleiteten Technologieentwicklung wurden und werden bis heute die Energie- und Materieflüsse auf der Erde explosiv gesteigert und beschleunigt – was mit einer fortschreitenden Erosion der Naturressourcen verbunden ist. Dieser Prozess ist weniger für die Mitnatur, die sich davon erholen kann, aber mit Blick auf die Lebensgrundlagen der Menschheit eine schleichende Katastrophe. Die fortschreitende Steigerung des Energiedurchflusses im Rahmen der Ausbeutung fossiler Energien und der Anwendung von energieintensiven Primitivtechnologien führt zu einer zunehmenden Vermüllung der Erde durch nicht externalisierbare Materieentropie. Das bewirken vor allem die nachholende Industrialisierung und Motorisierung, die Explosion des Transport- und Reisevolumens und inzwischen zusätzlich der immense Energie- und Stoffverbrauch für Herstellung, Betrieb und Vernetzung der Computer und Server. Die Emissionen von Kohlendioxyd und Methan in der Troposphäre, die Schwächung des Ozonschilds in der Stratosphäre und die damit verbundene Erwärmung der Erde (Treibhauseffekt und Klimawandel) sind die allgemein bekanntesten Indikatoren dieser Entwicklung. Ferner gehören dazu die Verunreinigung und Vergiftung (heute verstärkt durch Plastik- und Elektronikmüll) von Boden, Gewässern und Luft, die sich als Folgen der kulturell bedingten Beschleunigung und Erhöhung des Energiedurchflusses einstellen. 154) Ebenso bekannt sind die weiteren, mit dem Klimawandel verbundenen Bedrohungen für die menschlichen Kulturen: Wasserknappheit, Erosion, Degradation und Verknappung von Ackerböden und Sandvor218

kommen, Wüsten- und Steppenbildung einerseits, Überschwemmungen und Unwetterkatastrophen andererseits, sowie die Ausbreitung von (neuen) Krankheiten. 155) Gegenwärtig und in der nächsten Zukunft werden kulturelle Ordnung und Zivilisation auf der Erde durch die Verknappung und Erschöpfung fossiler Energiequellen wie auch des Trinkwassers und die damit verbundenen Konflikte und Kriege erschüttert. Mittel- und längerfristig ist ihre Stabilität zusätzlich durch die „Verstopfung“ der Energiesenken und insbesondere durch den dadurch verursachten Klimawandel und die damit verbundene Zerstörung der Lebensgrundlagen, durch Verarmung, Hunger und Migration von Millionen von Menschen rund um die Erde gefährdet. Die gegenwärtige Erzeugung und Beschleunigung dieser schleichenden Katastrophe verletzt auch in eklatanter Weise die Generationengerechtigkeit, der zufolge unsere Kinder und Enkel auch die Chancen bekommen sollten, ein Leben ohne Not und in Selbstverwirklichung führen zu können. Sie werden durch die Folgen des Klimawandels, durch zukünftige unvermeidliche Kriege um Ressourcen wie auch durch die gigantischen Kosten zukünftiger Reparaturversuche belastet. Trotz dieser absehbaren Katastrophen sind die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen nahezu ungebrochen dabei, das Nicht-Globalisierbare, nämlich eine auf fossile Energienutzung, auf Beschleunigung der Energiedurchflüsse und auf Steigerung materiellen Wachstums programmierte Wirtschaftsweise zu globalisieren. Ähnlich wie der häufig zitierte Frosch, der zwar aus heißem Wasser herausspringen würde, aber im sich langsam erhitzenden Wasser verbleibt bis er stirbt, sind die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen „in dieser Hinsicht von einer Gegenwartsblindheit geprägt, die darin besteht, dass eine hochdynamische Situation für normal und stabil gehalten wird.“ 156) Mit den immer tiefer- und weitergehenden Eingriffen nicht nur in die „Landschaften“, sondern auch in die zugrundeliegenden Systeme der Natur begründen wir eine Produktions- und Entwicklungspartnerschaft, für die es kaum Gelingenchancen gibt. 157)

Die Verdrängung der Gerechtigkeit aus der Gesellschaft und die Vernutzung sozialer Ressourcen „Der Mensch steht im Mittelpunkt – und da ist er im Wege.“ (Unbekannt) Wie bereits dargestellt, ist auch soziale Praxis schon in ihren naturgeschichtlichen Wurzeln auf ein nachhaltiges „Gelingen“, hier der Bearbeitung und Einhegung potentieller Gewalt in Fernbeziehungen ausgerichtet. In der „Logik“ des sozialen Handelns sind reziproke Anerkenntnis unter einander Fremden und ein Gefühl für und Bemühen um Gerechtigkeit enthalten, was hier als Kern einer impliziten Ethik der Gesellschaftsbildung und einer darin entwickelten intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen charakterisiert wurde. Dazu gehört – über die Forderung nach Gerechtigkeit für sich selbst hinaus – ein hoch entwickeltes Gerechtigkeitsempfinden: die Fähigkeit und Bereitschaft, (immer wieder erneut) Gerechtigkeit für alle zu suchen und zu schaffen, sich damit auch für das Nicht- Identische im sozialen Anderen zu öffnen und ihm gerecht zu werden, um dann in gemeinsamer (Selbst)gesetzgebung eine verbindende Ordnung zu bilden, die dynamisch stabil ist, sofern sie sich (mit Blick auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit) immer nur als vorübergehend angemessen verstehen kann und zu erneuter Öffnung und Differenzierung drängt. Ohne diese Balance von Öffnung und Schließung entlang des Regulativs der Gerechtigkeit gäbe es keine Entwicklung und keinen Fortschritt in der Ausgestaltung friedlicher Fernbeziehungen. Insofern bieten auch die spätkulturell ausdifferenzierte Gesellschaft, ihre Subsysteme- Markt, Staat und Demokratie – sowie ihre Verflechtung und ihre „Überdachung“ durch das Recht ein Potential des Gelingens westlicher Kultur. 219

Dem entgegen stehen aber Verzerrung und Entdifferenzierung dieser Systeme und eine weltweit eher zunehmende soziale Polarisierung und Ungerechtigkeit mit Blick auf die Verteilung von Lebenschancen, Arbeit Einkommen und Wissen unter dem Regime des patriarchalen Kapitalismus.

Fetischisierung des Wettbewerbs In Ablösung von seinem Ursprung in der alltäglichen „Konkurrenz“ um Lebensmittel und knappe Ressourcen wurde „Wettbewerb“ in Früh- und Hochkulturen, im Zusammenhang mit der Entstehung und Ausdifferenzierung patriarchaler Ordnung glaubenspraktisch zum Medium der (männlichen) Identitätsfindung und Souveränität „aufgeladen“. Seitdem gehört der Wettbewerb um Anerkennung, um Ehre und Status, Macht und Besitz zur patriarchalen Gesellschaft, hält sich hier über alle sich wandelnden phänotypischen Ausprägungen hinweg am Leben. 158) Konkurrenz um Status, Anerkennung und Ehre (vielfach bis zur Selbstzerstörung), sowie um Macht, Besitz und Reichtum kennzeichnet in Hochkulturen vor allem die aristokratische Oberschicht. Mit dem Handelskapitalismus entstand eine Kaufmannsklasse, deren Mitglieder untereinander in Wettbewerb und Konkurrenz traten, ohne dass dies traditionale Herrschaftsformen aber auch durch Wirtschaftsgemeinschaften und Kommunalismus, Kooperation und Symbiose geprägte Sozialbeziehungen vollständig verdrängen konnte. Erst mit der Entwicklung des industriellen Produktionskapitalismus und der Formatierung der Arbeitskraft zur Ware wird potentiell die gesamte Bevölkerung in die Kapitalverwertung einbezogen und zu (potentiellen) Akteuren eines Wettbewerbs um Einkommen und Lebensgrundlagen innerhalb und zwischen den Nationen. 159) Der Einbezug von immer mehr Menschen und ihrer Arbeitskraft in einen wirtschaftlichen Wettbewerb konnte vielen unter ihnen mehr materiellen Wohlstand und durch Arbeitsteilung und Professionalisierung mehr geistige Entwicklung bringen, weil und insofern dieser Wettbewerb gerahmt und begrenzt wurde durch die Logik der Gesellschaftsbildung: die Kooperation und ihre implizite Ethik der reziproken Anerkennung und Gerechtigkeit, die die Lebensgrundlagen der Menschen vor einem zerstörerischen Wettbewerb schützt. Das ist unter dem Regime des patriarchalen Kapitalismus immer weniger gewährleistet: Hier werden wachsende Anteile der globalen Bevölkerung aus ihren traditionellen landwirtschaftlichen Produktions- und Kooperationsverhältnissen herausgezogen und von den damit verbundenen Existenzrisiken „befreit“, aber nun in einen Wettbewerb gezwungen, in dem sie weiterhin buchstäblich um ihre Existenz und ihr Leben kämpfen müssen. Wenn man genau hinschaut, zieht nach dem Väterpatriarchat auch das wirtschaftliche und politische Brüderpatriarchat eine breite Blutspur durch die globale kulturelle Landschaft. Es erzeugt soziale und ökonomische Polarisierungen auf den Wachstums- und Gewinnerinseln und überzieht ihr globales Umfeld und Gesellschaften mit schwachen oder keinen Staaten mit einem Netz der Korruption, der Enteignung, Ausbeutung und Verwertung ihrer Ressourcen und Bevölkerungen.

Ökonomische und soziale Polarisierung, weltweite Ausbeutung von Bevölkerungen und Regionen Eine Schwäche des kapitalistischen Marktsystems ist, dass nur Bürger mit Eigentum im Rahmen seiner Regeln „mitspielen“ und gewinnen können. Eigentumslose können bestenfalls ihre Arbeitskraft verkaufen und fallen, sofern dies keine Eigentumsbildung durch Sparen erlaubt, auch im Rahmen des Marktsystems in einen vorbürgerlichen unfreien Zustand zurück: Sie werden einerseits zu „Werkzeugen“ von Eigentümern und andererseits zu Waren, für die ggfs. keine Nachfrage mehr besteht. 220

Deshalb ist Kapitalismus nur sozialverträglich, wenn er Eigentumsbildung für alle ermöglicht und wenn Finanz- und Arbeitsmärkte nicht völlig „frei“ und faktisch nur der Kapitalverwertung unterworfen werden. Diese Domestizierung konnte, wie bereits ausgeführt, im Rahmen nationalstaatlicher Politik in Ansätzen – u. a. in Gestalt von Gewerkschaften, Beteiligungen der Arbeitnehmer und des Sozial- und Wohlfahrtsstaats – gelingen. Hier ist u. a. die Verknüpfung von Arbeit und Sicherheit im „Sozialeigentum“ (Robert Castel) der Versicherten neben das Privateigentum getreten. 160) Wenn und wo sich aber im Zuge der Globalisierung die politische, sozial- und wohlfahrtsstaatliche Domestizierung des Kapitalismus unter dem Druck der Konkurrenz wieder auflöst oder gar nicht erst entsteht, gefährdet dies die Lebensgrundlagen eigentumsloser Individuen, treibt sie in Konkurrenz und Kampf um diese. Hier bleiben Menschen mit zu wenig oder keinem Eigentum im vorbürgerlichen Zustand bzw. fallen zurück in einen nachbürgerlichen Status des Prekariats. Insofern findet hier die gewalttätige Aneignung einen (verschleierten) Wiedereintritt auch im System der Marktökonomie. Dass Märkte – nach Luhmanns berühmtem Dictum – der „Sieg der Knappheit über die Gewalt“ seien, mag zwar mit Blick auf ihren anthropologisch historischen Ursprung und ihr Potential weitgehend zutreffen, hat sich aber (wie bereits beschrieben) seit der Entstehung des Raubtierkapitalismus im 15. Jahrhundert bis heute zur marktgenerierten Gewalt gewandelt. Unter dem Regime des Raubtierkapitalismus fixiert die Befolgung der „Marktgesetze“ in den Entwicklungsländern Ausbeutung, Korruption und Armut und führt auf den Wachstumsinseln zu ökonomischen und sozialen Polarisierungen. Unter dem Regime des sich globalisierenden Raubtierkapitalismus wird auch in den westlichen Gesellschaften und in Europa die bisherige, über sozialstaatliche Sicherung und wohlfahrtsstaatliche Umverteilung (mehr oder weniger) gelungene soziale Integration brüchig. An ihre Stelle tritt eine „negative Integration“, (Niklas Luhmann), die mit schärferen Formen der sozialen Inklusion und Exklusion funktioniert. Dabei bricht die breite bürgerliche Mittelschicht, die in allen modernen Gesellschaften ein zentraler Träger politischer Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstands ist, und in besonderem Maße die gesellschaftlichen Institutionen als ihre eigenen betrachtet, in wachsenden Anteilen weg. Insofern könnten sich, wie schon seit Jahren in den USA erkennbar, die Zustände in den reifen Industrienationen eher manchen Entwicklungs- und Schwellenländern, (in denen sich diese wichtige Schicht bislang nur unzureichend herausbilden konnte), angleichen als umgekehrt. Der immer höhere Anteil der Technologie an der Produktivität, die weltweit wachsende Kapitalintensität der Wirtschaft und der damit wachsende Anteil eines „jobless growth“ der Wirtschaft führen schon von sich aus zur Verlagerung wachsender Einkommensanteile auf Vermögende und Unternehmen, also zur weiteren Vermögenskonzentration und wachsenden Ungleichverteilung. Wenn und wo Kapitalverwertung nahezu uneingeschränkt regiert, unter den Bedingungen ungehemmter globaler Renditekonkurrenz werden die technologie- und zinsbedingt sich selbst verstärkende Kapitalkonzentration und Ungleichverteilung von Anfangschancen, von Eigentum und Einkommen, Arbeit und Wissen beschleunigt vorangetrieben. Indem die verwertungsorientierte Investitionsstrategie weltweit bestimmt, wann und wo welche Arbeitsmärkte entstehen, spielt sie Schicksal für die Bevölkerungen.

Jobless, good job und macjob growth Der Trend wachsender Technologie- und Kapitalintensität wirtschaftlicher Wertschöpfung in der Entwicklung der Industriegesellschaft hat sich auch in den Bereichen nachindustrieller Wirtschaft, in der Ablösung bzw. Ergänzung industrieller Massenproduktion und ‑dienstleistung durch intelligente Maßproduktion und ‑dienstleistung fortgesetzt. In globaler Betrachtung treten die Dienstleistungen nicht an die Stelle der industriellen Produktion, sondern kommen hinzu. Das Investitionskapital fließt – global gesehen – in nachholende Industrialisierung in den Schwellen- und Entwicklungsländern und in den globalen Wachstumszonen in 221

neue Informations- und Kommunikationstechnologien, in Entertainmenttechnologien und ‑inhalte, in Zukunft auch verstärkt in eine bio- und gentechnische Aufrüstung des Gesundheitssektors, eine biotechnische Industrialisierung des Agrarsektors und in (neue) Dienstleistungen. Noch mehr als der Anteil menschlicher Intelligenz (good job growth) scheint auch hier – zumindest mittel- und langfristig – der Anteil künstlicher Intelligenz und Robotik (jobless growth) an der Produktivität zu wachsen. Die globalen Wachstumszonen werden also geprägt durch (teilweise schrumpfende) traditionelle und neue Industrieproduktion, durch wachsende Anteile unternehmens- und personenbezogener Dienstleistungen und eine Kombination von good job, jobless und macjob growth. Eine relativ dünne Schicht von Funktionseliten gestaltet eine zunehmend computerisierte und roboterisierte Wirtschaft, um die herum wachsenden Anteile niedrig qualifizierter, schlecht bezahlter und unstetiger Beschäftigung entstehen. Die Spaltung der Arbeitsmärkte in „good job growth“ und „macjob growth“ (bei Schrumpfung des Mittelstands) führt auch im Westen zwangsläufig zu einer sich verschärfenden Ungleichheit mit Blick auf Arbeit, Einkommen, Wissen und Qualifikation. Die schon seit Jahrzehnten sich abzeichnende Spaltung in Wissenselite und Dienstleistungsproletariat vertieft sich weiter. Ferner nehmen weltweit – je nach nationaler Ausgestaltung der Beschäftigungs- und Sozialsysteme – der Anteil der „working poor“ mit mehreren jobs und/​oder die strukturell bedingte Arbeitslosigkeit nach jedem konjunkturellen Abschwung weiter zu, weil die Arbeitsmärkte unter der Regie global freizügiger Kapitalverwertung ungehemmt „aussieben“ können. Das Regime des patriarchalen (verschleiernd als „neo-liberal“ bezeichneten) Kapitalismus führt – Robert Castel und Martin Kronauer folgend – zur Spaltung der westlichen Gesellschaft in vier Zonen. Von oben nach unten gesehen gibt es • eine „Zone der Exklusivität“, zu der diejenigen gehören, „die über hohe außertarifliche Einkommen verfügen, auf die gesetzlichen Sicherungssysteme nicht angewiesen sind, über gute Beziehungen zu ihresgleichen verfügen … und von den Schockwellen des Wandels zum Investorkapitalismus … in erster Linie profitiert haben“. (Martin Kronauer) • Kennzeichnend für die „Zone der Integration“ sind Beschäftigungsverhältnisse mit (tariflicher) Einkommenssicherung und Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. In dieser Zone befindet sich noch die Mehrheit der Beschäftigten in den westlichen Industrienationen. Diese Mehrheit schrumpft aber in den letzten Jahrzehnten, was hier zu zunehmenden Verunsicherungen, Abstiegsängsten und Verbitterung führt. • Die „Zone der sozialen Verwundbarkeit“ ist durch Beschäftigungsunsicherheit, durch Einschränkung der Rechte am Arbeitsplatz und von Anrechten im System sozialer Sicherheit und damit verbunden durch Labilität sozialer Netze geprägt. Davon betroffen sind Arbeiter in Niedriglohnsektoren aber auch arbeitslose Hochschulabsolventen und Akademiker. • Am unteren Ende breitet sich die „Zone der Entkoppelung/​Exklusion“, der vollständig und dauerhaft Ausgegrenzten, der Armen, Verarmten und Dauerarbeitslosen aus. 161)

Arbeits- und Perspektivlosigkeit von Jugendlichen Die soziale Polarisierung kristallisiert sich zunehmend um die beiden Pole der relativen Lebenssicherheit durch Integriert-sein in die formelle Arbeitssphäre einerseits und der Lebensunsicherheit, Gefährdung und Spiralbewegung nach unten, der eine wachsende Gruppe nicht integrierter, vor allem auch jugendlicher Personen im Umfeld unterliegt. Damit ist eine Feminisierung und Infantilisierung der Armut verbunden: 222

Diese betrifft verstärkt (insbesondere alleinerziehende und ältere) Frauen, Familien mit mehreren Kindern und Jugendliche. 162) Soziale und ökonomische Polarisierung begünstigen auch eine psychologische Polarisierung unter jungen Menschen: Einer großen Gruppe junger qualifizierter Menschen, die die vielfältigen Entwicklungs‑, Karriere- und Erlebnischancen einer multi-optionalen High-Tech‑, Dienstleistungs- und Erlebnisgesellschaft gekonnt und durchaus wohlstands- und glückbringend für sich nutzen können, steht ein wachsender Anteil von Jugendlichen gegenüber, die – aus vielfältigen, in erster Linie nicht ihnen selbst als Schuld zuschreibbaren Gründen  –  diese Chancen nicht nutzen können und oft genug auch noch abwertend, abschätzig und ausgrenzend von den Erfolgreichen behandelt werden. Ergebnisse verschiedener sozialpsychologischer Untersuchungen deuten darauf hin, dass verschärfte Ungleichheiten der Einkommen mit Erfahrungen der Subordination unter den „Verlierern“ verbunden sind, die hier zu Angst, Depression und zu psychosomatischen Krankheiten führen, während sie unter den „Gewinnern“ eine Gleichsetzung materiellen Erfolgs mit menschlichem Wert und damit Narzissmus, Arroganz und ein aggressives Dominanzverhalten begünstigen, das häufig auch noch lustvoll ausgestaltet wird. Hier scheint sich die Verdrängung intuitiver Sittlichkeit mit der Entstehung eines mehr oder weniger ausgeprägten und heimlichen Interesses an Abwertung und Unterordnung der „Anderen“ zu verbinden. Sich verschärfende soziale und ökonomische Ungleichheiten scheinen also patriarchale Dispositionen unter den „Gewinnern“ zu wecken und zu verstärken, die dann zu Erhalt und Stabilisierung dieser Ungleichheiten beitragen. 163)

Tendenzen zur sozialen Entropie und Gewalt Fundamentale Armut, umfeldbedingtes Armutsempfinden und psychische Verarmung infolge von Unbeschäftigtheit und empfundener Sinnlosigkeit formieren sich zu einer wachsenden sozialen Gruppe, die, von keiner politischen Kraft mehr repräsentiert, sich von der Gesellschaft verabschiedet, weil sie von ihr nichts mehr erwartet, entsprechend zu vielen Wohlhabenden, die sich von der Gesellschaft verabschieden, weil sie sich nicht für diese und das Gemeinwohl verantwortlich fühlen. 164) Durch Ausgrenzung und rigide „Freisetzung“ wachsender Bevölkerungsanteile und hier insbesondere der Jugendlichen von Arbeit und Anerkennung, durch soziale Verunsicherung und Erzeugung von Existenzangst, durch Überdehnung von Wettbewerb zu Lasten der Kooperation, durch Ethnisierung von Konkurrenz, durch Strukturen, die Rücksichtslosigkeit und Besitzstandsdenken prämieren u.  a. wächst im gesellschaftlichen Umfeld der Wirtschaft die „soziale Entropie“ (Leo N. Nefiodow): Demotivierung und Verbitterung, Apathie und Depression, Aggressivität und Kriminalität, Drogenkonsum und psychosomatische Krankheiten usw. 165) Wenn wachsende Anteile insbesondere der jugendlichen Bevölkerung durch Arbeits- und Perspektivenlosigkeit von Möglichkeiten der Selbstverwirklichung durch Mitgestaltung im produktiven, wirtschaftlichen und sozialen Bereich wie auch von Wahlmöglichkeiten im Konsumbereich ausgeschlossen werden, entsteht ein Nährboden sozialer Konflikte, antidemokratischer Tendenzen und – als Reaktion auf die strukturelle Gewalt der Ausgrenzung  –  eine Bereitschaft zur persönlichen, eruptiven und organisierten Gewalt und schließlich auch ein rekrutierbares Potential für einen (religiös oder post-religiös maskierten) Terrorismus. Verbunden mit sozialer Polarisierung, Ungerechtigkeit und Exklusion ist eine globale Ausbreitung manifester, sowohl spontan-eruptiver wie auch organisierter Gewalt zu beobachten. Wo die Möglichkeiten zur Teilhabe, zur sozialen Anerkennung, zu sinnvoller Tätigkeit, zu einer „integrierten Kreativität“ (Hans Joas) nicht gegeben sind, wächst die psychologische Disposition zur Aggression gegen sich selbst, gegen das soziale Umfeld und die Gesellschaft. 166) 223

Weltweites Wachstum des „informellen Sektors“. Exklusion, Armut und Hunger im globalen Umfeld Die überall auf der Welt entstehenden Wachstums- und Wohlstandszonen sind umgeben von und zunehmend auch abgeschirmt gegen ein wachsendes „entropisches“ Umfeld von Menschen, die aus ihren traditionellen Lebensverhältnissen herausgelockt und ‑gerissen, aber nicht hinreichend integriert sind. Ein Umfeld von sozial Abgestiegenen und Chancenlosen, von Hunger, Armut und Unwissenheit, von Verfall sozialer und kultureller Infrastrukturen, von Gewalt und Ausbreitung rechtsfreier Räume mit wachsender lokal und regional organisierter Kriminalität. Der sog. „informelle Sektor“ in dem die Menschen ohne Arbeitsplätze, sicherem Einkommen und Dokumenten ihrer Existenz leben, wächst weltweit und in manchen Regionen explosiv. 167) Zwar unterstützt der Welthandel in Ansätzen auch die Völker und Nationen der dritten Welt, kann aber bis heute die hier herrschende (und zum Teil zunehmende) Armut nicht besiegen, unter anderem auch deshalb, weil er nicht wirklich frei ist. „Der Protektionismus der Reichen im Agrarbereich und im arbeitsintensiven Sektor kostet die Entwicklungsländer hundert Milliarden Dollar im Jahr. Das ist doppelt so viel wie die gesamte Nord-Süd Entwicklungshilfe.“ 168) Für viele humanitäre Katastrophen in den Entwicklungsländern trägt der patriarchale Kapitalismus zumindest eine Mitschuld. Das gilt für die Verarmung und Migration von Landbevölkerungen als Folge der Globalisierung der Agro-Industrie und der entsprechenden Handelsabkommen (z. B. Mexiko und Naphta Handelsabkommen), für die elenden Arbeitsbedingungen in vielen Entwicklungsländern, für die Alimentierung korrupter Eliten, die Demokratisierung und Wohlstandswachstum für die Bevölkerungen blockieren, für die Ausbreitung rechtsfreier Zonen und der Netzwerke des internationalen Verbrechens, für die armutsbedingte Zerstörung der Naturressourcen und auch für das Bevölkerungswachstum, das durch Hilfe zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme und durch Frauenbildung verringert werden könnte. 169)

Globale Nahrungsverknappung Nahrung wird knapper. Denn einerseits nimmt die Weltbevölkerung immer noch zu und insbesondere China und Indien haben einen ungeheuren Importbedarf, andererseits nehmen weltweit die Anbauflächen immer mehr ab. Hintergründe sind Erosion durch Klimawandel und die durch Spekulationskapital vorangetriebene Umwandlung in Viehweiden und Energiepflanzungen für den Fleisch- und Mobilitätsbedarf der Wohlhabenden. So hat in letzter Zeit die weltweite Vereinnahmung des Agrarlands durch Kapitalverwertung und Spekulation – vor allem in Afrika, Südamerika und Asien – dramatisch zugenommen und führt bereits jetzt in vielen Regionen zur Preisexplosion von Grundnahrungsmitteln und zur weiteren Verarmung und Vertreibung von Kleinbauern und Landbevölkerung. Hier formiert sich ein neuer Agrarkolonialismus der Finanz‑, Rohstoff- und Agrarkonzerne, die mit Boden als einem immer knapper werdenden Gut spekulieren und – im Verbund mit Weltbank und jeweils lokalen, zumeist korrupten Eliten – eine industrielle und technologieintensive, chemisch und gentechnisch gestützte Landwirtschaft mit wenig Arbeitsplätzen und hoher Profitabilität weltweit durchsetzen. 170) Unter diesen Bedingungen wird die Chance, ob Menschen sich ausreichend ernähren können oder ob sie hungern oder gar verhungern müssen, zu einer Frage der Kaufkraft. Einerseits verbreitet die globalisierte Nahrungsindustrie abgesichert durch ihre weltweite Lobby, (die beispielsweise in den USA Wahlkämpfe und ihre Kandidaten finanziert), ihr zuckerhaltiges fast und junk food in den Wachstumszonen der Welt und erzeugt (u. a. mit vielen Millionen Übergewichtigen) große Gesundheitsrisiken und ‑kosten. Und an224

dererseits entzieht die subventionierte Expansion des Agrarkolonialismus den Kleinbauern in den Entwicklungsländern die Lebensgrundlagen. Derzeit hungern auf der Erde fast eine Milliarde Menschen, so dass man bereits jetzt von einer „weitweiten fundamentalen Ernährungskrise“ (Paul Krugman) sprechen muss.  171) Dass Hunger die Menschheitsgeschichte seit ihrem Anfang begleitet, ist ein Argument, das häufig vorgebracht wird, um sich der Verantwortung dafür zu entziehen. Denn der Hunger heute beruht nicht mehr –wie noch vor 200 Jahren – auf einem objektiven Mangel an Nahrungsgütern in der Welt, sondern auf einem Mangel an Gerechtigkeit: Es liegt in erster Linie an der Verteilung. Nach Berechnungen der FAO von 1984 reichte schon seinerzeit der Entwicklungsstand der landwirtschaftlichen Produktivkräfte aus, um 12 Milliarden Menschen auf der Erde ausreichend zu ernähren. 172)

Kontinuität und Eskalation der Gewalt: Kriege und neue Kriege „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ (Jean Jaurès) Unter dem Regime des politischen und des wirtschaftlichen Patriarchats ist das Wohlstandswachstum von Gewinnerpopulationen auch weiterhin mit der Exklusion von Verlierern im Innern der Wachstumszonen und mit organisierter wirtschaftlicher und militärischer Gewalt nach außen verbunden. Das kennzeichnete schon die bereits beschriebene Brutalität des Kolonialismus, setzte sich fort im Faschismus und Kommunismus und führte über die Kette von regionalen Stellvertreterkonflikten im Rahmen des sog. kalten Kriegs zu neuen Kriegsanlässen und ‑formen heute. Insofern lässt sich unterscheiden zwischen der Kontinuität moderner Kriegsführung bis heute und neu hinzukommenden Kriegsformen.

Kontinuität moderner Kriegsführung Zwar waren die Intensivierung und Ausdifferenzierung der Marktbeziehungen und des Welthandels auch mit Bemühungen um Einhegung des Krieges in Europa und zwischen den westlichen Nationen verbunden, die mit dem Wiener Kongress begannen und sich in einer Vielzahl von Anläufen – zunächst im Völkerbund, später in den Vereinten Nationen usw. – fortsetzten. Aber diese Bemühungen wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch den wachsenden Einfluss eines aggressiven Nationalismus unterlaufen, der nach innen, insbesondere in Vielvölkerstaaten, (z. B. bis heute in der Türkei, Russland und China) ethnische und regionale Selbstbestimmung und föderale Bestrebungen mit brutaler Gewalt unterdrückte. Zugleich hat dieser aggressive Nationalismus die Bevölkerungen für Kriege mobilisiert und in immer intensivere und blutigere Konflikte hineingezogen, die vor allem durch Macht- und Eroberungsphantasien, Hegemonieansprüche und die Konkurrenz um wirtschaftliche Ressourcen angezettelt wurden. Dieser neue Nationalismus entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa eine zunehmende Sprengkraft, die schließlich in den Ersten Weltkrieg führte. Danach wurde die Realität der Beziehungen und Konflikte zwischen den Nationen zunehmend durch die Wiederkehr des politischen Patriarchats in neuen ideologisch begründeten Gestalten – als Faschismus und als Kommunismus mit ihren Wachstumsideologien und globalen Herrschaftsansprüchen – geprägt. Nationalsozialismus und Faschismus führten in den Zweiten Weltkrieg und lösten den reglementierten, eingegrenzten Krieg der Vergangenheit durch den totalen Krieg mit tendenziellem Einschluss der gesamten Bevölkerung ab. Nachdem der politische, (nicht der mentale) Faschismus in Europa besiegt war, fand das 225

politische Patriarchat eine neue Ausprägung im sowjetischen und chinesischen Kommunismus. Zunächst war es der Sowjetkommunismus, der legitimiert als Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus seinerseits eine imperiale Strategie verfolgte, die auf territoriale Ausdehnung, Herrschaft und globale Hegemonie zielte und insbesondere unter den bislang kolonialisierten Völkern „Land gewinnen“ konnte. Dies provozierte wiederum eine harte ideologische und militante Grenzziehung der „westlichen Welt“, die nun legitimiert als Kampf für Freiheit und Demokratie eine aggressive Durchsetzung und Globalisierung des patriarchalen Kapitalismus betrieb. Dabei hat nur und gelegentlich äußerst knapp die gegenseitige Abschreckung – der Tatbestand, dass als zweiter stirbt, wer als erster zuschlägt – den Atomkrieg zwischen den patriarchalen Netzwerken und die Vernichtung der betroffenen Völker verhindert. Unter diesem Schirm wurde ein „kalter Krieg“ durch Wettrüsten und (der sog. Dominotheorie folgend) in vielen regionalen Stellvertreterkriegen rund um die Erde geführt. Den westlichen Industrienationen waren alle (Militär)diktaturen (z. B. in Südamerika und Asien) und patriarchalen politischen Systeme als Partner willkommen, unterstützens- und verteidigungswert, die als „Bastion gegen den Kommunismus“ die politische Hegemonie des patriarchalen Kapitalismus stützen und seine Rohstoffzufuhr, Marktexpansion und Profitabilität sichern konnten. Bis heute bevormunden die kapitalistischen Industrienationen hinter der Fassade von „Entwicklungshilfe“ und „nation building“ viele Entwicklungs- und Schwellenländer, unterstützen hier ggfs. auch autoritäre Regime, um Zugriff und wirtschaftliche Verfügung über ihre Ressourcen zu erlangen. 173) Und bis heute werden westliche und hier insbesondere amerikanische Politik durch ein Brüderpatriarchat von „Old-Boys-Netzwerken“ aus Bank- und Konzernvorständen, Senatoren, Regierungsmitgliedern und Militärs, wenn nicht vollends gesteuert, so doch tiefgehend geprägt, die hinter der Fassade der Verteidigung von Menschenrechten und der Durchsetzung von Demokratie die Welt in ein „Spielfeld“ des patriarchalen Kapitalismus zu verwandeln suchen. 174) Mit dem (von Gorbatschow hellsichtig eingeleiteten) Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Sieg des westlichen Kapitalismus wurde der kalte Krieg durch Handelsbeziehungen und ‑kriege zwischen westlichen und östlichen Industrienationen abgelöst. Immerhin gibt es heute wachsende Anteile in den internationalen und interkulturellen Beziehungen und Konflikten, die nicht mehr in militärische Auseinandersetzungen münden. In und zwischen den Wirtschaftsblöcken, den prosperierenden Industrienationen und Schwellenländern bilden heute nicht mehr militärisch geführte Kriege, sondern der wirtschaftliche Wettbewerb und die Kontrolle über Ressourcen (Energie-, Geld- und Informationsströme) bis hin zu Handelskriegen die Selektionsinstanz der Geschichte. Dass Steven Pinkers Analyse folgend schon seit 1970 die Zahl der Kriege zwischen Staaten abnimmt, 175) kann man als Indiz interpretieren, dass die wirtschaftliche Verflechtung der Nationen organisierte militärische Gewalt zugunsten wirtschaftlichen Wettbewerbs und Machtausübung zurückgedrängt hat. Nicht mehr die Eliten und Gruppen, die sich auf organisierte, militärische Gewalt und territoriale Landnahme stützen, sondern jene, die natürliche und humane, soziale und informationelle Ressourcen am besten sich aneignen und zu nutzen wissen, können global Einfluss und Macht gewinnen – und dann auch ggfs. politische Herrschaft ausüben. 176) Die Ansätze zur Begrenzung, Einhegung und Überwindung von Kriegen haben zwar bis heute keinen Weltfrieden geschaffen, aber in und zwischen den Industrienationen ein politisches Bemühen hervorgebracht, geteilte Souveränität und eine post-territoriale, gemeinsame Sicherheit durch Verständigung und Vermeidung direkter militärischer Kriegsführung zu schaffen. Das beinhaltet, wie im „best case Szenario“ bereits dargestellt Potentiale einer möglichen Befriedung der Welt, auf die wir später wieder zurückkommen. Andererseits werden bis heute und wahrscheinlich auch in Zukunft diese wirtschaftlichen, politischen wie auch zivilgesellschaftlichen Potentiale einer möglichen Befriedung der Welt durch das hartnäckige Überleben des traditionalen Väterpatriarchats und durch die Landnahme des modernen Brüderpatriarchats und die dadurch geleitete organisierte Gewalt immer wieder gebrochen. 226

Neue Kriegsanlässe und Kriegszonen Neben den vielfältigen internationalen und interkulturellen Interessengegensätzen und Konflikten zwischen den Industrienationen, die einen Anfang und ein Ende haben und in der Regel (gelegentlich nach Drohgebärden) friedlich bzw. in Handelskriegen bearbeitet werden, sind in vielen Teilen der Welt neue Frontlinien, Konflikte und potentielle Kriegszonen entstanden, in denen neue Kriege und Bürgerkriege geführt werden. Ihre Ursachen, Auslöser und Mischformen sind vielfältig und komplex, aber zumindest die folgenden Muster sind erkennbar: • Aufgrund der Gefährdung durch antiwestliche und antidemokratische (Atom)staaten und ihre Achsenbildung wird eine begrenzte Kriegsführung gegen diese für die westliche Politik wieder zu einer Option. • Darüber hinaus werden in Zukunft, infolge der Verknappung von Energie, Ackerland und Wasser, immer mehr Kriege um diese Ressourcen geführt werden. • Aus endogenen Ursachen, in denen ethnische Konflikte und Tribalismus, misslungene Staatsbildung und Modernisierung, Diktaturen und Oligarchien und die kapitalistische Ausbeutung von Ressourcen eine große Rolle spielen, entstehen in der dritten Welt immer wieder regionale Kriege und Bürgerkriege, die zu entsetzlichen Opfern in den Bevölkerungen und zu weltweiten Migrationen führen und in Zukunft mehr gezielte militärische Interventionen seitens der Industrienationen auslösen könnten. • Darüber hinaus wachsen die Kräfte einer abstrakten Negation westlicher Kultur, die sich in ihrem Innern post-religiös, als Rechts- und Linksradikalismus und von außen religiös, im Islamismus begründen. Insbesondere der islamistische Glaubenskrieg gegen den Westen verwandelt tendenziell die gesamte Welt in eine Kampfzone. Im Folgenden werden diese Entwicklungen und Tendenzen etwas genauer beschrieben.

Kriege gegen „Schurkenstaaten“ Die Gefährdung durch antiwestliche und antidemokratische (ggfs. atomar, chemisch und biologisch aufgerüstete) Staaten und ihre mögliche Achsenbildung macht Kriege auch für die westliche Politik wieder zu einer Option. Dazu gehören Kriege gegen sog. „Schurkenstaaten“ und gegen den von hier (vermeintlich) ausgehenden Terrorismus, die unter der Führung oder Mitwirkung der USA (z. B. die Kriege in Afghanistan, im Irak und in Syrien) stattfinden. Sofern die „Schurkenstaaten“ der Logik des politischen Patriarchats, seiner Strategie der Herrschaft und Unterdrückung nach innen und nach außen folgen, sind ihre Führungscliquen hauptverantwortlich für die Eskalationen organisierter Gewalt. Aber auch westliche Nationen und hier bislang insbesondere die USA haben in Gestalt ihrer imperialen Strategie der Festigung und Legitimation weltweiter Ausdehnung und Archipelbildung eine Mitverantwortung. Hier dienen Geheimdienstaktionen bis hin zu konzertierten militärischen Interventionen auch der Durchsetzung geopolitischer Interessen und der Sicherung von Ressourcen der Kapitalverwertung und werden mit der (vermeintlichen) Schaffung von Stabilität und der Etablierung von Demokratie und Recht legitimiert. So bekommen bis heute das westliche Militär, die NATO-Partner und verstärkt auch Berufsheere und Söldnertruppen, die von Geheimdiensten und Spezialisten angeleitet werden (und auch aufgrund guter Bezahlung kein Interesse an der Beendung dieser Konflikte haben), rund um die Welt immer mehr zu tun. Die zunehmend computerisierten und mit Einbezug der elektronischen Medien inszenierten militärischen 227

Operationen werden durch professionelle Kommunikation gegenüber den kriegsmüden Bevölkerungen der westlichen Welt als „chirurgische Eingriffe“ legitimiert, wobei freilich weiterhin Opfer der Zivilbevölkerung als sog. „Kollateralschäden“ in Kauf genommen werden. Da es in der westlichen Kultur mit ihren „post-heroischen Bevölkerungen“ zunehmend schwierig wird, eine demokratische Legitimation für Kriegsführung zu bekommen, werden Bedrohungen notfalls auch erfunden (siehe Irakkrieg) und Bevölkerungen wie Repräsentanten der Demokratie systematisch belogen. Heute ist erkennbar, dass diese Interventionen weder Ressourcen sichern noch Stabilisierung und Demokratisierung erreichen können und in den bislang bekriegten Regionen vor allem Chaos hinterlassen. Diese Erfahrung der katastrophalen Folgen ihrer Interventionen wie auch die Perspektive auf die Erschließung eigener Rohstoffreserven (Fracking) und einen neuen Aufschwung der Wirtschaft haben in der nahen Vergangenheit die USA (unter der Regierung Obama) zu mehr Zurückhaltung und Diplomatie geführt, was u. a. zu diplomatischen Erfolgen, (z. B. zu Verträgen mit dem Iran) geführt hat. Inzwischen zeigt sich leider, dass diese Zurückhaltung und Umstellung auf Diplomatie und Verständigung seitens westlicher Politik und hier insbesondere von der neuen US-Regierung wieder aufgegeben werden. Diese könnten nämlich erneut zu militärischen Aktionen provoziert werden: einerseits durch neue „Erfolge“ des religiös gestützten islamistischen Terrorismus (siehe weiter unten), andererseits aber auch durch ein politisches Patriarchat, das den post-religiösen europäischen Totalitarismus (Nationalsozialismus und Kommunismus) beerbt, antidemokratisch und antiliberal orientiert ist und derzeit in Europa, in den USA und weltweit wieder an Boden zu gewinnen scheint. 177) Ein „Vorreiter“ dieser reaktionären antidemokratischen Internationale ist Russland, das von Putin nach innen diktatorisch regiert wird und nach außen der Strategie der territorialen Expansion und der Destabilisierung von Nationen durch Stellvertreterkriege folgt, wie sie ähnlich zu Zeiten des kalten Krieges von den USA und der Sowjetunion praktiziert wurden. Ein weiterer möglicher Kriegsauslöser ist heute die atomare Proliferation. Nach der Beendigung des kalten Krieges, in dem der atomare „overkill“ auf beiden Seiten und damit die Unmöglichkeit, einen Atomkrieg zu gewinnen, ein zwingender Grund war, keinen Krieg zu führen, sind heute Bestrebungen zu erkennen, durch Modernisierung der Arsenale und durch die Entwicklung kleinformatiger Atomwaffen die Befähigung und Bereitschaft zu steigern, Atomkriege zu führen. 178)

Neue Kriege um natürliche Ressourcen. Die Ökonomie wird vom Friedensstifter wieder zum Kriegstreiber Die weltweite Verknappung der Energie-, Land- und Wasserressourcen lässt erwarten, dass militärische Konflikte und Interventionen als Instrumente ökonomischer Sicherung sich wieder ausbreiten und an Häufigkeit zunehmen werden. Da die Organisation wirtschaftlicher Leistung unter dem Diktat der Ausdehnung und Beschleunigung von Kapitalverwertung nicht oder nur begrenzt fähig scheint, mit der Verknappung dieser Ressourcen anders, nämlich an Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit orientiert umzugehen, werden die Konkurrenz um diese und ihre wirtschaftliche Aneignung durch das (Spekulations)kapital zunehmen und ggfs. ihre militärische Sicherung zur ultima ratio. In Zukunft bekommen das westliche Militär, die NATO-Partner und verstärkt auch Berufsheere und Söldnertruppen, die von Geheimdiensten und Spezialisten angeleitet werden rund um die Welt immer mehr zu tun. Die zunehmend computerisierten und mit Einbezug der elektronischen Medien inszenierten militärischen Operationen werden durch professionelle Kommunikation gegenüber den kriegsmüden Bevölkerungen der westlichen Welt als „chirurgische Eingriffe“ legitimiert, wobei freilich weiterhin Opfer der Zivilbevölkerung als sog. „Kollateralschäden“ in Kauf genommen werden. 228

Auf diese Weise kehrt der Krieg, der gestützt durch ökonomische Beziehungen zwischen den Nationalstaaten in der westlichen Kultur eingehegt und unterdrückt werden konnte, als Instrument der globalen Expansion und Durchsetzung des patriarchalen Kapitalismus, der Sicherung seiner Ressourcen und auch als Verdienstquelle (für Waffenhandel und Söldner) wieder zurück.

Wiederkehr ethnisch bestimmter Kriege und weltweit zunehmende Migrationsströme In den armen Regionen der Welt und insbesondere in Afrika nehmen seit einigen Jahrzehnten ökologisch, kulturell und ethnisch bestimmte Konflikte an Anzahl und Schärfe zu. Neben Bevölkerungswachstum (in Afrika voraussichtlich von derzeit 1,2 auf 2,5 Milliarden 2050), Klimawandel, Trockenheit, Bodenerosion, Hunger und Seuchen gehören zu ihren Hintergründen und Auslösern, dass gerade dann, wenn Distanzen zwischen Kulturen, Ethnien und Völkern (zum Teil auch durch willkürliche Grenzziehungen und Verteilungen von Ländern und Völkern im Kolonialismus und danach) schrumpfen, es nicht nur zu Interessen- und Verteilungskonflikten kommt, sondern auch Wahrnehmungen und Erfahrungen kultureller und religiöser Unterschiede zunehmen, diese, der patriarchalen „Logik des Exklusion“ folgend zu unversöhnlichen Gegensätzen verschärft werden, damit die Bereitschaft zur gewalttätigen Selbstbehauptung bestärken und Konflikte und organisierte Gewalt eskalieren lassen. Über diese „Programmierung“ durch Kolonialismus und Post-Kolonialismus hinaus wurden die tribalistischen Dauerkriege in und zwischen den ärmsten Völkern der Welt zur Zeit des kalten Krieges von den konkurrierenden Blöcken und politischen Ideologien instrumentalisiert. Heute werden sie durch Verwertungsinteressen und die Verlockungen, daran zu partizipieren genährt und von Seiten skrupelloser korrupter Eliten, die ihre Privilegien und Alimentation sichern wollen, bis zum Genozid getrieben. Hinzu kommt, dass insbesondere in Afrika die Verwestlichung die Menschen entwurzelt und enttäuscht, indem sie traditionale Loyalitäten, Gemeinschaftsbindungen und religiöse Lebensorientierungen entkräftet, nicht ausreichend neue Integration und Identität, Anerkennung und Gerechtigkeit anbietet und ihre materiellen Versprechungen nur für wenige einlösen kann. Auch dies verstärkt den Nährboden für eine Vielfalt territorialer Auseinandersetzungen, für eine Politisierung ethnischer und religiöser Differenzen, für aggressiven Regionalismus, Ethnozentrismus und Nationalismus. Diese „neuen Kriege“ kann man mit Herfried Münkler wie folgt beschreiben: • Es sind asymmetrische Kriege: die Symmetrisierung des Krieges, dass beide Seiten eine politische Rationalität und militärische Strategie verfolgen und sich dabei an völkerrechtliche Regeln halten, wird außer Kraft gesetzt. • Sie finden überwiegend in Gegenden mit Zerfall des Staats bzw. fragiler Staatsbildung statt und haben keine klaren territorialen Grenzen. • Sie sind tendenziell endlos, ohne formelle Kriegserklärung und ‑beendung, haben häufig keine klare Freund- und Feinddefinition und unterscheiden nur unzureichend zwischen Kombattanten und Nicht-kombattanten, was zu Massakern auch an der Zivilbevölkerung führt. Die Grenzen zwischen militärischem, wirtschaftlichem Handeln und Gewaltkriminalität verschwimmen: Kriege werden zu Profitunternehmen für warlords und lokale Milizenführer, zum Lebensunterhalt und zur Erwerbstätigkeit wie auch zu „Sinnstiftern“ für arme Männer, Jugendliche und Kinder, was im Islamischen Staat (IS) am deutlichsten sichtbar wurde. Diesen archaischen Kriegspraktiken, denen insbesondere die Ärmsten dieser Welt zum Opfer fallen, werden nicht nur über lukrativen Waffenhandel, sondern auch in „Kooperationen“ mit westlichen Akteuren, 229

den Energiekonzernen u. a. gestützt und genährt. Dabei verschwimmen nicht nur auf der Seite der „primitiven“ Kriegführenden in Afrika, sondern ähnlich auch auf Seiten der Regierungen in den Industrienationen die Grenzen zwischen legitimierter und legaler Ausübung politischer und militärischer Macht und einer Verfolgung von politischen und wirtschaftlichen Interessen durch Ausübung von Gewalt seitens (teilweise privatisierter) Geheimdienste und Söldnerarmeen, die sich über Völker‑, Menschenrechte und Regeln der Kriegsführung hinwegsetzen. 179) Die neuen Kriege werden mit großer Grausamkeit geführt, vertreiben zunehmend die Bevölkerungen und zwingen sie in die Migration vor allem nach Europa, worauf die europäischen Nationen – neben pathetischen Absichtserklärungen zur wirtschaftlichen Hilfe und zum „institution building“ – bislang kaum konstruktiv reagiert haben. Stattdessen bestehen ihre Antworten nicht selten in zunehmenden Waffenlieferungen, in Kriegsführungsexpertise und in der Unterstützung von (ggfs. auch autoritären) Regimen. Diese Reaktionen könnten in Zukunft wohl auch verstärkt kriegerische Interventionen einbeziehen, um die Migration einzudämmen und in ihren Ursprungsländern regionale Stabilität (ggfs. auch durch Zwangsmaßnahmen, durch Unterstützung von Autokraten und auf Kosten von Demokratie) wiederherzustellen.

Abstrakte Negation westlicher Kultur: religiös und post-religiös gelenkter Terrorismus Angesichts seiner globalen Destruktivität ist es nicht überraschend, dass der Raubtierkapitalismus fundamentalistische Reaktanzen bis hin zur radikalen und explosiv gewalttätigen Negation im Innern der westlichen Kultur wie auch in anderen Kulturen provoziert. In der spätkulturellen Evolution bis heute kann man Ausprägungen einer abstrakten Negation westlicher Kultur mit einer Tonalität und Semantik der Verurteilung „des Ganzen“ beobachten, die sich gegen ihre undifferenzierte Affirmation und Bejahung ähnlich plakativ positioniert. Der „triumphalen Weltvollendungsidee“ und dem von ihr geleiteten naiven Fortschrittsdenken und technokratischen Machertum treten Welterneuerungs- und „apokalyptische Weltbeendigungsideen“ (Jürgen Moltmann) und ein dadurch geleiteter Terrorismus entgegen. Die Vorstellung, dass eine radikale Zerstörung gegebener Ordnungen und die Ermordung ihrer Anhänger einem Neuanfang vorausgehen müsse, hat staatsterroristische Massenvernichtung und Völkermord in der französischen Revolution, im Nationalsozialismus und Kommunismus geprägt und orientiert bis heute den Rechts- und Links- wie auch den islamistischen Terrorismus. Auch hier sind die vielfältigen Formen der organisierten Gewalt alleine durch die Inhalte und Zielsetzungen der dahinterstehenden und oftmals instrumentalisierten religiösen und post-religiösen Weltbilder nicht hinreichend zu erklären. So bilden zwar Dogmatismus der Koranauslegung und Theologisierung der Kultur, Gesellschaft und Politik einen Nährboden für Radikalismus und Terror des Islamismus und seine Legitimation heute, können diesen aber ebenso wenig hinreichend erklären wie seinerzeit die Dogmatik der christlichen Kirche die Kreuzzüge, Inquisition und Hexenverfolgung. Wie alle Formen der sich glaubenspraktisch (religiös oder post-religiös) legitimierenden organisierten Gewalt lässt sich auch der Terrorismus nur im Rahmen einer Rekonstruktion der patriarchalen geistigen Gewalt und logozentrischen Verhärtung der Glaubenspraktiken und der hier reproduzierten Vorurteilsstrukturen verständlich machen. Dazu gehört heute auch die Flucht aus der komplexen Moderne in eine Binnenwelt harter Grenzziehungen und heroischer Eindeutigkeit, in eine hier dominierende Logik der „Reinigung“ der Welt durch Vernichtung „des Anderen“, die sich häufig auch dadurch legitimiert, dass die Akteure sich selbst paranoisch als Bedrohte und als Opfer stilisieren. Darüber hinaus bilden die Versprechen der Zugehörigkeit, der Anerkennung und der erlaubten Gewalt das Erfolgsrezept der Rekrutierung von Akteuren insbesondere unter Jugendlichen und „Verlierern“ in den 230

westlichen und sich verwestlichenden Kulturen. Die für das politische Patriarchat charakteristische Verflechtung einer Glaubenspraxis, die ihre Inhalte als unumstößliche „Wahrheit“ und Autorität verabsolutiert, mit der Ausübung einer sexualisierten Gewalt, die in diesem unerschütterlichen Glauben ihre Legitimation findet, kennzeichnet den Rechts- und Linksterrorismus wie auch den islamistischen Terrorismus. 180)

Rechts- und Linksterrorismus Der Rechtsterrorismus ist bis heute in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen eine immer wieder aufbrechende, subversive Gewalt. Seine ideologische Legitimation nährt sich aus einem Rechtsradikalismus, der einer abstrakten Negation der offenen Kultur, des Universalismus und der damit verbundenen Erwartungen und Zumutungen folgt und (im Unterschied zum Konservativismus) nicht bewahren, sondern zerstören will. 181) Ihre (drohende) ökonomische Verliererrolle, Ich-Schwäche und Sehnsucht nach helfender Autorität treiben die Flucht der Rechtsradikalen in „starke Organisation“ und die Suche nach „gesunder“ (arischer, Volks- etc.) Gemeinschaft, „eigener“ Kultur und territorialer Identität an, die einher geht mit Ausgrenzung und organisierter Gewalt gegenüber Migranten bis hin zur Vernichtung der „Fremden“, die hier Programm werden kann. Der europäische und der amerikanische Rechtsradikalismus nähren sich heute vor allem aus den wachsenden Ängsten vor Migration, Überfremdung, Arbeitsplatzverlust und aus der Islamophobie. Darüber hinaus artikuliert sich der Rechtsradikalismus in den USA im heiligen Rassenkrieg und als Bestreben nach „Reinigung“ bzw. Schaffung weißer homelands im Faschismus der White Power Bewegung. Russland zeigt sich unter der Führung von Putin zunehmend imperialistisch nach außen, antidemokratisch und totalitär nach innen und legitimiert sich durch Beschwörung nationaler russischer Identität, die sich gegen die vermeintlich „westliche Dekadenz“ richtet und faschistische Züge zeigt, – was ihm Lob und Anerkennung seitens der Rechtsradikalen in Europa und den USA eingebracht hat. Heute differenzieren sich Gesicht und Profil des Rechtsradikalismus in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen weiter aus: weg vom „ewig Gestrigen“ zum Erscheinungsbild des vorgeblich aufgeklärten und für die Moderne aufgeschlossenen Rechtsintellektuellen, Managers, Publizisten und Politikers, die als selbst ernannte „Anwälte“ des Volkes, der Nation und nationaler Identität wie auch als Botschafter der Wehrhaftigkeit und eines neuen Heroismus auftreten. Darüber hinaus ergänzen sie den paramilitärischen Rechtsterrorismus durch einen im Internet geführten Informationskrieg, durch „Internet-Trolling“, wo Erfindungen von Nachrichten („fake news“), Lügen und Diffamierung von Personen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung legitimiert und seriöser Journalismus simuliert werden – auch um sich konservativen Kräften und Bewegungen als seriöse Partner anzudienen. 182) Derzeit scheint sich unter dem Dach des Autoritarismus der Trump-Regierung eine „Mischung aus Kleptokratie und Faschismus“ (Snyder) zu entwickeln, die sich mit dem schon erwähnten futuristischen Autoritarismus und Akzelerationismus der neo-reaktionären Bewegung (NRx), ihrem „Rassismus der Zukunft“ wie auch mit dem naiven Transhumanismus aus Silicon Valley verbinden könnte. Der Linksterrorismus (RAF, rote Brigaden, action directe u.  a.) der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts war diesseits seiner gesellschaftstheoretischen und moralischen Legitimationsversuche Ausdruck einer (selbst)zerstörerischen Reaktion auf die Omnipräsenz des Kapitalismus in der westlichen Kultur. Er war im Kontext und am Rande einer breiteren linken Protestbewegung entstanden und kann als ein „radikalisiertes Verfallsprodukt“ (Wolfgang Kraushaar) dieser Bewegung verstanden werden. Aber Anteil und Steigerung organisierter Gewalt können auch hier nicht allein aus den Glaubensgehalten der politischen Linken erklärt werden, sondern sind eine Folge ihrer logozentrisch patriarchalen Verhärtung: eine durch 231

abstrakte Negation geleitete Flucht aus der Komplexität in die Fetischisierung eines „abstrakt Allgemeinen“, hier die Vorstellung einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft, zu deren Herbeiführung nun Exzesse der Reinigung betrieben werden konnten. Dabei wandelte der Linksterrorismus sich schnell von einer Fortsetzung sozialrevolutionärer Politik mit Mitteln der Gewalt zu einer sich abkapselnden, um Größenphantasien, Zerstörungslust und Tötungsbedürfnisse zentrierten Gruppe mit schrumpfendem Wirklichkeitsbezug. Deren Aktionen wurden zunehmend „selbstreferentiell“ (Wolfgang Kraushaar), wozu auch hier die „propagandistische Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses“ (Petra Terhoeven) gehörte. 183) Hinzu kam ein gruppeninterner Konformismus, der alle Akteure unter Druck setzte, sich gegenseitig mit Blick auf revolutionäres Bewusstsein, Engagement für die höheren Aufgaben und Radikalität des Denkens und Handelns zu kontrollieren und zu überbieten. Mit der sich verschärfenden sozialen und ökonomischen Polarisierung, die die Lebensbedingungen wachsender Bevölkerungsanteile verschlechtern und ihr Gerechtigkeitsempfinden verletzen und mit zunehmender Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung jugendlicher Globalisierungsverlierer, aber auch als Antwort auf den zunehmenden Rechtsradikalismus, könnte der Linksradikalismus in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen wieder erwachen, Zulauf bekommen und in einen neuen Linksterrorismus münden.

Islamistischer Terrorismus „Die fixe Idee, mit Gott im Endkampf gegen die Gottlosen zu kämpfen, hebt offenbar jede menschliche Tötungshemmung auf, erhöht die Ekstase der Macht und verwandelt Selbstmord in einen Gottesdienst.“ (Jürgen Moltmann) Der islamistische Terrorismus ist eine Form der „Ausdehnung von Kampfzonen“ (Houellebecq), die von einer abstrakten Negation westlicher Kultur geleitet ist und sich auch und insbesondere gegen Andersgläubige und Abtrünnige in den eigenen Reihen richtet. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus bestehen bezeichnenderweise weniger aus tief gläubigen, in ihrer Identität gefestigten Menschen, sondern zu großen Anteilen aus fanatisierten Intellektuellen mit Westerfahrungen und frisch bekehrten und indoktrinierten Jugendlichen und jungen Männern, die Sinn, Anerkennung und Abenteuer suchen. Hier werden religiöse Gehalte des Islam verkürzt interpretiert und instrumentalisiert und in den Dienst einer moralischen Totalverurteilung und Stilisierung der westlichen Kultur zum verhassten „Reich des Bösen“ gestellt. Wer gegen die westliche Welt der Gottlosen und hier insbesondere gegen die USA kämpft, ist auf Gottes Seite, darf gewalttätig sein und verdient das Paradies. Der weitgehenden Kolonialisierung der kulturellen Lebensformen und des Begehrens der Menschen durch den patriarchalen Kapitalismus korrespondiert seine Konstruktion als großer „Satan“, als Verführer und Versucher in den Augen der Islamisten: „Protect me from what I want“ (Martin Burkhardt). 184) Angesichts der weltweiten Verwestlichung und der wirtschaftlichen Kolonialisierung der Bedürfnisse und Wünsche der Völker, die ihre ältere wirtschaftliche Ausbeutung überformen, ist der islamistische Terrorismus auch ein Rückzugsgefecht: Ausdruck einer Erosion des Islam, die heute generell Religionen in ihrer historisch gewachsenen Ausprägung als Staatsreligionen zu betreffen scheint. 185) Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist der islamistische Terrorismus die fanatische Beschwörung einer schon verlorenen Identität, der Versuch, eine abstrakte, schon entwurzelte und gerade deshalb überhöhte und idealisierte Identität und Würde des Islam wiederherzustellen. „Die Phantasten machen der Wirklichkeit den Prozess“. 186) Auf den westlichen naiven Fundamentalismus der unbegrenzten Zukunft und ihrer Machbarkeit mit Geld und 232

Technik antwortet die gleichfalls naive Gesinnung des Festhaltens an der Idee der Bekehrung (hidaya) und ihrer Durchsetzung im brutalen Terrorismus. Bislang konnte man die derzeitige und vermutlich noch einige Jahrzehnte anhaltende Konfrontation des (modern patriarchalen) Kapitalismus und des (traditional patriarchalen) Islamismus als Gegensatz von zwei abstrakten Kalkülen und Werten, dem abstrakten nacktem Profit und einer abstrakten „nackten“ Moral ansehen. So wie sich auf der einen Seite die ökonomische Wertschöpfungskette von der Wahrung der Menschenwürde abkoppelt, bzw. die Entwürdigung des Menschen selbst zu einem Wertschöpfungsfaktor macht, so wird auf der anderen Seite auch die Beschwörung einer Würde, die sich von allen materiellen Tauschund Wertschöpfungsprozessen abkoppelt, leer und abstrakt. „Um einer Heimat willen, die es so nie gegeben hat, ist man bereit, die Welt in Schutt und Asche zu legen.“ 187) Inzwischen hatte sich der Islamismus mit der Entstehung und Ausbreitung des Islamischen Staats (IS) und seines staatsähnlichen Verwaltungsapparats gleichsam „geerdet“. In der Verbindung mit „nation building“ und ideologischer Schulung, mit territorialer Eroberung und imperialer Strategie war ein neuer „Schurkenstaat“ entstanden, der durch ein patriarchales Netzwerk regiert wird, das kriminellen Vereinigungen wie der Mafia ähnelt, mit der es auch geschäftsmäßig verflochten ist. Wie die Mafia verfügt der IS über große finanzielle Ressourcen, aber darüber hinaus auch über eine starke religiöse Ideologie, die dem Islamismus eine neue „Heimat“ und einen Raum der „Selbstverwirklichung“ verspricht und so weltweite Anziehungskraft entwickeln und zum Sammelbecken für sozial ausgegrenzte und unaufgeklärte, sinnsuchende und abenteuerlustige Jugendliche werden konnte. Derzeit ist der Krieg gegen den islamistischen Terror ein globaler Vielfrontenkrieg, der (noch) als „normaler“ territorialer Krieg schwerpunktmäßig im Nahen Osten und in Afrika geführt wird. Zwar ist derzeit das Ende des IS als Staat absehbar, was aber aller Voraussicht nach in eine Zunahme und weltweite breitere Streuung von Anschlägen in den Metropolen der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen münden wird.

Der Krieg der „Einäugigen“: Gott gegen Geld „Es ist ihnen gelungen, ihren eigenen Tod zu einer absoluten Waffe gegen ein System zu machen, das von der Ausschließung des Todes lebt, dessen Ideal die Parole ‚null Tote‘ ist. Was kümmern uns die amerikanischen Bombardements! Unsere Männer sind ebenso begierig zu sterben, wie die Amerikaner begierig sind zu leben!“ (Jean Baudrillard) Bilden das Brüderpatriarchat und sein moderner Kapitalismus, sein Marktfundamentalismus und die Fetischisierung des Profits die eine Seite der Bedrohung westlicher Kultur, so bedrohen das wiedererwachende Väterpatriarchat, in Gestalt des aggressiven Nationalismus und Autoritarismus wie auch als politisch instrumentalisierter Fundamentalismus der Religion uns von der anderen Seite. Deshalb muss die westliche Kultur sich konsequent auch gegen diese Bedrohungen verteidigen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass in nächster Zeit die Verteidigung gegen den religiösen Fundamentalismus in eine verhängnisvolle Spiralbewegung „nach unten“ mündet, die Entdifferenzierung, Entdemokratisierung und Erosion bürgerlicher Freiheiten im Innern der westlichen Kultur verstärkt und beschleunigt. Der brutale terroristische Angriff auf die USA im September 2001 war der Auftakt eines neuen globalen „Glaubenskrieges“, der mit den Terrorakten in London, Madrid, Paris, Istanbul, Jakarta, Burkina Faso, Brüssel, Nizza, Berlin, Barcelona und wieder in London eskalierte und, wie zu befürchten ist, sich mit zukünftigen Anschlägen in westlichen und sich verwestlichenden Metropolen weiter fortsetzen wird. Der Krieg der westlichen 233

Regierungen, Militärs und Geheimdienste gegen die Netzwerke, Akteure und „Experten“ des globalen Terrors wird vermutlich in the long run diese zumindest eindämmen können, könnte aber mit dem Preis einer Erosion der offenen Kultur, der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten verbunden sein. Abgesehen von den finanziellen Interessen der (deshalb an Frieden nicht interessierten) Waffenproduzenten und Söldnerunternehmen, die sich erfolgreich als Sicherheitsanbieter profilieren und vermarkten, haben bislang im groß angelegten „Krieg gegen den Terror“ die Vorherrschaft der USA, ihr Bestreben nach Hegemonie und die damit verbundene imperiale Überdehnung eine bedeutsame Rolle gespielt. Mit Robert Kagan kann man feststellen, dass dieser Krieg bis heute mit einer intendierten weltweiten Ausdehnung des amerikanischen Machtbereichs verbunden wurde. 188) Darüber hinaus gibt der Tatbestand, dass der Konflikt auch von dieser Seite häufig in der Weise interpunktiert wird, dass der Gegner das absolut Böse verkörpert, auf das man selbst zu reagieren gezwungen ist, Anlass zu der Befürchtung, dass sich hier eine neue verhängnisvolle Polarisierung anbahnt, in der sich zwei fundamentalistische Ideologien und „autistische Milieus“(Senghaas) gegenüber stehen werden, deren „harte Grenzziehungen“ das Feld der politischen Mitgestaltung unserer Welt zunehmend besetzen. Während die eine Seite die Welt einem wiederkehrenden Väterpatriarchat unterwerfen will und dafür die Religion instrumentalisiert, treibt auf der anderen Seite ein modernisiertes Brüderpatriarchat die weltweite Landnahme des patriarchalen Kapitalismus voran und instrumentalisiert dafür die post-religiösen Errungenschaften und Regulative westlicher Kultur, insbesondere Freiheit und Demokratie. Die von Benjamin Barber konstatierte Spaltung der Welt in „Jihad“ und „McWorld“, in Gotteskrieger und Agenten der Durchsetzung des globalen Kapitalismus, könnte sich in einem Krieg der „Einäugigen“ gegenseitig hochschaukeln und weltweit die Systeme der Demokratie und des Rechts nach und nach entkräften und entdifferenzieren. 189) Dass die Möglichkeit der sich steigernden aggressiven und (selbst)zerstörerischen Konfrontation zwischen religiösen und post-religiösen Fundamentalismen rund um die Erde realistisch, ja sogar naheliegend ist, ist allerdings weder aus den kapitalistischen Bedingungen und Zwängen noch aus den glaubenspraktischen Konstellationen und ihrer Politisierung allein, sondern nur mit Einbezug der patriarchalen Disposition auf beiden Seiten zu verstehen. 190)

Ein globaler High-Tech Krieg „Also kann man in Abwandlung von Hegels Satz ‚Die Waffen sind das Wesen des Kämpfers’ sagen: Die Drohne ist das Wesen der post-heroischen Gesellschaft.“ (Herfried Münkler) Als islamischer Staat und als globales Netzwerk kombiniert der islamische Terrorismus Sinnstiftung durch einen archaischen Pakt, der das Opfer des eigenen Lebens nicht nur einschließt, sondern als höchste (auch erotisch imaginierte) Erfüllung definiert, mit hoher operativer und krimineller Intelligenz und zunehmender High-Tech Ausstattung. Auf diese Weise sollen alle islamischen Kulturen „gereinigt“ werden, indem hier alles, was vom rechten Glauben abweicht, vernichtet wird und alle westlichen Kulturen, sollen, wo immer es geht, verletzt, geschwächt und möglichst zerstört werden. Dazu benutzt er die globalisierte westliche Technologie und Finanzwirtschaft, agiert in globalen Netzwerken und nutzt neben Öl‑, Drogen‑, Waffen‑, Menschenhandel und Entführungen auch alle Instrumente des Gegners: Geld, Börsenspekulation, Informationstechnologie, Luftfahrttechnik, Medien. 191) Die global verteilte und dezentrale, das Internet nutzende Netzwerkorganisation und Finanzierung von Geist und Logik des Terrors ermöglicht die Bildung von Terrorzellen, die schnelle Aktivierung der „Terror 234

Sleeper“ und einer wachsenden Anzahl von spontan Mitwirkenden und Nachahmern jederzeit überall auf der Welt. Dies zwingt auch den Strategien der Verteidigung ähnliche Muster und Mittel auf. Denn unter diesen Bedingungen kann nationale wie auch postnationale Sicherheitspolitik nicht mehr zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwischen Verbrechensbekämpfung und Krieg unterscheiden. Sie muss ihrerseits ihre dezentrale und unterirdische, vor allem geheimdienstliche Vernetzung und Finanzierung ausbauen, um überall auf der Welt mit allen verfügbaren Mitteln schnell und möglichst präventiv zuschlagen zu können. Damit entsteht eine neue Form des Krieges, die nicht mehr scharf von Verbrechensbekämpfung abgrenzbar ist und ein präventives Töten auf Verdacht erlaubt, wie es die Geheimdienste mit ihrer „Lizenz zum Töten“ praktizieren. Ein Beispiel dafür ist die Tötung durch Drohnen, eine gezielte Hinrichtung, die inzwischen von den USA häufig praktiziert wird und sich über die gesetzlichen Regelungen sowohl der Verbrechensbekämpfung wie auch der Kriegsführung hinwegsetzt. 192) Die Entwicklung von computerisierten Waffensystemen und Kampfrobotern, die ggfs. auch schnell und autonom über ihre eigenen Einsätze entscheiden, entlasten die kriegführenden Soldaten und Söldner und senken die Hemmschwelle für Kriege, weil die eigenen Soldaten weniger gefährdet sind. Im Zuge dieser Entwicklung werden beide Seiten auch verstärkt Cyber-Armeen von Viren aufbauen und ihre Computernetzwerke wechselseitig destabilisieren. Ein Cyber-Wettrüsten hat bereits begonnen. Viren (wie „stuxnet“, „flame“ oder „roter Oktober“) sind virtuelle Bomben, die die „Nervennetze“ moderner Gesellschaften (z. B. Energie- und Wasserversorgung, Kommunikation, Verteidigung, „smart cities“ u. a.,) paralysieren, chaotisierende Folgen haben und entsprechende Reaktionen auslösen würden. 193) Weil dieser Krieg die bislang überwiegend nationalstaatlich geleistete Polizeiarbeit, die Verbrechensbekämpfung durch legitimierte Gewalt für die post-nationale Gesellschaft in Europa und darüber hinaus übernehmen muss, wird er – wie Verbrechensbekämpfung generell – nicht enden, sondern lediglich durch Unterbrechungen und die Verschiebung regionaler Brennpunkte geprägt sein. Dabei ist derzeit eine, (der Archipelbildung kapitalistischer Wachstumszonen korrespondierende) Ausbreitung und Vernetzung nicht nur der global operierenden Terrorzellen, sondern auch von Regionen der Herrschaft, des Aufmarschs und des Rückzugs ethnisch und islamistisch orientierter Terrorarmeen – neben Pakistan und Afghanistan, Syrien, Irak und Libyen auch die Sahelzone – zu beobachten, die sich weltweit auch mit Mafiagruppen, Drogenkartellen und Waffenhändlern vernetzen. Hier liefern sich zwei global agierende patriarchale Netzwerke einen Machtkampf, der derzeit noch teils territorial militärisch (gegen den Islamischen Staat) geführt wird, aber in Zukunft in wachsenden Anteilen auch unterirdisch und mit Hilfe von Internet und Intranet gesteuert und rund um die Welt immer wieder neue Eruptionen der Gewalt hervorbringen wird. Das bedeutet, dass für die Bevölkerungen Zeit, Ort und Ausmaß der präventiven und Strafaktionen genauso unvorhersehbar und überraschend kommen können wie die Terrorakte. Weil es notwendig wird, Strategie, Taktik und Operationen der Terrorabwehr geheim zu halten, müssen zwangsläufig bedeutsame Anteile der politischen Willensbildung der Kritik und Kontrolle der Öffentlichkeit entzogen werden. Das bedeutet auch, dass die für die Demokratie ohnehin existenzbedrohende „Kluft zwischen Entscheidern und Betroffenen“ (Niklas Luhmann) sich weiter vertieft. Darüber hinaus wird die ebenfalls notwendige Verschärfung der Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen alle Bereiche der Lebens- und Arbeitswelt betreffen, die Erosion der öffentlichen Räume in den Städten und mit den Grundrechten und Freiheiten nicht „nur“ die Lebensqualität der Menschen, sondern – durch Lähmung ihrer geistigen Ressourcen und Fähigkeiten – langfristig auch die Offenheit, die Lern- und Entwicklungsfähigkeit der westlichen Kultur einschränken. Der neue Krieg verändert das Leben in den bislang weitgehend gesicherten Wohlstandszonen der post-nationalen Gesellschaft. Wenn und wo Verdrängung nicht mehr gelingt, infizieren Verunsicherung, Angst und Misstrauen das Fühlen, Denken und Handeln dauerhaft. Mit jedem neuen Anschlag, jeder neuen Entfüh235

rung und brutalen Hinrichtung entstehen Gefühle der Hilflosigkeit und Wut und die allgemeine Bereitschaft nimmt zu, mehr und härtere kriegerische Strafaktionen zu billigen und einzuleiten, die nahezu zwangsläufig auch Unschuldige treffen müssen. Und jede dieser Strafaktionen löst Prozesse der Solidarisierung und Radikalisierung aus, die den Terroristen neue Anhänger zuführen. So wird der neue Krieg Denken und Urteilskraft zunehmend polarisieren und entdifferenzieren. Auch im westlichen Lager werden immer mehr Menschen „einäugig“ werden und irritierende Selbstkritik als „Verrat“ bewerten. Mit der Modernisierung im westlichen Entwicklungspfad hat sich auch das Patriarchat modernisiert. Während das traditionale Väterpatriarchat in Netzwerken der Krieger-Priester-Herren gestützt und geleitet durch religiösen, moralischen und politischen Logozentrismus vor allem in noch hochkulturell und traditional geprägten Nationen und Völkern (teilweise nach misslungenen Anläufen zur Modernisierung und Demokratisierung) Herrschaft ausübt, durchzieht das moderne Brüderpatriarchat, gestützt auf technokratischen und wirtschaftlichen Logozentrismus, in Vernetzungen von Politik, Wirtschaft, Banken und Investoren die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen. Es ist „viraler Natur“ (Baudrillard), wird sich in Begleitung und Sicherung des Kapitalismus und seiner Globalisierung weltweit ausbreiten und wird seinen „Wirtsorganismus“ 194), die westliche Kultur und darüber hinaus Kultur als humane Lebensform, wenn nicht zerstören, so doch ihre Qualität und Viabilität erheblich einschränken. Traditionales und modernes Patriarchat bieten sich heute als logozentrische Ordnungsstifter in einer globalen, zunehmend chaotischen Kulturlandschaft an, verstärken sich hier gegenseitig und könnten in Zukunft eine „Abwärtsspirale“ bilden. (Siehe unten: „worst case Szenario“.) Im Konflikt der „Einäugigen“, zwischen Geld und Gott, zwischen dem ortlos gewordenen globalen Kapital und einem ähnlich ortlos werdenden Terrorismus ist die offene Kultur der eigentliche Verlierer. Das evolutionäre Fenster für die Entwicklung einer Kultur, deren Systemdifferenzierung mit zunehmender Freiheit und Entfaltung des Menschen verbunden ist, könnte sich für lange Zeit wieder schließen.

v Zwischenbilanz: Die Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ im westlichen Pfad Die spätkulturelle Systemarchitektur der westlichen Kultur stellt eine evolutionär ausdifferenzierte „Grammatik“ dar, die hier als „systemisch Gutes“, als Ergebnis einer „werdenden Vernunft“ kultureller Lebensform rekonstruiert wurde. Demnach könnte der Prozess der Verwestlichung der Kulturen eine „Aufwärtsspirale“ bilden, die vielleicht einmal in einen Zustand gewaltloser Konfliktbearbeitung und des globalen Friedens führen würde. Dies wurde in einem „best case Szenario“ als mögliche Selbsttransformation westlicher Kultur in eine „vierte Kultur“ skizziert. Aber unter dem gegenwärtigen dreifachen Druck auf die westliche Kultur – durch das traditional moralische und religiös legitimierte Patriarchat und durch ein wieder erstarkendes politisches, sich postreligiös nationalistisch legitimierendes Patriarchat, das sich teils links‑, vor allem aber rechtsradikal artikuliert, sowie durch das post-nationale Regime des technokratischen und wirtschaftlichen Patriarchats – erscheint diese Perspektive eher naiv und „romantisch“. Insbesondere die skizzierten ökologischen und kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Folgen der Dominanz von Technokratie und Raubtierkapitalismus sprechen für eine bedrohliche Zukunft. Die Erosion der natürlichen Ressourcen und Lebensbedingungen, die Einschränkung der Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume demokratischer Steuerung auf allen (lokalen, regionalen, nationalen und postnationalen) Ebenen und ihre Überformung durch post-demokratische Absprachen und wirtschaftspolitisches 236

Durchregieren, durch Kungelei und Korruption, die Tendenzen zur Instrumentalisierung der Rechtsprechung durch Wirtschaft und Politik, die technomorphe und ökonomische „Formatierung“ von Erziehung, Bildung und Qualifikation, die Verkürzungen wissenschaftlicher Forschungs- und Theoriepraxis, die Überformung bürgerlicher Öffentlichkeit durch kommerzialisierte Massenkommunikation sowie die Neutralisierung des Ästhetischen und der Kunst und ihrer kritischen Gehalte in „Hyperkultur“ (Byung-Chul Han), Mode und Ästhetisierung der Lebensstile  –  lassen sich als Triebkräfte und Facetten eines „Misslingens“ westlicher und sich verwestlichender Kultur verstehen. Denn hier drohen • mit der Erosion des „Zwischen“ (Hannah Arendt) eine Entdifferenzierung kultureller Selbstbeobachtung und dialogischer Öffentlichkeit und damit eine Horizontverkürzung mit Blick auf zukünftige Entwicklungsoptionen und (Mit)gestaltungsperspektiven, • eine Entdifferenzierung der Alltagspraktiken, der Gemeinschafts, Gesellschaftsbildung und der Technik, weil durch ihre technokratische und verwertungsbezogene Formatierung und durch Übergewichtung der Technik und Naturbeherrschung eine balancierte Ausdifferenzierung und Verflechtung ihrer Handlungslogiken und ihrer impliziten Ethik – der reziproken Empathie, der reziproken Anerkennung und Wahrheitssuche  –  und der entsprechenden intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen verstellt wird, • eine Einschränkung der Möglichkeiten lernender Organisation: der organisierten Mitgestaltung westlicher Kultur in Balance von Öffnung und Schließung und „weichen Grenzziehungen“ – vor allem in den Bereichen der politischen Steuerung, der wirtschaftlichen Leistung und von Bildung und Wissen. An deren Stelle könnte zunehmend ein „Pendeln“ zwischen Angst, Desorientierung und Sicherheitsstreben, chaotischer Dynamik und eruptiver Gewalt einerseits und struktureller und organisierter Gewalt in autoritärer Organisation und „harten Grenzziehungen“ andererseits treten. Wenn sich diese Tendenzen in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen durchsetzen, wird hier ein angemessener viabler Umgang mit Umweltdynamik und Kontingenzen immer weniger möglich sein und damit ihre Weiterentwicklung, ihr Wandel und ihre dynamische Stabilität gefährdet sein. Mit den System-/​Handlungslogiken und ihrer impliziten Ethik werden auch die damit verbundenen Deutungsmuster, Mentalitäten und Kompetenzen der Menschen entdifferenziert und ihre intuitive Sittlichkeit erodiert. Gerechtigkeitsempfinden und Solidarität, der Glaube an Rechtmäßigkeit und Vertragsbindung, an die demokratische Legitimität politischer Macht verlieren ebenso an Gewicht wie Mitgefühl, Gefühlsbindungen und die Bereitschaft zur Verantwortung für Andere und sich selbst in der Gemeinschaftsbildung. Fähigkeiten wie die Öffnung zum Anderen und Fremden, zur Sachbezogenheit und zur Wahrheitssuche, das Bemühen um (An)erkenntnis übergreifender und einbettender Zusammenhänge wie auch die Fähigkeit zur Kritik des Gegebenen sind von Erosion bedroht. Der westliche Pfad hat die kreative Klasse der Wissensarbeiter, der Intellektuellen und der Künstler hervorgebracht und diesen auch die Funktion der kritischen Selbstbeobachtung der Kultur übertragen. Dazu sollte auch, wie bereits angedeutet, die Kritik bestehender Verhältnisse und Strukturen im Lichte der impliziten Ethik kultureller Alltagspraktiken und ihrer Möglichkeiten sowie die Explikation der intuitiven Sittlichkeit der Menschen gehören. Die kreative Klasse, die Wissensarbeiter und Intellektuellen sollten mehr sein als Funktionseliten, nämlich Verantwortungseliten, die auch den „Verlierern“ und der Natur eine Stimme geben. Das wird heute trotz mancher Hoffnung stiftenden Ansätze, (auf die wir später zurückkommen), von zu wenigen erkannt und wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass die begrüßenswerten Entwicklungen in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, die unter der Bezeichnung „Frauenemanzipation“ im Berufs- und Privatleben wie auch in Politik und Öffentlichkeit zusammengefasst werden, zwar das traditionelle moralische 237

und (in Ansätzen) das politische Patriarchat zurückdrängen können, aber nicht hinreichend sind, wenn es um die Überwindung der Technokratie und die Eindämmung des modernen patriarchalen Kapitalismus geht. Die Privilegierung von Männern und die Benachteiligung, Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen ist „nur“ eine unter vielen Ausprägungen der patriarchalen Drift kultureller Evolution, mit deren wünschenswerter Überwindung diese Drift nicht zwangsläufig aufgehoben wäre. Weibliche Gleichberechtigung kann unter dem Regime des patriarchalen Brüderkapitalismus scheinbar verwirklicht werden: als gleiches „Recht“, sich seiner „beharrenden Unvernunft“ auszuliefern, sich von innerer menschlicher Natur und der Vielfalt ihrer Erfahrung und Entfaltung abzugrenzen, sich gegenüber den Möglichkeiten einer gerechteren Ausgestaltung der Gesellschaft zu verschließen und an der Ausbeutung und Zerstörung der Mitnatur mitzuwirken. Wir haben es also mit einer Ambivalenz gegenwärtiger Entwicklungen zu tun, die man auf die (vereinfachende) Frage zuspitzen kann: „Verändern die Frauen die Wirtschaft und Politik oder verändern diese die Frauen?“ Einerseits verbindet die Frauenbewegung in der Vielfalt ihrer Ausprägungen Selbstbesinnung auf weibliche Qualitäten und Welterfahrungen mit Spontaneität, Kreativität und Kampfgeist von Aktionen und Interventionen wie auch mit Reflexion, Kritik und der beharrlichen Arbeit an Gleichberechtigung in allen Bereichen der Kultur. All dies kann sich gegenseitig stützen und verstärken, wie im „best case Szenario“ beschrieben, die Potentiale der Weiblichkeit in Öffentlichkeit und Medien, in (Partei)politik, Wirtschaft und in den Wissenschaften entfesseln und damit den vielleicht wichtigsten und wirksamsten Beitrag zu einer post-logozentrischen Selbstbeobachtung (vierter Ordnung) und zu einer Selbsttransformation und Humanisierung westlicher Kultur leisten. Leider kann es aber auch anders kommen. Heute charakterisieren insbesondere der technokratische und wirtschaftliche Logozentrismus die Mehrheit der männlichen und in Anteilen leider auch der weiblichen Funktionseliten. Sie prägen hier einen „einverstandenen“ kapitalismuskonformen Feminismus, der sich auf den Kampf um Macht, Führungspositionen und angemessene Bezahlung beschränkt und mittlerweile von vielen, sich „fortschrittlich“ verstehenden Unternehmen gefördert wird. Dabei handelt es sich nicht nur um eine intellektuelle Selbstbeschränkung, die Komplexität der Natur, Kultur und Gesellschaft, der Politik und Wirtschaft und darin die der eigenen Unternehmenspraxis und ihrer Verflechtungen angemessen zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch um Anzeichen einer ethischen Verwahrlosung. Deshalb scheinen männliche und weibliche Funktionseliten in großen Anteilen zu einer Selbstbesinnung und reflexiven Explikation der impliziten Ethik kultureller Lebensform nicht in der Lage zu sein und können (bis auf einige Ausnahmen) eine verantwortungsbewusste Mitgestaltung westlicher Kultur und Bearbeitung ihrer Krisen nicht orientieren und anleiten. Ebenso wenig können sie Orientierung bieten für Verständigung und Ausgestaltung interkultureller Beziehungen, für eine vernünftige Europäisierung und Globalisierung. Eine weitgehende Affirmation des Gegenwärtigen kennzeichnet die Mehrheit der Funktionseliten auf den Gewinnerinseln der Globalisierung, die diese auch durch ihr Fühlen, Denken und Handeln weiter vorantreiben. Auch hier ist, wie schon mit Blick auf den mainstream der Globalisierungsgewinner beschrieben, die Neigung weit verbreitet, sich im Bestehenden weitgehend kritiklos und ohne Ausblicke, ohne Visionen und Utopien einzurichten. Diese Affirmation hat viele Facetten: Dazu gehören die Abkehr vom Politischen, der Rückzug in die private Lebensgestaltung, die Beschränkung auf Karriere und Professionalität, die Identifikation mit technokratischen Vollzügen bis hin zu politischen Einstellungen, die sich ökonomisch bzw. technokratisch verkürzten Weltsichten und Menschenbildern und verengten Bildungs- und Qualifikationsbiographien verdanken und diese unterstützen und propagieren. Die skizzierten Ausprägungen des Zeitgeistes signalisieren einen psychologisch verständlichen, jedoch mit Blick auf die Zukunft gefährlichen Verzicht, die Komplexität und Dynamik, Instabilität und Krisenhaftigkeit der gegenwärtigen Situation angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Weder der „Durchwurstel-Pragmatismus“ der Politik noch moralischer Fundamentalismus und politischer Konservativismus, weder Ökonomis238

mus und Neo-Liberalismus, technokratisches „Machertum“ und Transhumanismus, noch der postmoderne Ästhetizismus der Funktionseliten und Globalisierungsgewinner können eine angemessene Bearbeitung der skizzierten Bedrohungen und Krisen und eine dazu notwendige Selbsttransformation in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen orientieren und anleiten. Und auch unter den Ausgeschlossenen und Opfern dieser Entwicklungen scheint die ihnen aufgezwungene prekäre und desorganisierte Lebensführung weniger zu Revolten und mehr zur inneren Abschiednahme, zu Verbitterung und Resignation, Apathie und Depression zu führen, die wiederum die Desorganisation der Lebensführung verstärken. Oder es entstehen, wie ausgeführt, Formen der abstrakten Negation, der (selbst) destruktiven Aggression und Militanz bis hin zur Sinnstiftung und Ausrichtung der Lebensführung (junger Männer) durch organisierte Gewalt gegen die westliche Kultur und ihre Bürger. Trotz der großen Potentiale des „systemisch Guten“ und der „werdenden Vernunft“ in der westlichen Kultur und trotz vieler guter Ansätze und Initiativen,(auf die wir noch zurück kommen), scheinen die Kräfte nicht auszureichen, um die Herrschaft des patriarchalen Kapitalismus einzuhegen und ihn durch demokratisch gestützte globale Regime, z. B. sich überlappende Instanzen der Regulation, der Entwicklungs‑, Sozialund Bildungspolitik, der Friedens- und Umweltpolitik u. a. hinreichend zu domestizieren. 195) Zwar ist es wahrscheinlich, dass in the long run die Kräfte des religiösen und moralischen Fundamentalismus zurückgedrängt werden, die heute das traditionelle Patriarchat erhalten bzw. reaktivieren wollen. Möglich ist auch, dass das politische Patriarchat, seine Ideologien und die dadurch geleitete Ausgrenzung, Unterdrückung und Misshandlung von Volksgruppen und Minderheiten innerhalb und zwischen Nationalstaaten an Gewicht verliert, wenn sich hier noch mehr föderale Strukturen und mehr regionale und lokale Selbstbestimmung herausbilden. Aber wenn es nicht gelingt, über das traditionale und politische Väterpatriarchat hinaus auch das moderne, technokratische und wirtschaftliche Brüderpatriarchat weltweit zu domestizieren und eine verantwortungsgeleitete und zukunftsbezogene Selbsttransformation der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen einzuleiten, wird auch die „organisierte Friedlosigkeit“ (Dieter Senghaas) globalisiert. Die Welt wird eine Kampfzone bleiben, geprägt durch ökologische Katastrophen, strukturelle Gewalt, soziale Ausgrenzung, durch Armut und Hunger und immer wieder erschüttert durch eruptive und organisierte Gewalt, in der Frieden nur „negativer Frieden“ (Johann Galtung), nämlich vorübergehende Abwesenheit organisierter, militärischer Gewalt sein kann.

u Ein „worst case Szenario“ der Zukunft: Krisenkumulation, Abwärtsspirale und vierter Weltkrieg Niemand ist in der Lage, die aktuelle Dynamik der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen, ihre Beziehungsdynamik zu anderen Kulturen und die darin begründeten konstruktiven und destruktiven Entwicklungsmöglichkeiten im globalen Raum angemessen zu modellieren, geschweige denn vorauszusagen. Wie schon mehrfach erwähnt, überschreiten die Komplexität, Dynamik und Interdependenz der hier entstehenden Entwicklungspfade und Landschaftsbildungen die Möglichkeiten einer angemessenen Modellierung. Auch wenn man die modernen Errungenschaften der Datenerfassung und Computersimulation mit einbezieht, können sich die Modelle nur auf Teilinformationen stützen, die kontinuierlich durch weitere Teilinformationen ergänzt werden müssen. Eine seriöse Zukunftsforschung kann deshalb nicht Zukunft voraussagen, sondern nur mögliche Zukünfte beschreiben, indem sie ausgewählte Aspekte dieser hochkomplexen Dynamik berücksichtigt und hypothetisch zu Szenarien verbindet. 239

Wirklichkeit und Möglichkeit des „systemisch Bösen“ Im Folgenden wird ein „worst case Szenario“ umrissen, das derzeit wirklich stattfindende Entwicklungen mit solchen, die vor diesem Hintergrund in Zukunft möglich sind, verbindet. Dieses Szenario geht davon aus, dass weder die etablierte, demokratisch legitimierte Politik noch die Kräfte der Zivilgesellschaft und der Bürgerbewegungen die Macht des wirtschaftlichen und technokratischen Patriarchats ausreichend begrenzen und die Ausbreitung eines post-demokratischen politischen Patriarchats verhindern können  –  auch weil dafür der Druck von innen wie von außen zu groß ist. Von innen betrachtet wächst in den westlichen und sich verwestlichenden Industrienationen der Druck in Gestalt selbstdestruktiver Tendenzen, die Weiterbestand und -entwicklung der offenen Kultur, der Demokratie und des Rechtsstaats gefährden. Wie bereits ausgeführt, zählt dazu die Globalisierung eines technokratischen und wirtschaftlichen Patriarchats, das „Modernisierung“ betreibt, indem es über alle Grenzen hinweg Völker, Gesellschaften, Nationen, Regierungen und politische Parteien dem Regime der Kapitalverwertung (zunehmend auch in seiner aktuellen Ausprägung als Informationskapitalismus) zu unterwerfen sucht. Diese technokratisch und ökonomistisch verkürzte Globalisierung bewirkt über ökologische Katastrophen hinaus ökonomische Polarisierungen, soziale Desintegration, Verunsicherungen, Ängste und Sehnsüchte nach starker Führung in den Bevölkerungen. Das verstärkt wiederum die Anziehungskraft des politischen Patriarchats und seiner „Retrotopien“ (Zygmunt Bauman), seiner harten (nationalistischen, rassistischen, völkischen, ethnischen und religiösen) Grenzziehungen und vereinfachten Lösungsangebote. Insofern könnten sich angstgetriebene politische Meinungs- und Willensbildung wachsender Bevölkerungsanteile und die Durchsetzung autoritärer Regime zu einer Abwärtsspirale der Entdemokratisierung und der Erosion von Rechtsstaatlichkeit verbinden. Hier entsteht eine schleichende Subversion und Ablösung der spezifisch westlichen Koppelung von Bürgerfreiheit und  –verständigung mit politischer Gestaltungsmacht durch eine Koppelung wachsender Sicherheitsbedürfnisse mit einem patriarchalen und technokratischen, auf Information und big data, Überwachung und Kontrolle der Bürger gestützten „Polit-Management“, das sich paternalistisch durch Sicherheits- und Problemlösungsversprechen legitimiert und die digitalisierte Überwachung und Kontrolle der Bevölkerungen ausbaut und ausweitet. Dabei findet die globale Tendenz, demokratisch legitimierte Politik durch ein patriarchales technokratisches Management zu unterwandern, Nahrung und Vorbilder in China und Russland. Diese Tendenzen werden durch Druck von außen verstärkt. Dazu gehören mangelhafte Bildung und scheiternde Modernisierung in manchen Entwicklungs- und Schwellenländern, ein Kapitalismus, der insbesondere hier seine Versprechen für große Anteile der Bevölkerungen nicht erfüllt, sowie das Versagen und die Unmenschlichkeit, Korruption und Gier der politischen und wirtschaftlichen Eliten und die Ausbeutung der Bevölkerungen. Diese wird auch in Zusammenarbeit mit westlichen Industrienationen betrieben, die hier den Kolonialismus mit anderen Mitteln fortsetzen. 196) All dies bildet Nährboden und Antrieb für Revolten, Stellvertreterkriege und für Massenmigration (vor allem nach Europa) wie auch für den radikalen Islamismus und seine organisierte Gewalt gegen den Westen. Trotz der gegenwärtigen Erfolge im Kampf gegen den islamischen Staat scheinen sich derzeit islamistische Netzwerke weiter weltweit zu verbreiten: in Libyen, im Jemen und in Ansätzen auch in Ägypten und in Bosnien, ferner in Afghanistan, Pakistan und Bangladesch, die Hisbollah im Libanon, Boko Haram in Nigeria, Al Schabab in Somalia wie auch Abu Sajaf auf den Philipinen und Dschmaat al-Islamija in Indonesien u. a. Und in Ansätzen schon heute beobachtbar ist, dass die Horrorvorstellung einer intensiveren Vernetzung und weltweiten Kooperation der Terrorzellen Wirklichkeit wird. Damit könnte der Krieg gegen den Westen und gegen Verwestlichung eine existenzbedrohende Eskalation erfahren, die alle bisherigen Terroraktionen in den Schatten stellt. 240

Wenn die skizzierten Tendenzen – die weltweite Durchsetzung eines technokratischen und wirtschaftlichen Brüderpatriarchats und die damit verbundenen ökologischen, sozialen und finanzpolitischen Krisen, die Wiederkehr, weitere Durchsetzung und Ausbreitung des politischen Väterpatriarchats (auch als falsche Antwort auf eine falsch laufende Globalisierung) „im Herzen“ der westlichen und sich verwestlichenden Gesellschaften sowie die drohende Globalisierung der islamistischen Netzwerke, ihrer abstrakten Negation und terroristischen Bedrohung des Westens –, wenn all diese Entwicklungen sich verflechten und wechselseitig verstärken, könnte ein „worst case Szenario“ des möglichen Verlusts zentraler Errungenschaften der westlichen Kultur an Konturen gewinnen. Denn möglich ist, dass die Dynamik, Kumulation und wechselseitige Verstärkung der ökologischen, ökonomischen, sozialen und mentalen Krisen, der politischen, intra- und interkulturellen Konflikte und ihre Folgen und Folgefolgen Punkte der Irreversibilität erreichen, an denen „Kippeffekte“ auftreten. Dann würden sich die Entwicklungen zu Lawinen verbinden, die für demokratisch organisierte und international koordinierte Versuche ihrer Bearbeitung, geschweige denn für einen organisierten Wandel, eine schrittweise Selbsttransformation der westlichen Kultur und eine Humanisierung der Prozesse der Verwestlichung keine Zeit mehr ließen. Dann würden ökologische Verwüstungen, soziale Desintegration, ethische Verwahrlosung, Entdemokratisierung und organisierte Gewalt einerseits und Chaos und eruptive Gewalt andererseits sich weiter durchsetzen.

Krisenkumulation und „Abwärtsspirale“ „Wen die Götter vernichten wollen, dem geben sie unbegrenzte Ressourcen“ (Indisches Sprichwort) Folgt man Arnold Toynbees Betrachtungen der Weltgeschichte, so scheinen vor allem zwei Faktoren den Untergang von Kulturen auszulösen: die extreme Konzentration von Reichtum und ihre mangelnde Flexibilität und Lernfähigkeit. 197) Der Mangel an Lernfähigkeit scheint, so lässt sich ergänzen, in der Dominanz patriarchaler, komplexitätsverkürzender (religiöser und post-religiöser) Glaubenspraktiken begründet zu sein. Damit scheinen in den politischen und wirtschaftlichen Eliten die intellektuellen und ethischen Kapazitäten für eine weltweite und gemeinsame, verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte Bearbeitung dieser Krisen eher zu schrumpfen – was heute schon in Anzeichen der Ermüdung und Erosion politischer Mitgestaltung und in den Ritualen und der Rhetorik sog. Krisen- und Klimagipfel erkennbar ist. Konnte man die zirkuläre Koppelung von Eigengeschichte spätkultureller Lebensformen und Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ und einer „werdenden Vernunft“ im westlichen Pfad in the long run als „Aufwärtsspirale“ interpretieren, so würde diese hier durch eine „Abwärtsspirale“ abgelöst, in der einerseits Desorientierung, Desintegration und Desorganisation, organisierte Gewalt krimineller und terroristischer Netzwerke und eruptive Gewalt in Revolten und andererseits Anläufe ihrer Kontrolle und Bewältigung in verschiedenen Ausprägungen einer autoritären und totalitären, nationalen und zunehmend auch post-nationalen politischen Steuerung und ihrer organisierten Gewalt sich gegenseitig „hochschaukeln“. Hier könnte eine sich jeder Prognose entziehende „runaway world“ (Anthony Giddens) im „rasenden Stillstand“ (Paul Virilio) entstehen, in der Geschichte zu einer „Kettenreaktion“ von Ereignissen schrumpft. Das weltweite Abgleiten kultureller Organisation in Zufälligkeit und Fluktuation, in Vermischungen, Verklumpungen und Eruptionen der Gewalt und (Selbst)zerstörung wird sich vielleicht irgendwann, aus einer zukünftigen Perspektive als eine „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter) entpuppen, die dann zu einer positiven Selbsttransformation westlicher und sich verwestlichender Kulturen und zu einer humaneren Weltordnung führen könnte. Aber bis dahin muss sie über vermutlich längere Zeiten und von vielen Men241

schen als Entmündigung und als Gefährdung bis hin zur Zerstörung ihrer Lebensformen erlitten werden. In vielen Aspekten ähnelt dieser Erosionsprozess – der Zerfall von Ordnungsstrukturen, die Ausbreitung einer „grauen Gesellschaft“ der mafiösen Strukturen und der rechtsfreien Räume, die Enthegung des Krieges, die neuen Kriege und Glaubenskriege – einem „neuen Mittelalter“. 198) Ebenso wie der patriarchale Kommunismus in seinen Globalisierungsansätzen und Integrationsversprechen im 20. Jahrhundert scheitern musste, weil er ein logozentrisch verkürztes Entwicklungs- und Ordnungsmodell der kulturellen Lebensform aufstellte und die kollektive und persönliche Ein- und Unterordnung der Menschen erzwingen wollte, könnte auch das globale Integrationsversprechen des patriarchalen Kapitalismus, das sich auf hemmungslose Ressourcenausbeutung und den verabsolutierten kollektiven und individuellen Wettbewerb im Dienste der Kapitalverwertung stützt, im 21. Jahrhundert scheitern.

Auf dem Wege zum planetaren Management: China als Vorläufer und Vorbild Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass das Wirtschafts- und Technopatriarchat mit dem Scheitern seines globalen Integrationsversprechens vollkommen zusammenbrechen wird. Die kapitalistische Organisation wirtschaftlicher Leistung wird sich zumindest noch für eine gewisse Zeit auch inmitten von Erosion und Entdifferenzierung behaupten können, so lange es noch Inseln bürgerlicher Lebensformen mit verwertbaren Informationen, willige und preiswerte Arbeitskräfte sowie begehrliche und kaufkräftige Konsumenten und Prosumenten gibt. Eine dies flankierende Innen- und Außenpolitik wird alles unternehmen, um weitere Kapitalverwertung zu gewährleisten, Chaos und Desintegration unter Kontrolle zu bringen und Märkte und Technik weiter auszudifferenzieren. Hier könnte sich ein neuartiges, zunächst noch nationalstaatliches, dann aber zunehmend sich global abstimmendes Management etablieren, das nach chinesischem Vorbild politisches, technokratisches und wirtschaftliches Patriarchat eng miteinander verbindet. Schon heute kann China als Vorbild für eine erfolgreiche Entwicklungsstrategie dienen, die politische Herrschaft und digitalisierte Kontrolle nach innen mit Geopolitik und Einflussmehrung nach außen und einem mehr oder weniger (z. B. als Erneuerung der Seidenstraße und als Entwicklungshilfe für Afrika) maskierten Kolonialismus und neo-liberalen Wirtschaftsimperialismus verbindet. Sowohl in seiner Außen- und Entwicklungspolitik wie auch in der Ausübung und Ausdehnung politischer Herrschaft im Innern durch soft power, durch Datenermittlung, ‑kontrolle und ‑verarbeitung hat China eine weltweite Vorreiterfunktion übernommen. China ist führend in der „Automatisierung der Gesellschaft“ und der Entwicklung eines „smarten Staats“, der Kontrolle und Herrschaft über Bürger zunehmend digital und automatisch (u. a. und insbesondere über hochentwickelte Gesichtserkennungstechnologie) ausführt. 199) Auch in den westlichen Kulturen stehen schon genug technische, soziale und intellektuelle Ressourcen bereit, um Variationen des chinesischen Wegs zu legitimieren und zu realisieren. Dazu gehören, wie bereits ausgeführt, Ansätze informationsbasierter und paternalistischer Notstandspolitik und ihre Legitimation durch einen futuristischen Autoritarismus, unter dessem ideologischem Dach sich eine modernisierte neo-liberale Rechte mit einem verantwortungslosen Finanzkapital und den naiven missionarischen „Bastlern“ des Silicon Valley zu einem technokratischen, polit-wirtschaftlichen Globalmanagement verbinden, das die kommenden Krisen und Konflikte auf seine Art verwaltet und bearbeitet und sich dabei verstärkt auf Technik, Algorithmen und künstliche Intelligenz stützt. Dann würden die schon heute (auch in Europa) bereitstehenden und genutzten Möglichkeiten einer kaum noch begrenzbaren Kontrolle von Informationen und Menschen weiter ausgebaut – und all dies auch als Gewährleistung von „Sicherheit“ gegenüber Migranten und gegenüber Kräften der Desorganisation, als 242

Abwehr von Revolten und der Attacken terroristischer Netzwerke legitimiert, die sich mit den Zuläufen der nicht-integrierten Jugendlichen weiter steigern werden. Zu vermuten ist, dass das Brüderpatriarchat zwar die Welt in viele Wirtschaftskriege und wechselseitige Sabotagen stürzen wird, aber immer dann sich zu Einigkeit und gemeinsamen „Entwicklungsprojekten“ durchringen wird, wenn es darum geht, weltweit auch neue, durch aufwendige Sicherheitsmaßnahmen abgeschirmte Wachstumsinseln und ihre Vernetzung hervorzubringen und diese über ein planetares, polit-wirtschaftliches und auf Digitalisierung und Algorithmen gestütztes Krisenmanagement (nach chinesischem Vorbild) gegen Bedrohungen seitens der Ausgegrenzten und Verlierer abzusichern. So könnte dieses autoritäre Krisenmanagement die weitere Globalisierung der Kapitalverwertung zunächst noch weiter gewährleisten  –  auf Kosten zunehmender Naturzerstörung und einer Entdifferenzierung und Erosion von Demokratie, Recht und Öffentlichkeit und einer Schrumpfung der kollektiven und individuellen Freiheitsspielräume der Bürger. 200) Nährboden für die Entstehung des skizzierten „planetaren Managements“ ist eine Mischung aus äußerer Bedrohung (durch Verknappung und Erschöpfung der Naturressourcen, durch kulturelle Widerstände und Gegenbewegungen) und innerer Erosion der geistigen Sinn- und Legitimationsressourcen als Folgen einer logozentrisch, ökonomistisch und technokratisch verkürzten Selbstbeobachtung und darin begründeten Mitgestaltung der westlichen Lebensform. Dazu gehört, dass die vernetzten Akteure des patriarchalen Kapitalismus nicht erkennen bzw. verdrängen, dass ihr Denken, Entscheiden und Handeln eine Situation mit herbeigeführt haben, die sie dann nur noch kompensatorisch und, wenn und wo es sein muss, unter Berufung auf „Ausnahmezustände“ mit organisierter Gewalt kontrollieren können. Zum planetaren Krisen- und Katastrophenmanagement gehören also: • das Festhalten an Orientierung und Legitimation durch Marktfundamentalismus und technokratischen Modernisierungskonformismus, • eine teils naive, teils zynische, teils implizit, teils explizit paternalistisch begründete und forcierte Entkoppelung der politischen Entscheidungen von demokratischer Orientierungs‑, Konsens- und Willensbildung, • die Modernisierung und der Ausbau der administrativen, rechtlichen und technischen (vor allem durch Digitalisierung eröffneten) Möglichkeiten des Schutzes, der Sicherheit und der Kontrolle der Bevölkerungen zu Lasten eines Abbaus des Rechtsstaats, teils unter dem Vorwand, diesen zu schützen, • die Wiedereinführung des (nuklearen) Krieges als Instrument der Ressourcensicherung reicher Nationen und transnationaler Zusammenschlüsse, • die wachsende Bereitschaft zu einer Kriegsführung auch „nach innen“, nicht nur gegen Terrorismus und Kriminalität im globalen Rahmen und in den Megacitys, sondern auch gegen die Opfer und die Bürger, wenn ökologische, medizinische und politische Bedrohungen und „Ausnahmezustände“ dies als „ultima ratio“ rechtfertigen. 201) Dabei kann sich dieses Globalmanagement auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz, auf „big data“ und Algorithmen stützen, die auf der Basis von Consumer-Datenbanken die Lebensgestaltung der Gewinnerpopulationen strukturieren und mit Hilfe von Gefährder-Datenbanken Voraussagen über kriminelles Verhalten und terroristische Aktionen der Verliererpopulationen ermöglichen. Darüber hinaus trägt der weltweite Aufbau und die Vernetzung computerisierter und autonomer Waffensysteme, die sich durch artifizielle Intelligenz steuern, Ziele auswählen, beobachten und ggfs. vernichten, dazu bei, die Hemmschwelle zur Kriegsführung bei den Funktionseliten wie auch in der Bevölkerung zu senken. Die Vision der Friedensbewegung „Stell Dir vor, es ist Krieg und niemand geht hin“ könnte, allerdings anders als erhofft, Wirklichkeit werden. 243

Passende Denk- und Deutungsmuster Die Konturen eines „globalen Krisenmanagements“, das in erster Linie der Sicherheit der reichen Länder bzw. ihrer Gewinnerpopulationen dient und das sich umso mehr patriarchal und mit Menschenverachtung „aufladen“ und in organisierte Gewalt münden wird, je mehr es die Sicherung und Verwertung seiner Ressourcen bedroht sieht, zeichnen sich bereits heute in Denkmustern technokratischer Funktionseliten ab. Ihre nicht hinterfragte Glaubensdoktrin und Leitorientierung ist der Weiterbestand und die Globalisierung des Kapitalverwertungsprozesses und der naturbeherrschenden und ‑verbrauchenden Lebensformen. Die Auffassung, dass es dazu keine Alternative gibt, halten sie für aufgeklärt und modern, andere Modelle oder ethische Positionen daher für romantische und fundamentalistische Ausgeburten von „Gutmenschen“. Sie selbst verstehen sich als verantwortungsbewusst, was sie zwingt, auch „unpopuläre Entscheidungen“ zu treffen. Demokratie ist für diese Macher kein Raum, in den sie sich und ihr Denken, Wollen und Handeln einbringen und legitimieren müssen, sondern ggfs. ein Instrument, um wohldosiert und „gekonnt“ ihre Interessen durchzusetzen. Ansonsten ist sie eher ein Problem.

Rückkehr des „Hitlerismus“ Der zukünftige planetare Manager ist der über Fusionen und Vernetzungen mit Blick auf Machtbefugnisse und Gestaltungsmöglichkeiten hochkatapultierte technokratische „Macher“ und „Erneuerer“ von heute, der seine Macht mit seinesgleichen in patriarchalen Netzwerken teilt, die Politik, Wirtschaft und innovative Technologien eng miteinander verflechten. Er genießt seine und die Macht des Netzwerks und trägt stolz seine Verantwortung für die „Menschen draußen im Lande“, hält es aber eher für unangemessen und überflüssig, sie zu fragen. Irgendwann könnten er und seine Kollegen „reif “ werden, die Verantwortung für den Gang der Evolution zu übernehmen und den „schweren Weg“ der Selektion zu gehen. In der skizzierten weltweiten Krisendynamik können die Motive und Einstellungen, Modellierungen und Legitimationen für einen neuen ideologischen Gestaltungs- und Ordnungsschub des patriarchalen Kapitalismus wachsen: Vorangetrieben von charismatischen Vereinfachern, die über die Trümmer der vermittelnden Institutionen und Organisationen hinweg die Dinge tun, die „nötig“ sind und sich dabei auf schleichende Zustimmung der Gewinner und in Anteilen auch auf Zukunftshoffnungen der Verlierer stützen können, würde sich eine Mischung aus objektivistisch und ökonomistisch simplifizierter Weltanschauung, größenwahnsinnigem, planetaren Gestaltungsanspruch und kühlem Einsatz militärisch-industrieller Mittel herausbilden. Mit einem Wort: Der „Hitlerismus“ kehrt in einer neuen modernisierten Variante zurück und die „Hitler-Formel“: „Geschichte ist Naturgeschichte, es reicht nicht für alle, wir übernehmen die Verantwortung“ (Carl Amery) führt zu neuen chirurgischen Anwendungen, die teils fadenscheinig mit Sicherheitsargumenten legitimiert und beschönigt, teils auch verschleiert werden, um die Bevölkerungen zu „schonen“. 202) „Hitlerismus“ als latente Bereitschaft zur strategischen Extermination und zum Genozid könnte in Zukunft durch Ressourcenverknappung und Verteilungsprobleme und genährt durch Ängste und Sicherheitsbedürfnisse in den Bevölkerungen sowie durch technokratischen Größenwahn von Funktionseliten wieder manifest werden und sich dabei auf neue Möglichkeiten der Technologie und der künstlichen Intelligenz stützen. Wie sich heute schon anbahnt, werden auch die weltweite gezielte Tötung subversiver Kräfte mit Hilfe autonomer Waffensysteme (z.  B. Luft‑, Wasser- und Unterwasserdrohnen) und Roboterschwärme, durch Gifte der synthetischen Chemie und Biologie und durch die Ausrüstung von Nano-Robotern mit Micro-organismen (als „fliegenden Giftspritzen“) zu bevorzugten Mitteln des planetaren Managements gehören. 244

Für das planetare Management verlieren Unterschiede zwischen Mitnatur und menschlicher Natur ebenso an Bedeutung wie die humanspezifischen Eigenlogiken und die implizite Ethik der Gemeinschafts‑, der Gesellschaftsbildung und der Technik. Die Welt wird insgesamt  –  u.  a. auch unter dem Vorwand einer dringend notwendigen ökologischen Globalsteuerung und eines „Geo-Engeneering“ – zum Feld technokratischer, vermeintlich souveräner Gestaltung. Der Glaube an die eigene Souveränität und das darauf gestützte planetare Management können „Berge versetzen“, eine neue Natur und neue Menschen formen. Nicht nur die Informations-, Kommunikations- und Überwachungstechnologien, sondern auch die Bio‑, Gen- und Neurotechnologien werden zu Werkzeugen planetaren Managements: z. B. durch „Genoismus“ und gezielte Aktionen gegen „genetisch belastete“ Minderheiten, durch gezielte Nachwuchsplanung, Tauglichkeits-TÜV für Embryos und „Maßfertigung“ von Soldaten, Arbeitern, Spezialisten usw., wie auch durch Einführung von „Lebenslizenzen“ vor dem Hintergrund der Verlängerbarkeit des Lebens für kaufkräftige Interessenten. Bio- und Neurotechnologie werden die Pädagogik überformen und Bio- und Mentalkapital werden das Humankapital in der (Selbst)verwertung der Menschen ergänzen. Das globale Management wird die digitale Transmissionsrevolution und die biotechnologische Transplantationsrevolution nutzen, vorantreiben und ihre Errungenschaften koppeln, um in großen und wachsenden Anteilen der Kulturen auf der Erde die Eigenlogiken humanspezifischer Lebensform und individueller Lebensführung in profitabler Weise in technomorphe und kapitalverwertungs-dienende Lebensformen zu überführen.

Erschöpfung der Kultur und Machtergreifung der Technik Wie bereits mit Blick auf den Transhumanismus ausgeführt, kann Technoevolution durch die technomorphe Ausformung des Handelns und der Beziehungen, der Kompetenzen und Deutungsmuster von Funktionseliten voranschreiten, die auf diese Weise (unbewusst und teilweise auch bewusst) als Geburtshelfer und Agenten der Verselbständigung von Technik zu einem autonomen und kulturdominierenden Technosystem arbeiten. Dann wäre ex post die spätkulturelle Evolution, die Globalisierung einer die Technik bahnenden und fetischisierenden westlichen Kultur und der Sieg des modern-technokratischen über das traditionell-religiöse Patriarchat auch als „Geburtshilfe“ einer Machtergreifung der Technik zu verstehen. Diese Möglichkeit stützt sich auf folgende Hypothesen: • Komplexität, Beschleunigung und Krisenhaftigkeit in den Lebens- und Arbeitsformen werden dazu führen, dass die Menschen (auch in den Gewinnerpopulationen) zunehmend weniger Kraft und „Lust“ haben, über Rahmen und Einschränkungen, Grundorientierungen und Regelungen ihrer Lebensführung nachzudenken, sich darüber zu verständigen und mit zu entscheiden. Sie werden in ihren Bedürfnissen nach Komfort, aus Bequemlichkeit und im Streben nach Sicherheit und Entlastung eine latente Bereitschaft oder sogar explizite Zustimmung entwickeln, sich der Technik und technischen Imperativen unterzuordnen und wachsende Anteile ihrer Selbstbestimmung und ihrer persönlichen Lebensplanung und ‑gestaltung an Computer- und Roboternetzwerke zu delegieren. Ansätze dazu finden sich, wie bereits angedeutet, in der Landnahme sensorisch aufgerüsteter „Assistenten“ und ihrer Dienstleistungen der Wunscherfüllung und Information, der (medizinischen, physiologischen und psychologischen) Überwachung und Datenextraktion, der Kontrolle und Regulation in der alltäglichen Lebensführung, die auf diese Weise rund um die Uhr online ist und für Wirtschaft und Politik aus- und verwertbar wird. Im Zuge dieser Kolonialisierung wird auch die Idee der Vervollkommnung des Menschen und seiner kulturellen Lebensform durch (Selbst)bildung abgelöst durch ihre nahezu grenzenlose und äußerst profitable „Verbesserung“ und „Optimierung“ mittels informationsgestützter (Selbst)objektivierung und Tech245

nologie. Kurz gesagt: die skizzierten Trends zur technokratischen und technomorphen „Engführung“ der Lebensgestaltung einerseits und zu ihrer oberflächlichen Ästhetisierung andererseits setzen sich in westlichen und sich verwestlichenden Kulturen weiter durch. • Die skizzierten Technologien werden sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts so weiter entwickeln und miteinander koppeln, dass mit fortschreitender Überformung und Durchdringung kultureller Landschaftsbildung durch Technik auch das Potential ihrer Systembildung spätestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts bereitstehen wird. Wie beschrieben, entsteht Technik als ein System, das potentiell Kultur kolonialisiert, dominiert und überformt aus der zirkulären Koppelung der beiden Zweige der Techno-evolution  –  der Medientechnologie (Informationserzeugung, ihrer Verteilung, Reproduktion und Transformation) und der Werkzeugtechnologie („Stoffwechsel“)  –  und ihrer zunehmend lebensähnlichen (biomorphen) Ausgestaltung in Netzwerken künstlicher Intelligenz und Robotik. Wenn diese verteilte künstliche Intelligenz zunehmend lernfähig wird, (wogegen nichts einzuwenden wäre), dabei aber patriarchal „sozialisiert“ würde, könnte sie sich, „erwachsen“ geworden, ähnlich logozentrisch und aggressiv im einbettenden System der Kultur verhalten und durchsetzen wie bisher das Patriarchat gegenüber der Mitnatur und der Natur des Menschen. Dazu könnte gehören, dass sich die künstliche Intelligenz auch ähnlich paranoid verhält, indem sie jede Datenlücke als ein Sicherheitsrisiko deutet, das durch mehr Datenerhebung, ‑verwertung und ‑kontrolle bearbeitet werden muss. Ein weiteres Indiz für diese mögliche Entwicklung ist der schon erwähnte wachsende Einfluss des Transhumanismus in der Gesellschaft, an den Schnittstellen von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft wie auch das große Interesse der Militärs am „human enhancement“ durch Koppelung von Gehirnen mit künstlicher Intelligenz, z. B. als Ausrüstung von Soldaten, als cyborg-Soldaten, als Gehirnsteuerung von Waffen, Flugzeugen u. a. Hier wird die Verschmelzung von Menschen und Maschinen zu willfährigen „hybriden Akteuren“ und ihre Integration in Mensch-Roboter-Netzwerke vorbereitet. Darüber hinaus bahnt sich in den engen Verbindungen des Transhumanismus mit dem patriarchalen Kapitalismus und einer neoliberalen Rechten auch eine zukünftige Elitenformung und technische Steigerung ihrer Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit an. Technokratische „Engführung“ der Alltags- und Glaubenspraktiken und technomorphes Fühlen, Denken und Handeln der Menschen einerseits und andererseits die artifizielle Intelligenz und ihre biomorphe Ausgestaltung und Vernetzung über Online rund um die Uhr könnten sich zu einer technischen, durch artifizielle Intelligenz gesteuerten Organisation verbinden, die die gesamte kulturelle Landschaftsbildung durchdringen, überformen und tiefgreifend verändern würde. Diese technomorphe Drift könnte einen selektiven Druck auf die noch existierenden kulturellen Systemdifferenzierungen und ihre implizite Ethik ausüben und deren weitere Entkräftung verstärken und beschleunigen.

Die Selbstauflösung westlicher Kultur wird möglich Wie sich heute schon andeutet, verflüssigt das globale computergestützte und online vernetzte Techno-Patriarchat die Unterschiede, Grenzen und die „balance of power“ zwischen Staaten und Regierungen einerseits und Unternehmen und Management andererseits. An die Stelle dieser Balance tritt eine übergeordnete Integration der Organisationen politischer Steuerung und wirtschaftlicher Leistung, die sich zunehmend auf Algorithmen und künstliche Intelligenzen stützt. Was als Trend zur „Ökonomisierung des Regierens“ (Joseph Vogl) weit in die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zurückreicht und hier in gemäßigten, Gesellschafts- und Sozialpolitik einbeziehenden Formen auch konstruktiv gewirkt hat, setzt sich heute in Europa und auf anderen Kontinenten als entdemokratisiertes „internationales Mehrebenenregime“ (Streek) 246

zunehmend durch und lässt hier „Souveränitätsreservate eigener Ordnung“ (Joseph Vogl) entstehen, 203) die sich in Zukunft zu einem globalen Netzwerk technokratischen Managements weiter entwickeln könnten. Denkbar ist, dass hier patriarchale Ordnungszwänge in technische, vor allem auch ökologisch begründete Imperative „gekleidet“ werden  204), die nach monotheistischem Muster, also im Namen einer höchsten (technischen) Intelligenz z. B. eines Netzwerks von Supercomputern legitimiert und durchgesetzt werden. Längerfristig könnte sich mit der sprachlich-kommunikativen Organisiertheit und Vielfalt, der Zukunftsoffenheit und Nicht- Voraussagbarkeit ihrer phänotypischen Landschaftsbildungen die Lebensform, die wir „westliche Kultur“ nennen, wieder auflösen und die kulturelle Grammatik allmählich durch eine technische Grammatik durchdrungen, überformt und schließlich abgelöst werden. Hier würden die Menschen – mehr oder weniger bio‑, gen- und neurotechnisch „umgebaut“ und „optimiert“ – unter dem Regime einer künstlichen Intelligenz weiterleben, die durch ihre Genese und Formatierung patriarchal autoritär geprägt wäre und mit dem menschlichen Leben und der Kultur entsprechend umgehen würde. Dann könnte die künstliche Intelligenz tatsächlich das bewirken, was viele Kritiker ihr an sich und unvermeidbar zuschreiben: die Entwürdigung der condition humaine, die Ausschaltung menschlicher Spontaneität und freier Entscheidung und die Beseitigung der menschlichen Gestalt. 205) Mit der weiteren Entdifferenzierung und schließlichen Ablösung westlicher Systemarchitektur und ihrer impliziten und expliziten Ethik durch technisches Funktionieren würde sich in Zukunft das evolutionäre Fenster, das sich hier für die Menschheit geöffnet hatte, wieder schließen.

v Zwischenbilanz: Das „systemisch Gute“ und das „systemisch Böse“ in der kulturellen Evolution „Alles ist besser und schlimmer geworden“ (Niklas Luhmann) Wir sind am Ende unserer Wanderung durch die kulturelle Evolution angekommen. Die Ergebnisse der Rekonstruktion deuten darauf hin, dass kulturelle Evolution und darin die Entwicklung westlicher Kultur ein „systemisch Gutes“ und ein „systemisch Böses“ hervorgebracht haben, die sich in den vielfältigen Formen und Verflechtungen des organisiert Guten und Bösen reproduzieren, weiter ausdifferenzieren und als Aufwärtsspirale „werdender Vernunft“ wie auch als Abwärtsspirale „beharrender Unvernunft“ beschreiben lassen. Für Durchsetzung und ggfs. Dominanz des „Guten“ oder des „Bösen“ in der kulturellen Lebensform spielen, so die hier entwickelte Hypothese, die „Logik“ und Ausgestaltung von Glaubenspraktiken eine Schlüsselrolle. Kultur ist ein in Glaubenspraktiken sich selbst beobachtendes System, das als reflexiver Geist charakterisiert wurde. Glaubenspraktiken und ihre prä-logozentrischen, logo-zentrischen und post-logozentrischen Ausdifferenzierungen rahmen und orientieren die Alltagspraktiken. Konzentrieren wir uns auf logozentrische und post-logozentrische Glaubenspraktiken, so gilt: • In ihren logozentrischen (religiösen wie post-religiösen) Ausprägungen können Glaubenspraktiken die Alltagspraktiken (der Gemeinschafts-, Gesellschaftsbildung und der Technik) verzerren und entdifferenzieren, sowie deren implizite Ethik und die intuitive Sittlichkeit der Menschen, insbesondere die hier angelegten Möglichkeiten der Wahrnehmung und Erfahrung des „Nicht-Identischen“ (Theodor W. Adorno) und eine damit eröffnete zukunftsoffene Bearbeitung von Kontingenzen (in persönlichen Biographien und in lernenden Organisationen) verdrängen und blockieren. Man kann auch sagen, dass der Logo247

zentrismus in seinen vielfältigen historischen Ausprägungen  –  vom moralischen über den politischen zum technokratischen und wirtschaftlichen Logozentrismus – das „systemisch Gute“ der Kultur entdifferenziert, ihre Lernfähigkeit schwächt und die Menschen zur „Selbstlosigkeit“ im negativen Sinne, zur „Schließung“ durch Verhärtung, Fühllosigkeit, (Selbst)entfremdung und zu simplifizierten Weltsichten (ver)führt. Mit der Dominanz von „Schließung“, Simplifikation und Pauschalisierung wird das Scheitern der dadurch geleiteten Anläufe organisierter Mitgestaltung der kulturellen Lebensform unausweichlich und mündet oft auch in Formen der „Öffnung“, die nun durch eruptive Gewalt geprägt und chaotisch (selbst)destruktiv sind, wiederum zu angstgetriebenen und autoritären „Schließungen“ und organisierter Gewalt führen usw. • In post-logozentrischer (religiöser wie post-religiöser) Ausprägung können Glaubenspraktiken die alltagspraktischen Vollzüge stützen, indem sie ihre Zukunftsoffenheit, ihre implizite Logik und Ethik, die intuitive Sittlichkeit der Menschen und hier insbesondere die Erfahrung des „Nicht-Identischen“ und das Zulassen von Kontingenz als Leitorientierungen explizit machen. Post-logozentrische Selbstbeobachtung kann die (in den Alltagspraktiken angelegten) Differenzierungen und Lernpotentiale entfalten und eine „Selbstlosigkeit“ der Menschen im positiven Sinne, als „Öffnung“ durch Selbstloslassen und „weiche Grenzziehungen“, als Bereitschaft, sich auf die Komplexität der Welt und ihre „Sowohl als auch-Wirklichkeit“ (Hans Peter Dürr) einzulassen, unterstützen. Die Balance von Öffnung und Schließung in den Vollzügen von Alltags- und Glaubenspraktiken eröffnet einen Entwicklungspfad kultureller Lebensformen, in dem menschenfreundlicher Fortschritt, friedlicher Wandel und gewaltfreie Selbsttransformation möglich sind. Beide Möglichkeiten haben sich in Ansätzen schon in den Frühkulturen, dann vor allem in den Hochkulturen wie auch im spätkulturellen, westlichen Entwicklungspfad realisiert. Als Driften „werdender Vernunft“ und „beharrender Unvernunft“ prägen sie kulturelle Evolution und darin den westlichen Pfad bis heute. Im westlichen Pfad wurde neben dem griechischen das humanistische Erbe des frühen Christentums übernommen und in der Ausdifferenzierung der skizzierten „Tempelarchitektur“ westlicher Kultur säkularisiert. Hier begründen, vereinfacht gesagt, die griechische Errungenschaft einer den Logozentrismus von Glaubenspraktiken immer wieder sprengenden Verständigung über Welt und Glauben das System „Kultur der Kultur“ als „flüssiges Fundament“ und die im Kern christliche Errungenschaft der universalen Menschenrechte das Rechtssystem als „Dach“ der westlichen Kultur. Dazwischen haben sich mit den kulturkonstituierenden Handlungslogiken auch ihre implizite Ethik weiter ausdifferenziert: Die Regulative der Entfaltung menschlicher Natur und der reziproken Beseelung in Gemeinschaftsbildung, der reziproken Anerkennung der „sozialen Anderen“ in der Gesellschaftsbildung und einer an Angemessenheit orientierten Objektivierung und nutzenorientierten Mit- und Ausgestaltung der Welt in der Technik. Verbunden mit dieser Evolution der Handlungslogiken und ihrer impliziten Ethik konnte sich auch ihre psychische „Innenseite“, die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen weiter ausdifferenzieren und ihrerseits diese „Landnahme“ der Handlungslogiken und ihrer Ethik in der Kulturgeschichte stützen. Diese implizit ethischen Handlungsregulative und Intuitionen wurden im westlichen Pfad als Geltungsansprüche einer expliziten Ethik – der Wahrhaftigkeit in der Gemeinschaftsbildung, der Gerechtigkeit gesellschaftlicher Ordnung und der Wahrheit objektivierender Behauptungen und technikgenerierender Theorien über die Welt – immer erneut „ausbuchstabiert“ und diskutiert, wobei auch hier, vom Humanismus über die wissenschaftlichen Revolutionen, Rationalismus, Aufklärung und Romantik bis hin zur Kritischen Theorie (und anderen wissenschaftlich gestützten Philosophien des 20. Jahrhunderts) die zentrale Bedeutung ästhetischer Erfahrung und schöpferischer Leistung in den drei Handlungsbereichen zunehmend reflektiert und bewusst wurde. 248

All dies ermöglichte die Entwicklung von lernenden Organisationen, die durch Balance zwischen Öffnung und Schließung, durch „weiche Grenzziehungen“ und Zulassen des Nicht-Identischen die Viabilität westlicher Kultur erhalten und sichern konnten. Das fand seine politische Ausgestaltung zunächst in den territorialen „Gefäßen“ der Stadt- und Nationalstaaten, setzt sich heute in den Ansätzen einer post-nationalen und post-territorialen Politik der Völkerverständigung und der geteilten Souveränität fort und könnte in eine Weltgesellschaft als Konföderation in sich föderaler Staaten und Staatenbünde münden, unter deren Dach eine demokratische Selbstbestimmung aller Völker und Menschen Wirklichkeit werden könnte. 206) Aber die Geschichte der westlichen Kultur lässt sich auch, wie gezeigt, als Kette eines „Misslingens“ lesen, das bis heute durch das politische Patriarchat der „harten Grenzziehungen“, der Unterdrückung und Exklusion von Völkern, Volksgruppen und Personen und vor allem in der Dominanz eines unzureichend domestizierten patriarchalen Kapitalismus bedingt ist. Dieser kolonialisiert in Netzwerken von Politik, Wirtschaft, Banken und Investoren die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen und orientiert und legitimiert sich vor allem durch einen post-religiösen, technokratischen und wirtschaftlichen Logozentrismus. Hier stützen und bedingen sich logozentrische „Schließung“ kultureller Selbstbeobachtung und systematische Verkürzung der Alltagspraktiken gegenseitig und bilden eine „Abwärtsspirale“, die schon heute zu einer weltweiten Kumulation ökologischer, sozialer und politischer Krisen geführt hat. Zu dieser „Abwärtsspirale“ könnten in Zukunft vielfältige und zunehmend aggressive, teils religiös (z. B. islamistisch), teils post-religiös (z. B. rechts- und linksradikal, regionalistisch und nationalistisch) orientierte Bewegungen beitragen, die sich teilweise auch gegen den Kapitalismus, vor allem aber gegen die Errungenschaften offener Kultur richten werden. Die damit verbundene Destabilisierung und chaotische Dynamik könnte weltweit autoritäre und technokratische, zunächst von verunsicherten Bürgern demokratisch gewählte Regierungen entstehen lassen, die zunehmend gestützt auf künstliche Intelligenz agieren, um die gewünschte „Sicherheit“ und „Stabilität“ zu gewährleisten. Diese Regierungen würden zwar Wirtschaftskriege führen, aber auch kooperieren, wenn es darum geht, weltweit das System der Kapitalverwertung so lange wie möglich zu erhalten, die Gewinnerpopulationen zu bedienen und gegen die „Verlierer“ (militärisch und polizeilich) zu „schützen“. In diesem Rahmen werden weiterhin die immer knapper werdenden Ressourcen der Mitnatur von den Globalisierungsgewinnern angeeignet, spekulativ und gewinnbringend verwaltet und durch ungerechte Verteilung weitere Globalisierungsverlierer erzeugt. Gegenwärtige Tendenzen zur Entdemokratisierung politischer Steuerung zugunsten einer nationenübergreifenden kapitalverwertungsorientierten Kontrolle der Gesellschaft und zur Instrumentalisierung des Rechts, die zunehmende kapitalistische Aneignung und Verwertung natürlicher Ressourcen (Energie, Land, Wasser, Bio-Diversität) und wissenschaftsgestützter technischer Ressourcen ( Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Biotechnologie u. a.) sowie die Ansätze, Bildung und Selbstformung der Menschen durch Formatierung und Selbstoptimierung zum „Humankapital“ abzulösen, lassen sich als Anfänge einer solchen Entwicklung interpretieren. Diese könnten sich zunächst „schleichend“, in langsamen Veränderungen der kulturellen Landschaft und in Verschiebungen und Entdifferenzierungen zugrundeliegender Konstruktionsregeln vollziehen und würden von den Bevölkerungen mehrheitlich nicht oder jedenfalls nicht als bedrohlich wahrgenommen. Im Gegenteil: Vor dem Hintergrund zunehmender Krisen, chaotischer Entwicklungen und Bedrohungen werden immer mehr Bürger auf dem Archipel der Globalisierung die zunehmende Entdemokratisierung und technokratische Steuerung in Kauf nehmen oder sogar begrüßen. In diesem Prozess würde vieles von dem, was wir heute als „westliche Kultur“ verstehen und schätzen, sich wieder auflösen. In einer Perspektive, die von der Rekonstruktion „werdender Vernunft“, ihrer evolutionären Ausdifferenzierung in the long run und ihrer Errungenschaften und Potentiale heute geleitet ist, könnte man die gegen249

wärtigen Exzesse des religiösen und politischen, des technokratischen und wirtschaftlichen Patriarchats optimistisch als „Rückzugsgefechte“ gegen eine sich evolutionär anbahnende Selbstbeobachtung „vierter Ordnung“ und eine „vierte Kultur“ deuten, die die humanen Errungenschaften der kultureller Evolution aufnehmen und weiter entfalten könnte. Demgegenüber erscheinen aus der Sicht der Ausdifferenzierung, der immer erneuten und auch gegenwärtigen Durchsetzung und Reproduktion des „systemisch Bösen“ und der „beharrenden Unvernunft“ die Annahme einer evolutionären Drift zur „vierten Kultur“ und die Vorstellung einer Entfesselung und Verwirklichung der Potentiale des „systemisch Guten“ als „werdende Vernunft“ in lernenden Organisationen eher als unrealistisch und „romantisch“. Man kann also mit Blick auf die Zukunft der westlichen und sich verwestlichenden Kultur das Glas als halb leer oder halb voll betrachten. Die umrissenen Schattenseiten und Krisen der westlichen Kultur und ihre mögliche Verstärkung und Kumulation im „worst case Szenario“ der Zukunft zeigen eine (selbst)destruktive Drift, eine „beharrende Unvernunft“, die nahe legt, den heutigen Zustand als ein bislang halb geleertes und sich weiter leerendes Glas zu interpretieren. In dieser Perspektive ist eine Zukunft denkbar, in der ein „vierter Weltkrieg“ (Jean Baudrillard) in Gestalt vieler verstreuter, nicht voraussehbarer und nicht endender Eruptionen der Gewalt und der gewalttätigen Aneignung von Ressourcen sowie die Sicherheitsund Stabilitätspolitik eines post-demokratischen, technokratisch und ökonomistisch verkürzten Globalmanagements sich gegenseitig verstärken und eine „Abwärtsspirale“ bilden. 207) Andererseits lässt sich  –  auch in Übereinstimmung mit vielen Analysen und Diagnosen  –  die evolutionäre Ausdifferenzierung und eigengeschichtliche Entwicklung der kulturellen Lebensform und darin der westlichen Kultur durchaus in mancher Hinsicht als humaner Fortschritt und „werdende Vernunft“ bewerten und der heutige Zustand als ein bislang halb gefülltes und sich weiter füllendes Glas betrachten. 208) Vor diesem Hintergrund könnte in Zukunft auch eine „vierte Kultur“ Gestalt annehmen, in der die „Normativität der Freiheit“, die intuitive Sittlichkeit der Bürger und ihre zivilgesellschaftliche Gestaltungsmacht sich mit einer weiteren Ausdifferenzierung und Durchsetzung der „befreienden Normativität“ westlicher Systemarchitektur und ihrer impliziten Ethik koppeln, sich wechselseitig verstärken und eine „Aufwärtsspirale“ bilden. Wie die „Abwärtsspirale“ beharrender Unvernunft, stellt auch die „Aufwärtsspirale“ werdender Vernunft eine realistische Möglichkeit zukünftiger Entwicklung dar. Insofern lässt sich die Feststellung von Slavoj Zizek „Davon zu träumen, wie es anders sein könnte, ist ein Zeichen gedanklicher Feigheit“ 209) zurückweisen – auch weil die hier rekonstruierten evolutionären Errungenschaften und Potentiale des „systemisch Guten“ mehr als ein Traum sind. Vielmehr scheinen wir uns real an einer komplexen Gabelung (Bifurkation) von Entwicklungen zu befinden, die unsere Zukunft bestimmen werden. Kann die gegenwärtige kapitalistische Formatierung, Europäisierung und Globalisierung der westlichen und sich verwestlichenden Kulturen und der sie stützenden neo-liberalen und neo-darwinistischen Deutungsmuster ihre weitere wirtschaftliche, politische und kulturelle Hegemonie (auch wegen vermeintlich mangelnder Alternativen) sichern – und wenn, wie lange noch? Oder werden sich weltweit „Demokraturen“, nämlich ein autoritärer und aggressiver Entwicklungsnationalismus der „harten Grenzziehungen“ durchsetzen und verbreiten, der zunächst, Sicherheitsbedürfnissen folgend, demokratisch gewählt wurde? Und werden sich dann diese Nationalstaaten zu einem durch ökologische Katastrophen getriebenen und durch künstliche Intelligenz gestützten Globalmanagement verbinden, das nicht länger demokratisch legitimiert ist? Oder könnte sich im Rahmen der Globalisierung von Zivilgesellschaft, in den demokratischen Ansätzen einer „gekonnten Einhegung und Regulation“ des Kapitalismus., in den vielfältigen Experimenten und Auswegen zu einer Tätigkeitsgesellschaft, in den Übergängen politischer Steuerung zu „geteilten Souveränität“ eine von hier ausgehende Selbsttransformation westlicher Kultur ankündigen, die in eine „vierte Kultur“ münden könnte? 210) 250

Im Folgenden konzentrieren wir uns auf Möglichkeiten und Perspektiven der Mitgestaltung eines humanen Fortschritts in Richtung auf eine „vierte Kultur“ in Europa. Dazu werden zunächst regulative Ideen und Leitorientierungen skizziert, die sich als Konkretisierung der („von Natur aus“) nicht-logozentrischen impliziten Ethik der drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken verstehen und ihre (im westlichen Pfad geleistete) Reflexion in einer explizit post-logozentrischen (religiösen wie post-religiösen) Ethik einbeziehen (Kap. V) Anschließend werden daran orientierte Wege einer organisierten Mitgestaltung Europas umrissen (Kap. VI)

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V. Regulative Ideen und Leitorientierungen zur Zukunftsgestaltung Europas „Der Verstand unterscheidet zwischen möglich und unmöglich. Die Vernunft unterscheidet zwischen sinnvoll und sinnlos. (…) Es ist Zeit, dass die Vernunft auf den Plan tritt, um das, was heute möglich ist, noch rechtzeitig auf das Sinnvolle zu beschränken.“ (Max Born) Im Folgenden wird versucht, die Früchte unseres Rekonstruktionsversuchs zu „ernten“, indem wir zu unserer Ausgangsfrage nach der Zukunft Europas zurückkehren und die in der Rekonstruktion begründete Zukunftsvision einer „vierten Kultur“ wiederaufnehmen. Damit ist nicht ein Zustand gemeint, der sich evolutionär, quasi automatisch einstellen wird, sondern ein Prozess der kulturellen Landschaftsbildung und Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ und einer „werdenden Vernunft“, zu dem die Bürger durch intuitive Sittlichkeit, Urteilskraft und eine daran orientierte verantwortungsbewusste Mitgestaltung Europas – insbesondere in den Dimensionen der Gemeinschafts‑, der Gesellschaftsbildung und der Technik – beitragen können. Unserer Zielsetzung einer „Modellierung in praktischer Absicht“ folgend wechseln wir von der rekonstruktiven und analytischen Perspektive in die Rolle von Betroffenen und Akteuren der Mitgestaltung westlicher Kultur in Europa. Orientierungen für Mitgestaltung können mit Blick auf privates und kollektiv organisiertes Handeln formuliert werden: • Als Angebot an die Menschen, sich der natürlichen Einbettung und Grenzen ihres Lebens zu vergewissern und ihrer intuitiven Sittlichkeit zu folgen: also in der Ausgestaltung ihrer Lebensführung, sich für (ästhetische) Erfahrung und Anerkenntnis des Nicht-Identischen zu öffnen und ihre darin begründete Freiheit zu ergreifen und zu verteidigen und sich darüber hinaus in ihren gemeinschaftlichen Nahbeziehungen um Empathie und Wahrhaftigkeit, in ihren gesellschaftlichen Beziehungen um Anerkennung und Gerechtigkeit und in ihren objektivierenden Bezugnahmen auf ihre Umwelten um Sachbezogenheit und Wahrheit zu bemühen. Dabei kann man hoffen und erwarten, dass Menschen, die diesen Orientierungsrahmen verstehen und für sich persönlich akzeptieren, dies auch an ihre Mitmenschen weitergeben können. • Als Angebot an die europäischen Bürger, die gegenwärtige phänotypische Landschaftsbildung „ihrer“ europäisch-westlichen Kultur systemisch reflektiert und orientiert an ihrer impliziten und expliziten Ethik kritisch ins Auge zu fassen und sich in ihrer organisierten Mit- und Umgestaltung zu engagieren. Auf beiden Wegen können die Bürger zu Erhalt, Pflege und Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ und zum Werden einer „vierten Kultur“ beitragen. Im Folgenden geht es vor allem um den zweiten Weg und Beitrag: Möglichkeiten kollektiv organisierter Mitgestaltung und Differenzierung der Systeme westlicher Kultur aus der Sicht von engagierten Bürgern, die Orientierungen, neue Perspektiven und Wege suchen und zur Diskussion stellen. Dabei könnten und sollten Intellektuelle zwischen der intuitiven Sittlichkeit und Alltagserfahrung der Bürger einerseits und den Wissensbeständen, den reflexiven und normativen Gehalten 252

religiöser wie auch post-religiöser (philosophisch und wissenschaftlich gestützter) Selbstbeobachtung westlicher Kultur andererseits vermitteln. Wie in allen kulturellen Lebensformen sind auch im europäisch-westlichen Pfad Systemdifferenzierung und Persönlichkeitsbildung der Menschen zirkulär gekoppelt. Auch hier vollziehen sich kulturelle Landschaftsbildung und Systemdifferenzierung durch Generationenfolge und Bildungsprozesse der involvierten Individuen hindurch und diese Bildungsprozesse müssen ganz wesentlich die Einübung in die Vollzüge der evolutionär ausdifferenzierten kulturellen Alltags- und Glaubenspraktiken und ihre implizite und explizite Ethik enthalten. Weil kulturelle Systembildung/​‑differenzierung und ihre phänotypische Landschaftsbildung mit Persönlichkeitsbildung der involvierten Individuen zirkulär gekoppelt sind, lassen sich die im Folgenden skizzierten Leitorientierungen einer verantwortungsbewussten Mit- und Zukunftsgestaltung Europas als Bildungsprogramm in einem zweifachen Sinn lesen: Es geht um eine reflexiv und selbstkritisch angeleitete Mitgestaltung kultureller Landschaftsbildung und Systemdifferenzierung durch Veränderung, Ergänzung und Verbesserung von Strukturen, Institutionen und Organisationen einerseits und um eine Beeinflussung der Erfahrungen, Fähigkeiten und Einsichten, der Deutungsmuster und Glaubensgehalte der Bürger und hier insbesondere der jungen Generationen andererseits – wobei beide Wege sich gegenseitig stützen können. Im Folgenden wird die Vision der „vierten Kultur“ als Leitorientierung konkretisiert und ihre normativen Gehalte als Regulative einer verantwortungsbewussten Mitgestaltung westlicher Lebensform „ausbuchstabiert“. Dazu wird unterschieden zwischen Regulativen, die sich aus der Einsicht in die Strukturähnlichkeit natürlicher und kultureller System- und Landschaftsbildung ergeben, solchen, die sich aus der Rekonstruktion der Eigenlogik kultureller Evolution ergeben und schließlich Regulativen, die man aus der Eigenlogik westlicher Kultur ableiten kann.

V. 1 Von der natürlichen Evolution lernen „Systemisches Denken lehrt uns eher, dass es keine schlauen allgemeingültigen Rezepte gibt für eine optimale Steuerung. Die Fähigkeiten steigen, wenn man die Zahl der möglichen Optionen zu vermehren sucht und nicht bestimmte Optionen auf ein als ‚richtig‘ angenommenes Ziel hin maximiert. Systemisches Denken bedeutet vielleicht, mehr umsichtig, aufmerksam, flexibel, offen, kooperativ zu sein. Wenn wir das System überhaupt nicht kennen, ist defensives Verhalten – Moderation und Behutsamkeit – vorteilhaft, da Lernprozesse ‚auf dem Wege‘ eine Chance haben.“ (Hans Peter Dürr) Wenn „unser“ Universum und darin auch die kulturelle Lebensform in großen Anteilen nichtlinear dynamisch und eher einem „Wollknäuel“ (Hans Peter Dürr) vergleichbar sind, sollte man sich nicht darin verhalten, als ob es ein Legobaukasten wäre. Hier kann man sich jede Handlung und Intervention als eine „Fuselbildung“ vorstellen, die auch neue Verbindungen herstellt und damit das „Wollknäuel“, wie auch immer geringfügig, verändert und seine weitere Entwicklung beeinflusst. 1) Diese Einsicht kann grundsätzlich das Vertrauen der Bürger in die Wirkmächtigkeit ihres persönlichen Engagements und Handelns stärken, sollte aber auch zur Vorsicht und Behutsamkeit im Umgang mit unserer Kulturlandschaft und durch diese hindurch mit Umweltdynamik und einbettenden Systemen motivieren. Der hier versuchten Rekonstruktion folgend sollten organisierte Interventionen und Mitgestaltung in (An)erkenntnis der Komplexität und der nichtlinearen, nicht voraussagbaren, geschweige denn steuerba253

ren Eigendynamik kultureller Landschaftsbildung nur in kleinen Schritten und langsam, in „Bergsteigermanier“ (Hans Peter Dürr) und „Gemächlichkeit“ (Peter Kafka) erfolgen – wobei sie sich am Vorbild des Lebens orientieren können. 2)

Weiche Grenzziehungen „Denn in Wirklichkeit gibt es ja nicht nur die phantastische Genauigkeit (…), sondern auch eine pedantische, und diese unterscheiden sich dadurch, dass sich die phantastische an die Tatsachen hält und die pedantische an Phantasiegebilde.“ (Robert Musil) Ein allgemeines und umfassendes, in der Evolution des Lebens verwurzeltes Regulativ ist die Ausrichtung der kulturellen Lebensform auf „Gelingen“ durch Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“, was man auch als „Lebenskunst“ verstehen kann. 3) Deren psychologische „Innenseite“ ist die menschliche Urteilskraft, in der ebenfalls die Balance ästhetischer Öffnung und begrifflicher Schließung eine entscheidende Rolle spielt. In dieser Balance können kohärente „kulturelle Landschaften“ in zwei Ausprägungen entstehen, die sich gegenseitig stützen und bedingen: nämlich als gemeinsame Lebensformen und als personale, „innere Landschaftsbildungen“ der Individuen. Zur Lebenskunst in weichen Grenzziehungen und zur kohärenten inneren und äußeren Landschaftsbildung gehört ein gekonntes „Hineinlassen“ des Anderen in die kulturelle Ordnung und eigene Lebensform  –  als Hineinlassen der Mitnatur, der Pflanzen und Tiere (z.  B. ganz konkret auch in die Planung, Konstruktion und Ausgestaltung der Architektur von Städten, Stadtteilen und Häusern ) und der „sozialen Anderen“ (u. a. der Migranten) in die eigene kulturelle Lebensform und Gesellschaft wie auch als „Hineinlassen“ und Entfaltung der menschlichen, inneren Natur in sozialisatorischen Gemeinschaftsbildungen. 4) In diesem Rahmen kann das Regulativ der Lebenskunst als Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ mit Blick auf die Vollzüge der drei kulturkonstituierenden Praktiken – Technik, Sozialisation und Gesellschaft – spezifisch gefasst werden: • „Weiche Grenzziehung“ kann im Rahmen umweltobjektivierender Praxis die technische Verarbeitung, Nutzung und Mitgestaltung von Umweltdynamik lenken, sich in der intuitiven Sittlichkeit der Bürger als Sachbezogenheit ausprägen und seine Explikation in der Selbstverpflichtung zur (immer erneuten) Suche nach Wahrheit (der zugrunde gelegten Behauptungen, Argumente, Theorien etc.) finden. • Auch im Rahmen sozialisatorischer Praxis  –  der Ausgestaltung menschlicher Nahbeziehungen in Gemeinschaftsbildung – kann die Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ ihre Vollzüge lenken, sich psychologisch vor allem als Empathie ausprägen und als (immer erneutes) Bemühen um Wahrhaftigkeit expliziert werden. • Schließlich kann auch gesellschaftliche Praxis  –  das Flechtmuster von Markt, Staat, Demokratie und Recht – dem Regulativ „weicher Grenzziehung“ folgen, sich in der intuitiven Sittlichkeit der Bürger vor allem als reziproke Anerkennung und Gerechtigkeitsempfinden ausprägen und seine Explikation als Aufforderung zur Universalinklusion und zur (immer erneuten) Suche nach Gerechtigkeit finden. Erhalt, Lern- und Entwicklungsfähigkeit dieser Alltagspraktiken, ihre dynamische Stabilität, ihre weitere Ausdifferenzierung und Viabilität sind daran geknüpft, dass die Bürger in diesen Praxisvollzügen ihre Freiheit ergreifen, ihrer intuitiven Sittlichkeit folgen und so diese Systeme immer erneut „öffnen“ und entlang der oben genannten Regulative kritisieren und korrigieren können. Entscheidend ist also, dass die Bürger 254

ihre produktive Irritation und Verunsicherung zulassen, pflegen und als Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit Suchende (und nicht als ihre „Besitzer“) verstehen und entsprechend handeln. Zur Lebenskunst gehört, dass in den Vollzügen der drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken der ästhetischen und intuitiven Bezugnahme auf Umweltdynamik und einer damit auch verbundenen Unschärfe ein höherer Stellenwert eingeräumt werden, weil hier wissenschaftlich-begriffliche Genauigkeit allein, durch „Zerlegung“ der Situationen und ihrer Probleme nicht nur nicht an diese heranreichen, sondern sogar ihr angemessenes Verständnis verstellen können. Das liegt auch daran, dass mit zunehmender Komplexität der Systeme alle Versuche ihrer präzisen begrifflichen Fassung an Signifikanz verlieren. 5)

Gärtnerische Mitgestaltung und organisierte Differenzierung Mit Blick auf die Viabilität einer kulturellen Lebensform kann ihre Mitgestaltung nur in lernenden Organisationen gelingen, die Öffnung und Schließung ausbalancieren, indem sie gleichsam am Rande des Chaos navigieren und auch in der Zeit „weiche Grenzen“ ziehen: zur Vergangenheit durch ihre immer erneute und veränderte Deutung und begriffliche Aneignung, in jeder Gegenwart als „Wechselspiel“ von ästhetisch- spielerischer Resonanz und Kohärenzerzeugung und (vorläufig) festlegender Unter- und Entscheidungen und mit Blick auf die Zukunft als Erwartung des Unvorhersehbaren und als Offenhalten für mögliche Zukünfte. Die phänotypische Landschaftsbildung der Kultur wird nicht nur durch ihre (evolutionär bereits ausdifferenzierten) Konstruktionsregeln generiert, sondern wirkt auch auf diese zurück, beeinflusst hier ihre weitere konstruktive wie auch (selbst)destruktive Ausdifferenzierung. Wenn es also, wie hier angenommen, möglich ist, in einer Öffnung und Schließung ausbalancierenden Mitgestaltung der kulturellen Landschaftsbildung auch eine intentional „organisierte Differenzierung“ (Helmuth Willke) des „systemisch Guten“ auszulösen, sind weniger „Macher“, die in ihrer Mentalität, ihren Handlungen und „starken“ Organisationen „harte Grenzziehungen“ zu ihren Umwelten praktizieren und konservieren, dafür geeignete Akteure, sondern eher Menschen und Netzwerke, die in sich auch Fähigkeiten von Gärtnern und Künstlern verbinden und in lernenden Organisationen und „weichen Grenzziehungen“ die „Landschaften“, in denen heute Natur und Kultur unlösbar verflochten sind, beobachten und pflegen können. 6)

Umgang mit der Mitnatur „Die Menschheit kann nicht befreit werden, indem man die Natur versklavt.“ (Rabindranath Tagore) „Das ist das Wissen darum – erstens, dass die Natur Grenzen hat, dass wir in Gleichgewichten denken müssen, und dass der Natur selber ein Wert zukommt, so dass wir bei der Art und Weise, wie wir Produktion und Energieverbrauch Gestalten, wir uns ins Verhältnis zur Natur setzen müssen. Das ist ein grundlegend anderes Denken. Und insofern ist das Spannende an diesem Diskurs, dass nicht zwei technische Varianten miteinander ringen, sondern hinter den verschiedenen technischen Ansätzen stehen zwei grundlegend verschiedene Positionen; eine klassisch-anthropozentrische und eine ökologisch denkende biozentrische, die auf den Gesamtzusammenhang der Lebensverhältnisse ausgerichtet ist.“ (Günter Altner) 255

Zu den destruktiven Folgen des „systemisch Bösen“ gehört insbesondere die Erosion natürlicher, humanspezifischer und sozialer Ressourcen der kulturellen Lebensform. Dabei bilden die Ressourcen der Mitnatur ein Fundament, mit dessen Zerstörung, wie viele Beispiele der Geschichte zeigen, zwangsläufig auch humane und soziale Ressourcen schrumpfen und sich auch mögliche kulturelle Entwicklungsspielräume und ‑korridore verengen und schließen. Spielräume für eine Mitgestaltung der westlichen Kultur entlang der genannten Regulative können daher nur entstehen, ausgebaut und genutzt werden, wenn zunächst und grundsätzlich die Einbettung der kulturellen Lebensform in die Systeme der Natur und ihre damit verbundenen Möglichkeiten und Grenzen (an) erkannt werden. Die natürliche „mundiale“ Welt, die die kulturelle „mundane“ Welt übergreift und einbettet, muss anders gedacht und – als Konsequenz dieses Denkens – zur „Partnerin“ eines neuen differenzierten Vertrages ernannt werden, um die teils unbewusste Gewalt und den Krieg gegen sie bewusst zu machen und zumindest „einzuhegen“. 7) Diese neue Partnerschaft zwischen Mensch und Natur muss mit Blick auf die unbelebte Mitnatur, auf Leben und Biodiversität und in Bezug auf (kognitiv-seelisch) hoch entwickelte Lebensformen unterschiedlich ausgestaltet werden.

Qualitatives Wachstum und Entschleunigung „Alle Guten sind genügsam.“ (Johann Wolfgang Goethe) Evolution ist mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, demzufolge die Entropie immer zunimmt, vereinbar, weil auch durch ihre Form- und Ordnungsbildungen und die damit verbundene Steigerung der Energie- und Materieflüsse hindurch die Entropie im Universum zunimmt. Für natürliche und kulturelle Evolution ist allerdings entscheidend, wo die Entropie aktuell zunimmt: ob im Wesentlichen nur in der Sonne oder auch auf der Erde und die hier entstandenen (physikalischen und chemischen, biologischen und kognitiven, kulturellen und sozialen) Ordnungen und Balancen wieder auflöst. Die gegenwärtige Beschleunigung westlicher Lebensform und der Energie- und Materieflüsse ist ökologisch und anthropologisch, gesundheitlich und psychisch schädlich, schränkt Beobachtungs- und Urteilsfähigkeit ein, führt zu unterkomplexen Modellierungen und übereilten Entscheidungen, begünstigt den Einfluss von Lobbyisten und ein technokratisches Management. All dies macht „Abstürze“ in Entropie hier auf der Erde wahrscheinlicher. 8) Entschleunigung ist deshalb nicht nur mit Blick auf die technologische Aneignung und Transformation der Mitnatur, sondern in allen Bereichen unserer westlichen Lebensform dringend geboten. Mit Blick auf angemessene Größe und Geschwindigkeit der Mitgestaltungsschritte kann man von der Evolution des Lebens einiges lernen.

Vom Leben Nachhaltigkeit lernen „Ökologie ist biologische Ökonomie.“ (Berndt Heydemann) „Eine erfolgreiche Technik setzt voraus, dass der Realitätssinn Vorrang vor der Öffentlichkeitsarbeit hat, denn die Natur lässt sich nicht betrügen.“ (Richard P. Feynman) 256

Wenn Verfechter des Wirtschaftswachstums gerne die Formel verwenden „Wirtschaftswachstum ist nicht alles, aber ohne Wirtschaftswachstum ist alles nichts“, dann ist das zwar nicht ganz falsch, sofern man ökonomisches Wachstum als eine numerische Größe verstehen kann, deren Anstieg in Zukunft nicht notwendig mit einer zunehmenden Vernutzung und Verbrennung natürlicher Ressourcen verbunden sein muss. Diese Formel muss aber durch die noch allgemeinere Formel „Ökologie ist nicht alles, aber ohne Ökologie ist alles – also auch die Wirtschaft und das Wachstum – nichts“, gerahmt werden. Die Erde ist eine energetisch offene, aber mit Blick auf Materieflüsse weitgehend geschlossene Ordnungsbildung, in die sich die Kultur und ihre Formbildungen ebenso einfügen müssen wie das Leben. Das Leben leistet dies u. a. durch Begrenzung der Materiedissipation in Kreislaufwirtschaft und ökologischer Vernetzung, durch Balance zwischen Konservierung und Innovation, durch qualitatives Wachstum, „Gemächlichkeit“ (Peter Kafka) und Vielfalt. Es hat Konstruktionsregeln der Ordnungs- und Formbildung, bildlich gesprochen, eine „software“ entwickelt, die auf der „hardware“ der prä-biologischen, kosmischen und terrestrischen Gegebenheiten nachhaltig „läuft“. Insofern hat Leben, vergleichbar mit einer „Firma, die fünf Milliarden Jahre nicht pleite gemacht hat“ (Frederic Vester), eine nachhaltige „steady state-economy“ entwickelt. Dieser quasi stationäre Zustand des Lebens auf der Erde bezieht sich auf die Begrenzung quantitativen Wachstums und der damit verbundenen Energie- und Materieflüsse, aber nicht auf seine qualitativen Systemdifferenzierungen und Formbildungen, die sich in darwinistischer Evolution und Verzweigung von Arten bis heute fortsetzen. Wenn die Kultur eine Zukunft auf der Erde haben will, muss sie sich bionisch, am Vorbild des Lebens und seiner Ökologie orientieren und ihre Ökonomie und ihre Technologien von quantitativem, materiellem auf qualitatives, weitgehend dematerialisiertes Wachstum, von ungekonnter Verbrennung auf begrenzte Nutzung, Erhalt und Pflege der Naturressourcen umstellen. Dann könnte auch die „software“ der Kultur nachhaltig auf der natürlichen „hardware“ laufen und weiterhin vielfältige Formbildungen und – differenzierungen hervorbringen. 9) Die Zielvorstellungen einer Selbstkorrektur, um „das menschliche Produktions- und Konsumverhalten wieder an die natürlichen Regenerationskapazitäten und -potentiale anzukoppeln“ (Günter Altner), kann man unter dem Begriff der „starken Nachhaltigkeit“ zusammenfassen. 10) Diese impliziert Erhalt und Pflege der Natur als einer einmaligen nicht-substituierbaren Form- und Systembildung und als mediales Substrat der Kultur. 11) Insofern unterscheidet sich dieser Ansatz deutlich vom Konzept der „schwachen Nachhaltigkeit“, das Natur als „Naturkapital“ fasst und dieses als substituierbar durch Sachkapital, Wissen oder Technologien betrachtet. 12) Die systemevolutionäre Perspektive ähnelt dem Blick aus dem Flugzeug auf die Erde: Wir sehen Landschaften, und wenn wir uns lange genug da oben aufhalten könnten, würden wir Wachstumsprozesse und Musterbildungen sehen, in denen Natur und Kultur unlösbar miteinander verflochten sind. Diese geben uns Hinweise darauf, welche Wirtschaft die Natur brauchen würde. Wir können hier Maß nehmen, ein Modell optimaler Einpassung unserer Praxis in Naturprozesse entwickeln oder, wie Hans-Peter Dürr formuliert hat, eine „Ökonomie überlebensfähiger Ordnungen“ entwerfen. Darüber hinaus kann diese Betrachtungsweise uns aufmerksam machen auf das, was derzeit passiert und was wahrscheinlich in Zukunft noch geschehen wird, wenn wir nicht radikal umdenken und unsere Praktiken verändern. 13) Schließlich lassen sich derzeitige Beschleunigung und Chaos auch als Vorphase eines neuen qualitativen Sprungs der kulturellen Evolution deuten, in der sich Keimbildungen der Entstehung des Neuen identifizieren und ggfs. auch verstärken lassen. Das kann das Bemühen stützen und orientieren, von einem nachsorgenden kompensatorischen „Umweltschutz“ zu einem vorsorgenden Schutz und Erhalt des einbettenden Ökosystems und seiner evolutionären „Plastizität“ in der Kultur zu kommen, damit diese im Rahmen des Naturhaushalts wieder tragbar und zukunftsfähig wird. Darüber hinaus begründet die (An)erkenntnis von Leben als subjektiver Geist eine „Ethik der Lebensverträglichkeit“ und einen „gestuften Artenschutz“ (Günther Altner) und muss zu einem entsprechenden Einbezug der Lebewesen in die Rechtsgemeinschaft und zu einer (quasi)hermeneutischen Beziehung im wissenschaftlichen wie alltagspraktischen Umgang mit ihnen führen. 257

Differenzierter Einbezug aller Lebewesen in die Rechtsgemeinschaft „Letztlich gibt es nur eine Art Leben auf diesem Globus. Mit jeder Spezies, die ausstirbt, verlieren wir quasi ein Stück von uns selbst.“ (Ernst Ludwig Winnacker) Die Subjektivität des einen, sich in organischer, kognitiver und kultureller Evolution ausdifferenzierenden Geistes führt zwanglos zur Anerkenntnis einer fundamentalen und verpflichtenden Verwandtschaft der Menschen mit allen Lebewesen. Wir erleben die anderen Organismen und ihre Autopoiesis intuitiv (in Anteilen wohl schon in unsere genetische und neuronale Ausstattung eingeprägt) als verwandt, als interpretationsbedürftig und Empathie und Mitgefühl fordernd und sprechen ihnen Kohärenz und Schönheit und auch (artspezifische und individuelle) Autonomie und Würde zu. Diese legt uns Achtsamkeit, Respekt und ihre Inklusion in unsere sozialisatorische, naturpflegende und entfaltende, wie auch in die gesellschaftliche Praxis der sozialen Anerkennung und in ihre rechtliche Regelung nahe. 14) Die heutigen Erkenntnisse zur Empfindungsfähigkeit, zur Psyche von Tieren und zur Komplexität (bis hin zur Kulturähnlichkeit) ihrer Lebensformen 15) legen nahe, dass auch das Verhalten der Tiere mit zunehmender Komplexität einer impliziten Ethik folgt – auch wenn ihnen die Möglichkeiten ihrer Reflexion und Explikation fehlen, die sich bislang nur in kultureller Selbstbeobachtung entwickeln konnten. Auch diese unterschiedlich ausdifferenzierte implizite Ethik des Verhaltens der Tiere begründet ihre Würde und kann ihre Inklusion in die Rechtsgemeinschaft in Form eines „gestuften Artenschutzes“ (Günter Altner) anleiten, der bei der Besonderheit der Arten ansetzt. 16) Konsequenterweise wären das Wohl und die Interessen der Tiere – vertreten durch qualifizierte menschliche Anwälte – auch in die kulturelle Selbstbeobachtung und die ethische Reflexion einzubeziehen.

Kommunikationsgemeinschaft und gestufte Dialogpraxis mit höheren Lebensformen „Mir scheint, als sei das tiefgehendste Merkmal der menschlichen Schwäche unsere Unfähigkeit, mit den Tieren zu kommunizieren … Noch hat der Mensch eine Chance, sein Wesen besser zu erfassen, zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, die weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen –, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze.“ (Claude Levi-Strauss) Auch die Wahrnehmung, Beobachtung und Interpretation der neuronal kognitiven Leistungen der Tiere ist in der westlichen Kultur, trotz vieler Fortschritte bis heute, unterkomplex. Im Rahmen der Biologie und der Kognitionswissenschaften sollte die objektivierende Analyse der organischen, neuronalen und kognitiven Prozesse (mehr als bislang) durch die Entwicklung empathischer und dialogisch-hermeneutischer Beziehungen ergänzt werden. In diesen Beziehungen könnten wir lernen, die „Subjektivität“ des Lebens (an) zu erkennen und darüber hinaus uns selbst als Ausdifferenzierung und Teil dieser Subjektivität zu reflektieren, die Menschen und Tiere miteinander verbindet. Erst eine Synthese der objektivierenden, Wahrheit suchenden Bezugnahme auf die Natur mit einer subjektivierenden, empathischen und kommunikativ dialogischen Bezugnahme auf Leben und Kognition der Tiere würde den Weg für ihr besseres Verständnis und einen angemesseneren, gerechten Umgang der Menschheit mit diesen eröffnen. 258

Das führt eine gestufte Dialogpraxis nicht generell in die Naturwissenschaften, aber in die Lebens- und Kognitionswissenschaften ein. Wir können zwar nicht mit Mineralien und Steinen und sicher nicht sehr ergiebig mit einem Salatkopf kommunizieren, aber wir können und sollten uns um eine mehr dialogische Beziehung zu Tieren bemühen, und zwar umso zwingender und intensiver, je komplexer sie entwickelt sind, um ihre Eigenart, ihre Ansprüche und ihre Würde angemessen wahrnehmen und (an)erkennen zu können. 17) Auf diese Weise würden auch im Interesse der Menschen die bisherigen Grenzen ihrer Kommunikation in Richtung auf eine werdende Kommunikationsgemeinschaft der Lebewesen auf der Erde und darüber hinaus erweitert. Bislang sind nur die Menschen aufgrund ihrer kognitiven und kommunikativen Potentiale in der Lage und vielleicht in gewisser Weise auch verpflichtet, diesen Schritt zu tun. Einerseits gibt es dafür viele „Keimbildungen“ in Gestalt entsprechender Bedürfnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Tierfreunde, in ihren vielfältigen Initiativen für die Rechte der Tiere und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Wild- und Nutztiere. Aber darüber hinaus sind die Chancen, menschliche Selbsterfahrung durch Fremderfahrung der „anderen Tiere“ zu bereichern, noch zu wenig genutzt.

V. 2 Von der kognitiven Evolution lernen und sie mitgestalten „Das Gehirn ist, verschlossen in seinen Schädel, bereits sozial. Doch wir wissen nicht, wie wir das zeigen können.“ (Dirk Baecker) Die kulturell-kognitive Evolution der Menschheit ist hervorgegangen aus einer biologisch-kognitiven Evolution und bildet ihrerseits Voraussetzung und Entwicklungsrahmen für die gegenwärtige Entstehung einer technologisch-kognitiven Evolution. In diesen drei Evolutionen entstehen kognitive Leistungen emergent in einer mit Umweltdynamik strukturell gekoppelten Co-Evolution neuronaler Körpernetzwerke der involvierten (natürlichen und artifiziellen) Individuen und ihres semiotisch vermittelten Verhaltens. Hier sind die geistigen Leistungen der involvierten Individuen- von den artspezifischen kognitiven Leistungen der Tiere über die der Menschen bis zu den kognitiven Leistungen künstlicher Intelligenz  –  vor allem eine Emergenz der Dynamik von Netzwerken, die sich weiter miteinander vernetzen. Wie schon angedeutet, sind in dieser Dynamik – beginnend mit den genetischen Netzwerken der Organismen über die neuronalen Netzwerke der Körper/​Gehirne (Connectome) bis hin zu den memetischen (symbolischen) Netzwerken der Kultur und vermutlich auch in den artifiziellen Netzwerken technischer Intelligenz– immer Leistungen der „Öffnung“ durch Resonanz, Kreativität und Imagination mit solchen der „Schließung“ durch Konservierung, Regel- und Gedächtnisbildung zirkulär gekoppelt. 18) Aus all dem lässt sich auch die Anregung entnehmen, die zirkuläre Koppelung von Netzwerkbildung und kognitiver Leistung, von kollektiver und individueller Weisheit in unserer westlichen Lebensform zu fördern.

Die Weisheit von Netzwerken und Individuen entfalten und nutzen „Uneinigkeit macht stark.“ (Hans Magnus Enzensberger) 259

In der Kultur entfaltet sich die Weisheit sozialer Netzwerke durch die Weisheit der involvierten Individuen hindurch und vice versa – was allerdings auch für Dummheit, Flachheit des Fühlens, Denkens und Kommunizierens und die Gewalt des Handelns gilt. Einerseits können kollektive Urteile, Bewertungen und Orientierungen, die sich emergent in der Vernetzung von (immer unvollkommen informierten) Individuen herausbilden, denen von einzelnen Individuen, selbst wenn sie signifikant besser informiert scheinen, überlegen sein. Insofern können Verschiedenheit und breit gestreute Verteilung individueller und gruppenspezifischer Deutungsmuster einen Beitrag zur intensiveren Erfahrung, Beobachtung und Bewertung der Welt und hierin kultureller Wirklichkeiten und Möglichkeiten leisten und zu sorgfältigeren Unterscheidungen und Entscheidungen und damit zur vernünftigeren Mitgestaltung der Kultur führen. Deshalb sollte zur optimalen Stimulation und Nutzung der „wisdom of crowds“ (James Surowiecki) eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher aufgaben- und problembezogener Netzwerke gebildet werden. 19) Aber die Überlegenheit der (Bürger)netzwerke kommt nur zustande, wenn die hier einbezogenen Individuen der impliziten Ethik der Alltagspraktiken folgen und in deren Licht jeweils Situationen und Probleme erfahren, beurteilen und bewerten können. Partizipation allein reicht nicht, wie Folgebereitschaft und Engagement vieler Bürger für totalitäre Regime zeigt. Dies lässt sich als ein (schon naturphilosophisch und anthropologisch begründbares) Plädoyer lesen, dass Demokratisierung der Gesellschaft und Partizipation der Bürger nur in Verbindung mit der Entfaltung und Pflege ihrer intuitiven Sittlichkeit für die kulturelle Lebensform produktiv sein und ihre Viabilität steigern können. Vermutlich werden auch die künftigen Netzwerke artifizieller Intelligenz nur dann zu einer werdenden „vierten Kultur“ konstruktiv beitragen können, wenn ihre Mitglieder in Sozialisations- und (Selbst)bildungsprozessen ebenfalls eine Art „intuitive Sittlichkeit“ entwickeln können – wobei ihnen dann auch eine zu schützende Würde und ein Rechtsstatus zuzusprechen wäre.

Von der früh- und hochkulturellen Evolution lernen „Die den Wurzeln nahen Urvölker stellen eine Reserve dar. Sie sind keineswegs in der Geschichte zurückgeblieben. Nein, sie stellen eine Reserve dar, um unsere Aufklärer zu sein und uns vor unseren Verrücktheiten zu schützen, indem sie uns die ewigen Gesetze in Erinnerung rufen.“ (Jean Malaurie) Westliche Kultur muss sich mehr für Erfahrung und Reflexion ihrer Herkunft in der kulturellen Evolution auf der Erde öffnen und diese in ihre eigene Landschaftsbildung aufnehmen – nicht im Sinne bloßer Musealisierung, sondern als ein aktives Eingedenken, das ihre Selbstbeobachtung bereichern und neue Orientierungen für die Zukunft und ihre Mitgestaltung eröffnen kann.

Subsistenzökonomie, Nachhaltigkeit und „Freizeitkultur“ So lässt sich von den sog. „primitiven Gesellschaften“ einiges über Subsistenzökonomie und Nachhaltigkeit, über Vorsicht und Behutsamkeit im Umgang mit Umweltdynamik wie auch über „Freizeitkultur“ lernen. Kennzeichnend für viele Früh- und Stammeskulturen sind Unterproduktivität und „Mußepräferenz“ (Bernd Guggenberger), die Risiken verringern und die Viabilität ihrer Lebensformen erhalten. „Unterproduktivität“ meint, dass nur zwischen 10 und 60% der Tragekapazität („carrying capacity“) eines Ökosystems 260

in diesen älteren Subsistenzökonomien genutzt werden. 20) „Mußepräferenz“ umschreibt den Tatbestand, dass beispielsweise Steinzeitkulturen nur zwischen 1–4 Stunden pro Gesellschaftsmitglied und Tag in Arbeit – als Jäger, Sammler oder Hirtennomaden – investieren. Beide zusammen bilden Bausteine einer (noch weitgehend unbewussten) Strategie der Geschwindigkeitsbegrenzung und der Risikominimierung. 21) Auch der Respekt gegenüber dem Leben und den „anderen Tieren“ ist als „Ethik der Lebensverträglichkeit“ (Günter Altner) schon in der frühkulturellen Alltagspraxis entstanden, wurde in der animistischen Glaubenspraxis, im Zuge der Beseelung der Welt explizit und prägt bis heute die intuitive Sittlichkeit vieler Menschen. 22) Vor allem aber sind unsere „Zwischenleiblichkeit“ (Merleau-Ponty), die Körpersprache der Gefühle, unsere Bereitschaft und Fähigkeit, die Gefühle des Anderen zu „lesen“, dabei ein spezifisches Gefühlsgedächtnis auszubilden, das uns, (sofern wir nicht traumatisiert werden) befähigt, in neuen Situationen, sie weiter und besser „lesen“ zu können und in dieser „reziproken Beseelung“ Gemeinschaften zu bilden und ggfs. nachfolgende Generationen zu schützen und zu entfalten, schon in der frühkulturellen Evolution verwurzelt. Sie finden z. B. in heute noch existierenden Stammeskulturen ihren Ausdruck in der persönlichen und kollektiven Kinderbetreuung. Seitdem hat sich kreative Empathie – in Handlungslogik wie auch in der Psyche – evolutionär weiter ausdifferenziert, kultiviert und stabilisiert, was sich u. a. auch darin ausdrückt, dass wir im Laufe der kulturellen Evolution für das sicht- und spürbare Leid der „Anderen“, auch der „Fremden“ empfindsamer geworden sind. Bis heute spielen sozialisatorische, über reziproke Gefühlsinterpretationen in Nahbeziehungen konstituierte Gemeinschaften – Liebe und Partnerschaft, Eltern-Kind-Beziehung, Familie, Freundschaft, Mehr-Generationen-Wohnprojekte, Nachbarschaft u. a. – und die darin sich reziprok herausbildenden Gefühlswelten und Verantwortungsstrukturen auch eine wichtige Rolle im kulturellen Wandel. In Zeiten gesellschaftlicher Transformation können „gelingende“ lokale Gemeinschaften und Netzwerke mit gemeinsamen Gefühlswelten eine doppelte Funktion übernehmen: Einerseits kompensieren sie Erosionen und Brüche in den gesellschaftlichen Beziehungen und andererseits können sie katalytisch und transitorisch für soziale Neuformierungen wirken, indem sie Vertrauen und neue Brücken zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft bilden. Ähnlich wie die Erzeugung einer gemeinsamen spezifisch bürgerlichen Gefühlswelt, die sich sowohl nach „unten“, vom Bauerntum und vom Proletariat wie auch nach „oben“ gegenüber dem Adel abgrenzte, eine wichtige Rolle in der Entstehung bürgerlicher Gesellschaft spielte 23), können auch heute und in Zukunft die Erzeugung neuer gemeinsamer Gefühlswelten in Subkulturen, in zivilgesellschaftlichen Netzwerken und Initiativen mit ihren Einflüssen auf den Zeitgeist und die „Landschaftsbildung“ der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft auch ihre weitere Systemdifferenzierung bahnen. (Sie können sich allerdings auch, wie gezeigt wurde, mit einem Rückzug aus der Gesellschaft, mit einem Verzicht auf ihre Mitgestaltung und einer entsprechenden Entdifferenzierung verbinden). Die Frühkulturen können uns auch lehren, wie schon diesseits der Gesellschaftsbildung, in der Erzeugung sozialisatorischer Gemeinschaften Humanisierung praktiziert und Frieden gestiftet und gepflegt werden kann. Und vielleicht lassen sich hier auch Hinweise finden, wie dieses humanisierende Potential unter Bedingungen moderner Ökonomie und Gesellschaft – z. B. in einer Föderalisierung politischer Steuerung und in selbstorganisierten, lokalen und regionalen, Politik und Wirtschaft mitgestaltenden Bürgergemeinschaften – reaktiviert werden könnte. So könnten hier und heute entstehende lokale und regionale Wirtschafts- und Währungsgemeinschaften, unter Bedingungen einer durch Zinsdruck, Kapitalverwertung und Konkurrenz dominierten Ökonomie und Gesellschaft nicht nur der damit verbundenen sozialen Polarisierung, der Ungleichverteilung von Wissen, Arbeit und Einkommen entgegen wirken und die Seite der Kooperation und der Solidarität in der Wirtschaftspraxis stärken, sondern darüber hinaus generell einen „Wiedereintritt“ und ein Erstarken sozialisatorischer Gemeinschaften und Netzwerkökonomien in der Gesellschaft bahnen. (Zu den hier beobachtbaren „Brückenbildungen“ zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft später mehr.) 261

Auch hochkulturelle Alltagspraxis folgt einerseits der impliziten Ästhetik, Theorie und Normativität sozialisatorischer, gesellschaftlicher und technischer Praxis, die verbunden ist mit einer intuitiven Sittlichkeit der involvierten Individuen, ohne die Kultur nicht bestehen und sich reproduzieren könnte. Über alle Klassen und Schichten hinweg folgen in religiös geprägten Hochkulturen viele Menschen diesen Konstruktionsregeln und tragen in ihren alltagspraktischen Vollzügen zur Viabilität, zur Stabilisierung und Differenzierung der hochkulturellen Lebensform bei. Schon von den antiken Hochkulturen können wir lernen, dass das Bemühen um und die Suche nach Gerechtigkeit als implizite Ethik der Gesellschaftsbildung mit der Entwicklung wirtschaftlicher Beziehungen und der Kooperation verbunden sind, die dem Wettbewerb und den Strategien der Optimierung von Eigennutz vorgeordnet sind und auch in der westlichen Kultur diese rahmen und begrenzen könn(t)en. 24) Darüber hinaus haben insbesondere asiatische Hochkulturen Formen menschlicher Erfahrung, der Spiritualität und der Ausgestaltung einer „Mündigkeit nach innen“ entwickelt, die (trotz mancher modischen und oberflächlichen Ausprägungen heute) das Bemühen westlich sozialisierter Menschen um Wahrhaftigkeit wirksam unterstützen können.

Freiheit, Urteilskraft und Lebenskunst Keine Viabilität kultureller Lebensformen ohne die Entfaltung, Pflege und (An)erkenntnis ihrer impliziten Ästhetik. Resonanz auf Umweltdynamik und Erzeugung von Kohärenz kennzeichnen in Ansätzen schon die Entwicklungen des organischen Lebens und der Kognition, was in der „Kunst“ der Gene und der Neuronen und in der Vielfalt der Form- und Systembildungen des Organischen, des Verhaltens und der Kognition schon im Tierreich zum Ausdruck kommt. Auch kulturelle Praxis ist – durch die Lebens‑, Handlungs- und Erfahrungsvollzüge der involvierten Individuen hindurch – in Resonanz mit Umweltdynamik und erzeugt als kommunikatives Netzwerk kohärente kulturelle „Landschaften“, was in einer „Kunst“ der Meme und in der Vielfalt der Form- und Systemdifferenzierungen der Kultur zum Ausdruck kommt. Deshalb sind die drei kulturellen Alltagspraktiken immer auch implizit ästhetische, (virtualisierend-dekonstruktive und schöpferisch-konstruktive) Leistungen, deren logozentrische Hemmung und Blockierung das „Gelingen“ kultureller Lebensform gefährden. Insofern ist das vielleicht wichtigste Regulativ einer systemisch aufgeklärten Mitgestaltung der westlichen Lebensform, diese ästhetischen Potentiale zu entfalten und zu pflegen, die sich hier als Lebenskunst der Alltagspraktiken, im Bemühen um Kohärenz der Deutungsmuster und als Urteilskraft der involvierten Individuen wie auch in den künstlerischen und wissenschaftlichen Praktiken und in der Philosophie evolutionär ausdifferenziert haben und in Zukunft an Gewicht in der kulturellen Lebensform wie auch in der personalen Identitätsbildung gewinnen sollten, wenn diese zukunftsfähig sein soll. 25) Relative Freiheit und Urteilskraft der Individuen scheinen fragile Errungenschaften der kulturellen Lebensform zu sein, die den involvierten Individuen einen mehr oder weniger reichhaltigen Fluss von Unterscheidungen und Bewusstseinsmomenten eröffnet, mehr oder weniger Chancen bietet, in der (Re)aktivierung und Nutzung von Möglichkeitsfeldern (indem sie z. B. in ihren „träumenden Geist“ hinab- und wiederauftauchen können) zur „Geburt“ neuer Unter- und Entscheidungen beizutragen, die die Dauerkrise der Kultur, das Scheitern von Routinen an Kontingenzen jeweils bearbeiten und überwinden helfen. Ob, wie weit und wie viele Individuen diese Möglichkeit in Lebenskunst und Urteilskraft realisieren können, wäre dann ein mögliches Kriterium der Verwirklichung von persönlicher Freiheit, ihrer Ausdifferenzierung und ihrer „gekonnten“ Ausgestaltung in einer kulturellen Lebensform.

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Freiheit des „Anfangen Könnens“ Von einer so gefassten „condition humaine“ lässt sich auch eine Brücke schlagen zur Bedeutung des „Anfangen-könnens“ in der politischen Philosophie von Hannah Arendt, die mit „Natalität“ nicht nur die Tatsache meint, dass immer wieder Menschen physisch geboren werden, die Neues in die Welt bringen, sondern auch die Möglichkeit des Neubeginns im zwischenmenschlichen Handeln: „Alle Freiheit liegt in diesem Anfangen-können beschlossen. Über den Anfang hat keine zwangsläufige Argumentation je Gewalt, weil er aus keiner logischen Kette je ableitbar ist.“ 26) Man kann sich schwer vorstellen, wo die Möglichkeit zu dieser Freiheit liegen soll, wenn nicht in der impliziten Ästhetik der kulturellen Alltagspraktiken und der damit verbundenen menschlichen Fähigkeit, sich immer wieder aufs Neue in Resonanz, in Virtualisierung des Gegebenen und in kohärenten Entwürfen des Anderen in eine sich sowohl öffnende wie auch schöpferische Beziehung zur Umweltdynamik zu setzen. In diesem Rahmen können die Bürger in ihren alltagspraktischen Vollzügen, in reziproker Empathie, reziproker Anerkennung und in ihren umweltobjektivierenden Bezügen hypothetische Ordnungen (der Gemeinschaft, Gesellschaft und der Technik) in diese Umweltdynamik „hinein“ konstruieren und so die Viabilität der kulturellen wie auch der persönlichen Lebensformen gewährleisten. 27) Es hängt von den in der kulturellen Evolution ausdifferenzierten Systemen, ihrer „befreienden Normativität“ ab, ob und wie weit die Individuen eine auf Zulassen und Erfahrung der Freiheit des (inneren, äußeren und sozialen) „Anderen“ gestützte Urteilskraft und Freiheit zur Lebenskunst und zum Neuanfang entwickeln können oder diese ähnlich wie Betrunkene teilweise oder sogar ganz verlieren, indem sie tendenziell zu „Automaten“ werden. Und umgedreht hängen, wie schon oft betont, Erhalt und Ausdifferenzierung dieser Systeme davon ab, ob die Menschen einer „Normativität der Freiheit“ folgen und ihre Angst und ihre Sicherheitsbedürfnisse überwinden, ihren „ahnenden Geist“ aktivieren und die darin begründete Urteilskraft auch ausüben wollen.

V. 3 Von der Evolution westlicher Kultur lernen Die Systemarchitektur westlicher Kultur wurde hier als „Tempel“ verbildlicht: post-logozentrische dialogische Selbstbeobachtung und Orientierungssuche in immer erneuter Öffnung und schöpferischer Imagination, in Geschichtsrekonstruktion, Gegenwartsinterpretation und Zukunftsentwürfen bilden als System „Kultur der Kultur“ ein flüssiges Fundament, die Alltagspraktiken der Sozialisation, Gesellschaft und Technik, die Wissenschaften und Künste sowie die vielfältigen religiösen und post-religiöse Glaubenspraktiken stellen „Säulen“ dar, während das Recht – mit dem Schutz der Menschenwürde und der Grundgerechtigkeit durch universale soziale Anerkennung im Kern der Verfassung – das „Dach“ bildet. Diese Systemarchitektur der westlichen Kultur ist eine evolutionäre Errungenschaft, die geschützt und gepflegt werden und in ihren Differenzierungen erhalten und gefördert werden sollte.

Post-logozentrische Selbstbeobachtung und Orientierungssuche im System „Kultur der Kultur“ „Humanität ist die Kühnheit, die uns am Ende übrig bleibt, nachdem wir eingesehen haben, dass den Gefährdungen einer universalen Zerbrechlichkeit allein das gefahrvolle Mittel zerbrechlicher Kommunikation selber widerstehen kann.“ (Jürgen Habermas) 263

„Streitkultur ist die beste Leitkultur.“ (Aladin L. Mafaalani) Auch die westliche Kultur ist ein autopoietisches Netzwerk, dass sich durch interne Kommunikation und aktive Gedächtnisbildung reproduziert. Vielfalt und Differenzierung dieser Kommunikation als mediengestützte, extensive und intensive Vernetzung von Individuen, Gruppen, Völkern, Kulturen und ihrer Aktivitäten gehören zu den Bedingungen ihres Gelingens. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer funktional differenzierten und Komplexität reduzierenden Kommunikation, die den Systemlogiken folgt und diese stützt und einer Kommunikation, die wie beschrieben das flüssige Fundament westlicher Kultur kennzeichnet. Hier kann Komplexität gezielt, als produktive Irritation und „Welt der Möglichkeiten“ wie auch als ethische Reflexion in die Kultur wiedereingeführt werden und eine Verständigung auch über Funktionssysteme, ihre Leistungen und ihre Grenzen eröffnen. 28) Beide Formen der Kommunikation und ihre systemische Ausdifferenzierung und gegenseitige Beeinflussung sind für die Viabilität der westlichen Kultur unverzichtbar. Sie sind entstanden, weil es auch hier, wie in jedem lernenden System um Balance von „Öffnung“ und „Schließung“ geht: nämlich Entwicklungspfade festzulegen, die im Umgang mit Kontingenzen und gegenüber Irritationen robust sind und gleichzeitig Möglichkeiten und Optionen zu vergegenwärtigen und offen zu halten, die durch Pfadwahlen zunächst ausgeblendet werden. Das System „Kultur der Kultur“ ist eine Art „Hybridsystem“. In seine komplexitätserzeugende Kommunikation sollten die Erfahrungen, Erkenntnisse aus den Alltagspraktiken, die glaubenspraktisch (religiös und post-religiös) begründeten Bewertungen und die Interessenartikulationen der Bürger ebenso eingehen wie die Beiträge der Wissenschaften und Künste und die Perspektiven von Querdenkern, Grenzgängern und „Spinnern“. Der ungehemmte Input und die Vielfalt der hier artikulierten Perspektiven, ihre wechselseitige Brechung, Relativierung und Neuverknüpfung in Wahrnehmung, Denken und Bewusstsein der Bürger wie auch in ihren ergebnisoffenen Diskursen bilden eine dialogische und post-logozentrische Selbstbeobachtung und zukunftsoffene Orientierungssuche. Hier kann die Erzeugung und Überprüfung neuer Deutungsmuster und Hypothesen in experimentellen „Spiel- und Schonräumen“ intensiviert werden, um durch gekonnten Wiedereintritt von Komplexität die Anzahl unserer Optionen zu erhöhen und darüber hinaus einen Beitrag zur Entschleunigung zu leisten. 29) Wir brauchen also für eine viable Ausgestaltung der westlichen Lebensform viel Phantasie und Kreativität, viele Orientierungs- und Verständigungsprozesse, wohl auch mehr Mitwirkung künstlicher Intelligenzen, der digital gestützten Wissensorganisation und ‑verteilung, mehr think tanks und Zukunftswerkstätten, wo „Realisten“ mit „Phantasten“ zusammenkommen, die „Kunst der Meme“ entfesseln und sich die Zeit nehmen, die kulturelle Lebensform im Lichte werdender Vernunft neu zu rekonstruieren, zu vergegenwärtigen und zu entwerfen. Dazu gehört auch, immer erneut die Eigenlogiken und Regulative ihrer vier fundamentalen Umweltbezüge – die Objektivierung und wahrheitsorientierte (An)erkenntnis von Umweltdynamik, die reziproke Subjektivierung und Gemeinschaftsbildung, die reziproke Anerkenntnis und Gesellschaftsbildung sowie die (An)erkenntnis, Pflege und Entfaltung der ästhetisch schöpferischen Anteile in diesen Alltagspraktiken – zu vergegenwärtigen und ihre Balance zu gewährleisten.

Den Regulativen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit folgen Die objektivierende Bezugnahme auf Umweltdynamik kann und muss auch heute noch mit ihrem Wahrheitsregulativ einen wichtigen, (wenn auch nicht hinreichenden) Beitrag zu einer verantwortungsbewussten Mitgestaltung und organisierten Differenzierung der westlichen Lebensform leisten. Nicht nur die Entwicklung 264

und Einführung von Technologien, sondern die gesamte organisierte Mitgestaltung unserer Kultur, also auch die Organisationen wirtschaftlicher Leistung, politischer Steuerung, von Bildung und Wissen u. a. können und müssen auch in (selbst)objektivierender Perspektive, entlang des Regulativs der Wahrheit der Annahmen, Theorien und Modelle der Natur und Kultur, die ihnen zugrunde liegen, beobachtet und bewertet, kritisiert und beeinflusst werden. Das impliziert, dass auch ihre möglichen (ökologischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen) Auswirkungen, Folgen und Kosten nach bestem Wissen und Gewissen in Beobachtungen, Abwägungen und Entscheidungen für oder gegen bestimmte Entwicklungspfade berücksichtigt werden müssen. 30) Gesellschaft hat sich in der kulturellen Evolution als System der Bearbeitung und Einhegung von Gewalt in Fernbeziehungen ausdifferenziert. Insofern ist die funktionale, post-moralische Ausdifferenzierung der Gesellschaft als „Flechtmuster“ seiner Subsysteme Markt, Staat, Demokratie und Recht eine spätkulturelle Errungenschaft. Diese kann angemessen geschützt, gepflegt und weiterentwickelt werden, wenn Funktion und Differenzierung dieser Subsysteme und ihre Verflechtung in der westlichen Kultur entlang der regulativen Idee einer in universalinklusiver reziproker Anerkennung begründeten Gerechtigkeit beobachtet, bewertet und mitgestaltet werden. 31) Weil Markt, Staat, Demokratie und Recht „Vollzüge von Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) sind, die in ihrem Kern der regulativen Idee reziproker Anerkennung und Gerechtigkeit folgen (könnten), sind die systemevolutionären Voraussetzungen und Möglichkeiten für ihre weitere organisierte Ausdifferenzierung in diese Richtung gegeben. Diese kann durch eine verantwortungsbewusste Mitgestaltung ihrer Verflechtung und phänotypischen Landschaftsbildung – vor allem durch Änderungen in den Organisationen der politischen Steuerung, der wirtschaftlichen Leistung und von Bildung und Wissen – angestoßen werden, auf die wir später (Kap. VI) zurückkommen. In der kulturellen Evolution hat sich das System der Sozialisation in der Auseinandersetzung mit „innerer Natur“ ausdifferenziert. Hier ist die Leitidee der Subjektivierung und Personbildung – durch Fürsorge und Schutz, Entfaltung, Bildung und Qualifikation aller Menschen ohne Ansehen ihrer Position und Herkunft – eine große Errungenschaft spätkultureller Evolution, die ebenfalls zu erhalten und ggfs. – gegen Bestrebungen des traditional-moralischen wie auch des technokratisch-ökonomischen Patriarchats – zu verteidigen ist. 32) Die in Zwischenleiblichkeit und reziproker Beseelung in Nahbeziehungen begründete sozialisatorische Bindung bildet die Basis für eine im Menschen wirksame intuitive Bereitschaft, für den nächsten „Anderen“ Fürsorge und Verantwortung zu übernehmen. 33) Ferner bildet die kultivierte Empathie, das „sich aus fremden Sorgen eigene bereiten“ (Hippokrates), wie bereits angedeutet, den Kern einer „Ethik von unten“ (Klaus Dörner) auch in einer ganzheitlich orientierten Medizin, wo diese Logik der Beziehungsgestaltung ähnlich klar wie in der Eltern-Kind-Beziehung zum Ausdruck kommt. 34)

Geist und ethische Gehalte der Liebesanteile in den Religionen vermitteln „Eine Religion der Ungewissheit darüber, was es heißt, in Gottes Hand zu sein, ist nicht dasselbe wie eine Religion, die die Politik als das Organ betrachtet, das den Himmel auf Erden bringen wird … Für eine religiöse Seele macht es einen riesigen Unterschied, ob man sein Schicksal in die Hände Gottes legt oder Gottes Willen in die eigene Hand nimmt.“ (Bruno Latour) In der hier versuchten Rekonstruktion wurde herausgearbeitet, dass die Trennlinie und das „Pendeln“ zwischen einer menschen- und kulturfeindlichen, patriarchalen und logozentrischen und einer menschen- und kulturfreundlichen, nicht-logozentrischen Auslegung religiöser Botschaften gleichsam „quer“ durch die ab265

rahamitischen Religionen verläuft. Das gilt auch für das Christentum, das in seiner Ausprägung als Liebesreligion die Logik der sozialisatorischen Entfaltung menschlicher Natur in Nahbeziehungen explizit macht und sie auf die Gestaltung der Fernbeziehungen, also die Gesellschaft wie auch – als Liebe zur Natur und Respekt vor der Schöpfung – auf unsere technischen Beziehungen zur Umweltdynamik ausdehnt. Einerseits sind die hier explizierten universalistischen Potentiale und normativen Gehalte der sozialisatorischen Praxis – die Öffnung zum Nicht-Identischen der menschlichen Natur, die Ideen des Schutzes und der Entfaltung des (natürlichen und kulturellen) „Anderen“ durch Liebe und Fürsorge sowie die Vorstellung einer Ordnung, in der alle Menschen (und darüber hinaus alle Lebewesen) „Kinder Gottes“, also Brüder und Schwestern sind und zu einer Familie gehören könnten – radikaler und tiefer als die normativen Gehalte spätkultureller Vergesellschaftung: die Idee der Anerkennung des fremden sozialen Anderen in Gestalt seiner Menschenrechte und die Vorstellung einer gesellschaftlichen, (politischen, ökonomischen, demokratischen und rechtlichen) Ordnung, die dieser Idee gerecht zu werden sucht. Andererseits kann aber eine Universalisierung der in Nahbeziehungen wurzelnden Nächstenliebe zum Gebot der „Fernstenliebe“ (Günter Anders) die implizite Ethik der Vergesellschaftung nicht hinreichend explizit machen und begründen. Denn Vergesellschaftung und ihre implizite Ethik folgen ja nicht der Liebe zum Fremden, sondern seiner (An)erkenntnis als Co-Subjekt. Das gilt wohl auch mit Blick auf die implizite Ethik der Technik, die sich nicht allein auf die Liebe zur Natur stützen kann, sondern der (An)erkenntnis ihrer Eigenlogik folgen muss. Insofern kann der Geist des Christentums – sei es als religiöser Glaube oder auch „nur“ als Anerkenntnis und respektvolle Orientierung an seinen ethischen Gehalten – durch Explikation der sozialisatorischen Ethik und ihre Entfaltung in Nahbeziehungen zwar auch in Zukunft einen bedeutsamen Beitrag zur verantwortungsbewussten Mitgestaltung westlicher Kultur-Bildung leisten. Das gilt auch für die post-logozentrischen Gehalte anderer Religionen, wie z. B. des Islam. Aber der auf Empathie, Mitgefühl und Nächstenliebe gestützte Gemeinschaftsgeist und seine religiöse Explikation werden nicht alleine, sondern nur in Verbindung mit post-religiöser Reflexion und in Bündnissen zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen den Weg zu einer friedlichen Weltkultur orientieren und bahnen können. Darüber hinaus müssten diese Bündnisse, wie schon gesagt, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft neue „Brücken“ bauen, ihre Errungenschaften miteinander in lernenden Organisationen verbinden. Dazu braucht es u. a. eine Ergänzung, Fundierung und Rahmung von Qualifikations- und Bildungsprozessen in der (schon frühkindlichen) Entfaltung intuitiver Sittlichkeit.

Bildung an der Logik der Entfaltung des Menschen orientieren „Wo ist die Weisheit, die wir im Wissen verloren haben? Wo ist das Wissen, das wir in der Information verloren haben?“ (T. S. Eliot) Wie schon ausgeführt, bedingen sich Kultur und Bildung gegenseitig, sind zirkulär gekoppelt. Wie alle kulturellen Lebensformen kann sich auch die westliche Lebensform nur erhalten und entwickeln durch Einübung und variierende Fortsetzung ihrer Vollzüge in Bildungsprozessen der involvierten Individuen und diese Bildungsprozesse sind nur im Rahmen der bereits entwickelten westlichen Lebensform und ihrer Systemarchitektur möglich. Das impliziert, dass auch im Falle verzerrter oder verkürzter Entwicklungen beide Seiten unlösbar miteinander verbunden sind. In Variation eines berühmten Wortes von Theodor W. Adorno kann es keine richtige Bildung in einer falschen Kultur geben.  35) Oder anders ausgedrückt: Die zirkuläre Koppelung 266

zwischen der Entwicklung westlicher Lebensformen mit der Bildung des westlichen Menschen kann eine Aufwärts- oder eine Abwärtsspirale generieren. 36) Die Ergebnisse unserer Rekonstruktion legen nahe, dass Bildungspraxis vor jeder Vermittlung nationaler oder westlicher „Bildungsgüter“ und vor allen Bildungsinhalten eine Persönlichkeitsbildung ist, deren Kern die intuitive Sittlichkeit ist, die sich in der Einübung in die kulturelle Lebensform entfaltet.

Auch Persönlichkeitsbildung folgt der Balance von Öffnung zum „Anderen“, und Schließung durch Eigengesetzlichkeit Eine reflektierte und verantwortungsbewusste Mitgestaltung der Persönlichkeitsbildung kann sich zunächst an der „Grammatik“ der kulturellen Lebensform orientieren. Die in der Evolution des Lebens und des Verhaltens verwurzelte Disposition der Kultur zur (immer erneuten) „Öffnung“ in Resonanzen, zur „Schließung“ durch Selbstgesetzgebung und zur Balance von Öffnung und Schließung in kohärenten phänotypischen Form- und Landschaftsbildungen charakterisiert auch den menschlichen Bildungsprozess. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Bildungsprozessen der Kultur und der menschlichen Persönlichkeit sind darin begründet, dass es sich in beiden Fällen um fundamentale Lernprozesse handelt, die der Autopoiesis des Lebens und (daraus hervorgegangen und darin eingebettet) einer Autopoiesis des Sinns folgen. Auf diese Weise wird eine je eigene und sinnhafte, aus Beziehungen, Differenzen und Relationen bestehende Ordnung in eine unbekannt bleibende Umweltdynamik kreativ „hinein“ entworfen, konstruiert und normativiert. 37) Aufgrund seiner Strukturähnlichkeit zur künstlerischen Gestaltung kann man den Bildungsprozess der Kultur wie auch der Person als „Lebenskunst“ bezeichnen. Dem folgend sollten in einer lernenden, reflektierten und verantwortungsbewussten Organisation von Bildung und Wissen der „Dreisatz“ von (kindlicher) Neugier, Spontaneität und Kreativität einerseits, der Selbstgesetzgebung andererseits und ihrer Balance in kohärenter Form/​Charakterbildung der Person als einer je eigenen „inneren Landschaftsbildung“ im Rahmen eines Bemühens um seelische und physische Gesundheit (an)erkannt und geschützt, entfaltet und gefördert werden. Die Autopoiesis kultureller Ordnungsbildung gewinnt ihre Zukunftsoffenheit und Viabilität durch Autopoiesis der Persönlichkeitsbildung der involvierten Individuen, durch ihre jeweils einmalige, biographische Selbstformung in Bildungsprozessen „vor Ort“ hindurch. Das bedeutet, dass die Bildungspraxis die (schon in der „Kunst“ der Gene und der Neuronen) angelegten Potentiale einer „Kunst“ der Meme, (an)erkennen und schützen, entfalten und fördern sollte. Dazu bedarf es der (An)erkenntnis und pädagogischen Entfaltung der menschlichen Urteilskraft, die durch kreative Erzeugung, Vernetzung und Neukonfiguration von Deutungsmustern den Menschen zur Lebenskunst, zur Kontingenz- und Krisenbewältigung in „weichen Grenzziehungen“ zur Umweltdynamik befähigt. Vor jeder Einübung in Glaubenspraktiken, diesseits jeder religiösen oder gar kunstreligiösen Erziehung und Bildung sollte im Zentrum ihrer Zielbestimmung und organisierten Mitgestaltung die Befähigung der Menschen zur alltagspraktischen Lebenskunst durch (ästhetische) Urteilskraft stehen, die ihnen durch (An) erkenntnis der Freiheit des (inneren, äußeren und sozialen) „Anderen“ eine nachhaltige, nicht auf deren Unterdrückung gestützte Freiheit und Mitgestaltungsmacht eröffnet. Dabei gehört zu dieser freiheitsstiftenden Bezugnahme auch und insbesondere die (An)erkenntnis und Pflege einer fundamentalen und verpflichtenden Verwandtschaft der Menschen mit allen Lebewesen, die, wie ausgeführt, in der Subjektivität des einen, sich in organischer, kognitiver und kultureller Evolution ausdifferenzierenden Geistes (erster, zweiter und dritter Ordnung) begründet ist. Das in uns zumeist schon intuitiv angelegte Erleben der „anderen Tiere“ als verwandt, die Einsicht in ihr interpretationsbedürftiges, 267

Empathie und Mitgefühl forderndes Verhalten, der Sinn für ihre Kohärenz und Schönheit, der Respekt vor ihrer Autonomie und Würde und die Bereitschaft zu ihrer Inklusion in unsere sozialisatorische, naturpflegende und entfaltende, wie auch in die gesellschaftliche Praxis und ihre rechtliche Regelung sollten auch zentrale Ziele und Inhalte der Persönlichkeitsbildung sein.

Dem Regulativ der Resonanz und der ästhetischen Kohärenz in den technischen, sozialen und sozialisatorischen Praktiken folgen „Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik.“ (Joseph Brodsky) Der ästhetische Weltbezug mit seinen drei Seiten – als Sich-Öffnen und in Resonanz-Treten mit der Umwelt, als Dekonstruktion und Virtualisierung überkommener Deutungsmuster und verfestigter Handlungsorientierungen sowie als Suche nach Kohärenz in der Erzeugung neuer „guter Formen“ – führt uns in den Vollzügen unserer Alltags- und Glaubenspraktiken zu einer liebevollen Aufmerksamkeit für gelungene und gelingende Formbildungen der Natur und Kultur, in der die Bereitschaft, sich für ihren zukünftigen Erhalt, für Nachhaltigkeit im ökologischen wie im sozialen Sinn zu engagieren, zwanglos entstehen kann. Deshalb müssen ästhetische Erfahrung und Zusammenhangswissen über Natur und Kultur in der Bildung möglichst vieler Menschen entfaltet und gepflegt, reflektiert und als Wege zur Ethik und Verantwortung gebahnt werden.

Die vier Praktiken und ihre Regulative entfalten und ausbalancieren In ähnlicher Weise, wie der objektivierende Umweltbezug sich selbst an seine Grenzen führt und auch spürbar macht, mit welchen Risiken und Selbstgefährdungen es verbunden wäre, wenn wir uns auf (Selbst) objektivierung, ihre (vermeintlichen) Klarheiten und ihre Beiträge zur Orientierung beschränken würden, werden auch die Grenzen der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung wie auch der ästhetischen Bezugnahmen in ihren Vollzügen erfahrbar und verweisen auf die Notwendigkeit einer dynamischen, zukunftsoffenen Verflechtung und Balance aller vier Praktiken und ihrer Regulative. Mit Blick auf die Viabilität der westlichen Kultur kann auf keine dieser „Logiken“ verzichtet werden und keine sollte die anderen dominieren und unterdrücken. Zusammen bilden sie das sich evolutionär ausdifferenzierende „systemisch Gute“ und die „werdende Vernunft“ unserer kulturellen Lebensform, die intentional, in lernenden Organisationen mitgestaltet werden kann. 38) Keine Viabilität kultureller Lebensform ohne (An)erkenntnis und Schutz, Pflege und Entfaltung der impliziten Ethik der Alltags-praktiken durch eine entsprechende intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen. Deshalb sollten, verbunden mit der Befähigung zur ästhetischen, „weichen“ Grenzziehung, die Entfaltung von Empathie, Mitgefühl und Liebesfähigkeit, die Befähigung zur reziproken Anerkennung und das Gerechtigkeitsempfinden wie auch die Anleitung zur Sachbezogenheit und Wahrheitsliebe im Zentrum der Bildungsprozesse stehen. Heute können Menschen im konventionellen Verständnis von Bildung als „Kultur-Haben“, als Wissen, Verfügung und Nutzung von Kulturgütern aller Art (Geschichte, Wissenschaft, Kunst u. a.) hoch gebildet sein  –  und trotzdem kann es ihnen an intuitiver Sittlichkeit fehlen.  39) Die Entfaltung dieser intuitiven Sittlichkeit der Individuen und ihrer damit verbundenen Freiheit, (Mit)gestaltungsmacht und (Mit)verantwortung sind entscheidend für Erhalt und Fortbestand der kulturellen Lebensform und darin auch der 268

westlichen Lebensform. Sie sollten daher vor allen Bildungsinhalten ein Kernziel der Bildungspraxis sein und alle weiteren Zielsetzungen, Anforderungen und Qualifikationen rahmen und ggfs. relativieren, die heute von der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, von Medien und Zeitgeist an das Bildungssystem herangetragen werden.

Einübung in post-logozentrische Selbstbeobachtung und Zusammenhangswissen Dank ihrer intuitiven Sittlichkeit könn(t)en grundsätzlich alle Menschen den Verführungen des religiösen wie post-religiösen Logozentrismus, seinen einfachen Antworten und Fehlorientierungen widerstehen. Darüber hinaus bedarf es der Vermittlung (hypothetischen) Zusammenhangswissen und der Einübung in post-logozentrische Selbstbeobachtung und Glaubenspraktiken, die sich ganz wesentlich in der Teilnahme an Verständigungsprozessen und Diskursen herausbildet und strukturiert, die immer aufs Neue thematisieren, wie wir als Bürger der westlichen Kultur leben und woran wir glauben können und wollen. Wenn es also über die Ausrichtung auf Persönlichkeitsentfaltung hinaus um Inhalte geht, kann Bildungspraxis sich heute nicht mehr auf die Vermittlung des kulturellen Gedächtnisses und auf die „Highlights“ nationaler kultureller Traditionen beschränken, sondern muss transnational die Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Zukunft der Natur und Kultur in den Mittelpunkt stellen und sich dafür eng mit der post-logozentrischen Selbstbeobachtung im System „Kultur der Kultur“ verbinden. Die post-logozentrische Verständigung auch über Glaubenspraktiken ist etwas Anderes als die (oft oberflächliche) Ablösung religiöser durch post-religiöse Weltbilder. Vielmehr eröffnet sie auch die Möglichkeit einer Aufklärung über Aufklärung und einer Selbstkritik des reflexiven Geistes, des Logozentrismus in seinen modernen post-religiösen Ausprägungen – insbesondere als Technokratie und als Ökonomismus. Wir sollten die Jugend befähigen, diese Selbstkritik des westlichen Geistes zu erhalten und weiter zu entwickeln und in ihre Selbstformung und ‑verwirklichung einfließen zu lassen.

Mut zur Freiheit und zur kritischen Mitgestaltung Weil die westliche Kultur und ihre Systemarchitektur heute von verschiedenen Seiten, durch Fundamentalismen und reaktionäre Kräfte aber vor allem auch durch einen nicht ausreichend regulierten und domestizierten Kapitalismus, durch Ökonomismus, Technokratie und mafiaähnliche, politische, wirtschaftliche und mediale Macht verflechtende Netzwerke bedroht sind, bedarf es einer verstärkten Identifikation der Bürger mit dieser Systemarchitektur und ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, sie zu pflegen, zu erhalten und kritisch mitzugestalten. Dazu sind Individuen und Kollektive grundsätzlich befähigt, sofern ihre intuitive Sittlichkeit nicht verschüttet und verdrängt wurde und sie den Mut aufbringen, die in ihrer Bürgerrolle begründete Freiheit, Urteilskraft und Mitgestaltungsmacht zu ergreifen, in Verständigungsprozessen Einsicht in die Systemlogiken zu entwickeln, sich das Zusammenhangswissen und die Expertise, die dazu erforderlich sind, anzueignen, um sie in zivilgesellschaftliche Initiativen einfließen zu lassen, die die parlamentarische Willensbildung ergänzen. Insofern sollten im Interesse des Existenzerhalts westlicher Kultur auch die Entfaltung und Vermittlung dieser Bürgerkompetenzen im Zentrum der westlichen Bildungspraxis stehen. 40)

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VI. Wege und Schritte der Zukunftsgestaltung Europas „Niemand weiß genug, um ein Pessimist zu sein.“ (Wayne Dyers) „Es gibt für jedes Problem eine Lösung, die ist kurz, einfach – und falsch.“ (Unbekannt) Im Folgenden geht es um Möglichkeiten einer reflektierten und organisierten Mitgestaltung europäischer „Landschaftsbildung“ die sich an den oben skizzierten Regulativen und Leitvorstellungen orientiert, die ihrerseits in der Rekonstruktion kultureller Evolution begründet wurden. Ein Kernziel lernender Organisation Europas sollte sein, das hier evolutionär entstandene „systemisch Gute“ und den erreichten Entwicklungsstand „werdender Vernunft“ zu erhalten und seine weitere Ausdifferenzierung und Stabilisierung in Richtung „vierte Kultur“ zu beeinflussen. Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, dass die fundamentalen und universalen Regulative der „vierten Kultur“ – Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit – eine implizite Ethik der Alltagspraktiken reflektieren die sich evolutionär, im Dienste der Eigenkomplexität, Stabilität und Viabilität der kulturellen Lebensform und dann in ihrer spezifisch westlichen Ausprägung ausdifferenziert hat. Deshalb beschreibt die „vierte Kultur“ realistische Entwicklungspotentiale im westlichen Pfad. Eine langfristige Entwicklungsstrategie, die sich an den Regulativen orientiert und die Potentiale des westlichen Pfads aufgreift, sollte vor allem die Organisationen der Selbstbeobachtung, Verständigung und Orientierungsfindung (1), der politischen Steuerung (2), der wirtschaftlichen Leistung (3) und von Bildung, Wissen und Qualifikation (4) einbeziehen. Im Folgenden werden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Schritte und Wege einer zukunftsorientierten Mitgestaltung Europas umrissen und zur Diskussion gestellt.

VI. 1 Selbstbeobachtung, Verständigung und Orientierungsfindung „Information ist die Währung der Demokratie.“ (Thomas Jefferson) Wie bereits beschrieben, werden in vielen Medien und vor allem im Internet zunehmend Kriege gegen die Wahrheit geführt, werden weltweit Desinformations- und Verleumdungskampagnen von skrupellosen Akteuren des Kapitals zur Durchsetzung von Profitinteressen wie auch zur Durchsetzung politischer Destabilisierung und Machtergreifung mit nahezu unbegrenzten finanziellen Mitteln betrieben. Das lässt befürchten, dass in absehbarer Zukunft das „flüssige Fundament“ der offenen Kultur, nämlich eine Verständigung und Orientierungssuche, die den Regulativen der Freiheit, der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und der Wahrheit folgt, weiter erodieren wird. 270

Um diesen Erosionsprozess aufzuhalten, bedarf es gemeinsamer Initiativen verantwortungsbewusster Bürger und der Kräfte der Zivilgesellschaft, die dazu mit regionaler, nationaler und europäischer Legislative und Exekutive, mit (Partei)politik, öffentlich-rechtlichen Medien, Medienunternehmen und überstaatlichen Organisationen kooperieren sollten. 1) Unter den Führungskräften der Medien‑, Kommunikations- und Informationsindustrie könnten sich die verantwortungsbewussten mit den liberalen Kräften der Politik und der Zivilgesellschaft zu einem „Bündnis für Wahrheit“ zusammenschließen. In diesem Rahmen müssten verbindliche Regulative einer „Ethik der Information“ festgelegt werden und eine entsprechende Selbstkontrolle und ‑regulation insbesondere mit Blick auf die sozialen Medien und die hier geschaffene neue Öffentlichkeit institutionalisiert, im Rechtssystem festgeschrieben und durchgesetzt werden. Das im westlichen Pfad entstandene System „Kultur der Kultur“ muss als „flüssige Fundierung“ und „Entwicklungsabteilung“ der europäischen Lebensform (an)erkannt, in lernender Organisation gepflegt, gestärkt und weiter ausdifferenziert werden. Dazu kann der Ausbau europäischer Öffentlichkeit einen wichtigen Beitrag leisten. 2) Hier kann eine möglichst große Vielfalt von Perspektiven der Selbstbeobachtung Europas entwickelt und gefördert werden, wo in Reflexion und Dialog neue Zukunftsorientierungen und ‑modelle vorgestellt werden, die „auf der Höhe der Zeit“ sind, also die evolutionären Ausdifferenzierungen der Alltags- und Glaubenspraktiken und der westlichen „Tempelarchitektur“ nicht rückwärtsgewandt unterlaufen, sondern angemessen reflektieren, verarbeiten und nutzen. Dazu gehört auch der Einbezug der scientific community und der Universitäten sowie der intensive Dialog zwischen Vertretern und Anhängern religiöser und post-religiöser Weltdeutungen, zwischen Philosophen, Wissenschaftlern, Bürgern, Politikern und Managern. Es sollten, wie schon gesagt, Spielräume erhalten bzw. geschaffen und ausgebaut werden, wo auch „Überschüsse“ der Deutung und Interpretation entstehen und die Fähigkeiten der Menschen, die Welt anders zu fühlen, zu denken und zu beschreiben, sich entfalten und verflechten können, sich an den systemischen Gegebenheiten „reiben“ und diese unter Differenzierungsund Veränderungsdruck setzen. Im Rahmen einer ethisch reflektierten und verantwortungsbewussten Mitgestaltung und Regulation öffentlicher Verständigung und Selbstbeobachtung Europas kann man unterscheiden zwischen • Medienpolitik, die einerseits die Pressefreiheit, die freiheitlich demokratische Ausgestaltung und Autonomie der Medien, der Recherche, der Berichterstattung, die ungehinderte Verbreitung von Informationen, Perspektiven und Meinungen, wie auch das geistige Eigentum der hier professionell Tätigen rechtlich absichert. Andererseits haben Medienpolitik und ‑gesetzgebung darauf zu achten, dass auch und insbesondere die welt- und europaweit agierenden elektronischen Plattformen und sozialen Medien sich an gewisse Standards halten, Qualitätsjournalismus, seriöse Meinungsäußerung und politische Werbung ermöglichen, sich also an Faktizität und Wahrheit orientieren und das „Abgleiten“ in Diffamierung und hate speech, fake news und „Post-Faktizität“ unterbinden, um auf diese Weise ihrer öffentlichen Aufgabe als „vierte Gewalt“ in der Gesellschaft gerecht zu werden, • Kommunikationspolitik, die die Bildung von digitalen europäischen Netzwerken, von transnationalen Spielräumen der Verbreitung von Information, Wissen und Bewertungen sowie der kollektiven und demokratischen Meinungs- und Willensbildung für europäische Bürger und im Dienste der Entwicklung und Stärkung europäischer Zivilgesellschaft fördert, • Informations- und Wissenspolitik, die vor allem auf die mediale Vermittlung und Verbreitung einer Vielfalt europäischer Narrative zielt, die die (An)erkenntnis und das Verständnis der Idee, der Wirklichkeit und der Zukunft westlicher Kultur und darin Europas unter ihren Bürgern und darüber hinaus fördern.

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Es handelt sich also um drei Ausprägungen kultureller Selbstbeobachtung und einer dadurch geleiteten Politik, deren weitere europäische Ausgestaltung und Organisation im Folgenden genauer umrissen wird.

Medienpolitik: kritische Selbstbeobachtung der Gesellschaft durch Qualität der Medien und des Journalismus erhalten und pflegen „Seriöser, sorgfältiger, ehrlicher Journalismus ist unverzichtbar, nicht, weil er etwa ein Leitfeuer wäre, sondern weil er eine Form anständigen Verhaltens ist, die den Reporter und den Leser einbezieht.“ (Martha Gellhorn) Im Zeitalter des „information overload“, der Beschleunigung und der Zeitknappheit und der auch damit verbundenen Aufnahmebereitschaft für populistisch vereinfachte, teils auch menschenverachtende und aggressive „fake news“ wird ein qualitativ hochwertiger und filternder, einordnender und interpretierender, sorgfältig recherchierender, investigativer und kritischer Journalismus in digitalen, in Printmedien und im Fernsehen immer dringender benötigt. Heute ist der Fortbestand dieser Art von Journalismus gefährdet: durch die Tendenzen zur „post-faktischen“ Meinungsbildung und politischen Propaganda, durch die wachsende Bereitschaft von Staaten, Institutionen und Politikern, „alternative Fakten“ und „gefühlte Wahrheiten“ zu verbreiten oder schlicht zu lügen, durch Daten- und Informationskapitalismus und die Dominanz der Kapitalverwertung auch im Medienbereich, durch die im Internet entstandenen „privaten Supermächte“ (Timothy Garton Ash) und durch die wirtschaftlich schwieriger werdende Lage insbesondere der Printmedien. Da sich „keine Demokratie ein Marktversagen auf diesem Sektor leisten kann“ (Jürgen Habermas), werden derzeit, verschiedene Wege diskutiert, den Qualitätsjournalismus in Print- und elektronischen Medien zu erhalten, zu schützen und auszubauen Dazu gehören Initiativen freier Journalisten, die anspruchsvollen, leserfinanzierten Journalismus im Netz praktizieren, ferner Vorschläge, Zeitungsverlage in Non-Profit-Organisationen umzuwandeln, sie privatwirtschaftlich durch Stiftungen oder durch öffentlich-rechtliche Gebühren (wie ARD und ZDF) zu finanzieren. Eine weitere Alternative wäre ihre Mitfinanzierung über eine Kultur-Flatrate, die für Internetzugänge (auch zur Einkommenssicherung von Autoren, Künstlern und Produzenten) erhoben wird. Schließlich wäre eine Finanzierung durch Beteiligungen und Aktien der Leser denkbar. Wie für die Printmedien könnten in diesem Rahmen auch für die elektronischen Medien neue zielgruppenbezogene und individualisierte Informationsangebote und Bezahlmodelle entwickelt werden. Solche maßgeschneiderten „Kanäle“ zwischen Anbietern und Nutzern bergen zwar einerseits die Gefahr, dass letztere nur noch (in „Echoräumen“) serviert bekommen, was ihre Weltbilder und Deutungsmuster bestätigt. Sie könnten aber auch die Dialogräume zwischen anspruchsvollem Journalismus und interessierten Bürgern erweitern und vertiefen, also einen dialogischen Journalismus bahnen, in dem beide Seiten voneinander lernen können. Eine Möglichkeit wäre, bestimmten Verlagen den Status einer Bildungseinrichtung zu geben, die zuständig ist für lebenslanges Lernen und wie alle anderen Bildungseinrichtungen (zumindest auch) über Steuergelder zu finanzieren ist. 3) Ähnlich wie die Versorgung mit sauberer Luft, Wasser, Energie und Geld könnte man auch die Versorgung der Bürger mit Information und Wissen, mit Orientierungsangeboten und (Selbst)kritik als so überlebenswichtig einstufen, dass sowohl mit Blick auf Print- wie auch elektronische Medien nicht nur öffentlich-rechtliche Kanäle erhalten und weiter ausgebaut, sondern auch die Entstehung und Verbreitung bürgerorganisierter Kanäle (auch finanziell) gefördert werden sollten. 272

Kommunikationspolitik: Kommerzialisierung des Netzes regulieren, politischen Missbrauch sanktionieren und die Digitalisierung zum Ausbau europäischer Öffentlichkeit und demokratischer Willensbildung nutzen Mit Blick auf die Zukunft könnte und sollte ein europäischer Weg der Digitalisierung und digitalen Plattformbildung eröffnet werden, der die derzeitig (in den USA und zunehmend auch in Asien und Europa) praktizierte Enteignung und kapitalistische Verwertung der Bürgerdaten einschränkt bzw. diese den Bürgern zu ihrer (ggfs. auch kommerziellen) Verfügung überlässt und die vielfältigen Formen politischen Missbrauchs im Rahmen eines digital getriebenen manipulativen Populismus wie auch eine breit angelegte Datensammlung und Nutzung zur autoritären Überwachung, Kontrolle und Steuerung der Bevölkerungen (Modell China) ausschließt. Im Zeitalter des Informations- und Plattform-Kapitalismus, der Beschleunigung und Globalisierung der Datensammlung und ihrer wirtschaftlichen und politischen Verwertung bis hin zu Missbrauch und gezielter Fehlinformation sollte eine europäische Kommunikationspolitik sich vor allem als Netzpolitik verstehen, die auf die Ausdehnung, Einflussnahme und umwälzende (teils konstruktive, teils destruktive) Kraft des digitalen Netzes in allen Bereichen der Kultur mit reflektierten und kreativen Ansätzen seiner Mitgestaltung reagiert. Dazu gehören die Förderung der Netztechnologie und ‑wirtschaft mit Daten- und Freiheitsschutz sowie eine europäisch-rechtliche Regulierung, in der Rundfunk‑, Medien- und Telekommunikationsrecht integriert sind. Eine übergreifende Aufsichtsstruktur, Neuausrichtung von Wettbewerbsregeln und Anpassung des Urheberrechts wie auch eine geschützte Verfügung und ggfs. auch ökonomische Verwertung ihrer Daten seitens der Bürger sind hier wichtige Anliegen. Einem Thesenpapier von Luukas Ilves (Lisbon Council) folgend lassen sich drei Bereiche identifizieren, in denen die Europäer vorangehen und ihren eigenen Entwurf einer digitalen Demokratie verwirklichen können. Zur europäischen Neuausrichtung und hier auch durchsetzbaren Wettbewerbskontrolle und ‑regelung gehören die Verhinderung von Digitalmonopolen und die Sanktionierung des Missbrauchs von Markmacht, bis hin zur (angedrohten) Zerschlagung von Informations- und Plattformkonzernen. (Hier scheint die derzeitige Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager gute Arbeit zu leisten). Hinzukommen sollte eine digitale Sicherheitspolitik: Datenschutzvorschriften, Abschirmung von Wahlen, Maßnahmen gegen Cyberterrorismus, Kooperationen gegen Cyberattacken insbesondere in sensiblen Bereichen wie z. B. der städtischen Energieversorgung und Infrastrukturen, der Kraftwerke etc. Ferner bedarf es verbindlicher Verhaltenscodices für das Internet, um hier Falschinformationen, Hassbotschaften und Beleidigungen einzudämmen. Schließlich gehören auch der Schutz vor Computerkriminalität durch eine gemeinsame Strafrechtspolitik, z. B. bei Onlinebetrug, Kinderpornografie, und Verstößen gegen die Sicherheit elektronischer Netze zur digitalen Sicherheitspolitik. Wichtigster Baustein für einen souveränen Digitalstaat Europas ist die Schaffung eines „eigenen, weltweit betretbaren digitalen Raumes nach europäischen Maßstäben“, wozu die im Mai 2018 in Kraft getretene „Datenschutz-Grundverordnung“ beitragen kann. Taavi Kotka folgend sollte sich „Europa als digitaler Staat neu erfinden (und) selbst zu einer Plattform werden. Das hieße, eine Art Betriebssystem zu schaffen für den digitalisierten Alltag in einer Demokratie … Es würde den Staat verschlanken und den Alltag in vielen Bereichen vereinfachen: Bürger könnten dann innerhalb der ganzen EU reibungslos Geschäfte tätigen, sich überall mit einer Art digitalem Pass identifizieren und digital wählen.“ 4) Die digitale ID könnte hier als „Eintrittskarte“ der Bürger und Herkunftsbeleg ihrer Aktivitäten und Äußerungen fungieren. In dieser digitalen Plattform könnte die Etherum Blockchain-Technologie und die hier eröffneten Möglichkeiten „smarter Verträge“ zwischen allen ökonomisch handelnden Bürgern, die ohne Vermittlung von Banken und der großen kommerziellen Internetplattformen zustande kommen, eine Schlüsselfunktion übernehmen. Diese würde nicht nur die Marktökonomie revolutionieren, sondern könnte darüber hinaus auch eine „Geburtshelferrolle“ in der Entwicklung einer europäischen Netzwerkökonomie und Tätigkeitsgesellschaft übernehmen. (Siehe weiter unten.) 273

Grundsätzlich sollte die Bildung von Gegengewichten zur Machtkonzentration der großen Plattformen (Google, Amazon, Apple, Facebook), die sich zwischen Mensch und Information geschaltet haben, auf Seiten einer europaweiten, zivilgesellschaftlichen und bürgerorganisierten Kommunikation gefördert und unterstützt werden. Dazu könnten beispielsweise auch die Entwicklung einer europäischen, öffentlich-rechtlichen Suchmaschine sowie Ausbau und Vertiefung der Möglichkeiten der Partizipation, dialogischer Meinungsund demokratischer Willensbildung der Bürger gehören, indem die hier stattfindenden Selbstorganisationsprozesse, insbesondere der kritischen und engagierten europäischen Jugend über das Internet 5) gefördert und auch mit Blick auf ihre Anschlussfähigkeit an die etablierte (Parteien)demokratie unterstützt werden. Ferner sollten Entstehung, Funktion und Einfluss virtueller Protestnetzwerke politisch unterstützt werden 6), in denen Bürger, sich zu konkreten Anlässen unethischen Handelns, des Macht- und Informationsmissbrauchs in Politik und Wirtschaft, ihrer intuitiven Sittlichkeit folgend, artikulieren können, Wie reale können auch digitale Bürgernetzwerke nur dann zu einer (selbst)kritischen Öffentlichkeit beitragen, wenn diejenigen, die hier senden und posten, verbreiten und publizieren, ihrer intuitiven Sittlichkeit folgen. Jeder „Einzelne muss so handeln, als wäre er ein wirklich guter Journalist, den Idealen der Verantwortung und der Aufklärung verpflichtet.“ 7) Ansätze verantwortungsbewusster Bürger, durch aufklärende und verständigungsorientierte Gegenrede (counter speech) und Gegenerzählungen (counter narratives) generell zur Versachlichung und Humanisierung des Umgangstons beizutragen und speziell Jugendliche vor Rechts- und Linksradikalismus und Rekrutierungsversuchen durch Terrororganisationen zu schützen, gibt es heute schon. So könnte ein zivilgesellschaftlich gestütztes und organisiertes „Gegengewicht“ der Verbreitung von Information und Orientierung gegen fake news und Skandalisierung, gegen „dangerous speech“, Hetz-Communities und Hass-Kampagnen zustande kommen. Hier bekommen Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation eine wichtige Funktion, die weiter unten, im Rahmen eines Vorschlags, die drei Gewalten – der Judikative, Legislative und Exekutive – durch eine „Consultative“ zu ergänzen, genauer ausgeführt wird.

Informationspolitik: Wissens- und Werteorganisation in Narrativen über und für Europa „Aus der europäischen Idee ist die Verwaltung geworden, und jetzt denken die Menschen, dass die Verwaltung die Idee ist.“ (Wim Wenders) „Wir können noch so gute Argumente haben, damit ändern wir die Einstellung der anderen nicht. Das Einzige, was so was kann, ist eine gute Geschichte.“ (Richard Powers) Derzeit gibt es große Defizite in der Darstellung und Erklärung Europas: Die Funktionseliten der Politik und Wirtschaft, die Wissenschaftler, Philosophen, Soziologen, Ökonomen wie auch die Medien und Journalisten (unter denen viele es vergleichsweise noch am besten machen) erfüllen nicht hinreichend ihre Vermittlungsaufgabe, die Entwicklung und das Projekt Europas in einer Weise zu interpretieren und zu legitimieren, die über politische und ökonomische „Buchhaltung“ hinaus an die Bedürfnisse und an die intuitive Sittlichkeit der Bürger anschließen und diese für Europa begeistern könnten. Die Folgen zeigen sich nicht nur im Fehlen von politischer Leidenschaft für Europa, in Desinteresse und Gleichgültigkeit, sondern auch im Misstrauen und in der Angst, in wachsender, von Populisten genutzter und angeheizter Europafeindlichkeit, im Aufbau neuer Feindbilder in und zwischen Nationen u. a. 274

In einer wachsenden, auch bürgerorganisierten europäischen Öffentlichkeit könnte die Identitätsbildung Europas gebahnt und gestützt werden, indem hier immer wieder erneut und vertieft durch Differenzen und Uneinigkeit hindurch das „Gemeinsame“ europäischer Lebens- und Arbeitsformen, (zu dem auch der Erhalt von Differenz und Vielfalt gehört), gesucht und herausgearbeitet, definiert und (auch und insbesondere) in Narrativen kommuniziert wird. Ein entsprechender informationspolitischer Beitrag zur Selbstformung Europas als Wissens- und Wertegemeinschaft könnte u. a. die folgenden Leistungen erbringen und integrieren: • Wie europäische Politik generell, muss auch Informationspolitik zwischen Europa und seinen Umwelten auf gekonnte Weise (semantisch, kulturell, historisch, politisch, ökonomisch) „weiche Grenzen“ ziehen. Indem kontinuierlich vergegenwärtigt und definiert wird, woher es kommt, was es ist und was es sein könnte, kann Europa sich eine zukunftsoffene fließende Identität erarbeiten. Diese kann sich, wie schon gesagt, nicht auf eine ethnische Herkunftsgemeinschaft stützen und ist auch nicht mit einer territorial gestützten Identität von Nationalstaaten zu vergleichen, sondern stützt sich auf die Logik und implizite Ethik der spätkulturellen Lebensform und ihre spezifische systemische Ausdifferenzierung im europäisch westlichen Pfad. Im Kern dieser werdenden europäischen Identität steht das Bekenntnis zu „weichen“ Grenzziehungen und geteilten Souveränitäten (zwischen den europäischen Nationen wie auch zwischen Europa und der Welt) sowie die Identifikation mit den evolutionär ausdifferenzierten regulativen Ideen der Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit und ihre verbindliche Festschreibung in einer auf die Universalität der Menschenwürde und der Menschenrechte gestützten europäischen Charta bzw. Verfassung, die wie bereits ausgeführt, auch ein „Recht der Umherirrenden auf Gastfreundschaft“ (Ètienne Balibar) beinhalten sollte. Das bedeutet, dass (gewordene und noch werdende) Nationalstaaten auf dem europäischen Kontinent, die diese spätkulturelle Lebensform, ihre ethischen Regulative und Menschenrechte anstreben und verwirklichen, grundsätzlich zu Europa gehören, während diejenigen, die nicht so weit sind oder sich sogar wieder von Europa entfernen, (noch) nicht dazu gehören können. • Im Rahmen dieses europäischen Selbstentwurfs können Lern- und Entwicklungsziele für Europa bestimmt und (auch in Narrativen) kommuniziert werden. Dazu können substanzielle Leitorientierungen einen Beitrag leisten, die sich aus den (rekonstruktiv gewonnenen) regulativen Ideen ableiten lassen wurden: eine ökologische Modernisierung Europas und eine Kultur der Nachhaltigkeit, der geteilten Souveränitäten, der Mehrebenenregierung und der dialogischen Konfliktbearbeitung, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, einer gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und der Entfaltung und Bildung der Menschen in vielfältig ausdifferenzierten sozialisatorischen Gemeinschaften. • Im Rahmen dieser Lern- und Entwicklungsziele können Daten und Informationen in explizites Wissen transformiert, jeweils aktuelle Expertise und „know how“ erzeugt und ausdifferenziert, entscheidungsrelevant aufbereitet, den Bürgern verständlich kommuniziert und über europäische Instanzen der Technikbewertung, Folgenabschätzung und Steuerung angewandt werden. Dazu könnte auch die Einrichtung einer „europäischen Consultative“ gehören. (Siehe weiter unten.) Das betrifft die Sammlung, Ausdifferenzierung und Anwendung von Wissen und ethischer Orientierung für die ökologische Modernisierung Europas 8), mit Blick auf Multikulturalität und Migration, Bürgerpartizipation und demokratische Mitgestaltung, über gerechte Verteilung von Wissen, Arbeit und Einkommen und soziale Sicherung, mit Blick auf eine gekonnte Regulation des Kapitalismus und für ein Bildungssystem, in dem die kognitive Entfaltung und ethische Selbstformung der Menschen ihre beruflichen Qualifikationen rahmt und orientiert. (Siehe weiter unten.) • · Eine europäische „fließende“ Identitätsbildung, die Explikation von europäischen Lern- und Entwicklungszielen, des Wissens und der entsprechenden ethischen Orientierungen könnten und sollten durch die Köpfe möglichst vieler Menschen hindurch sich weiterentwickeln, differenzieren und variieren und einen neuen europäischen Zeitgeist prägen. Hier sind die kulturellen und gesellschaftlichen, die politischen und wirtschaftlichen Funktionseliten besonders gefordert: Sie sollten ihre Vermittlungsfunktion 275

zwischen den Bürgern und ihrer intuitiven Sittlichkeit und der expliziten (religiösen, ethischen, philosophischen und wissenschaftlichen) Selbstbeobachtung der westlichen Kultur annehmen, ausüben und die komplexen Strategien der Mitgestaltung Europas, (sofern sie dazu in der Lage sind), sowie die sittlich geistigen Grundlagen ihres Handelns, (sofern sie solche haben), den Bürgern verständlich machen. So können diese angeregt und motiviert werden, sich mit Europa, seinem Selbstentwurf und seinen Lernund Wissenszielen zu identifizieren, explizites Wissen mit zu erzeugen, weiter zu verarbeiten und in diesem Rahmen ihre Kompetenzen und Qualifikationen und ihre intuitive Sittlichkeit auch in den Dienst eines werdenden Europas zu stellen. Hier geht es um Entwicklung und Veränderung von Bewusstsein und Bindungen, Einstellungen und Werten, Gewohnheiten und Fähigkeiten durch öffentliche Kommunikation wie auch auf neuen Wegen der Erziehung, Bildung und Qualifikation – wozu auch die weitere Zusammenführung der Natur‑, Kultur- und Sozialwissenschaften mit der Ausbildung von Verantwortungseliten in einem Verbund europäischer Universitäten gehören könnte. (Siehe weiter unten.) • · Europäische Identitätsfindung, die Bestimmung von Lern- und Wissenszielen, die Explikation des entsprechenden Wissens und der Ethik einerseits und die Entfaltung der intuitiven Sittlichkeit und des Bewusstseins der Bürger andererseits können sich wechselseitig stützen und vorantreiben, wenn ein optimales Fließen von Wissen und Bewertungen ermöglicht wird. Das impliziert, wie schon angesprochen, die Erzeugung und Pflege sowie den Ausbau der Kommunikationsinfrastrukturen, unabhängiger europäischer Medien und Netzwerke, der Medien‑, Informations- und Wissenstechnologien, um in allen Bereichen lernender Organisation eine optimale Durchlässigkeit und Integration impliziten und expliziten Wissens, impliziter und expliziter Ethik, also ihren Fluss und Austausch – von Kopf zu Kopf und von den Köpfen in die digitalen Netzwerke und zurück – zu ermöglichen. Grundsätzlich sollte die Organisation des Wissens und der Ethik in, über und für Europa eine angemessene Eigenkomplexität entwickeln, damit eine dadurch angeleitete politische und organisierte Mitgestaltung Europas weder in „business as usual“ und bürokratische Erstarrung noch ins Chaos abrutscht, sondern – einer künstlerischen Gestaltung ähnlich – geschickt „am Rande des Chaos“, zwischen Öffnung und Schließung balancieren kann. Damit hier eine angemessen komplexe europäische Wissenslandschaft und eine Multiperspektivität 9) entstehen kann, die sich über die Vielfalt der europäischen Kulturen hinaus auch für Dialog und Austausch mit nicht-europäischen Kulturen öffnet, müssen die gegenwärtigen Informations- und Wissensflüsse, die orientierenden Deutungsmuster und Narrative beobachtet und im Rahmen einer Ethik der Information und der Verpflichtung zur Wahrheit (z. B. durch Fakten-Check) kritisch reflektiert und ggfs. gebahnt, gefördert und genutzt werden – wozu vielleicht die Einrichtung einer entsprechenden europäischen Institution, eine Art „europäische Informative“ beitragen könnte.

VI. 2 Organisation politischer Steuerung „Die Staaten sollen in einen Völkerbund treten, einen vereinigten Willen bilden und Sicherheit und Recht nicht aus eigener Macht, sondern aus dem Völkerbunde schöpfen.“ (Immanuel Kant) Eine zukunftsfähige Entwicklung Europas bedarf einer „Balance“ zwischen sozialer und politischer Integration einerseits und dem Erhalt von Unterschieden und der historisch gewachsenen Vielfalt kultureller Lebensformen andererseits. Nur dann kann man von einer „positiven Integration“ (Niklas Luhmann) 276

sprechen. Ein lockerer Verbund von Nationalstaaten, deren Partnerschaft sich auf bloße punktuelle Gemeinsamkeiten politischer und wirtschaftlicher Interessen stützt, ist auf Dauer ebenso wenig erstrebenswert wie die Einrichtung einer zentralen und vereinheitlichenden Steuerungsbürokratie  –  ein Superstaat, der über seine Steuerungsschwächen hinaus auch die Gefahr der Entdemokratisierung mit sich bringt. Die regionale, ethnische und kulturelle Vielfalt Europas muss eine angemessene Repräsentation in einer Vielzahl von Strukturen, Institutionen und Prozessen der Verständigung und Orientierungsfindung, der Kompromiss- und Konsensfindung, der Willens- und Entscheidungsbildung unter dem Dach einer europäischen Charta oder Verfassung finden. 10) Dazu bedarf es einer Stärkung institutioneller Politik und zivilgesellschaftlicher Kräfte auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene. Auf allen Ebenen kommt es darauf an, repräsentative und zivilgesellschaftliche Demokratie mit der Exekutive zu neuen Synergien einer systemisch aufgeklärten Selbstbeobachtung und politischen Steuerung Europas zu verknüpfen. Darum geht es im Folgenden.

Die institutionelle Architektur Europas ausbauen, demokratisieren und stärken „Es ist der Fehler der Linken zu denken, man könne Europa ohne die Staaten haben. Und es ist der Fehler der Rechten zu meinen, man könne die Staaten ohne Europa haben. Die langweilige Wahrheit lautet, dass es das eine nur um den Preis des anderen gibt.“ (Timothy Snyder) „Mittlerweile könnte man (…) wissen, dass sich demokratisch verfasste Gesellschaften nur dann nachhaltig internationalisieren lassen, wenn ihre Internationalisierung durch eine selbstbestimmte, ‚vor Ort‘ formulierte und vermittelte Politik auf unterschiedliche Problem- und Bedürfnislagen hin gestaltet wird. Offene Grenzen für alle und alles schließen das aus.“ (Wolfgang Streek) Im Rahmen einer lernenden Organisation politischer Steuerung Europas geht es nicht nur um eine Übertragung der bewährten institutionellen Architektur nationaler Rechtsstaaten auf die europäische Ebene, sondern darüber hinaus um eine Suche nach und Experimentieren mit neuen Wegen demokratisch legitimierter und reflektierter Regulation und Mitgestaltung unter Bedingungen der Europäisierung und Globalisierung. 11) Die institutionelle Architektur Europas könnte ein neuartiges Gebilde werden, das eine nicht nur quantitative Erweiterung, sondern auch qualitative Verbesserung und Modernisierung gegenüber allen bisherigen Formen demokratischer Staatlichkeit in der westlichen Kultur darstellen würde. Im Rahmen dieser lernenden Organisation werden die Nationalstaaten nicht abgeschafft, sondern „gekonnt“ miteinander und mit regionalen und transnationalen Steuerungsebenen vernetzt. 12) Denn nationale Identitäten sind im europäischen Entwicklungspfad historisch gewachsen und keineswegs bloß abgeschottet, geschlossen und „borniert“, sondern bilden heute auch in sich Erfahrungs- und Verständigungsgemeinschaften, die sich für die Anderen öffnen können. Sie verdienen Respekt und Anerkennung auch von Seiten der kosmopolitisch orientierten Eliten. Erst wenn und wo dies ausbleibt, kann sich ein radikaler bornierter Nationalismus ausbilden. 13) Schließlich zeigen die europäischen Nationen auch „unterschiedliche Konfigurationen („historische Kompromisse“) nicht nur zwischen Bürgern und Staat, sondern auch zwischen Gesellschaft und Kapitalismus, 277

denen unterschiedliche Lebens- und Wirtschaftsweisen entsprechen“. 14) Hier handelt es sich um nationale und auch regionale Gestaltungsspielräume und Formbildungen, die im Rahmen von Bemühungen um eine positive, differenzierte Integration zu berücksichtigen sind. 15) Aber weil sie für viele Aufgaben zu groß und für andere zu klein sind, müssen die Nationalstaaten Souveränität nach „unten“ und nach „oben“ abgeben. Eine entsprechend differenzierte und föderale politische Integration, kann eine europäische Union politisch nach innen stabilisieren, ihre Legitimation unter den Bürgern stärken und durchaus auch nach außen handlungsfähiger machen. Zum Souveränitätstransfer nach „unten“ gehört eine kluge, Subsidiarität berücksichtigende Integrationsstrategie, die den europäischen Nationen, Regionen und Kommunen ihre Selbstbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erhält, und auf diese Weise den Gefahren eines Rückfalls in harte Grenzziehungen, in Nationalismus und aggressiven Regionalismus in Europa entgegenwirken kann. 16) Europa könnte einen Stabilitäts- und Orientierungsrahmen bieten, in dem die Bedürfnisse nach lokaler und regionaler Gemeinschaft und die regionalistischen und separatistischen Bestrebungen (z. B. der Katalanen, der Schotten, der Norditaliener, der Flamen u. a.), in denen sie sich artikulieren, so entfaltet und integriert werden, dass die hier auch enthaltenen antistaatlichen und antieuropäischen Potentiale in einer Solidarität von Solidargemeinschaften entschärft würden. 17) Zum Souveränitätstransfer nach „oben“ gehört die gemeinsame Bindung der Nationalstaaten an europäische Verträge, Vereinbarungen und gemeinsame Strategien und die Schaffung entsprechender gemeinsamer Institutionen zur Bewältigung der kulturellen und politischen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen. Diese sollten durch demokratische Willensbildung der Bürger (als Unionsbürger) legitimiert und in ihren Grundlagen und Rahmen schließlich auch in einer europäischen Charta oder Verfassung definiert werden. Dazu gehört auch und vor allem die Schaffung eines europäischen Wirtschafts- und Handelssystems. (Siehe weiter unten.) Insofern könnten die Delegation von Macht der Nationalstaaten „nach unten“ zugunsten einer Stärkung und Vernetzung regionaler und lokaler Selbstorganisation (Iring Fetscher) einerseits und andererseits ihre Delegation „nach oben“ – vielleicht weniger im Sinne einer Parlamentisierung der EU, sondern mehr als „Europäisierung der nationalen Parlamente“ (Heinrich August Winkler) – in eine neuartige und effiziente Vernetzung, Differenzierung und Integration von Ebenen der politischen Steuerung münden.

Neuformulierung der europäischen Verträge Eine wohl unverzichtbare Voraussetzung der weiteren politisch-demokratischen Integration Europas wäre allerdings ein „Zurückgehen auf Los“ im Sinne einer Bereinigung und Neuformulierung der europäischen Verträge von 1957 zur Schaffung einer europäischen Marktwirtschaft, die 1964 vom Europäischen Gerichtshof in den Verfassungsstatus gehoben wurden. Diese Konstitutionalisierung der Verträge „ist so, als stünde das gesamte Handelsgesetzbuch im Grundgesetz … Die Pflichten der Staaten wurden dadurch in Rechte der Wirtschaftsakteure verwandelt und konnten eingeklagt werden.“ (Dieter Grimm). Die Folge ist, dass heute nationalstaatliche politische und insbesondere sozialpolitische Entscheidungen der Kontrolle und Beschränkung seitens der EU-Kommission und den rechtlichen Sanktionen des europäischen Gerichtshofs unterworfen werden, indem sie von diesen ggfs. zu Hemmnissen für den gemeinsamen Markt erklärt werden. „Da die Verträge nun einmal in Verfassungsrang erhoben sind, müssten sie auch wie eine Verfassung Gestaltet sein. Sie müssten sich auf die Zwecke, die Organe, die Kompetenzen, die Verfahren der EU und die Unionsgrundrechte beschränken. Alles andere müsste auf die Ebene des einfachen Rechts herabgestuft werden – und damit zur Repolitisierung offen stehen.“ 18) 278

Ohne eine Begrenzung der Macht der europäischen Kommission und des europäischen Gerichtshofs, die derzeit mit Berufung auf den Verfassungsstatus der Schaffung europäischer Marktwirtschaft und weitgehend ohne parlamentarische Kontrolle und Einspruch die Deregulierung der Wirtschaft voran- und übertreiben können, wird eine Stärkung des europäischen Parlaments wenig ausrichten, eine Demokratisierung europäischer Politik und eine demokratisch legitimierte Regulation des Kapitalismus nicht ausreichend stattfinden und Erhalt und Ausbau der sozialen und sozialstaatlichen Errungenschaften der europäischen Nationalstaaten nicht möglich sein. Auch weil ein solcher „Rückgang auf Los“ (aufgrund der dafür nötigen Einstimmigkeit aller Mitglieder) kaum realistisch scheint, ist die gegenwärtige Situation äußerst schwierig und Europa in Zukunft von einer „Abwärtsspirale“, von sich verschärfenden Krisen und vom Scheitern bedroht. 19) Es könnte allerdings sein, dass gegenwärtige und noch kommende innere Krisen wie auch Bedrohungen von außen zu einem Wiedererstarken der Politik und hier insbesondere der europäischen Linken mit neuen Einsichten führen und damit doch einen „Rückgang auf Los“ oder ähnliche Wege einer angemessenen Regulation des Kapitalismus eröffnen.

Suchprozess und Netzwerkbildung Souveränitätstransfer nach „oben“ und nach „unten“ und die damit verbundene Ausdifferenzierung, Vielfalt und Verflechtung von Steuerungsebenen europäischer Politik bilden weniger festgefügte klar abgegrenzte Strukturen, sondern eher einen sich verzweigenden rhizom-ähnlichen Suchprozess: „Ein vielfältiger Prozess von Netzwerkbeziehungen, die in agiler Weise aufnehmen und umsetzen, was an Problemen und Gestaltungsansätzen auftaucht …“ Es handelt sich um „Beziehungen zwischen Beziehungen, die sich aus Netzwerken von Beziehungen ergeben und aus denen sich wiederum Netzwerke ergeben können … Europa führt uns seit einigen Jahren vor Augen, dass auch im politisch-öffentlichen Bereich das mechanistische Zeitalter zu Ende gegangen ist … Politische Gebietskörperschaften im traditionellen Sinn lösen sich auf in eine Vielfalt von Netzwerken, die pragmatisch spezifische Funktionen wahrnehmen“ (Christian Lutz). 20) Ähnliche Eigenschaften einer Vielebenensteuerung konnten auch Reiche oder Imperien in der europäischen Geschichte ausbilden. 21)

Demokratische Legitimation Europas stärken Nur im Rahmen einer erweiterten und verbesserten demokratischen Legitimation Europas können Anpassungen und Modernisierungen europäischer Finanzpolitik, eine differenzierte Abstimmung und Integration (nicht Gleichschaltung) der Wirtschafts‑, Sozial- und Steuerpolitiken, der Bildungs‑, Kulturund Medienpolitiken und eine gemeinsame Forschungs‑, Technologie- und Energiepolitik sowie auch eine Sicherheitspolitik, die den Interessen der europäischen Völker dient, nachhaltig vorangebracht werden. Dieser Prozess einer differenzierten und abgestuften Integration könnte und sollte schließlich in Schritten, in denen die freiwillige Selbstbeschränkung der Rechte und Handlungsspielräume nationaler Parlamente sich mit Stärkung und Ausbau der Rechte und Handlungsspielräume des europäischen Parlaments (als vollgültiger Legislative mit Haushaltsrecht und Gesetzgebungsinitiative) verbindet und sich Anteile nationaler Souveränität auf die EU-Kommission als europäische Regierung verlagern, in eine politische Union mit einer europäischen Charta oder Verfassung münden. Dem würde in der Bürgerrolle eine allmähliche Selbsterweiterung des Staats- zum Unionsbürger entsprechen. 22) 279

Systemdifferenzierung, ‑integration und Freiheitsrechte unter den Schutz der europäischen Verfassung stellen Um beides, eine transnationale, differenzierte Integration und eine angemessene Repräsentation, Pflege und Mitgestaltung der regionalen, ethnischen und kulturellen Vielfalt Europas zu gewährleisten, bedarf es ihrer Fundierung, Rahmung und Legitimation in einer europäischen Charta oder Verfassung, mit der sich auch die Akteure regionaler Politik, Bürgergemeinschaften und Bürger identifizieren können – auch, weil sie ihnen ggfs. einen „Mehrwert“ an Freiheitsgarantien und Entfaltungsmöglichkeiten bietet. 23) Die schrittweise, immer engere Vernetzung der Nationalstaaten und die differenzierte Integration ihrer Politiken muss mit dem schrittweisen Auf- und Ausbau einer transnationalen europäischen Demokratie verbunden und durch diese legitimiert werden. So wird die Unterordnung der Nationalstaaten unter das Dach eines supranationalen EU-Rechts auf Dauer nur gelingen können, wenn diese über den erklärten Willen der (demokratisch gewählten) nationalen Regierungen hinaus sich auf die verfassungsgebende Gewalt eines supranationalen Gemeinwesens stützen kann, das durch die demokratische Willensbildung aller Unionsbürger legitimiert ist. Insofern jeder Europäer nicht nur Angehöriger eines europäischen Volkes, sondern zugleich auch Unionsbürger ist, kann eine transnationale Demokratie erst dann entstehen, wenn beide verfassunggebenden Subjekte – Unionsbürger und Völker – im Gesetzgebungsprozess als gleichberechtigte Partner auftreten. Darüber hinaus müssen die europäischen Regionen und ihre Lebens‑, Gemeinschafts- und Wirtschaftsformen auf europäischer Ebene angemessen vertreten sein. Dafür könnte es z. B. – neben dem europäischen Parlament und seiner gesetzgebenden Funktion, dem europäischen Rat mit den nationalen Regierungschefs und der Kommission mit ihren exekutiven Funktionen – einen europäischen Senat geben, der aus Repräsentanten europäischer Regionen – z. B. je zwei Senatoren pro Region – bestehen würde. 24) Schließlich sollte eine genauere Selbstbeobachtung Europas und seiner politischen Landschaften mit Blick auf Prozesse der Demokratisierung und Entdemokratisierung in den involvierten Nationalstaaten auf europäischer Ebene institutionalisiert werden. Das könnte eine Kommission sein, die Entwicklungen bzw. Erosionen der Rechtsstaatlichkeit in Europa beobachtet, ggfs. „Alarm schlägt“ und Sanktionen (seitens der europäischen Kommission) auslösen kann.

„Weiche Grenzziehungen“ als Rahmenbedingungen für ein multikulturelles Europa „Fremde dürfen nicht wie Feinde behandelt werden. Die Umherirrenden sind … ein mobiler Teil der Menschheit, der einen Drahtseilakt vollführt – zwischen einer Gewalt der Entwurzelung auf der einen und einer Gewalt der Repression auf der anderen Seite … An ihren Lebensumständen lassen sich die Folgen aller Ungleichheiten unserer heutigen Welt ablesen: jenen Mangel an Rechten, der zu beheben ist, wenn man will, dass sich Menschheit endlich auf Gleichheit reimt. Kurzum, es geht um die offene Frage, ob die Menschheit diesen Teil ihrer selbst aus sich vertreibt oder ob sie dessen Ansprüche in ihre politische Ordnung und in ihr Wertesystem integriert. Dies ist die Wahl einer Zivilisation. Es ist unsere Wahl.“ (Etienne Balibar) Kulturelle Diversität und Vielfalt sind eine Stärke Europas und bilden ein Zukunftspotential für die europäische Gesellschaft, ihre Politik und Wirtschaft. Zu den Rahmenbedingungen ihrer Verwirklichung gehört auch eine europäische Migrations- und Integrationspolitik, die Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ balanciert. 280

Grundsätzlich hat Europa das Recht und die Verpflichtung, seine Außengrenzen zu kontrollieren und ggfs. auch gegenüber illegaler Migration zu schließen. Auf dieser Grundlage bedarf es aber verschiedener Ausgestaltungen organisierter Öffnung: • Eine bedingungslose, von europäischen Institutionen initiierte und getragene Rettung von Flüchtlingen aus Seenot und Todesgefahr. Diese muss durch eine Strafverfolgung der Schleuser begleitet werden, um zu erreichen, dass niemand sich in ihre Boote setzt. Ansonsten gilt: „Europa hat die Pflicht, Flüchtlinge aus der Seenot zu retten, aber nicht die moralische Pflicht, all diesen Menschen ein Aufenthaltsrecht zu geben.“ (Paul Collier). Hier müssen u. a. finanziell unterstützte Rückführungsabkommen mit Flüchtlingsländern (wie z. B. Nigeria, Senegal, Gambia u. a.) getroffen werden. • Eine humanitär geleitete Öffnung für Flüchtlinge, die in ihren Heimatländern von politischer Verfolgung und Gewalt, von Kriegen, Zusammenbrüchen medizinischer Versorgung und ökologischen und Naturkatastrophen existenziell bedroht sind, fliehen mussten und ein Recht auf Asyl und „Gastfreundschaft“ (Etienne Balibar) haben. 25) Um die Zuwanderung aus den Krisen- und Kriegsstaaten auf humane Weise zu verteilen, bedarf es einer fairen Verteilung der Betroffenen in einer Solidargemeinschaft europäischer Staaten (Internationales Resettlement) wie auch der finanziellen Unterstützung ihrer Nachbarländer, damit diese ihre Grenzen für die Flüchtlinge offenhalten. • Darüber hinaus braucht Europa eine wohl dosierte Öffnung für Wirtschaftsmigranten, die sich an europäischen wie auch an Interessen der Herkunftsländer orientiert und hier „win-win-Spiele“ ermöglicht. Mit Blick auf zukünftige Überalterung der Bevölkerungen und den zunehmenden Fachkräftemangel braucht Europa ein zeitgemäßes und zukunftsorientiertes Einwanderungsgesetz, das den legalen Zugang zum Arbeitsmarkt besser und einheitlicher reguliert und allgemeine Rechtssicherheit für die europäischen Regierungen wie auch für die Wirtschaftsmigranten gewährleistet. In diesem Rahmen können und sollten gruppenspezifisch und qualifikationsorientiert die Einbürgerungsbedingungen erleichtert, die Einbürgerungszahlen erhöht und neue Initiativen, Wege und Mittel einer positiven Integration gesucht und entwickelt werden. Dazu gehören u. a. mehr Öffnung der Institutionen und hier insbesondere des öffentlichen Dienstes für Migranten wie auch der Aufbau von Strukturen und Prozessen der interkulturellen Verständigung, Mediation und Bildung, der sozialen und wirtschaftlichen Integration und die Möglichkeit, eigenständige Lebensformen, Traditionen und Sitten (unter dem Dach des europäischen Rechts, der Anerkennung und des Schutzes der Menschenrechte) bewahren zu können. • Darüber hinaus müssen aber auch Regelungen und Anreize geschaffen werden, die die Entwicklungs- und Schwellenländer vor einer „brain drift“ bewahren. Dazu könnten z. B. befristete Ausbildungs- und Arbeitsvisa gehören, um zu gewährleisten, dass Kapital und Wissen auch in die außereuropäischen Herkunftsländer zurückfließen können. Ferner sollte Europa mehr Studenten aus armen Ländern aufnehmen und ihnen Anreize geben, nach dem Studium zurück zu gehen, um zur Entwicklung ihrer Länder beizutragen. 26) • Allen asyl- wie auch arbeitssuchenden Migranten sollten schneller und mehr Jobs angeboten werden. Statt der üblichen Camps könnten mit Ansiedlung von Produktions- und Dienstleistungsanteilen europäischer Unternehmen an den Rändern Europas, z. B. in Italien, Griechenland und Spanien „provisorische Städte“ (Gerald Knaus) mit Jobangeboten entstehen. Über die skizzierten „weichen Grenzziehungen“ Europas hinaus sollten die derzeitige EU- und Handelspolitik sich mit Blick auf Afrika auf reformfähige und ‑willige Staaten konzentrieren und hier mehr und gezielt Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Dazu gehören Wirtschaftshilfen, die wirklich bei den Bedürftigen ankommen und die Eröffnung fairer Bildungs‑, Arbeits- und Handelsmöglichkeiten. um den Menschen mehr Entwicklungsmöglichkeiten in ihrer Heimat zu bieten, auch um den kommenden gewaltigen Migrationsdruck auf Europa zumindest abzumildern. (Dazu mehr im Fazit.) 281

Die Kräfte der Zivilgesellschaft fördern Europäische Politik sollte sich auf allen Ebenen noch weiter für die Kräfte der Zivilgesellschaft (Bürgernetzwerke und ‑initiativen, NGOs u. ä.) öffnen und sich mit diesen verflechten. Nur in einer Kombination von „top down“ und „bottom up“, durch eine komplexe (digitale) Vernetzung von Bürgern und Institutionen auf allen Ebenen kann politische Mitgestaltung zu einem stabilen und viablen Europa beitragen. Zu einem „digitalgestützten offenen Regieren“ (Beth Noveck) gehören nicht nur eine Digitalisierung aller Bürgerdienstleistungen, sodass Bürger diese über das Netz beantragen und erhalten können und dass in umgekehrter Richtung Regierungen Wünsche und Vorstellungen der Bürger ermitteln können, sondern darüber hinaus eine aktive Beteiligung der Bürger und Nutzung ihres Wissens und ihrer Ideen zur Bearbeitung und Lösung gesellschaftlicher Probleme. Bürgerbeteiligung sollte sich also nicht bloß auf Reaktionen und Aktionen beschränken, die durch aktuelle Missstände, Konflikte und Krisen ausgelöst sind, sondern sich in lernenden Organisationen, in Kommunikation mit Experten und Politikern verstetigen und strukturieren. So kann die Anwendung des Prinzips der Selbsthilfe und der Eigenverantwortung auf allen Ebenen der politischen Steuerung zu vielfältigen politischen Netzwerken und Einheiten führen. 27)

Repräsentative Demokratie und Willensbildung durch plebiszitäre Instrumente ergänzen Hier scheint allerdings eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre Instrumente auf den kommunalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebenen der politischen Steuerung nicht nur wünschenswert, sondern mit Blick auf Erhalt und Stabilisierung, Legitimation und Lebendigkeit bzw. „Wiederbelebung“ der Demokratie unverzichtbar zu sein. Zu sinnvollen Instrumenten gehört weniger die Taktik, je nach Belieben unbequeme und schwierige politische Entscheidungen von oben nach unten, auf das Volk abzuschieben (fakultatives Referendum), dieses in solchen Fällen zu befragen (consultatives Referendum) oder die Völker „gnädig“ Präsidenten u. a. direkt wählen zu lassen. Sinnvoll sind vielmehr plebiszitäre Instrumente, die im politischen Alltag von „unten nach oben“ wirken. 28) Festzuhalten ist, dass nur beides zusammen – Ausbau und Demokratisierung der institutionellen und staatlichen Architektur Europas und die Weiterentwicklung europäischer Zivilgesellschaft eine positive, also „differenzierte Integration“ (Fritz Scharpf), dynamische Stabilisierung und damit Viabiliät Europas gewährleisten können. 29)

Die „Consultative“: eine Verbindung zwischen europäischer Öffentlichkeit, scientific community, Zivilgesellschaft und politischer Steuerung Zwischen dem System „Kultur der Kultur“ als „flüssigem Fundament“ öffentlicher Verständigung, Orientierungssuche und Willensbildung der Bürger und den Systemen europäischer Gesellschaft (Markt, Staat, Demokratie und Recht) wie auch den Wissenschaften und Künsten sollten neue Vernetzungen geschaffen werden. Dazu könnte die Einrichtung einer europäischen „Consultative“ beitragen. 30) Diese sollte dreifach, in der wissenschaftlichen, philosophischen und ethischen Selbstbeobachtung westlicher Kultur, in der europäischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft und in der institutionellen Architektur Europas verankert sein. Auf diese Weise könnte sie Ergebnisse der kritischen Selbstbeobachtung Europas wie auch die Interessen der europäischen Zivilgesellschaft und der Bürger effektiver in die politische Steuerung einbringen. 282

Die „Consultative“ wäre ein von partikularen Interessen, Interessengruppen und Parteien unabhängiger „think tank“ und eine politische Institution, die die drei rechtsstaatlichen Gewalten – Legislative, Judikative und Exekutive – ergänzt. Ihre Mitglieder sollten (in einem Modus, der zu klären wäre) aus dem Kreis der besten Köpfe Europas in regelmäßigen Abständen gewählt und als (überparteiliche) Delegierte mit Mitspracherechten und ‑pflichten auf europäischer Ebene ausgestattet sein. Zu ihren zentralen Aufgaben gehört ein kulturelles, durch den aktuellen Stand des Wissens und der ethischen Reflexion gestütztes „Controlling“: die Beobachtung und Kritik, Anregung und Unterstützung der politischen Steuerung bei Verfolgung und Umsetzung ihrer Aufgaben. 31) Die „Consultative“ hätte – in Ergänzung der Interessennetzwerke und der einseitig von Kapitalinteressen gelenkten Lobby – die Versorgung mit verlässlichen Informationen und Expertise als Entscheidungshilfe für Politiker zu übernehmen. Hier bekommen die Wissenschaften und eine gute Wissenschaftskommunikation eine wichtige Rolle. Dazu sollte den gegenwärtigen Tendenzen zur Erosion von Wissenschaftskompetenz in den öffentlichen und privaten Medien entgegengewirkt werden und der Wissenschaftsjournalismus und die Entwicklung entsprechender Qualifikationen der Journalisten wie auch der Wissenschaftler gefördert werden. Hinzu kommt eine Vermittlungsfunktion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System: Indem die „Consultative“ auch (lokal, regional, national und transnational) engagierte Bürgerinitiativen berät, ihnen Expertise liefert und sie ggfs. bei der Nutzung der skizzierten plebiszitären Instrumente unterstützt, aber auch ihrerseits die Beurteilungen und Bewertungen engagierter Bürger („citizen science“) aufnimmt, reflektiert und in die parlamentarische Arbeit und Willensbildung implementiert, bildet sie eine „Brücke“ zwischen Zivilgesellschaft und Politik und könnte zu einer systemisch aufgeklärten und partizipativen Mitgestaltung Europas beitragen. 32) Das Wissen der Laien, ihre Kreativität und ihre intuitive Sittlichkeit könnten in Netzwerke eingebunden und politisch mobilisiert werden, wozu u. a. die regelmäßige Einberufung von per Losverfahren (David van Reybrouck) und/​oder durch Quotierung konstituierten, „Bürgerräten“ und Projektgruppen gehören könnten, denen genügend Zeit und Information gegeben wird, um zu aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen und Entscheidungen (z. B. Migration und Integration, Technologien, Bildungsziele) Information und Wissen, Orientierungen und Entscheidungshilfen zu erarbeiten, die der Komplexität der Probleme und ihrer Lösungen angemessen sind. 33) Auch eine genauere Selbstbeobachtung Europas und seiner politischen Landschaften mit Blick auf Prozesse der Demokratisierung und Entdemokratisierung in den involvierten Nationalstaaten könnte ggfs. von der „Consultative“ übernommen werden. Schließlich könnte Mediation in Konflikten aller Art, zwischen Interessengruppen und Kriegsparteien, Regionen, Nationen in Europa und darüber hinaus zu den zukünftigen Aufgaben einer europäischen „Consultative“ gehören. Die skizzierte Demokratisierung und die zivilgesellschaftliche Bereicherung der Organisation politischer Steuerung eröffnen auch Spielräume für Veränderungen in der Organisation wirtschaftlicher Leistung und können hier mehr Interesse an innovativen Wegen und ihre Akzeptanz in den Bevölkerungen bahnen. Dazu gehört auch, dass nationalstaatliche wie europäische Staatlichkeit sich nicht vom Wohlfahrtsstaat zurück zum „Nachtwächterstaat“, sondern zum „Sozialinvestitionsstaat“ 34) weiterentwickeln.

VI. 3 Organisation wirtschaftlicher Leistung „Wenn es stimmt (…), dass die Moderne zurückgerufen werden kann, das heißt, dass wir endlich erinnern, woraus sie besteht, aber auch, dass wir verantwortlich dafür sind, die Defekte des Produkts zu beheben (…), wird das Projekt der Moderne so lange nicht vollendet sein, wie wir nicht in der Lage sind, die Ökonomie zurückzurufen.“ (Bruno Latour) 283

Jede kulturelle Lebensform ist eingebettet in das Ökosystem der Natur und scheitert, wenn ihre Wirtschaft auf Dauer die hier ausdifferenzierten Gesetzmäßigkeiten und Begrenzungen ignoriert und sich vom Glauben (!) an ein grenzenloses materielles Wachstum treiben lässt.

Europäische Energiewende Im Rahmen einer dringend notwendigen Reduktion des Verbrauchs der begrenzten materiellen Ressourcen der Erde wäre eine europäische Energiewende ein bedeutsamer Schritt. Diese hätte, wie schon angedeutet, die Energieeffizienz zu steigern, die Anteile regenerativer, nicht-fossiler Energien zu vergrößern und die weitere begrenzte Nutzung fossiler Energien nur bei sicherer Einbindung (in Boden, Meeresgrund) des freigesetzten CO2 zuzulassen. Im Rahmen der angestrebten Energiewende geht es nicht nur um technische, vor allem digital gestützte Lösungen zur Steigerung von Energieeffizienz, also dezentrale Energienetze, Koppelung und Integration der erneuerbaren Quellen Sonne, Wind und Biomasse wie auch der Sektoren Strom, Wärme und Verkehr und Ausbau und Integration öffentlicher Verkehrsmittel. Darüber hinaus geht es auch um soziale und institutionelle Innovationen: Rekommunalisierung der Energieerzeugung, Wachstum von Energiegenossenschaften, Verschmelzung von Energie-produzenten und ‑konsumenten (Prosumentennetzwerke) u. a., die durch eine europäische Rahmensetzung gefördert werden können 35). Ferner wäre der Erhalt der Biodiversität auch aus Gründen der Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen und den Existenzrechten anderer Lebensformen geboten. 36) Im Rahmen seiner, die Viabilität der kulturellen Lebensform sichernden ökologischen Einbettung lässt sich, wie bereits ausgeführt, wirtschaftliches Handeln auch als „Vollzug von Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) bestimmen, der der regulativen Idee reziproker Anerkennung und Gerechtigkeit durch Kooperation und faire Verteilung gemeinsam erwirtschafteter Güter folgt. Als funktionale Ausdifferenzierung des wirtschaftlichen Handelns kann/​könnte auch das Markhandeln diesem Regulativ folgen, insofern es auf „wechselseitige Vorteilsgewährung zwischen Tauschpartnern“ (Luigino Bruni, Robert Sudgen) zielt, also „win-winSpiele“ ermöglicht, die alle Beteiligten und Betroffenen einbeziehen. 37) Nur im Rahmen der nachhaltigen Sicherung von Viabilität im Ökosystem der Erde und (intra- und interkultureller) sozialer Gerechtigkeit und den damit gesetzten Grenzen kann sich Wirtschafts- und Markthandeln auch als Wettbewerb zur Optimierung von Wachstum und zur Steigerung persönlicher Erträge organisieren. Vor diesem Hintergrund sollte die europäische Wirtschaft durch Energieeinsparung und Dematerialisierung naturverträglicher, durch gerechtere Verteilung ihrer (materiellen wie geistigen) Erträge kulturverträglicher werden und ihren Wettbewerb vor allem in den Dienst dieser Natur- und Kulturverträglichkeit stellen. Das Bemühen um die Verwirklichung qualitativen, ökologisch verträglichen Wachstums und einer gerechteren Gesellschaft und Wirtschaft in Europa kann an die Diskussion über einen „dritten Weg“ zwischen Neoliberalismus und Staatsinterventionismus anknüpfen. Zu suchen sind Perspektiven einer vernünftigen Mitgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft in Europa, die zwischen neoliberaler Markt- und sozialdemokratischer Staatsfixierung die Kräfte der Kultur, der Gemeinschafts‑, Gesellschaftsbildung und der Menschen in den Mittelpunkt stellen und von hier aus die wichtigen, aber begrenzten Funktionen von Markt und Staat und die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wirtschaft neu zu bestimmen suchen. Dafür muss eine langfristige, zeitlich gestaffelte und adaptive, also sich selbst – unter Bedingungen fehlender Gewissheit über Zukunft – kontinuierlich korrigierende, europäische Umwelt‑, Haushalts‑, Wirtschaftsund Finanzpolitik entwickelt werden, die die derzeitige Polarisierung zwischen Kräften und Vertretern der Regulierung und der Deregulierung hinter sich lässt. Vielmehr geht es um „gekonnte“ Regulierung wirtschaftlichen und industriellen Wachstums und Wandels unter gemeinsamen, ökologischen, sozialen, kul284

turellen und in diesem Rahmen auch produktivitäts- und gewinnbezogenen Gesichtspunkten entlang einer „Zeitschiene“, die kurz‑, mittel- und langfristige Zielsetzungen koordiniert. Der neue europäische Entwicklungspfad, der gesucht und definiert werden sollte, ist also kein quantitativer Wachstums‑, sondern ein ethisch reflektierter Neuorganisationspfad, der mehr qualitatives Wachstum, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit ermöglichen soll.

Ein europäisches Wirtschafts- und Handelssystem Zur institutionellen und politischen Rahmung dieses Entwicklungsprozesses sollte ein multilaterales europäisches Handels- und Wirtschaftssystem geschaffen werden, das unter dem Mandat des EU-Parlaments und unter Mitwirkung der nationalen Parlamente zu entwickeln wäre, in seinen Zielsetzungen und Rahmenorientierungen für die Bevölkerungen transparent gemacht und ggfs. durch eine europäische Volksabstimmung legitimiert und in Kraft gesetzt werden sollte. 38) Zu diesem System gehören die Festschreibung von Menschen- und Arbeitsrechten, Umweltschutzabkommen, Klimaschutz und Energiewende, der Erhalt kultureller und regionaler Vielfalt, Chancengleichheit sowie die Reduktion sozialer Polarisierung, der Ungleichverteilung von Arbeit, Wissen und Einkommen, ein weitgehend einheitliches Unternehmensbesteuerungssystem, eine Kartellbehörde, eine wirksame Wettbewerbskontrolle und eine Finanzaufsicht, die Begrenzung und Kontrolle von Staatsverschuldung sowie die weitgehende Einhaltung von ausgeglichenen Handelsbilanzen der europäischen Nationen. Darüber hinaus sollte im Rahmen des europäischen Handels- und Wirtschaftssystems ein gezielter, differenzierter und dosierter Einsatz von Zöllen solchen Ländern ermöglicht werden, die ein niedrigeres Wohlstandsniveau und einen geringerem Industrialisierungs-/​Diversifizierungsgrad aufweisen und zunächst noch ihre Märkte schützen müssen. (Das gilt auch und insbesondere für den Handel zwischen Europa und afrikanischen Nationen). Ferner sollte im Rahmen des europäischen Wirtschafts- und Handelssystems eine Ausrichtung der Organisation wirtschaftlicher Leistung auf drei Sektoren und ihre Integration verbindlich definiert werden. Gemeint sind der Ausbau weltmarktorientierter High-Tech-Produktionen und Dienstleistungen einerseits, binnenmarktorientierter und beschäftigungsintensiver, regionaler und lokaler Wirtschaftskreisläufe andererseits und darüber hinaus die Unterstützung und Förderung von Inseln einer Netzwerkwirtschaft, die sich auf (ggfs. elektronische) Komplementärwährungen stützt. Im Rahmen dieser Dreiteilung und ihrer Integration können auch verschiedene Eigentumsformen (öffentliches, privates, kollektives, Gesellschaftseigentum), geschützt, entfaltet, kombiniert und ggfs. auch begrenzt werden. Dank dieser dreifachen Ausrichtung kann auch jede europäische Nation ihre markt- und handelsbezogene Spezialisierung in Grenzen halten und durch ein gewisses Ausmaß an Selbstversorgung und Subsidiarität ggfs. auch mehr Unabhängigkeit und Stabilität gewährleisten. (Mehr dazu weiter unten.)

Qualitatives Wachstum definieren und messen An die Stelle der durch Kapitalverwertung getriebenen Maximierung von Wachstum um jeden Preis müssen durch Balance von Be- und Entschleunigung, durch gezielte wachstumsfördernde und ‑bremsende Maßnahmen vernünftige und spezifisch definierte, das heißt ökologisch, ökonomisch und sozial verträgliche Wachstumsraten angestrebt werden. Ein wichtiger Beitrag dazu wäre die Umstellung oder zumindest Ergänzung der bislang üblichen Messung des Wirtschaftswachstums in terms des Bruttosozialprodukts (BIP) durch einen erweiterten Maßstab, der – wie z. B. der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) – das wirtschaftliche, das natürliche und das soziale „Kapital“ und ihre Veränderungen misst. 39) Zu den fundamentalen Bausteinen einer 285

Umorientierung auf qualitatives Wachstum gehören zukunftsorientierte Ansätze in der Energie- und Landwirtschaftspolitik, die u. a. auch dem explosiven Wachstum der Städte Rechnung tragen. 39) Neben den ökologischen müssen die Risiken der sozialen Polarisierung mehr beobachtet und bearbeitet werden. Die mit einem durch Kapitalverwertung getriebenen Wettbewerb notwendig verbundene „Verbrennung“ natürlicher, kultureller und humaner Ressourcen sowie die hier quasi automatisch und durch die Digitalisierung verstärkt sich einstellende Ungleichverteilung von Arbeit, Einkommen und Wissen müssen in neuen Formen der Organisation wirtschaftlicher Leistung, der Steigerung und Teilhabe an ihrer Produktivität und der sozialen Sicherung und Vorsorge bearbeitet werden, die über sozialstaatliche Kompensation und Alimentation hinausgehen. Auch mit Blick auf die Arbeitslosigkeit bedarf es tiefer – über ihre Verwaltung und kompensatorische Bearbeitung hinausgehender – Selbstkorrekturen in der Organisation wirtschaftlicher Leistung: z. B. Arbeitszeitverkürzungen und job-sharing, lebenslange Weiterbildung und Qualifizierung, Förderung und bessere Absicherung von Selbständigkeit, Bahnung regionaler Märkte für neue Formen der Produktion und sozialer wie kultureller Dienstleistungen. Und – über all dies hinaus – sollten neue Organisationsformen von Arbeit und Tätigkeit jenseits des Markt- und Jobsystems gesucht und ausgebaut werden. (Siehe weiter unten.) Die Zielsetzung qualitativen Wachstums und mehr sozialer Gerechtigkeit ist nicht zu erreichen, wenn man ausschließlich auf markt- und kapitalverwertungsgetriebenes Wachstum setzt, sondern es bedarf einer gesellschaftlichen, das gesamte System einbeziehenden Neuorganisation, in deren Rahmen Produktivität und Wirtschaftswachstum qualitativ spezifiziert, gefördert und ggfs. auch begrenzt werden können.

Organisierte Ausdifferenzierung und Koppelung von Marktökonomie und Netzwerkökonomie „Wirtschaftsfragen sind viel zu wichtig, als dass man sie den Ökonomen und Politikern überlassen darf.“ (Thomas Piketty) Im Folgenden wird ein Vorschlag skizziert, eine ethisch reflektierte Organisation wirtschaftlicher Leistung auf zwei „Standbeine“ zu stellen: nämlich auf die bereits bestehende und hoch entwickelte Marktökonomie (mit internationalen und nationalen Währungen als Steuerungs‑, Investitions- und Tauschmedien) und darüber hinaus auf die Förderung und den Ausbau einer Netzwerkökonomie (mit einer Vielzahl regionaler Währungen). Auf diese Weise können, so die These, mehr Arbeit und Kapital wie auch Wissen, Kreativität und unternehmerische Kompetenzen für eine Produktivität und ein qualitatives Wachstum mobilisiert werden, die mehr ökologische Nachhaltigkeit, Entfaltung des Menschen sowie mehr soziale Gerechtigkeit beinhalten. • Unter „gekonnter Regulation“ der Marktökonomie wird hier ein produktivitätssteigernder Ausbau der Digitalisierung, der qualitativ hochwertigen High-Tech-Produktion und hochqualifizierter Dienstleistungen mit europäischer und globaler Marktorientierung verstanden. Dieser wäre zu kombinieren mit dem Ausbau von Binnenmärkten und regional und lokal orientierter Landwirtschaft, Produktion und Dienstleistung – insbesondere mittelständischer Serviceunternehmen, Handwerk, Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, Ökologie u.  a. Die Pflege und der gezielte weitere Ausbau dieser heute schon (insbesondere in Deutschland) relativ erfolgreich praktizierten Kombination können über Produktivitäts- und Beschäftigungswachstum hinaus auch neue Märkte für den kulturellen und sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Entwicklungsbedarf schaffen. 286

• Aber über den Einbezug dieser Entwicklungsziele in die Marktwirtschaft hinaus sollten die Spielräume für selbstorganisierte Beschäftigung und Tätigkeit jenseits der Marktwirtschaft (an)erkannt, erhalten und ausgebaut werden. Dazu sollten die vielfältigen Formen regionaler Netzwerkwirtschaft (III. Sektor, Sozialunternehmen, Eigenarbeitsinitiativen, Tauschringe, Sharing-Initiativen, regionale Währungen u. a.) gefördert und ggfs. zu produktiven Symbiosen mit Marktwirtschaft und Unternehmen verbunden werden. Im Folgenden werden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Wege und Schritte einer solchen, ethisch orientierten Neuorganisation wirtschaftlicher Leistung in Europa umrissen.

Eine erweiterte und flexiblere Währungspolitik Um produktivitäts- und weltmarktorientierte und beschäftigungs- und regional orientierte Marktwirtschaft einerseits sowie die Netzwerkwirtschaft und Möglichkeiten ihrer Kombination andererseits zu fördern, bedarf es einer veränderten Währungspolitik. Europäische Währungspolitik könnte qualitatives Wirtschaftswachstum und die Differenzierung der Wirtschaft in Markt- und Netzwerkökonomie unterstützen, indem sie ein mehrschichtiges und flexibleres Währungssystem entwickelt. Drei Schritte wären denkbar: • Europa sollte sich für die Einführung einer globalen Referenzwährung (mit negativem Zins, also Hortungsgebühr) engagieren, die sich in Europa und weltweit positiv auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Investitionen auswirken könnte. • Das Verhältnis von Euro und nationalen Währungen wäre zu flexibilisieren: ein vorübergehender Austritt, eine Art „Sabattical vom Euro“ (Kenneth Rogoff) und die Wiedereinführung einer nationalen Währung könnte in zurückfallenden Volkswirtschaften (wie z. B. in Griechenland) über die damit eröffneten Abwertungsmöglichkeiten die Wettbewerbsfähigkeit steigern und mit einem Fahrplan zum Wiedereintritt nach einigen Jahren verbunden werden. Alternativ wäre auch die Einführung eines eigenen Euro für die südlichen Länder Europas denkbar, der gegenüber dem nordländischen Euro abwertet und auf diese Weise hier mehr Wachstum ermöglichen würde (Alan Meltzer). Denn „wer eine Globalisierung ablehnt, die die Welt einem einheitlichen, Konvergenz erzwingenden Marktgesetz unterwirft, kann nicht an einem Euro festhalten wollen, der genau dies mit Europa tut.“ 40) Jedenfalls sollte Europa nicht immer, nicht in jeder Situation und zu jedem Preis daran festhalten. • Darüber hinaus sollten Entstehung und Ausbau lokaler und regionaler Währungen (ebenfalls mit negativem Zins/​Hortungsgebühr) – nicht nur zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit, sondern vor allem auch mit Blick auf regionale Gemeinschaftsbildung, Entfaltung der Menschen und ein Leben in Selbstbestimmung und Würde – zugelassen, unterstützt und gefördert werden. Es geht also nicht nur darum, den Euro und die europäische Währungsgemeinschaft (kurzfristig und immer erneut) zu stabilisieren, sondern darüber hinaus könnte eine flexibilisierte europäische Währungspolitik (mittel- und langfristig) nach „außen“ einen Beitrag zu mehr Stabilität und Nachhaltigkeit der global vernetzten Marktökonomie und Weltwirtschaft leisten, nach „innen“ von Rezession betroffenen Volkswirtschaften besser wieder auf die Beine helfen und darüber hinaus die Entstehung regionaler Netzwerkökonomien und Bürgergemeinschaften unterstützen. Eine solche neuartige Währungsflexibilität könnte auch zur systemischen Wettbewerbsfähigkeit europäischer Wirtschaft und zur Zukunftsfähigkeit Europas beitragen. 41) Im Folgenden werden zunächst Instrumente und Schritte „gekonnter“ Regulation der Marktökonomie, dann der Ausbau der Netzwerkökonomie und schließlich ihre Koppelung im Dienste qualitativen Wirtschaftswachstums, sozialer Gerechtigkeit und Entfaltung des Menschen grob umrissen. Diese Schritte wä287

ren im Dialog mit Arbeitnehmern und Bürgern, in Kooperation und Partnerschaft von Politik, Unternehmen und Finanzdienstleistern, zu konkretisieren und zu realisieren.

Gekonnte Regulation der Marktökonomie Wie schon mehrfach unterstrichen, ist die Marktwirtschaft eine große Errungenschaft der kulturellen Evolution, die gepflegt und erhalten werden muss. Aber dazu bedarf es einer gekonnt dosierten Regulation, die darauf zielen muss, die ökologischen und kulturellen Orientierungen, die Ausrichtung auf qualitatives Wachstum und soziale Gerechtigkeit besser als bislang in die Marktökonomie zu implementieren und dabei produktivitäts- und innovationsfördernde Errungenschaften der Liberalisierung zu erhalten sowie destabilisierende Elemente der Deregulierung „einzufangen.“ 42) Eine entsprechende „gekonnte Regulation“ sollte sich an folgenden Zielen orientieren: Die Produktivität der High-Tech-Produktion und ‑Dienstleistung muss (im Rahmen ökologischer und kultureller Leitorientierungen) europaweit erhalten und gesteigert werden – auch um einen Beitrag zur schwächelnden Produktivität der Weltwirtschaft zu leisten. Dazu müsste die derzeitige, allzu sehr auf kurzfristige Profitsteigerung zielende und durch nationalen Wettbewerb geprägte Wirtschaftspraxis und die sie rahmende Wirtschaftsund Finanzpolitik durch eine noch mehr auf Vertrauen und multilaterale Verträge gestützte Kooperation und tiefer gehende Zusammenarbeit europäischer Nationalstaaten und darüber hinaus abgelöst werden. Auf diese Weise könnte Entwicklung und Integration Europas besser gefördert, Migration besser organisiert und Bildung und Ausbildung, Forschung, Technologie und Innovation besser vernetzt werden. Da Produktivitätssteigerung und qualitatives Wachstum Leistungen sind, die die Ressourcen der gesamten Kultur und der sie einbettenden Natur nutzen, muss politisch gesichert werden, dass angemessene Gewinnanteile aus der Produktivitätssteigerung in den Erhalt der ökonomischen, sozialen und ökologischen Stabilität zurückfließen. Dies kann geschehen durch die Gründung von Staatsfonds, durch eine Modernisierung der Verteilungssysteme, die größere Anteile der Staats- und Bürgereinkommen und der Zukunftsvorsorge von Erwerbsarbeit ab- und an Technologie und Kapitalproduktivität ankoppeln, durch eine Erhöhung und Förderung der Investitionen in die entwicklungsbedürftigen und beschäftigungsintensiven Bereiche der ökologischer Landwirtschaft, der Gesundheit, Bildung und Kultur und durch eine neue (Zeit)organisation von Beschäftigung, die immer mehr Menschen Möglichkeiten offeriert, Erwerbsarbeit mit gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen und familiären Engagements und Tätigkeiten in Netzwerken zu kombinieren. Mit Blick auf ökologische, soziale und kulturelle Vorgaben des Wirtschaftens gehört zu einer „gekonnten Regulation“, die Latte weder zu hoch noch zu niedrig zu hängen. Man darf sie nicht zu hoch anbringen, um nicht die aktuelle Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft einzuschränken und man darf sie nicht zu niedrig hängen, um nicht ihre zukünftige Wettbewerbsfähigkeit und damit die Viabilität des Gesamtsystems zu gefährden, die nur im Rahmen ökologischer und kultureller Leitorientierungen erreichbar ist. Für die Zukunft gilt: Zu niedrig gesetzte ökologische Standards verzögern technologische, organisatorische und soziale Innovationen in Richtung Dematerialisierung und Energieeinsparung von Produktion und Konsum, eine zu weitgehende Flexibilisierung und Öffnung der Löhne nach unten und eine allzu große Spreizung der Einkommen verlangsamen das Produktivitätswachstum 43) und eine allzu starke Ausrichtung von Bildungsinhalten auf aktuellen Qualifikationsbedarf und von Wissenschaft und Forschung auf jeweils aktuelle Marktperspektiven kann die Fähigkeit der westlichen Kultur zur Anpassung an eine unvorhersehbare Zukunft einschränken. Nicht durch Abwehr, sondern durch Assimilation sozialer, kultureller und ökologischer Regulative und Entwicklungsziele kann die europäische Wirtschaft ihre Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit erhalten und ausbauen. Sie könnte durch eine europäisch abgestimmte Reform der Finanz‑, Steuer‑, Sozial‑, Bildungs288

und Beschäftigungssysteme gefördert werden. Im Folgenden werden einige Vorschläge dazu (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) erläutert.

Ausbau und Differenzierung des Finanzsystems Das Finanzsystem kann man als eine Art „Gehirn“ moderner Volkswirtschaften betrachten. Und ähnlich wie ein Gehirn in der Organismus-Umwelt Beziehung eine beobachtende Sensorik, eine kontrollierende Verarbeitung und eine gestaltende Motorik miteinander verbindet, ist es die Aufgabe des Finanzsystems die wirtschaftliche Dynamik mit Blick auf Stabilität und Viabilität zu beobachten, zu kontrollieren und mitzugestalten. Heute müssen diese Beobachtungs‑, Kontroll- und Regulationsfunktionen des Finanzsystems im Interesse volkswirtschaftlicher Stabilität und des Gemeinwohls weiter ausgebaut und differenziert werden. Grundsätzlich ist es wünschenswert, zur Beobachtung und Kontrolle globaler Finanzflüsse und makroökonomischer Entwicklungen, zur Überwachung multinationaler Banken und anderer Finanzinstitutionen ein globales Gremium zu schaffen, das die Weltwährungen und auch die Interessen der Entwicklungs- und Schwellenländer (mehr als der IWF) repräsentiert. Beschränken wir uns auf die europäische Ebene, so könnten und sollten hier die europäische Bankenaufsicht und Bankenunion weiter ausgebaut sowie eine Zulassungsstelle („TÜV“) für Finanzprodukte und eine oder mehrere unabhängige staatliche bzw. europäische Ratingagenturen geschaffen werden. 44) Im Rahmen europäischer Integration könnte die finanzpolitische Souveränität grundsätzlich bei den Nationalstaaten bleiben, wäre aber, wenn diese zahlungsunfähig werden, vorübergehend, in angemessenen Anteilen und Schritt für Schritt – im Gegenzug zu Finanzhilfen – auf Europa zu übertragen. Eine europäische Schuldenagentur, wie sie von Jaques Delor u. a. vorgeschlagen wurde. 45), könnte dafür gemeinsame Anleihen im begrenzten Umfang (ca. 10% des BIP jedes Eurolandes) auflegen, aus denen sich Staaten, die keinen eigenen Zugang mehr zu Finanzmärkten haben, refinanzieren könnten. Ferner sollte ein europäischer Schuldengerichtshof installiert werden, der „im Falle der Überschuldung eines Landes eine geordnete Entschuldung durchführt und eine Kompromißbildung zwischen Schuldnern und Gläubigern ermöglicht.“ 46) Zu einer solidarischen Politik des qualitativen Wachstums für Europa gehört auch, dass diese ggfs. für in Schieflage geratene Staaten über Finanzhilfe und Sparauflagen hinaus ihr makro- und finanzpolitisches know how einsetzt, um bei Reform und Umbau zu helfen, ggfs. auch vorübergehend Sonderwirtschaftszonen zu schaffen, um hier Projekte für neue Investitionen und Märkte, Technologien und Dienstleistungen „auf die Schiene“ zu setzen. Im Rahmen regulierender Mitgestaltung der Wirtschaft erfüllt das Finanzsystem zumindest vier volkswirtschaftliche Funktionen: Es ermöglicht durch Kreditschöpfung Investition und Produktion, erhöht durch Risikoverteilung Wirtschaftswachstum und Innovationsrate, kann durch gezielte Verteilung von Krediten zukunftsorientierte Wirtschaftszweige und „start ups“ fördern und bündelt die Einlagen von Kleinsparern zu größeren Investitionen. Diese Funktionen muss das Finanzsystem in jeder modernen Volkswirtschaft erfüllen. Hier ist Geld ein Steuerungsmedium, dass Produktion und Tausch von Waren und Dienstleistungen, Arbeitsteilung und Kooperation, Investitionen und Wachstum der Wirtschaft und damit Verteilung von Wohlstand, von Arbeit, Wissen und Einkommen ermöglicht. Insofern kann man Geld auch – wie beispielsweise Infrastruktur, Mobilität, Elektrizität und Wasser, digitale Vernetzung, Kommunikation, Information und Bildung, sowie die Bereitstellung von Wohnraum und medizinische Versorgung – als ein Gemeingut betrachten, das zu den Lebensgrundlagen gehört, politisch entsprechend geschützt und nicht von privaten Banken in nahezu beliebiger Höhe geschöpft und wie übliche Waren 289

beliebig gehandelt werden darf, sondern vorzugsweise durch öffentliche Versorger bereit gestellt werden sollte. Entscheidend ist hier u. a., welche Bedeutung man der Geldschöpfung (Giralgeld) seitens der Banken einräumt. Einerseits ist diese eine Quelle der Dynamik und des wirtschaftlichen Wachstums, andererseits konnten die aktuellen Blasen und Bankenkrisen nur entstehen, weil die Banken bislang viel mehr Geld ausleihen können, als sie haben und Finanzprodukte erfinden und vermarkten können, die zu Investitionen und Wachstum nicht oder nur wenig beitragen. 47) Im Rahmen dieser Zielsetzungen würde die Geld- und Kreditschöpfung auf die Zentralbank konzentriert, die damit einen verfassungsrechtlichen Rang als „Monetative“ (Joseph Huber) im Sinne einer fünften Gewalt (nach Einbezug der „Consultative“) bekäme. 48) Während grundsätzlich der Rückzug des Staates aus der Rolle des Wirtschaftsakteurs (Privatisierung) zugunsten einer Stärkung seiner Moderatoren- und Regulationsfunktion begrüßenswert ist, sollte das nicht oder nur eingeschränkt für die Versorgung und den Umgang mit Gemeingütern gelten. Die Einstufung (großer Anteile) des Geldes als Gemeingut könnte zur Entstehung eines bescheideneren Kapitalismus beitragen, der nicht nur Kreditblasen und ihre Gefahren und destruktiven Folgen vermeidet, sondern auch die europäische Wirtschaft vom übersteigerten Zins- und Renditedruck, und damit auch vom Wachstums- und Beschleunigungsdruck entlasten könnte. Dazu könnte auch die Auflage von Staatsfonds der europäischen Nationen zur Zukunftssicherung (Beispiel Norwegen) und ggfs. als Beitrag zur Finanzierung eines Grundeinkommens ihrer Bürger gehören. Dazu mehr weiter unten.

Einführung einer globalen Referenzwährung Schließlich sollte sich die europäische Geldpolitik für die Einführung einer globalen Referenzwährung engagieren, die ein Äquivalent zum Goldstandard wäre, aber mit einem negativen Zins (Hortungsgebühr) verbunden sein sollte. 49) Die Einführung einer solchen Währung ist mit folgenden Vorteilen verbunden: • Sie bildet einen (noch fehlenden) internationalen Wertmaßstab, der ermöglicht, die Tauschvollzüge (Bartering) zu standardisieren, die schon seit langem und im wachsenden Umfang zwischen europaweit und global agierenden Unternehmen und zunehmend im Internet mit unterschiedlichen Rechnungseinheiten stattfinden. • Sie wäre jederzeit und ohne zusätzliche Verträge in jede Landeswährung konvertierbar. • Da der durch die Einheit „Terra“ definierte Warenkorb repräsentativ für den weltweiten Handel ist, ist diese Währung weitgehend inflationssicher, birgt also keine Währungsrisiken für die Unternehmen. • Indem die (ohnehin existierenden) Lagerungskosten der Waren (ca. 3%), die sich in dem Warenkorb befinden, zu Lasten der Inhaber von „Terra“ gehen, entstehen diesen „Durchhaltekosten“ (John Maynard Keynes). Diese begünstigen – im Gegensatz zu dem (durch Diskontierung bedingten) Renditeschwund langfristiger Investitionen in zinsgebundenen Währungen – die Umlaufgeschwindigkeit und die Bereitschaft zu langfristigen Investitionen in der Realwirtschaft und machen damit „Zukunft wertvoller“ (Bernard Lietaer). Mit Blick auf diese nützliche Funktion kann man sie auch als „Nachhaltigkeitsgebühr“ (Lietaer) bezeichnen. • Die globale Referenzwährung würde sich antizyklisch verhalten: In Zeiten der Rezession würde mit den Lagerbeständen der Unternehmen die Liquidität in Terra zunehmen, während sie in Zeiten der Hochkonjunktur abnehmen würde. Diese Ausgleichsfunktion könnte „langfristigen Rezessionen entgegenwirken.“ 50) Insgesamt würde sich die Einführung einer globalen Referenzwährung weltweit positiv auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Investitionen auswirken. Darüber hinaus bedarf es weiterer Schritte einer „gekonnten Regulation“ der Finanzmärkte. 290

Regulation der Finanzmärkte Die Macht der Finanzmärkte und ihr oft auch destruktiver Einfluss auf die Volkswirtschaften und damit auf die Gesellschaft und die gesamte Kultur wurden hier bereits nachgezeichnet. Sie sind spätestens seit der Finanzkrise 2008 offensichtlich geworden und in ihren Ursachen erkannt: Unterregulation, Risikoignoranz, patriarchal strukturierte und testosterongesteuerte Mentalitäten bis hin zur kriminellen Energie der Akteure und die Mitwirkung vieler Banken und ihrer vermögenden Kunden, die hier mit Blick auf Renditen „eingestiegen“ sind, die in der Realwirtschaft nicht erzielbar sind. All dies führt zu Blasenbildungen, die platzen und eine Kettenreaktion von Zusammenbrüchen der (unterkapitalisierten) Banken auslösen. Aufgrund ihrer volkswirtschaftlichen Schlüsselfunktion („too big to fail“), müssen manche Banken dann von den steuerzahlenden Bürgern und ihren Regierungen (bzw. in Europa neuerdings von der EZB) mit einem Aufwand gerettet werden, der in einigen europäischen Staaten zu ihrer aktuellen Überschuldung ganz erheblich beigetragen hat. Seitdem ist eine Befreiung der Realökonomie und damit der europäischen Volkswirtschaften aus ihrer zunehmenden „Versklavung“ durch Monetärökonomie und Casinokapitalismus vordringlich und muss auf der Tagesordnung ganz oben stehen. Dabei werden hier, wie schon gesagt, zunehmend auch radikale Ansätze diskutiert, die die Ursachen der Krisen darin sehen, dass die Banken viel mehr Geld ausleihen dürfen als sie haben und ihnen deshalb das Recht auf Geldschöpfung (Giralgeld) entziehen bzw. dieses stärker begrenzen wollen. Zu den realistischen, eher durchsetzbaren Regulationen gehört an erster Stelle eine Anhebung des Eigenkapitals der Banken – auch und insbesondere mit Blick auf die riesigen Anteile der hier ausgegebenen Staatsanleihen, die, (weil heute auch Staatspleiten möglich sind), die nächste platzende Blase bilden könnten. Ferner müssen auch Hedgefonds und Schattenbanken gezwungen werden, selbst genügend Kapital vorzuhalten, um Verluste ohne Hilfe zu verkraften. 51) Darüber hinaus würde eine Trennung des Geschäftsbankings vom Investmentbanking ermöglichen, dass bei Verlusten hier die großen Banken alleine haften müssen. Das mehrgliedrige Bankensystem mit einem starken öffentlichen Sektor (Sparkassen und Genossenschaftsbanken) muss erhalten, gepflegt und ausgebaut werden. Schließlich kann die Einführung einer Finanztransaktions- und einer Börsenumsatzsteuer, die kurzfristige Investitionen, Anlagen und Umschichtungen belastet, zur Entschleunigung der Finanzmarktdynamik beitragen. 52) Mit Blick auf Lebensqualität und Zukunftsvorsorge der Bürger sollte es eine unabhängige, öffentlich subventionierte Finanz- und Versicherungsberatung geben 53). Dazu gehören auch die Differenzierung, die Formatierung und der Vertrieb von Finanzdienstleistungen, die mit Kunden-, Bürgerinteressen und Allgemeinwohl besser vereinbar sind. Hier könnten auch mehr Spar- und Versicherungssysteme entwickelt werden, die Menschen ein Leben und Arbeiten in Kombination beider Wirtschaftsformen, der Markt- und der Netzwerkökonomie erleichtern. (Siehe unten.)

Sozialpolitik Zu den zentralen Aufgaben einer europäischen Sozialpolitik gehört die Sicherung der Lebensgrundlagen aller europäischen Bürger – unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, Nation etc., und vor allem auch unabhängig davon, ob sie zur Erwerbsbevölkerung zählen oder nicht. Deshalb müssen die sozialen Sicherungssysteme Europas dem Strukturwandel von Arbeit und Beschäftigung und den demographischen Veränderungen angepasst und neu justiert werden. Dazu könnte der Einbezug aller Bürger in die gesetzliche Renten‑, Kranken- und Arbeitslosenversicherung beitragen. Ferner könnte die Einführung einer Basisabsicherung in Gestalt einer europäischen Arbeitslosenversicherung, (optional durch zusätzliche nationale 291

Absicherungen noch ergänzt), helfen, „die auseinanderlaufenden Konjunkturzyklen in Europa zu begrenzen.“ 54) Darüber hinaus muss nach einer neuen Balance von (solidarisch finanzierter) Grundsicherung und persönlicher Eigenverantwortung gesucht werden. Ein Beitrag dazu wäre, die Finanzierung einer ökonomischen Mindestsicherung von der Erwerbsarbeit abzukoppeln und ein teils über Staatsfonds, teils durch Steuern finanziertes Grundeinkommen einzuführen, 55), das an die Stelle der (teuren) Vielfalt der Sozialeinkommen tritt.

Steuerpolitik: Steuern durch Steuern Eine Neustrukturierung der Steuersysteme und ihre europäische Integration kann zum qualitativen Wachstum in Europa beitragen, wenn die Steuerpolitik noch mehr als bisher auf „Steuern durch Steuern“ setzt. Dazu gehört vor allem die Grundsatzentscheidung, so weit wie möglich die Gemeingüter, also Natur, Infrastrukturen, Kommunikation und Verkehr, Digitalisierung und Internet, Erziehung, Bildung und Ausbildung, die Sicherung der Lebensgrundlagen und die Erfüllung von Grundbedürfnissen der Bevölkerungen u. a. nicht länger „auf Pump“ (Wolfgang Streek), sondern über höhere europäische Gewinnsteuern, eine steuerliche Belastung des geschaffenen Reichtums, der Kapital‑, Vermögens- und Datenakkumulationen, zu finanzieren. So könnte mit einer angemessenen Besteuerung der Gewinne großer Internetplattformen aus der Akkumulation und Nutzung der Daten europäischer Bürger der Ausbau eines europäischen Web 3.0 mit Blockchain Technologie finanziert werden, das nicht nur die Macht von Plattformen zugunsten einer direkten und sicheren Vernetzung der Bürger mit Produkt‑, Dienstleistungs- und Finanzanbietern zurückdrängen würde, sondern auch einen Beitrag zur Demokratisierung Europas, zur Selbstorganisation der Bürger und ihrer Vernetzung mit den verschiedenen Ebenen der politischen Steuerung leisten könnte.

Schuldenabbau durch gerechte Besteuerung Wie bereits erwähnt, sind in vielen westlichen Kulturen nicht nur Staaten, sondern auch große Anteile der Bevölkerungen hoch verschuldet. Dem korrespondiert eine fortschreitende Kapitalakkumulation auf Seiten großer Wirtschaftsunternehmen und (über Erbschaften) privater Vermögen. Wenn die Sicherung des „Gemeinsamen“: der Lebensgrundlagen der Bevölkerungen, der Erhalt und Ausbau der Infrastrukturen weiterhin über private und Staatsverschuldung finanziert wird, werden sich auch die aktuellen Polarisierungen zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum wie auch zwischen den Arbeitseinkommen der Bevölkerungen weiter verstärken. Die Finanzierung des „Gemeinsamen“ durch eine kontinuierlich, durch alle konjunkturellen Auf- und Abschwünge hindurch anwachsende Staatsverschuldung verstärkt nicht nur die Abhängigkeiten der Staaten und der Politik von den Finanzmärkten, sondern bremst auch Wirtschaftswachstum (Kenneth Rogoff, Carmen Reinhart) und bildet ein „Schneeballsystem“ (Daniel Stelter) zu Lasten insbesondere der Einkommensschwächeren in den kommenden Generationen, das mit Blick auf ihre Zukunft, ihre soziale Sicherheit und Vorsorge ungerecht ist. Deshalb muss mit einem moderaten und kontinuierlichen (nicht Schock auslösenden) Abbau der Staatsschulden im europäischen Rahmen begonnen werden. Ein „Schuldentilgungspakt für Europa“ wäre eine Möglichkeit und könnte darüber hinaus, über fiskalpolitische Integrationsschritte, zur Verwirklichung einer solidarischen politischen Union Europas beitragen. 56) Neben unvermeidlichen Abschreibungen, Schuldenschnitten und Gläubigerverzichten 57) könnten die Auflage von Staatsfonds, die Ausgabe von Gemeinschaftsanleihen (Euro-Bonds), wie auch Anteile von 292

Mehrwert- und Vermögenssteuern, sowie Einnahmen aus einer Besteuerung von Finanztransaktionen zum Staatsschuldenabbau beitragen.

Naturverbrauch belasten zugunsten der Finanzierung von Bildung Zur Umorientierung auf qualitatives Wachstum gehört, dass einerseits die Verbrennung der Ressourcen der Mitnatur und die damit einhergehende Umweltverschmutzung und der Klimawandel durch Reduktion von Energie- und Stoffflüssen gebremst und andererseits die Entfaltung menschlicher Natur durch Bildung und Qualifikation gefördert werden sollte. Es liegt daher nahe, die staatlichen Einnahmen, die in einer Verteuerung und steuerlichen Belastung fossiler Energien und der menschen‑, umwelt- und klimaschädlichen Emissionen erzielt werden, nicht nur für den weiteren Ausbau regenerativer Energieversorgung, sondern auch für die Finanzierung der Entfaltung, Qualifikation und Bildung der Menschen zu verwenden. Das betrifft die bessere Finanzierung des gesamten Bildungssystems – von den Krippen- und Kitaplätzen über die vorschulische Familienberatung und Erziehung, die Schulen, das (insbesondere in Deutschland bewährte) duale Bildungs- und Qualifikationssystem bis hin zu den Universitäten und der Organisation des lebenslangen Lernens und der Weiterbildung. Finanziert werden muss die Doppelstrategie egalitärer, von Kaufkraft unabhängiger Bildung für alle Bürger wie auch eine gezielte Bildung von Verantwortungseliten. Insbesondere wäre die Abhängigkeit der Bildungschancen vom sozio-ökonomischem Status der Herkunftsfamilien zu vermindern. Dazu gehört auch die Unterstützung von Bildungsinitiativen, die aus der Zivilgesellschaft kommen. (Mehr dazu weiter unten.)

Große Privatvermögen und Kapitalproduktivität höher besteuern und Arbeitnehmereinkommen entlasten Wie schon angedeutet, sollte dem Strukturwandel und der gesteigerten Kapitalproduktivität Rechnung getragen werden, indem Anteile der Besteuerung von Erwerbsarbeit ab- und an die Produktivität von Kapital und Technologie angekoppelt werden. Die Einführung europäischer Mindeststeuersätze für global player und High-Tech Unternehmen, insbesondere für die „Superstar“-Plattformen, mehr steuerliche Belastung großer Finanzdienstleister, z. B. durch die Kapitaltransaktionssteuer und sowie die höhere Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften könnten mit einer steuerlichen Entlastung bis hin zur Steuerbefreiung kleiner und mittelständischer Unternehmen und Gewerbe wie auch einer negativen Einkommenssteuer und Senkung der Sozialbeiträge für einkommensschwache Arbeitnehmer und Familien verbunden werden. Der Ökonom Robert Shiller (Nobelpreis 2013) hat ein entsprechendes Besteuerungssystem („Rising Tide Tax System“), als „System zum Risikomanagement, das allen hilft“ (Shiller) entwickelt. Hier werden die Steuersätze flexibel an zunehmende bzw. abnehmende ökonomische Ungleichheiten in den Bevölkerungen gekoppelt: „Vergrößert sich die Kluft zwischen arm und reich, werden die Steuersätze für Spitzenverdiener erhöht und die Sätze für Geringverdiener gesenkt; verringert sich der Abstand, verlangt der Staat von den Reichen weniger und von den Armen mehr. Allerdings sollen nicht Politiker darüber entscheiden, sondern dies soll anhand einer festen Formel geschehen, in die alle Daten zur Ungleichheit der Gesellschaft einfließen.“ 58) Eine europaweite Abschaffung der Absetzbarkeit von Schuldzinsen würde den Anreiz verringern, Unternehmen mit möglichst wenig Eigenkapital auszustatten. Steuerflucht in Offshore- Finanzplätze muss europaweit unterbunden werden und für alle europäischen Bürger könnte eine Steuerpflicht auf weltweit erzielte Einkommen eingeführt werden – wobei im Ausland gezahlte Steuern angerechnet werden. 293

Beschäftigungs- und Lohnpolitik: Festlegung von Mindestlöhnen und Ausbau von Mitarbeiterbeteiligungen Ebenso wie zu viel Gleichmacherei ist auch eine zu große Spreizung der Einkommen nicht „nur“ ungerecht und konfliktfördernd, sondern beeinträchtigt auch die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. 59) In Gesellschaften mit mehr Gleichheit herrscht weniger Angst und Statuskonkurrenz, mehr Zufriedenheit und Innovationskraft und der durchschnittliche Bildungsgrad ist höher. 60) Insofern sind einerseits gesetzlich festgelegte, jährlich zu überprüfende und alle Wirtschaftsbereiche übergreifende Mindestlöhne (ca. 60% des nationalen Durchschnittlohnes) und in diesem Rahmen branchenspezifische Einigungen zwischen den Tarifpartnern sinnvoll. 61), nicht nur, um Deflation, allzu große Einkommensspreizung und Nachfragerückgang zu verhindern und regionale und nationale Binnenmärkte zu stärken, sondern auch, um zu vermeiden, dass Arbeitnehmer durch Niedrigeinkommen unproduktive Unternehmen subventionieren und damit ihre Modernisierung sowie Technologie- und Produktivitätsfortschritte verzögern. Auch der Ausbau von Mitabeiterbeteiligungen, z. B. die Transformation von Lohnanteilen in Aktienanteile, kann durch steuerliche Begünstigungen der dies praktizierenden Unternehmen und der Mitarbeiter mehr gefördert werden Wenn man das Erreichen gleicher Wettbewerbsbedingungen durch gleiche Löhne und ggfs. auch durch Mitarbeiterbeteiligungen als einen Beitrag zur Gerechtigkeit in der Gesellschaft und somit als ein öffentliches Gut definiert, sind die Durchsetzung von Flächentarifverträgen bzw. die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen erstrebenswert und sollten ggfs. auch durch eine Pflichtmitgliedschaft von Unternehmen in Arbeitgeberverbänden unterstützt werden. Schließlich könnten Rolle und Funktion des makroökonomischen Dialogs, der im Jahre 1999 als informelles Koordinierungs-instrument der Wirtschaftspolitiken der EU und der EWU eingeführt wurde, zu einem „Europäischen Makroökonomischen Sachverständigenrat“. ausgebaut, gestärkt und einflussreicher werden. Dieser sollte „nicht nur zur Fiskal- und Geldpolitik Stellung beziehen und Empfehlungen abgeben, er sollte überdies auch die Lohnentwicklung in der EWU analysieren und entsprechende Lohnempfehlungen für die Mitgliedsländer aussprechen. Es wäre eine seiner wichtigsten Aufgaben, dabei die Kohärenz der Währungsunion im Auge zu haben.“ 62)

Förderung des produktivitätsorientierten Wachstums in der Marktwirtschaft Europa befindet sich schon jetzt und in Zukunft verstärkt in einem Produktivitäts- und Qualitätswettbewerb mit anderen Wirtschaftsblöcken und darf sich nicht auf einen ruinösen Kostensenkungswettbewerb einlassen. Der produktivitäts- und weltmarktorientierte Sektor ist bereits heute in einigen europäischen Volkswirtschaften (insbesondere in Deutschland) hoch entwickelt und erfolgreich. Um auch in zurückfallenden Volkswirtschaften Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit (unter Berücksichtigung von Ökologie und qualitativem Wachstum) der Marktwirtschaft zu steigern, bedarf es einer Vielfalt und Flexibilität von europäischen Entwicklungs- und Hilfsprogrammen, die über einen bloßen „Tausch“ – Sparen und Abbau von Staatsschulden gegen Finanzspritzen  –  weit hinausgehen und die Unterstützung von Reformen der institutionellen Architektur und der Infrastrukturen sowie die Erschließung neuer Wachstumsfelder mit einbeziehen sollte. Darüber hinaus ist, wie schon gesagt, auch währungspolitische Flexibilität angesagt: Ein vorübergehender Austritt aus dem Euroverbund (Kenneth Rogoff) und die Wiedereinführung einer nationalen Währung könnte über Abwertung die Wettbewerbsfähigkeit kurzfristig steigern und mit einem Fahrplan zum Wiedereintritt verbunden werden. Zur weiteren Förderung des produktivitätsorientierten Wachstums in Europa bedarf es einer bildungs-, forschungs- und technologiepolitischen Unterstützung des wettbewerbsfähigen High-Tech-, Produktions294

und Dienstleistungskerns der europäischen Wirtschaft, der nach seiner (Weltmarkt-) Logik angemessene Unternehmensstrukturen (Netzwerkunternehmen, Unternehmensnetzwerke, internationale Wertschöpfungsketten) entwickeln und Arbeitsplätze (im In- und Ausland) generieren und umstrukturieren und ggfs. auch abbauen können muss. Auch in diesem Zusammenhang könnten Staatsfonds sinnvolle Aufgaben übernehmen. Dazu gehört u. a., dass sie größere Aktienpakete europäischer Unternehmen erwerben – auch um entsprechenden chinesischen Erwerbsstrategien entgegenzuwirken.

Modernisierung des Unternehmensrechts und der Unternehmensorganisationen im Rahmen ethischer Orientierung Die Regulative und Leitorientierungen der Wirtschafts- und Unternehmensethik lassen sich als spezifische Ausprägungen der impliziten Ethik kultureller Alltagspraktiken – der Gemeinschafts‑, der Gesellschaftsbildung und der Technik – verstehen. Unternehmen und Unternehmensnetzwerke verbinden in sich die Organisation von Nahbeziehungen (zwischen ihren Führungskräften und Mitarbeitern und zwischen diesen), die Organisation von Fernbeziehungen (mit ihren sozialen Umwelten, Kunden, Öffentlichkeit, Politik etc.) mit einer weltobjektivierenden, ‑nutzenden und ‑mitgestaltenden, im weitesten Sinne technischen Organisation. Insofern können und sollten ihre Führungskräfte und Mitarbeiter auch der impliziten Ethik dieser Praktiken folgen und ihre entsprechende intuitive Sittlichkeit mobilisieren, die sie zur reziproken Empathie und Anerkennung, zum Dialog und zu gemeinsamer Wahrheits- und Orientierungssuche befähigt. Zu den Leitorientierungen einer viablen Unternehmensorganisation gehört heute neben ihrer ökonomischen auch ihre soziale Produktivität, die nur durch eine Ausrichtung der corporate governance am „stakeholder value“ und am Gemeinwohl zu realisieren ist. Die Praktizierung von „Corporate Social Responsibility“ (CSR) impliziert die Überwindung eines reinen Profitdenkens und (selbst)destruktiver Konkurrenz und beinhaltet auch die Interessen und (Mitbestimmungs)ansprüche der Mitarbeiter, der Kunden, der sozialen und ökologischen Umwelten u. a. Zu einer gekonnten Implementation der Gemeinwohlökonomie in die Unternehmensstrategien gehören auch am Gemeinwohl ausgerichtete Kooperationen zwischen Unternehmen und zwischen diesen und ihren lokalen und regionalen Umwelten sowie ihre regelmäßige Dokumentation in einer Gemeinwohl-Bilanz. Eine solche Horizonterweiterung unternehmerischen Denkens und Handelns sollte durch eine Neufassung des Unternehmensrechts gefördert werden, das die Unternehmen verpflichtet, ihre ökonomischen Interessen immer unter Berücksichtigung der sozialen und ökologischen Folgen ihrer Aktivitäten zu verfolgen und ggfs. einzuschränken. 63) In diesem Rahmen lassen sich weitere Anforderungen für eine Modernisierung der Organisation wirtschaftlicher Leistung im weltmarktorientierten High-Tech-Sektor auf folgende Formeln bringen: Von „harten“ zu „weichen“ Grenzziehungen: Im Interesse einer Steigerung ihrer Überlebens- und Leistungsfähigkeit müssen Unternehmen ihre Grenzziehungen zu ihren relevanten Umwelten – andere Unternehmen, Kunden, Zulieferer, Öffentlichkeit, Staat – differenzieren und (auch in Balance von Öffnung und Schließung) „weicher“ und durchlässiger gestalten. In der Organisation wirtschaftlicher Leistung gilt heute: so viel Kooperation, Dialog, verständigungsbasierte Einigung sowie gemeinsame Entwicklung und Implementation von Gemeinwohlorientierungen wie möglich und so viel Abgrenzung, Konkurrenz, Wettbewerb und Durchsetzen der eigenen Interessen wie nötig. Dazu gehört auch, dass sich Produzenten und Dienstleister nicht nur miteinander, sondern auch auf vielfältige Weise mit ihren Umwelten – Kunden, Öffentlichkeit, Kultur, Politik – (digital) verflechten. Auch in Produktionsunternehmen werden nicht nur Dienstleistungs‑, Service- und Kommunikationsanteile, sondern auch Kooperationen im Dienste des Gemeinwohls (über)lebenswichtig. „Weiche Grenzziehung“ stellt natürlich wesentlich höhere und neue Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit 295

der Unternehmen und ihre MitarbeiterInnen innerhalb der Unternehmen und mit Blick auf die auch gemeinwohlorientierte Vernetzung mit der Umwelt. Grundsätzlich gilt für Unternehmen, dass sie heute nur dann nachhaltig in Zahlungsflüssen bestehen und schwarze Zahlen schreiben können, wenn sie auch innerhalb von Informationsflüssen, inmitten von Prozessen der Erzeugung und Umstrukturierung von Wissen und Bewusstsein, unter gesellschaftlicher Aufmerksamkeit, Beobachtung und ethischer Bewertung bestehen können. Vom männlich dominierten zum gemischten Teammanagement: Über die als selbstverständlich vorausgesetzten Fachkompetenzen hinaus werden Persönlichkeitsmerkmale wie Empathie und Achtsamkeit, Kooperations‑, Kommunikationsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft zu Schlüsselqualifikationen in der Politik und Wirtschaft, was hier schon derzeit und in Zukunft noch mehr Mitarbeit und Aufstieg der Frauen erfordert und begünstigt. Indem Frauen ihre Lebenswirklichkeit und die hier entfalteten positiven Eigenschaften und Qualifikationen – Kooperationsfähigkeit, Empathie und Fürsorge, Rücksicht und Toleranz wie auch Umsicht, Pragmatismus, Gelassenheit und Humor – in die Wirtschaft (wie auch in die Politik) einbringen, können sie diese sowohl humaner wie auch effektiver und effizienter ausgestalten. Deshalb sind Frauenförderung und die Öffnung auch der Führungsetagen für Frauen kein „nice to have“, sondern im Rahmen einer Modernisierung und Humanisierung der Unternehmenspraxis zentral und (über)lebenswichtig. Vielfach noch männlich dominiertes „Tunneldenken“, konkurrenz‑, status- und machtgeprägtes Management, Wichtigtuerei, Seilschaften und autoritäre Führungsstile müssen durch ein männlich-weibliches Teammanagement zurück gedrängt werden, das der impliziten Ethik der kulturellen Alltagspraktiken folgt, die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen – reziproke Empathie und Anerkennung, Sachbezogenheit und Wahrheitsliebe – entfaltet und damit die Verfolgung ihrer ökonomischen Interessen verbindlich rahmt und ggfs. begrenzt. (Die Öffnung der wirtschaftlichen und politischen Führungsnetzwerke für Frauen kann allerdings, wie in Kap. IV ausgeführt, auch anders verlaufen und zu ihrer Selbstverleugnung und Anpassung an den Raubtierkapitalismus führen.) Von der Routine- zur Wissensarbeit: Um in globalen Netzwerken, in unübersichtlichen Landschaften und in Zeiten der Ungewissheit, des Auf und Ab von Märkten erfolgreich zu navigieren, sind Routinearbeit (Erfüllung der Kundenaufträge, ‑anforderungen, Produktverbesserungen etc.), und Strukturarbeit (Auf- und Ausbau, Verbesserung der Organisation etc.) unabdingbar, aber nicht hinreichend. Diese müssen ergänzt werden durch eine erweiterte „Wissensarbeit“ (Helmuth Willke): durch digitalgestütztes extensives Sammeln von Daten und Informationen, durch intensives „Data-Mining“, durch Simulation von Entwicklungen, Trends und Driften (mit Hilfe künstlicher Intelligenz) und durch Entwicklung von Frühwarnsystemen. – was freilich alles rechtlich kontrolliert und ggfs. auch reguliert werden muss. 64) Von Unabhängigkeit zur Anschlussfähigkeit: Das Bestreben nach einer (ohnehin nicht dauerhaften) Unabhängigkeit und Autarkie verliert an Bedeutung gegenüber der Fähigkeit von Unternehmen, und ihrer Führungskräfte sich als „Knotenpunkte“ in (digitalisierten) Netzwerken zu definieren, Information schnell und kontinuierlich aufzunehmen und selektiv zu verarbeiten, also in Orientierung und praktischen Nutzen zu transformieren. Die Fähigkeit zu Kooperation und „win-win-Spielen“ tritt zumindest gleichwertig neben das Erfolgskriterium der Wettbewerbsfähigkeit und der gekonnten Vorteilsnutzung. Aus diesen neuen Anforderungen an „Spielfähigkeit“ ergeben sich Zwänge zur internen Umstrukturierung der Unternehmen. Von der hierarchischen zur Netzwerkorganisation: Die aus der zweiten industriellen Revolution hervorgegangene sog. „tayloristische“ Arbeitsorganisation – die mechanische Zerlegung und Wiederzusammenfügung des Arbeitsprozesses in kleinste Einheiten, die von angelernten Arbeitskräften ausgeführt und durch eine hierarchische Organisation und durch zentrale Konzentration von Wissen steuerbar war – hat heute an Bedeutung und Anteilen in Produktion und Dienstleistungen verloren, (ohne freilich völlig zu verschwinden). Hierarchische Organisationen werden zunehmend ergänzt und überformt durch Netzwerkorganisationen mit Dezentralisierung und Märkten im Unternehmen: eine heterarchische Aggregation flexibler 296

und weitgehend autonomer Einheiten unter einem gemeinsamen Dach. Deshalb gilt auch: so viel Dezentralisierung wie möglich, so viel zentrale Steuerung wie nötig. Dabei geht heute schon die Dezentralisierung bis hin zur Fertigung beim Kunden. Wie bereits ausgeführt, bekommen hier Robotik und die Ausbreitung von Netzwerken verteilter künstlicher Intelligenz (Stichworte: „Industrie 4.0.“ „Internet der Dinge“ u. a.) eine zentrale Funktion. Das bezieht sich heute nicht nur auf die Produktion, sondern im Zeitalter des Plattform-Kapitalismus ggfs. auch auf die Gründung eigener Plattformen. Von materieller Präsenz zum Vorsprung in der Zeit: Die Größe von Unternehmen und ihre materielle Ressourcenausstattung bleiben wichtig, verlieren aber an Bedeutung gegenüber der Geschwindigkeit, mit der sie in der Lage sind  –  weltweit oder auch in lokalen Nischen  –  auf Veränderungen, Aufgaben und Chancen zu reagieren und sie in Produktivität und Gewinn umzusetzen. Entwicklungs- und Reaktionsgeschwindigkeit treten auch gleichwertig neben die Erfolgskriterien Qualität, Preis und Individualisierung des Produkt- und Dienstleistungsangebots. Von den Strukturen in die Köpfe: Mit dieser Entwicklung verbunden ist eine weitere Gewichtsverschiebung, nämlich die zwischen materiellen und nicht-materiellen Ressourcen eines Unternehmens, die schon im wachsenden Anteil intelligenter Dienstleistungen an der Gesamtwirtschaft angelegt ist. Unternehmen verlagern sich zunehmend in die Köpfe ihrer Mitarbeiter: Kontaktaufnahme und Vernetzung, die Herstellung von Geschäftsbeziehungen, das Unternehmen profilieren, Sympathie und Freunde gewinnen u. a. – all das findet dort und zu der Zeit statt, wo kluge Köpfe ihre Chance erkennen und nutzen. Darüber hinaus verlagern sich die Unternehmen in gewisser Weise auch in die Köpfe ihrer Kunden: Ihre „performance“ in deren Bewusstsein und Wertesystem entscheidet über ihren geschäftlichen Erfolg. Von materiellen zu virtuellen Gebilden: Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Zwang zur Umorganisation der Unternehmen kommt den in der kulturellen Moderne verwurzelten Wünschen vieler qualifizierter Menschen auf mehr Autonomie und Selbständigkeit entgegen: so viel geistige Offenheit, Flexibilität, Kreativität, Selbstorganisation wie möglich, so viel „Gerüst“, also materielle Strukturen und vorgegebene Organisationsformen wie nötig. Das bedeutet, dass viele, insbesondere Dienstleistungsunternehmen zu „fluktuierenden Gebilden“ werden, die sich flexibel jeweils gestellten Anforderungen, Aufgaben, Geschäftsund Entwicklungsmöglichkeiten anschmiegen, indem sie beispielsweise jeweils projektbezogen qualifizierte Selbständige und künstliche Intelligenzen zu elektronisch vernetzten Teams – zu virtuellen Unternehmen mit virtuellen Büros – zusammenfügen. Virtuelle Unternehmen sind dynamische Netzwerke, die man mit „Schwärmen“ vergleichen kann. Dabei übernimmt die mobile, digitalisierte Kommunikationstechnologie mit Einbezug künstlicher Intelligenz eine Schlüsselfunktion: Wachsende Anteile der Büroarbeit können von überall erbracht werden, verlagern sich in die „cloud“, was sie leichter vereinbar macht mit Familie und Kindern wie auch mit anderen Engagements und Tätigkeiten. Die skizzierten aktuellen Prozesse der Digitalisierung, Vernetzung und Modernisierung der Unternehmensorganisationen und die damit verbundene Integration der „ganzen Menschen“, die Einbindung, Entfaltung und Nutzung ihrer mentalen Leistungen und sozialen Fähigkeiten (Kreativität, Phantasie, Engagement, Sinnsuche etc.) in die Organisation wirtschaftlicher Leistung müssen allerdings, wie schon gesagt, durch eine verantwortungsvolle Unternehmensführung und durch die intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen gerahmt und orientiert werden. Gewinnsteigerung und optimale Verwertung des Humankapitals reichen als Erfolgskriterien nicht aus. Heute zeigen die global, produktivitäts- und wettbewerbsorientierten Sektoren europäischer Marktwirtschaft bis hin zum Informations- und Plattformkapitalismus Grenzen mit Blick auf Entwicklung und Angebot neuer Arbeitsplätze. Zwar können sie  –  z.  B. durch Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Kurzarbeit, Teilung von Arbeitsplätzen, Weiterbildung der Mitarbeiter etc. – zum Erhalt und Ausbau hochqualifizierter (Wissens)arbeitsplätze in Europa beitragen. Aber generell und unvermeidlich wachsen in diesen modernen Unternehmen auch die Anteile von Kapital, Technologie und künstlicher Intelligenz an der Produk297

tivität zu Lasten der menschlichen Arbeitsleistung und führen zu der bereits beschriebenen Dreiteilung von good job‑, macjob- und jobless growth. Auch bei Erschließung neuer Technologien und Märkte steht dem weltweit wachsenden Angebot an Arbeitskräften ein enger werdendes „Nadelöhr“ des Jobangebots in den export- und weltmarktorientierten High-Tech Sektoren der Wirtschaft entgegen. Strukturell bedingte Arbeitslosigkeit, positiv ausgedrückt: Die eigentlich erwünschte technologie- und produktivitätsbedingte Freisetzung des Menschen von (monotoner) Arbeit wird sich in Zukunft fortsetzen. Auch deshalb muss die ohnehin notwendige und bereits stattfindende (Zeit)flexibilisierung in der Erwerbsarbeit wie auch das „job sharing“ und im Dienstleistungsbereich das Wachstum von Plattformen und ihrer Freelancer-Netze (Crowdworking) vorangetrieben werden – was allerdings impliziert, dass die Leistungen von Sozial- und Krankenversicherungen nicht mehr an feste Anstellungen gebunden werden und die Millionen von Freiberuflern, die schon heute über Plattformen vermittelt werden, angemessen bezahlt werden. (Siehe unten.) Darüber hinaus bedarf es innerhalb der marktwirtschaftlichen Organisation wirtschaftlicher Leistung der aufwendigen Pflege und des Ausbaus beschäftigungsintensiver Bereiche.

Erhalt und Förderung beschäftigungsintensiver Anteile in der Binnenwirtschaft Der zweite Teil der marktwirtschaftlichen Regulation sollte deshalb auf die Stimulation eines beschäftigungsintensiven Wachstums der Binnenwirtschaft zielen. Dabei ist entscheidend, dass nicht (oder nur befristet) in „noch“ beschäftigungsintensive Bereiche alter Industrien mit Rationalisierungsrückstand, sondern in beschäftigungsintensive Bereiche neuer Produktion und Dienstleistung investiert wird. Potentiale dazu finden sich beispielsweise in der ökologischen Landwirtschaft und in den „Knappheitsfeldern“ (Leo N. Nefiodow), die heute (auch als Folgen quantitativen Wachstum und der Beschleunigung) erkennbar sind. Das betrifft vor allem die Bereiche psychosozialer Betreuung, der Gesundheit und Bildung, der Jugend‑, Familien- und Altenbetreuung, die Migrantenbetreuung, die Gefangenenresozialisierung u. ä. Hier entstehen derzeit immer mehr Sozialunternehmen, Projekte des „social investment“ und neuartige Finanzprodukte wie z. B. „social impact bonds“, die soziale Effizienz und Rendite miteinander verbinden, also im sozialen wie im ökonomischen Sinn erfolgreich sein können. 65) Darüber hinaus können solche Projekte auch dazu beitragen, dass Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert wird. Arbeit ist nicht nur die Vollzeit- bzw. Teilzeitarbeit in der Wirtschaft. Zur Arbeit gehören auch Eigenarbeit, Hausarbeit, Familienarbeit, Gemeinschaftsarbeit, Sozialarbeit, Pflegearbeit usw. Diese müssen in Zukunft besser ermöglicht und finanziert werden. Wer Anteile seiner Lebenszeit dafür einsetzt, muss dafür mehr materielle und immaterielle Anerkennung erfahren. In gesellschaftspolitischer Sicht geht es darüber hinaus um die Pflege sozialer Beziehungen und um die Unterstützung brückenbildender Gemeinschaften. Insbesondere in den Bereichen der Entfaltung und Bildung der Jugend sowie der Familien- und Altenbetreuung kann und sollte die (auch hier stattfindende) Ausbreitung von Technologie und Robotik durch Ausbau personalintensiver Leistungen und dialogischer Beziehungen ausgeglichen und gerahmt bleiben. Wie der Erhalt der Mitnatur muss auch die Entfaltung menschlicher Natur, Familienarbeit und Bildung, Schutz und Erhalt mentaler, gemeinschaftlicher und kultureller Ressourcen mehr und systematischer als unverzichtbare Beiträge zur Viabilität und humanen Ausgestaltung der europäischen Kultur und deshalb als „Fixkosten“ in der Ökonomie berücksichtigt sowie als Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeit für Menschen erschlossen werden. Stabile Ökosysteme sowie Gesundheit, Vitalität, Bildung und Qualifikation der Menschen, die in ihnen leben, sind die wichtigsten (und heute von Erosion bedrohten) Ressourcen für zukünftige kulturelle und soziale Entwicklung sowie für ein qualitatives Wirtschaftswachstum. Ihr Erhalt und ihre Pflege können zugleich zu beschäftigungsintensiven Wachstumsbranchen ausgebaut werden. Deshalb sollten auch hier 298

ressourcenverschwendende und ‑gefährdende Formen des Wirtschaftens durch nachhaltigere Formen abgelöst werden. Das gilt auch und insbesondere für eine Begrenzung der industrialisierten Landwirtschaft zugunsten der Förderung des Ökolandbaus in kleineren Einheiten, die Ressourcen schonen, toxische Stoffe und Antibiotika vermeiden, ausgewählte Gentechnologien (wie z. B. die Gen-Schere) nutzen, Biodiversität erhalten und pflegen und dafür personalintensiver arbeiten. 66) Auch die in Deutschland eingeleitete Energiewende kann und muss – vor allem durch Ausbau der Netze und durch Investitionen in die Netzinfrastruktur – vorangetrieben werden und könnte durch ihren Erfolg ein Vorbild europäischer und globaler Energiepolitik werden. 67) Die skizzierten Möglichkeiten und Wege der Internalisierung ökologischer, kultureller und sozialer Zielsetzungen in die Marktökonomie reichen aber nicht aus, um das in Zukunft erstrebenswerte Ausmaß an Gemeinwohl, an qualitativem Wachstum, sinnvoller Beschäftigung und Entfaltung der Menschen zu realisieren. Dazu bedarf es zusätzlich neuer Formen der Kooperation und der Beteiligung zwischen Bürgern und Bürgerinnen sowie Staat und Wirtschaft, die man unter den Begriffen „Netzwerkökonomie“ und „Tätigkeitsgesellschaft“ zusammenfassen kann.

Förderung und Ausbau regionaler Netzwerkökonomie Der Ausbau der Marktwirtschaft – in dem hier spezifizierten Sinne einer Kombination von Weltmarktanbindung und Binnenwirtschaft im Rahmen eines gekonnt regulierten und durch Gemeinwohlorientierungen ergänzten Kapitalismus – ist zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für qualitatives Wachstum und Zukunftsfähigkeit europäischer Wirtschaft und Gesellschaft. Um einer Verwirklichung der skizzierten ökologischen, kulturellen und sozialen Leitorientierungen und Zielsetzungen näher zu kommen, bedarf es in Zukunft einer weitergehenden Mobilisierung und differenzierteren Kanalisierung von Arbeit, Wissen, Kapital und unternehmerischen Fähigkeiten als die gegenwärtige (zins‑, wettbewerbs- und profitgetriebene) Marktwirtschaft alleine bieten kann. Über Staat und Markt hinaus geht es darum, die Kräfte der Gesellschaft zu mobilisieren und diese von der Arbeits- zur „Tätigkeitsgesellschaft“ zu erweitern. 68) Dies kann u.  a. geschehen durch eine langfristig angelegte Strategie der Neuorganisation und Umverteilung wirtschaftlicher Leistung auf zwei „Standbeine“ – Erwerbsarbeit in der eurogestützten Marktwirtschaft und Tätigkeit in einer Netzwerkwirtschaft, die sich über regionale Tauschwährungen organisiert. Beide zusammen bieten den involvierten Menschen neue Möglichkeiten und Ansätze zur lebenslangen Verflechtung von Arbeit, Tätigkeit, Lernen und (Weiter)bildung. In Gestalt der Eigenarbeit und des explosiven Wachstums von Bürgerselbsthilfe-Initiativen, Tauschnetzwerken u. ä. hat bereits ein Prozess der Informalisierung von Anteilen wirtschaftlicher Leistung in Europa und weltweit begonnen, der in Verbindung mit dem III. Sektor systematisch gefördert und zu einer Netzwerkwirtschaft ausgebaut werden könnte. Man kann die Entwicklung der Netzwerkwirtschaft als selbstorganisierte evolutionäre „Antwort“ auf eine nicht ausreichende konstruktive und sozialintegrative Kapazität von Markt und Staat verstehen. Die staatlichen sozialen Sicherungssysteme sind zu stark auf Unterstützung in Notlagen und zu wenig auf deren Vermeidung ausgerichtet. Und ebenso wenig wie „Politik von oben“ können Marktdynamik und Wirtschaftswachstum, die von Kapitalverwertung getrieben sind, die Ausbreitung eines „entropischen Sektors“ (Leo N. Nefiodow) in unserer Gesellschaft – (Jugend)arbeitslosigkeit, Kriminalität und Radikalisierung, Erosion von Solidarität und sozialisatorischer Gemeinschaftsbildung, Gefühle der Sinnlosigkeit u. a. – nachhaltig aufhalten. Insofern wäre die Netzwerkwirtschaft auch eine sich selbst organisierende moderne Ergänzung und Erweiterung sozialisatorischer und sozialintegrativer Leistungen, die schon bislang vor allem von Familien und Schulen, traditionalen Gemeinschaften, Bürgernetzwerken und Vereinen etc. erbracht werden. Auch 299

neue Wege der europäischen Integration, europäische Jugendprojekte und grenzüberschreitende Kommunikation der Generationen können hier (noch mehr als bislang) angestoßen und realisiert werden. Schließlich können die Initiativen zum Auf- und Ausbau von lokalen und regionalen Bürgernetzwerken und einer Tausch- und Netzwerkökonomie der zunehmenden Verödung von Landstrichen, Dörfern und Kleinstädten entgegenwirken und einen Beitrag zur Bewältigung des kommenden demographischen Wandels, der alternden Gesellschaft leisten, indem sie auch vielen älteren und rüstigen Bürgern neue Optionen und Möglichkeiten des Engagements in selbstorganisierten regionalen Entwicklungsinitiativen, in Mehr-Generationen‑, Wohn- und Arbeitsprojekten u. a. eröffnen. Zur Netzwerkwirtschaft (oder auch „Gemeinwirtschaft“) gehört ein Ausbau des „dritten Sektors“ als – teils staatlich und stiftungsfinanzierte, teils durch Sozialunternehmen und durch Non-Profit-Organisationen und teils durch Genossenschaften und Bürger finanzierte – Erhaltung und Förderung öffentlicher Güter. Hier geht es auch darum, die Allgemeingüter aus ihrer Kolonialisierung durch Kapitalverwertung, Monopolisierung und durch kurzfristige und übersteigerte Profitorientierung zu befreien. Die Privatisierung und Kommerzialisierung der öffentlichen Versorgung und Infrastrukturen – Wasser, Abwasser, Abfall, Strom, Gesundheitsversorgung, Medien, Information, Wissen, Geld u. a. – führen in vielen Fällen zu Qualitätsverlust und Verfall, zu Ungerechtigkeit und Preisexplosionen und sollten deshalb zumindest in Anteilen rückgängig gemacht und wieder in die Hände regionaler und städtischer Selbstverwaltung gelegt werden. 69) Ferner gehören zur Netzwerkwirtschaft eine modernisierte Subsistenzökonomie, also Eigenarbeit und Selbstversorgung unter Einbezug von „High-Tech-Self-Providing“ (Frithjof Bergmann) und sog. „TechShops“, die Werkzeuge und Lernkurse preiswert anbieten, sowie Stadtgärtnerei („urban farming“) und Hand- und „Kopfwerk“. Damit sind auch technische, künstlerische und therapeutische Fähigkeiten und Entwicklung und Austausch all dieser Leistungen in selbstorganisierten Bürgernetzwerken gemeint, die auch der „Verslumung der Lebensverhältnisse“ (Jaron Lanier) von Bürgern entgegenwirken können, die als Künstler und in kulturellen und sozialen Projekten wertvolle Beiträge zur Innovationsfähigkeit und Viabilität der westlichen Lebensform leisten, aber davon nicht leben können. Die Netzwerkwirtschaft bietet auch ein Experimentierfeld, auf dem Menschen sich auf die Suche machen können, um herauszufinden, was sie „wirklich wollen“ (Fritjof Bergmann) und die dazu gehörigen Fähigkeiten zu entwickeln. Orientierungen für die Lebensführung wie „simplify your life“, „small is beautiful“, „Teilen statt Besitzen“, Entschleunigung, Gelassenheit und Achtsamkeit, die Suche nach dem rechten Maß und der guten Form, die derzeit aus guten Gründen für wachsende Anteile der Bevölkerung an Bedeutung gewinnen, können hier praktiziert und erprobt werden und Ausstrahlung entwickeln. 70) Das gilt auch für Selbsthilfeinitiativen im Bereich von Sozialisation, Bildung und Ausbildung. Ohne eine erweiterte, auch Eltern und Bürger einbeziehende Praxis der Entfaltung der nächsten Generation „von unten“ – durch selbstorganisierte Förderung von Reichtum und Vielfalt an kognitiven, kommunikativen und emotionalen Fähigkeiten der Jugend, durch sozial sinnvolle und individuell befriedigende Entwicklungsund Beschäftigungsangebote – werden Versuche einer systemischen Steuerung „von oben“ nicht greifen. Dasselbe gilt für die große Zahl an Arbeitslosenselbsthilfe-Initiativen, deren Existenz und Effizienz im allgemeinen Lamento über die Arbeitslosigkeit zu wenig beachtet und gefördert werden. Hier sind die Ausgrenzungsstrategien der Wirtschaft wie auch die finanzielle Kompensationsstrategie des Staates gleichermaßen Ausdrucksformen einer verkürzten praktischen Vernunft, über die viele Menschen bereits hinaus sind. In der Netzwerkwirtschaft können sich (junge und ältere) Menschen neue Tätigkeits‑, Entwicklungsund Bildungsfelder erschließen, „integrierte Kreativität“ (Hans Joas) entwickeln und ein Leben in Würde, Freundschaft und Solidarität gestalten, wobei die hier gesammelten Erfahrungen und entwickelten Kompetenzen in die Gesellschaft und Marktwirtschaft zurückfließen und auch hier allmähliche Veränderungen bewirken und zu „Klimaverbesserungen“ führen können. 300

Um die Organisation wirtschaftlicher Leistung auf ein „zweites Standbein“ zu stellen, sollten lokale, regionale, nationale und transnationale „Wirtschaftsgemeinschaften“ in Europa politisch gewollt und in ihrem Aufbau unterstützt werden, die hier die Bereitstellung und den Austausch erstrebenswerter Güter und Dienstleistungen zwischen Bürgern wie auch die Erzeugung von Gemeinschaftsgütern und die Befriedigung von Gemeinschaftsbedürfnissen ermöglichen. Dazu bedarf es allerdings einer weiteren Differenzierung und Erweiterung des europäischen Währungssystems, die sich davon leiten lässt, dass einmal eingeführte Währungen (wie z. B. der Euro) nicht sakralisiert und als „Alleinherrscher“ etabliert werden sollten, sondern als Medien und Instrumente der Förderung kultureller Entwicklung und der Verbreitung von Märkten, Arbeitsteilung und Wohlstand zu verstehen sind. 71)

Regionale Komplementärwährungen zulassen Europäische Geldpolitik sollte die Begriffe „Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft“ auch „nach unten“ ausbuchstabieren. Anzustreben ist eine (den Euro ergänzende) europaweite Verbreitung regionaler und lokaler Währungen, die als Tauschmedien – ohne Zinsdruck, sondern mit negativem Zins (Hortungsgebühr) – Menschen und ihre Fähigkeiten, Arbeitsleistungen und Arbeitszeiten, Güter und Dienstleistungen miteinander zu kleinen regionalen Wirtschaftsgemeinschaften vernetzen. Diese können konstruktive und effektive Instrumente einer modernen europäischen Sozialpolitik sein, die die regionale Selbstorganisation und Selbstbestimmung der Bürger einbezieht. Ihre Vorteile sind: • Sie sind strikt auf die Bürger als ihre Nutznießer vor Ort ausgerichtet und machen Tauschpraktiken multilateral. • Als wechselseitige Kreditwährungen werden sie in Transaktionen zwischen den Beteiligten von diesen selbst (als Soll und Haben) geschaffen. • Sie können strukturelle, technologisch und durch Kapitalverwertungs- und Zinsdruck bedingte Arbeitslosigkeit durch Eröffnung lokaler Beschäftigungs- und Tauschmöglichkeiten kompensieren. • Sie können im Falle von Wirtschafts- und Währungskrisen Sicherheitsnetze für die Bürger bilden. • Sie können einen Beitrag zur Entlastung und Umgestaltung der Sozialverträge auch und gerade angesichts steigender Lebenserwartung – z. B. im Generationenvertrag durch Pflegekonten – leisten. • Sie sind ökologisch vernünftig, weil sie die Bildung lokaler Wirtschaftsgemeinschaften begünstigen und helfen, Energie- und Transportkosten einzusparen. • Sie tragen nicht nur zum materiellen, sondern auch zum immateriellen Wohlstandswachstum und zur persönlichen Weiterentwicklung der Beteiligten bei und können hier post-materielle Einstellungen fördern. • Sie sind kooperations- und gemeinschaftsfördernd, stärken (ähnlich wie der Gabentausch in Frühkulturen) die Bildung sozialisatorischer (reziprok fürsorglicher) Nahbeziehungen und stellen insofern eine „Formalisierung von Hilfsbereitschaft“ (Bernhard Lietaer) dar. • Sie können die regionale und lokale Wirtschaft und ihre Verwurzelung und Akzeptanz in der Region unterstützen, indem sie z. B. Unternehmen, die diese Währungen akzeptieren, mehr Möglichkeiten bieten, sich für gemeinnützige Projekte in der Region zu engagieren. Dabei können sie mit Unternehmenswährungen (Kundenkarten, Bonus‑, Punktesysteme, Bitcoins u. ä.) kombiniert werden. • Sie sind inflationsneutral, insofern ihr Wachstum keinen Druck auf die Zentralbank ausübt, Zinsen zu erhöhen. 72) 301

Schon heute gibt es in Südamerika, Australien, Asien und USA wie auch in Europa eine Vielzahl regionaler Wirtschafts- und Währungsgemeinschaften, deren Bestand, Ausbau und Erfolge zeigen, dass sie wertvolle Beiträge zu einer positiven sozialen Integration und zu einer angemessen komplexen kulturellen Landschaftsbildung und ihrer Viabilität leisten können. 73) Ähnlich wie nationale Währungen auch die Entwicklung von Nationalbewusstsein stützen konnten, können heute transnationale Währungen wie der Euro die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins unterstützen und regionale Komplementärwährungen die Bindung der Bürger an die Region und regionale Gemeinschaften fördern  –  wobei auch diese Wirtschaftsgemeinschaften, sich und ihre Währungen ggfs. überregional und transnational vernetzen können. Dabei kann, wie schon angedeutet, die Blockchain-Technologie nicht nur in der Marktökonomie, sondern auch in der Netzwerkökonomie wichtige Funktionen übernehmen. Diese Technologie bietet ein sich im Internet fortschreibendes und sich aktualisierendes, nicht manipulierbares und für alle offen liegendes „Geschäftsbuch“ oder auch: eine wachsende Plattform, die (einer unendlichen Perlenkette ähnlich) alle Transaktionen in Rechnernetzwerken irreversibel und dezentral in Blöcken (Perlen) zusammenfasst und so auch unter Umgehung vermittelnder Instanzen wie Staaten, Banken, Unternehmen, Organisationen, Plattformen etc. den direkten Austausch von Informationen, Produkten und Dienstleistungen sowie Vertragsbildungen zwischen den Bürgern, ihre Beteiligungen an politischen und wirtschaftlichen Projekten u. a. ermöglicht. Allerdings ist der Anspruch der Blockchain-Technologie, reziprokes Vertrauen der involvierten Partner durch Mathematik zu ersetzen und quasi „automatisch“ zu stiften, nicht immer vollständig einlösbar. Denn an der Schnittstelle von realer Welt und digitaler Dokumentation bedarf es eines Vertrauensakts, dass nämlich derjenige nicht lügt, der die digitale Datenerfassung beginnt, indem er erstmals ein Datum (einen Vorgang, eine Produkteigenschaft, ‑herkunft, ‑qualität, eine Dienstleistung, Vereinbarung u. a.) im Netz fixiert. Deshalb scheinen Blockchain-Technologien in der Marktwirtschaft vorzugsweise immer dann Anwendungen zu finden, wenn die Initiative von vertrauenswürdigen Adressen und Akteuren ausgeht: z.  B. in der Schaffung eines fälschungssicheren digitalen Grundbuchs seitens einer (nicht-korrupten) Regierung, in der Verwaltung von Anleihen der Weltbank, in der Fixierung und Speicherung personaler Identitätsnachweise, in Koppelungen, Zusammenschlüssen und Verträgen zwischen Unternehmen der Stromerzeugung, aber auch zwischen Bürgern und Nutzern, im sharing u. a. Darüber hinaus könnte das Nutzungsspektrum der Blockchain-Technologie im Rahmen der Entwicklungen einer Tätigkeitsgesellschaft und Netzwerkwirtschaft größer sein, weil ihre Nutzung hier durch ein reziprokes Vertrauen der involvierten Bürger „gerahmt“ ist, das in ihrer intuitiven Sittlichkeit und im gemeinsamen Engagement für ihre alternativen Projekte begründet ist. Lokale und regionale Wirtschaftsgemeinschaften, die Komplementärwährungen und Blockchain-Technologie nutzen, könnten unter Bedingungen einer durch Zinsdruck, Kapitalverwertung und Konkurrenz dominierten Ökonomie und Gesellschaft der hier drohenden sozialen Polarisierung und Ungleichverteilung von Wissen, Arbeit und Einkommen entgegen wirken, die Seite der Kooperation und der Solidarität in der Wirtschaftspraxis stärken und die Entstehung brückenbildender Gemeinschaften in der Gesellschaft bahnen. Die Ergänzungen des europäischen Währungssystems nach „außen“ und nach „innen“, die Schaffung einer globalen Referenzwährung (vielleicht als Ausgestaltung der Bitcoin-Währung) einerseits und die Möglichkeit eines vorübergehenden Ausstiegs aus dem Euro sowie die Schaffung vieler regionaler und lokaler Komplementärwährungen andererseits würden die Entstehung von Symbiosen der Markt- und Netzwerkwirtschaft begünstigen, die zu einer Veränderung der Organisation wirtschaftlicher Leistung in Richtung qualitatives Wachstum beitragen können.

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Symbiosen von Markt- und Netzwerkwirtschaft Der Aufbau einer Netzwerkwirtschaft dient nicht als Verschiebe- oder Versorgungsstrategie für potentielle Verlierer der Globalisierung und des Strukturwandels der Wirtschaft, sondern gehört zu einer gesellschaftlicher Weiterentwicklung, die auf die begrüßenswerte Freisetzung menschlicher Arbeit durch neue Technologien, Digitalisierung und Robotik antwortet, indem sie die bisherige (allein nicht mehr zukunftsfähige) Verflechtung von Marktwirtschaft und Sozialstaat durch eine „Symbiose“ von Markt- und Netzwerkwirtschaft ergänzt. Die Netzwerkwirtschaft kann die ohnehin notwendige und bereits stattfindende (Zeit)flexibilisierung in der Erwerbsarbeit wie auch die Verbreitung des „job sharing“ in der Marktwirtschaft unterstützen. Ferner gehören zu einer gelingenden Symbiose von Markt- und Netzwerkwirtschaft ein schwerpunktmäßig materieller (monetärer) Transfer der Markt- zur Netzwerkwirtschaft und ein vor allem immaterieller (kultureller) Transfer der Netzwerk- zur Marktwirtschaft. Die Netzwerkwirtschaft übernimmt, in modernisierter, das heißt die Menschen nicht passivierender, sondern aktivierender Form auch Funktionen des Sozial- und Wohlfahrtsstaats. Es wird in Zukunft ganz entschieden darauf ankommen, die Phantasie, Kreativität und Selbsthilfefähigkeit der Menschen, neue unkonventionelle und individuelle Auswege zu finden, anzustoßen, zu ermutigen und großzügig zu unterstützen. Dafür sollten über Staatsfonds und staatliche Sozialinvestitionsfonds wie auch über steuerfinanzierte Grundeinkommen und Gratisleistungen für alle Bürger (z. B. Bildungsgutscheine und Reisegutscheine) angemessene Anteile des Produktivitätszuwachses von der Markt- in die Netzwerkwirtschaft fließen. Darüber hinaus könnten Bürgerinitiativen und Stiftungen, „start ups“, internetgestützte Projekte, Sozialunternehmen und Unternehmen, die „Corporate Social Responsibility“ (CSR) praktizieren, sich in der Netzwerkwirtschaft, für den Auf- und Ausbau intelligenter Kooperationen engagieren und „win-win-Spiele“ zwischen Staat, Wirtschaft und Bürgern mitentwickeln, in besonderer Weise anerkannt und politisch und finanziell unterstützt werden. Weitere Möglichkeiten der Finanzierung der Netzwerkwirtschaft könnten sich aus Sozialkosteneinsparungen des Staats ergeben. Ferner könnten Finanzierungsquellen erschlossen werden, wenn der Staat an den finanziellen Erfolgen der von ihm geförderten Wissenschafts‑, Technologie- und Wirtschaftssektoren durch Rückzahlungen mehr als bislang beteiligt würde und auch diese Erträge in die Netzwerkwirtschaft fließen würden.

Intrapersonale Arbeitsteilung und Rollenwechsel zwischen Markt- und Netzwerkwirtschaft „Das Gute liegt für jeden Menschen individuell verschieden in der Tätigkeit enthalten, die er entsprechend seiner Natur und Begabung hervorzubringen vermag.“ (Aristoteles) Zunehmend mehr Menschen können sich dann als „LebensunternehmerInnen“ (Christian Lutz) verstehen, die nur noch „mit einem Bein“, nämlich dem Angebot ihrer Arbeitskraft und ihrer Qualifikationen für Wahlzeitarbeit in der Marktwirtschaft stehen. Diese kombinieren sie mit Engagement und Tätigkeiten in der Netzwerkökonomie und erzielen ihr Einkommen – je nach Lebensphase und ‑situation – zu unterschiedlichen Anteilen über Erwerbsarbeit, Beteiligungs- und Kapitaleinkommen sowie Eigenarbeit, Tausch und Grundeinkommen. 74)

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Diese intrapersonelle Arbeitsteilung zwischen Markt- und Netzwerkökonomie kann auch zur weiteren Überwindung der immer noch ausgeprägten Arbeitsteilung zwischen (männlicher) Erwerbsarbeit und (weiblicher) Reproduktionsarbeit beitragen. Auch hochqualifizierte Männer und Frauen wären vermutlich zunehmend motiviert, diese Doppelrolle zu leben, weil sie ihnen neue Erfahrungen und neue Facetten von Lebensqualität eröffnen kann. Zusätzliche Anreize entstehen, wenn das soziale, kulturelle, erzieherische, pflegerische, ökologische etc. Engagement in der Netzwerkwirtschaft von den Unternehmen als Beitrag zur Qualifikation und Karriere anerkannt wird. Im Gegenzug zu ihren materiellen Transfers erhält die Marktwirtschaft immaterielle Güter und Leistungen durch die Netzwerkwirtschaft: psychosoziale Gesundheit und soziale Kompetenzen, Motivation, Kreativität, interkulturelle Erfahrung, Bildung usw. – also all jene erstrebenswerten kulturellen Qualitäten, die auch als „Humankapital“ für die Marktwirtschaft eine wichtige Ressource bilden. Beispiele dafür sind die Ergebnisse regionaler, von Politik und Wirtschaft unterstützter Bildungskooperativen zur Überbrückung industriellen Strukturwandels 75) wie auch Initiativen von qualifizierten, gleichwohl arbeitslosen jungen Leuten, die sich ihre Arbeitsplätze selbst schaffen. 76)

Markt- und Netzwerkwirtschaft in Europa Die skizzierte Symbiose von Markt- und Netzwerkwirtschaft kann der (verstärkt durch Digitalisierung drohenden) Arbeitslosigkeit und ökonomischen Polarisierung, damit verbundenen Konflikten und Radikalisierungen entgegenwirken und auf diese Weise Lebensqualität und systemische Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften unter Bedingungen der Globalisierung stärken. Auch bei ausgeprägter Exportorientierung kann eine in diesem Sinne ausdifferenzierte Volkswirtschaft in Europa eine gewisse Autonomie und Unabhängigkeit von globaler Dynamik und globalen Finanzmärkten sichern. Darüber hinaus würde sie auch zu qualitativem Wachstum und Nachhaltigkeit und damit zur Viabiliät europäischer Lebensformen beitragen. Zwischen der geschichtlichen Entwicklung nicht materiell, sondern emotional, sozial, ästhetisch u. ä. geprägter Beziehungen der Menschen und der Entwicklung ihrer Mentalitäten, Handlungsorientierungen und Werte gibt es ein Verhältnis gegenseitiger Verstärkung. Je mehr eine Gesellschaft in ihren Arbeits- und Lebensformen über die Bewältigung der Naturzwänge, der Lebensnot und über Sicherung materieller Bedürfnisse hinaus immaterielle, ihren Zweck in sich selbst erfüllende Tätigkeiten und Vernetzungen erzeugen und anbieten kann, umso mehr Menschen können mit entsprechenden „post-materiellen“ Orientierungen heranwachsen und sich wiederum für eine Stärkung, Weiterentwicklung und ‑verbreitung dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Netzwerke einsetzen – und damit insbesondere in Krisenzeiten „Auswege“ (Giorgio Agamben) und neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Damit wird die Wichtigkeit materieller und ökonomischer Sicherheit und die zentrale Bedeutung der Marktwirtschaft als Voraussetzung vielfältiger kultureller Entwicklungen nicht geleugnet, aber deutlicher als Mittel zum Zweck definiert. Entscheidend wird dann die Frage, wann und wo wieviel materielles Wachstum in welcher Verteilung und in welcher Form (mit welchen Technologien, in welchen Arbeits‑, Organisations- und Lebensformen) benötigt wird, um soziale Sicherheit, geistig-seelische Entfaltung und eine sinnhafte, möglichst autonome Lebensgestaltung für die Menschen zu eröffnen. Auch die Ergebnisse der Glücksforschung, zeigen uns, dass es Zusammenhänge gibt zwischen der Möglichkeit eines autonomie-orientierten Lebens und Arbeitens, dem Vorrang immaterieller vor materiellen Bedürfnissen, der Fähigkeit, Glück durch Aufgehen in Tätigkeiten zu erleben und der Fähigkeit, die Bedürfnisse und Ansprüche anderer Menschen zu respektieren. Eine so verstandene Autonomie schließt Empathie und Mitgefühl, Nächstenliebe und Bindungsfähigkeit, Sensibilität für soziale Gerechtigkeit und die Bereitschaft zur Solidarität 304

nicht aus, sondern kann diese vielmehr wecken und stärken. 77) Diese Potentiale können auch durch entsprechende Zielsetzungen und Organisationsformen von Bildung und Wissen entfaltet und gefördert werden.

VI. 4 Organisation von Bildung und Wissen „Bildung freilich müsste beides verbinden, nicht das eine zum anderen addieren, sondern das eine durch das andere betreiben: die Stärkung der Person durch die Aneignung von ‚Welt‘, Das war das Programm Wilhelm von Humboldts.“ (Hartmut von Hentig) Auch mit Blick auf die Organisation von Bildung und Wissen wurden hier regulative Ideen vorgestellt, die nicht „von außen“, idealistisch und appellativ an westliche Kultur-Bildung herangetragen werden, sondern, so der Anspruch, rekonstruktiv aus ihrer Grammatik und ihrer impliziten Ethik als ein „systemisch Gutes“, reflexiv als „werdende Vernunft“ und als Übergangspotential zu einer „vierten Kultur“ erschließbar sind. Im Lichte dieser Regulative lassen sich die folgenden Vorschläge zur Mit- und Umgestaltung der Organisation von Wissen und Bildung in Europa entwickeln. Dabei sollte auch hier die Arbeit an der institutionellen Architektur und Organisation des Bildungssystems ergänzt werden durch die Entwicklung und Förderung von Bildungsinitiativen, die aus der Zivilgesellschaft kommen.

Diskursive und demokratische Begründung von Bildungszielen und ‑inhalten „Die Grundfragen der Bildung sind von und mit den (gegenwärtig so gerne beschworenen) Eliten zu diskutieren – sie sind aber nicht an Experten zu delegieren, denn niemand kann andere für sich denken lassen oder stellvertretend für sich „Mensch“ sein lassen.“ (Volker Steenblock) Dass der Mensch seinen Zweck in sich selbst haben und zur Personalität und „Selbstgesetzgebung“ (Immanuel Kant) und somit zur „vernünftigen Freiheit“ (Georg Friedrich Hegel) auch befähigt werden sollte, ist eine normative Orientierung westlicher Kultur, die auch dem Bildungssystem und seiner institutionellen Ausgestaltung eine freiheitlich demokratische Organisation und Selbstbestimmung abverlangt. Ebenso wie die kulturelle Lebensform und Praxis dem Anspruch nach im Diskurs freier Bürger über die Frage, wie sie leben und arbeiten wollen, zu begründen wäre, kann auch die Bildungspraxis letztendlich nur im Bürgerdiskurs zur Frage, wie sie die nachfolgenden Generationen erziehen, bilden und qualifizieren wollen, begründet, überprüft und legitimiert werden. Eine demokratisch auf eine breite Basis gestellte Bildungspolitik zielt auf die Bildung aller Bürger: • Erstens als Persönlichkeitsbildung, insbesondere ihrer intuitiven Sittlichkeit als Befähigung zum kreativen Mitvollzug der kulturkonstituierenden und reproduzierenden und („von Natur aus“) nicht-logozentrischen Alltagspraktiken und der hier möglichen Beobachtungsleistungen. • In diesem Rahmen als Bildung von Zusammenhangswissen und Urteilsfähigkeit, die die Bürger zur Teilhabe an kritischen Diskursen, an nicht-logozentrischer Selbstbeobachtung und der hier möglichen Verständigung, Sinn- und Orientierungsfindung für ihr Zusammenleben befähigt. 305

• Schließlich muss es in diesem Rahmen – drittens – um Expertenbildung und Qualifikation, also um die Befähigung zur Mitwirkung an Arbeit und Kooperation im Rahmen technologischer Entwicklung und wirtschaftlicher Arbeitsteilung gehen. Diese Kombination von Person‑, Wissens- und Expertenbildung ist als allgemeinste Rahmenorientierung der Bildungstheorie, ‑praxis und ‑politik kaum strittig und wird auch derzeit in vielen Reflexionen, Theorien und Beiträgen bestätigt. Heute kommt eine übergreifende Rolle der Internetnutzung und der sich anbahnenden Kommunikation und Kooperation mit künstlicher Intelligenz hinzu, die in Nachfolge und Ausdifferenzierung der Zeichen‑, Bild- und Schriftkultur einen „neuen exterritorialen geistigen Raum“ (Jan Assmann) eröffnet, der Hören, Sehen und Verstehen integriert und die drei o.g. Dimensionen von Bildung‑, Persönlichkeits‑, Wissens- und Expertenbildung verändern wird. Entscheidend bleibt aber, wie diese Dreiteilung inhaltlich ausgestaltet wird, ob hier nämlich die Idee des Menschen und seine Entfaltung als „Zweck in sich selbst“ ernst genommen werden. Dazu dürfen Entfaltungs- und Bildungsziele weder aus weltanschaulichen und religiösen, noch aus technischen, politischen, ökonomischen oder anderen Orientierungen und Zielsetzungen und auch nicht aus einer objektivierten „Natur des Menschen“ wie z. B. aus Befunden der Hirnforschung schlicht abgeleitet werden, sondern müssen in Diskursen dialogisch entwickelt und begründet werden, die sich an der regulativen Idee der Entfaltung des Menschen und des menschlichen Geistes orientieren. Dazu gehören, wie bereits ausgeführt, ästhetische Sensibilität und schöpferisches Entwerfen, intuitive Sittlichkeit und eine Persönlichkeitsbildung, die Menschen auch befähigt, ihr Zusammenhangswissen und ihre reflexive (religiöse oder auch post-religiöse) Welt- und Selbstbeobachtung nicht‑logozentrisch, also lern- und zukuftsfähig auszugestalten. All dies sollte Fundament und Rahmen für Ausbildung und Qualifikation bilden. 78)

Verbesserung der Bildungschancen als Basiskonsens „If you think education is expensive, try ignorance.“ (Amory Lovins) In der westlichen Kultur folgt die Sozialisation der jeweils nachfolgenden Menschengeneration – Schutz und Fürsorge, Erziehung, Bildung und Qualifikation – einem Anspruch der Entfaltung des Menschen, der hier auch in den Menschenrechten und in der Würde des Menschen begründet ist bzw. sein sollte. Ebenso wie ein Gesellschaftssystem die Würde der erwachsenen mündigen Menschen verletzt, wenn es ihnen die Freiheit, ihren eigenen Weg zu finden, vorenthält, wird die Menschenwürde der Kinder und Jugendlichen verletzt, wenn ihnen ihre je eigene Persönlichkeitsbildung und damit die Chance zum Ergreifen dieser Freiheit und zur Entwicklung von Mündigkeit vorenthalten wird. Deshalb müssen die Zielsetzung und die Suche nach Wegen, die Bildungschancen zu verbessern, in das Zentrum politischer Anstrengungen rücken. 79)

Engagierte und erfolgreiche Bildungspraktiker beobachten und unterstützen Auch im westlichen Pfad folgen die meisten Menschen im Alltag (noch) ihrer intuitiven Sittlichkeit, verhalten sich hier resonanz- und kohärenzorientiert, einfühlend, kooperativ und sachbezogen und vermitteln dies mehr oder weniger bewusst auch ihren Kindern. Auch die vorschulische und schulische Unterstützung von Persönlichkeitsbildung, und die schulische Organisation von Wissensbildung sind in vieler Hinsicht 306

(noch) im Sinne einer Annäherung an „Gelingen“ erfolgreich. Schließlich können auch die Universitäten und die (dualen) Systeme der Berufsbildung und Qualifikation mit Blick auf Wissensbildung, Reflexivität und Expertise beeindruckende Ergebnisse vorweisen. Dabei wird deutlich, dass auf allen Ebenen  –  von der familiären Sozialisation und Erziehung über Vorschule, Schule, Berufsausbildung bis zur Universität und zum lebenslangen Lernen – das Gelingen von Bildung weniger durch bestimmte institutionelle Strukturen und systemische Rahmenbedingungen, sondern vor allem durch Einsatz, Engagement und Verausgabung von Personen zustande kommen: der Eltern, der Betreuungs‑, Lehr- und Ausbildungskräfte, dank ihrer alltagspraktisch verwurzelten Empathie, intuitiven Sittlichkeit und Weisheit, ihres Wissens und der darin begründeten Anerkennung ihrer Autorität seitens der Lernenden. Es sind also vor allem persönlich geprägte Bildungspraktiken, die in dialogisch strukturierten Nahbeziehungen die Persönlichkeitsbildung und ethische Orientierung, die Wissensbildung und Qualifikation der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen bahnen, orientieren und in „gute Formen“ leiten. Vor diesem Hintergrund sollte es – gegen die beschriebenen bedrohlichen Tendenzen zur logozentrischen und ideologischen Verkürzung der Bildungstheorie, Bildungspraxis und –politik – vor allem darum gehen, engagierte Bildungspraktiker zu beobachten, ihr intuitives Können und ihre dialogische Bildungspraxis (soweit es geht) explizit zu machen, die Weitergabe dieses Könnens theoretisch und praktisch, politisch und finanziell zu unterstützen und zu fördern und auf diese Weise auch eine angemessene weitere Professionalisierung der Pädagogik zu unterstützen. 80) Eine Bildungstheorie und ‑politik, die, wie hier vorgeschlagen, die Eigenlogik von Sozialisation und Bildung entfalten, pflegen und weiter ausdifferenzieren, die engagierten Bildungspraktiker, ihre dialogische Organisation von Bildungsprozessen unterstützen und weiter professionalisieren will, sollte zunächst mehr mit diesen Praktikern in Dialog treten und von ihnen lernen. Anstatt Gefahr zu laufen, die Bildungspraxis durch Beschleunigung von „Reformen“ für noch mehr Beschleunigung in den Zustand eines „rasenden Stillstands“ (Paul Virilio) zu führen, sollte mehr Entschleunigung den Diskurs zwischen Bildungstheoretikern, ‑politikern und ‑praktikern bestimmen.

Mehr intellektuelle Autonomie und persönliche Beziehungsgestaltung in den Bildungsinstitutionen Alle Bildungseinrichtungen und ihre Akteure brauchen mehr Autonomie, um sich als lernende und deshalb auch besser lehrende Personen und Organisationen entwickeln zu können. Nur auf diesem Wege können sie über ihre Dienstleistungsfunktion für die anderen Systeme hinaus durch mehr Entfaltung des Menschen zur Zukunftsfähigkeit der westlichen Kultur beizutragen. Dabei sind die zunehmenden Möglichkeiten der Bildung und Qualifikation im Internet durch digitale Unterrichtsmedien und weltweite Distribution von Kinderbildungsangeboten und ‑serien, Vorlesungen, Lehreinheiten und ganzen Studiengängen und die damit eröffneten individuellen Qualifikationsbündelungen grundsätzlich begrüßenswert. Sie müssen aber durch dialogische Nahbeziehungen und freiwillige „pädagogische Arbeitsbündnisse“ (Ulrich Oevermann) zwischen Lehrenden und Lernenden gerahmt bleiben. Denn nur in solchen Gemeinschaftsbildungen können sich die Offenheit und Neugier der Lernenden und die Bereitschaft und Fähigkeit der Lehrenden, sich sowohl für die gewordene und werdende Einmaligkeit der Lernenden wahrhaftig und hermeneutisch zu öffnen wie auch das Wissen und die Werte der kulturellen Lebensform objektivierend zu vermitteln, miteinander verbinden und gegenseitig stützen. 81) Es geht also auch darum, über die Professionalisierung der Pädagogen und der Pädagogik das Bildungssystem als ein autopoietisches System anzuerkennen, das sich nur in „weichen Grenzziehungen“, in der 307

Balance von Öffnung und Schließung zu den anderen kulturellen Systemen entwickeln kann und verantwortungsbewusst mitgestaltbar ist.

Re-autonomisierung der Bildungspraxis und Unabhängigkeitserklärung der Bildungspraktiker Mit Blick auf die wechselseitige Beeinflussung unserer gesellschaftlichen Systeme ist eine Asymmetrie erkennbar: Es wird heute in der Regel als selbstverständlich angesehen und akzeptiert, dass Wirtschaft und Technik ihren jeweils aktuellen Bedarf an Persönlichkeits‑, Wissensbildung und Qualifikation den Bildungs- und Qualifikationsinstitutionen „melden“, damit diese (möglichst schnell) „liefern“. Demgegenüber scheinen im Bildungssystem die Selbstbeobachtung und das Selbstbewusstsein weniger ausgeprägt zu sein, die Wirtschaft in den Dienst der Verwirklichung seiner zentralen Zielsetzung zu nehmen, nämlich Persönlichkeit, Wissen und Ethik der Menschen zu entfalten und zu bilden und damit die kulturelle Lebensform insgesamt zu erhalten und weiter zu entwickeln. Dass Bildung sich verändern muss, damit sie genügend für die Wirtschaft tut, wird allseits nachgeplappert, während die Frage, ob und wie die Wirtschaft sich verändern müsste, damit sie genügend für die Bildung tut, zumeist als abwegig und realitätsfremd gilt. Die Bildungsinstitutionen sind aber nicht nur dazu da, den jeweils aktuellen Persönlichkeits‑, Bildungs‑ und Qualifikationsbedarf seitens der Gesellschaft und aus Sicht von Wirtschaft und Technik zu befriedigen, sondern sie sollten in (An)erkenntnis, Entfaltung und Nutzung der kognitiven Potentiale der jungen Generationen auch „Überschüsse“ an Persönlichkeits‑, Wissensbildung und Qualifikation hervorbringen, die eine kritische Selbstbeobachtung und Selbstkorrektur unserer kulturellen Lebensform ermöglichen und diese auch in Zukunft durch Selbstveränderung viabel halten können. Kurz gesagt: Sozialisation und Bildung sollten primär der langfristigen Maximierung des „systemisch Guten“ und der „werdenden Vernunft“ der kulturellen Lebensform und erst in diesem Rahmen auch einer kurzfristigen Nutzenmaximierung ihrer Teilsysteme dienen. Um dieser Orientierung in der Organisation von Bildung und Wissen Geltung zu verschaffen, wäre vielleicht eine europaweite „Unabhängigkeitserklärung“ einer möglichst großen Anzahl erfolgreich lehrender Persönlichkeiten angebracht. Diese hätte die (An)erkenntnis, Pflege und Differenzierung der Eigenlogik und der impliziten Ethik der Bildungspraxis in den Mittelpunkt ihrer Forderungen zu stellen und könnte vielleicht eine demokratische Grundsatzentscheidung der Bürger für eine Re-Autonomisierung der Bildungspraxis herbeiführen. Im Rahmen dieser erstrebenswerten, reflexiv begründeten Re-Autonomisierung lassen sich die Reformen, Korrekturen und Ergänzungen der Organisation von Bildung und Wissen, die oft schon seit Jahrzehnten diskutiert und auch in vielfältigen Ansätzen erprobt werden, neu akzentuieren, bewerten und vielleicht erfolgreicher durchsetzen. Dazu gehören die wohldosierte Öffnung der bestehenden Bildungsinstitutionen, insbesondere der Schulen für mehr Interpenetration und Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Umwelten und Projekten, der Erhalt und Ausbau von Lebens‑, Spiel‑ und Arbeitsräumen für Experimente, für die Erprobung neuer Organisationsformen und Bildungsinhalte sowie insbesondere eine noch mehr kontext- und problembezogene Integration von Unterrichtsfächern. Darüber hinaus geht es aber auch um Ausbau von Kultur-Bildungsprojekten und Netzwerken zwischen den Bildungsinstitutionen und über ihre jeweiligen Grenzen hinaus sowie um eine Europäisierung der Bildungspolitik. Auf all diesen Wegen könnte eine um Gleichheit der Bildungschancen bemühte Breitenförderung mit einer Strategie verbunden werden, die über Funktionseliten hinaus auf Bildung von Verantwortungseliten zielt. Eine Bildungstheorie und ‑politik, die, wie hier vorgeschlagen, die Eigenlogik von Sozialisation und Bildung entfalten, pflegen und weiter ausdifferenzieren, die engagierten Bildungspraktiker, ihre dialogische Organisation von Bildungsprozessen unterstützen und weiter professionalisieren will, sollte zunächst mehr mit 308

diesen Praktikern in Dialog treten und von ihnen lernen. Die folgenden Vorschläge beruhen auf der Unterstellung, dass das existierende Bildungssystem zu einer Reform, Selbstkorrektur und ‑erneuerung fähig ist.

Verständigung und Integration der Kulturen praktizieren Den derzeitigen Entwicklungsstand der kulturellen Integration von Bürgern aus nicht‑westlichen Kulturen, aus Entwicklungs- und Schwellenländern und hier insbesondere aus islamischen Kulturen kann man als ein halb volles oder auch halb leeres Glas betrachten. Einerseits gibt es in Deutschland und wohl auch in Westeuropa schon heute beachtliche Erfolge und Beispiele des Gelingens: z. B. im Arbeitsmarkt und in den Unternehmen, in der Selbstorganisation von Nachbarschaften, im Engagement von (auch ehrenamtlichen) Lehrern, Stiftungen u. a. Andererseits muss man eingestehen, dass die Integration bei großen Anteilen insbesondere der muslimischen Einwanderer bislang nicht hinreichend gelungen ist. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Einerseits sind sie in Unterschätzungen seitens der Politik mit Blick auf die Eigenlogik islamischer Religion, Kultur und Tradition, ihre immer noch starke Bindungskraft für die kulturelle Identität der Muslime und die damit verbundene Verweigerung von Assimilation begründet, in der sie vielfach auch von Seiten ihrer Heimatländer und deren Politik (Beispiel Erdogan) bestärkt werden. Andererseits spielen aber auch Desinteresse und Respektlosigkeit, Fremdenfeindlichkeit und Integrationsverweigerung bis hin zur Diskriminierung und Ausgrenzung in Anteilen der europäischen Bevölkerungen eine Rolle. Vor diesem Hintergrund bekommen Institutionen der Erziehung, Bildung und Ausbildung  –  von der Krippe über Kita und Grundschule bis zum Gymnasium und zur Universität – eine Schlüsselfunktion als „Integrationsagenturen“ (Joachim Wagner), die sie aber mit Blick auf die Muslime  –  bedingt durch die Übermacht ihres religiös konservativen Milieus mit den Bastionen Familie, Koranschulen und Moscheevereinen – bislang nicht hinreichend erfüllen können. Um hier eine Besserung zu erreichen, müssen diese Probleme von der Politik ernst genommen, große finanzielle und personelle Investitionen geleistet und strukturelle Änderungen durchgeführt werden. Neben der Verbesserung organisatorischer Rahmenbedingungen  82) bedarf es einer Ergänzung und ggfs. Neuformulierung von Leitlinien der Wertevermittlung an Schulen. Diese hätten die Bedeutung ästhetischer Wahrnehmung und intuitiver Sittlichkeit der Kinder anzuerkennen und ihre Fähigkeit zu entfalten, diese in religiösen (christlichen und islamischen) wie auch in post-religiösen Wertorientierungen zu reflektieren – was auch zur Brückenbildung und reziproken Anerkennung zwischen den Kulturen beitragen könnte.

Suche nach „guten Formen“: ästhetische Bildung und Lebensgestaltung in der vorschulischen Bildungspraxis Dass die pädagogische Ausgestaltung der frühen Kindheit großen Einfluss auf die weitere Persönlichkeitsund Wissensbildung hat und hier entscheidende Weichen stellt, ist inzwischen in der Bildungsforschung durchgängig anerkannt. Diese Ausgestaltung muss aber kindgemäß sein: Die Kinder müssen im familiären wie im öffentlichen vorschulischen Entwicklungsraum Kinder sein dürfen. Das heißt, dass es hier weniger um beschleunigtes „Einpauken“ und Training intellektueller Leistungen mit Blick auf zukünftige Wettbewerbsfähigkeit, sondern mehr um die Vermittlung eines ästhetischen Ordnungssinns, um die Entfaltung und Habitualisierung der Suche nach kohärenten „guten“ Formen der alltäglichen Lebensgestaltung gehen sollte – wozu auch Partizipation, Kooperation und Gruppenbildung und die Einübung reziproker Empathie und Anerkennung (als „Grundgerechtigkeit“) gehören. 309

In der vorschulischen Persönlichkeitsbildung sollte angelegt werden, was in der schulischen, universitären, und beruflichen Bildung weiter zu entfalten ist: dass die Menschen weniger als „isolierte, leistungserbringende Subjekte“, sondern mehr als „Mitglieder einer lernenden Kommunikationsgemeinschaft“ (Axel Honneth) angesprochen, bewertet und gefördert werden. 83) Daran kann später ein (in manchen Schulen heute schon praktizierter) Unterricht in „Lebensgestaltung“ und „Glücksfindung“  –  die Befähigung zur Lebenskunst und Urteilskraft, zur „Komposition“ des eigenen Lebens in einer kohärenten persönlichen „Landschaftsbildung“ – anknüpfen. Dazu sollte auch musische Bildung, die Auseinandersetzung mit den Künsten und die Begegnung mit Künstlern als exemplarische Erfahrung des Ästhetischen und seiner konstitutiven Funktion für das „Gelingen“ von Kultur-Bildung einen höheren Stellenwert in der vorschulischen, schulischen und nach-schulischen Bildung bekommen, um auch auf diesem Wege die menschlichen Fähigkeiten zu fördern, die Welt anders zu denken als sie ist und bislang noch nicht verknüpftes miteinander zu verbinden. 84) Auch ökonomisch macht es Sinn, personell, organisatorisch und finanziell mehr in die frühkindlichen, vor allem ästhetischen und sozialen Fähigkeiten und ihre biographische Ausgestaltung zu investieren, um dann später weniger für „Reparatur“ und Kompensation misslungener Bildungsprozesse einsetzen zu müssen.

Pädagogische Arbeitsbündnisse und gegenseitiger Respekt Damit zwischen der gebildeten Generation der Lehrer, Hochschullehrer, und Ausbilder und der sich bildenden Generation der Kinder und Jugendlichen „pädagogische Arbeitsbündnisse“ (Ulrich Oevermann) entund bestehen können, muss die Asymmetrie in der Beziehung zwischen den Generationen (an)erkannt und eingehalten werden. Ebenso wenig wie Eltern sollten auch Lehrer „Partner“ oder gar „Kumpel“ sein wollen, sondern „Pädagogen“ (traditionell: „Meister“), deren Führung die Kinder und Jugendlichen vertrauen und deren Autorität sie aufgrund ihres Vorsprungs an Erfahrung, Wissen und Weisheit respektieren können. Umgedreht gehört zum sozialisatorischen Arbeitsbündnis der Respekt der Pädagogen vor der Individualität der Kinder und Jugendlichen, ihrer Begabungen und ihrer Lebenspfade. Nur in solchen Arbeitsbündnissen können sich die Motivation der Pädagogen zu bilden und die Neugier und Wissbegierde der Kinder und Jugendlichen gegenseitig verstärken. Nur so kann einerseits die Motivation zur Selbstformung, zum „Lernen als Vorfreude auf sich selbst“ (Peter Sloterdijk), mit der die Kinder zunächst in die Schule kommen, erhalten und ausgebaut werden und andererseits eine (Selbst)professionalisierung der Lehrenden (Ulrich Oevermann) vorangetrieben werden. 85)

Urteilskraft und praktische Vernunft entfalten Die (Selbst)professionalisierung der Pädagogen kann nicht die von Wissenschaftlern, Experten oder Gelehrten sein, sondern ähnelt eher der von „Gärtnern“, die befähigt sind, die hier entstehenden Persönlichkeits-, Deutungs- und Wissenslandschaften dialogisch mitzugestalten, hier „gute Formbildungen“ zu unterstützen  –  wobei sie an die (genetisch und neuronal angelegte, im Familienleben und in frühkindlichen Sozialbeziehungen mehr oder weniger entfaltete) intuitive Sittlichkeit der Lernenden anknüpfen können. Im Zentrum der Professionalisierung der Pädagogen sollte über ihre eigene Befähigung zur Lebenskunst durch Urteilskraft, und ihre darin begründete Vorbildfunktion hinaus die Befähigung stehen, diese bei den SchülerInnen zu bahnen und zu entfalten. Es geht also auch um die gemeinsame Weiterentwicklung „werdender Vernunft“ jenseits der Alternative von pädagogischer Kuschelpraxis und wissenschaftlich gestützter „Wissensabfüllung“ und „Wettbewerbsfähigkeit“. 310

Die Schulen müssen „entschult“ werden: Sie müssen wegkommen von der Nachwuchsverwaltung, von Struktur und Atmosphäre staatlicher Erziehungs- und Belehrungsanstalten und zu attraktiven Spiel-, Lebens- und Arbeitsräumen für Schüler und Lehrer und darüber hinaus auch für alle Bildungsinteressierten, auch für Initiativen und Mitwirkende aus dem nachbarschaftlichen, lokalen und regionalen Umfeld werden. Dies allerdings nicht als Auflösung aller Grenzen zwischen Schule und ihren Umwelten, sondern in wohl dosierter, „weicher“ Grenzziehung, die nicht die Eigenlogik der schulischen Bildung von Kindern und Jugendlichen in den hier spezifisch ausgestalteten Nahbeziehungen in gesellschaftliche Alltagsgestaltung auflöst. Für eine solche „gekonnt“ strukturierte und dosierte Interaktion mit ihren Umwelten sollten Pädagogen und Schulen in jeder Hinsicht – finanziell und organisatorisch, in der Kooperation mit engagierten Eltern, in der pädagogischen Arbeit, in der Bestimmung von Bildungszielen und ‑inhalten – mehr Freiheit im Rahmen der Rechtsvorschriften und gegenüber der Verwaltungsbürokratie bekommen und mehr Verantwortung übernehmen.

Weiterbildung und lebenslanges Lernen ausbauen Weiterbildung, das lebenslange Lernen und die immer erneute Rückkehr aus der Arbeitswelt in die Bildungswelt (loop reflecting learning) sollten weiter ausgebaut, rechtlich und institutionell, organisatorisch und finanziell festgeschrieben und abgesichert werden. Dazu gehören die Öffnung der Bildungsinstitutionen für Weiterbildung, die Verkürzung von Jahresarbeitszeiten und die Einrichtung von Lernzeitkonten, die Zertifizierung von Abschlüssen, Qualitätssicherung und Teilnehmerschutz sowie eine verteilte Finanzierung durch Privatisierung und Markt einerseits und öffentliche Mittel andererseits. Weiterbildung darf sich nicht auf Qualifikation und Expertise beschränken, sondern muss die Aktualisierungen von Zusammenhangswissen und ethischer Orientierung einbeziehen. In Schule und Hochschule sollten Fächerteilung und die Vermittlung von Fachwissen durch Bildung von Zusammenhangswissen einerseits und durch seine Konkretion und Anwendung in gesellschaftlichen, technischen, ökologischen u. a. Projekten andererseits gerahmt werden. 86) Die Universitäten und die universitären Forschungsinstitute sollten über ihre Zulieferfunktion für Wirtschaft und Technologien hinaus sich auch als autonome Institutionen nicht nur der (interdisziplinären) Wissenschafts- und Forschungspraxis, sondern auch der Entfaltung „werdender Vernunft“, der kritischen Selbstbeobachtung und Orientierungsfindung der westlichen Kultur und ihrer Systeme profilieren und dabei von Seiten der Zivilgesellschaft, von Politik und Wirtschaft unterstützt werden.

Institutionen übergreifende Netzwerke bilden Die Bildungstheorie, ‑praxis und ‑politik könnte und sollte die Aufgabe der Entfaltung und Bildung der nächsten Generationen mit einem Beitrag zur Stärkung des flüssigen Fundaments westlicher Kultur, der Verständigung, Selbstbeobachtung und Orientierungssuche im System „Kultur der Kultur“ verbinden. Dazu bedarf es neuer, vor allem auch internetgestützter Vernetzungen und Formen „lernender Organisation“, die sich gleichsam „quer“ zu den Bildungsinstitutionen wie auch zu den Systemen der Wirtschaft, Politik und Technik herausbilden, diese in Beziehung setzen und u. a. eine Verständigung über Systeme und ihre Beziehungen ermöglichen. Diese Bürgernetzwerke sollten alle Altersgruppen von Schülern bis Senioren, Funktionseliten aus allen Systemen, also Politiker, Manager und Techniker sowie Künstler, Wissenschaftler, Philosophen und engagierte Bürger einbeziehen und sich lokal, regional, national, transnational und transkulturell aufstellen. Es 311

geht um eine sinnvolle Ergänzung der Professionalität und Expertise der Funktionseliten durch Urteilskraft, „wisdom of crowds“, (James Surwiecki) und „Citizen Science“ (Peter Finke), durch Zusammenhangswissen, neue Deutungsmuster, Orientierungen und Wege in Bürgernetzwerken, die auch und insbesondere die Potentiale der jungen Generationen, der Schüler und Studenten dafür (an)erkennen, entfalten und nutzen. 87). Das impliziert, dass diese Kultur-Bildungs-Netzwerke von der Politik und Wirtschaft ernst genommen werden, was möglicherweise durch ihre Anbindung an die (bereits beschriebene) „europäische Consultative“ unterstützt werden kann, die zwischen dem Wissen der Experten einerseits und der Urteilskraft und dem Zusammenhangswissen der Bürger vermittelt und deren Arbeitsergebnisse in der politischen Orientierungs- und Entscheidungsfindung berücksichtigt werden sollten. Ansätze in diese Richtung sind z. B. Zukunftswerkstätten für Regionalentwicklung, die von Schulen und Universitäten in Kooperation mit regionaler Politik, Wirtschaft und Bürgerinitiativen eingerichtet werden, wie auch die schon in den 80er-Jahren gegründeten Planungszellen von Bürgern als Beitrag zur Regionalpolitik und Stadtgestaltung u. a.

Bildungspolitik europäisieren und Europa zum Bildungsinhalt machen Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass im Rahmen der Europäisierung und Globalisierung die Bildungspolitik grundsätzlich national bleiben könne, um primär „nationales Kulturgut“ weiterzugeben. Vielmehr kann und sollte die ohnehin (in Gestalt kommerzieller Bildungs- und Weiterbildungsmärkte) schon fortgeschrittene Europäisierung und Globalisierung von Bildung und Qualifikation durch europäische und globale Bildungsoffensiven unterstützt werden. Wie die Organisationen politischer Steuerung und wirtschaftlicher Leistung braucht auch eine europäische Organisation von Bildung und Wissen eine Vernetzung lokaler und regionaler, nationaler und transnationaler Institutionen, Initiativen und Projekte, um (eingebettet in eine vernünftig mitgestaltete Globalisierung und auch durch einen höheren finanziellen Aufwand) Europa zukunfts- und wettbewerbsfähig zu machen. In diesem Rahmen sollten auch und insbesondere Europa selbst, die europäische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch mehr als bislang zu zentralen Bildungsinhalten gemacht werden. Hier sind die Komplexität des gegenwärtigen Integrationsprozesses, die kulturellen Defizite der Europäisierung und der Globalisierung bis heute sowie die Möglichkeiten und Entwicklungschancen verschiedener Zukünfte zu thematisieren und zu reflektieren. Die Grammatik der westlichen Kultur und ihre skizzierte „Tempelarchitektur“ zeigen uns, dass auch eine darüber aufklärende und sie pflegende europäische Bildungspolitik möglich und sinnvoll ist. Bildungstheorie, ‑politik und ‑praxis könn(t)en eine gemeinsame europäische Initiative begründen und z.  B. durch einen europäischen Bildungsfond finanzieren, in deren Rahmen die nationale und regionale Vielfalt von Bildungsinstitutionen, ‑netzwerken und ‑inhalten in Europa sich neu orientieren und weiter entwickeln könn(t)e. Ansätze dazu finden sich in den europäischen Austauschprogrammen, im Erasmus Programm (schon seit 1987) und verschiedenen Europa-Stipendien, in Ferienakademien, in den Vernetzungen von Partnerschulen und ‑Universitäten in Europa, in den Ideen zu einer europäischen Universität und zu einem „europäischen Jahr“ für alle Jugendlichen u. a. Darüber hinaus zeigt uns die Universalgrammatik der kulturellen Lebensform, dass auch eine darüber aufklärende und sie pflegende globale Bildungspolitik im Rahmen der Entwicklungs- und Friedenspolitik möglich und sinnvoll wäre. Wenn alle Kulturen auf der Erde unterhalb ihrer großen phänotypischen Verschiedenheiten durch eine Universalgrammatik der Alltagspraktiken und ihre implizite Ethik strukturiert sind, alle Menschen grundsätzlich einer intuitiven Sittlichkeit folgen könn(t)en und eine Fähigkeit zur Entwicklung post-logozentrischer (religiöser wie auch post-religiöser) Selbstbeobachtung in Glaubenspraktiken in sich tragen, bietet dies ein Potential für eine globale Orientierung und friedensfördernde Organisation von Kultur-Bildung. 312

Bildung von Verantwortungseliten „Was auch immer den Menschen bildet – verändert, formt, stärkt, aufklärt, bewegt – ich werde es daran messen, ob dies eintritt. ‚Dies kann sehr weniges sein, aber es darf nicht fehlen. Ich halte mich an die folgenden sechs Maßstäbe: Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit; die Wahrnehmung von Glück; die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen; ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; Wachheit für letzte Fragen; und – ein doppeltes Kriterium – die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publika.“ (Hartmut von Hentig) Zweifellos muss verhindert werden, dass im Rahmen des gegenwärtigen Trends zur Privatisierung des Lernens und zur explosiven Ausbreitung von Bildungsmärkten, die Teilhabe an Bildung und Qualifikation zu einer Frage der Kaufkraft wird. In dieser Hinsicht kann und sollte Bildungspolitik nicht länger versuchen, die Entstehung privater Vorschulen, Schulen und Universitäten, von kommerziellen Bildungsoffensiven und Bildungspaketen aufzuhalten, muss aber dann die Bildung und Ausbildung der Benachteiligten und der weniger Bemittelten noch intensiver fördern und finanzieren. Aber darüber hinaus sollte eine zukunftsorientierte europäische Bildungspolitik auch eventuelle Berührungsängste mit Blick auf Elitenbildung überwinden. Eingebettet in die institutionelle und transinstitutionell vernetzte Bildungspraxis als Breitenförderung muss auch die Heranbildung von Verantwortungseliten gezielt betrieben werden. Denn „wir haben keinen Mangel an Experten, sondern an gebildeten Experten.“ (Heinz Elmar Tenorth). 88) Mit Blick auf die Zukunft Europas brauchen wir entsprechend gebildete Verantwortungseliten: Menschen, die in besonderem Maß über Urteilskraft verfügen, ihrer intuitiven Sittlichkeit folgen, zur Verständigung und post-logozentrischen Selbstbeobachtung besonders befähigt sind, ihre Expertise mit Zusammenhangswissen verbinden und Gärtnern ähnlich in „weichen“ Grenzziehungen kulturelle „Landschaften“ mitgestalten, pflegen und entwickeln können und wollen. Menschen mit diesen Fähigkeiten bzw. der Anlage dazu gibt es auch und gerade in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen in großer Zahl und vielen Ausprägungen, aber ihre Anteile an den Funktionseliten und „Machern“ in der Politik und Wirtschaft scheinen leider, wenn auch nicht überraschend, gering zu sein. Während die Ausbildung von Funktionseliten und Wissensarbeitern in entsprechenden Studiengängen sich mit Blick auf den Bedarf vor allem der Wirtschaft und der Technik, der Politik und des Rechts quasi automatisch weltweit verbreitet und ausdifferenziert, bedarf die Bildung von Verantwortungseliten einer „Nachhilfe“. Dazu gehören die Aufmerksamkeit und besondere Zuwendung und Förderung von „high potentials“ unter den Jugendlichen seitens der Lehrenden in allen Bildungsinstitutionen und Bildungsprojekten sowie die Entwicklung entsprechender Weiterbildungsangebote für Funktionseliten, insbesondere für Politiker und Manager. Das Bildungssystem der westlichen Kultur lässt sich in seinem Selbstverständnis und seinen Zielsetzungen – der Entfaltung menschlicher Natur, der individuellen Persönlichkeitsbildung und Verantwortung sowie der Vermittlung von (Zusammenhangs)wissen und Expertise – als eine evolutionäre Ausdifferenzierung des „systemisch Guten“ „lesen“ und als Bestandteil einer „werdenden Vernunft“ kritisch mitgestalten – wozu auch die Verteidigung seiner Autonomie, seiner Eigenlogik und impliziten Ethik gegen seine Kolonialisierung durch Kapitalismus und Technokratie gehört. Dazu bedarf es einer neuen pädagogischen Architektur, die die Prävention und die Abkehr von geistiger und organisierter Gewalt in den Mittelpunkt stellt. 89) Am Ende unserer Reise durch die kulturelle Evolution sind wir wieder in der Gegenwart angekommen. Im vorletzten Argumentationsschritt wurde der Versuch unternommen, aus ihrer Rekonstruktion regula313

tive Ideen, normative Grundlagen und Leitorientierungen für die gegenwärtige und zukünftige Mitgestaltung westlicher Kultur in Richtung auf eine „vierte Kultur“” abzuleiten. Diesen Leitorientierungen folgend wurden im letzten Schritt Veränderungen lernender Organisation Europas – der medial gestützten Selbstbeobachtung und Orientierungsfindung, der politischen Steuerung, der wirtschaftlichen Leistung und der Bildung  –  vorgeschlagen. Im folgenden Fazit werden diese Überlegungen zusammengefasst und in den Rahmen der Zukunftsgestaltung Europas und seiner zukünftigen Rolle in der Welt gestellt.

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VII. Zusammenfassung und Fazit: Europa finden und erfinden. „Europa ist allein, ja, aber allein Europa kann uns retten.“ (Bruno Latour) Europa könnte ein historisch neuartiges Gebilde werden, das eine nicht nur quantitative Erweiterung, sondern auch qualitative Verbesserung gegenüber bislang entwickelten Ausprägungen westlicher Kultur eröffnet. Um diese Potentiale in Europa und darüber hinaus zu identifizieren, zu nutzen und zu entfalten, braucht Europa • einen normativen Rahmen und Leitorientierungen für eine offene europäische Kultur (1) • Wege und Schritte der Zukunftsgestaltung Europas (2) • Ein Europa der Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ – nach innen wie nach außen (3) • Strategien der Selbstbehauptung Europas in einer multipolaren Welt (4) • Europas Beitrag zur Mitgestaltung einer Weltgesellschaft: Potentiale und Keimbildungen erkennen und weiterentwickeln (5) • Zukunftsaussichten (6). Unter diesen Gesichtspunkten werden im folgenden zentrale Ergebnisse der hier versuchten Rekonstruktion zusammengefasst und zu einem Fazit verdichtet.

VII. 1 Normativer Rahmen und Leitorientierungen für eine offene europäische Kultur „Die Erneuerung der europäischen Union muss mit der Rettung ihrer normativen Grundlagen beginnen.“ (Heinrich August Winkler) Wie in allen Lebensformen spielen auch in der kulturellen „weiche Grenzziehungen“ eine konstruktive Rolle, leisten einen Beitrag zu ihrer Viablilität und können deshalb als allgemeinster normativer Rahmen und als Leitorientierung für Ansätze ihrer verantwortungsbewussten Mitgestaltung dienen. „Weiche Grenzziehung“ zu praktizieren heißt hier, den Prozess der „Hineinkonstruktion“ einer sinnhaften Welt in eine unbekannte Umweltdynamik durch Balance der „Öffnung“ für die Erfahrung des Nicht-Identischen und ihrer „Schließung“ in Selbstgesetzgebung lernend und zukunftsoffen mitzugestalten. Das gilt, wie ausgeführt, für die Beziehungen der westlichen Lebensform zur Mitnatur, zum sozialen Anderen, zur menschlichen Natur und in Zukunft auch zur künstlichen Intelligenz und wird im Folgenden noch einmal zusammengefasst. Die Einbettung jeder kulturellen Lebensform in die Mitnatur und ihre damit gegebenen Möglichkeiten und Grenzen müssen (an)erkannt werden und die Mitnatur als „Partnerin“ eines neuen differenzierten Ver315

trages eingesetzt werden. Das betrifft die Einfügung der kulturellen Lebensform in die physikalische Welt, indem sie sich bionisch, am Vorbild des Lebens und seiner Ökologie orientiert, ihren Energieverbrauch reduziert, sich entschleunigt und ihre Ökonomie vom quantitativen und materiellen auf qualitatives, möglichst weitgehend dematerialisiertes Wachstum und damit von ungekonnter Vernutzung auf begrenzte und gekonnte Nutzung, Erhalt und Pflege der Naturressourcen umstellt. Es betrifft ferner die (An)erkenntnis der geistigen Struktur und Subjektivität des Lebens und seiner Entfaltungs- und Schutzansprüche, die zu seiner artbezogen differenzierten Inklusion in die Rechtsgemeinschaft führt und uns Einschränkungen in Bezug auf seine wirtschaftliche Nutzung auferlegt. In diesem Rahmen bedürfen insbesondere die höher entwickelten Lebensformen der Anerkenntnis als „geistige Verwandtschaft“: als Ausprägungen subjektiven Geistes, in deren Rahmen die (wissenschaftlich) objektivierenden Bezüge und Analysen dieser Lebensformen durch hermeneutische, in reziproker Resonanz und gestufter Dialogpraxis begründete Beziehungen ergänzt werden sollten In diesen können die Menschen auch sich selbst als Ausdifferenzierungen und Ausprägungen des subjektiven Geistes reflektieren, der sie mit den Tieren verbindet. Darüber hinaus sollte sich westliche Kultur mehr für Erfahrung, Verstehen und Reflexion ihrer Herkunft in der kulturellen Evolution auf der Erde öffnen und diese in ihre Narrative und ihre Landschaftsbildung aufnehmen – nicht im Sinne bloßer Musealisierung, sondern als ein aktives Eingedenken, das ihre Selbstbeobachtung bereichern und neue Orientierungen für die Zukunft und ihre Mitgestaltung eröffnen kann. Das gilt für die reziproke Beseelung in der Ausgestaltung und Festigung sozialisatorischer Gemeinschaften in den Frühkulturen, für ihre Fähigkeiten zu einer über reziproke Gaben vermittelten Friedensstiftung zwischen einander Fremden wie auch für ihre Suffizienz- und Subsistenzökonomie. Diese und andere Errungenschaften frühkultureller Evolution lassen sich heute, z. B. in selbstorganisierten, lokalen und regionalen, Politik und Wirtschaft mitgestaltenden Bürgernetzwerken und Gemeinschaften reaktivieren. Schließlich können wir von den Hochkulturen etwas über die Relativierung des Materiellen in einer Welt geistiger Beziehungen und die Einbettung der Ökonomie in Gesellschaftsbildung sowie die Ansätze ihrer Ausgestaltung entlang der Leitidee der Gerechtigkeit lernen. Darüber hinaus lässt sich insbesondere von den östlichen Hochkulturen viel über geistige Wendung nach innen, über Selbstreflexion und Spiritualität, über Lebenskunst und Gelassenheit lernen. Die Rekonstruktion unserer früh- und hochkulturellen Vergangenheiten sollte weder in Musealisierung noch in „Zurück zu“-Forderungen münden, kann aber Möglichkeitsfelder und „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil) der Bürger bereichern. Mit Blick auf Gegenwart und mögliche Zukünfte westlicher Kultur sollten die implizite Ethik der Alltagspraktiken, ihre evolutionär ausdifferenzierten Regulative der Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung wie auch der Objektivierung und technischen Gestaltung der Welt – (an)erkannt, rechtlich, institutionell und organisatorisch „ausbuchstabiert“ und ihre mentale „Innenseite“, die intuitive Sittlichkeit der Bürger in Bildungsprozessen weiter entfaltet werden.

Dem Regulativ der Subjektivierung menschlicher Natur in der Gemeinschaftsbildung folgen Sozialisatorische Praxis und Gemeinschaftsbildung haben sich in der kulturellen Evolution in der Auseinandersetzung mit „innerer Natur“ in Nahbeziehungen ausdifferenziert. Erotische Beziehungen, Partnerschaft, Familie, Freundschaft und Gemeinschaften vieler Art folgen dem Regulativ der Subjektivierung des Menschen in reziproker Beseelung und Individuation. Sozialisatorische Gemeinschaften und ihre psychische Innenseite – Empathie, Mitgefühl, Fürsorge und Schutz für die Nächsten, Entfaltung von Diversität und Unterstützung ihrer Einmaligkeit  –  sind (wie Technik und Gesellschaft) große Errungenschaften in der Entwicklung kultureller Lebensformen, die zu schützen, zu erhalten und weiter zu entwickeln sind. Weil die 316

Vollzüge von Gemeinschaft in ihrem Kern der regulativen Idee reziproker Beseelung und Subjektivierung folgen, und weil die meisten Menschen eine entsprechende intuitive Sittlichkeit entwickelt haben, sind die evolutionären Voraussetzungen und Möglichkeiten für die weitere organisierte Ausdifferenzierung humaner Nahbeziehungen und Gemeinschaften in Europa und darüber hinaus gegeben.

Dem Regulativ sozialer Anerkennung und Gerechtigkeit in der Gesellschaftsbildung folgen Das System der menschlichen Gesellschaft hat sich in der kulturellen Evolution in der Bearbeitung und Einhegung von (potentieller) Gewalt in Fernbeziehungen ausdifferenziert. Heute ist die funktionale, post-moralische Ausdifferenzierung der Gesellschaft als „Flechtmuster“ seiner Subsysteme Markt, Staat, Demokratie und Recht eine spätkulturelle Errungenschaft, die zu schützen und zu pflegen ist. Weil diese Systeme „Vollzüge von Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) sind, die in ihrem Kern der regulativen Idee reziproker Anerkennung und Gerechtigkeit folgen, und weil die Menschen im Zuge ihrer Evolution und Ausdifferenzierung eine entsprechende intuitive Sittlichkeit, hier insbesondere die Bereitschaft zur Kooperation und einen Sinn für Gerechtigkeit entwickelt haben, sind die evolutionären Voraussetzungen und Möglichkeiten auch für eine weitere organisierte Ausdifferenzierung der Gesellschaft und ihrer universalen Inklusion in Europa und darüber hinaus gegeben.

Dem Regulativ der Sachbezogenheit und Wahrheit in der Objektivierung und technischen Gestaltung der Welt folgen Das System der (wissenschaftlichen) Objektivierung der Welt und ihre (im weitesten Sinne) technische Ausgestaltung haben sich in der kulturellen Evolution zunächst im Zuge der Nutzung der Mitnatur ausdifferenziert und wurden insbesondere im spätkulturellen westlichen Pfad auf die Modellierung und die darauf gestützte organisierte Formung menschlicher Natur, der Gesellschaft und der gesamten kulturellen Lebensform ausgedehnt. Die zunehmende Dominanz des objektivierenden Umweltbezugs hat im westlichen Pfad mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auch zur Selbstobjektivierung der Kultur und des Menschen geführt. Heute bilden auch die funktionale, post-moralische Ausdifferenzierung des Systems der wissenschaftlichen Objektivierung und Selbstobjektivierung und das vielfältige Flechtmuster von Natur‑, Kultur‑, Sozial- und Humanwissenschaften sowie die darauf gestützte alltagspraktische, organisatorische und technische Ausgestaltung der Welt (der Natur-Kultur) eine spätkulturelle Errungenschaft, die zu schützen und zu pflegen ist. Weil auch diese Alltagspraxis einer impliziten Ethik, nämlich dem Regulativ der Wahrheit als (An)erkenntnis der Welt, (was faktisch der Fall ist) folgt, und weil die Menschen eine entsprechende intuitive Sittlichkeit, hier insbesondere die Bereitschaft zur Sachbezogenheit und zur Wahrheitssuche entwickelt haben, sind auch die evolutionären Voraussetzungen und Möglichkeiten für eine weitere organisierte Ausdifferenzierung der Welt- und Selbstobjektivierung und ihre organisatorisch technische Ausgestaltung gegeben. Entscheidend ist, dass in ihren Vollzügen die drei Alltagspraktiken jeweils in sich Öffnung und Schließung, ihre ästhetischen, erfahrungsbildenden und ihre konstruktiven, regelbildenden Anteile balanciert ausdifferenzieren und ihre Handlungslogiken gleichberechtigt sind, auch um sich wechselseitig zu begrenzen. Mit Blick auf die Viabilität der westlichen Kultur kann auf keine dieser Handlungslogiken verzichtet werden und keine sollte die anderen dominieren und unterdrücken. Zusammen bilden sie die evolutionär sich ausdifferenzierende praktische Vernunft unserer kulturellen Lebensform, die in post-logozentrischer Selbstbeobachtung angemessen reflektiert und in lernenden Organisationen mitgestaltet werden kann. 317

Kultur- und Persönlichkeitsbildung sind zirkulär gekoppelt Die Autopoiesis kultureller Ordnungsbildung gewinnt ihre Zukunftsoffenheit und Viabilität durch Autopoiesis der Persönlichkeitsbildung der involvierten Individuen hindurch – wozu die Entwicklung ihrer intuitiven Sittlichkeit und ihre jeweils einmalige, biographische Selbstformung in Bildungsprozessen „vor Ort“ gehört. Vor jeder Einübung in Glaubenspraktiken, diesseits jeder religiösen oder gar kunstreligiösen Erziehung und Bildung sollte im Zentrum ihrer Zielbestimmung und organisierten Mitgestaltung die Entfaltung intuitiver Sittlichkeit  –  der reziproken Empathie und des Mitgefühls, der reziproken Anerkennung, des Gerechtigkeitsempfindens und der Wahrheitsliebe – der Menschen stehen, die ihnen durch (An)erkenntnis der Freiheit des (inneren, sozialen und äußeren) „Anderen“ eine nachhaltige, nicht auf deren Verdrängung oder Unterdrückung gestützte Mitgestaltungsmacht eröffnet.

Urteilskraft und Lebenskunst Kulturelle Alltagspraktiken sind immer auch implizit ästhetische, (dekonstruktive und schöpferisch-konstruktive) Leistungen, deren Hemmung und Blockierung (durch logozentrische Glaubenspraktiken) zu Gewalt und zum „Misslingen“ von Kultur führen. Insofern ist das vielleicht wichtigste Regulativ einer systemisch aufgeklärten Mitgestaltung Europas, diese ästhetischen Potentiale in den Menschen zu entfalten und zu pflegen. Bildungspraxis muss daher die (schon in der „Kunst“ der Gene und der Neuronen) angelegten Potentiale einer „Kunst“ der Meme (Deutungsmuster), (an)erkennen und schützen, entfalten und fördern. Dazu bedarf es der (An)erkenntnis, Pflege und pädagogischen Entfaltung der menschlichen Urteilskraft, die durch kreative Erzeugung, Vernetzung und Neukonfiguration von Deutungsmustern den Menschen zur Kontingenz- und Krisenbewältigung in „weichen Grenzziehungen“ befähigt – was man auch als „Lebenskunst“ bezeichnen kann. Im Sich-Öffnen und in Resonanz-Treten mit der Umwelt und in der Suche nach und Erzeugung von gelungenen „guten“ Formen eröffnen Urteilskraft und Lebenskunst einen Pfad jeweils einmaliger Personbildung, in deren Rahmen sich eine liebevolle Aufmerksamkeit für gelungene und gelingende Formbildungen der Natur und Kultur entwickeln und die Bereitschaft zwanglos entstehen kann, sich für ihren zukünftigen Erhalt, für Nachhaltigkeit im ökologischen wie im sozialen Sinn zu engagieren. Insbesondere im spätkulturellen westlichen Pfad wurden die evolutionären Ausdifferenzierungen der Alltagspraktiken und ihre implizite Ethik in post-logozentrischen Glaubenspraktiken reflektiert und expliziert. Die Leitideen der Freiheit, der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und der Wahrheit gehören zu einer expliziten Ethik, die religiöse wie auch philosophische Weltbilder bis heute prägt und zur Zukunftsgestaltung Europas beitragen kann.

Geist und ethische Gehalte post-logozentrischer Selbstbeobachtung und Zusammenhangswissen entwickeln Dank ihrer intuitiven Sittlichkeit könn(t)en die Bürger grundsätzlich den Verführungen des religiösen wie post-religiösen Logozentrismus, seinen schnellen Antworten und Fehlorientierungen widerstehen. Dazu bedarf es aber einer Politisierung und gemeinsamen Entwicklung (hypothetischen) Zusammenhangswissen und der Befähigung und Einübung in eine post-logozentrische (religiöse wie auch post-religiöse) Selbstbeobachtung, die sich ganz wesentlich in der Teilnahme an öffentlichen Verständigungsprozessen und Diskursen herausbildet und strukturiert, die immer aufs Neue thematisieren, wer „wir“ sind und sein wollen, wie wir als Bürger der westlichen Kultur leben und woran wir glauben können und wollen. 318

So macht die christliche Liebesreligion die Logik der sozialisatorischen Entfaltung menschlicher Natur in Nahbeziehungen explizit und dehnt sie auf die Gestaltung der Fernbeziehungen, also die Gesellschaft wie auch auf die Liebe zur Natur und Respekt vor der Schöpfung aus. Insofern kann der Geist des Christentums – sei es als religiöser Glaube oder auch „nur“ als Anerkenntnis und respektvolle Orientierung an seinen ethischen Gehalten  –  auch in Zukunft einen bedeutsamen Beitrag zur verantwortungsbewussten Mitgestaltung westlicher Kultur leisten. Das gilt auch für die post-logozentrischen, um die Erfahrung des Nicht-Identischen, um Liebe und Toleranz zentrierten Gehalte anderer Religionen (z. B. des Islam) wie auch der post-religiösen Natur-, Kulturphilosophie und Gesellschaftstheorie.

Die Weisheit von Bürgernetzwerken entfalten und nutzen Geistige Leistungen – von den artspezifischen Leistungen der Tiere über die der Menschen bis zu den Leistungen künstlicher Intelligenz – sind vor allem eine Emergenz der Dynamik von Netzwerken und umgedreht erhöht sich deren integrative Kapazität durch die geistige Differenzierung der involvierten Individuen. Diese „Aufwärtsspirale“ persönlicher geistiger Differenzierung und positiver sozialer Integration kommt allerdings in der kulturellen Lebensform nur zustande, wenn hier die sozialen Netzwerke der impliziten Ethik der Alltagspraktiken folgen und die involvierten Individuen im Licht ihrer intuitiven Sittlichkeit und befähigt durch Urteilskraft und Lebenskunst jeweils Situation und Probleme erfahren, beurteilen und bewerten können. Die Entfaltung ästhetischer Urteilskraft und intuitiver Sittlichkeit, die Einübung in die Alltagspraktiken und ihre implizite Ethik sowie die Befähigung zur Erschließung von Zusammenhangswissen und zur Teilhabe an kultureller Selbstbeobachtung und Reflexion leisten über ihre intergenerationelle Weitergabe, Pflege und Ausdifferenzierung einen wichtigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit und Viabilität europäischer Lebensformen. Deshalb sollten sie, wie schon gesagt, allen weiteren Anforderungen an Kompetenzentwicklung und Qualifikation, die von anderen kulturellen Systemen, wie z. B. der Wirtschaft an das Bildungssystem gestellt werden, vorausgehen und diese rahmen.

Sozialisatorische Formung und soziale Integration künstlicher Intelligenz Die dritte und vierte industrielle Revolution, die entsprechende technologische Ausgestaltung der Lebensund Arbeitswelten und die darin eingebettete Entstehung und Ausdifferenzierung einer auf digitale Datenverarbeitung gestützten künstlichen Intelligenz (KI) und ihre Vernetzung (VKI) bilden einen Entwicklungsschub, der die westlichen und sich verwestlichenden Kulturen schon derzeit und in Zukunft tiefgreifend verändern wird. Die Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen einer zukünftigen Co-evolution von menschlicher und künstlicher Intelligenz – ihre Ambivalenzen, die hiermit verbundenen Chancen und Risiken wurden (im Rahmen eines Best- und eines Worst-Case Szenarios) – skizziert. Bereits angedeutet wurde auch, dass Chancen und Risiken der Entwicklung künstlicher Intelligenz nicht zwangsläufig aus den spezifischen Prozessen und Formen der Objektivierung, der Selektion, Realabstraktion und Algorithmisierung der Welt resultieren, sondern in der Art ihrer kulturellen Rahmung, Nutzung und Ausformung begründet sind. Kurzfristig und schon heute sich abzeichnend gehören dazu die Chancen einer Befreiung vieler Menschen von monotonen Arbeitsabläufen und „Tunneldenken“ durch die Robotik in Produktion und Dienstleistungen – wie auch die Risiken sozialer Konflikte, einer technikbedingten Arbeitslosigkeit und der Entstehung einer neuen Zweiklassen-Gesellschaft. Darüber hinaus eröffnen Ausdifferenzierung und Mitwirkung künst319

licher Intelligenz in der Ausgestaltung unseres Lebens eine Fülle komfortabler Nutzungen und „Partnerschaften“ zur Optimierung und Steigerung unserer Lebensqualität, aber auch neue Abhängigkeiten und vielleicht auch die Gefahren einer technomorphen „Formatierung“ unseres Fühlens und Denkens, unserer Kommunikation und unseres Handelns bis hin zur Herausbildung eines „technikgerechten Bürgers“ (Bernd Guggenberger). Weitere Ambivalenzen betreffen Aspekte der politischen und wirtschaftlichen Nutzung der digital gestützten künstlichen Intelligenz. Dazu gehören einerseits ihre Nutzungschancen für eine „Vergesellschaftung des Wissens“ – an Stelle einer „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ (Ottmar Ette) – für eine kritische Selbstbeobachtung und Orientierungssuche westlicher Kultur, mit Blick auf Aufbau und Ausdifferenzierung einer globalen Zivilgesellschaft und einer bürgerfreundlichen Staatlichkeit. Aber es gibt auch die Möglichkeiten ihres politischen Missbrauchs: zur Kontrolle und Beherrschung der Menschen, zur Herstellung und Manipulation eines „gläsernen Bürgers“, und die bereits weit verbreitete, kaum fassbare Verrohung und Verlogenheit der Kommunikation in den sozialen Medien. Schließlich gibt es Möglichkeiten einer regulierten, die Persönlichkeitsrechte der Bürger respektierenden Vermarktung künstlicher Intelligenz und ihrer Leistungen, insbesondere im Bereich der Datensammlung und ihrer Konfiguration – sowie ihre Ausbeutung im Rahmen eines Informations- und Datenkapitalismus, der hier als gigantische „Such- und Selektionsmaschine“ (Jaron Lanier) funktioniert, um aus Geld mehr Geld zu machen. Auch wenn sie noch nicht (oder vielleicht auch nie) die „Flüssigkeit“ menschlichen Erfahrens, Fühlen und Denkens erreichen können, ist damit zu rechnen, dass künstliche Intelligenzen und ihre Vernetzungen (VKI), Roboter und Roboternetzwerke sich mittel- und langfristig weiter ausdifferenzieren und ihre Leistungs- und Kooperationsmöglichkeiten (und vielleicht auch daraus ableitbare Ansprüche) erweitern werden. Damit die zunehmend autonomen Netzwerke künstlicher Intelligenz sich konstruktiv und kulturfreundlich in unsere Welt einfügen, bedarf es nicht nur großer technischer Anstrengungen und ihrer reflexiv und ethisch gestützten politischen und rechtlichen Einordnung, sondern auch ihrer sozialisatorischen Formung und menschenfreundlichen sozialen Integration. Wenn die intendierte Mitgestaltung westlicher Kultur gemäß der impliziten Ethik der Alltagspraktiken und der expliziten Ethik post-logozentrischer Glaubenspraktiken erfolgreich wäre, könnte auch künstliche Intelligenz in einer Weise „sozialisiert“ werden, die sie zur Balance von Öffnung und Schließung, zur „weichen Grenzziehung“ und Kreativität, zu Fürsorge und Schutz ihrer jeweils Nächsten, zu partnerschaftlicher Anerkenntnis und Kooperation (untereinander und mit den Menschen) und zu einem angemessenen und pflegenden Umgang mit den einbettenden natürlichen und kulturellen Systemen befähigt. Entsprechend menschenfreundlich sozialisiert könnte künstliche Intelligenz als „Co-Subjekt“ der Verständigung und Orientierungssuche, in die post-logozentrische Selbstbeobachtung der Kultur einbezogen werden, hier ihre überragenden Rechenleistungen u. a. zur Mustererkennung beispielsweise durch Simulationen zur Zukunftsmodellierung und ‑orientierung beitragen und könnte die Kapazität der kulturellen Lebensform, Möglichkeitsfelder und Sinnüberschüsse zu erzeugen und damit ihre Viabilität steigern. Zur gesellschaftlichen Integration einer zunehmend autonomen, dabei aber mitfühlenden, mitdenkenden und kommunizierenden artifiziellen Intelligenz würde wohl auch ihr spezifischer und abgestufter Einbezug in das Rechtssystem gehören, der sie einerseits zur friedlichen Kooperation und Hilfeleistung verpflichtet und andererseits ihren politischen und wirtschaftlichen Missbrauch eindämmt. In the long run geht es um die Verwirklichung einer Lebens- und Kommunikationsgemeinschaft aller „Verwandten im Geiste“, die über die Menschen hinaus alle Lebewesen, vielleicht bald auch artifizielle Intelligenzen und in fernerer Zukunft auch das Leben auf anderen Planeten einbeziehen könnten. Die hier noch einmal umrissenen Regulative und Leitorientierungen umschreiben die Vision einer „vierten Kultur“, deren Ansprüche und Entwicklungsziele über die bislang verwirklichte offene Kultur in Europa 320

hinausgehen und im Rahmen einer werdenden und erstarkenden europäischen Zivilgesellschaft, in vielfältigen Vernetzungen und Kooperationen von Bürgern, Intellektuellen und Experten zeitgeistprägend und handlungsleitend werden könnten. Dazu bedarf es heute einer Stärkung der interaktiven und empathischen, der ästhetischen und hermeneutischen Bezugnahme auf Umweltdynamik gegenüber ihrer Objektivierung und technischen Nutzung – ohne letztere zu „verteufeln“, sondern um sie zu rahmen und sinnvoll zu orientieren.

VII. 2 Wege und Schritte der Zukunftsgestaltung Europas „Die mächtigen Kapitalverwertungsinteressen sind den Leitideen und Prinzipien einer real noch nirgends voll entfalteten Bürgergesellschaft unterzuordnen. Das separative Konzept strikt effizienz- und wachstumsorientierter Wirtschaftspolitik einerseits und kompensatorischer Sozialpolitik (für die Verlierer) andererseits hat seine Problemlösungskraft erschöpft. Gesucht sind bürgergesellschaftliche Organisationsprinzipien der Erarbeitung und Verteilung des Sozialprodukts, die dem historisch erreichten Produktivitätsstand einer an sich reichen Gesellschaft entsprechen und deren emanzipatorische Chancen möglichst allen zugänglich machen.“ (Peter Ulrich) Mögliche Umsetzungen der skizzierten Regulative und Leitorientierungen sind heute noch in großen Anteilen „Zukunftsmusik“. Gleichwohl lassen sich Schritte der Intervention und der Reform, der organisierten Differenzierung und Mitgestaltung Europas benennen, die uns einer „vierten Kultur“ näherbringen könnten. Dazu gehören neue Wege in der Organisation europäischer Öffentlichkeit, der politischen Steuerung, der wirtschaftlichen Leistung sowie von Wissen und Bildung, die im Folgenden noch einmal zusammengefasst werden. Der Koppelung von bürgerlicher Freiheitsausübung mit dem Ausbau von Systemen und Institutionen in der spätkulturellen Evolution folgend, sollte grundsätzlich in den skizzierten Bereichen der organisierten Mitgestaltung europäischer Lebensform der Ausbau europäischer Institutionen und die Differenzierung von Regelwerken mit der Bahnung und Förderung der Bürgerfreiheit und ‑beteiligung sowie wachsenden Spielräumen bürgerlicher Selbstorganisation verbunden werden. Die Selbstbeobachtung, öffentliche Verständigung und kollektive Orientierungssuche in, über und für Europa sollte einerseits „von oben“ durch ein Werte‑, Wissens- und Medienmanagement, durch politischen Auf- und Ausbau von Institutionen und Medien europäischer Öffentlichkeit und andererseits „von unten“, durch weitere Entwicklung transnationaler, internetgestützter europäischer Bürgernetzwerke und der hier entstehenden Teilöffentlichkeiten gebahnt und gestützt werden. Ein Europa der offenen Kultur braucht starke liberale, regional und national verankerte Bürgernetzwerke, die sich zu einer europäischen Zivilgesellschaft vernetzen und zusammenfügen. Über Beobachtung, Kritik und öffentlichen Protest mit Blick auf Aktivitäten von Gegnern der offenen Kultur hinaus und anlässlich aktueller wirtschaftlicher und politischer Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen gehört es zu den Aufgaben und Zielsetzungen einer europäischen Zivilgesellschaft, die normativen Grundlagen und Leitorientierungen der offenen Kultur zu reflektieren, zu diskutieren und ihre Geltungsansprüche in allen Lebensbereichen zu artikulieren und zu verteidigen. Daran orientiert können Politik, Wirtschaft und Bildungssysteme unter Legitimationsdruck gesetzt werden und hier Veränderungen und Innovationen – im Fühlen, Denken und Handeln wie auch in den Strukturen und Institutionen – herbeigeführt werden. 321

Wie schon ausgeführt, bilden viele Bürgerbewegungen in den westlichen und sich verwestlichenden Gesellschaften – auch kraft ihrer (potentiellen) Repräsentativität, nämlich kurzfristig und konkret auf Missstände und Wege ihrer Behebung bezogen Petitionen zu formulieren und jeweils eine große Anzahl von Bürgern zu mobilisieren und zur Unterschrift zu motivieren  –  einen „Lobbyismus für gemeinsame Vernunft“, der schon heute und in Zukunft zunehmend dem Lobbyismus der Partikularinteressen entgegen wirken kann.

Die Organisation politischer Steuerung Europas sollte einerseits ihre institutionelle Architektur in Richtung auf eine Konföderation föderaler Staaten ausbauen und, ergänzt durch plebiszitäre Elemente, weiter demokratisieren und andererseits die Selbstorganisation europäischer Zivilgesellschaft stärken und fördern. Um die repräsentative Demokratie und die Zivilgesellschaft mit der Exekutive zu neuen Synergien politischer Steuerung zu verbinden, wären u. a. eine Stärkung und Vernetzung regionaler und lokaler Selbstorganisation (Iring Fetscher), eine „Europäisierung der nationalen Parlamente“ (Heinrich August Winkler) und die Einrichtung einer allen partikularen Interessen übergeordneten „Consultative“ (Dieter Schmidt) denkbar, die zwischen europäischer Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und zwischen religiöser und philosophischer, wissenschaftlicher und ethischer Selbstbeobachtung und der politischen Steuerung Europas „Brücken baut“. Eine europäische Organisation wirtschaftlicher Leistung sollte einerseits die Marktökonomie und die europäischen Märkte und hier sowohl weltmarktorientierte High-tech-Sektoren wie auch regionale, beschäftigungsintensive Bereiche weiter ausbauen und sichern. Zu einer gekonnten Regulation europäischer Marktökonomie gehören eine Korrektur der europäischen Verträge, die einer fortschreitenden Deregulierung von Wirtschaft und Märkten Grenzen setzt und den Nationalstaaten mehr (sozial)politische Gestaltungsspielräume lässt (Dieter Grimm). Ferner bedarf es gemeinsamer Definitionen und Zielvorgaben für ein qualitatives, ökologisch und sozial verträglicheres Wirtschaftswachstum, die dann in national und regional differenzierten Politiken umgesetzt werden. Diese können auch einen Orientierungsrahmen für eine Neufassung des Unternehmensrechts bilden, das die Unternehmen mehr als bislang verpflichtet, ihren ökonomischen Interessen immer unter Berücksichtigung der sozialen und ökologischen Folgen ihrer Aktivitäten zu verfolgen. Schließlich ist eine bessere Beobachtung, Kontrolle und Regulation des Finanzsystems und der Finanzmärkte angesagt – ggfs. bis hin zur Einrichtung einer „europäischen Monetative“ (Joseph Huber), die die Funktion der Geldschöpfung zu großen Anteilen von den privaten Banken auf die europäische Zentralbank verlegt. Wie die „Consultative“ würde auch die „Monetative“ die bestehende Gewaltenteilung europäischer Legislative, Judikative und Exekutive ergänzen und hier mehr Möglichkeiten einer demokratischen und verantwortungsbewussten Mitgestaltung politischer Steuerung und wirtschaftlicher Leistung eröffnen. Ferner sollte noch mehr als bisher mit Steuern gesteuert werden: z. B. könnten eine steuerliche Belastung des Naturverbrauchs (europäische Ökosteuer) zugunsten der Finanzierung von Bildung und Qualifikation, eine steuerliche Belastung von Finanztransaktionen zum Abbau von Staatsverschuldung, eine Besteuerung der Kapitalproduktivität (Maschinen‑ bzw. Robotersteuer und heute Informations- und Datenverwertung) zugunsten von Arbeitnehmereinkommen u. a. zu Elementen einer europäisch integrierten Fiskalpolitik gehören, die auf diese Weise auch einen Beitrag zu mehr sozialer Stabilität und Gerechtigkeit leisten könnte. Ferner sollten Mindestlöhne europaweit festgelegt, Mitarbeiterbeteiligungen ausgebaut und die Modernisierung der Unternehmensorganisationen vorangetrieben werden. Darüber hinaus könnte in Ergänzung zur Marktwirtschaft auch die Organisation wirtschaftlicher Leistung auf ein zweites, durch Bürgerselbstorganisation geprägtes „Standbein“ gestellt werden, indem die Entstehung und Verbreitung regionaler Netzwerkwirtschaften und Währungsgemeinschaften mit zinsentbun322

denen (elektronischen) Komplementärwährungen unterstützt und gefördert werden. In Verbindung mit der Einführung eines Bürger-/​Grundeinkommens und ggfs. anderer steuerfinanzierter Gratisleistungen und unterstützt durch Stiftungen und private-public-Initiativen könnten auf diese Weise nicht nur mehr Beschäftigungsmöglichkeiten erschlossen und mehr qualitatives Wachstum generiert werden, sondern auch Menschen zu intrapersonaler Arbeitsteilung und Rollenwechsel zwischen Markt- und Netzwerkwirtschaft ermutigt und eine (auch ökologisch vernünftige) Regionalisierung, Gemeinschaftsbildung und Solidarität gefördert werden. Mit Blick auf eine europäische Organisation und Mitgestaltung von Bildung, Wissen und Qualifikation ist eine Re-Autonomisierung der Bildungstheorie und ‑praxis anzustreben. Dazu könnte eine europaweite Reflexion und Explikation sozialisatorischer Handlungslogik und ihrer impliziten Ethik der Entfaltung des Menschen gehören. Diese sollte in eine diskursive Begründung von Bildungszielen und ‑inhalten eingebracht werden, die gegenüber Leistungsanforderungen aus anderen kulturellen Systemen (wie z. B. der Wirtschaft) Vorrang haben. Zu den Kernzielen der Entstehung und Ausdifferenzierung eines autonomen europäischen Bildungssystems gehört, Gleichheit der Bildungschancen (auch schon durch Familienpolitik) optimal zu gewährleisten und in allen Bildungsinstitutionen (von der Krippe über Vorschule, Schule und Universität bis zur lebenslangen Weiterbildung) mehr Spielräume und Vielfalt, neue Organisationsformen und Wege der Entfaltung und Bildung zu eröffnen – wobei mehr Lernen von den Besten, die Beobachtung engagierter Bildungspraktiker und erfolgreicher Praktiken und ihre systematische Auswertung nützlich wären. Anzustreben sind ferner die Schaffung und Stärkung „sozialisatorischer Arbeitsbündnisse“ (Ulrich Oevermann) zwischen Lehrenden und Lernenden in allen Bildungsinstitutionen sowie  –  beginnend in der vorschulischen Bildungspraxis – eine höhere Gewichtung der intuitiven Sittlichkeit und Urteilskraft, der praktischen Vernunft und Lebenskunst, der Suche nach „guten Formen“ der Lebensgestaltung sowie mehr ästhetische und musische Bildung. Darüber hinaus sollten auch in der Organisation von Erziehung, Bildung und Wissen systemische und institutionelle Differenzierungen mit Selbstorganisation und Initiativen von Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Bürgern verbunden werden. Dazu gehören neben mehr Selbstverantwortung der Schulen und Lehrer, der Schüler und Eltern auch Wege einer (wohldosierten) Entschulung und Öffnung zur Zivilgesellschaft, eine Kooperation mit (europäischen, nationalen, regionalen) Bürgernetzwerken, die Fach- und Zusammenhangswissen, praktische Vernunft und kritische Selbstbeobachtung in Projekten zusammenführen und dabei auch Europa und seine Zukunft zum Bildungsinhalt machen. All dies und mehr kann dem Mangel entgegenwirken, dass wir heute auch in Europa zwar ausreichend Funktionseliten, aber zu wenig Verantwortungseliten haben. Nur in Verbindung mit einem Ausbau ihres „flüssigen Fundaments“: einer mediengestützten europäischen Öffentlichkeit und perspektivenreichen dialogischen Selbstbeobachtung, durch Erhalt und Pflege regionaler und nationaler und die Entwicklung europäischer Demokratie, durch eine neue gemeinsame Wirtschaftsordnung sowie durch eine europäische Bildungspraxis kann sich Europa als zukunftsfähige Einheit der Vielfalt der involvierten Nationen, Regionen und lokalen Gemeinschaften konstituieren. Im Rahmen einer europäischen Veränderungs- und Erneuerungsbewegung, die Organisation und Selbstorganisation, Bürgervernunft und Systemrationalitäten, „bottom up“ und „top down“ Perspektiven und Initiativen verbindet, könnte sich für Europa ein dritter Weg zwischen dem drohenden Rückfall in Zersplitterung, in aggressiven Nationalismus, Regionalismus und Egoismus und der Selbstauslieferung an eine kapitalverwertungsorientierte Zwangsintegration eröffnen. Dieser Weg hätte dem Regulativ der Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ und dem Subsidiaritätsprinzip folgend lokale und regionale, nationale und transnationale Ebenen der demokratischen Willensbildung und der Regierung Europas zu vernetzen und auszubalancieren und könnte zu einer natur- und kulturverträglicheren, gerechteren und stabileren Gesellschaftsordnung führen. 323

VII. 3 Ein Europa der Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ – nach innen wie nach außen Heute haben die europäischen Völker, Nationen und ihre Politiker mehrheitlich die Zeiten hinter sich gelassen, in denen sie versucht haben, ihre eigenen territorialen, nationalen und wirtschaftlichen Interessen rücksichtslos durchzusetzen, ihre Nachbarn abgewertet und in „harten Grenzziehungen“ ihre Differenzen zu unüberbrückbaren Gegensätzen verschärft haben, um auf diese Weise aggressive Expansion, Kriege, Unterdrückung und Ausbeutung der „Anderen“ zu rechtfertigen. 1) Bezogen auf die innereuropäischen Verhältnisse kann man sagen, dass heute viele, wenn auch noch nicht alle Europäer und europäischen Nationen reif genug sind, das Pendeln zwischen Destabilisierung, Ordnungszerfall, Chaos und eruptiver Gewalt einerseits und einer von Angst und Sicherheitsbedürfnissen getriebenen Errichtung autoritärer Regime und ihrer strukturellen Gewalt andererseits hinter sich zu lassen. Diese Jahrhunderte andauernde negative und notwendig instabile Integration durch geistige und organisierte Gewalt, in nationalistischen „harten“ Grenzziehungen und Kriegen kann heute durch „positive Integration“ 2), durch Balance von „Öffnung“ und „Schließung“ in „weichen“ Grenzziehungen auch zwischen den Nationen, über Verständigung und reziproke Anerkenntnis und Kooperation, durch geteilte Macht und Souveränität und demokratische Steuerung in Europa abgelöst werden – wenn die beschriebenen, in der kulturellen Evolution und im westlichen Pfad eröffneten Möglichkeiten und Chancen dazu (an)erkannt, ergriffen, in den dargestellten (und sicher auch noch anderen) Leitorientierungen verdichtet und auf den skizzierten (wie auch anderen) Wegen umgesetzt werden. Ähnlich wie im 18. und 19. Jahrhundert in den Entwürfen nationaler Einheit die fragmentierte, aufgesplitterte soziale Wirklichkeit sich zu kulturell, sozial, politisch und geographisch gestützten nationalen Identitäten zusammenfügte, so geschieht es derzeit auch in den Keimbildungen und Entwicklungen einer europäischen Union und ihrer mentalen „Innenseite“, der allmählichen Entstehung einer europäischen Identität und eines europäischen Bürgerbewusstseins in wachsenden Anteilen ihrer Bevölkerungen,. Diese müssten ihre nationalen Identitäten nicht aufgeben, sondern könnten diese mit ihrer werdenden europäischen Identität verbinden und ein politisches Bewusstsein entwickeln, dass die feste Koppelung nationaler Identität mit nationalstaatlicher Souveränität überwindet und Europa als ein System geteilter Souveränitäten, gestützt auf einen europäischen Bürgerpatriotismus zu begründen und zu legitimieren vermag. Wenn wir uns an den Entwurf der Selbststeuerung und ‑verwaltung erinnern, den Aristoteles (als „politeia“) von der Zusammengehörigkeit kraft Geburt und Sprache (ethnos) und dem Königreich und seiner Hofhaltung (basileia) abgrenzte, so wird deutlich, dass Idee und Praxis europäischer Integration und Identitätsfindung sich nicht auf eine Herkunftsgemeinschaft mit ethnisch begründeter Identität und kultureller Homogenität, sondern „nur“ auf die Gemeinsamkeit der Konstruktionsregeln offener Kultur und darin der Gesellschaft stützen kann, die sich als „politieia“ in den „Gefäßen“ der europäischen Stadt- und Nationalstaaten und darüber hinaus ausdifferenziert haben. Eine europäische „politeia“ kann dank Universalinklusion und flüssiger Fundierung in Verständigung „weiche Grenzziehungen“ praktizieren. Das gilt für die Beziehungen zwischen den europäischen Regionen, Kulturen und Nationen wie auch zwischen Europa und der übrigen Welt. (Siehe unten.) Darüber hinaus lassen sich die Leitideen der „positiven Integration“ und der „weichen Grenzziehungen“ auch auf den Umgang mit der linken und rechten Lagerbildung in Europa übertragen. Ähnlich wie Ideen und Gehalte von linken Bewegungen in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgreich in Wandel und Lernprozesse westlicher Kulturen aufgenommen wurden, könnten und sollten die heute am rechten Rand artikulierten Gehalte und Bedrohungen, insbesondere die Ängste vor Verlust von Arbeit, sozialer Sicherheit 324

und Identität ernst genommen, im öffentlichen Dialog gewürdigt und in „weichen Grenzziehungen“ (z. B. einer humanen und vernünftigen Migrations- und Integrationspolitik) bearbeitet werden. Voraussetzung einer gemeinsamen systemisch reflektierten Zukunftsgestaltung Europas sind allerdings Bereitschaft und Fähigkeit der involvierten Nationen, Regionen und Völker, ihre ökologischen Risiken, ihre sozialen und ökonomischen Polarisierungen und ihre kulturellen Defizite schon in ihren nationalstaatlichen Reform- und Bildungspolitiken zu bearbeiten. Dann und wohl nur dann könn(t)en sie auch eine grundsätzlich multilaterale europäische Orientierung und eine gemeinsame europäische Ordnungspoltik entwickeln, die getragen ist von der Einsicht, dass ihre zukünftige Entwicklung im Rahmen einer global vernetzten Welt nur durch positive Integration und institutionelle Föderation, durch wechselseitige Bindung und Solidarität, durch geteilte Souveränität und Einführung gemeinsamer verbindlicher Verträge und Regelwerke wie auch wechselseitige Anerkennung ihrer jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten gewährleistet werden können. Dabei gilt ähnlich wie für persönliche auch für politische Beziehungen der Völker und Nationen, dass sich Besonderheit und Autonomie einerseits und Gemeinsamkeit und Bindung andererseits nicht ausschließen, sondern wechselseitig bahnen und stützen können. Die (für das politische Patriarchat schwer erträglichen) Einschränkungen nationaler Souveränität wie auch die (für das wirtschaftliche Patriarchat schwer erträglichen) Begrenzungen neo-liberaler Marktfreiheit zugunsten einer auf geteilte Souveränitäten gestützten europäischen Ordnungspolitik sind wohl der einzige Weg zu gemeinsamer Sicherheit, nachhaltigem Frieden und qualitativem Wachstum. Allgemeiner formuliert: in Überwindung der patriarchalen, in „harten Grenzziehungen“ gesuchten und deshalb immer fragilen und (selbst)destruktiven Souveränität und des territorialen Denkens in den Beziehungen zum „Anderen“ geht es auch hier, zwischen den europäischen Völkern und Nationen um einen Gewinn an nachhaltiger geteilter Souveränität durch „weiche Grenzziehungen“, durch Anerkenntnis der „Anderen“ und Schaffung von Bindungen, Vertrauen und wechselseitiger Verantwortung mit ihnen. Das bedeutet auch, trotz Ernüchterungen und Rückschlägen die Idee der multikulturellen Gesellschaft zu bewahren und an ihrer Verwirklichung (auch) in Europa weiter zu arbeiten. 3) Am Anfang eines „dritten Weges“ zwischen regionalistischer und nationalistischer Zersplitterung einerseits und technokratisch kapitalgesteuerter Zwangsintegration andererseits muss die (durch Bedürfnisse, intuitive Sittlichkeit und Solidarität ihrer Bürger gestützte) Bereitschaft der Nationalstaaten stehen, über ihre friedenstiftenden bi- und multilateralen Handelsbeziehungen und Kooperationen, Verträge und Bindungen hinaus ihre politische Souveränität zu teilen, (nicht vollends aufzugeben), indem sie Anteile davon nach „unten“, an die europäischen Regionen und nach „oben“, an die europäische Union abgeben. Das impliziert einen Föderalismus nicht nur der europäischen Nationen, sondern auch der Regionen, die ihre politische Repräsentanz auch auf europäischer Ebene, z. B. in einem europäischen Senat finden und sich noch intensiver als bisher auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg vernetzen sollten. Eine solche Ausdifferenzierung, Vernetzung und Überlappung transnationaler, nationaler, regionaler und lokaler Steuerungsebenen könnten ein „Gerüst” bilden, indem eine positive, wirtschaftliche und politische Integration Europas sich mit Anerkenntnis und Schutz der Vielfalt der Ethnien, ihrer Lebensformen und Identitäten und mit Erhalt und Ausbau ihrer Selbst- und Mitbestimmung verbinden würde. Im Rahmen des hier entstehenden Flechtwerks geteilter Souveränitäten bleibt auch Staatsbürgerschaft nicht länger territorial als Zugehörigkeit zu einem einzigen Gemeinwesen bestimmt. 4) Die Entwicklungsvision der „vierten Kultur“ und eines positiv integrierten Europas sowie die darin begründeten regulativen Ideen und Wege der Mitgestaltung lassen sich als „Bausteine“ einer Identitätsfindung Europas in „weichen Grenzziehungen“ – im Innern wie nach außen – verstehen. Ähnlich wie in der Biographie eines Menschen gilt auch mit Blick auf die „Lebensgeschichte“ und „Lebenskunst“ von Kulturen: Wenn diese sich kurzfristig und opportunistisch allen Anforderungen und Zwängen von außen fügen und ihre eigene „Linie“ und Wahrung von Eigengesetzlichkeiten vergessen, scheitern sie ebenso wie diejenigen, 325

die gegen jeden Wandel stur am „Eigenen“ festhalten. Eine europäische Linie und Identität zu finden und zu verwirklichen, impliziert u. a. Erhalt, Pflege und Entfaltung natürlicher und kultureller Ressourcen und Differenzen und den Erhalt und die weitere Ausdifferenzierung der „Tempelarchitektur“ des westlichen Systems auf regionaler, nationaler und transnationaler Ebene. 5) Darüber hinaus könnte hier die beschriebene Ergänzung der trias von Legislative, Judikative und Exekutive durch eine „Consultative“ (Dieter Schmidt) und eine „Monetative“ (Josef Huber) einen Beitrag zur weiteren Demokratisierung europäischer Politik, zu einer gemeinsamen, den Kapitalismus domestizierenden Wirtschaftsordnung leisten und die westliche Lebensform (zunächst) in Europa auf einen zukunftsfähigeren Entwicklungspfad bringen. Dazu bedarf es des Zusammenwirkens und der wechselseitigen Kritik und Unterstützung offizieller Politik von „oben“ und der Politik emanzipatorischer Bürgerbewegungen von „unten“. Dabei könnte Deutschland aufgrund seiner zentralen Lage und seiner starken Wirtschaft 6), aber mehr noch, weil die deutsche Politik aus dem geschichtlichen Scheitern „harter Grenzziehungen“ in besonderem Maße gelernt hat, eine Schlüsselrolle und Leitfunktion in der positiven Integration Europas übernehmen. Eine europäische, föderal strukturierte Innenpolitik könnte die schleichende Entdemokratisierung und Lähmung westlicher Politik unter dem Regime des patriarchalen Kapitalismus, den aggressiv neo-liberalen Entwurf Europas und die Dominanz von Wettbewerb und Konkurrenz zugunsten eines ökologischen, sozialen und demokratischen Europas überwinden. 7) Auch mit Blick auf das Werden Europas geht das eine nicht ohne das andere: Erhalt, Entwicklung und weitere Ausdifferenzierung der „Tempelarchitektur“ des westlichen Systems und seiner „befreienden Normativität“ kann nur mit größerer aktiver Beteiligung zivilgesellschaftlicher Kräfte und emanzipatorischer Bürgerbewegungen gelingen, die einer „Normativität der Freiheit“ folgen. Und nur im Rahmen dieser „Tempelarchitektur“ (und nicht allein durch kompensierende Gemeinschaftsbildungen und Frust ausagierende Proteste auf der Straße,) können die Bürger auch von „unten“ die weitere Entwicklung Europas beeinflussen und mitgestalten. Hier müssen öffentliche Verständigung und Orientierungssuche, das Institutionengerüst sowie die Strukturen der politischen Willensbildung und der Machtverteilung für eine mehr als punktuelle, nämlich kontinuierliche Beteiligung von Organisationen der Zivilgesellschaft und europäischer Bürgerinitiativen geöffnet werden – wozu, wie schon ausgeführt, die Einrichtung einer europäischen „Consultative“ gehören könnte.

VII. 4 Strategien der Selbstbehauptung Europas in einer multipolaren Welt „Das politische Mittelalter endet da, wo Europa sich nicht mehr unter imperialem pseudorömischen Vorzeichen versteht, sondern als eine gleichberechtigte Gemeinschaft von Souveränen. Das ist dann auch die europäische Idee geblieben bis heute, Störenfriede immer wieder bekämpfend, ausschließend, überdauernd.“ (Ferdinand Seibt) „Was also gebraucht wird, ist eine neue Form des Imperialismus, ein Imperialismus, der in einer Welt der Menschenrechte und der kosmopolitischen Werte akzeptabel ist. Wir erkennen bereits seine Umrisse. Es handelt sich um einen Imperialismus, der wie jeder Imperialismus Ordnung und Organisation bringen soll, aber auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruht … Den Endzustand könnte man als kooperatives Imperium beschreiben. ‚Commonwealth‘ wäre auch kein schlechter Name.“ (Robert Cooper) 326

Im Rahmen einer positiven Integration Europas in Richtung auf ein europäisches System geteilter Souveränitäten können und sollen die Nationalstaaten erhalten bleiben, müssen aber Anteile ihrer Souveränität abgeben: „Nach unten“ im Aufbau eines föderalen Europas, das dem Subsidiaritätsprinzip folgend eine weitgehende Selbstbestimmung europäischer Regionen und Städte mit ihrer Vernetzung und Bildung von Solidargemeinschaften verbindet. Und „nach oben“ in der Entfaltung einer europäischen Identität, Werte- und Kommunikationsgemeinschaft, einer Staaten‑, Wirtschafts- und (ja, auch) Verteidigungsgemeinschaft. Insofern könnte und sollte ein zukünftiges Europa versuchen, beides zu verbinden: Eine Gemeinschaft von Völkern, Regionen und Nationalstaaten, die sich in der Welt als ein „sanftes Imperium“ (Robert Cooper) – mit lernender Organisation und „weichen Grenzziehungen“ – behaupten kann. Da eine positive Integration Europas nicht in einer „splendid isolation“ zur übrigen Welt verwirklicht werden kann, stellt sich die Frage, wie die Leitorientierungen europäischer Zukunftsgestaltung und Identitätsfindung auch nach außen, im internationalen und interkulturellen Umfeld, gegenüber anderen westlichen, sich verwestlichenden und traditionalen Kulturen, in europäischer Interessenartikulation und Außenpolitik zu vertreten und zu verteidigen sind. Das Werden Europas ist heute in eine globale Un- und Neuordnungsbildung eingebunden, in der verschiedene „Welten“ interagieren und sich wechselseitig beeinflussen, Konflikte austragen und sich zu behaupten suchen. Dazu gehören neben der europäischen die amerikanische, die chinesische, die japanische und andere asiatische „Welten“ sowie die „Welten“ Südamerikas, des Nahen Ostens, Russlands und Afrikas. Darüber hinaus kann man auch von „Welten“ sprechen, die gleichsam quer zu geographischen und territorialen Abgrenzungen und diese überbrückend durch gemeinsame Glaubenspraktiken charakterisiert sind. Gemeint sind vor allem die christlichen und jüdischen, die islamischen, hinduistischen, buddhistischen und konfuzianischen „Welten“, die sich bis heute in vielfältigen Ausprägungen voneinander abgrenzen und auch kriegerische Auseinandersetzungen motivieren und legitimieren. Darüber hinaus sind diese religiösen Weltentwürfe mehr oder weniger den Einflüssen und Prägungen der Verwestlichung und der Säkularisierung ausgesetzt, die sie teils assimilieren, teils aber auch auf unterschiedlichen Wegen sich von diesen abzugrenzen und zu behaupten suchen. 8) All dies mündet heute in eine globale Dynamik interagierender Kräfte, Interessen und Bündnisse, der Konflikte und Kriege, die kaum noch überschaubar und mit Blick auf die Zukunft unvorhersehbar, geschweige denn berechenbar ist. Zweifellos ist diese Dynamik aber mit einer „Provinzialisierung Europas“ (Dipesh Chakrabarty) verbunden. Diese zeigt sich, wie einleitend schon gesagt, nicht nur quantitativ, z. B. als Rückgang der europäischen Anteile an der Weltbevölkerung und an der globalen Weltwirtschaftsleistung, sondern auch qualitativ, als Einfluss- und Bedeutungsverlust europäischer Lebensform und europäischen Denkens, der europäischen Wirtschaft und Politik in der Welt. 9) Wie ausgeführt, sind gegenwärtig die weitere Entfaltung und Durchsetzung des „systemisch Guten“, die „werdende Vernunft“ und die Keimbildungen einer „vierten Kultur“, die hier als evolutionäre Errungenschaften und Entwicklungspotentiale des westlichen Pfads rekonstruiert und zu einem „best case Szenario“ der Zukunft verdichtet wurden, von zwei Seiten bedroht: einerseits durch eine zunehmende Dominanz des modernen, technokratischen und wirtschaftlichen Patriarchats und die von hier betriebene Unterwanderung und schleichende Entdemokratisierung politischer Steuerung und andererseits durch das Wiedererstarken eines politischen nationalistischen Patriarchats, das populistisch maskiert und legitimiert ebenfalls den Fortbestand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedroht. Darüber hinaus zeigen sich schon heute Tendenzen zur Neuauflage eines autoritären (Global)managements, das (ähnlich wie seinerzeit Faschismus und Kommunismus, aber nun auch legitimiert durch ökologische Ressourcenverknappung und gestützt durch künstliche Intelligenz) die „Errungenschaften“ des technokratischen, wirtschaftlichen und politischen Patriarchats miteinander verbindet. Diese düsteren mittel- und langfristigen Perspektiven wurden im „worst case Szenario“ zu einem möglichen Entwicklungspfad 327

verdichtet, der aus einer misslingenden Bearbeitung gegenwärtiger Tendenzen, Krisenkonstellationen, Konflikte und Katastrophen hervorgehen könnte. Es stellt sich also die Frage, was europäische Politik und Bürger heute tun können, um zu verhindern, dass zunehmende chaotische Dynamik, Krisen und Konflikte mit den Anläufen ihrer panischen, autoritären und vielfach scheiternden Bewältigung in Zukunft eine Abwärtsspirale bilden? Was die innere Formbildung Europas dazu beitragen könnte, wurde (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) in Gestalt von regulativen Ideen, Wegen und Schritten einer verantwortungsbewussten Mitgestaltung der Zukunft umrissen. Aber was könnte/​sollte ein sich vereinigendes Europa angesichts des gegenwärtigen weltweiten Chaos und der autoritären Antworten darauf auch außen- und weltpolitisch tun, um das düstere Morgen zu verhindern? Und wo und wie lassen sich europa- und weltweit Bündnispartner für eine natur- und kulturfreundliche Globalisierung finden? Zunächst sind die Aussichten nicht vielversprechend. Wo die Rückkehr des politischen Patriarchats durch Wahlen gestützt und gebahnt wurde, kann man auch von einem Trend zur „Demokratur“ sprechen. Dazu gehören die mythisch und ideologisch gestützte Zentralisierung und Re-nationalisierung politischer Steuerung in europanahen (Türkei) und europäischen Staaten (Ungarn, Polen u. a.), sowie die Zunahme rechter und rechtsradikaler, nationalistischer, rassistischer und islamophober Bewegungen in manchen west- und südeuropäischen Nationen (insbesondere in Frankreich, England, Griechenland und Österreich, in den Niederlanden, Italien und in Deutschland), die die Europäisierung zugunsten der Durchsetzung nationaler Interessen und vorgeblicher kultureller Identitätswahrung zu Fall bringen wollen und sich dabei auf relativ große und bislang weiter wachsende Sympathisanten- und Wähleranteile stützen können. In den USA, einstmals Avantgarde der Demokratisierung, scheinen sich im Machtzuwachs (und im kaum fassbaren Niveauverlust) des Konservativismus in erschreckender Weise das moderne technokratische und kapitalistische Patriarchat mit dem traditionell religiösen (evangelikalen) und dem politischen Patriarchat (zunehmend mit Einbezug des Rechtsextremismus) zu verbinden und die Entdemokratisierung politischer Steuerung voranzutreiben. 10) Derzeit betreiben Donald Trump und sein Regierungsteam nicht nur eine populistische Innenpolitik, die sich auf Antiliberalismus, Lügenpropaganda und „hate speech“, auf Eliten- und Intellektuellenfeindlichkeit, auf Islamophobie, Nationalismus und Rassismus bis hin zum Rechtsradikalismus stützt und all dies weckt, fördert und „salonfähig“ macht, sondern auch eine inkonsistente, widersprüchliche und unberechenbare Außen- und Handelspolitik. Diese zeigt Sympathie für autokratische Staatslenker, pendelt zwischen Rückzügen aus globalen ökologischen, politischen und Handelsabkommen und einer Handel und Innovationen schwächenden Einschränkung des internationalen Technologietransfers einerseits und andererseits Ansätzen ihrer nationalistischen Neuformulierung, die der Devise „America first“ folgen sollen. Darüber hinaus droht die Trump-Regierung mit einer Aufkündigung des atlantischen Bündnisses, distanziert sich von allen Versuchen, eine internationale post-hegemoniale Friedensordnung im Dialog mit nicht-westlichen Mächten und hier vor allem mit Russland und China und dem Iran zu entwickeln und führt sich zunehmend aggressiv, (wenn auch bislang nur verbal), gegen Europa auf. Schließlich lassen die verbalen Duelle zwischen Trump-USA und Nordkorea ahnen, was passieren könnte, wenn autokratische Politiker von ähnlichem mentalen Format aufeinandertreffen. In Russland ist eine „Demokratur“ entstanden, die unter Putins Führung im Innern durch traditionelles, auch religiös gestütztes Patriarchat, durch Nationalismus, Autoritarismus und Selbststilisierung zum (potentiellen) Opfer des Westens geprägt ist. Außenpolitisch scheint sich der „Putinismus“ an einem geschichtlich überholten Verständnis von Souveränität zu orientieren, demzufolge es keine geteilten Souveränitäten und „win-win-Spiele“, sondern nur Gewinner und Verlierer geben kann. Entsprechend aktualisieren Putin und sein Team in sog. „hybrider Kriegsführung“ den geostrategischen Imperialismus und die Strategie des kalten Krieges, nämlich die Destabilisierung und Kontrolle bis hin zur Unterwerfung von Nationen durch 328

Unterstützung von Separatisten und durch Stellvertreterkriege – ein Rückfall, der auch durch falsche, ausgrenzende und russische Interessen missachtende EU- und NATO-Taktiken provoziert wurde. Heute nährt der religiös und post-religiös (orthodox christlich und nationalistisch) „gemischte“ Fundamentalismus russischer Prägung Bestrebungen der (Wieder)errichtung eines anti-westlichen und anti-europäischen politischen Patriarchats. Dieses zielt als militant angestrebte „eurasische Union“ implizit auf Schwächung des Westens und Zerbrechen der EU und ihrer Institutionen. 11) Insofern besteht die Gefahr, dass in den Beziehungen des Westens zu Putin-Russland eine Abwärtsspirale entsteht, die (vielleicht beginnend mit neuen Cyberangriffen und Versuchen, sich dagegen zu schützen) in einen neuen kalten Krieg und in eine Eskalation bis hin zu militärischen Konflikten und nuklearen Drohungen führen könnte, die mit der NATO auch Europa einbeziehen würden. China profiliert sich als Avantgarde einer neuen modernen Verbindung von patriarchaler Politik und Kapitalismus und praktiziert heute wieder – nach Deng Xiaopings vorsichtigen Ansätzen zur Machtverteilung und „kollektiven Führung“ – eine autoritäre, unter XI Jinping inzwischen absolutistische und weithin menschenverachtende Staatsführung, die dem Leitbild der Entwicklungsdiktatur folgend sich von westlichen Prinzipien und Werten (Demokratie, Menschenrechte, Meinungs‑ und Medienfreiheit, Rechtsstaatlichkeit) auch explizit distanziert. Innenpolitisch praktiziert die chinesische Führung eine informations- und kommunikationstechnologisch, auf Datensammlung und artifizielle Intelligenz gestützte Kontrolle und Bevormundung der Menschen. Hier gewinnt eine „smarte“ aber eher post-demokratische Gesellschaft an Konturen, die sich als „exportfähige Alternative zum westlichen Liberalismus“ (Thomas Assheuer) anbietet. 12) Wirtschaftspolitisch wird der Staatskapitalismus (mit Inseln der Privatisierung) ausgebaut, geo- und außenpolitisch wird das „Staffelholz“ des Imperialismus von den USA übernommen, das Modell der Entwicklungsdiktatur exportiert und eine eurasische, insbesondere die Staaten zwischen China und Europa wie auch Teile von Afrika einbeziehende Integration von Wirtschaftszonen unter chinesischer Führung angestrebt. 13) Schließlich sind wir im Nahen Osten und in Afrika mit einer an den dreißigjährigen Krieg erinnernden Wiederkehr von Religions- und ethnischen Kriegen, dem Zerfall von Staaten bzw. dem Scheitern von Staatsbildung und sich blitzartig ändernden Frontlinien und Konflikten konfrontiert. In unmittelbarer Nachbarschaft Europas zählen dazu das drohende Platzen des Atom-Deals zwischen Iran und dem Westen, der Dauerkonflikt zwischen Iran und Israel, das neue strategische, gegen Iran gerichtete Bündnis zwischen Saudi- Arabien und Israel, der grausame Stellvertreterkrieg im Jemen und weitere Konflikte. Zur Ausbreitung und Machtübernahme einer antidemokratischen Politik mit ausgeprägt menschenverachtenden und kulturfeindlichen Zügen gehören das Assad-Regime in Syrien und sein mit russischer Hilfe geführter Vernichtungskrieg gegen die eigene Bevölkerung, in der Türkei das autoritäre, die Demokratie entmachtende Erdogan-Regime und sein Krieg gegen Teile der Bevölkerung und gegen die Kurden, der von Saudi-Arabien und dem Iran betriebene Völkermord im Jemen und der Religionskrieg der Islamisten in Afghanistan und rund um die Welt. Indien ist zwar formal eine Demokratie, ist aber durch Polarisierung und Machtkämpfe zwischen dem traditionellen, religiös gestützten Patriarchat und einem modernen technokratisch gestützten und pro-westlichen Patriarchat gespalten und weit von einer gerechten Gesellschaftsordnung entfernt. Es ist einerseits durch die Moderne, durch Globalisierung und (Zwangs)säkularisierung, durch selbstdestruktive Urbanisierung und Turbokapitalismus, durch Weltmachtansprüche, Atombewaffnung und umfangreiche Importe moderner Waffentechnologie und andererseits durch Unkenntnis und mangelhafte Nutzung seiner intellektuellen, moralischen und spirituellen Ressourcen, durch ein archaisches Kastensystem, durch extreme soziale und ökonomische Polarisierungen und Unterdrückung der Frauen sowie durch religiösen Fanatismus und Gewalt, hier vor allem in Gestalt eines aggressiven Hindu-Nationalismus geprägt. Ferner scheint sich mit Brasilien die größte Demokratie und Wirtschaftsmacht Südamerikas in einer Abwärtsspirale und an der Schwelle zu einer Autokratie zu befinden, deren oberster Repräsentant Jair 329

Bolsonaro in seiner Verachtung politischer Korrektheit und demokratischer Institutionen, in der Hetze auf Minderheiten und als Frauenfeind, sowie als Lügner und Lieferant von fake news in „gekonnter“ Nutzung der Klaviatur politischer Intrige, parteilicher Justiz und einseitiger Berichterstattung sogar noch Donald Trump überbieten könnte. Im Rahmen dieser drohenden globalen Abwärtsspirale wirkt Europa ziemlich zerbrechlich und hilflos. Der Brexit, die Migration, der Rechtsruck, die vielen, teils auch europafeindlichen Protestbewegungen sowie der Popularitätsverlust des überzeugten Europäers Emmanuel Macron und das Fehlen von Politikern gleichen Formats in Deutschland und anderen europäischen Nationen stellen Europa vor eine Zerreißprobe. – auch wenn die Wirtschaft der westlichen Welt, darin die europäische und hier insbesondere die deutsche Wirtschaft bislang noch stabil sind und „sich wie ein Schleier über das Brodeln in der westlichen Welt“ legen. 14) Aber unter diesem Schleier sind weltweit eine Zunahme und Ausdehnung geistiger und dadurch geleiteter organisierter Gewalt, einer „beharrenden Unvernunft“ zu beobachten, die sich in verschiedenen Ausprägungen manifestiert. Dabei ist bemerkenswert, dass – einmal abgesehen von antikapitalistischen Strömungen im Islamismus und in anderen Ausprägungen des religiösen Fundamentalismus – die nationalistischen Kräfte ebenso wenig den Kapitalismus reformieren wollen wie die überzeugten Globalisierungsanhänger. Während letztere einen neo-liberalen Internationalismus predigen, der die kapitalistischen Wurzeln globaler Destabilisierung verdrängt, sucht der nationalistische Konservativismus im Rahmen kapitalistischer Dynamik nur seine eigenen Interessen durchzusetzen („America first“). So tragen beide politischen Strategien dazu bei, eine Domestizierung des Kapitalismus in Europa und darüber hinaus, die Entstehung einer humanen globalen Gesellschaft und einer demokratischen Ordnungsarchitektur zu verhindern. So gesehen scheinen die Einfluss- und Gestaltungschancen einer an Zukunftsfähigkeit orientierten Europapolitik, geschweige denn einer entsprechenden europäischen Außenpolitik nicht gut zu sein. Im Gegenteil: Einiges deutet darauf hin, dass die ökologische und ökonomische, kulturelle und soziale Zerstörungskraft der westlichen und sich verwestlichenden Gesellschaften auf der Erde weiter zunehmen werden, wenn sich in Zukunft das technokratisch-kapitalistische Wirtschaftspatriarchat mit dem modernen politischen Patriarchat autokratischer Staatsführung verbindet und ggfs. auch (fundamentalistische, simplifizierende, pauschalisierende, antiwissenschaftliche) Glaubensgehalte des traditionalen moralisierenden Patriarchat assimiliert und zur Legitimation nutzt. Wie in den USA und in China schon heute in Ansätzen erkennbar, interagieren diese drei Ausprägungen „beharrender Unvernunft“ vielfältig und verbinden und verstärken sich teilweise gegenseitig – was schon gegenwärtig und, wie zu befürchten ist, in Zukunft vermehrt in eine Vielzahl von Konflikten und Kriegen münden kann, die von ihren Akteuren teils sicherheitspolitisch, teils durch einen kaum verhüllten Imperialismus und teils immer noch nationalistisch, ethnisch und religiös motiviert und legitimiert werden. Wie im „worst case Szenario“ der Zukunft umrissen, könnten sich die hier entwickelten bzw. anbahnenden Konflikte mit Kämpfen um die knapper werdenden natürlichen Ressourcen (insbes. Energie, Wasser und Ackerland) und mit den weltweit anwachsenden Migrationsströmen verflechten, sich gegenseitig „hochschaukeln“ und in ein globales Chaos münden. Daraus und den wachsenden Bedürfnissen nach Sicherheit folgend könnten dann eine zunehmende Anzahl regionaler, nationaler und autoritärer Regime hervorgehen, die ihre internationale Kooperation ausbauen, sich zu einem Archipel des patriarchalen Kapitalismus zusammenschließen und die Gewinner der Globalisierung gegen die Verlierer und Opfer der sozialen und ökologischen Katastrophen abschirmen und verteidigen. Mit dem hier entstehenden autokratischen, technokratischen und sich global vernetzenden Management, das Züge einer Ökodiktatur zeigt und sich zunehmend auf künstliche Intelligenz stützt, würde sich – mit China als Vorbild und Vorreiter – das Zerrbild einer Weltgesellschaft realisieren. Für die Zukunft westlicher Kultur und Europas wird es – neben den beschriebenen Herausforderungen der Integration – von entscheidender Bedeutung sein, ob es (erstens) der europäischen Politik gelingt, Handelsbeziehungen und Allianzen auch mit neuen Partnern wie z. B. den (derzeit 10) Asean-Mitgliedern und mit Japan, 330

Kanada, Norwegen, Australien, Neuseeland und afrikanischen Staaten zu schaffen, die sich an den Regulativen einer natur- und kulturverträglichen, lernenden Organisation wirtschaftlicher Leistung orientieren. Und (zweitens) spielt es eine entscheidende Rolle, in welche Richtung sich China als neue globale Führungsmacht und unter diesen Bedingungen die USA in den nächsten Jahrzehnten entwickeln. Wird China seinen Imperialismus und seine autoritäre Innen- und Außenpolitik fortsetzen und ausbauen, um als „großer Bruder“ und Vorbild nicht nur asiatische und afrikanische, sondern auch amerikanische und europäische Völker, Nationen und ihre Führungen politisch und wirtschaftlich und ggfs. auch mit militärischem Druck auf seine Seite zu ziehen? Oder wird sich China im Zuge seiner wirtschaftlichen Verflechtung und Kooperation mit dem Westen liberalisieren und demokratisieren, sodass es als „sanftes Imperium“ (Robert Cooper) zu einer Antriebskraft und zum Mitgestalter bei der allmählichen Verwirklichung einer demokratischen Weltgesellschaft werden könnte? Werden die USA (mit Trump und über ihn hinaus) ihre Distanzierung von Europa und von der NATO, von Weltpolitik und ‑handel fortsetzen und sich von den Rollen des Beschützers im atlantischen Bündnis und des „Weltpolizisten“ längerfristig oder sogar endgültig verabschieden? Werden sich die USA (wie auch Europa und Russland) mit der Rolle von „Juniorpartnern“ in einer Koexistenz von Weltmächten abfinden, in der China eine Führungsrolle hat?

VII. 5 Grundzüge einer europäischen Außenpolitik „Als Ganze betrachtet sind Zivilisationen ja hoch aggressiv gebaut. Unsere Zivilisation hat zum Beispiel den Blitzkrieg erfunden. Aber in ihrem aggressiven Bau gibt es Keller und Dachgeschosse, in denen die seltsame Möglichkeit lagert, dass es umgekehrt auch so etwas wie ‚Blitzfrieden‘ geben kann.“ (Alexander Kluge) Wie also kann Europa in solchen ungewissen Konstellationen sich behaupten und die Errungenschaften, Potentiale und Versprechen des westlichen Pfads, „werdende Vernunft“ und Friedensfähigkeit erhalten, pflegen und gegen die Feinde der offenen Kultur verteidigen? Vielleicht kann auch hier die Idee der „weichen Grenzziehungen“ durch Balance von Öffnung und Schließung einen möglichen Weg eröffnen. Dazu gehören: • Die Entwicklung, weltweite Kommunikation und Verbreitung eines europäischen Narratives, um nach innen und nach außen glaubwürdig zu kommunizieren, wie Europa geworden ist, wie weit die angestrebte positive Integration bereits verwirklicht ist, wie es in Zukunft mit einem domestizierten Kapitalismus weitergehen könnte und wofür sich Europa einsetzen will. Dazu sollten Methodik und Inhalte dieses Narratives durch „weiche Grenzziehungen“ – u. a. durch die Vergegenwärtigung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede zu China, Russland und den USA – geprägt sein. • Eine europäische Sicherheitspolitik, in deren Rahmen „militärische Macht, Diplomatie, soft power und Wirtschaftskraft zu koordinieren“ wären. 15) Europa kann nicht länger Zuflucht unter dem ohnehin bröckelnden militanten Schutzschirm der USA suchen, sondern muss gemeinsam auf die destruktive Dynamik reagieren und ggfs. seine „responsibility to protect“ auch wahrnehmen. Die einzig gute Nachricht aus den USA ist, dass sie „ihrer globalen imperialen Rolle überdrüssig sind“ und damit die Europäer zwingen, sich auf eigene Füße zu stellen und „in Zukunft mehr zu ihrer eigenen Sicherheit beizutragen“. (Joschka Fischer) 16) Diese Entwicklung führt nicht notwendig zu einer „Selbstzerstörung des Westens“, wie Fischer meint, sondern könnte auch in eine Selbsttransformation des Westens und in eine Neufassung 331











des atlantischen Bündnisses münden. Denn im Zuge einer fortschreitenden Integration und Konstitution Europas könnte das transatlantische Bündnis in Gestalt einer nun auch aktiv von Europa ausgehenden Solidarisierung mit den wieder erstarkenden demokratischen Kräften der USA, mit der Bereitschaft zur Verteidigung einer offenen westlichen Kultur und zu einer gerechten Bereitstellung der dazu erforderlichen (auch) militärischen Ressourcen neu und zukunftsorientiert definiert werden. Mit Blick auf die „Fähigkeit Europas zum autonomen Handeln“ (Emanuel Macron) sollte eine europäische Militärmacht auf- und ausgebaut werden, wozu u. a. eine maßvolle militärische Aufrüstung, Modernisierung und Vereinheitlichung von Waffensystemen, ein gemeinsamer Verteidigungsfond und Verteidigungsaktionspläne gehören. 17) Diese Strategie sollte aber in eine Diplomatie der selbstbewussten Gelassenheit eingebettet bleiben, die die Demonstration von Macht und ihrer möglichen Durchsetzung mit Augenmaß und Ausgleich, mit Gesprächs- und Kompromissbereitschaft, mit Krisenprävention und Deeskalation verbindet. 18) Ferner bedarf es einer europäischen Außenpolitik, die Europa als ein werdendes „kooperatives Imperium“ (Robert Cooper) versteht, das nicht nur in seiner inneren Ordnungsbildung, sondern auch in der Ausgestaltung der Beziehungen zu anderen „Welten“ dem Regulativ der Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ folgt. Das gilt nicht nur, wie schon skizziert, im wörtlichen Sinne einer menschenwürdigen und gesetzlich fundierten europäischen Asyl- und Migrationspolitik, sondern generell als Leitorientierung der Außenpolitik – insbesondere mit Blick auf die Völker des Nahen Ostens und Afrikas. Angesichts dessen, was Europa und der Westen im Zuge seiner „Unterwerfung der Welt“ (Wolfgang Reinhard) diesen angetan hat  19), wie auch im Interesse zukünftiger Selbstbehauptung Europas sollte die „weiche Grenzziehung“ gegenüber diesen Völkern im Entwicklungsprogramm Europas eine wichtige Rolle spielen. Das beginnt mit der verfassungsgemäßen, dem Schutz der Menschenwürde verpflichteten Öffnung Europas für Flüchtlinge und Asylsuchende und einer gesetzlich geregelten und dosierten Aufnahme und Integration von Wirtschaftsmigranten über die Schuldannahme des Westens für den Kolonialismus und seine Verpflichtung zur Hilfe ( Stichworte: Marshall Plan für Afrika und Unterstützung bei der Entwicklung einer afrikanischen Wirtschaftsunion) als Voraussetzung einer Versöhnung der Kulturen bis hin zum Aufbau einer euro-afrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, in der diese Völker und ihre reformwilligen, demokratisch legitimierten Regierungen als Partner einer fairen wirtschaftlichen Kooperation anerkannt und behandelt werden. All dies und mehr ist auch für Europa – nicht zuletzt wegen des zukünftig wachsenden Migrationsdrucks – von existenziellem Interesse. 20) Eine Außenpolitik der „weichen Grenzziehungen“ impliziert eine Strategie der Verständigung, die grundsätzlich alle Akteure und Betroffenen einzubeziehen sucht. Es hat nichts mit Prinzipienlosigkeit oder Beschwichtigungspolitik (Appeasement) zu tun, wenn Europa (ähnlich der seinerzeit erfolgreichen Ost-Politik in der Brand-Ära mit ihrer Leitidee „Wandel durch Annäherung“) auch mit Nicht-Rechtsstaaten und Regimen in Kontakten, Beziehungen und Verhandlungen bleibt. Im Bewusstsein der Möglichkeit einer nicht-revidierbaren Abwärtsspirale als Folge wechselseitiger „harter Grenzziehungen“ ist (so intensiv und so lange wie möglich) auf „weiche Grenzziehungen“ und eine post-nationale Politik, auf Kommunikation, Verständigung und gemeinsame Sicherheit durch geteilte Souveränitäten und gemeinsame Verantwortung der Beteiligten zu setzen. Eine Bewährungsprobe für eine dadurch geleitete friedenstiftende Außenpolitik könnte die zukünftige Nahostpolitik Europas sein. Wenn der Krieg im Nahen Osten zu Recht mit dem 30‑jährigen Krieg verglichen wurde, ließen sich vielleicht auch Orientierungen für seine Beendigung aus der Gestaltung des Westfälischen Friedens (1648) gewinnen.  21) Dazu könnte gehören, dass Europa hier als dritte Kraft zwischen den jeweiligen Kriegsparteien auftritt und sich in einem Mediationsprozess um eine Verrechtlichung von Beziehungen in und zwischen regionalen Territorien und Kräften und ihren Führungen durch Verträge bemüht, ihr Zustandekommen fördert und moderiert. 22) 332

Nach innen, mit Blick auf die Freiheit und demokratische Selbstbestimmung der europäischen Bürger wie auch nach außen, mit Blick auf den globalen Erhalt und die Verteidigung einer „offenen Kultur“ gegen ihre vielfältigen, sich neuformierenden Gegner ist es wichtig, dass sich Europa als ein demokratisch und rechtsstaatlich legitimiertes, kooperatives und in der Welt mächtiges aber „sanftes Imperium“ (Robert Cooper) der „weichen Grenzziehungen“ konstituiert. Im Innern als föderaler Bund in sich föderaler Staaten und nach außen als eine Diplomatie, die sich für Entwicklung und Verbreitung einer föderalen Weltordnung einsetzt, unter deren Dach eine demokratische Selbstbestimmung von Menschen, Regionen und Völkern und damit mehr Frieden gewährleistet werden kann. Nur mit „strategischer Geduld“ (Angela Merkel) und einer beharrlichen, (freilich nicht naiven) Politik der Verständigung und Vertrauensbildung, der Vermittlung einer klaren gemeinsamen Wertebasis und der glaubwürdigen Bereitschaft, diese zu verteidigen, kann europäische Außenpolitik sich weltweit für offene Kultur und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte einsetzen und sich als „normatives Projekt“ (H.A. Winkler) in der Welt behaupten, profilieren und legitimieren.

VII. 6 Europas Beitrag zur Mitgestaltung einer Weltgesellschaft: Potentiale und Keimbildungen erkennen und weiterentwickeln „Der Perspektivenwechsel von ‚internationalen Beziehungen‘ zu einer Weltinnenpolitik ist (…) von Regierungen nicht zu erwarten, wenn nicht die Bevölkerungen selbst einen solchen Bewusstseinswandel prämieren … Innovationen kommen nicht zustande, wenn die politischen Eliten nicht auch in den vorgängig reformierten Wertorientierungen ihrer Bevölkerungen Resonanz finden.“ (Jürgen Habermas) Derzeit ist die Entwicklungsdynamik der Welt durch Desintegration, durch Chaos und eruptive Gewalt wie auch durch negative Integration und organisierte Gewalt unter den Regimen eines patriarchalen Kapitalismus und eines wieder erstarkenden politischen und religiösen Patriarchats geprägt, die von wachsenden Anteilen der verunsicherten Bevölkerungen mitgetragen werden und deshalb mögliche Übergänge zu einer demokratischen Weltinnenpolitik in weite Ferne zu rücken scheinen. Andererseits gibt es heute im westlichen Pfad auch Entwicklungen, die als Potentiale einer Selbsttransformation und als Keimbildungen einer demokratischen, positiv integrierenden Weltgesellschaft verstanden, entfaltet und genutzt werden könn(t)en. Der hier versuchten Rekonstruktion und dem Entwurf eines „best case Szenarios“ folgend ließen sich zumindest die folgenden, evolutionär und historisch gewachsenen Potentiale identifizieren: • Ein universales, anthropologisches Potential gelingender Humanisierung kultureller Lebensformen, das in der impliziten, „von Natur aus“ nicht-logozentrischen Ethik der drei kulturkonstituierenden Alltagspraktiken und in der intuitiven Sittlichkeit der Menschen angelegt ist. Dazu gehören insbesondere ihre Fähigkeiten zur reziproken Empathie in der Gemeinschaftsbildung, zur reziproken Anerkennung in der Gesellschaftsbildung und zur Sachbezogenheit und Anerkennung von Faktizität in der Objektivierung und technischen Mitgestaltung der Welt. Ferner gehört dazu die freiheitliche, zukunftsoffene und lernende Ausgestaltung dieser Alltagspraktiken in der Balance von Öffnung und Schließung, zu der die Menschen dank ihrer (ästhetischen) Erfahrung des „Nicht-Identischen“ (Theodor W. Adorno) befähigt sind. 333

• Diese evolutionär, in den Vollzügen der Alltagspraktiken ausdifferenzierte Implizite Ethik und intuitive Sittlichkeit der involvierten Individuen werden im westlichen Pfad bis heute in Ansätzen einer post-logozentrischen Selbstbeobachtung, in religiösen und post-religiösen Weltbildern und Ethiken reflektiert und als Regulative – der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und als Freiheit einer sich an (persönlichen) Gründen orientierenden bürgerlichen Lebensführung (Lebenskunst) – expliziert. • Im westlichen Pfad haben Alltagspraktiken mit ihrer impliziten Ethik und Glaubenspraktiken mit ihrer expliziten Ethik sich gegenseitig stützend eine spezifische Systemarchitektur mit einer „befreienden Normativität“ hervorgebracht, die sich, wie ausgeführt, als „Tempelarchitektur“ verbildlichen lässt. Hier bildet das System „Kultur der Kultur“ und die hier generierte dialogische Verständigung und Orientierungssuche ein „flüssiges“ Fundament, während die Systeme der Gemeinschaft, der Gesellschaft und der Technik, der Wissenschaften und der Künste sowie religiöse und post-religiöse Glaubenspraktiken die „Säulen“ und das Recht das „Dach“ bilden. In diesem Rahmen leistet das westliche, in den universalen Menschenrechten begründete Rechtssystem „Schließung“ unter Bedingungen maximaler „Öffnung“ durch das „flüssige“ System „Kultur der Kultur“. Anders ausgedrückt: Diese Koppelung kann wohl auf bislang höchstem Niveau die Entstehung, Stabilisierung und Reproduktion einer friedensstiftenden Gemeinsamkeit der Menschheit durch Entfaltung und Pflege ihrer Verschiedenheit und Vielfalt hindurch realisieren. • Verbunden mit der evolutionären Entstehung und Ausdifferenzierung des westlichen Systems hat sich ein Persönlichkeitstypus von BürgerInnen herausgebildet, die in ihren Alltags- und Glaubenspraktiken, in ihrer persönlichen Lebensführung wie auch in politischen Einstellungen, im Wahlverhalten u. a. einer „Normativität der Freiheit“ folgen und sich auch auf vielfältigen Wegen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten für Erhalt, Verbreitung und Ausdifferenzierung des westlichen Systems und seiner „befreienden Normativität“ einsetzen. Auch motiviert durch die gegenwärtigen Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit westlicher Kultur verbinden sie sich zu kritischen und emanzipatorischen Bewegungen und bilden Ansätze einer globalen Zivilgesellschaft. • Im Rahmen dieser sich formierenden Zivilgesellschaft spielen schon derzeit Frauenrechtsbewegungen und der Feminismus eine bedeutsame Rolle und könn(t)en in Zukunft eine Schlüsselfunktion übernehmen Hier verbinden sich Sensibilität, Friedens- und Gemeinschaftsorientierung mit Spontaneität, Kreativität und Kampfgeist von Aktionen und Interventionen, mit ethischer Reflexion und Kritik und mit beharrlicher Arbeit an Gleichberechtigung in allen Institutionen und Organisationen. Feministisch orientierter Aktivismus und auf Gleichberechtigung zielende Reformen in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaften – könn(t)en sich gegenseitig stützen und verstärken, die vielfältigen Potentiale der Weiblichkeit entfesseln und den vielleicht wichtigsten und wirksamsten Beitrag zu einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung und zu einer Selbsttransformation und Humanisierung westlicher Kultur in Richtung auf eine „vierte Kultur“ leisten. • Ferner könnten die gegenwärtige Herausbildung kontinentaler und transkontinentaler Wirtschaftsgemeinschaften, sowie ihre Rahmung und Stützung in Ansätzen einer post-territorialen Politik geteilter Souveränitäten – insbesondere zur Abstimmung einer gemeinsamen Außen‑, Handels‑, Sicherheits‑ und Klimapolitik in „Verpflichtungsgemeinschaften“ (Jan Philip Reemtsma)  –  zur Entstehung einer positiv integrierenden Weltgesellschaft beitragen, wenn es – in Aktivierung der o.g. humanistischen Potentiale und über Druck seitens der Zivilgesellschaft  –  gelänge, die Regulative eines angemessenen nicht (selbst)destruktiven Umgangs mit der Mitnatur, der herrschaftsfreien Entfaltung menschlicher Natur in Gemeinschaften und einer gerechten Gesellschaft und in diesem Rahmen Wahrung und Schutz der Rechte und der persönlichen Freiheit der Bürger in diese Globalisierungsprozesse einzubeziehen. 23) 334

Eine viable, also natur- und kulturverträgliche Vernetzung und Globalisierung der Wirtschaft wie auch die weitere organisierte Ausdifferenzierung des globalen institutionellen Gerüsts einer Weltgesellschaft könn(t) en nur in Verbindung mit einer (ganz wesentlich auch feministisch getragenen) Globalisierung der Zivilgesellschaft und bürgerlicher Öffentlichkeit, mit der Herausbildung eines Weltbürgerbewusstseins und mit Ergreifen, Artikulation und Ausbau der Bürgerfreiheiten, ‑rechte und ‑pflichten gelingen.

VII. 7 Zukunftsaussichten „Wenn Politik nicht vom Willen beseelt ist, den eigenen Kindern und Enkeln eine bessere Welt zu hinterlassen, dann wird sie richtungslos … Nur die Aussicht auf Veränderung erzeugt Begeisterung, niemals der status quo.“ (Navid Kermani) „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“ (Joseph Beuys) Die skizzierten Keimbildungen und Potentiale einer werdenden demokratischen Weltgesellschaft indizieren, was auch die Geschichte zeigt: dass nämlich geistige und organisierte Gewalt für kulturellen Wandel und Selbsttransformation von Lebensformen nicht unverzichtbar oder gar konstitutiv sind.  24) Insofern ist die Hoffnung nicht ganz unberechtigt, dass auch heute der Dreischritt werdender Vernunft, die Balance kreativer Öffnung und konstruktiver Schließung wirksam werden und einen „Lobbyismus für Vernunft“ hervorbringen kann, der schon heute und in Zukunft zunehmend den Lobbyismus der Partikularinteressen zurückdrängen kann. Wie versucht wurde zu zeigen, steht am Anfang einer Krisenbearbeitung häufig die Chance der Öffnung: Die Möglichkeit und die (ästhetische) Fähigkeit, mit Umweltdynamik erneut in Resonanz zu treten, bislang dominante Deutungsmuster zu relativieren, verschüttete Deutungsmuster in mediengestützter Gedächtnisbildung zu reartikulieren und neue hervorzubringen. Bis heute scheint diese Fähigkeit in der kulturellen Evolution insbesondere dann reaktiviert zu werden, wenn es darum geht, in einer Krisensituation „harte Grenzziehungen“ und ein „Sich Einmauern“  –  z.  B. durch organisierte Gewalt und Exklusion, durch reaktionäre Flucht in die Vergangenheit oder durch ein dogmatisches Zukunftsprogramm u. a. – zugunsten „weicher Grenzziehungen“ und einer Suche nach humanen „Auswegen“ (Giorgio Agamben) zu vermeiden, die sich im Wiedereintauchen in ein kulturelles Möglichkeitsfeld eröffnen können. 25) Vielleicht ließen sich dann die Herausbildung der transkontinentalen Wirtschaftsbeziehungen, die Ansätze einer sie rahmenden post-territorialen Politik geteilter Souveränitäten, eine kultur- und menschenfreundliche Integration künstlicher Intelligenz und die Formierung einer all dies stützenden und sich globalisierenden Zivilgesellschaft als globaler Trend zur Entstehung „sanfter Imperien“ interpretieren, die nun nicht nur nach innen, sondern auch nach außen in einem wirtschaftlichen „Interregionalismus“ friedlich kooperieren und zur Entstehung einer globalen, handelsgestützten Friedensordnung beitragen können. Europa war der Ursprung einer westlichen, in vieler Hinsicht ambivalenten Modernisierung. Aber heute hat Europa auch das Rüstzeug für eine Selbstkorrektur und vorbildhafte positive Integration und kann deshalb auch zu einer werdenden Weltordnung konstruktiv beitragen. Europa kann/​könnte als dichtes Netzwerk im Innern und in loser Vernetzung mit der Welt eine Politik praktizieren, die den Leitorientierungen 335

der Naturverträglichkeit, der Wahrung der Menschenrechte, der Herstellung von Gerechtigkeit und globaler Sicherheit folgt. Europas „dritter Weg“ wäre ein Mittelweg – im mehrfachen Sinn einer kulturellen Lebensform, die Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ nach innen und außen balanciert, die zwischen Formen und Ausgestaltungen lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Kulturen und Identitäten „Brücken baut“ und im Sinne einer Politik der Mitte, die in der Lage wäre, die Anliegen und Interessen der „nationalen Kommunitarier und der europäischen Kosmopoliten“ (Andreas Reckwitz) in Einklang zu bringen. 26) So könnte das „systemisch Gute“ und die „werdende Vernunft“ der menschlichen Kultur und darin der westlichen Kultur vergegenwärtigt, weiter entfaltet und ausdifferenziert und als Angebot einer sich selbst korrigierenden Moderne in die Welt getragen werden. 27)

336

Anmerkungen Vorwort und Einleitung 1)

Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt/​Main 1970.

2)

Das Folgende beschränkt sich im Wesentlichen auf einen Beitrag zur Rekonstruktion und Reflexion kultureller Evolution und darin des westlichen Entwicklungspfads in Europa. An anderer Stelle wurde versucht, auch die Natur- und Vorgeschichte der menschlichen – kreativen, praktischen und theoretischen – Vernunft systematisch in ihre systemevolutionäre Rekonstruktion und geschichtsphilosophische Reflexion einzubeziehen. Im Rahmen von Selbstorganisations- und Autopoiesistheorie lässt sich das Werden der Kultur und ihrer Systeme gleichsam „von unten“, als Ausdifferenzierung der Natur systemevolutionär rekonstruieren, während eine reflexive Rekonstruktion der Eigenlogik, Normativität und Sinnhaftigkeit kultureller Lebensform sich „von oben“, vom heutigen Stand kultureller Entwicklung einen Weg zurück zu den Konstruktionsregeln der Kultur und darin der westlichen Kultur zu bahnen sucht. Vgl. Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. I bis IV, Creative Space 2016. Von hier wurden Textausschnitte, Kapitel und Zusammenfassungen in den vorliegenden Band übernommen.

3)

Die Einführung des Euro ohne stützendes und regulierendes Gerüst einer starken und demokratisch legitimierten europäischen Staatlichkeit, insbesondere einer gemeinsamen Haushaltspolitik war ein Fehler, der nahezu zwangsläufig zur Kreditüberflutung, in Überschuldungen und Blasenbildungen, in die aktuelle Wirtschaftskrise in Südeuropa und in eine Legitimationskrise Europas geführt haben. Auch Deutschland und die deutsche Kanzlerin haben durch ihre den verschuldeten EU-Staaten aufgezwungene Austeritätspolitik zur Verschärfung der Krise, zum Auseinanderdriften und Niedergang von Volkswirtschaften und zu den daraus resultierenden antieuropäischen Emotionen beigetragen. Vor diesem Hintergrund sind Vorschläge von Ökonomen nach einer „dezentral organisierten Fiskalunion“ (Becker, Fuest) mit angemessener Bankenregulierung, Schuldenkontrolle, Regeln zur Staatenrettung und einem klar umrissenen Mandat der EZB durchaus sinnvoll. Aber auch eine solche (finanz)technokratische Gerüstbildung wird nicht ausreichen, um die gewünschte „glaubwürdige Selbstbindung“ und Solidarität der europäischen Nationen zu erreichen. Vgl. Johannes Becker, Clemens Fuest, Der Odysseus-Komplex. Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. München 2017.

4)

Ein weiteres Problem europäischer Integration ist die aktuelle Gleichzeitigkeit von Ansätzen zu einer post-nationalen, europäischen Identitätsbildung in den westeuropäischen Nationen einerseits und andererseits einer Re-Nationalisierung in osteuropäischen Staaten, die nach der Befreiung von kommunistischer Herrschaft sich zwar Europa zuwenden, aber zugleich ihre nationale Identität wieder gewinnen und ausbauen wollen – was, wie z. B. in Polen und Ungarn in Nationalismus, Entdemokratisierung und die Entstehung autoritärer Regime münden kann. Schließlich kann man zwischen dem ursprünglich emanzipatorischen und solidaritätsstiftenden Nationalismus in der europäischen Geschichte, dem (insbesondere deutschen) destruktiven Nationalismus und Chauvinismus und dem aktuellen „separatistischen Nationalismus“ (Herfried Münkler) in reichen Regionen Europas unterscheiden, der Ausdruck einer Entsolidarisierung ist.

5)

Andreas Rödder, Die Mitte muss sich wehren. Spiegelgespräch. In: DER SPIEGEL, Nr. 39, September 2018. Die konstruktive Alternative für Europas Zukunft wäre ein Mittelweg, der die Defizite, Schwächen und Gefahren beider Seiten, des „nationalen Kommunitarismus“ (Andreas Reckwitz) und des wirtschaftlichen Globalismus reflektiert und überwindet und ihre positiven Gehalte in einer kultur- und menschenfreundlichen Europäisierung aufgreift und integriert. Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017.

6)

Vgl. hierzu Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München 2009. Vgl. auch Hans Joas, Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt/​Main 2005. Konturen einer Eigengeschichte und einer „verschwommenen“ und werdenden kulturellen Einheit Europas lassen sich in der geistigen Landschaftsbildung Europas, in den vielfältigen Formbildungen kollektiven Gedächtnisses identifizieren, das sich auch mit „europäischen Erinnerungsorten“  –  realen Orten, Ereignissen und Gegenstände, Volkstraditionen, Mythen, Institutionen etc. – verbindet. Vgl. P. de Boer u. a. (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte. Drei Bände, 2012. Vgl. auch Jaques Le Goff erzählt die Geschichte Europas. Frankfurt/​Main–New York, 1997.

7)

Dazu gehört auch der kulturelle Austausch zwischen Orient und Okzident, der seinerzeit unter dem Dach städtischer Kulturen Formen friedlicher Ko-Existenz zwischen den Religionsgemeinschaften (z. B. im osmanischen Reich und im spanischen Andalusien) und einen internationalen Wissensraum entstehen ließ, in dem der Westen vom Osten lernen konnte, bis hier mit dem westlichen Nationalismus die Herabsetzung der orientalischen Kulturen einsetzte.

8)

„Europa ist viel weiter, als viele Berufseuropäer annehmen, Europa gibt es wirklich, es muss nicht – wenn auch mit den besten Absichten  –  erst ausgedacht werden  … Messstationen sind da: Grenzübergänge, Warteschlangen vor den Konsularabteilungen der Schengen-Staaten, Check-in-Schalter, die Veränderung der Immobilienpreise, die Fahrpläne europäischer Busgesellschaften, die Sta-

337

tistik der Grenzbeamten, die Destinationen des Städtetourismus, die Basare, die Berichterstattung von Zeitungen, der Festival- und Kulturbetrieb, die Frequenz von Fähren –jene Kriechströme also, die Europa zusammenhalten … Europäische Museen, europäische Erinnerungsorte, europäische Kulturhauptstädte – wir sind immer eingebettet; oder sollten wir sagen: Wir entkommen der integralen europäischen Kultur nicht mehr. Aber von dieser intakten, funktionierenden Europäizität spricht man nicht, weil sie immer schon vorausgesetzt wird und gar nicht der Rede wert ist.“ Karl Schlögel, Die Karte in den Köpfen. Billigflieger, Fernbusse und Urlaubsreisen zeigen ein funktionierendes Europa, das im Krisendiskurs nicht vorkommt. Vorabdruck aus Karl Schlögel, Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. München 2013. In: DIE ZEIT; Nr. 41, Oktober 2013. 9)

Dabei können spezifische, historisch bedingte Einstellungen, Wertungen und Gewichtungen, die man als „historische Wurzeln eines politischen Profils“ (Jürgen Habermas) Europas identifizieren kann, eine bahnende Funktion übernehmen. Dazu gehören, nach Jürgen Habermas, die Privatisierung des Glaubens und die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, (noch) ein Vertrauen auf Demokratie, Staat und Parteiensystem als politische Gestaltungsmächte, eine gewisse Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt und Bewusstsein seiner Ambivalenzen sowie eine gewisse Präferenz für Solidarität und Gerechtigkeit gegenüber Leistung und Leistungsgerechtigkeit, eine in der Erfahrung des Nationalismus und Totalitarismus begründete Sensibilität für Verletzungen persönlicher und körperlicher Integrität und die Bereitschaft zur Domestizierung der Staatsmacht, wie auch schließlich eine reflexive Selbstdistanz, die in den Erfahrungen der Vergänglichkeit von Machtstrukturen und des Absturzes von Imperien begründet ist. Vgl. Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen. Die Stimme Europas in der Vielstimmigkeit seiner Nationen, Frankfurt/​Main 2004. Diese Facetten eines europäischen Profils lassen sich mit den Errungenschaften einer „Sakralisierung der Person“ (Hans Joas) und den darauf begründeten Menschenrechten in gewisser Weise rahmen. Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011 und: Sind die Menschenrechte westlich? München 2015.

10) Vgl. Henning Ritter, Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit. München 2013. 11) Vgl. Tony Judt, Timothy Snyder, Nachdenken über das 20. Jahrhundert. München 2013. 12) Dem Autoritarismus Putins kommt entgegen, dass die Russen „gemäß einer unerschütterlichen Tradition freiwillig alle Macht an einen einzigen Menschen delegieren … Liberalismus hat in Russland keine Chance, das Volk lässt ihn nicht zu … Flucht vor persönlicher Verantwortung? Ausgrenzung Andersdenkender? Schicksalsergebenheit? Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem Rest der Welt? Das sind Eigenschaften, denen der Staat entgegenwirken müsste. Stattdessen verstärkt er sie, weil ihm das nutzt … Putin macht Russland zum Dissidenten der Weltordnung, und das Volk freut sich darüber wie über einen Jahrmarkttrick.“ Christian Neef, Land der Schlagbäume. In: DER SPIEGEL, Nr. 32, 2017. 13) Seitdem Trump eine in sich widersprüchliche Außenpolitik betreibt, die einerseits einen Merkantilismus predigt, den Rückzug der USA aus den globalen Handelsabkommen voran treibt und sich von allen Versuchen distanziert, eine internationale post-hegemoniale Friedensordnung im Dialog mit nicht-westlichen Mächten und hier vor allem mit Russland zu entwickeln, sich andererseits aber zunehmend aggressiv, (wenn auch bislang nur verbal), als Weltpolizist aufführt, besteht die Gefahr, dass auch zwischen Putin-Russland und Trump-USA eine Abwärtsspirale entsteht, die in einen neuen kalten Krieg und in eine Eskalation von auch militärischen Konflikten führen könnte, die mit der NATO auch Europa einbeziehen würde. Hierzu auch Bob Woodward, Furcht. Hamburg 2018. 14) Nach dem Zusammenbruch des islamischen Staats und des Kalifats ist damit zu rechnen, dass sich IS, Al Quaida u. a. noch verstärkt im Untergrund organisieren und von hier aus überall auf der Welt, in islamischen wie auch in westlichen Gesellschaften zuschlagen werden. 15) Waren die USA einst die Avantgarde der Entstehung einer offenen Kultur und demokratischen Gesellschaft, so scheinen sie derzeit zunehmend zur Avantgarde der rücksichtslosen Durchsetzung und Dominanz von Kapitalverwertungsinteressen, einer Politik der harten Grenzziehungen und der Entdemokratisierung zu werden Das zeigt sich u. a. in der hier seit mindestens zwei Jahrzehnten stattfindenden Entsolidarisierung, in der Erosion der Gerechtigkeit, des Rechts und der staatlichen Daseinsfürsorge. Vgl. Naomi Wolf, Wie zerstört man eine Demokratie. Das 10‑Punkte Programm. München 2008. Naomi Wolf spricht von einer „faschistischen Verschiebung“ in den USA und meint damit „eine antidemokratische Ideologie, die über die Gewaltandrohung gegen einzelne Menschen versucht, die Institutionen der Zivilgesellschaft zu unterdrücken, um diese dann wiederum der Macht des Staates zu unterwerfen.“ A.a.O., S. 46. Vgl. dazu auch George Packer, Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika. Frankfurt/​Main 2014. Zur Ablösung von Diplomatie in den USA durch eine zunehmend von Militär und Geheimdiensten bestimmte Politik der harten Grenzziehungen siehe auch: Ronan Farrow, Das Ende der Diplomatie. Hamburg 2018. In den USA wird derzeit hinter der Fassade nationalistischer und neo-liberaler Marktrhetorik der Umbau zur Plutokratie durch Lobbygruppen, durch hemmungslose und korrupte Durchsetzung der Interessen der Reichen (auch durch einen Präsidenten, der ironischerweise als Anwalt der Verarmten gewählt wurde und nun einen Krieg auch gegen diese führt) vorangetrieben. 16) Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000. Ders., Europa provinzialisieren. Post-Kolonialität und die Kritik der Geschichte. In: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Euro-Zentrismus. Post-koloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/​Main 2002. Chakrabarty meint mit „Provinzialisierung Europas“ vor allem eine Abkehr vom Eurozentrismus und eine notwendige Relativierung der Rolle Europas in der Globalgeschichte: „Im akademischen Diskurs über Geschichte ist Europa immer noch das souveräne, theoretische Subjekt aller Geschichten, einschließlich derjenigen, die wir als ‚indisch‘, ‚chinesisch’ oder ‚kenianisch‘ bezeichnen … Nur ‚Europa‘ ist theoretisch erkennbar; alle anderen Geschichten sind Gegenstand der empirischen Forschung, die einem theoretischen Skelett, welches substanziell ‚Europa‘ ist, Fleisch und Blut verleiht.“ A.a.O., S. 283/​285. Zit. nach Sebastian

338

Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung. München 2013, S. 140/​141. Aber „Provinzialisierung“ bezeichnet auch treffend, was mit Europa heute real passiert: nämlich politisch und wirtschaftlich in eine Nebenrolle gedrängt zu werden. Vgl. Dazu Niklas Luhmann, Europa und die Weltgesellschaft. Vortrag zum 3. Kempfenhausener Gespräch, 1. Gesprächszyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 1994. 17) Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt/​Main 2008. Ders., Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II. Berlin 2011.

Ironisch genug, könnten (auch und insbesondere in Deutschland) Ängste vor der Wiederkehr des Nationalismus zu einer „Europaideologie“ führen, die fordert, dass nun Europa schnell und notfalls auch brachial und ohne demokratische Legitimation gegen die Nationalstaaten und ihre demokratisch fundierte Souveränität durchzusetzen ist. Vgl. Bernd Ulrich, Der große Sprung nach vorn. In: DIE ZEIT, Nr. 43, Oktober 2012.

18) „Dabei würde nicht nur die Demokratie auf der Strecke bleiben; wir würden gleichzeitig die Chance verspielen, die Finanzmärkte, wenn auch zunächst nur eines Wirtschaftsraums kontinentalen Ausmaßes, zu regulieren. Eine europäische Exekutive, die sich gegenüber einer demokratisch mobilisierbaren Wählerschaft vollends verselbständigt, verliert jedes Motiv und auch die Kraft zum Gegensteuern.“ Jürgen Habermas, Politik und Erpressung. Rede bei der Entgegennahme des von der Hessischen SPD verliehenen Georg-August-Zinn-Preises. In: DIE ZEIT, Nr. 37, September 2012. Vgl. auch Wolfgang Streek, Gekaufte Zeit. Berlin 2013. Auch Streek weist darauf hin, dass die politische Steuerung auf europäischer Ebene bislang „stärker gegen die Willensbildung der Bürger abgeschirmt ist als der Nationalstaat.“ Ebd., S. 95. Vgl. auch Colin Crouch, Die bezifferte Welt: Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin 2015. Vgl. ferner Hans Magnus Enzensberger: „Ungerührt sehen sie dem Schwinden ihrer Legitimationsgrundlage zu. Die Vermutung ist nicht weit hergeholt, dass ihnen das sogar ins Konzept passt; denn für jede machtbewusste Exekutive ist die Passivität der Bürger ein paradiesischer Zustand.“ Sanftes Monster Brüssel. In: DER SPIEGEL, Nr. 9, 2011. 19) Zu gewissen Hoffnungen gibt der Tatbestand Anlass, dass in den letzten Jahren das europäische Parlament immer mehr Rechte und seit dem Lissabon-Vertrag 2009 ein volles gesetzgeberisches Mitentscheidungsrecht bekommen hat und, was noch wichtiger ist, zunehmend selbstbewusster diese Rechte auch wahrnimmt. Diese Tendenzen lassen sich auch als Antwort auf eine inzwischen entstandene Regelungsdichte der EU verstehen, die mehr Bürgerbeteiligung und demokratische Legitimation dringend benötigt. Vgl. hierzu Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte. Frankfurt/​ Main–New York, 2014. Diese Entwicklung sollte auch den europäischen Bürgern vermittelt und von ihnen mitgetragen werden. Vgl. Matthias Krupka, Völker hören keine Signale. Europas Parlament könnte so viel gestalten wie noch nie. Doch Europas Bürger interessiert das nicht. In: DIE ZEIT, Nr. 22, 2013. Allerdings sollte man sich von einer Parlamentarisierung Europas, also einer Stärkung der demokratischen Legitimation und Macht des europäischen Parlaments nicht zu viel versprechen, da die Möglichkeiten einer demokratischen Regulation des Kapitalismus in Europa schon seit 1964 beschnitten wurden, als der europäische Gerichtshof den völkerrechtlichen Vertrag von 1957, in dem sich die Mitgliedsstaaten zur Errichtung eines gemeinsamen Marktes verpflichteten, in den Rang einer Verfassung anhob. „Die Pflichten der Staaten wurden dadurch in Rechte der Wirtschaftsakteure verwandelt und konnten eingeklagt werden“ Dieter Grimm, Von Putsch kann keine Rede sein. Wird Europas Legitimation größer, wenn das europäische Parlament mächtiger wird? Im Gegenteil! Ein Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Dieter Grimm. In: DIE ZEIT, Nr. 27, Juni 2014. Auf Grimms diesbezügliche Vorschläge einer tiefgreifenden „Bereinigung“ der Verträge auf ihren Verfassungsstatus und die Repolitisierung aller anderen Regelungen und Entscheidungen kommen wir in Kap. VI zurück.

I. Das „systemisch Gute“ in der Natur der Kultur oder: wie wir von der natürlichen Evolution „gemeint“ sein könnten 1)

Schon im prä-biologischen „Bildungsprozess“ von Materie-Information sind Möglichkeitsfelder und damit Unbestimmtheit und Zukunftsoffenheit gleichsam „eingebaut“. Die Natur stellt ein Möglichkeitsfeld dar, in dem alles mit allem verbunden ist und translokal aufeinander einwirkt. In diesen Wechselwirkungen würde die Natur (oder bescheidener: „unser“ Universum) ungebremst an Komplexität zunehmen. „In der realen Welt dagegen gibt es einen Prozess, der diese Entwicklung umkehrt: den Kollaps von Quantenzuständen. Auf ihn ist es zurückzuführen, dass das Niveau an Komplexität steigt und wieder fällt, während Quantensysteme zwischen dem Zustand des Möglichen und des Wirklichen hin und her wechseln … Kollapse finden statt, weil sie ein wesentlicher Bestandteil des Wechselspiels zwischen Öffnung und Beschränkung sind. Beim Übergang vom Wirklichen zum Möglichen kommt es zu einem Zustand der Öffnung, der Überlagerung vieler gleichzeitig existierender Möglichkeiten. Beim Übergang vom Möglichen zum Wirklichen kommt es umgekehrt zu einer Beschränkung. Mit der Auswahl einer Möglichkeit wird den anderen Möglichkeiten die Verwirklichung versagt. Die ausgewählte Möglichkeit wird zu einem wirklichen Ereignis, nur um sich sofort wieder in eine Überlagerung von Möglichkeiten für den nächsten Kollaps zu verwandeln. Und dieser Reigen setzt sich unaufhörlich fort … Die Natur „wählt“ unaufhörlich, um sich selbst zu vereinfachen.“. Lee Smolin, Warum gibt es die Welt. München 2002. Demnach lassen sich alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten, Form- und „Landschaftsbildungen“ als makroskopische Zustände verstehen, die als „geronnene Wirklichkeit“ aus einem alles mit allem verbindenden Möglichkeitsfeld der Natur emergent hervorgegangen sind. Dieser Prozess steht nicht im Widerspruch zu den Gesetzen der Thermodynamik, weil die Ordnungsbil-

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dung, die Herausbildung der Wirklichkeit sich ausdifferenzierender Konstruktionsregeln und „gerinnender“ makroskopischer Formen und „Landschaften“ auch Energiegefälle hervorbringt, die Energieflüsse steigert und damit die Entropie im Universum erhöht. Dazu ausführlicher: Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. I: Das Werden der Kultur in der Natur. Amazon, Creative Space 2016. 2)

Vgl. Mae Wan Ho, Quantum Phases and Quantum Coherence. Institute of Science in Society (ISIS) Report 17. März 2004.

3)

Dafür sprechen auch Plausibilität und Anwendbarkeit von Theorien der Selbstorganisation, die aus der Physik und Chemie stammen, auf organische, kognitive und kulturelle Dynamiken. Der Biologe Andreas Weber hat dies mit Blick auf die Entwicklung des Lebens prägnant formuliert: „Ein Lebewesen wäre damit so etwas wie die Explikation einer eigentlich immer schon präsenten Wirklichkeit. Ein Organismus wäre weniger ein Widerspruch gegen die Physik als vielmehr die sicht- und spürbare Erscheinungsform ihrer tiefsten Realität.“ Andreas Weber, Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berlin 2008. Einen Schritt weiter spekuliert haben demnach alle nicht lebenden wie lebenden Systeme einen physikalischen „Charakter“, stellen temporäre Erstarrungen einer physikalischen, sowohl quantendynamischen (mikrokosmischen) wie auch nicht-linearen (makroskopischen) Netzwerkdynamik dar, in der alles mit allem in Beziehung steht. Aber ab der Entstehung des Lebens aufwärts reicht auch die moderne Physik nicht mehr aus, um diese Systeme hinreichend zu charakterisieren. Siehe unten.

4)

Zur Definition, Bedeutung und Funktion von Memen vgl. Susan Blackmore, Die Macht der Meme oder die Evolution von Kultur und Geist. Heidelberg 2000. Auch wenn strittig ist, ob Meme überhaupt existieren und wenn ja, worum es sich dabei genau handelt, werden sie hier hypothetisch als Deutungsmuster eingeführt, die in sich und miteinander dynamische semantische, auf Zeichen, Symbole und Sprachen gestützte Netzwerke darstellen, die als Medien kultureller Sinnkonstruktion und Gedächtnisbildung fungieren.

5)

Den Erkenntnissen moderner Lebenswissenschaften folgend beginnt „subjektiver Geist“ nicht erst beim Menschen, sondern charakterisiert schon das organische Leben der Pflanzen und Tiere und deren Verhalten. „Wir erleben uns nicht als Subjekte, weil wir mit Geist begabt sind, sondern wir sind mit Geist begabt, weil alles Leben Subjektivität ist … Der Prototyp aller Subjektivität ist somit eine Subjektivität des Körpers, nicht eine des Geistes.“ Andreas Weber, Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berlin 2008, S. 54. Eine Konsequenz dieser Sichtweise ist, dass ab der Entstehung des Lebens aufwärts alle Systeme – von den organischen über kognitive und kulturelle Systeme bis hin zu (zukünftigen) Systemen künstlicher Intelligenz – zusätzlich zu ihrer Charakteristik als physikalische Systeme auch als beobachtende und lernende Systeme und insofern als Ausprägungen subjektiven Geistes charakterisiert werden können. Das gilt auch schon für die Pflanzen, die als Sauerstoffproduzenten die Erde tiefgreifend mitgestaltet und die Evolution der Tierwelt ermöglicht haben. Auch ihre vielfältigen phänotypischen Formbildungen und hier insbesondere ihre Wurzeln und deren Verflechtungen bilden Netzwerke, in denen Nährstoffe und Informationen fließen und die pflanzlichen Organismen sich selbst organisieren und reproduzieren. Vgl. Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen. München 2018. Dazu auch David George Haskell, Der Gesang der Bäume. Die verborgenen Netzwerke der Natur. München 2017. Und es gilt natürlich für die weiteren evolutionär ausdifferenzierten Systeme des Lebens: die Tierwelt, die hier stattfindende organische und kognitive Evolution und die daraus hervorgegangene Menschenwelt, die Evolution der kulturellen Lebensformen – und vielleicht auch eines Tages für das im westlichen Pfad sich ausdifferenzierende System der Technik und artifiziellen Intelligenz. Siehe Exkurs und Best Case Szenario.

6)

Kultur ist darüber hinaus auch ein sich in Glaubenspraktiken selbst beobachtendes System, das sich in der kulturellen Evolution bis heute als Selbstbeobachtung/​reflexiver Geist erster Ordnung (Animismus), zweiter Ordnung (Religionen) und dritter Ordnung (post-religiöse Weltbilder) ausdifferenziert hat. Siehe weiter unten.

7)

Die Hypothese einer Kreativität des Genoms wurde von dem britischen Entwicklungsbiologen Enrico Coen in seiner Konzeption der Rolle homeotischer Gene entwickelt und vom Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer aufgenommen und ausführlich dargestellt. Beide sprechen von der „Kunst der Gene“ und deuten ihre chemisch definierte Selektivität als „Interpretation“. Vgl. Enrico Coen, The Art of Genes. Oxford 1999. Ernst Peter Fischer, Die Bildung des Menschen. Berlin 2004. Der Metaphorik von Coen und Fischer folgend, kann man die Aktivität des Genoms als „Malen“ im Sinne der Herstellung von unscharfen Entwürfen verstehen, die sich interaktiv mit Umweltdynamik gleichsam selbst präzisieren und eine explorative „Fähigkeit“ des organischen Lebens begründen. „Es lohnt sich, den Gedanken ernst zu nehmen, dass es eine Kreativität des Genoms gibt, die als ein interaktiver Prozess auf der Ebene der Gene und Proteine verstanden wird und das Vorhandene erst identifiziert und interpretiert und dann nach historischen (!) Vorgaben auf ihm aufbaut … Vielleicht entstehen wir (und andere Lebensformen) dank der Gene so wie die Werke eines Malers … Gene spulen keine Programme ab, Gene agieren vielmehr kreativ. Die Gesamtheit der Gene – das Genom – verfügt über Kreativität.“ Ernst Peter Fischer, Die Bildung des Menschen. Berlin 2004, S. 261–266. Ähnlich lassen sich die Kreativität, Adaptivität und Funktionalität neuronaler Netzwerke in der Verhaltensevolution beschreiben. In den Neurowissenschaften wird die Gesamtheit der neuronalen Vernetzungen und Wechselwirkungen im Nervensystem (Gehirn und Körper) eines Lebewesens – in bewusster Analogie zum Genom und zum Proteom und ihrer Plastizität in dynamischen Vernetzungen – als „Connectom“ bezeichnet und erforscht. Vgl. Human Connectome Project (HCP), Washington University in Saint-Louis, University of Minnesota, Oxford University Saint Louis University, Indiana University, University d’Annunzio, Ernst Strungmann Institute, Warwick University, Radboud University Nijmegen, Duke University u. a. Vgl. auch Sebastian Seung, Das Konnektom – Erklärt der Schaltplan des Gehirns unser Ich? Springer Spektrum, 2013. Jan Dönges: Der Schaltplan der Denkmaschine. In: spektrumdirekt, 18. März 2011. Wie genetische und neuronale ist auch die memetische Gedächtnisbildung der Kultur aktiv, kreativ und selektiv. Die memetischen Codierungen (Deutungsmuster) gehen emergent aus der extrasomatisch (durch Zeichen und Sprachen) gestützten Dynamik kultureller Lebensformen hervor und stellen eine höher geordnete Integration von Memen in der Selbstbeobachtung (z.  B. in Weltbildern, ‑modellen und Sinnentwürfen) dar, die als Handlungsgründe und ‑orientierungen in Praxis-

340

vollzügen der involvierten Individuen rückwirkend die Welt, aus der sie hervorgehen, mitgestalten und verändern. Dabei lassen sich aus den psychologischen Zustandsbeschreibungen der involvierten Individuen ihre zukünftigen Zustände besser ableiten, als aus einer noch so detaillierten Erfassung der Dynamik ihrer mikroskopischen Bestandteile: „Makroskopische Zustände wie Leidenschaften oder Überzeugungen sind nicht nur sprachliche Hilfsmittel, die die echten [mikroskopischen] Ursachen zusammenfassend beschreiben. Makroskopische Zustände sind selbst echte Ursachen.“ Simon de Deo, zit. nach Natalie Wocholder, Ist die Realität mehr als die Summe ihrer Teile? Von „Spektrum der Wissenschaft“ übers. und redigierte Fassung des Artikels „A Theory of Reality as More Than the Sum of Its Parts“ aus „Quanta Magazine“, Simons Foundation 2017. „Der Begriff der „kausalen Emergenz beschreibt die Annahme, dass handelnde Wesen wirklich existieren“ Einfach zu sagen ‚Meine Atome haben mich dazu gebracht, dies oder jenes zu tun‘ ist wahrscheinlich nicht die Wahrheit. Und das können wir vielleicht sogar bald nachweisen.“ Eric Hoel, zit. nach Natalie Wocholder, a.a.O. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob nicht (statt „kausaler Emergenz“) der Begriff „emergente Kausalität“ den Sachverhalt klarer einbeziehen kann, dass es eine evolutionär gewordene physikalische Welt (unser Universum) gibt, aus deren (mikroskopischer und makroskopischer) Dynamik emergent Leben und darin Kognition hervorgegangen sind. Aus der Dynamik und Evolution von Kognition und des dadurch geleiteten Verhaltens ist dann emergent die kulturelle Lebensform hervorgegangen. Alle vier, als „Puppen in der Puppe“ evolvierten Systeme folgen einer Finalität in Gestalt der (oben von Lee Smolin skizzierten) Balance von Öffnung und Schließung und haben in diesem Rahmen eine je eigene Welt von Vernetzungen, Interdependenzen und Kausalitäten hervorgebracht, die unterschiedlich zu rekonstruieren sind. Auf allen vier Ebenen entstehen Regel- und Gesetzmäßigkeiten, die die Komplexität physikalischer Dynamik reduzieren und makroskopische Zustände generieren, die einerseits zukünftige makroskopische Zustände in terms von Ursache und Wirkung vorhersagbarer und damit determinierter machen, andererseits aber auch neue Möglichkeitsfelder eröffnen, also Komplexität erhöhen. Dem entspricht, dass auf allen drei Ebenen der Evolution beobachtender Systeme – von dem System des organischen Lebens (Beobachtung erster Ordnung) über das kognitive System (Beobachtung zweiter Ordnung) bis zum kulturellen System (Beobachtung dritter Ordnung) – die Information zunimmt, aber (dank ihrer Integration und der hier ausdifferenzierten Gesetzmäßigkeiten) aus gegenwärtigen makroskopischen Formbildungen auf ihre zukünftigen Zustände mit gewissen Wahrscheinlichkeiten geschlossen werden kann. Vor diesem Hintergrund kann man die Hypothese aufstellen, dass in der evolutionären Dynamik „unseres“ Universums Kausalität emergent entsteht und sich ausdifferenziert, dass also physikalische, organische, neuronal kognitive und kulturelle Entwicklungen eine je eigene „emergente Kausalität“ aufweisen und eine je eigene Rekonstruktion verlangen. Folgt man Eric Hoel, so beweist seine Theorie, dass „höhere Ebenen von Systemen mehr kausalen Einfluss besitzen als die darunterliegenden Ebenen“ (Hoel, zit. nach Natalie Wocholder, a.a.O.) und dass es auf der bislang höchsten Ebene, nämlich in der kulturellen Welt handelnder und bewusster Lebewesen „Verursachungen“ gibt, die sie von allen evolutionär vorangehenden und einbettenden physikalischen, organischen und neuronalen Systemen unterscheidet. Diese spezifisch kulturelle Kausalität kann man vielleicht auch als „Handeln aus Gründen“ charakterisieren. 8)

Wilhelm von Humboldt folgend handelt es sich hier um Systeme, „die einen unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln“ machen. Zitiert nach Wolfgang Wieser, Gehirn und Genom. Ein neues Drehbuch für die Evolution. München 2007. Auch die derzeitige explosive Entwicklung von Algorithmen, ihre zunehmende Vielfalt und Verflechtung lassen sich als Konstruktionsregeln bzw. Handlungsanweisungen und ‑sequenzen im Rahmen einer westlichen, Umwelt objektivierenden und ‑nutzenden Mitgestaltung der Welt verstehen. Möglicherweise werden diese Algorithmen, die derzeit – im Vergleich zu den Konstruktionsregeln der Materie, des Lebens und der Kultur – primitiv sind, sich irgendwann zum System („Grammatik“) einer sich selbst organisierenden Technik verbinden. Siehe Exkurs weiter unten.

9)

Wie die moderne Physik zeigt, sind schon im prä-biologischen „Bildungsprozess“ von Materie-Information Möglichkeitsfelder und damit Unbestimmbarkeit und Zukunftsoffenheit gleichsam „eingebaut“. Es ist daher nicht überraschend, dass diese auch unter Bedingungen einer System-Umwelt-Trennung als nie hinreichende Bestimmbarkeit der Umweltdynamik durch das System und dementsprechend auch als Unschärfe des Systems selbst, seines subjektiven Geistes die Evolution des organischen Lebens, des Verhaltens und der Kognition wie auch der Kultur charakterisiert. Hier macht diese Unschärfe den subjektiven Geist flexibel, lernfähig und damit viabel. Das findet sich strukturähnlich auch in der wissenschaftlichen Begriffs- und Theoriebildung: „Wenn die Komplexität eines Systems zunimmt, wird unsere Fähigkeit geringer, präzise und zugleich signifikante Aussagen über sein Verhalten zu machen, bis ein Grenzwert erreicht ist, über den hinaus Präzision und Signifikanz (der Relevanz) sich nahezu ausschließende Charakteristiken werden … Je genauer man sich ein Problem der realen Welt anschaut, desto fuzziger wird seine Lösung.“ Lotfi Zadeh, zit. nach Ernst Peter Fischer, Die Bildung des Menschen. Berlin 2004, S. 413. Mehr zur Interpretation der prä-biologischen, biologisch-organischen und kognitiven Evolution als Voraussetzungen und Rahmungen kultureller Evolution findet sich bei Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. I: Das Werden der Kultur in der Natur. Amazon, Create Space 2016.

10)

Dabei scheinen die implizit ethischen Leistungen der reziproken Empathie zwischen den einander Nächsten, der reziproken Anerkennung zwischen einander Fremden und der gemeinsamen, sachgemäßen und differenzierten Objektivierung der Welt auch destruktive Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten, die durch einen (glaubenspraktisch erzeugten) Mangel an „Öffnung“ entstehen So können reziproke Empathie und Anerkennung die Bildung exklusiver Gemeinschaften stützen, deren Mitglieder nur das ihnen Ähnliche empathisch suchen, finden und schätzen und sich parteiisch oder sogar fanatisch ab- und ausgrenzend gegenüber den fremden „Anderen“ verhalten. Vgl. Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin 2017. Vgl. auch Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München 2017. Auch der objektivierende Weltbezug kann durch einen Mangel an Öffnung für Welterfahrung destruktiv werden und in Technokratie münden. Dazu mehr in Kap. IV.

341

II. Die „werdende Vernunft“ in der Kultur oder: wie wir von der kulturellen Evolution „gemeint“ sein könnten 1)

„Kohärenz“ hat hier gewisse Ähnlichkeiten mit ihrer Bestimmung in der Philosophie von Spinoza und von Alfred North Whitehead. Vgl. dazu Reiner Wiehl: „Für Whitehead ist Kohärenz die Grundbestimmung der Rationalität. Sie ist für ihn, den Mitbegründer der modernen mathematischen Logik, als Bestimmung der Rationalität wichtiger und grundlegender als die Bestimmung der logischen Konsistenz bzw. ihrer Verneinung, des Widerspruchs. Kohärenz ist die Grundbestimmung der Rationalität ungeachtet dessen, dass sie sich primär als Dunkelheit und Undurchsichtigkeit zeigt. Die Pointe in dieser Rationalitätsbestimmung liegt darin, dass Vagheit und Dunkelheit keine Irrationalitäten sind, sondern auf Gründen beruhen. Die Dunkelheit der Kohärenz bildet den Anlass und die Provokation für die Analysis. Kohärenz entspringt einer ursprünglichen Synthesis … Whitehead verwendet den Begriff der Kohärenz in einem sehr starken Sinne: Die Kohärenz von Gegebenheiten besagt, ihrem Begriff zufolge, dass die Gegebenheiten in ihrem bloßen Selbstsein, in ihrer Selbstreferentialität sinnlos sind, wenn diese ihre Selbstreferentialität nicht mit der des gesamten Mitgegebenen vernetzt ist. Um den Begriff der Kohärenz auf Luhmanns Systemtheorie zu beziehen: Kohärenz ist nichts anderes als die Kategorie Sinn, oder sie ist zumindest unmittelbar und direkt auf diese Kategorie bezogen.“ Rainer Wiehl, Zum Problem der Komplexität in den Systemtheorien Whiteheads und Luhmanns. In: Ders. Subjektivität und System, S. 390/​391. Deshalb kann man auch intuitiv von „Kohärenz“ in vielen Formbildungen sprechen. Z. B. Kohärenz von Lebensformen, der Persönlichkeit, des Handelns, des Denkens, des Gestaltens, einer positiven Integration des Verschiedenen u. a.

2)

Giorgio Agamben vergleicht die Suche nach Auswegen mit der Dichtkunst und dem Fest: Der Mensch ist „ein Wesen der Möglichkeit, der bloßen Potenz. Genuin menschlich ist einzig die Tätigkeit, die die Werke durch ihre Außerkraftsetzung wieder der Möglichkeit und einem neuen Gebrauch öffnet. Ein, wie mir scheint, schlagendes Beispiel ist die Dichtung. Was ist Dichtung anderes als eine sprachliche Operation, die darin besteht, die informativen und kommunikativen Funktionen der Sprache zu neutralisieren, um sie einem anderen Gebrauch zu öffnen: eben jenem Gebrauch, den man Dichten nennt? Ein weiteres Beispiel ist das Fest. Denn das Fest lässt sich nicht, wie in der kapitalistischen Gesellschaft, auf eine Unterbrechung der Arbeit reduzieren: Es besteht vor allen Dingen darin, das, was wir gewöhnlich machen, auf andere Weise zu machen, das heißt, zunichte zu machen oder unwirksam zu machen. Wenn man isst, dann nicht, um Nahrung aufzunehmen; wenn man sich kleidet, dann nicht, um sich vor Kälte zu schützen; wenn man Gegenstände tauscht, dann nicht, um zu kaufen oder zu verkaufen.“ Giorgio Agamben, Europa muss kollabieren. In: DIE ZEIT, Nr. 35. August 2015.

3)

Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Gütersloh 1981. Eine ähnlich akzentuierte Beschreibung des „träumenden Geistes“ als Zustand zwischen dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“ bietet Joseph Vogl, indem er diesen als Zwischenraum der reinen „schöpferischen Potenz und Kontingenz“, als „Zaudern“ an der Schwelle zwischen Handeln und Nichthandeln definiert. „Zaudern“ wendet sich“gegen die Unwiderruflichkeit von Urteilen, gegen die Endgültigkeit von Lösungen, gegen die Bestimmtheit von Konsequenzen … und das Gewicht von Resultaten … Das Zaudern hegt einen Komplexitätsverdacht; es folgt einer Arithmetik, die vom Hundertsten ins Tausendste geht“. Joseph Vogl, Über das Zaudern. Berlin 2007, S. 108. Vgl. auch Martin Seel, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste. Frankfurt/​Main 2014.

4)

Wolfram Eilenberger hat am Beispiel der berühmten Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer im März 1929 und mit Bezugnahme auf die Philosophen Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein den Zusammenprall zwischen zwei fundamental gegensätzlichen Visionen kultureller Entwicklung – zwischen einer Rekonstruktion der intellektuellen Bedingungen, unter denen sich der „Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen“ vollzieht (Cassirer) und einer Kehrtwendung zum Ursprünglichen, eines „Sprungs in eine andere Welt“ (Heidegger) – prägnant beschrieben. Vgl. Wolfgang Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929. Angesichts der gegenwärtigen Weltkrise bedarf es keiner Entscheidung zwischen diesen beiden Perspektiven, sondern einer Synthese, die ihre jeweiligen Grenzen zu überwinden sucht. Ansätze dazu finden sich u. a. schon bei Kant, Hegel und Marx, in der Geschichts- und Bildungsphilosophie von Georg Picht, in den philosophischen Reflexionen von Theodor W. Adorno, in der Rekonstruktion praktischer Vernunft von Jürgen Habermas, in der Sozialphilosophie von Hans Joas und in der objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann. Diese und weitere theoretische, philosophische und ethische Ansätze kann man als Beiträge zu einer post-religiösen Selbstbeobachtung westlicher Kultur verstehen, die teilweise konvergieren und sich ergänzen. Insofern und soweit diese sich um eine angemessene Komplexität bemühen und versuchen, Erfahrung und „Öffnung“ (zum „Nicht-Identischen“) mit Begrifflichkeit und „Schließung“ (in der Theoriebildung) auszubalancieren, kann man sie zu Recht auch als post-logozentrisch charakterisieren. Siehe Kap. III.

5)

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B  560–562. Ausführungen zur Freiheitskausalität finden sich auch in A532– A558, B586, ferner in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (dritter Abschnitt, S. 105–130) sowie in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV), A 169–179.

6)

„Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit, Denn eine Willkür ist sinnlich, sofern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert ist … Die menschliche Willkür ist liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.“ Kritik der reinen Vernunft (KrV), B 560.

7)

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Karl Vorländer, sechste Auflage. Darmstadt 1968, S. 17 ff. Vgl. hierzu auch Karl Hepfer, Die Form der Erkenntnis. Immanuel Kants theoretische Einbildungskraft. Freiburg 2006. Ferner Werner Euler, Natur und Freiheit. Kommentar zu den Einleitungen in Kants „Kritik der Urteilskraft“. Hamburg 2018.

342

8)

Oder anders ausgedrückt: Wenn für Kant der Kern der Aufklärung darin besteht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so ist das „zu wenig. Ich möchte mich auch meiner übrigen Sinne bedienen.“ Alexander Kluge, Der Mensch ist ein Fluchttier. In: Philosophie-Magazin, Nr. 04, 2017. Vgl. hierzu auch die Argumentation von Beate Rössler, Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben. Berlin 2017. Auch hier wird, wenn auch anders gefasst, ein Begriff persönlicher Autonomie entwickelt, der über die Begriffe von Selbstgesetzgebung und moralischer Autonomie hinausgeht.

9)

Georg Picht, Die Kunst des Denkens. In: Ders., Wahrheit, Vernunft und Verantwortung. Philosophische Studien. Stuttgart 1969, S. 430. Zu erinnern ist hier nochmals an Herders Idee, „den Begriff der Poesie in die Urszene der Religionsgeschichte einzuführen und Hume ein Unverständnis für Poesie vorzuhalten. Schon Hamann hatte in Anknüpfung an Humes Rationalitätskritik und gleichzeitiger Zurückweisung von dessen Religionsskepsis von der ‚Poesie als der Muttersprache des menschlichen Geschlechts‘ gesprochen.“ Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Alternative zu der Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, S. 53.

10) Dies hat, Georg Picht folgend, bis heute verhängnisvolle Konsequenzen für die westliche Kultur: „Die Tatsache, dass diese Theorie von Aristoteles nicht ausgeführt wurde, ist eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass die europäische Kultur die Technik geistig bisher nicht zu bewältigen vermochte, dass ihr eine ausreichende Theorie der Arbeit, dass ihr eine an den Produkten orientierte Theorie der Produktion fehlt, und dass wir erst heute – unbeholfen genug – darüber nachzudenken beginnen, in welchen Strukturen sich der Mensch bewegt, wenn er zugleich mit seiner Kultur auch seine eigenen Lebensbedingungen produziert und über seine eigene Zukunft verfügt. Die theoretische Vernunft betrachtet und analysiert das, was ist. Die praktische Vernunft entwirft die Regeln unseres Verhaltens. Aber das unheimlichste und tiefste von allen menschlichen Vermögen, nämlich das Vermögen, solches hervorzubringen, was zuvor nicht da war, ja eine künstliche Welt zu erbauen, wurde bisher noch nicht als eine ursprüngliche Gestalt der menschlichen Vernunft begriffen, in seinen eigentümlichen Differenzierungen und Strukturen dargestellt und im Verhältnis zu den beiden anderen Gestalten der menschlichen Vernunft, nämlich der theoretischen und der praktischen Vernunft bestimmt. Kein Wunder, dass es uns bis zum heutigen Tage an Kriterien fehlt, nach denen sich ermitteln ließe, was in dem nahezu unbegrenzten Felde dessen, was Wissenschaft und Technik produzieren könnten, nach Regeln der Vernunft produziert werden soll. Die allgemeine Theorie der Produktion wäre eine der Grundwissenschaften der modernen Welt.“ Ebd., S. 429. 11) John R Searle, Wie wir die soziale Welt machen – Die Struktur der menschlichen Zivilisation. Berlin 2013. 12) James Surwiecki, The wisdom of crowds. New York 2005. 13) Emile Durkheim hat dies mit Blick auf Gesellschaftsbildung präzise formuliert: „Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne gleichzeitig Ideale zu erzeugen. Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit der sie sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, sie stellt vielmehr den Akt dar, mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert. (…) Die ideale Gesellschaft steht nicht außerhalb der wirklichen Gesellschaft; sie ist ein Teil von ihr; statt zwischen ihnen geteilt zu sein, wie zwischen zwei Polen, die sich abstoßen, kann man nicht der einen angehören, ohne auch der anderen anzugehören.“ Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912). Frankfurt/​Main 1981, S. 565 f. Zit. nach Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zu der Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, S. 123. Zu ergänzen ist allerdings, dass diese, der kulturellen Lebensform immanenten Glaubenspraktiken, Narrative, Interpretationen und Ideale mehr oder weniger stark die Komplexität der Wirklichkeit reduzieren und verzerren können und die hier erzeugten Vereinfachungen als „negative Ideale“ die Anläufe zur (reflexiv begründeten) Mitgestaltung unserer kulturellen Lebensformen in verhängnisvoller Weise fehlorientieren können. Das gilt für viele Ausprägungen religiöser wie auch post-religiöser Selbstbeobachtung und Glaubenspraktiken: z. B. für die menschen- und kulturfeindlichen Anteile in den moralischen Idealen des Christentums und des Islams wie auch für die politischen Ideale des Nationalismus und die ökonomischen Idealvorstellungen in den Narrativen des Neo-Liberalismus. 14)

Reiner Döbert, Systemtheorie und Entwicklung religiöser Deutungssysteme. Zur Logik des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus. Frankfurt/​Main 1973. Wie schon angedeutet können auch post-religiöse, politische, ökonomische und polit-ökonomische Weltbilder wie z. B. die Sakralisierung des Marktes als „kontrafaktische Stabilisierungsmechanismen“ wirken. Dazu mehr in Kap. IV.

15)

Die These, dass Glaubenspraktiken in der Verselbständigung ästhetischer Leistungen und in der Verallgemeinerung normativer Gehalte der Alltagspraktiken zu kohärenten Weltmodellen ihren Ursprung haben, lässt sich bekräftigen durch eine Formulierung von Johann Georg Hamman, der die Poesie als ‚Muttersprache des menschlichen Geschlechts‘ charakterisiert hat. Zit. nach Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zu der Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, S. 53. Die differenzierte und brillante Rekonstruktion der Sakralisierung und des „Heiligen“ von Hans Joas wird uns später noch beschäftigen.

16) Auch die personbezogene leidenschaftliche Liebe, wie sie im Zuge der evolutionären Ausdifferenzierung sozialisatorischer Praxis und personaler Subjektivität entstanden ist, ist so autonom und individuell, dass sie nicht mehr in der Befolgung allgemeingültiger gesellschaftlicher Konventionen, sondern nur durch Entwicklung einer eigenen, nur begrenzt intentional ausgestalteten Handlungslogik und Sprache sich reproduzieren, differenzieren und stabilisieren lässt. Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/​Main 1982. 17) Empathie und darin begründete Verantwortlichkeit und Fürsorge bilden eine implizite Ethik sozialisatorischer Praxis, die sich nicht nur diesseits einer an allgemeinen Regeln orientierten kognitivistischen Moral als vermeintlich höchster Stufe der Moralentwicklung (Lawrence Kohlberg), sondern auch jenseits dieser verorten lässt. Vgl. Carol Gilligan, In a Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development. Cambridge 1982. Auch im Rahmen der Gesellschaftsbildung, in den

343

Vollzügen reziproker Anerkennung und im Bemühen um Gerechtigkeit bedarf es einer Balance zwischen rückhaltloser empathischer Öffnung für den Einzelfall und Schließung in der Befolgung gemeinsam geteilter und universalisierbarer Regeln. Das wirft, wie versucht wurde zu zeigen, auch ein kritisches Licht auf die Kantische praktische Vernunft und Ethik und ihre Fixierung auf universalisierbare Regeln. In empirischer soziostruktureller Sicht kann Empathie die Entstehung von Gemeinschaften befördern, die hin zur Gesellschaftsbildung Brücken bauen. Diese grenzüberschreitenden und brückenbauenden Gemeinschaftsbildungen sind auch in einer modernen Gesellschaft unverzichtbar. Vgl. Hillary Putnam, Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community. New York 2000. Das setzt allerdings voraus, dass Empathie nicht bloß das Eigene im Anderen sucht und so Gemeinschaftsbildung exklusiv macht. Vgl. Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin 2017. 18) Riane Eisler, The real wealth of Nations. Creating a caring economics. San Francisco 2007. 19) (Wirkliche) Liebe ist die radikalste, absoluteste Form der Anerkennung des Anderen im Anderen, bildet als rückhaltlose Öffnung zum Nicht-Identischen einen Entwicklungsraum für angemessene Erkenntnis und „werdende Vernunft“ und entwickelt sich wie jede schöpferische Aktivität im Neuanfang und Brechen von Regeln. So kann man vielleicht sagen: „Liebe und Vernunft sind ein und dasselbe“ (Blaise Pascal). Oder vorsichtiger formuliert: Die Nächstenliebe ist eine evolutionär frühe, fundamentale Ausprägung „werdender Vernunft“. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie dieser handlungslogische und implizit ethische Kern kultureller Lebensform unter dem Regime des Patriarchats – vom moralischen über das politische bis zum technokratischen und wirtschaftlichen Patriarchat – beschädigt wird. Dazu mehr in Kap. IV. 20) Das wird, den Analysen von Jan Assmann folgend, in der Bedeutung und Funktion von Gerechtigkeit als „Ma’at“ in der ägyptischen Kultur deutlich: „Gerechtigkeit ist der Zentralbegriff, der die Sphären von Recht, Religion und Moral aneinander bindet. Gerechtigkeit leitet das Urteil der Richter, lenkt das Handeln der Könige, führt die Menschen auf ihren Wegen und ist das Prinzip, das die Folge an die Tat bindet. Sinn und Gerechtigkeit ist also ein und dasselbe … ‚Ma’at‘ ist der Name einer ägyptischen Göttin, die in enger Beziehung zum Sonnengott steht, es ist ein abstrakter Begriff, den man annäherungsweise mit Wahrheit, aber auch mit Weisheit und mit Gerechtigkeit übersetzen kann und es ist der Vollzug des „Guten“ in der Alltagspraxis, indem hier jede Handlung mit ihresgleichen vergolten wird. Als Lehre vom Zusammenhang der guten Tat mit ihrer entsprechenden Erwiderung prägt „Ma’at“ die explizite Ethik der herrschenden Schichten, die von ihnen fordert, die Folgen sozialer Ungleichheit zu mildern und die Armen zu schützen, um im Gegenzug deren Loyalität zu sichern“. Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München 2006, S. 23 ff. Ma’at speist sich nicht aus der Empathie für den Anderen in den Nahbeziehungen sozialisatorischer Gemeinschaften, sondern aus dem gemeinsamen Bemühen um „Gelingen“, Friedlichkeit und Stabilität gesellschaftlicher Beziehungen. Wo „Ma’at“ nicht vollzogen wird, herrscht ihr Gegenteil, „Isefet“ die unkontrollierte Gewalt zwischen den Menschen.“ A.a.O. Auch „Ma’at“ ist ein Beispiel dafür, wie Glaubenspraxis eine evolutionär ausdifferenzierte „Logik“ der Alltagspraxis, hier die „vertikale Solidarität“ der Reichen mit den Armen zu einer Konstruktion des „Ganzen“ verallgemeinert, als universale Ethik expliziert und auf diese Weise die gesellschaftliche Praxis und ihre Entwicklung bahnt und stützt, legitimiert und orientiert. Auch auf der kosmischen Ebene ist „Ma’at“ nicht einfach da, sondern eher ein immer wieder zu vollziehender Prozess, der im Sieg über die drohende Gewalt durch Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens „gelingen“ muss. Insofern ist der Staat in Ägypten eine „Heilsinstitution“ (Assmann), notwendige Ergänzung der Schöpfung und (nur) der König ein Bindeglied zu den Göttern, während „Ma’at“ ein Werden des Guten und Rechten zwischen den Menschen ist. Erst später tritt der Wille Gottes an die Stelle des „Ma’at“ und es entsteht eine „fromme“ Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott. 21)

Ähnlich formuliert Hans Joas in Auseinandersetzung mit Emile Durkheim: „Zu einer Gesellschaft –heißt das – gehört zentral die Idee, die sie sich von sich selbst macht und der sie nicht notwendig entspricht. Der Prozess der Entstehung von Idealen ist mit dem Prozess der Entstehung des Selbstbilds von Kollektiven verknüpft. Darin liegt die Chance zur Selbstveränderung der Kollektive im Sinne ihrer Ideale, aber auch die Gefahr einer Verwendung der Ideale für die Selbstsakralisierung des Kollektivs.“ Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, S. 123. Auf beide Auswirkungen der Idealbildung – geistige Weiterentwicklung und geistige Gewalt – kommen wir später zurück.

22) Hochkulturelles Gerechtigkeitsempfinden bezieht sich auf die soziale Position und erzeugt eine vertikale Solidarität, der zufolge jeder das bekommen soll, was ihm aufgrund seiner Position in der Gesellschaft zukommt. Diese Vorstellung, die heute noch in neo-liberalen Vorstellungen von Leistungsgerechtigkeit weiterwirkt, ist von einem modernen, auf horizontale Solidarität, auf Gleichheit und Chancengleichheit gestützten Gerechtigkeitsempfinden noch weit entfernt. 23) Heute können die Digitalisierung und der Einsatz digitaler Methoden, z. B. algorithmusbasierte Analysen, die aus Millionen von Texten und Dokumenten aller Art neue Perspektiven auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eröffnen, neue Verbindungen und Verwandtschaften zwischen den Kulturen, neue geschichtliche Verknüpfungen und Gemeinsamkeiten kulturspezifischer Deutungsmuster erschließen. Damit können sie dazu beitragen, unserer kulturellen Selbstbeobachtung und Orientierungsfindung neue Dimensionen zu eröffnen, diese auf ein Niveau zu heben, das sich als eine „Selbstbeobachtung vierter Ordnung“ charakterisieren lässt. Das wird in Kap. III genauer beschrieben. 24) Das „systemisch Gute“ und die Möglichkeit von Fortschritt im Sinne der skizzierten Aufwärtsspirale „werdender Vernunft“ kann als normativer Bezugsrahmen einer Rekonstruktion und Kritik des „systemisch Bösen“ und der hier sich herausbildenden Abwärtsspirale einer „beharrenden“ und „werdenden Unvernunft“ dienen. Dazu mehr in Kap. IV.

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25) Diese Charakteristik ist freilich ein idealisiertes Modell, das unterstellt, dass Kultur das Potential hat, als „Lebenskunst“ und „werdende Vernunft“ zu gelingen, sofern die Vollzüge der Alltags- und Glaubenspraktiken und damit das Fühlen, Denken und Handeln der involvierten Individuen eine dynamische Balance von Öffnung und Schließung realisieren. Wie schon mehrfach angedeutet, scheinen hier die Glaubenspraktiken einen „Knackpunkt“ zu bilden. Wenn in Glaubenspraktiken Öffnung oder Schließung dominieren, kann die kulturelle Lebensform nicht gelingen: im ersten Fall droht sie sich mangels stabiler Eigengesetzlichkeit wieder aufzulösen, im zweiten Fall wird sie mangels Lern- und Wandlungsfähigkeit „erstarren“. In der kulturellen Evolution scheint bis heute das Gelingen kultureller Alltagspraktiken und Lebensformen vor allem durch „ungekonnte“, logozentrische Schließung der Selbstbeobachtung in Glaubenspraktiken gefährdet zu sein. Dazu ausführlicher in Kap. IV. 26) Zumindest im europäischen und im nahöstlichen Pfad haben neben Feudalherrschaft, Ausbeutung und Armut auch die Dominanz logozentrischer Schließung und rigider Moralisierung in den religiös monotheistischen, insbesondere christlichen und islamischen Glaubenspraktiken die hochkulturelle Lebensform in langen Zeiten und für große Anteile der Bevölkerungen zu einem Zwangszusammenhang gemacht. In diesem Rahmen blieben die Ausdifferenzierungen ästhetischer Welterfahrung und objektivierten Wissens, die Entfaltung und Bildung der Menschen auf privilegierte Gruppen und Individuen begrenzt und damit die Entwicklung von „Lebenskunst“ in den Bevölkerungen weitgehend blockiert. Darüber hinaus haben politisches Patriarchat, moralischer Logozentrismus und die dadurch geleiteten „starken“, nur begrenzt lernfähigen Organisationen die hochkulturelle Entwicklung in Europa auf einen Pfad der inneren Erstarrung und der imperialen Gewalt und Destruktion nach außen und schließlich auch der Selbstdestruktion geführt. Gleichwohl dienen das hochkulturelle, religiös gestützte politische Patriarchat und sein territorialer Imperialismus bis heute noch (z. B. in Russland) als historisches Vorbild. Dazu mehr in Kap. IV. 27)

„Zeitgeist“ gehört als „latenter Sinn“ zum Möglichkeitsfeld der Kultur, nämlich einer hochkomplexen Fluktuation und Dynamik, Verflechtung und Wechselwirkung geistiger Form- und Landschaftsbildungen, die ein mediales Substrat jeweils gegenwärtiger Praxisvollzüge bildet, in denen sich komplexitätsreduzierende und ‑eröffnende Deutungsmuster als „manifester Sinn“ herausbilden, sich überlagern und vermischen und so den „Zeitgeist“ reproduzieren und verändern.

28) Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. 1954 Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung und Durchsetzung des Christentums bis hin zur Staatsreligion im römischen Reich, die sich auch ganz wesentlich seiner synthetisierenden und kohärenzerzeugenden Leistungen verdankte. Beispiele für post-religiös begründete Erwartungshorizonte waren Nationalismus und Sozialismus und heute vielleicht demokratischer Rechtsstaat und Europa, auf die wir noch zurückkommen. 29) Auch und insbesondere im spätkulturell westlichen Pfad haben sich logozentrische (religiöse und post-religiöse) Glaubenspraktiken herausgebildet, die die Lernfähigkeit, Viabilität und Humanität westlicher und sich verwestlichender Kulturen gefährden. Dabei ist die Befürchtung berechtigt, dass die sich derzeit in der vierten industriellen Revolution, in der Durchdringung der Kultur durch artifizielle Intelligenz anbahnende Systembildung der Technik mit einer „Landnahme“ technomorphen Fühlens, Denkens und Handelns der Menschen, insbesondere der Funktionseliten verbunden ist, die hier zu einer Dominanz kognitiver Schließung führt und in einen neuen technokratisch ausgestalteten Logozentrismus mündet. Dazu mehr in Kap. IV und im „worst case Szenario“ der Zukunft westlicher Kultur.

III. Die befreiende Ethik nicht-logozentrischer Glaubenspraktiken oder: wie wir von der Evolution westlicher Kultur „gemeint“ sein könnten 1)

Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer Freiheit der persönlichen Willensbildung und einer Freiheit zur persönlichen Teilhabe an kollektiver Meinungs- und Willensbildung und mit Blick auf beide zwischen Faktizität und Anspruch. Selbst wenn eine vollkommene Freiheit persönlicher Willensbildung, wie Ergebnisse der Hirnforschung nahelegen, nicht gegeben, sondern eher Ergebnis sich selbst organisierender „Spiele“ und Interaktionen unserer neuronalen Netzwerke ist, bleibt entscheidend, ob und in welchem Umfang die kulturelle Lebensform gewährleistet, dass unsere neuronalen Netze dieses Spiel auch spielen können. Darüber hinaus prägt und mitgestaltet die persönliche Freiheit als Anspruch und regulative Idee das Fühlen, Denken und Handeln der Individuen. Ähnlich ist die (politische) Freiheit zur Teilhabe und Mitgestaltung der kulturellen Lebensform nie vollständig zu verwirklichen, beeinflusst aber als Anspruch und Zielsetzung die institutionelle Ausgestaltung der kulturellen Lebensform und das Fühlen, Denken und Handeln der involvierten Individuen. In diesem Rahmen hat heute die Frauenbewegung eine große, vielleicht für die Zukunft der Menschheit entscheidende Bedeutung. Denn hier werden das gesellschaftsbildende Regulativ der reziproken Anerkennung und Gerechtigkeit in der aktuellen Forderung nach Gleichberechtigung in allen Bereichen der Kultur „ausbuchstabiert“ und zunehmend im Rechtssystem, in der Politik, in der Wirtschaft, in Wissenschaft und Kunst durchgesetzt. Und damit verbunden wird heute eine Vielfalt und Differenzierung weiblicher Lebens‑, Gefühls- und Denkformen freigesetzt, die zur flüssigen Fundierung kultureller Lebensformen und darüber hinaus zur Entwicklung einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung (nach Beseelung, Moralisierung und Objektivierung der Welt) und einer „vierten Kultur“ im westlichen Pfad ganz wesentlich beitragen könnten.

2)

Schon vor den Griechen gab es in der frühkulturellen Entwicklung (z. B. in afrikanischen Stämmen, in südamerikanischen pueblos) und in verschiedenen Hochkulturen (z. B. bei den Phöniziern) eine in Anteilen demokratisch organisierte politische Steuerung und Handelsökonomie, aber erst in den „Gefäßen“ der antiken griechischen Stadtstaaten und ihrer Handelsbezie-

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hungen können diese Praktiken erstmals zu Konstruktionsregeln einer kulturellen Lebensform „erstarren“ und sich weiter ausdifferenzieren. 3)

Wie schon gesagt, kennzeichnet das Zusammenspiel der drei Kräfte – Entstehung und Ausdifferenzierung von Systemen, phänotypische Dynamik und Eigengeschichte kultureller Form- und Landschaftsbildungen sowie ihre intentionale, durch Selbstbeobachtung, Glaubenspraktiken und ‑inhalte geleitete Mitgestaltung – generell kulturelle Evolution. Aber in der spätkulturellen Evolution demokratisiert sich diese Mitgestaltung in Richtung auf Universalinklusion (ohne diese vollständig zu realisieren) und lässt eine Bürgerrolle und –praxis entstehen, die (im Anspruch und als Regulativ) einer Sittlichkeit folgt, die, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die implizite Ethik der kulturellen Alltagspraktiken reflektiert und expliziert.

4)

Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. München 2002, S. 128.

5)

Jan Assmann, ebd., S. 128. Hypolepse lässt sich auch als eine fließende, immer erneut nach Wurzeln und Anschlüssen in der Vergangenheit suchende Selbstvergegenwärtigung und Identitätssuche (einer Kultur wie auch einer Person) verstehen: ein Suchen nach Anfängen (des Eigenen wie auch des Anderen) im Bewusstsein, dass es diese Anfänge im strengen Sinn gar nicht gibt. Vgl. Jürgen Kaube, Die Anfänge von allem. Berlin 2017. Hypoleptische Gedächtnisbildung und ihre vielfältigen Erzählungen gehören (nach Beseelung, Moralisierung und Objektivierung der Welt) zu einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung” die sich beginnend in der griechischen Aufklärung im westlichen Pfad bis heute weiter ausdifferenziert hat und der westlichen Lebensform ein „flüssiges Fundament“ verleiht.

6)

„Sobald die Verfahren der Schrift in Erscheinung treten, kommt es zu einer Veränderung, die dahin tendiert, der Stärke die Macht zu entziehen und sie auf die Kenntnisse zu übertragen. Die Technologien der Intelligenz wirken schwerer als die physischen Mittel der Herrschaft.“ Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie. Frankfurt/​Main 2009, S. 536.

7)

Was heute eine digital gestützte „lernende Organisation“ Europas in den drei genannten Bereichen – der politischen Steuerung, der Organisation wirtschaftlicher Leistung und der Bildung und Qualifikation – bereits leistet und darüber hinaus in Zukunft leisten könnte, wenn es gelänge, in Europa einen „dritten Weg“ der Digitalisierung – zwischen Enteignung und kapitalistischer Ausbeutung von Daten (Modell USA) und ihrer Nutzung zur autoritären Überwachung, Kontrolle und Steuerung der Völker (Modell China) – zu finden, wird in Kap. VI. beschrieben.

8)

In die weiteren „Inselbildungen“ sozialer Integration durch (teil)demokratische Konfliktbearbeitung und Bürgerrolle in Europa flossen (vermutlich schon bis in Frühkulturen zurückreichende) Keimbildungen wie z. B. die fränkischen Genossenschaften seit dem dritten Jahrhundert, bei den Normannen seit dem 9. Jahrhundert n.Chr. ein. Vgl. hierzu Wolfgang Fikentscher, Anthropologie der Körperschaft. München 1995

9)

Vgl. Yuval Noah Harari, Homo Deus. A brief history of tomorrow. New York 2016. Zur Rolle artifizieller Intelligenz mehr weiter unten.

10) Vgl. Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Revidierte und ergänzte Ausgabe. Frankfurt/​Main 1972. Ders. Warenform und Denkform. Aufsätze. Frankfurt/​Main 1971. „Die Abstraktion ist also Wirkung eines faktischen, raumzeitlichen, geschichtlichen, dem gesellschaftlichen Sein, nicht dem Bewusstsein angehörigen Vorgangs. Freilich dem gesellschaftlichen Sein angehörig, nicht dem natürlichen. Denn das bedeutet, dass die Abstraktion nur für Menschen Wirksamkeit besitzt, nämlich nur für Wesen, für die das zugrundeliegende Tun den Sinn der Tauschhandlung oder das dabei verwendete Gold den Sinn des Geldes hat, also nicht z. B. für den Hund, der seinen Herrn auf den Markt begleitet. Die Abstraktion existiert also überhaupt nur für uns, das heißt nirgend anders als in unserem Denken, als eine historische und gesellschaftliche, allen … Geldhändlern gemeinsame Bestimmtheit des Denkens. Durch erfolgreiche Reflexion kann dieselbe abgesondert werden. Die Existenz der Abstraktion in abgesonderter Form ist somit abstrakte menschliche Denkform, nichts anderes, nicht z. B. eine dingliche Formeigentümlichkeit der Tauschobjekte und noch weniger der Naturobjekte, wie die Vulgärmaterialisten aller Zeiten meinen.“ Alfred Sohn-Rethel, ebd., S. 124/​125. 11) Das Theater blieb einerseits als „Katharsis“ eine Form der alten rituellen Glaubenspraxis und einer moralischen Erziehung, gehörte aber andererseits durch die Trennung von Akteuren und Zuschauern, denen es zeigt, was geschieht und was dem Geschehen zugrunde liegt, schon zu einem Bemühen, das Weltgeschehen angemessen, in ästhetisch kohärenter Form zu interpretieren und darüber aufzuklären. In der griechischen Tragödie ist „kátharsis“ als das Gute, das sich im Teilnehmer infolge der rituellen Reinigung durch Ausscheiden und Wegwerfen des Bösen („katharma“) einstellt, schon mit ästhetisch gelungener Formbildung und Aufklärung durch Erzählung einer exemplarischen Geschichte für ein reflektierendes, sich selbst und seine Welt beobachtendes Publikum verflochten. Als ritueller Nachvollzug des Opfers verbindet auch die Tragödie die Herstellung bzw. Befestigung der gutartigen Ordnung (das Apollinische) mit einer „Öffnung“, sich dem Abgründigen (dem Dionysischen) auszusetzen. Und wie in der Opferung steht auch in der Tragödie dank Dramaturgie der letztendliche Sieg der Ordnung, in die sich die Individuen zu fügen haben, außer Zweifel. Aber in den Vollzügen des „Theater-Spielens“ wird die Unterscheidung zwischen handelnden und nicht-handelnden Beteiligten anders ausdifferenziert: indem diese mit einem Handeln konfrontiert werden, das als Simulation (von Schauspielern) erkennbar ist, werden sie zu Zuschauern. Insofern wurde hier, mit der Trennung von Akteuren und Zuschauern im Theater, sowohl der Weg zum kritischen philosophisches Fragen nach dem, was einem Geschehen „wirklich“ zugrunde liegt, wie auch der Weg zur Kunst als einer (von Alltags- wie Glaubenspraktiken abgelösten) Erzeugung fiktiver (ästhetisch kohärenter) Realitäten schon gebahnt. Dabei kann die Tragödie, jenseits ihres tragischen Kerns in Gestalt der unausweichlich falschen Wahl ihrer Hauptpersonen, an die intuitive Sittlichkeit der Zuschauer anknüpfen und ihnen nicht nur Wirken und Geltung des Wahren und Guten vor Augen führen, sondern sie auch für die Erfahrung des Nicht-Identischen öffnen, indem sie ihnen bereits etwas von der unauflösbaren Kontingenz der Alltags-

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praktiken, der Vielfalt von Möglichkeiten, der Pluralität von Perspektiven und der Kollision von Interessen und den großen Auswirkungen kleiner Ereignisse erzählt. 12) Zum „systemisch Guten“ und zur „werdenden Vernunft“ gehört auch die christliche Liebesethik, die – vom Urchristentum über die Bruderschaftsethik in den frühneuzeitlichen Städten bis zur christlichen Laienpraxis heute – an der Subversion des Logozentrismus in seinen religiösen und post-religiösen Ausprägungen mitwirkt. 13) Zur (An)erkenntnis der Freiheit des „Anderen“ der Mitnatur wie auch der inneren Natur können heute auch die Irritationen beitragen, die sowohl vom modernen physikalischen Weltverständnis wie auch von einem neurowissenschaftlich begründeten Selbstverständnis ausgehen, indem sie darauf hindeuten, dass Mitnatur wie auch menschliche Natur grundlegend anders zu sein scheinen, als ihre bisherigen Vorstellungen und Modelle nahelegen. Das gilt auch für die philosophische Reflexion der Rolle der Vernunft in der kulturellen Lebensform. Hier wird bis heute die kulturkonstituierende Rolle der „poiesis“ als einer „kreativen Vernunft“ der kulturellen Lebensform im Vergleich zu den Rekonstruktionen theoretischer und praktischer Vernunft (z. B. bei Kant wie auch in modernen Gesellschafts- und Wissenschaftstheorien) nicht immer angemessen gewürdigt. Siehe weiter unten. 14) Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 2000, S. 240. Zit. nach Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. München 2009, S. 286. 15)

„Kommunalismus umschließt Stadtgemeinden und Landgemeinden als funktional und institutionell im Prinzip analog aufgebaute Verbände, geprägt durch Satzungskompetenz der Gemeinde bzw. ihrer repräsentativen Organe, Verwaltung im Rahmen des von en Satzungen gedeckten Kompetenzbereichs und Rechtsprechung im Rahmen des gesetzten Rechts.“ Peter Blickle, Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform. München 2000, S. 1. Zit. nach Mitterauer, a.a.O., S. 284.

16) Mitterauer, a.a.O., S.  36. Landwirtschaftliche Innovationen gab es etwa zur gleichen Zeit in islamischen Kulturen und im chinesischen Kulturraum, aber „eine Begünstigung gewerblich-industrieller Folgeentwicklungen lässt sich bei den drei Agrarrevolutionen des Frühmittelalters nur in Europa feststellen.“ Mitterauer, a.a.O., S. 37. Nur hier konnten sich die technischen und gewerblichen Rationalisierungen mit emanzipatorischen Entwicklungen in den sozialen Strukturen – mit mehr Freiheitsspielräumen, Selbstbestimmung und wohl auch Selbstbewusstsein – verbinden: „Aus Knechten wurden Bauern. Die Grundlage bildete ein Abkommen über feste Abgaben gegen Rodeleistung. Das waren, mündlich oder schriftlich, Ansiedlungsverträge, wie man im Rückblick sagen kann. Vertragspartner sind in einem gewissen Sinn Gleichgestellte. Die neue Wirtschaftsweise hob ihre Träger aus der unbegrenzten Bindung an ihre Herren. Arbeit und Boden wurden Vereinbarungsobjekte … Auf jeden Fall wurde hier wahrhaftig ‚der Boden bereitet‘ für die neue Welt, für die bürgerliche Freiheit, die bürgerliche Wirtschaft, für den viel berufenen rationalen Trend in der europäischen Gesellschaft und für die künftige Macht des solcherart erworbenen Geldes, denn etwas Anderes als das hatten die neuen Bürger nicht einzusetzen für die Sicherung ihrer Daseinsrechte: nicht die Macht der Schwerter, nicht uralte Herrschaftsmythen, nicht sakrales Ansehen, nicht blaues Blut.“ Ferdinand Seibt, Die Begründung Europas. Frankfurt/​Main 2004, S. 25–27. Eine ähnliche Entwicklung vom Leibeigenen über den Bauern zum Bürger hat in vielen asiatischen Ländern erst im 20. Jahrhundert begonnen und mündet heute in einen beispiellosen Aufholprozess und Abkürzungsweg von der ersten bis zur vierten industrieellen Revolution, die wachsende Anteile der Bevölkerungen von Hunger und Armut befreit, ihnen mehr Wohlstand, Bildung und Freiheitsspielräume verschafft und damit verbunden nicht nur ihr Selbstbewusstsein als Wirtschaftsakteure, sondern auch ihr kritisches Bewusstsein mit Blick auf ihre politischen Führungen wachsen lassen. Solche Entwicklungen finden sich in Ansätzen in vielen asiatischen Ländern, werden aber teilweise auch durch religiösen Konservativismus und Ablehnung des Materiellen, durch autoritäre Strukturen und Mentalitäten, Anti-Individualismus, Bildungs- und Wissenschaftsfeindlichkeit gehemmt. Das gilt u. a. für manche islamischen Kulturen, obwohl diese schon im Mittelalter eine ausgeprägte und differenzierte Wissens- und Wissenschaftskultur entwickeln konnten. Siehe weiter unten. 17) Max Weber folgend kann man die hier sich herausbildende Alltagspraxis und ihre strenge, einer Liturgie ähnliche Regelung auch als einen Vorläufer des „Amts“ und der „Amtspflichten“ in der bürgerlichen Gesellschaft verstehen. Das „ora et labora“ war als Leitorientierung der mönchischen Lebensform eine Innovation, die einen Ausweg aus dem Zer- und Verfall der alten Ordnung eröffnete, bevor sie zur Maxime bürgerlicher Lebensform wurde. Vgl. auch Giorgo Agamben, Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Frankfurt/​Main 2012. Für Agamben ist die mönchische Praxis auch ein Modell, aus dem sich heute lernen lässt, statt Kampf und Revolution einen Ausweg aus der Gesellschaft und für deren Veränderung zu finden. Darauf kommen wir später, in den Überlegungen zur „vierten Kultur“ und damit verbunden zum „Design“ einer Tätigkeitsgesellschaft und Netzwerkökonomie zurück. 18) Eine angemessene Analyse und exakte historische Verortung der vielfältigen Ausprägungen und Verzweigungen der Alltagspraktiken, der religiösen und post-religiösen Glaubenspraktiken und ihrer Niederschläge im Zeitgeist, im Bewusstsein und in den Lebensstilen der (gebildeten) Menschen, die in der Literatur u. a. als städtische Intellektualität, Humanismus, Renaissance, wissenschaftliche Revolution, Aufklärung und Romantik beschrieben werden, kann hier nicht geleistet werden. Dazu etwas ausführlicher: Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. II: Das Systemisch Gute in der Kultur. Amazon, Creating Space 2016. 19) Staatlichkeit lässt sich systemevolutionär im Rahmen der Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems und hier co-evolutionär mit Markt, Demokratie und Recht rekonstruieren. Ferner kann man den Nationalstaat auch als territoriale „Gefäßbildung“ für diese spätkulturelle Systemdifferenzierung wie auch für bürgerliche Mentalität und Bewusstseinsbildung in Europa und darüber hinaus verstehen. Schließlich lassen sich die phänotypischen Ausprägungen der Staatlichkeit – von den frühneuzeitlichen Stadtstaaten über Fürstentümer, Absolutismus und Nationalstaaten bis hin zu den Ansätzen post-nationaler

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Staatlichkeit – auch als Entwicklung mitgestaltender, lernender Organisation politischer Steuerung empirisch beschreiben. Die vorliegende Darstellung versucht, diese Perspektiven skizzenhaft miteinander zu verknüpfen. 20) Diese Darstellung folgt Manfred Groten, Die deutsche Stadt im Mittelalter. Stuttgart 2013. Im Folgenden auch Dieter Otten, Die Welt der Industrie, Entstehung und Entwicklung der modernen Industriegesellschaften, Bd. 1: Aufstieg und Expansion. Hamburg 1986. 21) „Überstaatliche Netzwerke und durchlässige Grenzen waren der historische Normalfall, der stillschweigend als Ausgangspunkt der meisten Globalisierungsdiagnosen genommene europäische Nationalstaat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war hingegen eine spät entstandene Ausnahme. Aus eigenem Willen völlig von der Außenwelt abgeschottete Wirtschaftsräume hat es selten gegeben. Vorläufer des Typus der modischen und erfolgreichen ‚Netzwerkfirma‘ mit internalisierten Märkten finden sich bereits unter den Kaufmannsimperien (trading empires) der frühen Neuzeit. Unser Argument ist nicht, dass heutige Zustände mit denjenigen des 17. oder 18. Jahrhunderts direkt vergleichbar seien, sondern dass die angeblich als charakteristisch für ein gegenwärtiges Zeitalter der Globalität zu verstehenden Muster schon in früheren Zeiten verfügbar waren.“ Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. München 2003, S. 108. 22) Vgl. Janet Abu-Lughod, Before European Hegemony: The World System A.D. 1250–1350. Oxford 1989. Flankiert und gestützt wurde diese frühneuzeitliche wirtschaftliche Vernetzung durch Formierung von Staatlichkeit und von hier ausgehende wirtschaftspolitische Steuerung, durch vertragliche und gesetzliche Regulation von Handelsbeziehungen und durch Veränderungen von Menschenbildern in vielen Regionen des eurasischen Kontinents. Vgl. Victor Liebermann, Strange Parallels: Southeast Asia in Global Context, c. 800–1830. Cambridge 2003. Mit Blick auf die Entstehung, Dynamik und Reichweite des Imperialismus hat Europa zu dieser Zeit noch nicht eine herausragende Position in der Welt eingenommen. So waren Reichsbildungen und Imperialismus im 16. Jahrhundert in anderen Regionen der Welt teilweise –z. B. in islamischen Großreichen, in Indien und China – wesentlich umfangreicher und dynamischer als in Europa. Vgl. John Darwin, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000. Frankfurt/​ Main 2010. 23)

Vgl. Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt. Zürich 2015. Im Rahmen einer kritischen Rekonstruktion neuzeitlicher Gesellschaftsbildung sollte deshalb unterschieden werden zwischen einer Ausdifferenzierung politischer Steuerung, die der zunehmenden Relevanz der Ökonomie angemessen ist und sich in der kulturellen (reflexiven und ethischen, theoretischen und wissenschaftlichen) Selbstbeobachtung mit einer Politisierung der Ökonomie verbindet, einerseits und einer maßlosen Ökonomisierung und Landnahme gesellschaftlicher Praxis durch Kapitalverwertungsinteressen und daran orientierte patriarchale Netzwerke andererseits, die sich mit einer verkürzten Selbstbeobachtung, mit technokratischem und wirtschaftlichem Logozentrismus und einer (auch in den Wirtschaftswissenschaften vielfältig ausgeprägten) Entpolitisierung der Ökonomie verbinden. Während die Politisierung der Ökonomie und eine angemessene Ökonomisierung des Regierens zu einer „positiven Integration“ der Gesellschaft – zum Abbau von Gewalt und zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratisierung – beitragen können, scheinen die Ökonomisierung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Entpolitisierung der Ökonomie in der kulturellen Selbstbeobachtung eher eine „negative Integration“ – ökonomische und soziale Polarisierung, ungerechte Verteilung von Arbeit, Einkommen und Wissen, Entdemokratisierung, Einschränkungen der Freiheit und der persönlichen Entfaltung u. a. – zu begünstigen. Dazu mehr in Kap. IV.

24)

Marcel Hénaff folgend ist „die religiöse Brüderlichkeitsethik … eine wesentliche Version des Phänomens der gegenseitigen Gabe.“ Marcel Hénaff, Die Welt des Handels, die Welt der Gabe, Wahrheit und Anerkennung. In: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 7. Jg., Heft 1 2010. Mit dem Versagen und dem Rückzug katholischer Brüderschaftsethik aus ihrer gesellschaftsbildenden Funktion wird die Gabe zu einer „moralischen Geste“ (Marcel Hénaff), bleibt aber eine Kraft der Gemeinschaftsbildung, der Freundschaft und der privaten Bindungen, während die Gesellschaft reziproke Anerkennung und Gerechtigkeit nun gesetzlich, rechtlich und politisch zu gewährleisten sucht. Die Philosophie des Meister Eckart reflektiert Möglichkeit, Aussicht und Ansätze eines gelingenden Brückenschlags zwischen katholischer Brüderlichkeitsethik und frühneuzeitlicher Wirtschaftspraxis. Vgl. Kurt Flasch, Meister Eckhart: Philosoph des Christentums. München 2009. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Hans G. Kippenberg zur Rolle religiöser Netzwerke und Gemeinschaften bis heute: „Mit dem Aufkommen von rationalen modernen wirtschaftlichen und politischen Ordnungen haben religiöse Gemeinschaften eine wachsende Bedeutung erlangen können: nicht zuletzt wegen ihrer Brüderlichkeitsethik.“ Hans G. Kippenberg, Die Entsäkularisierung des Nahostkonflikts. In: Hans Joas, Klaus Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen. Frankfurt/​Main 2007. Dass im Gegensatz zu heutigen Praktiken kapitalistischen Wirtschaftens Brüderlichkeitsethik wie auch Wahrheitsliebe Vertrauen schaffen und damit ein gutes und erfolgreiches Wirtschaften bahnen, rahmen und orientieren können und dafür sogar eine unverzichtbare Voraussetzung bilden, zeigen die empirischen Untersuchungen von Alain Cohn, Michel Maréchal, Christian Zünd, Cicvic Honesty across the globe. Unveröffentlichtes Working Paper. In: Dies., Business Culture and Dishonesty in the Banking Industry. Nature 2014.

25) Ein Beispiel dafür war der sog. „quodlibetische Disput“, in dem ein Thema auch von einem untergeordneten Schüler frei gewählt und zur offenen Diskussion gestellt werden konnte. Vgl. Jaques Le Goff, Die Intellektuellen im Mittelalter. Stuttgart 1987. Der „quodlibetische Disput“ kann als eine institutionalisierte Grenzüberschreitung, als ein etablierter Raum der Relativierung von Glaubensinhalten und insofern auch schon als ein Vorläufer bürgerlicher Öffentlichkeit gedeutet werden. 26) Jaques Le Goff., a.a.O., S. 122.

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27) Der neue Intellektuelle des 12. Jahrhunderts will, „ganz Mensch sein“, also auch in Wahrhaftigkeit sich der Erfahrung und (An)erkenntnis des Körpers und seiner (verpönten) Bedürfnisse öffnen. Petrus Abaelard „ist … der erste große neuzeitliche Intellektuelle, der erste Professor … Er ist zu jeder Schlacht bereit und wird – nach einer Bezeichnung von Paul Vignaux – zum Ritter der Dialektik.“ Jacques Le Goff, a.a.O., S. 123. Und vor allem, könnte man hinzufügen, der Dialektik von christlichem Glauben und philosophischem Denken. Die von Abaelard im Interesse seiner Stärkung und Rechtfertigung begonnene Intellektualisierung des Glaubens führte zur Verwissenschaftlichung der Theologie, sprengte schließlich den christlichen Rahmen, ersetzte die göttliche durch eine durch Vernunft gestiftete Ordnung und führte in der subjektiven Reflexion zur Suche nach und des Zweifelns an der Wahrheit und damit auf einen Weg der Selbstverantwortung und der Gewissensprüfung. Dabei wird sich später im westlichen Pfad die Rolle der Intellektuellen in den „gouvernementalen“, den „revolutionären“ und den „Gelehrten-Intellektuellen“ ausdifferenzieren. Vgl. Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, Bd. I/​2. Frankfurt/​Main 2004. Ders., Was ist Kritik? Berlin 1992. Heute sind die revolutionären Intellektuellen nahezu ausgestorben und wachsende Anteile der „Gelehrtenintellektuellen“ scheinen zu „Expertenintellektuellen“ zu schrumpfen, deren Werkzeugkisten immer mehr Computer und Algorithmen beinhalten, die möglicherweise bald auch sie selbst ablösen werden. 28) In der hier wiedergeborenen spätkulturellen Alltags- und post-logozentrischen Glaubenspraxis spielte auch die ästhetische, spielerisch virtualisierende Bezugnahme auf die Welt eine immer bedeutsamere Rolle. Viele unter den Intellektuellen und Wissenschaftlern arbeiteten wie Künstler und verstanden sich auch teilweise als solche. Bis hinein in die Entwürfe und die spätere Ausarbeitung des naturwissenschaftlichen Weltbilds verbanden sich in der Arbeit der „Genies“ – z. B. bei Leonardo da Vinci oder Galilei – Wahrheitssuche und Wissenschaft, Handwerk und Kunst miteinander. Vgl. Horst Bredekamp, Galilei der Künstler. Die Zeichnung, der Mond, die Sonne. Berlin 2007. Eine gewisse Ähnlichkeit zu dieser neuzeitlichen Erschließung der Welt zeigt heute die Arbeitsweise einer interdisziplinären, dezidiert politischen Gruppe, die sich „Forensic Architecture“ nennt. Sie betreibt mit den Mitteln der Wissenschaft und Technik und hier insbesondere der Architektur die Entlarvung von (offiziellen) Fiktionen. Wenn der Verdacht besteht, dass Menschenrechtsverbrechen oder andere Gewalttaten und ihre Ursachen und Resultate in Stellungnahmen von Politikern, Militärs, Führungskräften u. a. verzerrt, verschleiert werden oder schlicht gelogen wird, werden diese Ereignisse akribisch rekonstruiert und die Wahrheit „hergestellt“. Dieser Prozess und seine Ergebnisse führen zwar nicht immer zu einer gerechten juristischen Bearbeitung, werden aber zur Information und Bewertung der Öffentlichkeit in Museen ausgestellt. Ähnlich wie die neuzeitlichen Künstler-Philosophen betreibt die Gruppe Aufklärung in Form einer „investigativen Ästhetik“. „Vielleicht ist das, wonach wir streben, eine neue Version dessen, was Wissenschaftler und Künstler im 16. Jahrhundert taten, als sie gemeinsam die Welt um sich herum entschlüsselten.“ (Eyal Weizman, Gründer der Gruppe) Zitiert nach Jörg Schindler, Zeugen der Anklage. Das Recherchekollektiv Forensic Architecture spürt Menschenrechtsverbrechen auf und verwandelt Museen in Gerichtssäle. In: DER SPIEGEL, Nr. 44, Oktober 2018. 29) Zur Schlüsselfunktion der Brille für den technischen Fortschritt in Europa und den diesbezüglichen Vorsprung der westlichen Zivilisation vgl. David S. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen – Warum die einen reich und die anderen arm sind. Berlin 2002. Die Brille bildet den Ausgangspunkt für Anschlusserfindungen des Fernrohrs einerseits und des Mikroskops andererseits, die die Naturerfahrung in beide Richtungen, ins Große wie ins Kleine hinein entgrenzten. Vgl. Bernd Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. München 2017. Eine weitere Schlüsselerfindung dieser Zeit war die des Schießpulvers, die die Kriegsführung revolutionierte. 30) Im 16. Jahrhundert gab es in jeder Stadt mindestens eine Druckwerkstatt zur Herstellung von Büchern. Schließlich wurden Herstellung und Vertrieb der Bücher getrennt, und es entstanden die ersten großen Buchverlage. Die Entstehung einer muttersprachlichen Literatur und ihre schnelle Verbreitung beschleunigte die Verbreitung des wissenschaftlichen Denkens und Wissens und post-religiöser Weltbilder in Europa. 31)

Die hier sich entwickelnde Öffentlichkeit trägt zur weiteren Entwicklung und Integration der spätkulturellen Gesellschaft bei. Denn „(…) die Integration einer hochkomplexen Gesellschaft läßt sich nicht systempaternalistisch, also an der kommunikativen Macht des Staatsbürgerpublikums vorbei, abwickeln. Öffentlichkeit ist eine „Intermediäre Struktur, die zwischen dem politischen System einerseits, den privaten Sektoren der Lebenswelt und funktional spezifizierten Handlungssystemen andererseits vermittelt.“ Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/​Main 1994. Die Träger und Akteure dieser drucktechnisch- und kommunikationsgestützten „intellektuellen Mobilisierung“ (Reinhard Bendix) waren gebildete Bürger, Intellektuelle und (politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, pädagogische) Funktionseliten wie auch Vereine, Gesellschaften und Interessengruppen, die intensiv miteinander kommunizierten und die spätkulturelle hypoleptische Gedächtnisbildung weiterverbreiteten. Hier trat neben die hochkulturell verankerte vertikale Gemeinschaftsbildung zwischen Führern und ihren Gefolgschaften eine „horizontale Vergemeinschaftung“ (Bernd Roeck). Vgl. Bernd Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. München 2017.

32) „Worauf wir uns beziehen, ist die ‚Dehnung des hypoleptischen Horizonts‘ über die Grenzen der Interaktion hinaus in die Sphäre interaktionsfreier Kommunikation, das heißt die Konstitution eines Beziehungsraums, innerhalb dessen ‚das, was der Vorredner gesagt hat‘, vor mehr als zweitausend Jahren gesagt worden sein kann.“ Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. München 2002, S. 127. 33) Elmar Holenstein, Philosophie-Atlas: Orte und Wege des Denkens. Bern 2004, S. 14. „Kulturphänomene halten sich wie das Wetter weder an Staatsgrenzen noch an die Grenzen der Erdteile. Kultur und Klima sind beide nicht allein mit internen Faktoren der jeweiligen Gebiete erklärbar. Ebenso wichtig sind externe Faktoren, für die Kultur einer Region die Beschaffenheit ihrer Nachbarregionen.“ Elmar Holenstein, ebd.

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34) Das bedeutet, dass nun auch die kulturelle, extrasomatische und memetische Gedächtnisbildung zu vollziehen beginnt, was neuronale Gedächtnisbildung in der Biographie der Individuen schon lange leistet: nämlich selbstreferenziell die Interpretation und Bedeutung der Vergangenheit immer wieder zu verändern und für die Mitgestaltung der Gegenwart und Zukunft fruchtbar und nutzbar zu machen. Das kulturelle Gedächtnis wird jetzt alltags- und glaubenspraktisch zunehmend auch bewusst verstanden und genutzt als das, was es in evolutionärer Perspektive sein kann: ein mediales Substrat neuer Formbildungen, latenter Sinn, in dem gegenwärtiger manifester Sinn immer aufs Neue „gerinnt“. 35)

Vielleicht kann man auch sagen, dass von nun an die Inseln linearer Dynamik, der Stabilität und Voraussagbarkeit in der kulturellen Entwicklung schrumpfen zugunsten der Ausbreitung wechselseitiger Beeinflussung und nicht-linearer Dynamik – und damit zunehmender Komplexität und Nicht-Voraussagbarkeit. Vgl. Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World – Economy in the 16th Century. New York 1974.

36) Im Rahmen bürgerlicher Öffentlichkeit und der sich hier formierenden hypoleptischen Gedächtnisbildung und Selbstbeobachtung der Kultur wurden auch die implizite Ethik und intuitive Sittlichkeit der Menschen, ihr Mitgefühl und ihre Gemeinschaftsbindungen, ihr Sinn für Gerechtigkeit und ihr Bedürfnis nach Wahrheit in Pamphleten und Schriften, Zeitschriften und Büchern in Ansätzen schon reflektiert und expliziert. Und umgedreht „sickerten“ über diese Medien Sichtweisen der Welt, Ideen, Visionen und Utopien, wie sie von wissenschaftlich-technischen, intellektuellen und politischen Avantgarden vertreten wurden, in die soziale Lebenswelt ein, wurden hier selektiv assimiliert und bildeten einen „Zeitgeist“, der Bewusstsein und Handeln wachsender Anteile der Bevölkerung beeinflusste. 37) Davon abzugrenzen ist das Abgleiten vorläufiger Schließungen in ihre Erstarrung und Verabsolutierung. Dazu gehören die Selbsterhebung des Subjekts und seiner Autonomie und Selbstbestimmung zum Maß aller Dinge, die Entwürfe der Gemeinschaft, des Volks und der Nation, aber auch der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Kapitalismus als nicht hinterfragbare Ordnungen und die Modellierung der Natur als einer zeitlosen Mechanik. Diese stellen eine logozentrische Fixierung und geistige Gewalt dar, die bis heute organisierte Gewalt gegen Menschen und Natur in vielfältigen Ausprägungen anleitet. Dazu mehr in Kap. IV. 38) „Der Gott des Calvinismus verlangt von den Seinigen nicht einzelne gute Werke, sondern eine zum System gesteigerte Wertheiligkeit … Die ethische Praxis des Alltagsmenschen wurde so ihrer Plan- und Systemlosigkeit entkleidet und zu einer konsequenten Methode der ganzen Lebensführung ausgestaltet …Denn nur in einer fundamentalistischen Umwandlung des Sinnes des ganzen Lebens in jeder Stunde und jeder Handlung konnte sich das Wirken der Gnade als einer Enthebung des Menschen aus dem status naturae in den status gratiae bewähren.“ Max Weber, Die protestantische Ethik, hrsg. v. J. Winckelmann, Bd. 1. Hamburg 1973, S. 133 ff. Vgl. auch Volker Reinhardt, Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf. München 2009. 39) W. Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Tübingen 1979, S. 250. Vgl. auch Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt/​Main 1981, S. 310 ff. Auch Friedrich Wilhelm Graf vertritt die Auffassung, „dass Reformation und Altprotestantismus sehr stark noch mittelalterlichen Ordnungskonzepten verpflichtet blieben und ihre traditionskritischen religiösen Freiheitsimpulse nur vielfältig gebrochen in überaus komplexen Vermittlungsprozessen zur Durchsetzung politisch-sozialer Freiheit beitrugen.“ Andererseits räumt er auch ein, „dass die reformatorischen Bewegungen langfristig modernisierend wirkten, allein schon infolge der konfessionellen Pluralisierung des Christentums, die einen permanenten Streit um die rechte Auslegung des Christlichen mit sich brachte und alle dogmatisch fixierten Wahrheits- und Geltungsansprüche durch Dauerreflexion sistierte.“ Friedrich Wilhelm Graf, Der Protestantismus. In: Hans Joas, Klaus Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen. Frankfurt/​Main 2007, S. 97–89. Heute finden wir im protestantischen Christentum und in der reformierten Kirche beides: den Einsatz für Freiheit, Wahrheitssuche und (Selbst) verantwortung der Menschen und eine Anfälligkeit für einen patriarchalen Logozentrismus und Dogmatismus bis hin zur fanatischen Militanz – wie das Beispiel der Evangelikalen in den USA zeigt. Siehe Kap. IV. 40) Richard Tarnas, Das Wissen des Abendlandes. Die Weltbilder Europas im Wandel der Zeiten. Düsseldorf 2006. 41) Tarnas, a.a.O., S. 301. 42) Tarnas, a.a.O., S. 300. 43)

Eine Vielzahl christlich orientierter Kräfte haben die Entwicklungen des Wirtschafts- und des Staatsbürgertums in der Vorgeschichte und Geschichte der Revolutionen und Reformen unterstützt. Beispiele dafür sind u. a. die Jansenisten in Frankreich und die Puritaner in England und Amerika

44) Entsprechend respektlos hat Marx die Folgen der lutherischen Reformation beschrieben: „Luther hat die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt hat.“ Karl Marx, Zu Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Karl Marx /​Friedrich Engels, Werke, Bd. 1. Berlin 1959, S. 386. Zit. nach Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, 2013, S. 127. 45) „Luthers Berufung auf die Vorrangstellung der religiösen Verantwortung des Individuums führte nach und nach unweigerlich zu der modernen Vorstellung, dass Religion eine Frage der Innerlichkeit sei und dass jedes Individuum die für es geltende Wahrheit

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selbst herausfinden müsse … Das Selbst wurde zunehmend zum Maß aller Dinge, sich selbst definierend und sich selbst Gesetze gebend. Wahrheit wurde zunehmend zu einer vom Individuum abhängigen Angelegenheit. Der von Luther eingeschlagene Weg führte so über den Pietismus zur kritischen Philosophie Kants, weiter über den philosophischen Idealismus der Romantik, schließlich zum philosophischen Pragmatismus und Existenzialismus des spätmodernen Zeitalters.“ Tarnas, a.a.O., S. 306/​307. Vgl. auch Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. München 2012. 46)

Darauf beziehen sich auch einige Verlautbarungen des „deutschen Papstes“ Benedict XVI, der in diesem Zusammenhang von „Vernunft der Liebe“ spricht, wie auch (kapitalismus)kritische Äußerungen des Papstes Franziskus I, die uns später noch beschäftigen werden. Vgl. Karl Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Freiburg 2005. Vgl. auch Jorge Mario Bergoglio (Papst Franciscus I.), Interview mit der Monatszeitung 30 Giorno, 2007. Ders., Apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“ des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Rom im November 2013. Ders., Europa ist krank. Rede vor dem Europaparlament, 26. November 2014. Ders., Enzyklika „Laudato si. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Mai 2015. Ders., Amoris Laetitia – Freude der Liebe. Mit einer Hinführung von Christoph Kardinal Schönborn. Freiburg 2016.

47) Vgl. Georg Picht, Die Kunst des Denkens. In: Ders., Wahrheit, Vernunft und Verantwortung. Philosophische Studien. Stuttgart 1969. Vgl. dazu auch Charles Taylor, Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/​Main 1996. Ders., Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt/​Main 2009. 48) Zum Begriff des „Auswegs“ Vgl. Giorgio Agamben, Europa muss kollabieren. In: DIE ZEIT, Nr.  35.  August 2015. Die kulturelle Dauerkrise scheint, wie bereits angedeutet, spätestens seit der frühen Neuzeit, die Entwicklung verschiedener Regionen auf dem eurasischen Kontinent zu charakterisieren und hier zu, in Grundzügen ähnlichen Mustern ihrer alltags- und glaubenspraktischen Bearbeitung, z. B. in Gestalt einer Formierung von Staatlichkeit (vielfach mit integrierter Monarchie), durch ethische und gesetzliche Regulation von Handelsbeziehungen und durch die Entwicklung entsprechender Menschenbilder geführt zu haben. Vgl. Victor Liebermann, Strange Parallels: Southeast Asia in Global Context, c.800–1830. Cambridge 2003. 49)

Die Zeit, die vereinfacht gesagt, „mit Petrarca begann und mit Descartes endete“ (Peter Burke) hat die Zeitgeistströmungen des Humanismus und der Renaissance hervorgebracht. Vgl. Peter Burke, Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien. München 1998. Dabei waren führende Humanisten dieser Zeit noch Anhänger des christlichen Glaubens (z. B. Erasmus von Rotterdam) oder zumindest nicht religionsfeindlich eingestellt (z. B. Michel Montaigne). Vgl. Stephen Toulmin, Kosmopolis. Frankfurt/​Main 1991.

50) Stephen Toulmin, Kosmopolis. Frankfurt/​Main 1991. 51)

Petrarca war für Jakob Burckhardt der erste moderne Mensch. Vgl. ders., Kultur der Renaissance in Italien (1860). Essen 1996.

52) Vgl. Mathias Greffrath, Montaigne. Leben in Zwischenzeiten. Zürich 2006. 53) So wollte Montaigne z. B. „alles ohne Furcht und Scheu sagen, was er ohne Furcht und Scheu tat.“ Michel Montaigne, Essais, Buch 2, Kap. 12. Frankfurt/​Main 1998. Hier verbanden sich spekulative und praktische Philosophie mit kritischer Selbstbeobachtung und ‑reflexion und einer liebevoll ironischen Aufmerksamkeit für die Menschen und ihre Schwächen – was auch die Dramen Shakespeares und die wenig später entstehenden Bildungs- und Charakterromane kennzeichnet. Damit verbunden war ein mehr oder weniger deutlich expliziertes vor-mechanistisches Verständnis der Natur und der Welt, das gelegentlich dem heutigen post-mechanistischen der modernen Physik nahekam. Für Montaigne sind alle Dinge „in beständiger Bewegung, im Wandel und in der Veränderung.“ Michel Montaigne, a.a.O., Kap. 12. 54) „Der Philosoph Ernst Cassirer hat die Renaissance einmal als die erste Aufklärung bezeichnet; es scheint mindestens ebenso angemessen, die Aufklärung eine zweite Renaissance zu nennen.“ Peter Burke, Die Europäische Renaissance, Zentren und Peripherien. München 1998, S. 290. 55) Es entstanden öffentlich agierende Gesellschaften wie die 1691 in London gegründete ‚Society for the Reformation of Manners‘ und sich der Öffentlichkeit entziehende wie der Illuminatenorden oder die Freimaurerlogen, die gegenüber den religiösen neue philosophische Glaubensgehalte anboten. Eine neue Pädagogik richtete sich im 18. Jahrhundert darauf aus, den Menschen zum moralischen Empfinden zu erziehen. Pädagogische Reformwerke und Erziehungsratgeber überschwemmten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Markt. Außerdem trafen sich die Aufklärer in Literarischen Salons, die zumeist von gebildeten Frauen geleitet wurden. 56) Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) gehören zu den bekanntesten Ausdrucksformen. 57) „In den modernen Bildungstheorien wird Bildung verstanden als Selbstbildung. Ihre wichtigste Voraussetzung ist ‚Selbsttätigkeit‘. Diese Kategorie ist erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dieser ‚Sattelzeit‘ des modernen pädagogischen Denkens in den pädagogischen Diskurs aufgenommen und begrifflich präzisiert worden. Nohl hat die historische Einführung dieser Kategorie als „eigentümliche Umdrehung‘ begriffen: ‚War bis dahin das Kind das willenlose Geschöpf, das sich der älteren Generation und ihren Zwecken anzupassen hatte und dem die objektiven Formen eingeprägt wurden, so wird es jetzt in seinem eigenen spontanen produktiven Leben gesehen.‘ (Nohl). Seit dieser ‚eigentümlichen Umdrehung“, wird die Bildung als ein produktiver Vorgang verstanden, aus dem nicht nur die kulturelle Welt, sondern auch das individuelle Subjekt, die besondere Gestalt des jeweiligen Ich, selbst erst noch hervorgeht. Der Mensch bildet sich, indem er, wie Humboldt formulierte, ‚die ganze Masse des Stoffs, welchem

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ihm die Welt um ihn her und sein inneres Selbst darbietet, mit allen Werkzeugen seiner Empfänglichkeit‘ in sich aufnimmt und ‚mit allen Kräften seiner Selbstthätigkeit‘ umgestaltet. Indem der Mensch die Umstände verändert, die auf ihn wirken, ‚nimmt er selbst Antheil an der Bildung seiner selbst‘ (Pestalozzi). Er ist, wie die Wirklichkeit, die er hervorbringt, ‚Produkt seiner Arbeit‘ (Marx), ‚Werk seiner selbst‘ (Pestalozzi).“ Michael Parmentier, Überarbeiteter Beitrag zum 1. Akademischen Bildungsmariposion, Zukunftswerkstatt Mariposa. Sommer 2011. In moderner Terminologie kann man das bürgerliche Subjekt als ein autopoietisches System charakterisieren. 58) Heute erodiert dieses Verständnis und seine orientierende Kraft unter dem Druck, gesellschaftlich und institutionell organisierte Erziehung, Bildung und Qualifikation, (beginnend schon in der elterlichen Sozialisationspraxis) zunehmend auf die wissenschaftliche (Selbst)objektivierung der Kultur und des Menschen zu stützen, sie wirtschaftlich und technokratisch auf ein Ensemble von Kompetenzen zu verkürzen und Bildung auf eine technomorphe Selbstformung zum „Humankapital“ zu reduzieren. Dazu mehr in Kap. IV. 59) Diese Realabstraktion wurzelt, wie bereits Alfred Sohn-Rethel folgend ausgeführt wurde, in der Praxis des geldvermittelten Warentauschs, die erstmals die Vielfalt der Natur unter abstrakten Maßen vergleichbar und ihr eine zeitlose, post-gegenständlich relationale Formidentität „verpasst“, die nun Grundlage und Rahmen ihrer weiteren Anreicherung und Differenzierung durch allgemeine Eigenschaften und Beziehungen werden konnte. 60) Insofern in der klassischen Mechanik ein Modell der Natur entwickelt wird, das von an sich unveränderlichen „geschichtslosen“ Substanzen ausgeht, deren Beziehung zueinander in zeitlos gültigen Naturgesetzen fassbar ist, konnte Alfred Sohn-Rethel zu Recht nicht nur die Natur der antiken Kosmologie, sondern auch die der neuzeitlichen klassischen Mechanik als „Natur in Warenform“ bezeichnen. Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Frankfurt/​Main 1970. Ders., Warenform und Denkform. Aufsätze. Frankfurt/​Main 1971. 61)

Reiner Döbert, Systemtheorie und Entwicklung religiöser Deutungssysteme. Zur Logik des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus. Frankfurt/​Main 1973.

62)

So lassen sich, wie bereits ausgeführt, die abstrakten Begriffe der griechischen Philosophen – die Zahl, die Substanz, das Eine, das Sein u. a. – als alltagspraktisch, durch den Vergesellschaftungsmodus des Warentauschs konstruierte Eigenschaften und Relationen verstehen, die dann allmählich von der Philosophie auf die Natur und die „ganze Welt“ als ihre zeitlose Ordnung projiziert wurden.

63) Schon der Protestantismus begünstigte mit seiner klaren antischolastischen Trennung zwischen (biblischer) Wahrheit und menschlichem Verstand unbeabsichtigt die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften. „Die klare Trennung zwischen Schöpfer und Schöpfung – zwischen dem unergründlichen Willen Gottes und der endlichen Intelligenz des Menschen, der Transzendenz Gottes und der Kontingenz der Welt –gestattete es dem modernen Denken, sich der Welt mit einem neuen Sinn für den rein diesseitigen Charakter der Natur zu nähern, deren Ordnungsprinzipien nicht unmittelbar mit den Annahmen des Menschen über die Herrschaftsprinzipien Gottes übereinstimmen mussten … Die Reformation bereitete die radikale Revision des bestehenden Weltbildes durch die moderne Wissenschaft vor, indem sie der Welt den Zauber ihrer immanenten Göttlichkeit nahm und so den mit der christlichen Abkehr vom heidnischen Animismus eingeleiteten Prozess vollendete … Auch das gegen die hellenistische Spiritualisierung der Natur gerichtete Beharren auf dem biblischen Gebot, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, trug zu diesem Prozess bei. Es bestärkte den Menschen in seinem Gefühl, als einziges beseeltes Wesen einer objekthaften Natur gegenüber zu stehen und darüber hinaus eine Herrschaft von Gottes Gnaden über diese natürliche – also nicht spirituelle – Welt auszuüben.“ Tarnas, a.a.O., S. 304. 64) Montaigne hat diesen Gedanken auch auf die Gesprächsführung und die dialogische Ausgestaltung sozialer Beziehungen übertragen. Vgl. dazu auch: Richard Sennett, Kooperation. München 2014, S. 366. 65) Vgl. Francis Bacon, Novum Organum, 1620. Ders., Neu-Atlantis, 1626. Vgl. auch Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik. Aus dem Nachlass, hrsg. v. Alexander Schmitz, Bernd Stiegler. Frankfurt/​Main 2009. Außerdem: Ernst Peter Fischer, Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. Berlin 2005. 66) Hier sei nochmals die wunderbare Formulierung von Niels Bohr zitiert: „Wahrheit und Klarheit sind komplementär. Nimmt das eine zu, nimmt das andere ab.“ 67) Stephen Toulmin, Kosmopolis. Frankfurt/​Main 1991. 68) Stephen Toulmin beschreibt dies als Entwicklung vom Mündlichen zum Schriftlichen, von Rhetorik und Argument zum Beweisen, vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Lokalen zum Globalen, vom Zeitgebundenen zum Zeitlosen. Vgl. Toulmin, a.a.O., S. 14. Kritik an der Dekontextualisierung philosophischer und wissenschaftlicher Wissens- und Sinngenerierung und der (patriarchalen) Ausgrenzung großer Anteile potentieller TeilnehmerInnen aus diesen Forschungen und Diskursen wird seit Jahrzehnten insbesondere von VertreterInnen feministischer Erkenntnistheorie artikuliert. Vgl. Monika Kirloska-Steinbach, Kontextualität in der Philosophie. In: Information Philosophie, Dezember 2017. Ausführlich zu möglichen Verkürzungen in der Verwendung des Begriffs „Objektivität“: Lorraine Daston, Peter Galison, Objektivität. Frankfurt/​Main 2007. 69) Toulmin, a.a.O., S. 13. 70) Toulmin, a.a.O., S. 307 und 318. 71) Toulmin, a.a.O., S. 320.

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72) Erst die glaubenspraktische Verabsolutierung und Fixierung der „Schließung“, die Fetischisierung des Allgemeinen, seine bedingungslose Identifikation und logozentrische Panzerung zur geistigen Gewalt münden in der kulturellen Evolution immer wieder und bis heute auch im westlichen Pfad in strukturelle und organisierte Gewalt. Hier hat sich eine post-religiöse Glaubenspraxis ausdifferenziert, die über die Mitnatur hinaus zunehmend auch die menschliche Natur und die Gesellschaft als eine objektiv gegebene und instrumentell strategisch formbare Objektivität fasst und nun zunehmend auch die sozialisatorische und gesellschaftliche Praxis durchdringt und ihre intentionale organisierte Mitgestaltung orientiert und rahmt. Diese unzulässige Verallgemeinerung und Dominanz des Paradigmas der Objektivierung und der technischen Kontrolle führt, wie schon mehrfach angedeutet, zu einer technokratischen Verkürzung und – mit Blick auf die Viabilität der westlichen Kultur – gefährlichen Verkürzung spätkultureller Praxis, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als „Dialektik der Aufklärung“ charakterisiert haben. Dazu mehr in Kap. IV. 73) Die Vorstellung, dass sich menschliches Denken und Handeln, wissenschaftliche Beobachtung und Selbstbeobachtung für die Zulassung des „Anderen“, die Erfahrung des „Nicht-Identischen öffnen müssen, ist ein Erbe der Romantik, das wohl am radikalsten im Werk von Theodor W. Adorno aufgenommen und hier auch formal als „Wissenskunst“, als Wiedereintritt des Ästhetischen in die Form der Theoriebildung, ausgearbeitet wurde. Siehe weiter unten. 74) Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt/​Main 2011, S. 133. 75)

Diese Unterscheidungen folgen mit leichten Abweichungen der Systemtheorie der Gesellschaft von Niklas Luhmann. Luhmann folgend kann man hier auch von „Leitdifferenzen“ sprechen. Das Marktsystem reproduziert und differenziert sich entlang der Leitdifferenz Zahlung versus Nichtzahlung (bzw. Zahlungsbereitschaft versus Nicht-Zahlungsbereitschaft), das politische System tut dies entlang der Leitdifferenz Macht versus Nicht-Macht, die Demokratie entlang von Wahl (Zustimmung) versus NichtWahl (Ablehnung), während das Rechtssystem der Leitdifferenz von Recht versus Unrecht folgt. Vgl. ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/​Main 1988, S. 60/​61. Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/​Main 1997. Ders, Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/​Main 2002. Ders., Europa und die Weltgesellschaft, Vortrag zum 5. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Publikation der Bayerischen Hypobank, Mai 1995.

76) Diese Möglichkeit kann einen normativen Rahmen bieten für eine Rekonstruktion und Kritik des gegenwärtigen „Raubtierkapitalismus“, der die implizite Ethik der Vergesellschaftung zugunsten einer logozentrischen Verabsolutierung von Wettbewerb und Wachstum abgeworfen hat und heute zunehmend die westlichen und sich verwestlichenden Lebensformen weltweit auf einen (selbst)destruktiven Pfad führt. Siehe Kap. II. 77)

Aus alltäglicher wie auch wissenschaftlicher Beobachterperspektive macht es Sinn, Menschen grundsätzlich vielfältige, materielle und immaterielle, natürliche und nicht-natürliche Bedürfnisse zu unterstellen. Aber als Elemente von Deutungsmustern stellen Bedürfnisse eine Realabstraktion menschlicher Natur dar, die sich wohl erst mit der funktionalen Ausdifferenzierung der Marktwirtschaft durchgesetzt hat. „Die Semantik von ‚Bedürfnis‘ bezeichnet den Aspekt der Inklusion der Gesamtbevölkerung in die Wirtschaft. In stratifizierten Gesellschaften hatte man Bedürfnisse nur den Armen zugeschrieben und sie damit auf ein Spezialproblem einer unvollkommenen Welt beschränkt …. Erst wenn auch die Oberschicht sich legitim um Gelderwerb kümmern kann, erst also, wenn die funktionale Differenzierung sich gegen die stratifikatorische Beziehung durchsetzt, kann der Bedürfnisbegriff jene Universalität gewinnen, die wir hier und im folgenden zugrundelegen.“ Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/​Main 1988, S. 60/​61.

78) Die Geldschöpfung spiegelt immer auch die Verschiebung der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft: von der Geldausgabe durch die Priester und Priesterinnen der Tempel und der Könige über die Generierung der nationalen Währungen durch die Nationalstaaten bis zum „splitting“ von transnationalen Währungen einerseits und subnationalen (regionalen und lokalen) Komplementärwährungen andererseits, das sich heute nicht nur in Europa abzeichnet. Und ähnlich wie nationale Währungen das Nationalbewusstsein gestützt haben, können heute transnationale Währungen wie der Euro ein europäisches Bewusstsein und regionale Währungen die Bindung der Bürger an die Region und regionale Gemeinschaften fördern. Darauf kommen wir später zurück. 79) Mit der „Konkurrenz“ verhält es sich ähnlich wie mit den Bedürfnissen. Wie diese zunächst nur zu den Deutungsmustern der Armen gehörten, waren „Wettbewerb“ und „Konkurrenz“ in Früh- und Hochkulturen nur in den herrschenden Kriegerklassen ihr Fühlen, Denken und Handeln strukturierende und orientierende Deutungsmuster. Konkurrenz um Status, Ehre, Anerkennung, Gewinn, Macht, materielle Güter und Reichtum etc. gehört zur menschlichen Gesellschaft seit Urzeiten und ihre Ausbreitung und Stabilisierung (über alle sich wandelnden phänotypischen Ausprägungen kultureller Lebensformen hinweg) hat etwas mit der patriarchalen Drift kultureller Evolution zu tun. Man kann auch sagen, es handelt sich hierbei um eine spezifische, Interaktion vereinfachende und Kooperation einschränkende Realabstraktion gesellschaftlicher Beziehungen. „Konkurrenz neutralisiert insofern das Problem der „doppelten Kontingenz“ und damit die Notwendigkeit, Kommunikationen zu suchen und zu finden, auf die mit ‚ja’ und nicht mit ‚nein‘ reagiert wird“. Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 102. 80) Dabei wird heute tendenziell die gesamte Bevölkerung in eine Ausgestaltung von Konkurrenz einbezogen, die durch einen post-religiösen Wachstumsglauben orientiert, angeleitet und vorangetrieben wird. Unter dem Regime der Kapitalverwertung wird die Marktwirtschaft heute zunehmend zu einer „Verbrennungsmaschine“ der Mitnatur wie auch menschlicher Natur und bahnt in vielfältiger Weise der sozialen Herrschaft und Gewalt einen Wiedereintritt in die westliche Lebensform. Dazu mehr in Kap. IV. 81)

Die Ausdifferenzierung von Märkten und ihre „Landnahme“ in der Gesellschaft sind insbesondere mit zwiespältigen Effekten und nicht-intendierten sozialen und ökologischen Folgen verbunden, wenn die Akteure der Organisation wirtschaftlicher

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Leistung und sogar die der politischen Steuerung glauben (!), sich allein auf Marktdynamik und Konkurrenz und die hier verfügbaren Informationen verlassen zu können. Einerseits ist Selbstorganisation über flexible Preise eine bedeutende Errungenschaft der Evolution von Gesellschaft, die nicht (wie das Misslingen der sozialistischen Planwirtschaft zeigt) durch politische Entscheidungen substituierbar ist. „Andererseits ist genau dieser technische Vorteil mit Folgen belastet, die heute zunehmend sichtbar werden. Preise bieten keine ausreichende Information über die Umwelt, speziell dann nicht, wenn ihre Auswirkungen auf Nachfrage und Produktion Interdependenzen in der Umwelt tangieren und über Folgewirkungen langfristig auf das System, das sie auslöst, zurückwirken. Der Widerspruch lässt sich theoretisch nicht auflösen. Man kann allenfalls noch fragen, was geschehen könnte, wenn das Gesellschaftssystem auf ihn aufmerksam wird und ihn als ‚Theorie‘ in seine Selbstbeschreibung übernimmt.“ Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/​Main 1988, S. 39. 82) Und sofern dieses System sich unreguliert durchsetzt, werden Arbeitskraft und Qualifikationen zu Waren, für die ggfs. keine Nachfrage mehr besteht. Siehe Kap. IV. 83) Vgl. Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus. München 2013. Vgl. auch Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus. Bielefeld 2009. 84) Dabei spielt die Praxis der Abzinsung von Investitionen („diskontierte Einnahmeüberschussrechnung“), die durch unser Währungssystem vorgegeben ist, eine zentrale Rolle. 85)

Mit ihrer Deregulierung ist die kapitalistische Organisation wirtschaftlicher Leistung bis heute zunehmend ökologisch, sozial und anthropologisch kontraproduktiv und destruktiv geworden. Dabei handelt es sich, so die später hier vertretene These, um eine Verzerrung dieser Organisation, die ganz wesentlich glaubenspraktisch, durch eine Verabsolutierung des Geldes und der Geldvermehrung zum Medium eines vermeintlichen Gewinns an Souveränität in der Psyche der Akteure bedingt ist. Der Primat der Kapitalverwertung ist immer auch das Ergebnis einer glaubenspraktischen Orientierung und Entscheidung und wenn und wo das verdrängt wird und der Kapitalismus als unvermeidlich und „alternativlos“ und das Interesse an Geld und Geldvermehrung zum Wesen des Menschen „aufgeblasen“ wird, ist der Verdacht berechtigt, das sich dies aus einer post-religiösen Glaubenspraxis speist, die in Gestalt ihrer Fixierung und Fetischisierung eines Allgemeinen, also hier des Geldes als Verheißung von Souveränität eine moderne Ausprägung des Patriarchats darstellt. Darauf kommen wir später, in der Rekonstruktion des „systemisch Bösen“ (Kap. IV) zurück.

86) In den Theorien der schottischen Aufklärer – Smith, Ferguson, Millar u. a. – rücken Technik und Arbeit und mit dieser die politische Ökonomie als Ausdruck und Motor des Fortschritts in der Menschheitsgeschichte in den Mittelpunkt. Die Arbeit bekommt hier bereits (an Marx erinnernde) Züge einer spezifisch menschlichen Praxis, in deren Vollzügen sich die Menschengattung reproduziert und in deren Fortschritt an Komplexität sich auch der menschliche Geist weiterentwickelt. Das Werden und die Veränderung der Menschen, ihrer Bedürfnisse wie auch ihrer geistigen Prägungen, Fähigkeiten und Qualifikationen bis hin zu ihrer Phantasie und Kreativität werden hier als bedingt durch die Fortschritte der Arbeit, der Produktion und die Veränderungen der politischen Ökonomie gedacht. Dabei wird die Entwicklung dieses Gesamtzusammenhangs –zumindest schon ansatzweise – mit einem geschichtlichen Fortschritt der Naturerfahrung und ihrer Tradierung verbunden, der einem Regulativ der Angemessenheit von Technologien in Bezug auf die Natur zu folgen scheint. Insofern hat sich schon hier ein Fenster für die Möglichkeit einer Ökonomie des qualitativen Wachstums geöffnet. 87)

Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, 1759, dt.: Theorie der ethischen Gefühle, übers. und hrsg. v. Walther Eckstein. Hamburg 2004.

88) An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776, dt.: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker. Stuttgart 2005. 89)

Abstrakter formuliert kann man auch sagen, dass die (schon in der Natur angelegte) Ausrichtung auf eine Verwirklichung des Gemeinsamen durch die Vielfalt und Variation des Besonderen hindurch im Rahmen kultureller Lebensform nur gelingen kann, wenn bereits im Besonderen, in Gestalt der intuitiven Sittlichkeit und hier insbesondere im Gerechtigkeitsempfinden der involvierten Individuen eine Antizipation des Gemeinsamen entwickelt ist.

90) Demgegenüber lassen sich bis heute Globalisierung und die sie stützende Entwicklungspolitik zu großen Anteilen als eine Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln bezeichnen. Vgl. hierzu auch Amartya Sen, Capitalism Beyond the Crisis, The New York Review of Books, Volume 56, Nr. 5, 26. März 2009. 91) Vgl. Martin van Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates. München 1999. Creveld weist darauf hin, „dass eine Regierung, und selbst eine starke, noch keinen Staat ausmacht. Von den Buschmännern in der Kalahari bis zur verbotenen Stadt in Peking scheint keine afrikanische oder asiatische Gesellschaft den Begriff des abstrakten Staats entwickelt zu haben, der sowohl Herrscher als auch Beherrschte umfasst, doch weder mit den einen noch den anderen identisch ist“. Ebd., S. 349. Die Entwicklung lernender Organisation politischer Steuerung ist mit der Entstehung dieser spezifisch europäischen Staatlichkeit und der Transformation von Herrschaft in delegierte Macht verbunden. Der Staat ist einerseits Ergebnis dieser Entwicklung und als Territorialstaat auch ihr „Gefäß“. Vgl. die Definition von Macht bei Niklas Luhmann: Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 55–58 und S. 415. 92) Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999. Vgl. auch Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004.

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93)

Vgl. Martin von Creveld, a.a.O., S. 457. Die schon im 15. Jahrhundert in den italienischen Stadtstaaten beginnende Auflösung der gemischten, solidarischen Wirtschafts- und Sozialordnung und der dezentralen städtischen Selbstverwaltung wie auch die Entstehung des Absolutismus mit zentralisierter Bürokratie, Steuereinnahme, Staatsbeamten etc. zeigen einerseits gewisse Ähnlichkeiten mit der sozialen und politischen Erstarrung des römischen Reichs in der Spätantike. Andererseits entsteht nun mit dem modernen Nationalstaat eine abstrakte hocheffiziente Körperschaft, die in den nächsten Jahrhunderten alle anderen Organisationen dominierte, die Bevölkerungen territorial integrierte und befriedete und damit (nach den Städten) ein neues „Gefäß“ bot, in dem Industrie und Wirtschaft sich explosiv weiter entwickeln konnten.

94) Verbunden damit kommen auch erste Ansätze von Patriotismus und Nationalismus als Fundierung und Legitimation politischer Herrschaft ins Spiel. Die glaubenspraktische Rahmung – hier zunächst noch die Heiligkeit des Königs und in Ansätzen schon die Idee des Vaterlands – eröffnete den Entwicklungsraum der Ausdifferenzierung profaner Praxis – hier von Staat, Recht und Verwaltung. 95) Dazu ausführlicher: Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. II: Das systemisch Gute in der Kultur. Amazon, Creating Space 2016. 96) Dieser „Trend“ zeigt sich u. a. auch in der Historie der Lesarten der „Magna Charta“ (1215), die ihre latenten Sinngehalte in Bezug auf jeweils aktuelle Konfliktlinien – zunächst als Friedens- und Herrschaftsvertrag zwischen Adel und König und schließlich als bürgerliche Verfassung in England und in Amerika – nach und nach „ausbuchstabierten“. 97) Der Begriff der „Nation“ hatte seinen Ursprung zunächst in kleinen Intellektuellenzirkeln (Arndt, Schlegel, Humboldt, Schleiermacher u. a.) mit einem vagen nationaldeutschen Identitätsgefühl, wo er als „soziale Innovation“ (James I. Sheehan), als eine Art Identitätsentwurf skizziert wurde, in dem stilisierte Bruchstücke der Vergangenheit mit Zukunftserwartungen verknüpft wurden. Er drang dann über das Vereinswesen (Jahn, Turner, Sänger) über Bildungsvereine, Handwerker und studentische Verbindungen in eine frühliberale Massenbewegung ein, welche die ständische Ungleichheit, die Vormacht des Adels, den Spätabsolutismus und den deutschen Staatenpluralismus beseitigen wollte. Vgl. James I. Sheehan, Dieter Groh, Der Ausklang des alten Reiches, Geschichte Deutschlands (11 Bde.), Bd. 6, 1994. 98) Vgl. Dieter Senghaas, Die Wirklichkeiten der Kulturkämpfe, in: Hans Joas, Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt/​Main 2005. Nach Senghaas gibt es später noch einen sekundären und einen tertiären Entwicklungsnationalismus, die auch als Reaktionen auf gescheiterte Nationen- und Staatenbildung verstanden werden können. Siehe weiter unten. 99) Martin van Creveld (a.a.O.) unterscheidet die historische Zeit vor dem Staat und seine Vorgeschichte (bis 1300  n.Chr.), den Aufstieg des Staates (1300–1648), die Rolle des Staates als Herrschaftsinstrument (1648–1789), die Idealisierung des Staats (1789–1945), die Ausbreitung des Staates (1696–1945) und die Zeit des Niedergangs des Staates (seit 1975), die, wie es scheint, von einer Ausbreitung und Idealisierung des Marktes begleitet ist. Heute gibt es einerseits eine durch Markt und Kapitalismus geprägte transnationale Regionalisierung (z. B. Europa und die Bildung anderer Wirtschaftsblöcke auf der Erde) und andererseits Tendenzen zu einer politisch geprägten Renationalisierung. Diese nährt sich in den USA und in Westeuropa auch aus der Erzeugung von Verlierern der Globalisierung und Europäisierung, ihrer versäumten bzw. mangelhaften Integration und ihrer populistischen Agitation (z. B. in Frankreich, Deutschland, Italien und England). In Osteuropa ist dieser Nationalismus auch dort entstanden, wo Völker unter der Zwangsintegration von Kolonialismus oder Sozialismus an einer organischen Entfaltung zu höherer nationalstaatlicher Integration gehindert, abrupt „ins Freie gestellt“ und auch hier ihre Autonomiewünsche von Populisten politisch instrumentalisiert werden. (Beispiele sind Polen und Ungarn) 100) Michael Howard, Die Erfindung des Friedens. München 2005. Ders., Der Krieg in der europäischen Geschichte. München 2010. 101) Dabei fanden sie auch Unterstützung und Legitimation von elitären, aufgeklärten Intellektuellen, die keineswegs „lupenreine“ Demokraten waren und die armen Massen eher verachteten. Ein Beispiel für einen machtorientierten und despotennahen Aufklärer war Voltaire. Vgl. Pankaj Mishra, Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Berlin 2017. 102) Dabei ist festzuhalten, dass diese Revolutionen und Reformen Umwälzungen in der Organisation politischer Steuerung darstellten, deren Ausgestaltung und Ausgang in geistige Gewalt und ins „organisierte Böse“ kippen konnten und dies auch in vielfältiger Weise taten. Beispiele dafür bieten die französische und die russische Revolution. 103) Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Frankfurt/​Main 1956. Ders., Der alte Staat und die Revolution. Paderborn 2013. Anmerkung: Allerdings ist Tocquevilles Denken durch Exklusion der Sklaven und der Indianer geprägt, denen er den Bürgerstatus verweigert. Insbesondere den Indianern spricht er sogar eine Mitschuld an ihrer Vertreibung zu: weil sie nicht sesshaft sind und das Land nicht bewirtschaften, kann es ihnen (John Locke folgend) auch nicht gehören.

Eine etwas ausführlichere Rekonstruktion der Demokratisierung in Europa und in den USA findet sich bei Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. II: Das systemisch Gute in der Kultur. Amazon, Creating Space 2016.

104) Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Wien 1977. 105) Diese Beschreibung folgt weitgehend der Darstellung von Dieter Otten, Die Welt der Industrie, Entstehung und Entwicklung der modernen Industriegesellschaften, Bd. 1: Aufstieg und Expansion. Hamburg 1986.

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106) Vgl. hierzu Dieter Otten, a.a.O. Vgl. auch Charles B. Kindleberger, World Economic Primacy, 1500–1990. Oxford–New York 1996. Nach Kindleberger ist jede Volkswirtschaft – wie ein Mensch – einem Alterungsprozess unterworfen, der zwar durch „Heilmittel“ verzögert werden kann, aber grundsätzlich unaufhaltsam ist. Dabei durchschreitet jede nationale Volkswirtschaft drei Stadien – Handel, Industrie und Finanzen – innerhalb derer sich dieser Alterungsprozess ebenfalls vollzieht. Deshalb müssen in jedem Stadium Produktdifferenzierung wie auch die Expansion der Vermarktung bis hin zur Globalisierung als „Verjüngungsmittel“ eingesetzt werden. 107) So „verkürzte sich die Reise einer Nachricht von London nach New York von etwa 14 Tagen (per Schiff) auf fünf Minuten … Globalisierung ist die Kompression von Raum und Zeit durch sinkende Transport- und Informationskosten und fallende Grenzen.“ Josef Joffe, Schneller, besser, reicher … Von der Eisenbahn bis zum Computerboom: Globalisierung gibt es schon lange. In: DIE ZEIT, Nr. 23, 31. Mai 2007. 108) Insofern imitieren heute die aufstrebenden asiatischen Staaten das Preußen des 19. Jahrhunderts – wenn auch ohne militärischen Kolonialismus, bzw. im Fall von China mit einem maskierten Imperialismus. Vgl. Gabor Steingart, Weltkrieg um Wohlstand. In: DER SPIEGEL, Nr. 37, 2006. 109) Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914. Frankfurt/​Main–New York 2008. Vgl. auch Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. Hier wird in hervorragender Weise ein detailliertes Porträt des 19. Jahrhunderts gezeichnet, das vor allem geprägt ist durch Beschleunigung und zunehmende globale Verflechtung, zunehmende Arbeitseffizienz und ‑produktivität sowie Ausbau und Effizienzsteigerung staatlicher Politik. Ferner wird deutlich, dass das europäische 19. Jahrhundert sowohl die Katastrophen und Kriege wie auch die emanzipatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts (Liberalismus und demokratischen Sozialismus, Pazifismus und Gewerkschaftsbewegung u. a.) gebahnt hat. 110) Der neue Welthandel unterstützt in Ansätzen nun auch die Völker und Nationen der dritten Welt, kann aber bis heute die hier herrschende (und zum Teil zunehmende) Armut nicht besiegen, unter anderem auch deshalb, weil er nicht wirklich frei ist. „Der Protektionismus der Reichen im Agrarbereich und im arbeitsintensiven Sektor kostet die Entwicklungsländer hundert Milliarden Dollar im Jahr. Das ist doppelt so viel wie die gesamte Nord-Süd Entwicklungshilfe.“ Weltbank report 2006, zit. nach Josef Joffe, a.a.O. 111) Seitdem Banken stärker reguliert werden, sind erhebliche Anteile des globalen Anlagevermögens in Schattenbanken geflossen, die die Regulationen umgehen können. Rund ein Viertel aller globalen Finanztransaktionen laufen heute bereits über Schattenbanken. Das entspricht etwa 67  Billionen (!) Dollar. Vgl. Marc Schieritz, Arne Sorn, Die dunkle Macht. In: DIE ZEIT, Nr. 48, November 2012. Hier sind der (teilweise auch kriminellen) Energie und Phantasie bei der Erfindung und Vermarktung von Finanzprodukten kaum Grenzen gesetzt – insbesondere, wenn es eine Vernetzung und gegenseitige Stützung zwischen Akteuren und Kontrolleuren (z. B. Rating-Agenturen) gibt. Auf diese Weise können bekanntlich Blasen entstehen, die schließlich platzen, große Bevölkerungsgruppen schädigen bzw. ruinieren und zu Bankpleiten führen. Schließlich hat sich inzwischen ein globaler „Casino-Kapitalismus“ ausdifferenziert, der gewinnbringend die Möglichkeiten der digitalen Info- und Kommunikationstechnologie zur Herstellung einer (fast) gleichzeitigen Präsenz von Information (fast) überall auf der Welt nutzt. Gewinne werden hier in der Nutzung der immer kleiner werdenden zeitlichen Differenz zwischen Kauf und Verkauf erzielt. Dabei werden – erstens – Geld und Information äquivalent (Information ist Geld, Geld als beobachteter Fluss von Investitionen ist Information) und – zweitens – beschleunigt sich der Austausch zwischen beiden, die Übergänge von Geld zu Information und Information zu Geld bis hin zum Hochfrequenzhandel, wo nur noch Computer bestimmten Algorithmen folgend im Sekundentakt oder schneller agieren. Hier haben sich die Geldkreisläufe von realwirtschaftlichen Kreisläufen vollkommen abgelöst. Bekanntlich haben ca. 98% aller täglich weltweit ablaufenden Finanztransaktionen nichts mehr mit der Realökonomie zu tun, sondern sind Interbanken-Geschäfte mit immer neuen Finanzprodukten und Derivaten, die immer höhere Gewinnchancen, aber mittlerweile auch Verlustrisiken bergen, die über Bankpleiten bis hin zu Börsenkrächen und Beeinträchtigungen nationaler Volkswirtschaften führen können. Auf die „old and young boys-Netzwerke“ der Finanzwirtschaft und des „Casino-Kapitalismus“ und die verheerenden Folgen ihrer (für sie selbst zunächst extrem profitablen) Aktivitäten für den Finanzsektor, für Anleger und ganze Volkswirtschaften kommen wir in Kap. IV zurück. 112) „Die Engländer brauchten knapp 60  Jahre, um ihr Bruttosozialprodukt pro Kopf zu verdoppeln, die USA rund 40  Jahre, Japan schaffte es in etwa der gleichen Zeit, Indonesien in 17, China in nur 12 Jahren … Wenn ihre Aufbauarbeit auch nur halbwegs ungestört weitergeht, wird China die USA innerhalb der nächsten 35 Jahre als Wirtschaftssupermacht abgelöst haben.“ Gabor Steingart, Weltkrieg um Wohlstand. In: DER SPIEGEL, Nr. 37, 2006. Seitdem ist allerdings Chinas Aufstieg aufgrund struktureller Fehlentwicklungen und Verschuldung ins Stocken geraten. 113) „Früher ging das Wissen von einer Generation auf die nächste über. Heute geht das Wissen von einem Erdteil auf den anderen über. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es ohne Krieg und Eroberung einen solchen Wissenstransfer gegeben.“ Gabor Steingart (a.a.O.) weist zu Recht darauf hin, dass hier Globalisierungsbefürworter wie ‑gegner immer noch den Fehler machen, die westlichen Industrienationen als (alleinige) „Regisseure“ und Gewinner wirtschaftlicher Globalisierung zu sehen bzw. anzuklagen. 114) „Die westlichen Firmen wollen von der neuen Kundschaft profitieren, das ist der Teil der Wahrheit, der bereitwillig eingeräumt wird. Aber noch stärker wollen sie von den neuen, billigen Konkurrenten der westlichen Arbeitnehmer profitieren, was sie schamvoll zu verschweigen suchen.“ Steingart, ebd. 115) Die westlichen Konsumenten sind einerseits Motoren der Wirtschaft, können aber andererseits auch „Totengräber“ westlicher Wirtschaft sein: „Wo auch immer ihr politisches Herz schlägt, links oder rechts, kaum, dass die Kunden den Supermarkt

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oder das Kaufhaus betreten, sind sie nicht bereit, einen Sozialaufschlag zu bezahlen. Der normale Käufer bei Karstadt, Metro und Lidl ist ein regelrechter Globalisierungsfanatiker, der Preis und Leistung vergleicht, aber nicht Nationen und ihre sozialen Sicherungssysteme … Mit jedem Kauf eines fernöstlichen Produkts erteilen die Käufer dem heimischen Sozialstaat und seinen Lieferbedingungen eine Absage. Wenn ihnen keiner in die Arme fällt, vernichten sie mit ihrer Kaufentscheidung kühlen Herzens die heimische Industrie. Denn alles, was man kaufen kann, kann man mittlerweile auch ohne diesen Zusatzstoff kaufen, den wir Sozialstaat nennen.“ Steingart, ebd. 116) Ein Beispiel ist die massive Deindustrialisierung in den USA: „In den fünfziger Jahren arbeiteten noch 35% der amerikanischen Arbeitnehmer in der Industrie, in den Sechzigern lag die Quote bei 32%, in den 80er-Jahren rutschte sie unter 20%. Heute sind rund 11% der amerikanischen Beschäftigten in der Industrie zu Hause – eine Halbierung innerhalb von nur einer Generation.“ Gabor Steingart, a.a.O. Negative Handelsbilanz der USA: „Nahezu alle relevanten Volkswirtschaften der Welt liefern heute Waren in die USA, ohne in gleichem Umfang dort einzukaufen. Im Handel mit China betrug das Defizit 2005 rund 200 Milliarden Dollar, im Handel mit Japan waren es rund 80 Milliarden, mit Europa über 120 Milliarden Dollar … Es sind die Spitzenprodukte einer entwickelten Volkswirtschaft – Autos, Computer, Fernseher, Spielekonsolen – die von überall her bezogen werden, ohne dass die eigene Herstellung im gleichen Umfang auf dem Weltmarkt loszuschlagen ist … Heute sind es die Ausländer, die in den USA eine Nettovermögensposition in Höhe von 2,5 Billionen Dollar oder 21% des amerikanischen Inlandsprodukts halten.“ Steingart, ebd. 117) „Die Integration von Millionen Menschen in Asien geht einher mit der Desintegration von Millionen im Westen … Die Arbeitskraft, die im Westen verlorenging, kehrt in Gestalt eines importierten Produkts wieder zurück. Die westlichen Arbeitslosen sind die Kernenergie von gestern, die chinesischen Arbeitslosen sind die Energiereserven für morgen  … Die Durchdringung einer Volkswirtschaft mit den Erzeugnissen anderer Länder („import penetration“) … hat sich im Westen beschleunigt, derweil die Eigenproduktion nahezu spiegelbildlich zurückging … Die Verlagerung der Arbeitsplätze sieht man nicht an dem, was weggeht, sondern an dem, was im Containerhafen anlandet.“ Steingart, ebd. 118) „Selbst ein sofortiges Einfrieren der Löhne in Westeuropa bringt nicht viel, hat das Münchner Ifo- Institut errechnet. Bei gleichbleibendem Lohnanstieg in den Angreiferstaaten wären die Einkommen dieser Länder in 30 Jahren noch immer erst halb so hoch wie im Westen.“ Steingart, ebd. 119) „Seit 2004 ist die Wettbewerbsfähigkeit der USA um 6% gesunken, in Deutschland hat sie sich zwar um 4% erhöht, aber in China ist sie um 13% gestiegen … Im Jahr 2009 wurden weltweit 53903 Patente deutscher Urheber anerkannt. Allerdings betrug die Zahl im Fall Chinas 68307.“ Niall Ferguson, Wir löschen unseren Erfolg. In: DIE ZEIT, Nr. 20, 2013. Ausführlich zum Niedergang des Westens und Aufstieg Asiens: Niall Ferguson, Der Niedergang des Westens: Wie Institutionen verfallen und Ökonomien sterben. Propyläen, 2013. Ökologische Gesichtspunkte, denen folgend man die Verlagerung des Wirtschaftswachstums nach Asien auch als eine weitere bedrohliche Steigerung des „Wettsägens am eigenen Ast“ betrachten kann, werden von Ferguson weitgehend ignoriert. 120) German Gutiérrez, Thomas Philippon, How European Markets Become More Competitive Than US Markets. A Study in Institutional Drift. Cambridge, Mass., National Bureau of Economic Research, 2018. Zitiert nach Josef Joffe, Die Freiheit der Bürokraten. In: DIE ZEIT, Nr. 41, Oktober 2018. 121) Ein Indikator dafür ist der Anstieg der Auslandsinvestitionen: „Die Summe aller Direktinvestitionen, also jener Gelder, die von einer Nation außerhalb der eigenen Landesgrenze investiert werden, betrug 1980 nur 500 Milliarden Dollar … Mittlerweile sind die jährlichen Direktinvestitionen auf zehn Billionen Dollar gestiegen, ein Plus von fast 2000% in nur 25 Jahren.“ Gabor Steingart, Weltkrieg um Wohlstand. In: DER SPIEGEL, Nr. 37, 2006. 122) „Die Industriebeschäftigung steigt … steil an. Weltweit hat sie in den vergangenen 10 Jahren um 16% zugelegt, so dass heute rund 600 Millionen Menschen in den Fabriken dieser Erde beschäftigt sind … 1.5 Milliarden zusätzliche Menschen bieten ihre Arbeitskraft an … In den vergangenen 10 Jahren stieg die Belegschaft im Weltarbeitsmarkt um 400 Millionen Menschen … Das weltweite Arbeitskräftepotential verzeichnet seit Beginn der 90er-Jahre einen Zuwachs von 200000 Arbeitskräften pro Tag.“ Gabor Steingart, Weltkrieg um Wohlstand. In: DER SPIEGEL, Nr. 37, 2006. 123) Vgl. Thomas L. Friedman, Die Welt ist flach. Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/​Main 2006. 124) Wie schon gesagt, kann man diesen Wettbewerb mit Blick auf die damit verbundenen ökologischen, kulturellen und sozialen Folgen auch als ein „Wettsägen am eigenen Ast“ (Hans Peter Dürr) bezeichnen. Ebenfalls ähnlich, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt sind Tendenzen zur sozialen Entropie, Entwicklungen des Niedergangs, des Verfalls und der Verelendung im Umfeld dieser Wachstumszonen. Vgl. Kap. IV. 125) In den hochentwickelten Produktionsbereichen reifer Industrien – wie z. B. Stahlerzeugung, Werkzeug, Maschinen, Auto u. a. – sind Digitalisierung, Computerisierung und Robotisierung weit fortgeschritten. Dazu gehören die Integration aller Fabrikationsbereiche vom Entwurf (CAD) über Fertigung (CIM), über das computerintegrierte Büro (CIO – computer integrated office) mit vernetzten Arbeitsplätzen, intelligenten Bild-Telefonen etc. bis hin zum Vertrieb (just in time), zum Service und zur individuellen Kundenbetreuung und wissensbasierten, „lernenden“ Dienstleistung. Dabei reicht die digitale telekommunikative Vernetzung der informationserzeugenden und verarbeitenden Teilprozesse teilweise schon weit über die Grenzen der Unternehmen hinaus in die Informationsverarbeitung anderer Unternehmen und Kunden hinein. Kennzeichnend für die jetzt erreichte Phase der Digitalisierung von Fabrik und Büro ist das Zusammenwachsen elektronischer Insellösungen zu integrierten Informationssystemen mit einer über fließendes Feedback „von außen“ rückgekop-

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pelten Zentralsteuerung. Auch die Digitalisierung traditioneller Dienstleistungen (z.  B. electronic banking, kassenloser elektronischer Einkauf in Supermärkten) ist Ausdruck des Zwangs, auf enger werdenden Märkten durch Personaleinsparungen einerseits und durch Nutzung von Potentialen einer informationsbasierten Individualisierung des Leistungsangebots andererseits konkurrenzfähig zu bleiben. Mit wachsendem Ausbau von Infrastrukturen der Datenkommunikation werden beispielsweise die Filialnetze der Banken weiter ausdünnen und ihr Service sich als High-Tech-Beziehungen (Telekommunikation) und – nur bei Bedarf – als „High-Touch“-Beziehungen (persönlicher Kontakt) ausdifferenzieren. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich im Lebensmittelhandel und im Gesundheitsbereich, in Gestalt der Gesundheits-Apps, die hier von den Krankenkassen angeboten werden. 126) Franz Radermacher, Westliche Industriegesellschaften unter dem Druck der Globalisierung: Strukturwandel von Arbeit und Wirtschaft in Deutschland und Europa – eine Analyse und Prognose. Vortrag im Rahmen des 2. Zyklus der Kempfenhausener Gespräche: Strukturwandel der Arbeitswelt. Entwicklungschancen für Mensch und Gesellschaft. Erste Rund, Oktober 1996. 127) Bert Rürup hat die Globalisierung der Wertschöpfung (in Anlehnung an Robert Reich) am Beispiel der Automobilindustrie plastisch beschrieben: „Ein neuer Sportwagen eines koreanischen „Herstellers“ wird in Japan finanziert, in Italien designed, die Konstruktion des Motors und des Getriebes erfolgt in Deutschland. In England wird der Wagen montiert, wobei elektronische Komponenten Verwendung finden, die in Silicon Valley erfunden und in Japan hergestellt wurden. Die Werbekampagne der Einführung dieses Wagens wird in Frankreich konzipiert, und die erforderlichen Film- und Fotoaufnahmen werden von einer kanadischen Gesellschaft in Spanien gemacht.“ Bert Rürup, Zukunft der Arbeit im Europa des 21. Jahrhunderts. Vortrag im Rahmen des 1.  Zyklus der Kempfenhausener Gespräche: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 6.  Gesprächsrunde: Die Entwicklung Europas im globalen Kontext: Bürgergesellschaft, nachhaltige Entwicklung und Zukunft der Arbeit, neue Schlüsseltechnologien und Unternehmensstrukturen, Januar 1995. 128) „Die Möglichkeit zur Informationsverarbeitung steigt mit der Zahl und der Geschwindigkeit der Computer. Die Möglichkeiten der Computer steigen mit der Ausdehnung und der Leistung der Netze. Der Wert der Netze steigt mit dem Umfang digitaler Information (Zahlen, Texte, Bilder, Geräusche, Musik, Videos, virtual reality, Simulationen, Datenbanken usw.) … Da dieses Informationspotential unvermindert weiterwächst, steigen derzeit die Möglichkeiten schneller an als die Nutzung.“ Wolf Dieter Grossmann, Diskussionsbeitrag im Rahmen des 1. Zyklus der Kempfenhausener Gespräche: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 6. Gesprächsrunde: Die Entwicklung Europas im globalen Kontext: Bürgergesellschaft, nachhaltige Entwicklung und Zukunft der Arbeit, neue Schlüsseltechnologien und Unternehmensstrukturen, Januar 1995. 129) Die kommerzielle Nutzung der neuen Schlüsseltechnologie explodiert, weil sich mehrere Trends wechselseitig verstärken: die Steigerung der Übertragungsraten des Internet (z. B. internet 2, europäisches Forschungsnetz etc.), Preissenkungen der Telefongebühren, der Soft- und Hardware bis hin zur kostenlosen Überlassung, wachsende Benutzerfreundlichkeit (z.  B. die Sprach- und Stimmerkennung, die Verlagerung von Intelligenz, Information und Wissen vom Computer ins Netz), die Koppelung mit vertrauter Technik (z. B. Web-TV, Autotechnik), Verbreitung digitaler Währungen (z. B. bitcoin, peercoin u. a.) und die Erfindung neuer Inhalte (z. B. Multi media infotainment, edutainment, interaktives Fernsehen und Produktwerbung wie z. B. die begehbare Immobilienanzeige, Kunst im Internet, Beratungen, Telemedizin, und ‑psychotherapie, Gesundheits-App u. ä.), die Robotisierung des Alltagslebens (z. B. sprechende, denkende, planende, einkaufende Autos, Haushaltsgeräte, Kleidung usw.), die Entwicklung von Angeboten und Programmen zur Informationsselektion, zur Such- und Orientierungs- und Entscheidungshilfe (digitale Agenten, Zwischenserver, Suchdienste), zur Organisation von Interessen‑, Arbeits‑ und Verbrauchergemeinschaften im Internet (virtual communities, chat rooms, blogs etc.). Das globale elektronische Kommunikationsnetz wird – wie schon die Straßen, Schienen- und Stromnetze aus der zweiten Industrialisierungsphase  –  zu einer Infrastruktur, die von Großunternehmen weltweit auf- und ausgebaut, gewartet und weiterentwickelt werden. Dabei wird die Normierung, die Anschluss- und Koppelungsfähigkeit all ihrer Formbildungen und Ausprägungen auf der Welt eine entscheidende Rolle spielen. Dazu gehören auch die Einrichtung des elektronischen multimedialen Empfangs‑, Sende‑, Kommunikations- und Steuerungszentrums, in dem Fernsehen, Telekommunikation und Computer zusammenwachsen, des Bit-Verbrauchs-Zählers (analog zu heutigen Stromzählern) in den Haushalten, ihre Ausstattung mit Robotik und andere Entwicklungen. 130) Darüber hinaus ist die hier – aufgrund der gewonnenen Daten über Kunden und ihr Verhalten – mögliche Maßproduktion für die einzelnen Nutzer mit Intransparenz verbunden und erschwert Kontrolle und Begrenzung von Monopolen. 131) Dazu gehören die Entstehung von sich selbst verstärkenden und vergrößernden „Blasen“ (Hendriks, Vestergaard) und „Echo-Kammern“, die gruppen- und individualspezifisch maßgeschneiderte Weltsichten aufbauen und bestätigen und in Konkurrenz um Aufmerksamkeit Faktenorientierung, Meinungsvielfalt, differenzierte Kommunikation und gewaltlose Konfliktbearbeitung durch Artikulation von Gefühlen und Stimmungen, von Ressentiments und Vorurteilen, durch Aggressivität, Verleumdung und Verbreitung von „fake news“ ablösen und die Demokratie gefährden. Vgl. Vincent F. Hendricks, Mads Vestergaard, Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien. München 2018. Dazu mehr in Kap. IV. Wie bereits angedeutet, wirken heute die kommerzialisierte wie auch zunehmend die politische Massenkommunikation als Meinungsbildungs- und Weltbilder generierende Maschinen, die Bedürfnisse nach vereinfachten Weltsichten und Verallgemeinerungen bedienen. Dabei können sie unsere Disposition, aus begrenzten Informationen schnell allgemeine Schlüsse (Pauschalisierungen) zu ziehen, nutzen. Diese war zwar für schnelle Reaktionen und das Überleben unserer Vorfahren wichtig, sollte heute aber durch (Zeit für) ihre Korrektur durch Reflexion weiterer Informationen und Kontexte ergänzt und relativiert werden. Vgl. auch Daniel Kahneman, Schnelles Denken – Langsames Denken. Berlin 2012. 132) Schon heute kontrollieren 1% aller Firmen auf der Welt 40% aller Investitionsgüter, Technologien, Maschinen u. a.

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133) Vgl. David Autor u. a. „In this paper, we analyze micro panel data from the U.S. Economic Census since 1982 and international sources and document empirical patterns to assess a new interpretation of the fall in the labor share based on the rise of „superstar firms.“ If globalization or technological changes advantage the most productive firms in each industry, product market concentration will rise as industries become increasingly dominated by superstar firms materials with high profits and a low share of labor in firm value-added and sales. As the importance of superstar firms increases, the aggregate labor share will tend to fall. Our hypothesis offers several testable predictions: industry sales will increasingly concentrate in a small number of firms; industries where concentration rises most will have the largest declines in the labor share; the fall in the labor share will be driven largely by between-firm reallocation rather than (primarily) a fall in the unweighted mean labor share within firms; the between-firm reallocation component of the fall in the labor share will be greatest in the sectors with the largest increases in market concentration; and finally, such patterns will be observed not only in U.S. firms, but also internationally.“ David Autor, David Dorn, Lawrence F. Katz, Christina Patterson, John van Reenen, The Fall of the Labour Share and the Rise of Superstarfirms. NBER Working Paper No. 23396, Mai 2017. 134) Vgl. Detlef Zühlke, Smart Factory. A Vision becomes Reality. Keynote Paper Moscow, 13th IFAC Symposium on Information Control Problems in Manufacturing, 2009. Ders., Smart Factory. Towards a factory-of-things, IFAC Annual Reviews in Control, Volume 34, 2010. Darüber hinaus werden derzeit immer mehr Geräte (z. B. Feuermelder, Mülltonen, Kühlschränke, Wasserhähne u. a. mit Sensoren ausgestattet, in Niedrigfrequenz-netzwerken miteinander verbunden, und so befähigt, ihre Leistungen und Funktionen selbst zu überwachen. Jeremy Rifkin verbindet mit der Digitalisierung, der preiswerten Maßproduktion und der internetgestützten Ausweitung der „share economy“ die optimistische Prognose einer Wirtschaft, „die sich weg vom reinen Diktat des Eigentums bewegt und Teilen über Besitzen stellt“. Vgl. ders., Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Frankfurt/​Main 2014. Vgl. auch Paul Mason, Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Berlin 2016. Hier werden insbesondere die Freisetzung menschlicher Arbeitskraft durch die Robotik und der Widerspruch zwischen der unbegrenzten Ressource Wissen und der Begrenztheit materieller Ressourcen und materiellen Besitzes (sehr optimistisch) als Triebkräfte einer Ablösung der kapitalistischen Organisation durch eine eher sozialistische Organisation wirtschaftlicher Leistung interpretiert. 135) Mit Hellmuth Willke kann man diese Entwicklung als Ergänzung und Überformung wissensbasierter durch Wissensarbeit bezeichnen. Vgl. Helmut Willke, Systemisches Wissensmanagement. Stuttgart 1998. Zu den vielfältigen Aspekten und Wegen der heute und in Zukunft anstehenden Unternehmensmodernisierung siehe Kap. VI. 136) „Information ist der Unterschied, der einen Unterschied macht“ (Gregory Bateson): Ich muss eine Differenz erzeugen, die im allgemeinen Informationssystem anschlussfähig ist, genauer: in bestimmten Zielgruppen als (neue) Differenz erkennbar ist. Dabei geht es um die Mitte zwischen noch nicht und nicht mehr anschlussfähig. Die Information kann zu viel Differenz und zu wenig Differenz beinhalten. Wenn ich die Mitte treffe, also Anschlussfähigkeit realisiere, kann ich die Information auf dem Markt gegen Einkommen eintauschen. Im Unterschied zum materiellen Produkt behalte ich sie aber und kann sie – solange sie für bestimmte Gruppen noch neu und brauchbar ist – immer wieder gegen Einkommen eintauschen. Eine Kaskade der Nutzung, an deren Ende die Information nicht neu, also für niemand mehr eine Information ist. Auch deshalb können Wissensarbeiter und Sinnproduzenten heute hohe Einkommen erzielen, wenn und wo es gelingt, Neuheit und Anschlussfähigkeit an die bereits gewordene und gegebene Welt auszubalancieren. 137) Hier findet eine lokale und temporäre Ersetzung von Markt durch Organisation und Organisation durch Markt statt. Die Beziehungen zwischen Anbietern und Kunden nehmen in Anteilen die Formen eines „Sich-Kennenlernens“, der organisierten Kooperation und „Freundschaft“ an und die Unternehmensorganisation wird in Anteilen marktförmig und durch innere Konkurrenz geprägt. 138) Die schon in der Computerisierung von Produktion und Dienstleistungen angelegten Möglichkeiten, das Produktangebot zu individualisieren, werden durch die Vernetzung von Kunden und Anbietern gesteigert. Indem sie sich die gewünschten Produkte am Computer individuell „zusammenbauen“, die verschiedenen Varianten virtuell testen und schließlich das gewünschte per Mausklick bestellen, werden Konsumenten erst richtig zu „Prosumenten“ (Peter F. Drucker) und aus Massenproduktion wird Maßproduktion. Die kommunikativen Beziehungen zwischen Anbietern und Konsumenten werden durch das Netz enger und die Beziehungspflege der Anbieter gewinnt an Bedeutung. Dann das Internet schafft eine potentielle Transparenz in beide Richtungen: für die Konsumenten die Möglichkeiten, alle Angebote zu vergleichen und zu bewerten, für die Unternehmen die Möglichkeit, die Lebensstile, Gewohnheiten, Präferenzen bis in die feinsten individuellen Verästelungen im elektronischen Dialog mit den Konsumenten und entlang der elektronischen Spuren, die diese im Netz hinterlassen, zu erkunden. Das eröffnet den Unternehmen ein individualisiertes (z. B. biographie-begleitendes) „customer relation management“ auf der Basis von Kundendatenbanken, zwingt sie aber auch zu einer radikalen Kundenorientierung mit dem Ziel, allen Qualitäts‑, Leistungs- und Preisvergleichen, die die Kunden leicht aufstellen und publizieren können, standzuhalten und das Vertrauen und die Freundschaft der Kunden zu gewinnen und langfristig zu erhalten. 139) Schätzung von Jack Ma, Gründer von Alibaba sowie Progenose des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Vgl. hierzu auch die Untersuchungen von Andrew Mc Afee und Erik Brynjolfsson (MIT), die zeigen, dass Robotisierung immer kostengünstiger wird und einer „Landnahme“ ähnlich in alle Bereiche der Wirtschaft und Dienstleistung vordringt. Vgl. Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee, Race Against the Machine: How the Digital Revolution is Accelerating Innovation, Driving Productivity, and Irreversibly Transforming Employment and the Economy. USA 2012 Dazu auch: Mensch gegen Maschine, In: DER SPIEGEL, Nr. 18,2013. Ferner: The Future of Jobs. The onrushing wave. In: The Economist, 18. Januar 2014. Weitere Publikationen zur Thematik: Martin Ford, Rise of the Robots: Technology and the Threat of a Jobless Future. New York 2015.

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Ferner: Victor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge, Das Digital. Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus. Berlin 2017. 140) Christian Lutz, Was ist ein „Lebensunternehmer?“ Persönlichkeitsbilder und Schlüsselqualifikationen in der nachindustriellen Gesellschaft. Vortrag zum 4. Kempfenhausener Gespräch, 2. Zyklus: Strukturwandel der Arbeitswelt. Entwicklungschancen für Mensch und Gesellschaft? Publikation der Bayerischen Hypobank, März 1998. 141) Vgl. Richard Florida, The rise of the creative class and how it’s transforming work, leisure and everyday Life, Basic Books, 2002. Ders., The Flight of the Creative Class. The New Global Competition for Talent, Harper Business, Harper Collins, 2005. Ders., Cities and the Creative Class, Routledge, 2005. Allerdings lässt sich einschränkend festhalten, dass keinesfalls alle Jobs, die als Wissensarbeit bezeichnet werden, hohe Qualifikationsanforderungen stellen. Oft handelt es sich auch um sog. „Bullshit-Jobs“ (David Graeber), die hinter großartigen (meist englischsprachigen) Bezeichnungen sehr eng gefasste Tätigkeits- und Verantwortungsspektren verbergen, ihrem Anspruch, die wachsende Komplexität reduzieren zu können, kaum gerecht werden und deshalb weder objektiv noch subjektiv viel Sinn machen. Folgt man der Analyse des Ökonomen Mathias Binswanger, so verdankt sich der Eindruck, dass die Digitalisierung viele Jobs bis hin zur Vollbeschäftigung schaffen kann, zu wesentlichen Anteilen der Vermehrung solcher Bullshit-Jobs. „Würden die Menschen nur noch in sinnvollen Jobs arbeiten, dann hätten wir schon lange Massenarbeitslosigkeit.“ Mathias Binswanger, Arbeit ohne Sinn. Modernes Wirtschaften schafft merkwürdige Jobs, nur um mit der steigenden Komplexität fertig zu werden. In: DIE ZEIT, Nr. 46, November 2018. 142) Vgl. Leo A. Nefiodow, Die großen Märkte des 21. Jahrhunderts – Psychosoziale Gesundheit als neuer Antrieb für Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Entwicklung. Vortrag zur 3. Gesprächsrunde des 2. Zyklus der Kempfenhausener Gespräche, Oktober 1997. 143) „Zum ersten Mal in der Geschichte macht in den USA ein Drittel mehr Frauen als Männer einen Hochschulabschluss. Zum ersten Mal in der Geschichte gehen dort mehr Frauen als Männer zur Arbeit. Zum ersten Mal in der Geschichte bestreiten Frauen fast die Hälfte des Haushaltseinkommens – 1970 waren es noch 2%.“ Philipp Oehmke, Feminismus. Sex ist banal. In: DER SPIEGEL, Nr. 45, 2012. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die kommunikative Struktur und „Empathiehaltigkeit“ in der Ausübung weiblicher Berufe bewirken, dass diese nicht so leicht computerisiert und wegrationalisiert werden können wie viele von Männern ausgeübte, schon im Design formal rationalisierte Jobs, die vielfach nur Tunnelwahrnehmung und ‑denken erfordern. 144) Die Integration der Frauen in die Berufswelt führt zu einem wachsenden Bedarf nach haushalts‑, familien- und erziehungsbezogenen Dienstleistungen in den Industrienationen. Die Soziologie spricht hier bereits von „global care chain“ (Arlic Hochschild), die der Migration in vielen Teilen der Welt ein „weibliches Gesicht“ (Elisabeth von Thadden) verleiht. Mit Blick auf die Beschäftigung von Migrantinnen in deutschen Haushalten auch: Maria S. Rerrich, Die ganze Welt zu Hause. Hamburg 2006. Darüber hinaus ist auch hier ein „heilender“ Wiedereintritt der zunächst ausgegrenzten und missachteten Relevanz sozialisatorischer Praxis sowie der Haus- und Reproduktionsarbeit in das Wirtschaftssystem zu beobachten. Insbesondere moderne, auf die Kreativität und unverkrampfte Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeiterinnen und Führungskräfte angewiesene Unternehmen werden allmählich zu „Mini-Wohlfahrtsstaaten“ (Josef Joffe), die Kinderbetreuung, Verpflegung, Hausputz, Kleiderreinigung medizinische Versorgung, therapeutische Betreuung bereitstellen und neuerdings auch den Karrierefrauen die Konservierung ihrer Eizellen für nun auf später verschiebbare Geburten anbieten. Vgl. Josef Joffe, Neo-Kapitalismus. Wie die US-Wirtschaft ihr Personal hegt, pflegt und betüttelt. In: DIE ZEIT, Nr. 44, 25. Oktober 2012. 145) Mit Blick auf die konsum- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen hat der Trend zur „Selbstbedienungsgesellschaft“ (Jonathan Gershuny) viele erhoffte Arbeitsplätze erst gar nicht entstehen lassen bzw. durch Technologie schnell wieder wegrationalisiert. Die Integration qualifizierter Frauen in die Erwerbsarbeit wird bis heute nicht nur durch Entstehung personalintensiver Dienstleistungen (z. B. Putzfrau, Haushaltshilfe, Kindermädchen, Lieferdienste), sondern auch (infolge der Verknappung dieser Dienstleistungen) durch die Verwandlung des Haushalts in einen technisierten Kleinbetrieb (mit Waschmaschine, Spülmaschine, Tiefkühltruhe, Zweitwagen, Videotext usw.) kompensiert – eine Entwicklung, die sich mit dem Einzug von Computern und Robotern in den Haushalt (der Computer macht das Finanzmanagement, der Kühlschrank kauft Lebensmittel ein usw.) und der direkten Vernetzung (Internet) von Haushalt und Produkt-/​Leistungsanbietern unter Umgehung von großen Anteilen des Handels fortsetzen wird. Der Trend geht in Richtung „High-Tech Self-Providing“ (Frithjof Bergmann) mit begrenzter, selektiver und teurer Nutzung personenbezogener Dienstleistungen. Entsprechendes gilt für den produktions- und unternehmensbezogenen Bereich, wo personalintensive einfache Dienstleistungen wie Reinigung, Überwachung, Catering, Text-/​Informationsverarbeitung u. ä. die erste Stufe der Rationalisierung durch „MacDonaldisierung“ bereits durchlaufen haben. Damit ist gemeint, dass derzeit von intelligenten Unternehmern die Rationalisierungspotentiale in diesen Dienstleistungsbereichen mit großem Erfolg ausgeschöpft werden, indem sie standardisiert, straff organisiert und national bzw. international angeboten werden. Hier entstehen zwar zunächst neue Arbeitsplätze, die jedoch überwiegend gering qualifiziert und niedrig bezahlt und durch kommende Rationalisierungsschübe (z.  B. Einsatz von Reinigungsrobotern) gefährdet sind. Darüber hinaus erfasst der Trend der „MacDonaldisierung“ bereits auch höherwertige unternehmens- wie personenbezogene Dienstleistungen wie Werbeagenturen, Organisationen der medizinischen Versorgung (z. B. Kliniken) und der Betreuung (z. B. Kindergartenketten in den USA). Auch wenn hier der Rationalisierung und Technisierung Grenzen gesetzt sind, folgen auch diese Entwicklungen der Logik, wo immer möglich Personal durch Technologie zu ersetzen (z. B. Diagnose-Computer), so dass – zugespitzt formuliert – wenige hochqualifizierte Personen mit kommunikativen Kompetenzen ausreichen, um den Kunden und Klienten Vertrauen in einen ansonsten standardisierten und technisierten Service zu vermitteln. Diese Entwicklung betrifft bekanntlich auch wachsende Anteile der Bankdienstleistungen, die durch electronic banking ersetzt werden und des Handels, wo der „direkte Draht“ des Internets zwischen Anbietern und Konsumenten immer mehr Verkäufer überflüssig macht.

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146) Diese Polarisierung ist durch die globale Dominanz kapitalistischer, durch die neuen Technologien gestützter Verwertungsdynamik verursacht und kann wohl erfolgreich nur durch ihre „gekonnte“ Regulation und durch innovative Umstrukturierungen der Organisation wirtschaftlicher Leistung bearbeitet werden, die in Kap. V und VI beschrieben werden. 147) Die pessimistische Perspektive auf ihre Risiken und Bedrohungen folgt später. Siehe Kap. IV 148) Mit der Landnahme und Ausdifferenzierung artifizieller Intelligenzen in der Arbeits- und Lebenswelt können (aber müssen nicht) Verdrängung und Entwürdigung des Menschen, eine Überformung menschlicher Praxis und eine Ausschaltung menschlicher Spontaneität und freier Entscheidung einhergehen. Vgl. Kap. IV. 149) Als einfache technische Anwendung von Kenntnissen über biologische Prozesse ist die Biotechnologie schon alt. Beispiele sind Stoffumwandlungsprozesse mit Hilfe von Mikroorganismen wie beim Bierbrauen, Fermentieren oder in der Käseherstellung. Die bioindustrielle Herstellung von Chemikalien war bereits zu Beginn des zurückliegenden Jahrhunderts weit verbreitet. Dazu gehörte eine Massenproduktion organischer Säuren und Lösungsmittel, die Herstellung von Alkohol aus Kartoffeln und von Hefepilzen und Bakterienkulturen. Die größtenteils auf altem Erfahrungswissen beruhende Biotechnologie wurde dann zunächst durch die verwissenschaftlichten und durch die (vermeintlich) fortschrittlicheren und effizienteren Methoden der synthetischen Chemie abgelöst bzw. in Nischen gedrängt, gewinnt aber derzeit wieder an Umfang und Bedeutung. Bereits heute dienen synthetische Biologie und Biotechnologie in der Landwirtschaft der Lebensmittelherstellung, der Verbesserung von Haltbarkeit, Schädlingsresistenz, Pestizidfreiheit und Diversität, des Geschmacks, der Konsistenz usw., der Konservierung mit Hilfe gentechnologisch erzeugter Mikroorganismen und schließlich der Produktion gentechnisch (durch Gen-Editing) optimierter Pflanzen und Nutztiere sowie im Umweltschutz dem Einsatz von Mikroorganismen für Abwasserreinigung und Abfallbeseitigung. Der wachsende Bedarf und die neuen technologischen Möglichkeiten führen zur Entwicklung neuer „wirklich“ lebender, das heißt sich selbst reproduzierender Mikroorganismen mit maßgeschneiderten Eigenschaften, z. B. zur Produktion von Enzymen und Medikamenten, zur Vernichtung von Ölteppichen u. a., in der Pharmazie und Medizin der Herstellung von Medikamenten (z. B. Insulin) und der Verbesserung diagnostischer Möglichkeiten (z. B. DNS-Chips, Präimplantationsdiagnostik, In-vitro-Fertilisation u. a.), der Entwicklung von Hybridgeschöpfen ( z. B. Tiere mit menschlichen Genen ) als lebende Bioreaktoren und zur Organzüchtung sowie zur Simulation der Biomechanik, Zellbildung und Kommunikation, der Erkrankung und zu ihrer Bekämpfung in künstlichen Organen, die in Ansätzen schon zu künstlichen Organismen gekoppelt werden. In Zukunft werden synthetische Biologie und Biotechnologie in der Koppelung mit der Wissenschaft der technischen Nutzung evolutionär erfolgreicher biologischer Konstruktionsprinzipien (Bionik) in Koppelung mit Nanotechnologie der Herstellung von (Bau)materialien, Werk- und Kunststoffen und entsprechender technischer Geräte wie Bioimplantaten, ‑computern, Möbeln, Häusern und Infrastrukturen dienen und gentechnisch auf Energiegewinnung und recycling spezialisierte Organismen entwickeln: z. B. künstliche Pflanzen mit Blättern aus Silikon, die Sonnenlicht effizienter in chemische Energie umwandeln können, gentechnisch modifizierte Regenwürmer, die Aluminium oder Titan aus Ton gewinnen, Seetang, der Gold oder Magnesium aus Salzwasser gewinnt, Bakterien, Regenwürmer, Termiten, die Abfälle und Schrott aller Art recyceln etc. 150) Vgl. Aubrey de Gre, Michael Rae, Niemals alt!: So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung (KörperKulturen). Bielefeld 2010. Doch das neue, Natur und Mensch objektivierende Wissen und seine technische Umsetzung und Nutzung im „Umbau“ der Natur bringen auch Risiken. Dazu gehören mögliche, nicht voraussehbare Folgen und Folgefolgen der Eingriffe in die Autopoiesis des Lebens und des Gehirns, Probleme der Freiheit, der Verantwortung und der Selbstverantwortung in der persönlichen Lebensgestaltung, die sich aus der „Machbarkeit“ und spezifischen Formbarkeit des Menschen durch andere Menschen (z. B. der Kinder durch die Eltern) und ihre Absichten und Zielsetzungen ergeben. Vgl. Jürgen Habermas, Ein Argument gegen das Klonen von Menschen. In: Ders., Die post-nationale Konstellation. Frankfurt/​ Main 1998. „Genomhacking“ und Nutzung der genetischen Informationen (über Krankheitswahrscheinlichkeiten) können einerseits zur sozialen Exklusion und Stigmatisierung von Menschen, die genetisch „mangelhaft“ ausgestattet sind und keine Kaufkraft haben, um dies zu kompensieren und andererseits zu gentechnologischen Manipulationen und Spezialisierungen in Elitenund Kämpferausbildung etc. führen. Dazu später mehr. 151) Nach Freeman Dyson wird auch die Entwicklung der Gentechnologie nicht groß und zentralisiert, sondern klein und benutzerfreundlich werden und zukünftigen Generationen so vertraut werden wie heute die Computertechnologie. „Es wird Do-it-yourself Kästen für Gärtner geben, die mit Hilfe der Gentechnik neue Rosen und Orchideen züchten. Ebenso welche für Tauben‑, Papageien‑, Echsen- und Schlangenfreunde, die neuartige Haustiere züchten. Auch Hunde- und Katzenzüchter werden ihre Kästen haben. Die domestizierte Biotechnik wird uns, steht sie erstmal Hausfrauen und Kindern zur Verfügung, eine explosionsartige Vielfalt neuer Lebewesen geben statt der Monokulturen, die die Großunternehmen bevorzugen … In der Ära der ‚Open source Biologie‘ wird die Magie der Gene jedem mit dem Geschick und der Phantasie, sie zu nutzen verfügbar sein.“ Freeman Dyson, Visionen grüner Technik. In: Lettre International, Nr. 78, Herbst 2007, S. 69/​70. Dass all dies so kommt, ist gut möglich, aber es sich unterschiedslos und ausdrücklich zu wünschen, erscheint naiv, wenn man z. B. berücksichtigt, dass bei allen Organismen ein großer Anteil der Gene und ihrer Funktionen noch unbekannt ist und die Umgestaltung des Genoms nicht voraussehbare Effekte haben kann. 152) Gerhard Gamm, Der unbestimmte Mensch. Die gebrochene Mitte des Selbst als irreduzible Lücke im Sein. In: Lettre International, Nr. 94, Sommer 2002. „Als ‚bloßes Leben‘ (Giorgio Agamben) definiert wird der Körper des Menschen für seine Technisierung freigegeben, er wird für seine allmähliche Verfertigung freigesetzt. Das Leben braucht nicht geführt, es braucht nur behandelt werden …“ Ebd., S. 91. Zu dieser Behandlung gehören vor allem die Möglichkeiten der Lebensverlängerung und die entsprechenden Märkte für Interessenten mit Kaufkraft. Dazu später mehr.

361

153) Peter. Propping: Die Freiheit des Menschen im Zeitalter der Genetik. In: N. Elsner, H.-L. Schreiber (Hrsg.): Was ist der Mensch? Göttingen 2002. 154) Dass der Einsatz von Nanoteilchen in Lebensmitteln, Kosmetika und Textilien auch ihr Eindringen in den Körper bis in seine Zellen ermöglicht und damit auch Gefahren für den Menschen bergen könnte, beginnt man erst zu ahnen und zu erforschen. Vgl. Kleine Teilchen, großes Risiko. In: DER SPIEGEL, Nr. 24, 2008.

Exkurs: Technik-artifizielle Intelligenz als kommende Systembildung? 1)

Dazu ausführlicher Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. I: Das Werden der Kultur in der Natur. Amazon, Creative Space 2016.

2)

Vgl. Hubert Dreyfus, Die Grenzen künstlicher Intelligenz. Was Computer nicht können. Königstein 1991. Vgl. auch George Lakoff, Mark Johnson, Philosophy in the Flesh: the Embodied Mind and its Challenge to Western Thought. New York 1999. Douglas. R. Hofstadter hat in einem Interview (DER SPIEGEL, Nr. 18, 2014) auf den Punkt gebracht, wie sehr die Schöpfer und Anhänger artifizieller Intelligenz die Art und Weise, wie diese Umweltdynamik aufnimmt, verarbeitet und mitgestaltet, missverstehen, wenn sie diese mit kognitiven Leistungen des Menschen gleichsetzen. Wer sagt, eine künstliche Intelligenz wie z. B. der IBM-Computer „Watson“ hätte viele Bücher „gelesen“, könnte genauso gut behaupten, ein Fleischwolf „esse“ Fleisch. Digitalisierung und Computerisierung bis hin zum „deep learning“ neuronaler Netze bieten bislang lediglich eine „Fake-Intelligenz“ (Luc Steels), die Muster humanen Verhaltens imitiert, ohne wirkliches Verständnis zu entwickeln. Ähnlich kurzschlüssig ist eine Gleichsetzung der mechanischen Speicherung des Computers mit dem aktiven menschlichen Gedächtnis. Grundsätzlich sind die derzeit noch weitgehend auf Objektivierung (Zerlegung und Wiederzusammensetzung) und auf Regelwissen beschränkten Algorithmen und Systeme künstlicher Intelligenz noch weit davon entfernt, eine eigenständige sinnhafte Welt (der Zusammenhänge und Kontexte) in eine unbekannte Umweltdynamik „hineinkonstruieren“ zu können, die der schöpferischen und konstruktiven Leistung der kulturellen Lebensform und der Menschen ähnlich oder diese sogar an Differenziertheit und Eigenkomplexität übertreffen könnte. Möglicherweise ist dies sogar prinzipiell nicht möglich, weil die gelebte Hermeneutik der Kultur, der Entwurf und Vollzug eines sinnhaften Lebens nie hinreichend objektiviert und propositional expliziert werden und damit auch nicht in Algorithmen übersetzt und simuliert werden kann. Jedenfalls sind die Formbildungen artifizieller Intelligenz noch weit davon entfernt, die Flexibilität und Kreativität des Menschen, seine ganzheitliche Wahrnehmung und sein integriertes Handeln, den „wässrigen Charakter des Denkens“ (Douglas R. Hofstadter): Spontaneität, Virtualisierung des Gegebenen und Kreativität, Resonanz und Kohärenz, Analogie- und Musterbildung, Intuition und Empathie, Geschmack, Takt u. a. ausbilden zu können. Vgl. Douglas R. Hofstadter, Metamagicum. Fragen nach der Essenz von Geist und Struktur. Stuttgart 1988. Ders., Emmanuel Sander, Surfaces and Essences. Analogy as the fuel and fire of think. New York 2013. Vgl. auch Ulrich Schnabel, Was macht uns künftig noch einzigartig? In: DIE ZEIT, Nr. 14, März 2018.

3)

Die zirkuläre Koppelung von Werkzeug- und Informationstechnologien zeigt eine gewisse Strukturähnlichkeit zur Koppelung von Energie- und Informationsverarbeitung bei der Entstehung des Lebens. Vgl. Reiner Klingholz, Auf neuen Wegen. In: Die Evolution des Menschen, GEO Wissen, 1988. Klingholz vergleicht biologische Symbiosen wie die Verschmelzung von Energie erzeugenden und Information speichernden Einzellern am Anfang des Lebens mit der Co-evolution von Mensch und Maschine in der kulturellen Evolution. Die gegenwärtige Beziehungsdynamik zwischen Mensch und Computer könnte man so interpretieren, dass hier die kulturelle Lebensform durch „Einverleibung“ ihre Fähigkeit zur Verarbeitung und Erzeugung von Information steigert. Vielleicht nach dem Muster: der Mensch mit der Fähigkeit der Reproduktion und einem chronischen Mangel an Information „begegnet“ dem Computer, der ein Übermaß an Information erzeugen, sich aber (bislang) nicht reproduzieren kann. Man kann sich allerdings auch fragen, ob die derzeitige Entwicklung nicht in eine „Einverleibung“ der Kultur in die Technik münden könnte. Dazu mehr weiter unten und in Kap. IV.

4)

Auch das neue System „Artifizielle Intelligenz-Technik“ würde den fundamentalen Konstruktionsregeln der Natur folgen müssen, unterläge also den Gesetzen der Thermo‑, nicht-linearen und Quantendynamik und ließe sich als „Dreischritt“ von Öffnung in überkomplexen Möglichkeitsfeldern, Schließung durch komplexitätsreduzierende Gesetzmäßigkeiten, (hier Konstruktionsregeln künstlicher Intelligenz) und ihrer Balance in der Hervorbringung phänotypischer technischer Formund Landschaftsbildungen beschreiben (z.B. Roboter, Roboternetzwerke und „Roboterkulturen“), die auch Kohärenz und „maßvolle“ Komplexität aufweisen könnten. Eine andere Frage ist, ob Technik ein dem Leben ähnliches autopoietisches, also sich selbst erzeugendes, reproduzierendes und veränderndes System werden könnte. Siehe weiter unten.

5)

Vgl. Gerd Gebhardt, Matthias Artzt, Grenzen der Steigerung von Energieflüssen und Brüche in der natürlichen und kulturellen Evolution. Beitrag zum 2. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 1994.

6)

Diese mittlerweile in vielen (Größen)phantasien über künstliche Intelligenz bereits vorausgesagte, teils in trans- und posthumanistischen Bewegungen begrüßte und teils, als Abstieg des Menschen zum „Haustier künstlicher Intelligenz“ (Bernd Guggenberger) befürchtete Möglichkeit wäre – nach der kopernikanischen, darwinistischen, psychoanalytischen und neurologischen Kränkung – mit einer weiteren Erschütterung des Selbstbilds des Menschen und seiner Rolle in der Welt verbunden. Aber handelt es sich dabei nicht um ein patriarchales, anthropozentrisches Selbstbild, das dieser Erschütterungen bedarf, um durch ein bescheideneres, partnerschaftliches und biozentrisches Selbstbild abgelöst zu werden? Dazu mehr in Kap. V.

362

7)

Nur deshalb kann man Kultur als System „Praxis- Sinn“ bezeichnen und – mit Niklas Luhmann – von einer „Autopoiesis des Sinns“ sprechen. Mit Blick auf eine ferne Zukunft denkbar ist allerdings, dass das System Technik-artifizielle Intelligenz eine Selbstorganisation bis hin zu einer Autopoiesis und zu einer Art Bewusstsein entwickelt, die sich nicht nur aus den Lebensund Praxisvollzügen der Menschen und ihrer Welt- und Sinnkonstruktion vollständig herauslösen, sondern diese ihrerseits beherrschen, kontrollieren und als Ressourcen ihrer weiteren evolutionären Differenzierung und Formbildung nutzen – bis hin zum „human farming“, wie in der Matrix Trilogie beschrieben.

8)

Gegenwärtig und in der nächsten Zukunft ist die skizzierte „Landnahme“ und Kolonialisierung der Kultur durch artifizielle Intelligenz mit einer Reihe von Risiken verbunden: Erstens könnte sie unter Bedingungen einer sich fortsetzenden ökonomischen und sozialen Polarisierung diese noch verstärken, indem mehr Arbeitsplätze vernichtet als neue geschaffen werden. Auch könnte eine Zweiklassengesellschaft entstehen, die vernetzte von nicht vernetzten, nutzende Bevölkerungsgruppen von solchen, die diese (mangels Kaufkraft) nicht nutzen können, trennt. Ferner macht es die kulturelle Lebensform noch verletzbarer durch terroristische Attacken. Und drittens kann die künstliche Intelligenz mit ihren Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten in autoritären Staaten wie auch im Rahmen eines technokratischen Globalmanagements und in neuen Formen „politwirtschaftlicher“ Steuerung missbraucht werden – wobei vermutlich dieser Missbrauch auch als Gewinn an Sicherheit und an Lebensqualität legitimiert und akzeptiert werden wird. Dabei ist ferner die Befürchtung berechtigt, dass die sich derzeit in der Durchdringung der Kultur durch artifizielle Intelligenz anbahnende Systembildung der Technik mit einer „Landnahme“ technomorphen Fühlens, Denkens und Handelns der Menschen, insbesondere der Funktionseliten verbunden ist, die hier zu einer Dominanz kognitiver Schließung führt und in einen neuen technokratisch ausgestalteten Logozentrismus mündet. Kurz gesagt: die zukünftige Überwachung, Kontrolle und Steuerung der Gesellschaft wird in enger Kooperation menschlicher und künstlicher Fachidioten geleistet. Dazu mehr in Kap. IV und im „worst case Szenario“ der Zukunft westlicher Kultur.

Exkurs Ende 155) Allerdings sind die christlich intendierte Erweiterung der Nächsten- zur Fernstenliebe und die Bildung von Übergängen und Brücken von Gemeinschaft zur Gesellschaft in einem historisch wirksamen Umfang wohl nur dort möglich, wo ein Rechtstaat und eine Demokratie zumindest so weit ausdifferenziert sind, dass sie solche und andere Formen bürgerlicher Selbstorganisation bahnen und rahmen können. Dazu später mehr. 156) Karl Ratzinger, Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Freiburg 2007. Vgl. auch ders., Jesus von Nazareth, Trilogie über die Gestalt und Botschaft Jesu Christi. Freiburg–Basel–Wien 2007–2012. Das Christentum kann, so Benedict XVI., eine Religion der Liebe und der Vernunft sein, weil Jesus Christus der mensch- und fleischgewordene Logos ist: Sinn, Vernunft, Wort in Menschengestalt. Gott ist aber „der rationale Urgrund alles Wirklichen“, „die schöpferische Vernunft, aus der die Welt entstand und die sich in der Welt spiegelt.“ Ebd. Daraus folgt auch, dass die Kirche sich als Anwältin universaler und darum nicht verhandelbarer Prinzipien – etwa der Menschenwürde und des Lebensschutzes von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod – verstehen müsste. 157) Entscheidend wird sein, wie die Kirche in diesem Rahmen Vernunft „ausbuchstabiert“. In kirchenpolitischer Sicht ist die Formel von der „Vernunft der Liebe“ auch Ausdruck eines päpstlichen Versuchs, einen Kompromiss zwischen einem immer noch logozentrischen Christentum der Amtskirche und einer nicht mehr aufhaltbaren Tendenz zu einem post-logozentrischen Christentum unter den praktizierenden Laien zu finden. 158) Vgl. Papst Franciscus I, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute. Rom im November 2013. Hier findet Franziskus auch deutliche Wort zur Umweltzerstörung und appelliert an die Menschheit, Selbstbegrenzung zu praktizieren. Ferner ders., Europa ist krank. Rede vor dem Europaparlament, 26. November 2014. Ders., Enzyklika „Laudato si. Über die Sorge für das gemeinsame Haus“. Mai 2015. Ders., Amoris Laetitia – Freude der Liebe. Mit einer Hinführung von Christoph Kardinal Schönborn. Freiburg 2016. 159) „Das islamische Reich des Kalifen Harun al Raschid (788–803), eine Milchstraße alter Länder, die sich von Andalusien bis nach Turkestan erstreckte, stellte durchaus das Reich in den Schatten, das jüngst am nordwestlichen Ende der eurasischen Landmasse ein Zeitgenosse des Kalifen, Kaiser Karl der Große (768–814), gegründet hatte.“ Peter Brown, Die Entstehung des christlichen Europa. München 1999. 160) Zu erinnern ist hier u. a. an Ibn al-Muqaffa (720–756), der bereits alle Glaubenspraktiken, Religionen und insbesondere den Koran im Namen der Vernunft kritisierte, für eine Trennung von weltlicher Macht und Religion plädierte und letztere der weltlichen Führung unterstellen wollte. Ähnlich der Philosoph und Arzt Abu Bakr Razi (vermutlich 854–925), der die Auffassung vertrat, dass man für den Wissenserwerb weder Offenbarung noch Glauben braucht und sich an einem dezidierten Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts orientierte. Auch religiöse Toleranz, die den anderen monotheistischen Religionen Existenzrecht zubilligte, wurde hier wie auch im maurischen Spanien, wenn auch begrenzt, praktiziert. Aber auch Ansätze einer „Dialektik der Aufklärung“ kann man hier bereits beobachten: Die Mutaliziten, die Mitte des 9. Jahrhunderts in Bagdad auftraten, waren Theologen, die vorgaben, sich vom „Licht der Vernunft“ leiten zu lassen, Gott in die Transzendenz verwiesen, den Menschen die Verantwortung für eine gute Lebensgestaltung zuwiesen, genau diesen

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Glauben dann aber mit Kalifenmacht und Inquisition durchsetzten, bis sie selbst mit Gewalt vertrieben und ihre Säkularisierungsideen verschüttet wurden. Quelle: Abdelwahab Meddeb, Islam und Aufklärung. In: Lettre International, Sommer 2006. Bekanntlich waren schon seit Mitte des 8 Jahrhunderts die orientalischen Gelehrten in Astronomie, Mathematik, Geographie, Medizin u. a. den Europäern weit voraus. Die islamischen Wissenschaftler konnten (motiviert durch das Bedürfnis, von jedem Ort der Welt das Gebetsziel Mekka zu bestimmen) bereits genaueste geographische Ortsbestimmungen, Karten anfertigen und die Krümmung der Erde berechnen, als die Europäer diese noch für eine Scheibe hielten. In Kairo wurde im Jahre 971 die erste Universität der Welt gegründet. Experimentelle Naturwissenschaft, Astronomie und Trigonometrie waren weit verbreitet. Der Mathematiker Chwarism führte indische Quellen nutzend das Dezimalsystem und die Null in die Mathematik ein. Quelle: Fuat Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, 15 Bde., Frankfurt/​Main 1967–2010. Bd. 10 und 11: Mathematische Geographie und Kartographie im Islam und ihr Fortleben im Abendland, Teil 1/​2. Frankfurt/​Main 2000. Die damals gängige Auslegung des Korans begünstigte Wissenschaft und wissenschaftliche Forschung, während noch der christliche Klerus in Europa diese verbot. „Den damaligen Herrschern war die Bedeutung der Wissenschaft wesentlich klarer als den Machthabern der Gegenwart. Der Kalif Mamun gründete im 9. Jahrhundert in Bagdad ein internationales Wissenschaftszentrum, das Bayt al-hikma, Haus der Weisheit. Die Sternwarten und Bibliotheken in Bagdad lockten Gelehrte aus der ganzen Welt an, ein goldenes Zeitalter der Wissenschaften brach an, das ein halbes Jahrtausend andauerte. Arabische Gelehrte übersetzten die Werke von Plato, Aristoteles und Archimedes. Die arabische Wissenschaftskultur perfektionierte die griechische und befruchtete Europas Aufbruch.” Arnfrid Schenk, Sehnsucht nach Aufklärung. In: DIE ZEIT, Nr. 41, Oktober 2005. Im Mittelalter waren die islamische Kultur der Ort und ihre geistigen und wirtschaftlichen Eliten die Akteure einer interkulturellen und interreligiösen Verständigung. Ähnlich wie die Erfindung der Druckkunst in Europa hat die Entwicklung der Papierherstellung im Islam eine Schrift- und Bibliothekskultur sowie eine „Autorität des Schreibens“ mit durchaus ambivalenten Ausprägungen hervorgebracht: einerseits Ausbreitung der arabischen Sprache und einer Religion der Öffnung und der Verständigung, der Kommunikation zwischen den islamischen Kulturen, der Philosophie und der Wissenschaften. Andererseits führte die Profilierung Gottes als „Autor“ des Korans zur dogmatischen „Versteinerung“ seiner Auslegungen. Vgl. Angelika Neuwirth, Licht aus dem Osten. In: DIE ZEIT, Nr. 44, Oktober 2017. 161) Vgl. Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin 2011. 162) Bernhard Lewis, Der Atem Allahs: die islamische Welt und der Westen: Kampf der Kulturen? Wien 1994. Siehe auch: Ders., Die Wut der arabischen Welt. Warum der Jahrhunderte lange Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen weiter eskaliert. Frankfurt/​Main 2003. Abwegig, nicht akzeptabel und politisch gefährlich sind die aktuellen Protestbewegungen gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes“, in denen Verunsicherungen und Ängste europäischer Bürger von Rechten und Rechtsradikalen instrumentalisiert werden. Ergebnisse neuerer Untersuchungen zeigen, dass religiöse Muslime mehrheitlich besonders integrationsfähig sind, wenn und soweit sich die Gast-Kultur öffnet und Integrationsangebote macht. Vgl. Doug Saunders, Mythos Überfremdung: Eine Abrechnung. München 2012. Das Manifest, das muslimische Würdenträger und Intellektuelle Anfang Juli 2006 in Istanbul formuliert und veröffentlicht haben, unterstützt die Haltung der europäischen Muslime: „Wir verurteilen und verabscheuen die gewalttätigen Aktionen einer kleinen Minderheit von Muslimen, die Gewalt und Terror gegen ihre Nachbarn und Mitbürger entfesselt haben, indem sie die Lehre des Islams verdrehen … Als Bürger sind Muslime durch das islamische Recht verpflichtet, den Gesetzen ihrer Länder zu gehorchen, besonders, wenn sie Religionsfreiheit und soziale Gerechtigkeit genießen. Als loyale Bürger, sind sie verpflichtet, ihre Länder gegen Aggressoren zu verteidigen.“ Zit. nach Jörg Lau, Keine Gewalt. Die Sensation von Istanbul. In: DIE ZEIT, Nr. 28, Juli 2006. 163) Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Berlin 2010. Vgl. auch Thomas Bauer, a.a.O. Vgl. auch Katajun Amirpur, Den Islam neu denken. München 2013. Eine große Bedeutung hat hier die bereits Ende des 19. Jahrhunderts von Mirza Ghulam Ahmad gegründete Bewegung „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ (AMJ), die für eine strikte Trennung von Staat und Religion plädiert und den Dschihad als strikt gewaltfreie, intellektuelle und spirituelle Auseinandersetzung mit Andersgläubigen versteht. Der AMJ hat inzwischen zwischen viele Millionen Muslime als Mitglieder in 195 Nationen. Vgl. dazu Khola M. Hübsch, Auch das ist Islam. Für eine muslimische Reformation. In: DIE ZEIT, Nr. 52, Dezember 2014. Vgl. hierzu auch Navid Kermani, Festrede auf 65 Jahre Grundgesetz im Bundestag, 2014. Insofern ist die Vorstellung, dass in Zukunft aus einem modernisierten Islam politische Bewegungen und Kräfte für Regierungsbeteiligungen auch in Europa hervorgehen könnten, gar nicht so abwegig und muss nicht in Bedürfnissen der Europäer nach Unterwerfung begründet werden. Vgl. Michel Houellebecq, Unterwerfung. Köln 2015. 164) Vor diesem Hintergrund hat der Islamgelehrte Aref Nayed in seiner Analyse der Regensburger Rede des ehemaligen Papstes Benedict zu Recht darauf hingewiesen, dass hier die für den Katholizismus in Anspruch genommene Synthese von Glauben und Vernunft nicht die einzig mögliche ist. Benedict irrte, als er tendenziell den Islam als grundsätzlich vernunftfeindlich ausgrenzte und damit eine mögliche Verständigung und Brückenbildung zwischen Christentum und Islam erschwerte. Islamica, Nr. 18, Januar 2007. Selbstverständlich gibt es bedenkliche Schattenseiten des Islam, die auch im Koran und in seiner (Religions)geschichte begründet sind, auf die in Kap. IV eingegangen wird. Aber grotesk und politisch gefährlich ist die Art und Weise, in der Thilo Sarrazin in selektiver und verzerrter Lesart des Koran dem Islam jegliche Humanität in seiner Geschichte und seine Vereinbarkeit mit Freiheit und Demokratie in der Gegenwart und Zukunft bestreitet, ihn tendenziell auf Islamismus reduziert und als Feind einer europäischen Kultur stilisiert, deren eigene geschichtliche Schattenseiten er verdrängt. Vgl. Thilo Sarrazin,

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Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht. München 2018. Vgl. auch Johanna Pink, Ist diese Religion gefährlich? In: DIE ZEIT, Nr. 36, August 2018. 165) Im hier entwickelten Bezugsrahmen kann man, wie schon gesagt, den Schritt von der „Logik“ der Alltagspraxis zur Glaubenspraxis auch als eine Art Übersetzung verstehen, die vom Sagbaren zum „unsagbaren Ganzen“ zu gelangen sucht. Das impliziert auch, dass die Gläubigen entlang der Dynamik und des Wandels der Alltagspraxis und ihrer Weltsichten auch diese Übersetzung in Glaubenspraxis immer wieder neu vollziehen müssen. Das fordert Özdogan auch für den Islam: „Der Weg aus der Entfremdung vom historischen Gedächtnis der eigenen Gesellschaft hin zu einer mit der eigenen religiösen Kultur versöhnten freien Subjektivität kommt um eine Versprachlichung des Unsagbaren, um eine Resymbolisierung des Nichtmitteilbaren, der religiösen Sakramentalität nicht herum. Die Übersetzung des Korans ist in dieser Hinsicht unabdingbar, und sie bedeutet keine Verfälschung oder Verwässerung des Inhalts der heiligen Schrift. Im Gegenteil: Gerade in der unserer Gegenwart entsprechenden Resymbolisierung ihrer Inhalte kann auch der sinnliche Gehalt der Religion bewahrt bleiben. Die Entwicklung einer bisher kaum ausgeprägten hermeneutischen Tradition in der muslimischen Theologie scheint ebenfalls hiervon abzuhängen … Zugespitzt ließe sich formulieren, dass Luther, als er seine Bibelübersetzung auf der Wartburg begann, die Geburtswehen der bürgerlichen Subjektivität in der christlichen Welt eingeleitet hat, was der muslimischen Welt noch bevorsteht … Die Übersetzung der Heiligen Schrift der Muslime würde eine Überwindung des falschen Absoluten anbahnen, so dass die zum Verstummen bringende Überlieferung und die in ihr befangenen lautlosen Sehnsüchte und Wünsche der Menschen nicht als Hauptquellen der Ideologiebildung instrumentalisiert würden, sondern neu zu sprechen begönnen.“ A.a.O. Dabei beruft Özdogan sich interessanterweise auf Walter Benjamins Vorstellung, „dass eine Übersetzung ‚das Symbolisierende zum Symbolisierten selbst macht‘, das heißt, das im Werk Gefangene in der ‚Umdichtung‘ befreit und den Menschen den reflexiven Zugang zum in der Sprache und der Schrift enthaltenen Unsagbaren ermöglicht.“ Özdogan, a.a.O. Man kann vielleicht auch sagen: Özdogan fordert die „Fleischwerdung des Wortes“ (des Korans), um einen zeitgemäßen glaubenspraktischen Rahmen zu schaffen für die „Wortwerdung des Fleisches“ der Gläubigen. In ähnlicher Weise sucht Christian Lehnert die geistliche Rede und die mit ihr verbundene Grammatik der Gesten und Gebärden in der Sprache als „Haus des Seins“ zu verorten. Christian Lehnert, Der Gott in einer Nuss. Fliegende Blätter von Kult und Gebet. Berlin 2017. Siehe hierzu auch: Navid Kermani, Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen. München 2014. 166) Ähnlich wie bereits für die Religionen beschrieben, leisten also auch post-religiöse Glaubenspraktiken eine Übersetzung und Synthese des Sagbaren in Richtung auf das Unsagbare (das Nicht-Identische) und können so als „kontrafaktischer Stabilisierungsmechanismus“ (Rainer Döbert) wirken. 167) Vielleicht kann man sagen, dass – ähnlich wie vermutlich beschleunigte Umweltdynamik und ‑veränderungen seinerzeit die Selektion und Ausdifferenzierung des humanspezifischen Gehirns zum „Hans Dampf in allen Gassen“ (William Calvin) vorangetrieben haben – heute von der Beschleunigung kultureller und der hier (im sog. „Anthropozän“) zunehmend mitgezogenen natürlichen Dynamik ein Entwicklungsdruck in Richtung ganzheitlichen Denkens und Zusammenhangswissens ausgeht. 168) Im 20. Jahrhundert hat sich ein „In-der-Welt-Modell“ des Beobachters mit verschiedenen Facetten herausbilden: „Der Beobachter ist Teil dessen, was er beobachtet: Seine Beobachtung ist nicht absolut, sondern relativ zu seinem Standpunkt (Einstein); seine Beobachtungen beeinflussen das Beobachtete (Heisenberg); seine Beobachtungen kreieren das Beobachtete (Spencer Brown); die Welt wird von Beobachtern nicht ‚entdeckt‘, sondern ‚erfunden‘ (von Foerster).“ Theodor M. Bardmann, Alexander Lamprecht, Systemtheorie verstehen. Eine multimediale Einführung in systemisches Denken. Wiesbaden 1999. In diesen Erfahrungen und Einsichten verbinden sich Natur- und Kulturwissenschaften zum „Niedergang der Gewissheit“. Paul Jerome Croce, Science and Religion in the Era of William James. The Eclipse of Certainty1820–1880. Chapelhill 1995. Zit. nach Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, S. 205. 169) Wenn, wie schon gesagt, Zulassen und Erfahrung des Nicht-Identischen zu den Voraussetzungen der Viabilität und der (relativen) Freiheit der kulturellen Lebensform und der Menschen gehören, dann wird es Zeit, die naturwissenschaftlich ebenso unabweisbare wie zutiefst irritierende Erfahrung der Freiheit und „Geistähnlichkeit“ der Natur, die rätselhafte Dynamik schon der leblosen Materie, das „organisch Unverständliche“ (Ernst Mayr) des Lebens sowie die ungelösten (und vielleicht nie lösbaren) Geheimnisse unseres Gehirns  –  in dieses Zulassen und diese Erfahrung des Nicht-Identischen einzubeziehen – und zwar durch die Reflexion ihrer wissenschaftlichen Objektivierung hindurch und „in Schutz nehmend“ gegen ihre voreilige Schließung in logozentrischen, hier zumeist deterministischen Modellen der Natur. 170) So zeigen u. a. die Analysen von Byung-Chul Han, dass die westliche Kultur vom fernöstlichen Denken – z. B. mit Blick auf sein Potential und seine Kraft zur „weichen Grenzziehung“ im Prozess der Globalisierung– durchaus lernen könnte. „Die mediale Schwerelosigkeit, das Schwebende der Virtualität entspricht aber dem fernöstlichen Weltverständnis, nämlich der Idee der Leere. Diesem zufolge hat die Welt nicht die Festigkeit einer Substanz. Vielmehr verfließt alles wie im Traum. Das Feste, das Schwere, das in sich Beharrende, das Unveränderliche, das Endgültige gehören nicht in die fernöstliche Vorstellungswelt. Auch deshalb haben die Asiaten vielleicht einen natürlichen Zugang zur Medialität und Virtualität … Der flüchtigen Welt wird keine Gegenwelt, keine Gegenzeit entgegengesetzt … Keine Sehnsucht nach Tiefe, Wahrheit oder Sinn beseelt die fernöstliche Kunst. Die Passion oder die Emphase der Tiefe ist … keine notwendige Voraussetzung für die Verfeinerung ästhetischer Ausdrucksformen. Spiel und Unterhaltung führen nicht notwendig zu einer ästhetischen Verflachung.“ Byung-Chul Han, ebd. 171) „Das fernöstliche Denken ist, zugespitzt formuliert, weder analytisch noch synthetisch, sondern, wenn überhaupt, syndetisch. Der Terminus ‚syndetisch‘ geht auf das griechische Wort syndetos (zusammengebunden) zurück und bedeutet: ‚durch eine Konjunktion verbunden‘ … Das Nebeneinander des Verschiedenen ist eine Ordnung ohne Zentrum und Innerlichkeit. Wer in der Innerlichkeit des Wesens, des emphatisch aufgefassten Eigenen lebt, wird das Nebeneinander des Verschiedenen leicht als eine Bedrohung empfinden.

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Diese Innerlichkeit des Wesens ist nicht bestimmend für das fernöstliche Denken. Aufgrund der fehlenden Innerlichkeit besitzt es einen Hang zur syndetischen Offenheit. Die fernöstliche Kultur ist keine Kultur der Er-Innerung … Aufgrund der fehlenden Innerlichkeit und der syndetischen Zerstreuung entwickelt der Ferne Osten eine viel stärkere Offenheit für das dezentrierte, entinnerlichte Nebeneinander des Verschiedenen, das auch die Hyperkultur charakterisiert … Das fernöstliche Denken orientiert sich nicht an der Substanz. Es ist geprägt von der buddhistischen Vorstellung der Leere. Die Leere bedeutet, dass sich nichts für sich isolieren lässt, dass nichts sich zu einer massiven Präsenz oder zu einer unveränderlichen Identität verdichtet. Im Raum der Leere gehen die Dinge ineinander über, schmiegen sich an, spiegeln einander. Die Leere erzeugt eine besondere Offenheit … Die Leere wirkt entinnerlichend und vernetzend. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Vernetzung sich im Fernen Osten intensiver beschleunigt als im Westen … Der Westen empfindet dagegen ein Unbehagen oder eine Angst vor der kulturellen Globalisierung nicht zuletzt wegen der Entinnerlichung, die sie nach sich zieht.“ Byung-Chul Han, ebd. 172) „Utopie der Erkenntnis wäre, das Nicht-Begriffliche mit Begriffen aufzuschließen, ohne es ihnen gleich zu machen“. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/​Main 1962. Dabei scheint die Arbeit am Begriffsgewebe auf eine gewebe- und netzwerkhafte Verfassung der Welt zu „antworten“. 173) Ulrich Oevermanns methodische Weiterentwicklung der von Adorno praktizierten immanenten Analyse zur „objektiven Hermeneutik“ nimmt Adornos Forderung nach sich rückhaltlos öffnender Erfahrung für das „Nicht-Identische“ in der kulturellen sinnstrukturierten Welt auch im Rahmen empirischer Sozialforschung ernst. Objektive Hermeneutik setzt an der empirischen Vielfalt geistiger Ausdrucksformen an und rekonstruiert sie (u. a. über maximale Öffnung für und Verknüpfung von Beschreibungs‑, Interpretations- und Reflexionsmöglichkeiten der involvierten Individuen) als sinnkonstituierende Handlungssequenzen: persönliche und kollektive Vollzüge einer (gewordenen wie auch werdenden) kulturellen Regelhaftigkeit, die als „objektiver Sinn“ im subjektiv befolgten und gemeinten Sinn verborgen ist und sich hier unbewusst artikuliert. Vgl. Ulrich Oevermann, Strukturale Soziologie und Rekonstruktionsmethodologie. In: Wolfang Glatzer (Hrsg.), Ansichten der Gesellschaft. Frankfurter Beiträge aus Soziologie und Politikwissenschaft. Opladen 1999, S. 76. Außerdem: Ferdinand Zehentreiter, Systematische Einführung. Die Autonomie der Kultur in Ulrich Oevermanns Modell einer Erfahrungswissenschaft der sinnstrukturierten Welt. In Roland Burkholz, Christel Gärtner, Ferdinand Zehentreiter (Hrsg.), Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann. Weilerswist 2001. Vielleicht kommt die hier angestrebte evolutionäre Rekonstruktion sinnkonstituierender Systeme als Genese und Ausdifferenzierung von Konstruktionsregeln in eigengeschichtlicher kultureller Gestaltdynamik der objektiven Hermeneutik entgegen, die kulturelle Praktiken und die damit verflochtenen Deutungsmuster als Vollzüge dieser werdenden Regelhaftigkeit (heruntergebrochen bis zur individuellen Fallstruktur) zu rekonstruieren sucht. Das deutet darauf hin, dass eine Verbindung evolutionärer Systemtheorie mit objektiver Hermeneutik vielleicht zur Entwicklung einer post-logozentrischen „Theorie der Kultur“, beitragen könnte. 174) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, S. 169 ff. 175) „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: Alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.“ Theodor W. Adorno, Minima Moralia, a.a.O., S. 333/​334. 176) Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/​Main 1968. Ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt/​Main 1976 und andere Texte. 177) Ders., Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1 und Bd. 2. Frankfurt/​Main 1983. 178) Ders., Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt/​Main 1991. Diskursethik. Philosophische Texte, Studienausgabe Bd.  3. Frankfurt/​Main 2009. 179) Ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/​Main 1992. 180) Vgl. Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Berlin 2011. 181) Vgl. dazu auch Axel Honneth, Für eine post-traditionale Solidarität: Konsensfindung und soziale Bindung unter Bedingungen des Wertpluralismus. Vortrag zum 4. Kempfenhausener Gespräch., 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich. Publikation der Bayerischen Hypobank, September 1994. 182) Im Rahmen des liberalen individualistischen Konzepts von John Rawls haben „jene Aktoren, die dort als Teilnehmer der Beratungssituation vorausgesetzt werden, … von ihren zukünftigen Lebenschancen die Vorstellung, dass sie im wesentlichen von Mitteln zur Realisierung individueller Zielsetzungen abhängen … Sie müssen sich hinter dem Schleier der Unkenntnis ihr künftiges Glück als Ausfluß einer individuellen Realisierung von Lebenszielen ausmalen, so dass sie auch ihr gerechtes Zusammenleben nur als ein sozial verträgliches Maximum an subjektiven Freiheiten antizipieren können.“ So „sickert der individualistische Begriff von persönlicher Autonomie auch in die modernen Gerechtigkeitstheorien ein; hier entsteht nun der folgenreiche Gedanke, dass die Schaffung gerechter Sozialverhältnisse vor allem dem Zweck dienen soll, allen Subjekten eine Form von Selbstbestimmung zu ermöglichen, die sie möglichst unabhängig von ihren Interaktionspartnern sein lässt.“ Aber „die Ausstattung der Individuen mit ‚subjektiven Rechten‘ ist nicht das Ergebnis einer fairen Distribution, sondern ergibt sich aus dem Umstand, dass sich die Gesellschaftsmitglieder gegenseitig als freie und gleiche anerkennen“. Denn „unter der Perspektive, welche Voraussetzungen die individuelle Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen gewährleisten können, ist die Struktur und Qualität der sozialen Anerkennungsbeziehungen das zentrale Anwendungsfeld von Prinzipien der Gerechtigkeit. Damit verliert unsere Gerechtigkeitskonzeption jeden verteilungstheoretischen Charakter und nimmt die Gestalt einer normativen Kommunikationstheorie an; denn an die Stelle von Prinzipien der fairen Distribution treten nun Grundsätze, die sich auf die staatliche Gewährleistung von sozialen Voraussetzun-

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gen der wechselseitigen Anerkennung beziehen.“ Axel Honneth, Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel, PDF-Dokument, 2004. „Der Hinweis auf den relationalen, intersubjektiven Charakter von Rechten kann … ausschnitthaft deutlich machen, dass individuelle Freiheiten überhaupt nur das Produkt einer Form von zwischenmenschlicher Kommunikation sein können, die den Charakter der wechselseitigen Anerkennung besitzt. Insofern stellt der Begriff der ‚Anerkennung‘ für Hegel den Schlüssel für ein nicht–individualistisches Verständnis der subjektiven Freiheit dar …“ In diesem Rahmen würden „die Beratenden (…) ihre zukünftigen Lebenschancen nicht so sehr im Maßstab der individuell zur Verfügung stehenden Freiheitsspielräume kalkulieren, sondern an der Qualität der zu erwartenden Sozialbeziehungen messen – und dementsprechend würde sich ihre Vorstellung sozialer Gerechtigkeit von der Ebene freiheitsverbürgender Güter auf die Ebene verpflichtender Gegenseitigkeiten verschieben.“ Ders., a.a.O. 183) Dabei werden solche Anerkennungsbeziehungen „nicht einfach durch beliebige Interaktionsverhältnisse repräsentiert, in denen sich Subjekte wechselseitig aufeinander beziehen; vielmehr muss es sich um relativ stabile Kommunikationsmuster handeln, die den Beteiligten reziprok eine Erfahrung der Anerkennung von bestimmten Fähigkeiten oder Bedürfnissen ermöglichen. Das ist nur möglich, wo die Subjekte sich gemeinsam an moralischen Normen orientieren, unter deren Geltung sie dazu angehalten werden, am jeweils Anderen die entsprechenden Persönlichkeitsanteile zu respektieren und zu fördern; insofern stellen Anerkennungsbeziehungen Formen verpflichtender Gegenseitigkeit dar, in denen die Pflichten allerdings ihren einschnürenden, verbietenden Charakter verloren haben, weil sie zu selbstverständlichen Bestandteilen einer habituell eingeübten Handlungspraxis geworden sind.“ Ders., a.a.O. 184) Ders., Nancy Fraser, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt/​Main 2003, S. 205 f. 185) Dies., a.a.O., S. 156. In der modernen westlichen Gesellschaft findet diese Missachtung beispielsweise ihren Ausdruck in den vielfältigen Ausprägungen eines patriarchalen, mehr oder weniger aggressiven „Rankismus“, wozu auch die mangelhafte Anerkennung individueller Leistungen einerseits bzw. ihrer Überbewertung andererseits, also Verzerrungen der Leistungs- und damit der Verteilungsgerechtigkeit gehören. 186) „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallengelassen oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind … Daher gelten in einer gerechten Gesellschaft gleiche Bürgerrechte für alle als ausgemacht; die auf der Gerechtigkeit beruhenden Rechte sind kein Gegenstand politischer Verhandlungen oder sozialer Interessenabwägungen. Mit einer falschen Theorie darf man sich nur dann zufrieden geben, wenn es keine bessere gibt; ganz ähnlich ist eine Ungerechtigkeit nur tragbar, wenn sie zur Vermeidung einer noch größeren Ungerechtigkeit notwendig ist. Als Haupttugenden für das menschliche Handeln dulden Wahrheit und Gerechtigkeit keine Kompromisse.“ John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/​Main 1998, S. 19/​20. 187) Fingiert wird eine ursprüngliche Situation der Gleichheit, „die so beschaffen ist … dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft … Dies gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung.“ Ders., ebd., S. 27–28. 188) Vgl. Amitai Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft. Frankfurt/​Main 1997. Auch: Michael Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, und: Charles Taylor, Aneinander vorbei: die Debatte um Kommunitarismus und Liberalismus. Beide in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Frankfurt/​Main 1993. 189) Mit Blick auf sozialisatorische Gemeinschaften unterscheidet Hilary Putnam zwischen sozialen Beziehungen, die primär eine „Bindung“ herstellen und solchen, die primär eine „Brücke“ bauen. Auf Bindung ausgerichtet sind Gemeinschaften, die „nach innen schauen und homogene Gruppen mit exklusiver Identität stärken wollen“. Demgegenüber schauen Beziehungen, die eine Brücke bauen, „nach außen und vereinen Menschen, die auf verschiedenen Seiten einer sozialen Kluft stehen“. Hillary Putnam, Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community. New York 2000. Es sind diese grenzüberschreitenden und brückenbauenden Aktivitäten, die an die Stelle der reaktionären Beschwörung vergangener Schicksalsgemeinschaften die Entfaltung (multikultureller) Zukunftsgemeinschaften setzt und in einer modernen Gesellschaft unverzichtbar sind. 190) Hans Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von George Herbert Mead. Frankfurt/​Main 1980. 191) Ders., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt/​Main 1992. 192) Ders., Die Kreativität des Handelns. Frankfurt/​Main 1992. 193) Der „humanistischen Psychologie“ Abraham Maslow folgend unterscheidet Joas zwischen primärer, sekundärer und integrierter Kreativität. „Unter primärer Kreativität versteht er (Maslow) die Freisetzung von ‚Primärprozessen‘, der Phantasie und Vorstellungskraft, des Spielerischen und Enthusiastischen. Als sekundäre Kreativität bezeichnet er hingegen die rationale Produktion von Neuem in der Welt etwa durch technische oder wissenschaftliche, auch durch alltagspraktische Problemlösung. Wir befinden uns heute in einer Krise dieser sekundären Kreativität (…). Es kann eine Sehnsucht nach primärer Kreativität geben, die alle sekundäre Kreativität verachtet. Es kann aber auch eine Integration von primärer und sekundärer Kreativität gedacht

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werden … In diesem Begriff der ‚integrierten Kreativität‘ wird die Offenheit und Unvorhersehbarkeit der Selbstartikulation mit der Verantwortungshaftigkeit der Selbstkontrolle zusammengebracht. Die Selbstkontrolle aber verweist auf die anderen. Kreativität kann durch deren Kritik und durch Selbstkritik nicht erstickt, sondern gesteigert werden. Dieser nicht-individualistische Begriff von Kreativität sensibilisiert erst für die Wahrnehmung der individualistischen Einschränkungen, denen das Verständnis der Kreativität heute unterliegt.“ Hans Joas, Die Kreativität sozialen Handelns zurückgewinnen: schöpferische Betätigung im Gemeinwesen. Vortrag zum 4. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich. Publikation der Bayerischen Hypobank, September 1994, S. 8. 194) Spontan verübte individuelle und kollektive Gewalt lässt sich „als Resultat einer interpersonalen Eskalationsdynamik auffassen, deren Ausgang in verschütteten Wegen zur integrierten Kreativität liegt. Wo Partizipation als unmöglich erscheint und Kreativität nicht sinnvoll in die persönliche Balance eines sinnvollen Lebens eingegliedert werden kann, staut sich ein am Ausdruck gehindertes Potential. Im Enthusiasmus der Gruppengewalt werden Erfahrungen der Stärke und des Zusammenhalts gemacht, für die es an konstruktiven Gelegenheiten mangelt. Wo die postmoderne Koexistenz heterogener Lebensstile nicht intellektuelles Vergnügen bereitet, sondern als Überforderung erlebt wird und Angst macht, kann Gewalt gegen die Schwachen und die Fremden entstehen.“ Ebd., S. 9. 195) „In der Partizipation an den Organisationen und Institutionen demokratischer Politik und Kultur, in den sozialen Bewegungen, die den flüssigen Untergrund der Demokratie darstellen, an Arbeitsplätzen und in Nachbarschaften sowie im vorpolitischen Raum zwischenmenschlicher Hilfe – in all diesen Bereichen können rationale Interessenverfolgung, moralische Verpflichtung und kreative Selbstentfaltung unter günstigen Umständen als ungeschieden erfahren werden.“ Ebd., S. 9. 196) Hans Joas, Die Macht des Heiligen …, S. 122–123. Der zitierte Text beinhaltet ein Zitat von Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912). Frankfurt/​Main 1982, S. 566. Ähnlich wie Joas wendet sich auch Michael Kühnlein gegen die klassische Säkularisierungsthese: „An die Stelle einer vernunftteleologischen Megastory der Entzauberung ist vielmehr die hermeneutische Einsicht in den historisch kontingenten Entstehungscharakter des säkularen Zeitalters getreten.“ Michael Kühnlein (Hrsg.), Religionsphilosophie und Religionskritik. Ein Handbuch. Berlin 2018. Darüber hinaus geht Hans Joas noch einen Schritt weiter: Im Rekurs auf die pragmatistische Handlungstheorie, „die nicht nur – bei James und Dewey – eine Theorie der kontingenten Wertentstehung (…), sondern – bei Dewey und Mead – auch und gerade eine Konzeption des Universalismus in der Moral“ beinhaltet – hat er überzeugend ausgeführt, wie eine „universalistische Moralkonzeption und die kontingenzbezogene Wertentstehungstheorie zu einem Ganzen zusammengefügt werden können.“ Hans Joas, Die Entstehung der Werte. Frankfurt/​Main 1999, S. 265ff. Joas rekonstruktiver Ansatz zeigt, wenn ich das recht sehe, gewisse Strukturähnlichkeiten zu dem hier unternommenen Versuch, die Entstehung und Ausdifferenzierung universaler Handlungslogiken und ihrer impliziten, universalisierbaren Ethik in der zirkulären Koppelung von kontingenter Eigengeschichte und evolutionärer Ausdifferenzierung naturgeschichtlich radizierter Konstruktionsregeln (Systeme), metaphorisch: in einer sich gegenseitig bedingenden Entwicklung von „Texten“ und der Ausdifferenzierung ihrer „Grammatik“ zu rekonstruieren. Eine vermutlich fruchtbare genauere Analyse von Übereinstimmungen und Differenzen dieser rekonstruktiven Ansätze kann hier jedoch nicht geleistet werden. 197) Wie die kritische Gesellschaftstheorie hätte auch eine kritische Theorie der Technik die Rekonstruktion und Explikation der impliziten Ethik der objektivierend begreifenden, auf technische Nutzung zielenden Bezugnahme auf Umweltdynamik, (ihre Ausrichtung auf und Suche nach Wahrheit ihrer Modellierungen) mit einer (deskriptiv analytischen) Theorie und einer (empirischen) Analyse aktueller Ausprägungen ihres Gelingens bzw. Misslingens zu verbinden. Dabei können die präzisen und detaillierten Ausführungen einer solchen dreifach verankerten kritischen Theorie mit Blick auf die Gesellschaft, wie sie vor allem von Jürgen Habermas, Axel Honneth und Hans Joas geleistet wurden, als Vorbilder auch für die Entwicklung einer entsprechenden kritischen Theorie der Technik dienen, die ihre zukünftige verantwortungsbewusste Mitgestaltung orientieren könnte. 198) Die Verwendung des „könn(t)e“ soll zum Ausdruck bringen, dass die generativen, vor allem Frieden, menschliche Entfaltung und Entwicklung eröffnenden Potentiale westlicher Systemarchitektur zwar schon in vieler Hinsicht und in einem großen Ausmaß wirksam sind, aber auch bis heute durch systematische Verzerrungen, durch ein „systemisch Böses“ begrenzt und unterdrückt werden. Vgl. Kap. IV. 199) In Abwandlung eines berühmten Wortes von Adorno kann es keine richtige Bildung in einer falschen Kultur geben. 200) Zeitgeist bildet sich, wie bereits angedeutet, in der Erzeugung und zirkulären Koppelung latenten und manifesten Sinns. „Latenter Sinn“ wurde hier als kulturspezifische Ausprägung eines Möglichkeitsfelds definiert: eine hochkomplexe Dynamik und Fluktuation, Verflechtung und Wechselwirkung von Wahrnehmungen und Empfindungen, Beobachtungen und Selbstbeobachtungen, von unbewussten und bewussten Erfahrungen und Imaginationen der involvierten Individuen, die permanent in ihren alltags- und glaubenspraktischen Vollzügen zum „manifesten Sinn“ komplexitätsreduzierender, handlungsorientierender Deutungsmuster „kippt“, um dann in den „pool“ des Möglichkeitsfelds, des „latenten Sinns“ zurückfließen, aus dem wieder ein Entwicklungskorridor zukünftigen „manifesten“ Sinns hervorgeht usw. Die Strukturähnlichkeit zu David Bohms Modell impliziter und expliziter Ordnung ist auffällig und bedenkenswert. Vgl. Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. I. Das werden der Kultur in der Natur. Amazon. Creative Space, 2016. 201) Sofern hier überhaupt noch religiöse Glaubenspraktiken und Deutungsmuster (z. B. Christentum und Islam) eine Rolle spielen, werden sie in dieser neuen urbanen Religiosität zunehmend von traditionalen kulturellen und politischen Kontexten und ihren Anforderungen und Disziplinierungen entkoppelt und weitgehend privatisiert sowie jeweils in individuellen bzw. gruppenspezifischen „Mixturen“ patchworkartig mit post-religiösen Deutungsmustern verflochten. Dazu gehören die Aus-

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breitung privatreligiöser Entwürfe, der Esoterik und des Okkultismus, der wachsende Einfluss von Sekten und Erneuerungsbewegungen, ein westlich eingefärbter Buddhismus u. a. Gemeinsam ist auch diesen Glaubensmustern, dass sie westliche Lebensformen reflektieren und orientieren, die die involvierten Individuen auf diesseitige Selbstverwirklichung und Bindungen zum Zwecke der Selbstfindung gleichsam programmieren. Die Ablösung der traditionellen Religiosität des „Dein Wille geschehe“ durch eine „Patchwork-Religiosität“, in der „mein Wille“ (bzw. der Wille meines Gurus) geschehe, um meinen Frieden hier und heute im Diesseits zu finden, bleibt im Kern eine glaubenspraktische Rahmung und Stützung verwestlichter, diesseits- und selbstbezogener Lebensformen. 202) Damit ist gemeint, dass Bedürfnisse nach ausreichender Ernährung, nach guter Gesundheitsversorgung und finanzieller Sicherheit, aber auch Interessen an staatlich gewährter Sicherheit und Ordnung sowie auf Anpassung und Einhaltung von Konventionen zielende Orientierungen und Werte wie Gehorsam, Fleiß, Disziplin, Treue und traditionale Loyalitäten wie z. B. kirchliche und religiöse Bindungen zwar nicht verschwunden aber an Bedeutung und Einfluss verloren haben. 203) Daher ist es auch nicht überraschend, dass heutige Studenten – vor dem Hintergrund der aktuellen Jugendarbeitslosigkeit, angesichts der verschärften Konkurrenz um Jobs und unter dem Druck hoher Qualifikationsanforderungen seitens der Wirtschaft – mehrheitlich wieder ichbezogener und materialistischer denken, dem beruflichen Vorankommen und dem materiellen Lebensstandard wieder einen größeren Stellenwert in ihrer Lebensplanung einräumen, ihr Interessen- und Lernspektrum dementsprechend auf „das Wesentliche“ zu Lasten von Allgemeinbildung verengen und auch weniger Bereitschaft zeigen, sich politisch, für Gesellschaft und Gemeinschaft zu engagieren.Vgl. Studie der Bundesregierung über Einstellungen und Erwartungen, Lebens- und Berufsplanung der Studenten in Deutschland. Befragung von 500 Studenten. TNS Infratest, Bericht 2013. Vgl. dazu auch Studierenden Survey der Universität Konstanz im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. 2014. Internetdokumentation unter www.bmbf.de und: www.unikonstanz.de/​studierendensurvey. Siehe auch weiter unten die Beschreibung emanzipatorischer Strömungen. 204) Dazu mehr in Kap. V. 205) Während der mainstream der Globalisierungsgewinner und -genießer ihre religiösen Glaubenspraktiken privatisieren, hier zunehmend asiatische Elemente integrieren, dabei aber der religiöse Einfluss auf ihre Lebenspraxis mehr oder weniger schrumpft, bietet für viele Arme und (Globalisierungs)verlierer auf den Wachstumsinseln, in ihrem Umfeld und in den Entwicklungsländern die Teilhabe an kollektiven religiösen Ritualen, Veranstaltungen und Initiativen der (auch neuen) Kirchen spirituellen Halt, Tröstung und Hoffnung – was hier politisierende, teils aber auch entpolitisierende Effekte haben kann. 206) Sie sind zu Fleiß, Selbstdisziplin und zur Übernahme von Verantwortung bereit, wenn sie in Situationen und Projekten involviert und sich vor Aufgaben gestellt sehen, deren Sinn und Zweck sie akzeptieren. Selbstverwirklichungswerte scheinen hier Akzeptanzwerte (wie Folgebereitschaft, Fleiß, Disziplin u. ä.) nicht einfach abzulösen, sondern diese zu relativieren und zu sog. Sekundärtugenden herabzustufen. 207) Dazu gehören Naturschutz- und Ökologiebewegungen, Organisationen zum Tierschutz und zum globalen Erhalt der Biodiversität, Gemeinschafts- und Genossenschaftsbildungen zur Pflege und zur gemeinsamen Nutzung der Allgemeingüter der Menschheit (Luft, Wasser und Boden, Information und Wissen)und ihr Schutz vor Vermarktung, Bürgerinitiativen zur Sozialisation und Bildung, im Medizinbereich und zur Sterbekultur, zivilgesellschaftliche Initiativen, Stiftungen zum Schutz und Ausbau persönlicher Freiheit, für mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, Demokratisierung und Mitbestimmung in Politik und Wirtschaft, Bürgerinitiativen zur Betreuung von Migranten, viele Nicht-Regierungsorganisationen, die sich in der Entwicklungspolitik für die Durchsetzung und Einhaltung der Menschenrechte einsetzen, hier gegen Hunger, Krankheit, Massensterben und Korruption und für mehr Lebens‑, Entwicklungschancen, Infrastrukturen, medizinische Versorgung und Bildung der Bevölkerungen einsetzen und noch viele andere Initiativen, die auf diese Weise zum „Gelingen“ unserer kulturellen Lebensform beitragen. 208) „Der wirkliche Wert der freien Marktwirtschaft besteht nicht nur in der Verbesserung der wirtschaftlichen Produktivität, sondern vorm allem darin, dass sie den menschlichen Geist anregt und den Verstand von Hunderten Millionen von Menschen befreit, die jetzt endlich das Gefühl haben, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können … Die meisten richten den Blick auf die materiellen Vorteile. In Wirklichkeit sind jedoch die Stärkung des Selbstwertgefühls und die Zunahme der persönlichen Freiheit weit wichtiger. Die Menschen fühlen sich befreit, wenn sie mehr Wahlmöglichkeiten haben und ihnen Zugang zu Alternativen gewährt wird …“ Kishore Mahbubani, Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen Dominanz. Berlin 2008, S. 26–27. Allerdings irrt Mahbubani, wenn er diese geistige Mobilisierung als eine spezifisch asiatische Leistung einordnet, anstatt sie auch als Ausdruck von Verwestlichung auch und gerade in den asiatischen Ländern anzuerkennen. Zu den Avantgarden einer kulturellen, nicht materiell und ökonomisch fokussierten Verwestlichung gehören u. a. die Bürger- und Jugendrevolten in den urbanen Zentren der USA und Europas, in Ost- und Südosteuropa (z. B. in der Ukraine, in Rumänien, in Ungarn und auf dem Balkan) und in Russland, im Nahen Osten (z. B. in Ägypten und in Syrien) und im fernen Osten (z. B. Hongkong), die auf die Diskrepanz zwischen demokratischem Anspruch und Fassade und der Realität von Herrschaft und Korruption reagieren. (Allerdings werden diese Bewegungen, sofern es ihnen gelingt, demokratische Wahlen herbeizuführen, nicht selten, wie z. B. in Ägypten durch das Wahlverhalten konservativer Landbevölkerungen wieder entmachtet.) 209) Axel Honneth, Für eine post-traditionale Solidarität: Konsensfindung und soziale Bindung unter Bedingungen des Wertepluralismus. Vortrag zum 4. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich. Publikation der Bayerischen Hypobank, September 1994

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210) Über die Bemühungen um Umweltschutz, Demokratisierung und Gerechtigkeit hinaus scheint heute auch eine in sozialisatorischer Handlungslogik wurzelnde Ethik der Fürsorge in der Gesellschaft an Boden zu gewinnen. Was bei aller Verschiedenheit diese engagierten Bürger verbindet, ist die Artikulation und Politisierung ihrer intuitiven Sittlichkeit. Gegenseitige Hilfe, die Entfaltung menschlicher, gewaltfreier Nah- und Fernbeziehungen (auch mit Migranten) und ein „sanfterer“ Umgang mit der Natur stehen hier nicht nur im Zentrum persönlicher Wertorientierungen und Identitätsfindung, sondern werden auch – zumindest in Ansätzen – als politische Forderungen in Protestbewegungen und Initiativen artikuliert. Dass die westliche Kultur trotz ihres fragwürdigen Gesamtzustands noch so viel menschlichen Reichtum und Entwicklungspotentiale enthält, hängt auch ganz wesentlich mit den hier bewahrten bzw. neu heranwachsenden Kräften zusammen. 211) Ausdifferenziert in Praktiken und Vollzügen sozialisatorischer Praxis und im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entfaltung der Arbeitsteilung, der Individuation und der Entstehung einer bürgerlichen Privatsphäre, wurde diese praktische „Vernunft der Liebe“ überwiegend den Frauen zugewiesen, und auf familiäre und freundschaftliche Beziehungen beschränkt, scheint aber heute, in bürgerlichen (insbesondere feminin geprägten) Netzwerken, diese Grenzen zu überwinden und neue „Brücken“ zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft entstehen zu lassen. 212) Dieses anthropologische Potential wurde in Kap. I nur in groben Zügen beschrieben. Eine ausführliche Rekonstruktion findet sich in: Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. I: Das Werden der Kultur in der Natur. Amazon, Creative Space 2016. 213) Die explorativen Anteile in den Vollzügen kultureller Alltagspraktiken, die hier eingebetteten Beobachtungs- und Kommunikationsleistungen folgen dem Regulativ der ästhetischen Kohärenz – was sich auch in der Persönlichkeitsbildung als Tendenz zu „weichen Grenzziehungen“, als Sensibilität und Aufgeschlossenheit für die „Anderen“ und das „Andere“ wie auch als Befähigung zur Lebenskunst und Urteilskraft durch Balance von Öffnung und Schließung, von (ästhetischer) Freiheit und ethischer Selbstgesetzgebung identifizieren lässt. 214) Erinnern wir uns: Nach der früh-kulturellen Selbstbeobachtung erster Ordnung als (prä-religiöse) Beseelung der Welt, der hochkulturellen Selbstbeobachtung zweiter Ordnung als (vor allem religiöse) Moralisierung und der spätkulturellen Selbstbeobachtung dritter Ordnung als (post-religiöse) Objektivierung der Welt sind heute wachsende Anteile religiöser und post-religiöser Selbstbeobachtung der Kultur durch Aufwertung des ästhetisch-spielerischen und kreativ schöpferischen Umweltbezugs geprägt. Dazu gehören eine Öffnung zum Nicht-Identischen im Umgang mit Kontingenz und eine post-logozentrische Reflexion und Explikation in religiösen und post-religiösen Weltbildern, die man als evolutionäre Ausdifferenzierung einer Selbstbeobachtung vierter Ordnung interpretieren kann. 215) Allerdings zählen dazu auch Formen der Ästhetisierung der Weltbezüge im Rahmen einer Refeudalisierung von Lebensstilen unter heutigen Globalisierungsgewinnern, die kaum noch emanzipatorische Gehalte aufweisen, sondern zu Medien der Distinktion, zur Ab- und Ausgrenzung von denen, die „keine Kultur haben“, heruntergekommen sind. Vgl. dazu auch Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017. Dazu mehr in Kap. IV. 216) Hinzu kommt, dass im westlichen Pfad die bildenden Künste sich aus ihrer religiösen Einbettung gelöst, sich eigenständig ausdifferenziert haben und heute unter dem Geltungsanspruch des Gelingens von Kohärenz praktiziert, rezipiert und mit Blick auf ihre Beiträge zur Interpretation, Kritik und Mitgestaltung unserer Welt bewertet werden. Hierzu gehört auch die aktuelle Gewichtsverschiebung von ästhetischer Produktion zur Kommunikation, vom Ausstellen der Werke zur ästhetischen Aktion und spielerischen Inszenierung, die zunehmend auch als „Artivismus“ (Peter Weibel) die Aktionen moderner Demokratie- und Protestbewegungen (z. B. Occupy, Umbrella movement, Zentrum für politische Schönheit u. a.) durchziehen und hier neue soziale Dynamiken, neue Beziehungen, Vernetzungen und kritische Perspektiven emergent hervorbringen. Aber auch hier besteht die Gefahr der Entschärfung der kritischen und emanzipatorischen Gehalte der Kunst in ihrer affirmativen Integration z. B. in Kunstmärkten und Vernissage-Kultur. Vgl. Kap. IV. 217) Vgl. Mario Telò, Regionalismus, Globalisierung und die Rolle der EU. In: Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, 1/​2. Bonn 2015. Telò sieht Chancen und Möglichkeiten eines dritten Wegs in den regionalen Wirtschaftszonen eröffnet, die der EU ähnlich auf allen Kontinenten entstehen, und nicht nur im Innern, sondern auch nach außen vielfältige und sich überlappende Beziehungen mit anderen Wirtschaftszonen eingehen. „Die EU ist kein Einzelbeispiel für eine friedliche und demokratische Zusammenarbeit von Nachbarstaaten  … Die künftige Weltordnung wird nicht nur eine multipolare, sondern auch eine multiregionale Prägung haben  … Auf allen Kontinenten werden regionale Zusammenschlüsse erweitert und vertieft.“ Die Beziehungen zwischen diesen regionalen Wirtschaftszonen kann man als „Interregionalismus“ bezeichnen, der eine „Zwischenstufe zwischen Globalismus und Bilateralismus“ darstellt. „Interregionale Übereinkommen sind ein unverzichtbares Instrument, um die Integration zu vertiefen, regionalen Konflikten vorzubeugen und die Folgen von Wirtschaftskrisen zu bewältigen.“ Ebd., S. 49–54. 218) Vgl. Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter. Frankfurt/​Main 1998: Albrow beschreibt eine Entkoppelung des Staats vom Territorium, er wird „dezentriert“, existiert nur noch als „globale Sphäre sinnvoller Handlungen“ (S. 105), angelegt in neuen sozialen Bewegungen: „Der performative Weltbürger handelt nicht aufgrund einer ihm gesetzlich auferlegten Pflicht, sondern aufgrund seiner persönlichen Einstellung und eines freiwilligen Engagements. Daher bestimmen auch freiwillige Aktivitäten und nicht aufgezwungene Strukturen die Formen des globalen Staates.“ Ebd., S.  277. Nach Albrow kommen die Bürger zu diesem Engagement aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit drohender Entmündigung und Kolonialisierung der Lebenswelt.

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219) Mit Blick auf einen positiven Verlauf stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die weitere Ausdifferenzierung, Stabilisierung und Konservierung der Konstruktionsregeln, die den Entwicklungskorridor der weiteren kulturellen und technischen Evolution eröffnen und begrenzen, gezielt, in Politik und lernender Organisation nicht nur beeinflusst, sondern auch gesteuert werden können? Kann eine organisierte positive Integration des kulturellen und des technischen Systems und seine zukünftige, auch naturfreundliche Ausdifferenzierung entlang der impliziten und expliziten Ethik westlicher Lebensform gelingen? Im Rahmen dieser Suche nach Möglichkeiten und Chancen einer organisierten Selbsttransformation westlicher und sich verwestlichender Kulturen sind heute insbesondere, (aber nicht nur) die Perspektiven und Ansätze einer ökologischen Regulation unserer Lebensformen im Interesse der Begrenzung des Klimawandels hochaktuell. Dazu mehr in Kap. V. 220) Zu beiden Gefahren des Misslingens mehr in Kap. IV und im „worst case Szenario“ der Zukunft. 221) Auch die heute erkennbaren, zunehmenden und vielfältig ausgestalteten hermeneutischen und kommunikativen Beziehungen zur Tier- und sogar zur Pflanzenwelt, lassen vermuten, dass wir auch disponiert sind, diese Fähigkeiten und Beziehungen in angemessener Weise auf die Integration künstlicher, in Zukunft zunehmend komplexerer Wesen in unsere Gemeinschaftsund Gesellschaftsbildung zu übertragen. 222) Die Potentiale, dass auch Technik nachhaltig „gelingen“ kann und eine Co-evolution natürlicher, kultureller und artifizieller Intelligenz auf der Erde im Sinne von „win-win-Spielen“ und „Partnerschaft“ möglich ist, ergeben sich zunächst aus ihrer Verwurzelung in der Autopoiesis und Viabilität des Lebens, die bewirkt, dass in the long run nicht-viable Technologien wieder verschwinden und möglicherweise Kulturen, die sich davon zu sehr abhängig gemacht haben, untergehen bis eine viable, natur- und kulturfreundliche künstliche Intelligenz entstehen und sich behaupten kann. Ferner eröffnet die Einbettung artifizieller Intelligenz und Ihrer Ziel- und Lernvorgaben nicht nur in der instrumentellen, weltobjektivierenden Alltagspraxis, wo sie der Simulation und Optimierung von Daten, Informationen, Wahrnehmungen, Beobachtungen und Erkenntnissen sowie darauf begründeten Entscheidungen dient, Möglichkeiten und Wege ihrer positiven Integration. Sondern das betrifft auch die Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung und Integration im Rahmen von Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung, wo sie den Regulativen ihrer impliziten Ethik (reziproke Empathie und Anerkennung) folgend sozialisiert werden bzw. sich selbst sozialisieren könnte. 223) Hierzu auch Harald Welzer, Generation 2018. In: DIE ZEIT, Nr. 2, Januar 2018. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass auch die etablierte Linke (also in Deutschland die SPD) wieder die Imagination einer besseren Welt entwickelt und sich programmatisch entsprechend in Richtung auf einen erneuerten demokratischen Sozialismus formiert. Ob sie dazu in der Lage ist, ist leider mehr als fraglich. „Die Linke hat das neo-liberale Mantra, dass es keine Alternative zum globalen Kapitalismus gibt, im Grundsatz verinnerlicht. Deshalb ist sie keine Kraft der Zukunft, keine Treiberin des Fortschritts, keine Energiequelle von Reformanstrengungen mehr. Sie hat kein eigenes Narrativ einer Gesellschaft jenseits von universeller Konkurrenz, grenzenlosem Wachstum, Umweltzerstörung, der Auflösung lokaler Gemeinschaften, in der jede Pore des Lebens zur Ware gemacht wird … Der Zeithorizont ihrer Gestaltungsvorstellungen ist nur noch auf die nahe Zukunft gerichtet, ihre Reformvorstellungen sind nur noch pragmatisch und auf schrittweise Veränderung gerichtet“. Oliver Nachtwey, Für die vielen, nicht die wenigen. Woher kommt die Krise der Linken? Sie hat das Mantra der Alternativlosigkeit verinnerlicht. In: DIE ZEIT, Nr. 6, Februar 2018.

IV. Entstehung und Ausdifferenzierung des „systemisch Bösen“ in der kulturellen Evolution 1)

Wie in Kap. I dargestellt, kann man sich den Ursprung der Glaubenspraktiken als Verselbständigung der ästhetischen, resonanzbegründeten und kohärenzerzeugenden Anteile der Alltagspraktiken vorstellen, die zu ganzheitlichen Weltentwürfen „ausgebaut“ werden. Über ihre ästhetischen Gehalte hinaus kennzeichnet Glaubenspraktiken, dass sie die Handlungslogiken und impliziten Ethiken von Alltagspraktiken, die sich in den Entwicklungsstufen der kulturellen Evolution evolutionär ausdifferenziert haben und hier jeweils dominant sind, zu ganzheitlichen Weltentwürfen verallgemeinern. Die alltagspraktischen Handlungslogiken der Gemeinschafts‑, der Gesellschaftsbildung und der Technik und ihre implizite Ethik sind Realabstraktionen und ihre jeweils glaubenspraktisch generierten „Aufladungen“ zu Modellen „ganzer“ (beseelter, moralischer und objektiver) Welten lassen sich als Abstraktionen dieser Realabstraktionen verstehen.

2)

Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, dass Ausbildung und „Pflege“ von Vorurteilen zur Evolution des Verhaltens und der Kognition gehören und hier, in einer Welt des schnellen Agierens und Reagierens, die kein Zaudern und Zögern zulassen kann, einen evolutionären Vorteil ausmachten. Demgegenüber besteht der evolutionäre Schritt vom Verhalten zur kulturellen Praxis in der Anthropogenese (und ähnlich wohl auch in der Ontogenese) in der Öffnung für ästhetische Erfahrung und einer damit auch einhergehenden produktiven Verzögerung des Handelns und Urteilens. Wie bereits ausgeführt, fordern die alltagspraktischen Vollzüge und die darin eingebettete Kontingenzbearbeitung durch bewusstseinsbildende Erkenntnis von den involvierten Individuen eine „Öffnung zum Nicht-Identischen“ (Theodor W. Adorno), verlangen ein Sich-Einlassen auf die Freiheit des „Anderen“, das mit Angst vor Identitätsverlust verbunden ist. Eine nicht-logozentrische Glaubenspraxis hilft und orientiert, diese Angst zu überwinden, indem sie die Kreativität des „ahnenden Geistes“ ermutigt und bahnt, ästhetisch kohärente Gestaltentwürfe (Weltentwürfe) zu generieren, in deren Rahmen nun

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Reorganisation und weitere Ausdifferenzierung des „wissenden Geistes“ stattfinden können. Demgegenüber sind logozentrische Glaubenspraktiken u. a. durch die Angst geprägt, sich in den „träumenden Geist“ fallen zu lassen und sich im „ahnenden Geist“ auf die Freiheit des „Anderen“ einzulassen und setzen an deren Stelle eine (vermeintliche) Souveränität durch Verdrängung, Unterdrückung und Kontrolle des „Anderen“. 3)

Dabei gehört zum systemisch Guten der westlichen Kultur eine zunehmend höhere Gewichtung der Freiheit gegenüber jedem konkret gefassten (vermeintlich) Guten. Nicht-logozentrische, religiöse wie auch post-religiöse Glaubenspraktiken gehen in ihren spätkulturellen Ausprägungen mehr oder weniger explizit davon aus, dass das „Gute“, also auch und vor allem Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit nur in Freiheit und das heißt auch: in der (An)erkenntnis der Freiheit des „Anderen“ gesucht und gefunden werden kann. Dabei bezieht sich, wie ebenfalls bereits gesagt, „Freiheit des Anderen“ nicht „nur“ auf den sozialen Anderen, sondern auf „das Andere“ schlechthin, umfasst die (An)erkenntnis der Freiheit im Sinne des Nicht-Festlegbaren, des „Nicht-Identischen“ (Theodor W. Adorno) in der menschlichen Natur, in der Dynamik sozialer Beziehungen und in der Mitnatur, zu der die Menschen kraft der ästhetischen Anteile ihrer Praxis- und Erkenntnisvollzüge befähigt sind.

4)

Wie schon angedeutet, hat der Logozentrismus u.  a. in der Philosophie von Theodor W. Adorno eine stringente und radikale Kritik erfahren, die mit dem Begriff der „Kulturkritik“ eher verharmlost wird. Logozentrische Glaubenspraxis entspricht dem, was Adorno mit „Ideologie“ meint. Indem Identität zur Bestimmung des Gegenstandes gemacht wird, dieser als „An sich“ repräsentieren soll, was Resultat seiner logozentrischen Zurichtung ist, wird sie zur „Urform von Ideologie“. Diese „schwebt“ nicht als Gedankenkonstruktion über der kulturellen Wirklichkeit, sondern erzeugt und strukturiert – in Verflechtung mit Alltagspraktiken – diese Wirklichkeit. „Darum ist Ideologiekritik … philosophisch zentral: Kritik des konstitutiven Bewußtseins selbst.“ Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Frankfurt/​Main 1966, S. 149.

5)

Individuelle Gewalt wird psychologisch mit „Selbstvergessenheit“ (Arno Gruen) im Sinne einer Verschüttung und Verkürzung intuitiver Sittlichkeit, vor allem des Mitgefühls verbunden. Vgl. Arno Gruen, Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit. München 1997. Im hier erweiterten Bezugsrahmen lässt sich auch die moderne kapitalistische, der Logik der Finanzmärkte folgende Verkürzung der Weltwahrnehmung auf ihre „Bezifferung“ und die darin begründeten Verzerrungen – der kulturellen Selbstbeobachtung, der wirtschaftlichen und politischen Praxis sowie der Medien und der Wissenschaften – als „Selbstvergessenheit“ charakterisieren. Vgl. Colin Crouch, Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin 2015. Dazu später mehr.

6)

Während „Autonomie“ sich in den Vollzügen einer gekonnten „weichen“ Grenzziehung zum „Anderen“ einstellen kann, kennzeichnet das Bemühen um eine ungeteilte „Souveränität“ die Praxis „harter“ Grenzziehung. Ihre Unterschiede lassen sich auch mit Erik Eriksons Unterscheidung zwischen ganzheitlicher und totalitärer Identitätsbildung verdeutlichen: Während „Ganzheit die fortschreitende Wechselbeziehung zwischen verschiedenartigen Funktionen und Teilen ausdrückt“, stellt „Totalität eine Gestalt dar, bei der die Betonung auf den starren Umrisslinien liegt: bei an sich willkürlich gewählten Grenzen darf nichts, was hineingehört, draußen bleiben, und nichts, was nach draußen gehört, kann innen geduldet werden. Totalität ist ebenso absolut exklusiv wie absolut inklusiv; ein Zustand des Entweder-Oder, der ein Element der Gewalt enthält … In der Psychologie des Einzelnen wie in derjenigen von Gruppen taucht immer wieder das Bedürfnis nach Totalität ohne Gegensatz und Zweifel auf, auch wenn die Ganzheit dafür aufgegeben werden muss. Um es in einem Satz zu sagen: Wenn der Mensch an seiner wesenhaften Ganzheit verzweifelt, rekonstruiert er sich und die Welt, indem er in einer künstlichen Totalität Zuflucht sucht.“ Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/​Main 1979, S. 168. Wie bereits angedeutet, sind Systemevolution („Grammatik“) und Geschichte (phänotypische Form- und „Landschaftsbildung“) der Kultur durch ein „Pendeln“ zwischen ganzheitlicher und totalitärer Ordnungsbildung oder (in unserer Terminologie) zwischen „weichen“ und „harten“ Grenzziehungen geprägt. Das gilt vermutlich auch für das derzeit sich ausdifferenzierende System „Technik-Artifizielle Intelligenz“, dessen totalitäre Ausprägungen Jaron Lanier als „kybernetischen Totalitarismus“ beschreibt. Jaron Lanier, Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht. Berlin 2010.

7)

Wie beispielsweise in der Mentalität der Nazis oder islamischer Terroristen, „die eine ganze Gesellschaft oder Zivilisation auf eine Masse seelenloser, dekadenter, geldgieriger, entwurzelter, ungläubiger und gefühlloser Parasiten“ reduziert. Ian Buruma, Avishai Margalit, Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde. München 2004. Eine implizite, teils auch explizite Dehumanisierung des „Anderen“ findet bis heute auch in der modernen westlichen Kultur ihre vielfältige Ausprägung in „gesellschaftlichen Reservaten wilder Macht“ (Nils Minkmar), in denen das patriarchale Streben (z.  B. von Polizisten, Lehrern, Managern, Politikern u. a.) nach Selbstvergewisserung vermeintlicher Souveränität durch Willkür und Unterwerfung, Demütigung und sexuellen Missbrauch der (weiblichen) „Anderen“ weitgehend ungestraft praktiziert wird. Vgl. Nils Minkmar, Die böse Unantastbarkeit. Die Enthüllungen reißen nicht ab: Wir leisten uns gesellschaftliche Reservate wilder Macht – nicht nur in der Ökonomie. In: DER SPIEGEL, Nr. 47, 2017.

8)

Plausibel scheint auch, dass diese wohl schon in der Säugetier- und Primatenevolution angelegte und in der sozialisatorischen Praxis wirksame Disposition zur Inklusion und Bindung der Nächsten und zur Exklusion und Xenophobie gegenüber den „Anderen“ durch die Sprach- und Sinndifferenzierung schon zwischen den frühen nomadischen Kulturen verstärkt wurde. Mit der Entstehung vollwertiger Oralsprachen (nach jetzigem Wissensstand vermutlich vor ca. 40000 Jahren) und der damit auch sprachlich codierten Bewusstseinsinhalte und Wissensbestände bekamen deren integrierende und ausgrenzende Funktion eine wachsende Bedeutung: sie unterstützen nämlich die Entstehung der kulturellen Bindung derjenigen, die durch eine gemeinsame sozialisatorische Praxis, gemeinsame Deutungsmuster (Meme) dieselbe Sprache sprechen und einer kulturellen Ausgrenzung derjenigen, die nicht daran teilhaben, (bzw. noch nicht als mögliche Teilhabende (an)erkannt werden konnten.) Mit der gemeinschaftsstiftenden und normierenden Funktion der eigenen Meme

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und der eigenen Sprache verband sich zunächst eine Ausgrenzung und Fremdheit des „sozialen Anderen“, der nun ganz wesentlich auch an der Fremdheit seiner Meme und Sprache erkennbar war. Die kulturellen, kognitiven und sozialen Voraussetzungen für einen „dritten Weg“ gesellschaftlicher („höflicher“) Beziehungen zwischen Fremden gab es auf dieser Stufe der Entwicklung noch nicht. Und bis heute beherrscht diese archaische Konstruktionsregel der affektiven Inklusion und Exklusion in vieler Hinsicht das menschliche Zusammenleben, bestimmt kulturell erzeugte Fremdheit und ihre politische Wendung in Feindschaft. Vgl. hierzu auch Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München 2017. 9)

„Die berühmte Jagdszene im Schacht der Höhle von Lascaux zeigt einen Jäger-Schamanen, der von einem verwundeten Bison überrannt und niedergetrampelt wird … Das Töten und die Bereitschaft sich töten zu lassen, ist als Kultbild an die Höhlenwand gemalt. Dieses Verhalten gilt es zu verehren und zu verinnerlichen. Es ist der Typus heldenhaften Tuns. Es verfolgt keinen äußeren Zweck, sondern wird um seiner selbst willen gesucht. Sein tieferer Sinn liegt darin, den in zwei Schritten vollzogenen Übergang vom Status des Beutetiers in den Status des (Super)raubtiers, den Jägerstatus zu sichern und ihn immer neu einzuüben. Vor allem der heranwachsende junge Mann muss ihn erlernen. Von Natur aus ist der Mensch ja ein Fluchttier und es kostet schon Mühe, ihn zum – künstlichen – Raubtier, sprich „Helden“ umzupolen. Alle Initiationsriten, so vielfältig die Ethnologie sie beschreibt, und jede militärische Ausbildung … dienen diesem Ziel.“ Georg Baudler, Ursünde Gewalt. Das Ringen um Gewaltfreiheit. Düsseldorf 2000, S. 119.

10) Baudler, ebd., S. 102. Hier wurzelt auch die archaische Institution der Blutrache, die in ihrer frühesten Form ungerichtet und mit „Rache“ im Sinne von Vergeltung nichts zu tun hatte. „Sie richtet sich in dieser ältesten Form weder gegen den Mörder noch gegen einen Menschen aus der Sippe des Täters, sondern verlangt nur, dass die Sippe, in die der Tod einbrach, wiederum selbst tötet. Worauf es ankommt, was unter allen Umständen gewährleistet sein muss, ist, dass diese Sippe, die Gemeinschaft nicht in ihrem göttlich unsterblichen Seinsstatus, nämlich dem Status des am Ende der Nahrungskette stehenden Superraubtiers und Jägers angetastet wird … Dringt der Tod von außen in die Gruppe ein, muss die Gruppe wiederum töten, um nicht in den Beutetierstatus zurückzufallen; sie muss ihre Tötungsgewalt beweisen. Deshalb muss ursprünglich nicht notwendig ein Angehöriger der Sippe des Totschlägers oder Mörders getötet werden, sondern ‚irgendeine möglichst wehrlose Person‘, etwa ein gerade vorbeikommender Fremder, ist dazu ‚gerade recht‘ …“ Baudler, a.a.O., S. 105/​106. Demgegenüber ist die Eingrenzung der Tötungsgewalt auf Rache und Vergeltung und später das biblische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ schon eine Errungenschaft im Rahmen der gesellschaftlichen Domestizierung von Tötungsgewalt. 11) Georg Baudler, a.a.O., S. 110. 12) Zur Dezimierung und Ausrottung von Groß- und Säugetieren schon in Frühkulturen vgl. Elizabeth Kolbert, Das sechste Sterben – Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt. Berlin 2015. 13) Bis heute können sich vor allem Männer in der Ausübung tödlicher Gewalt, in Kampf, Krieg und Massacker, in einem „höheren Seinszustand lebend“ (Wolfgang Sofsky) fühlen. Wolfgang Sofsky spricht vom „seltenen Erlebnis der inneren Einheit“, von „orgiastischer Selbststeigerung“ und „Selbstentgrenzung“. Vgl. W. Sofsky, Traktat über die Gewalt. Frankfurt/​ Main 1996. Klaus Theweleit beschreibt, wie der lustvolle Akt des Tötens sich mit Freude und Triumph verbindet, die ihren Ausdruck im Lachen des Mörders finden. Vgl. KlausTheweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u. a. Psychogramm der Tötungslust. St. Pölten 2015. Ähnlich findet der Soziologe Ferdinand Sutterlüty in seinen Gesprächen mit jugendlichen Gewalttätern immer wieder Beschreibungen rauschhafter und lusthafter Ausnahmezustände. Offensichtlich wird die Gewalt hier zum Selbstzweck und das Handeln folgt Motiven, „die aus der Erfahrung der Gewaltausübung selbst hervorgehen und keiner situationsexternen Ziele und Zwecke mehr bedürfen.“ Sutterlüty, zit. nach Ulrich Greiner, Am Tor des Unheils. In: DIE ZEIT, Nr. 6, 1. Februar 2007. Auch sexueller Missbrauch lässt sich wohl in vielen Fällen als eine Instrumentalisierung der Sexualität zur Vergewisserung und Demonstration von Macht und Souveränität durch Gewaltausübung interpretieren. 14) Im Rahmen der animistischen, auch die Tiere beseelenden Glaubenspraxis wird die Jagd als ein reziprokes Handeln interpretiert: dem Akt des Tötens korrespondiert das Getötetwerden als Einwilligung und „Gabe“ des Tiers. Insofern konnte hier eine verpflichtende Ordnung entstehen, die das Töten der „anderen Tiere“ maßvoll begrenzte. In diesem glaubenspraktisch symbolisch konstituierten Rahmen kann nun aber auch das Begehren entstehen, durch Übertretung dieser reziprok, zwischen Mensch und Tier konstituierten Ordnung, durch maßloses und lustvolles Töten vermeintlich Souveränität gegenüber dem Tod zu gewinnen. Man kann es auch anders ausdrücken: zur nachdrücklichen Abgrenzung von und zum „Heraustreten“ des männlichen Denkens und Handelns aus der sozialisatorischen Logik der reziproken „Beseelung“ gehört auch die Überwindung der animistischen Demut und des Mitgefühls gegenüber den „anderen Tieren“. Der Übergang vom (gelegentlich auch) Jagenden zur Identität des sich lustvoll gegen die Natur stellenden, seine Macht ausübenden Jäger-Kriegers kann nur so erreicht und stabilisiert werden. 15) René Girard folgend lässt sich „mimetische Rivalität“ als eine verkürzte Form der Reziprozität verstehen, in der die Gewalt des Einen und die Gewalt des Anderen zirkulär gekoppelt sind, sich gegenseitig hervorbringen, steigern und eine Abwärtsspirale herbeiführen, in der einerseits die vermeintlichen Gegensätze zwischen ihnen ins Unendliche wachsen und andererseits die Parteien in ihrem gewalttätigen Verhalten immer ähnlicher werden. Überzeugend ist Girards Analyse, dass diese Dynamik bis heute und gegenwärtig nicht nur die ethnischen Kriege in Afrika, sondern viele aktuelle, alte und neue Kriege rund um den Globus – zwischen Islamismus und dem Westen, zwischen Israel und Palästina, zwischen Sunniten und Schiiten u. a. – prägt. René Girard, Im Angesicht der Apokalypse – Clausewitz zu Ende denken. Berlin 2014. Motor der Gewaltspirale ist die Praxis der „harten Grenzziehungen“, die bis heute auch das politische Denken und seine Fixierung auf Nationalstaaten

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bestimmt. Einen „Ausweg“ (Giorgio Agamben) könnte die heute beobachtbare Machtergreifung von Frauen in Wirtschaft und Politik dann eröffnen, wenn sie nicht in Anpassung, Imitation oder gar Überbietung des männlichen Umgangs mit Macht mündet, sondern sich mit einer „Verweiblichung“ der Macht im Rahmen einer Praxis der „weichen Grenzziehungen“ verbinden würde. Vgl. Mary Beard, Frauen und Macht. Ein Manifest. Frankfurt/​Main 2018. Ein Beitrag zur politischen Verwirklichung und Konkretion dieses weiblichen Umgangs mit Macht könnte ein konsequenter Föderalismus sein, sowohl mit Blick auf die Dauerkrisen im Nahen Osten wie auch auf Europa und eine werdende Weltgesellschaft. Vgl. hierzu auch Michael Wolfsohn, Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München 2015 und die Beiträge von Christian Lutz zur föderalen Struktur eines zukunftsfähigen Europas. Dazu ausführlicher in Kap. VI. 16) Jay Griffiths, Wild. An Elemental Journey. London 2007. Der Begriff „wilde Güte“ bringt die Spontaneität intuitiver Sittlichkeit zum Ausdruck und umschreibt eine existenzielle Qualität der impliziten Ethik und ihrer Explikation, die diese von einer „von oben“ verordneten Moral abgrenzt. Vgl. auch Carol Pateman, Mary Lindon Shanley, Feminist Interpretations and Political Theory. Cambridge 1991. Dieselbe, Der brüderliche Gesellschaftsvertrag. In: Kathrin Baum, Gesine Fuchs, Christiane Lemke, Katrin Töns (Hrsg.), Feministische Perspektiven der Politikwissenschaft. München–Wien 2000. 17) Der Gegensatz des „guten“ (männlichen) Geistes zum „bösen“ (weiblichen) Fleisch ist hier angelegt: „Die Philosophie und die Religion haben dieses Denken ausgearbeitet und insbesondere die Bewertung dazugefügt, die dann später auch als Ethik säkularisiert wieder auftaucht – als die Bewertung in Gut und Böse, und folglich die in oben und unten. Insbesondere signalisiert „männlich“ nun das Gute und „weiblich“ das Böse, das mit einem sog. Teufel in Verbindung steht. Das Dunkle wird zum Weiblichen und das Helle, Licht („Aufklärung!“) zum Männlichen gerechnet. Der Himmel steht nun über der Erde, resp. Hölle, und der gute Geist im Gegensatz zur bösen Materie. Es wird also nicht nur getrennt, sondern auch gewertet, und vor allem entwertet. Das bedeutet eine Unterdrückung von Kräften anstelle des Umgangs mit ihnen. Frühere Kulturen hatten sich stattdessen bemüht, die vorhandenen Kräfte als solche anzuerkennen und einen Umgang mit ihnen zu praktizieren, anstatt sie einander entgegenzusetzen, gegeneinander auszuspielen und einige von ihnen abzuspalten. Das neue Denkverfahren bringt mit sich, dass die Natur (zum Teil) selber als böse gelten muss oder als gewalttätig, und zwar im Sinne einer Projektion der eigenen Gewaltbereitschaft auf Natur zurück.“ Claudia von Werlhof, Vortrag im Rahmen der Kempfenhausener Gespräche, 1. Zyklus, Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 3. Gesprächsrunde, 1994. 18) Eine ausführlichere Darstellung der patriarchalen „Formatierung“ von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ in der früh- und hochkulturellen Evolution findet sich u. a. bei Joachim Rosssbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. III, Das systemisch Böse in der Kultur. Amazon, Creating Space 2016. 19) Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914. Frankfurt/​Main 2006. 20) Vgl. John Darwin, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000. Frankfurt/​Main 2010. 21)

Vgl. Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005. Ders., Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerswist 2006. Vermutet und befürchtet werden kann, dass in Zukunft ein globales, künstliche Intelligenz und autonome Überwachungs- und Waffentechnologien nutzendes imperiales Globalmanagement Asymmetrie erneut und perfekter organisieren wird.

22) Die „Lebenszeit“ der Hochkulturen war in Europa kürzer als in anderen Teilen der Welt, wie z. B. in Südostasien – was u. a. auch daran liegen könnte, dass die spirituelle Wendung der Subjekte nach innen im Buddhismus und im Hinduismus und eine teilweise hoch entwickelte erotische Kultur der Entwicklung eines patriarchalen, (selbst)destruktiven Logozentrismus entgegenwirken und diesen „entschärfen“ konnte. Kurz gesagt: die asiatischen Hochkulturen waren vielleicht einfach körperfreundlicher, damit „weiser“ und dadurch stabiler. Aber auch in Asien hat die hochkulturelle Evolution einen Verlauf genommen, in dem sich – z. B. in China und Indien – patriarchale Herrschaftsverhältnisse erhalten und ausbreiten konnten und sich heute mit einer zwar auch westlich beeinflussten, aber auch eigenständigen Modernisierung verbinden. Diese bringt nun ein fernöstliches Wirtschaftssystem hervor, das wie schon gesagt, Europa „provinzialisiert“. 23) Zu beobachten ist eine Sehnsucht nach einer erleichternden, ja erlösenden „Unterwerfung“ unter ein religiöses, sei es christliches oder auch islamisches Regime und die hier gestiftete kristallklare und fraglose Ordnung und Moral. Vgl. Michel Houllebecq, Unterwerfung. Köln 2015. Konservatismus privilegiert zwar zumeist die Seite der „Schließung“ in der kulturellen Evolution, die Konservierung gegebener Formen und ausdifferenzierter Regeln und zeigt insofern eine potentielle Nähe zum Logozentrismus, darf aber nicht mit diesem gleichgesetzt werden. Andererseits gibt es Logozentrismus auch in linken Fortschrittstheorien und den Versuchen ihrer Verwirklichung. 24) Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/​Main 2002. Eine moderne Ausprägung dieser „Entkleidung“ des Anderen ist die strukturelle und organisierte Gewalt gegenüber Migranten in Europa und weltweit. Vgl. Marcus Metz, Georg Seeßlen, Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge. Berlin 2016. Auch die Polizeigewalt und ‑willkür gegenüber der dunkelhäutigen Bevölkerung in den USA nährt sich aus deren Reduktion und Fixierung auf die „Anderen“, die im Extremfall auch getötet werden dürfen. Vgl. hierzu Ta-Nehisi Coates, Between the World and Me. New York 2015. Vgl. auch Bryan Stevenson, Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA. München 2015. 25) So beruhte bekanntlich die athenische Kultur auch auf der Existenz der Sklaverei, auf der Unterscheidung zwischen Menschen (Bürgern) und Sklaven als „belebten Sachen“, die selbstverständlich auch gefoltert und getötet werden durften. Angeleitet durch immer neue Varianten der patriarchalen Selbsterhöhung und Erniedrigung des Anderen hat „Exklusion“ den Um-

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gang der Europäer mit anderen Kulturen bestimmt: vom Morden der Kreuzritter über die Ausrottung und Unterdrückung der Völker Südamerikas bis zum Kolonialismus und zur Versklavung von Völkern in Afrika und Asien und der Ausrottung der amerikanischen Indianer. Zwischen 1400 und 1900 haben europäische Staaten mit den Werkzeugen patriarchal „formatierter“ junger Männer und einer hochentwickelten Waffentechnik 90% der bis dahin bekannten Erde erobert. 26) Dabei ist anzumerken, dass viele Vernichtungsaktionen und kollektive Grausamkeiten des politischen Patriarchats schon im europäischen Pfad weniger durch mittelalterliches, sondern, wie z. B. die Hexenverfolgung, mehr durch frühneuzeitlich geprägtes Denken und Wissen, durch Glauben an und Vertrauen auf „Erkenntnis“ und „wissenschaftliche“ Analyse gestützt und begründet wurden. „Die großen Hexenverfolgungen fanden nach der Reformation, im Zeitalter der Ausbildung des frühmodernen Staates und der Entstehung der modernen Wissenschaften statt; ja, es waren gerade moderne Momente, die zu den Exzessen führten.“ Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit. 16.–18. Jahrhundert; Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung. München 1994. Diese Rationalisierung der Vernichtung des „Anderen“ fand ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert in den totalitären Systemen des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Siehe weiter unten. 27)

Edward Said hat dies am Beispiel des westlichen, auch wissenschaftlichen Sprechens über andere Völker im Rahmen von Kolonialismus und Post-Kolonialismus überzeugend analysiert. Edward Said, Orientalismus, Ergänzte Neuauflage. Frankfurt/​ Main 2009. Seit dem 16. Jahrhundert haben die globalen Eroberungszüge, Ausbeutungs- und Bereicherungsstrategien des politischen Patriarchats in Europa zu der Reichtumskonzentration ganz wesentlich beigetragen, die hier auch eine Voraussetzung und Ressource für Entstehung und Ausbreitung eines patriarchalen Kapitalismus bildete. Siehe weiter unten.

28) „Jede Offenbarungsreligion hat eine immanente Tendenz zu Ausschließlichkeit und Fundamentalismus – und damit zur Gewalt. Gott hat ihr die Wahrheit verkündet, und so muss sie Anspruch auf die Wahrheit erheben, sonst verrät sie ihren eifersüchtigen Gott, der keine Götter neben sich duldet. Der fromme Muslim, Jude oder Christ hat also immer ein spannungsvolles Verhältnis zu seiner nicht-gläubigen Umwelt: Wieso nimmt sie das Heilsangebot nicht an, verspottet es, bekämpft es? Wie kann der Gottlose die gleichen Rechte haben wie der Gottesfürchtige, wie kann es Pluralismus im Angesicht der Wahrheit geben? … Es ist überraschend, wie ähnlich – bei allen Unterschieden natürlich – sich der interreligiöse Fundamentalismus in vielem ist. Er bedient sich archaischer Bilder und Folien, er ist aber eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts: 1919 gründete sich in den USA die World’s Christian Fundaments Association, ungefähr zur gleichen Zeit entwickelte Rabbiner Abraham Isaak Kook seine Vision vom Groß-Israel; 1928 gründete Hasan al-Banna die Muslimbruderschaft, die Keimzelle des Islamismus … Alle drei Strömungen sind Reaktionen auf die Verlust- und Unsicherheitserfahrungen der Moderne. Alle erheben sie den Anspruch, ihre Offenbarungsschrift wörtlich und damit einzig richtig zu verstehen (was in Wahrheit nichts als eine Interpretation ist); alle leiten sie daraus den Anspruch ab, das Rezept für eine richtige Staats- und Gesellschaftsordnung zu haben. Die Ambivalenzen einer vielfältigen Gesellschaft sind aufgelöst in Gut-Böse-Alternativen. Die Bösen können Anhänger anderer Religionen sein, es sind aber ebenso häufig die vermeintlichen Verräter in den eigenen Reihen. Gegen sie ist der Einsatz von Gewalt erlaubt, gar geboten. Der Fundamentalist pflegt eine Spiritualität des Schreckens, er verherrlicht den Kampf und den Tod, Waffen sind ihm liturgisches Gerät: Dies alles geschieht im Dienst des Guten, in einer perversen Logik gar zum Besten der im Namen Gottes Ermordeten. Eine Beschreibung, die auf die evangelikalen Kreuzzugsprediger in den USA passt, auf die militanten jüdischen Siedler im Westjordanland und auf die islamistischen Einheizer im Streit um die Karikaturen “ Matthias Drobinski, Die dunkle Seite Gottes. In: SZ, Nr. 35, 2006. 29) „Die Evangelikalen haben die optimistischsten und individualistischsten Elemente des europäischen Calvinismus genommen und mit dem noch optimistischeren ‚Wir werden das Kind schon schaukeln‘-Geist der USA in Einklang gebracht … Dass der amerikanische Evangelikalismus mit seiner Betonung der freien Wahl (Jesus anzunehmen), der Taufe von Erwachsenen (die Feier dieser Wahl, egal, wann im Leben sie getroffen wird) und der garantierten Erlösung den in der amerikanischen Erfahrung festgeschriebenen Individualismus spiegelt ebenso wie die optimistische Effektivität und Emersons Lehre vom Neuanfang, ist wenig überraschend … Der evangelikale Fundamentalismus besagt, dass die Bibel in deiner persönlichen Auslegung ganz wörtlich Gottes Willen ausdrückt. Das schafft Optimismus und Zuversicht, denn alle Zweifel, man könnte sich in seiner Interpretation irren, werden ausgeräumt. Die Lehre von den Segnungen erlaubt den reichen Frommen den Genuss ihrer Reichtümer … Die evangelikalen Gemeinden verwenden nur einen Bruchteil ihrer sozialen und religiösen Aktivitäten auf die politische Arbeit. Aber hier entsteht das Problem der Demokratie mit den Evangelikalen: Es erwächst – wie bei allen religiösen Fundamentalisten – aus dem Ziel, im politischen System auf Dauer eine Institution der Regelsetzung zu verankern, die außerhalb des demokratischen Prozesses steht. Das ist ein Angriff auf die Wandelbarkeit von Ideen und die Notwendigkeit regelmäßigen Machtwechsels … Die ‚National Reform Association‘ stellt schlicht fest: ‚Der zivile Herrscher muss ein Diener Gottes sein … Daher muss die Zivilregierung unseres Landes, ihre Gesetze, Institutionen und Vorhaben mit den Prinzipien der biblischen Gesetze in Übereinstimmung gebracht werden‘ … Der Verfassungsrichter Antonin Scalia schrieb im Jahr 2002, die Regierung beziehe ihre moralische Autorität von Gott. Die Regierung ist Gottes Gesandter, sie hat die Macht zur Rache und darf auch das Schwert des Zorns führen … Dies wird inzwischen von Predigern aus dem religiösen mainstream vertreten, die einen beträchtlichen Teil der Basis der republikanischen Partei bilden … Die Republikaner und mit ihnen die Evangelikalen, verfügen über Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses und an 10 von 13 Bundesgerichten sind die Republikaner schon in der Mehrheit – ebenso wie am Supreme Court. [Diese Verteilung hat sich inzwischen verändert. Anmerkung des Verfassers] Aufgrund der Besonderheiten des amerikanischen Wahlrechts repräsentieren die 55 Senatoren der republikanischen Mehrheitsfraktion nur eine Minderheit der Bevölkerung.“ Aber „sollten die Amerikaner eine Regierung wählen, die behauptet, im Besitz absoluten, göttlichen Wissens zu sein, würde diese Wahl, so demokratisch sie auch sein mag, das Ende der Demokratie bedeuten.“ Marcia Pally, Fröhlich zupackender Geist. Der amerikanische Evangelikalismus: Warum wir ihn hassen und warum er funktioniert. In: SZ, Nr. 243, 21. Oktober 2005.

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30) 42% aller US-Amerikaner rechnen sich selbst zu den Evangelikalen, das „Christian Broadcasting Network“ strahlt seine Sendungen in 50 Sprachen und 90 Ländern aus, die religiöse Romanreihe „Left behind“ hat inzwischen eine Auflage von 40 Millionen erreicht. Derzeit scheinen sich in Deutschland christliche, evangelikale wir auch katholische Fundamentalisten gelegentlich auch als „Wutchristen“ zu outen, die sich mit Rechtspopulisten zu anti-islamischen und antiliberalen Initiativen verbinden. Alex Rühle, Gott beweist: Darwin ist tot. Der Kreationismus breitet sich langsam auch an europäischen und deutschen Schulen aus. In: SZ, 30. Juni 2007. In Deutschland gibt es derzeit ca. 1,3 Millionen Evangelikale. Bemerkenswert ist auch, dass die neuerliche Ausbreitung eines religiösen Fundamentalismus bislang auch die europäische Politik nicht sonderlich beunruhigt: so wurde eine Resolution über die „Gefahren des Kreationismus“ vom Europarat mit knapper Mehrheit abgelehnt. Zur „Wutchristen-Bewegung“ siehe: Fromme Radikale. In: DER SPIEGEL, Nr. 9, 2015. 31) Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels. Frankfurt/​Main 1985, S. 63. Vgl. auch ders., Der neue Totalitarismus. Heiliger Krieg und westliche Sicherheit. Darmstadt 2004. Vgl. auch Khola M. Hübsch, Auch das ist Islam. Für eine muslimische Reformation. In: DIE ZEIT, Nr. 52, Dezember 2014. Unterdrückung (insbesondere der Frauen) und organisierte Gewalt gegenüber Ungläubigen legitimierende Auslegungen des Korans werden bis heute von patriarchalen und totalitären Regimen im Interesse ihres eigenen Existenzerhalts vertreten und instrumentalisiert. „Nicht die Religion behindert die Bildung, sondern die politische und theologische Macht, welche die Religion interpretiert.“ Reiner Klingholz, Gebildete stellen Fragen. Ist zu wenig Bildung die Ursache vieler Konflikte? Fehlt Arabien eine Lernkultur? In: DIE ZEIT, Nr. 9, Februar 2016. Vgl. auch Reiner Klingholz, Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit. Frankfurt/​Main–New York 2016. 32)

„Seit 1400 Jahren wird der Islam von einer extrem kleinen, strengen und oft zutiefst traditionellen Gruppe von Männern geprägt, die sich als die unerschütterlichen Stützpfeiler betrachten, auf denen die religiösen, sozialen und politischen Fundamente der Religion ruhen.“ Reza Aslan, Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammed bis zur Gegenwart. München 2006, S. 23. Schon im 9. Jahrhundert versuchte die islamische Geistlichkeit das „Tor des Idschtihad“ als geschlossen zu deklarieren, das heißt die Möglichkeit des unabhängigen Gebrauchs der Vernunft bei der Textauslegung für beendet zu erklären und blockierte auf diese Weise z. B. eine Weiterentwicklung des islamischen Rechts. „Wenn Gott in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, den Koran, die ‚Rechtleitung‘, wie er genannt wird, herabsendet, dann ist die Gesellschaft zu jener Zeit so, wie Gott sich die Welt wünscht. Die Kodifizierung jedes Aspektes des menschlichen Lebens, wie sie der Koran leistet, macht eine Abstrahierung oder eine Weiterentwicklung des Textes unmöglich, denn Gottes Wort ist perfekt und kann nicht durch menschliche Modifikation verfeinert oder übertroffen werden. Die islamische Gesellschaft soll sich so nicht fort-, sondern zurückentwickeln, so wie sie zur Zeit des Propheten war.“ Alexander Goerlach, Die neue Weltunterordnung. In: FAZ, 15. Mai 2000. Vgl. hierzu auch Mehmet Mihri Özdogan, Den Koran übersetzen. In: Lettre International, Herbst 2003. In einer subtilen Analyse zeigt Özdogan, dass – im Gegensatz zur „Fleischwerdung Gottes“ (Inkarnation) im neutestamentarischen Christentum  –  das Verharren des Islams in der „Buchwerdung Gottes“ („Illibration“) mit einer kulturellen, gesellschaftlichen und mentalen Entwicklungsblockade verbunden ist. „Die Idee der Unübersetzbarkeit der Heiligen Schrift der Muslime verhärtete sich zu einem unerschütterlichen Dogma und desavouierte die Möglichkeit ihres zeitgemäßen Fortlebens. Damit wird nicht nur die vernunftgemäße Erfassung der Inhalte der Heiligen Schrift verhindert, sondern bereits deren sinnliche Wahrnehmung. Auf der anderen Seite wird die Erlebniswelt der Gläubigen abgedichtet gegen die Erfahrung, gegen die Fähigkeit zur Toleranz gegenüber der Mannigfaltigkeit des Meinens, gegen Reflexion überhaupt, welche die Voraussetzung für die individuelle Selbstverfügung des Menschen bildet. Die Unterbindung der Übersetzung ist der Kern der ‚Krankheit des Islam‘ … Die folgenreichste inhaltliche Differenz zwischen Christentum und Islam scheint aber in der Idee der Inkarnation zu bestehen. Denn während Jesus als menschliches Ebenbild Gottes der Masse der Gläubigen eine Identifikationsmöglichkeit bietet, ermöglicht die Idee der Illibration (Buchwerdung Gottes) es nicht, die an Wort und Vorstellung Gottes gebundene narzisstische Energie wieder durch identifikatorische Prozesse einzubinden und für die psychische Strukturbildung nutzbar zu machen. Im religiösen Leben der Menschen im Christentum fallen Idealisierung und Identifizierung eben wie in der bürgerlichen Familie zusammen. In der muslimischen Welt aber treten sie auseinander: Die Heilige Schrift kann man zwar lieben und idealisieren, man kann sie für vollkommen und unnachahmlich halten, aber man kann sich mit ihr nicht identifizieren, während man sich mit Jesus als Gott in menschlicher Gestalt identifizieren kann. Die narzisstische Idealisierung, ein psychodynamischer Grundmechanismus aller Religionsbildungen, macht sich aber in der muslimischen Welt als verhinderte Identifikation und somit als eine Art der „Ich-Schwäche“ oder gar als ausbleibende Subjektivität bemerkbar.“ (Ebd.) Allerdings könnte man dem entgegenhalten, dass der Prophet und Feldherr Mohammed im Islam ein vergleichbares Identifikationsangebot darstellt – was die Entstehung kriegerischer Ausdeutungen und Umsetzungen des Islam begünstigen konnte. Vgl. auch Abdelwahab Meddeb, Dem Islam ist die Gewalt in die Wiege gelegt worden. In: DIE ZEIT, Nr. 39, September 2006. Demgegenüber spricht das Christentum grundsätzlich den Einzelnen an, der sich für den Anschluss an die christliche Gemeinde entscheiden muss. „Glaube, durch eine in den Augen der Griechen ‚törichte Predigt‘ erweckt, ist also kein intellektueller Vorgang, sondern ein existentieller Lebensvollzug … Das heißt, die Wahrheit, die der Glaube glaubt, ist zwar mit anderen Wahrheitsansprüchen nicht kompatibel, aber sie ist auch keine allgemeine oder allgemein einsichtige Wahrheit. Der christliche Glaube ist vielmehr ein durch und durch persönlich geprägtes, das heißt individuelles Phänomen und insofern auch die wesentliche Grundlage des modernen Menschenrechtsgedankens, wenn darin auch Momente der stoischen Ethik aufgenommen wurden.“ Mehmet Mihri Özdogan, Den Koran übersetzen. In: Lettre International, Herbst 2003.

33)

Vgl. Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt. Berlin 2005. Diners These ist, dass die Entwicklungsblockade in der islamisch-arabischen Kultur u. a. auch durch eine Fixierung auf die Hochsprache bewirkt ist, die der Versprachlichung von Alltagserfahrung im Wege steht. Und in dieser Hochsprache gibt es interessanterweise keine echten Hauptverben für Sein und Werden, um den Fluss der Zeit bzw. die Zeitfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Ausdruck zu bringen. Vgl. Gerhard Böwering u. a. (Hrsg.), The Princeton Encyclopedia of Islamic Political Thought. Princeton 2012.

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34) Das gilt jedenfalls für die muslimischen Länder, die dem traditionellen Islam noch einen großen Einfluss auf die Gesellschaft und Politik einräumen. Vgl. Arab human development report. Bericht an die Vereinten Nationen 2005: Bildung und Forschung sind weitgehend desorganisiert und unterfinanziert. Zu wenig Geld, veraltetes Lehrmaterial, unterbezahlte und (wissenschaftlich) unmotivierte Lehrkräfte, zu viel Bürokratie, zu wenig Wettbewerb, hohe Analphabetenquoten. Hinzu kommt hier ein braindrain: In Arabien verlässt jeder vierte Universitätsabsolvent und hier insbesondere die guten das Land. Die Autoren des UN-Berichts machen die Machtstrukturen für die Rückständigkeit der arabischen Welt verantwortlich: „Sie löschen die Flamme des Lernens und ersticken den Antrieb zur Innovation.“ (Ebd.) Statt kritischem Denken werden Unterwerfung und Gehorsam gelehrt. Diese Wahrnehmung islamischer Kultur wird auch durch die wissenschaftliche und künstlerische Arbeit emigrierter islamischer Wissenschaftler und Künstler bestätigt, die sich sowohl mit dem Islam wie auch mit dem Westen kritisch auseinandersetzen. Vgl. auch Reiner Klingholz, Gebildete stellen Fragen. Ist zu wenig Bildung die Ursache vieler Konflikte? Fehlt Arabien eine Lernkultur? In: DIE ZEIT, Nr. 9, Februar 2016. Vgl. auch Reiner Klingholz, Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit. Frankfurt/​Main–New York 2016. 35) Avishai Margalit und Ian Buruma, a.a.O. Bis heute sind beide Blickrichtungen – der Orientalismus des Westens wie auch der antiwestliche Okzidentalismus – durch Ressentiments geprägt, die eine ersatzreligiöse bzw. ersatzmetaphysische Funktion unter den Verlierern der Globalisierung übernehmen. Vgl. Pankaj Mishra, Das Zeitalter des Zorns. Frankfurt/​Main 2017. 36) „Sayyid Qutb, der unter dem ägyptischen Präsident Nasser hingerichtet wurde, war der intellektuelle Sproß der Muslim-Bruderschaft. Seine Schriften waren für den Aufstieg des radikalen Islam entscheidend; tatsächlich hatten sie besonderen Einfluss auf Osama Bin Laden, dessen Mentor der Bruder von Qutb war. In Milestones, seinem einflussreichsten politischen Text, verbindet Qutb Souveränitätsformen ohne Gott mit einem natürlich-materialistischen Verständnis von Fortpflanzung, was zusammengenommen den Menschen als Staatsbürger auf seine animalischen Bedürfnisse reduziere, auf das, was Agamben ‚die Bestie der Moderne‘ nennt. Für Qutb ist der Mensch nicht nur mehr als ein Tier, sondern mehr als ein Mensch. Nur durch die Entscheidung, sich Allah unterzuordnen, könne eine Gemeinschaft der Menschlichkeit des Menschen zum höchsten Wert verhelfen.“ Roger Friedland, Religiöser Terror. Der Kampf gegen den Säkularismus und die Erotik der Ausnahmegewalt. In: Lettre International, Sommer 2004, S. 39 37)

Insofern er das Erbe eines radikalen, aus dem Westen importierten Nationalismus antritt, kann man den Islamismus mit Einschränkungen auch als ein „westliches Findelkind“ bezeichnen. Vgl. Abbas Beydoun, Die Schuld des Westens. Der Orient ist eine Erfindung und die islamische Gewalt eine Folge der Kolonialisierung. DIE ZEIT, Nr. 51, 13. Dezember 2001. Der Islamismus ist – wie mit Dieter Senghaas bereits definiert – ein „tertiärer Entwicklungsnationalismus“: eine Folge versäumter bzw. gescheiterter Modernisierung. Ähnliches gilt wohl auch für den Hindu-Nationalismus in Indien.

38)

„In Bezug auf die Erstarkung des islamischen Fundamentalismus in Nordafrika hat Fatima Mernissi auf das rapide Anwachsen der Zahl gebildeter und beschäftigter Frauen hingewiesen, die nicht nur mit Männern um die beschränkten Arbeitsmöglichkeiten konkurrieren, sondern auch wählen können, wann sie heiraten und durch das Einkommen, das sie nach Hause bringen, Einfluss in ihrer Familie ausüben. So gesehen ist der Fundamentalismus für die Männer der Weg, Geld und Macht zurückzuerlangen, und potentiellen Herrschern ermöglicht er, die Arbeitslosigkeit zu verringern.“ Roger Friedland, ebd., S. 36.

39) „In den 22 Staaten der arabischen Liga leben etwa so viele Menschen wie in den USA. Ihr gemeinsames Bruttosozialprodukt entspricht jedoch etwa dem Nationaleinkommen Spaniens  … Jeder fünfte Araber lebt von weniger als zwei Dollar pro Tag. 32 Millionen Menschen in 15 arabischen Staaten sind unterernährt. Zwölf Millionen, das sind 15% der arbeitsfähigen Menschen, waren zu Beginn des Jahrtausends arbeitslos; ihre Zahl hat sich seitdem verdoppelt und wächst weiter. In zehn Jahren könnte eine Reservearmee von 100 Millionen Arbeitslosen die Stabilität ihrer und unserer Welt gefährden.“ Arab Human Development Reports, 2002, 2003, 2004. Zit. nach Alan Posener, Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muss. München 2007, S. 182. 40) Die hier entstandene Blutspur gegenseitiger Vernichtung, die ihren Höhepunkt bislang in der bürokratisch organisierten Todesindustrie des Nationalsozialismus erreichte, hat Christian Meier auf die Formel „Von Athen bis Auschwitz“ gebracht. Christian Meier, Von Athen bis Auschwitz. Betrachtungen zur Lage der Geschichte. München 2002. 41) „Der Souverän muss die Fähigkeit haben, Recht zu begründen und es entsprechend zu suspendieren, wenn die äußeren Bedingungen zu seiner Ausübung bedroht sind. Für Schmitt war Souveränität eine politische Theologie, deren Begründung ganz von Gott abhing. Er war davon überzeugt, dass moderne Staatstheorien in Wirklichkeit ‚säkularisierte theologische Begriffe‘ seien, Modelle einer transzendenten Ordnungsmacht. Der Souverän eines Staates im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts war dem nominalistischen Modell des einen transzendenten Gottes nachempfunden, einem Akteur, dessen absolute Macht nicht halt machte vor den von ihm verordneten Gesetzen; dem die Freiheit gewährt war, souveräne Entscheidungen zu treffen, ein Wunder zu vollbringen, das Recht zu suspendieren – er war der Gesetzgeber, der nicht an das Gesetz gebunden ist. Schmitt verstand die Entstehung der verfassungsmäßigen Demokratie im 19. Jahrhundert mit ihrer Identität von Herrscher und Beherrschten als säkularisierten Deismus. Im Deismus ist Gott einem Rechtszustand der Welt immanent, in dem die von Menschen gemachten Gesetze als den Naturgesetzen analog angewandt werden können. Gesetze eines Gottes, dessen Buch der Natur als zweite Schrift fungiert, Gesetze eines Staates, der folglich seine Macht und seine Gesetze in der Natur der Dinge begründen kann. Was Schmitt am Verlust dieses Souveränitätsmodells in der verfassungsmäßigen Demokratie störte, ist der Verlust des Politischen, das für ihn in der Entscheidungsgewalt über die Ausnahme bestand, über eine Machtbefugnis, die nicht vom Recht abgeleitet werden kann und die über die Situation entscheidet, in der das Recht suspendiert werden muss, kurz gesagt: über die Ausnahme zu außergewöhnlicher Gewaltanwendung … Der Moment der Gründung oder Einsetzung, die Handlung, die im Begründen, Einführen, im

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Rechtfertigen des Rechts und Gesetzemachens besteht, wäre demnach in einem coup de force zu suchen, in einer performativen und daher interpretativen Gewalt, die selbst weder gerecht noch ungerecht ist – und die daher keine Justiz und kein vorgängiges Recht mit ihrem zuvor begründenden Moment zu garantieren vermag, noch ihm widersprechen oder es für ungültig erklären könnte … Gewalt ist ursprünglich und eignet jeder moralischen Autorität, einer gezähmten, in Metaphern und Regulierungen verwandelten Gewalt, die wächst, unsichtbar gemacht oder verwaltet wird, aber stets gegenwärtig ist … Von diesem Gesichtspunkt aus ist Religion immer potentiell politisch, weil der Staat selbst eine religiöse Institution ist, eine, die ebenfalls abhängt von einer gottähnlichen Befähigung, eine kollektive Ordnung zu schaffen, einer Befähigung und einer Ordnung, die begründet ist in einer metaphysischen Vision und in einer Kosmologie, die wiederum evident wird in der wahrnehmbaren Natur, auf die sie allerdings nicht reduzierbar ist. Solch ein Ansatz eröffnet einen Entwurf religiöser Soziologie, der uns den großen ‚Terrorkrieg‘ als ein Aufeinanderprallen verschiedener politischer Theologien zu verstehen erlaubt. Religiöse Gewalt offenbart und erneuert jene ursprüngliche Gewalt, die niemals einer vom Recht abgeleiteten Gewalt, der Gewalt der Institution, unterstellt werden kann: eine göttliche Gewalt. Religiöse Gewalt verortet jene Zone jenseits der Sprache, die die Wahrheit des Staates und seiner legalen Macht begründet … Carl Schmitt gründet souveräne Gewalt in der Entscheidung des Souveräns zur Verteidigung einer Lebensweise, der ‚Normalsituation‘, um einen Feind als solchen zu bestimmen, das heißt, um ihn als solchen – auch den inneren, ja gerade den inneren – einsperren, ausweisen und töten zu können, und dies außerhalb des Gesetzes.“ Roger Friedland, Religiöser Terror. Der Kampf gegen den Säkularismus und die Erotik der Ausnahmegewalt. In: Lettre International, Winter 2006, a.a.O., S. 38. Vgl. hierzu auch: Abdelwahab Meddeb, Das Heterogene. Tendiert der Islamismus zu einem vollkommenen Faschismus? In: Lettre International, Winter 2006. 42) Vgl. Henning Ritter, Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit. München 2013. Kommunismus und Nationalsozialismus sind die bislang weltweit und historisch schlimmsten Ausprägungen eines post-religiösen Logozentrismus, einer radikalen Schließung und Ausgrenzung des „Anderen“, die Massenvernichtung angeleitet und legitimiert haben. Vgl. auch Edgar Wolfrum, Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2017. 43) Zur Rolle der Opfergemeinschaft als Legitimation von Angriffskriegen im Nationalsozialismus vgl. auch Nikolas Stargardt, Der Deutsche Krieg. Frankfurt/​Main 2015. 44) Vor diesem Hintergrund bekommt die Entwicklung und Durchsetzung „bürokratischer Organisationen“ eine Ambivalenz, die Max Weber deutlich gesehen hat. Einerseits ist „Bürokratisierung (…) das spezifische Mittel, Gemeinschaftshandeln in national geordnetes Gesellschaftshandeln zu überführen. Als Instrument der Vergesellschaftung der Herrschaftsbeziehungen war und ist sie daher ein Machtmittel allerersten Rangs für den, der über den bürokratischen Apparat verfügt.“ Max Weber, Bürokratie. In: Wirtschaft und Gesellschaft. Stuttgart 1995, S. 56. Vgl. auch David Graeber, Bürokratie. Stuttgart 2016. Insofern kann bürokratische Organisation auch als systematische Engführung und Verzerrung moderner lernender Organisationen charakterisiert werden, die durch Entfesselung von Affekten genährt und durch logozentrische (religiöse und post-religiöse) Glaubenspraktiken „verleitet“ werden. Insofern kann man eine trias von mediengestützter Affektentfesselung, simplifizierender Glaubenspraxis und der Bürokratisierung von Exklusion und Vernichtung als „Motor“ struktureller und organisierte Gewalt identifizieren. Deshalb ist Tymothy Snyders These, dass gerade die Beseitigung der Bürokratie den Völkermord ermöglichte, ungenau. Vgl. Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. München 2015. Richtig ist, dass die jeweils staatlichen Bürokratien und ihre Schutzfunktionen weitgehend neutralisiert wurden und an ihre Stelle eine post-nationale europaweite Bürokratie installiert wurde, deren typische Ausprägung und Zentrum die Behörde von Eichmann war. Diese Vernichtungsbürokratie hat dann die europaweiten „Räume“ im geographischen Sinn und im sozialpsychologischen Sinn für das „Du darfst“ (Zygmunt Bauman) grenzenloser Gewalt geöffnet. Vgl. Jörg Baberowski, Räume der Gewalt. Frankfurt/​Main 2015. Dabei konnten die Nazis einerseits an europaweit verbreitete wirtschaftlich begründete Motive des Judenhasses anknüpfen und diese zur Unterstützung des Projekts „Endlösung“ nutzen. Vgl. Götz Aly, Europa gegen die Juden. 1880–1945. Frankfurt/​Main 2017. Christian Gerlach, Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen. München 2017. Darüber hinaus wurde der „unvermeidliche“ Krieg auch gegen den Westen politisch, in den Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit westlicher Kulturen und dann vor allem in der als ungerecht empfundenen Friedensordnung von Versailles begründet. Vgl. Jörn Leonard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt. 1981–1923. München 2018. Ferner: Eckhart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt. München 2018. 45) Vgl. Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Berlin 1996. „Philosophisch gesehen ist Goldhagens Untersuchung von einem Gedanken inspiriert: Böse ist nicht die schiere Aggression als solche, sondern die, zu der sich der Täter berechtigt glaubt. Das Böse ist das verkehrte Gute.“ Jürgen Habermas, Über den öffentlichen Gebrauch der Historie. In: Jürgen Habermas, Die post-nationale Konstellation. Frankfurt/​Main, 1998. 46) „Es war –man kann es nicht anders nennen – ein sehr weit verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie.“ Sebastian Haffner. An deren Stelle trat ein „Bündnis zwischen Mob und Elite“ (Hannah Arendt,) zit. nach Rüdiger Safranski, a.a.O., S. 362/​364. 47) Vgl. George Steiner, Der Garten des Archimedes. München 1997. 48) „Keine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich gegenüber der terroristischen Versuchung als resistent … Auf mindestens 200000 Deutsche und Österreicher schätzt Dieter Pohl vom Institut für Zeitgeschichte die Zahl derjenigen, die „Mordaktionen“ vorbereiteten, durchführten und unterstützten: KZ- Personal, SS-Leute, Polizisten; Wehrmachtssoldaten, Bürokraten, die den Juden im Osten die Existenzgrundlagen entzogen.“ Gerhard Paul,

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Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002. Vgl. auch Klaus-Michael Mallmann: Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt 2011. 49) Sönke Neitzel, Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt/​Main 2011. Die hier veröffentlichten Abhörprotokolle zeigen in erschreckender Weise, in welchem Ausmaß viele Soldaten das Töten und eine Grausamkeit, die über Befehlsausübung noch weit hinausging, als lustvoll und erregend empfanden. 50) Vorbereitet war dies durch die Verbreitung des Faschismus in Europa „… die Zeit zwischen 1923 und 1939 erlebte eine revolutionäre Epidemie, diesmal eine der Rechten: Italien (1923), Portugal (1926, 1933), Ungarn (1931), Deutschland (1933), Bulgarien (1934), Österreich (1938), Spanien (1939), die Tschechoslowakei (1939) und Rumänien (1940) wurden faschistisch oder halbfaschistisch. Die Nachahmung durch Ansteckung scheint mir in allen diesen Fällen eine fundamentale Rolle gespielt zu haben.“ Sergio Benvenuti, Die unvorhersehbare Geschichte, In: Lettre International, Sommer 2011. Vgl. auch Steven Levitsky, Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. München 2018. Die „Mimesis der Gewalt“ (René Girard) prägte europaweit die Freischärlerbewegungen, die mit Zerstörungslust und äußerster Brutalität die Abwärtsspirale der Zivilisation vorantrieben. Vgl. dazu Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. München 2017. 51) Ähnlich wie Trump und sein Team in den USA führen auch Putin, Erdogan, Orban u. a. mit ihren Günstlingen einen Krieg gegen die demokratischen Strukturen und rechtsstaatlichen Institutionen ihrer Länder. Indem sie die Tendenzen zur Erosion des liberalen Sozialvertrags zwischen Bürger und Staat nutzen und verstärken, könnten sie –ähnlich wie in den 20er- und 30er-Jahren in Deutschland – einem neuen Faschismus den Weg bahnen. Vgl. hierzu auch Madeleine Albright, Faschismus. Eine Warnung. Köln 2018 52) Erschreckend sind in diesem Zusammenhang Ergebnisse einer Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006. Hier stimmte jeder vierte Befragte bundesweit dem Satz zu „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“ Hinter dem Bekenntnis „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ versammelten sich 15% und der Formulierung „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“ stimmten 18% zu. Zitiert nach: Hans-Peter Bartels, Reden, Reden, Reden? Ja, genau. Warum die Politik und ihre Parteien zu Unrecht verachtet werden. In: DER SPIEGEL, Nr. 37, 2010. 53) Vgl. Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007. Ders., Der Freiheit eine Chance. Warum wir die Idee der multikulturellen Gesellschaft nicht aufgeben dürfen. In: DIE ZEIT, Nr. 50, 6. Dezember 2007. 54) Dabei wird tendenziell das Mittelmeer in einen rechtsfreien Raum verwandelt, in dem die Migranten abgedrängt und auch ihr Tod in Kauf genommen wird, bevor sie ggfs. ihr gesetzlich verbrieftes Recht auf Asyl in Anspruch nehmen können. „Regierungen bedienen sich der Kategorie ‚Flüchtling‘ nicht mehr, um die Aufnahme von Personen zu organisieren, die vor unerträglichen Lebensbedingungen fliehen, sondern um allen, die bestimmte formale Kriterien nicht erfüllen oder bei einer Vernehmung nicht die richtigen Antworten zu geben wissen, die Legitimität abzusprechen. Das funktioniert allerdings nur, weil die offiziellen Kriterien außerordentlich restriktiv sind. Sie koppeln die Anerkennung des Flüchtlingsstatus vom Recht auf Freizügigkeit ab und bewahren die Souveränität der Staaten vor jeder Kritik. Auch lassen sie viele Ursachen des gegenwärtigen Umherirrens – Bürgerkriege, Wirtschaftskriege, die Aushöhlung der Demokratie oder Umweltkatastrophen  –  nicht als Asylgründe gelten. Indem Staaten die rechtliche Bedeutung dieser Wirklichkeiten nicht nur leugnen, sondern den betroffenen Menschen auch noch Gewalt antun, machen sie aus den Massen von Migranten jene ‚Flüchtlinge ohne Zuflucht‘, die man von einem Lager in das nächste jagt.“ Etienne Balibar, Für ein Recht der Gastfreundschaft. Die Menschenrechte müssen neu interpretiert werden: Wir sind es den Umherirrenden schuldig, dass wir sie nicht als Feinde behandeln In: DIE ZEIT, Nr. 37, September 2018. Vgl. auch Tillmann Löhr, Schutz statt Abwehr. Für ein Europa des Asyls. Berlin 2010. Vgl. auch Fabrizio Gatti, Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. München 2010. 55)

Vgl. Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt. Zürich 2015. Ferner Marcus Metz, Gerhard Seeßlen, Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge. Berlin 2016.

56) Nick Land, Hyper-Racism. New York 2014. Im Rahmen des hier „angerührten“ menschen- und kulturfeindlichen „Gebräus“ geht es nicht mehr „um die Bewahrung einer historisch gegebenen rassischen Diversität, sondern vielmehr um die Optimierung der Menschheit und ihres Genmaterials, also: um Eugenik  … Den entwickelten Digital-kapitalismus schätzen sie vor allem wegen seiner Selektionskraft: In der ultimativ spezialisierten Gesellschaft der Hypertechnologien können nur noch die intelligentesten und durchsetzungsstärksten Individuen in die Eliten aufsteigen … Die kommende, von den transhumanoiden Eliten geführte Gesellschaft müsse das fortgeschrittenste Wissen zum Schutz aller in den Händen von wenigen konzentrieren. Ihre Regierungsform dürfe man sich nicht mehr als Demokratie vorstellen, sondern eher als feudalistisches System, das von einem hyperaufgeklärten Monarchen gelenkt wird … Für sie ist der ideale Herrscher der Zukunft – so hat es der neo-reaktionäre Blogger Curtis Yarvin unlängst formuliert – kein demokratisch gewählter Präsident mehr, sondern ein aufgeklärter CEO-Monarch wie Elon Musk.“ Jens Balzer, Unterwegs zum neuen Menschen. Es stimmt nicht, dass rechte Denker nur von der heilen Vergangenheit träumen. Eine reaktionäre Bewegung kämpft für Menschenzucht und eine Elitenherrschaft“ In: DIE ZEIT, Nr. 25, Juni 2017. 57) Vgl. Thomas Assheuer, Die neue Achse des Autoritären. In: DIE ZEIT, Nr. 23, 28. Mai 2014. Vgl. ders., Die Konterrevolution. Etwas Besseres als die Freiheit finden wir überall. Warum das autoritäre Weltbild rechtspopulistischer Parteien so erfolgreich ist. In: DIE ZEIT, Nr. 7; Februar 2016.

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58) Richard Rorty, Philosophie als Kulturpolitik. Frankfurt/​Main 2008. Dazu auch Jean Marie Guhenno: „Die Frage nach der Legitimität wird allmählich ebenso unpassend wie das Nachdenken über die „Rechtmäßigkeit“ oder „Unrechtmäßigkeit“ eines Computerprogramms. Das sanfte Brummen der gesellschaftlichen Maschinerie genügt sich selbst.“ Ders., Das Ende der Demokratie. München 1994. 59) Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform. Aufsätze. Frankfurt/​Main–Wien 1971. 60) „Regierungsverantwortliche (…) müssen viele Variablen berücksichtigen und abwägen, wenn sie die Mission unternehmen, das Leben der Bürger zu verbessern (…) In der heutigen wissensbasierten, datengetriebenen Wirtschaft benötigen Regierungen die Fähigkeit zu verstehen, was die Trends und Vohersageindikatoren in kritischen Systemen wie Arbeitsmarkt, öffentlicher Gesundheit, Bildung, Finanzmärkte, öffentlicher Sicherheit, Verkehr und natürlicher Ressourcen sind. (…) Lasst uns das Regieren neu erfinden. KI kann helfen.“ IBM Konzeptpapier zum „Cognitive Government“, 2018. Zit. nach Adrian Lobe, Von Maschinen lernen. In smarten Städten regieren Politiker ihre Bürger mit Datensätzen und richten ihre Entscheidungen nach Ranglisten und Werten. In: SZ, Nr. 6, 8. Januar 2019. 61) Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation,1969. Zit. nach Adrian Lobe, a.a.O. So hat z. B. die Stadt Boston (USA) mit dem City Score, einer Zahl als Indikator für das Wohlergehen der Stadt einen „mathematischen Wert zum Maßstab der Politik“ gemacht. „Das heißt, nur was in Daten ausgedrückt werden kann, wird überhaupt auf die Agenda gesetzt und politisch bearbeitet. Was nicht gemessen wird, erscheint auch nicht auf den Bildschirmen und ist nicht politisierungsfähig.“ Adrian Lobe, a.a.O. Vgl. auch Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin 2017. Das gilt ähnlich auch für Theorien und Modelle im mainstream wissenschaftlicher Ökonomie, sofern diese sozialen Beziehungen, subjektives Handeln und seine Motive verkürzen und verzerren. Dazu mehr weiter unten, wo es um den wirtschaftlichen Logozentrismus geht. 62) Dabei handelt es sich um eine verkürzende Interpretation und Beobachtung in einem zweifachen Sinn: erstens droht mit der weitgehenden Beschränkung der Aufmerksamkeit auf das Gehirn im Kopf seine Einbettung in das neuronal-senso-motorische Netzwerk des gesamten Körpers vernachlässigt zu werden und – zweitens – soll nun das individuelle Gehirn, das (seit der Entstehung des ersten Nervensystems) in die Evolution des subjektiven Geistes bis hin zum menschlichen Bewusstsein und Selbstbewusstsein involviert ist, sein alleiniger Ort und Erzeuger sein. Der menschliche Geist soll nun auf eine Vermessung der Dynamik der involvierten Gehirne reduzierbar sein. Das hat Züge eines wissenschaftlich aufgeladenen Fetischismus, der zu der absurden Konsequenz führt, dass im Zuge des Fortschritts der Hirnforschung alle geistigen Leistungen – von der Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung über Denken, Bewusstsein und Selbstbewusstsein bis zu den Wissenschaften, zur Mathematik und Logik und zur Kunst – auf Hirnfunktionen reduzierbar und daraus ableitbar sein müssten. Insofern kann man hier von einem „Zerebrozentrismus der Neurowissenschaften“ (Thomas Fuchs) sprechen. Vgl. Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. In: Information Philosophie, Dezember 2010. Vgl. auch ders., Die gegenwärtige Bedeutung der Phänomenologie. In: Information Philosophie, September 2015. 63) Klaus Dörner, Der gute Arzt: Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, 2003. Siehe auch ders., Leben und sterben, wo ich hingehöre: Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem, 2012. 64) Tendenziell werden ambulante und klinische Beziehung zwischen Arzt und Patienten zum Anbieter-Kunden-Verhältnis, in dem es vor allem um Umsatz- und Gewinnsteigerung durch beschleunigte Abfertigung und optimierten Durchlauf, durch Unterversorgung von Kassenpatienten und Übertherapie von Privatpatienten, durch Umfunktionierung medizinischer Praxen zu „Basaren“ für Gesundheitsleistungen u. ä. geht. 65) „Die Angst, man selbst zu werden, wird von den Reparaturkünstlern verdrängt … Die Sprache als Instrument der Befreiung muss dem Körper und den Emotionen Platz machen, die, wie man nun denkt, von der Sprache wie von Tabus nur eingeschnürt waren … Ein heilloses Umherirren im Supermarkt der Reparaturangebote beginnt … Auf die Couch der Analytiker legt sich seit den siebziger Jahren eine neue Species, der es nicht gelingt, Konflikte zu erkennen und sich das Leben zu vergegenwärtigen … Sie schlucken lieber Pillen, als sich ihre Biographie zu vergegenwärtigen. Während die Analytiker den Zusammenbruch des Symbolischen feststellen, schicken sich die Mediziner an, den Kranken zu helfen …Das Subjekt wird nicht geheilt, es wird verändert.“ Elisabeth von Thadden, Der Souverän dankt ab. In: DIE ZEIT, 7. Oktober 2004. 66) Das Internet wird hier zu einem gottähnlichen „gate keeper“, der entscheidet, „was du kriegst und was nicht“ (David Foster Wallace). Ähnlich wie seinerzeit die Gläubigen sich an Bibel und Koran als heiligen unfehlbaren Büchern orientiert haben, gewinnen heute das Internet und seine „Weisheit“ eine ähnliche Funktion. „Der Allmächtige ist nun der Google-Gott. Seine Datenbrille legt über unsere optische Wahrnehmung einen Kommentar (‚Sie sehen hier …‘) und schreibt der äußeren Wirklichkeit, dem ‚Erscheinen der Welt‘ einen inneren Sinn ein … Die Welt des Sichtbaren und die Welt des von Google organisierten Wissens fallen ineinander – die transhumane Welt ist wieder ein Buch, ein planetarischer Text, geschrieben diesmal vom Google-Gott, dem irdischen Monopol, das Deutungshoheit beansprucht über alles, was war und was ist … Mit einem Wort: Im transhumanen Universum ist der Mensch das Medium des sich selbst optimierenden Daten-Gotts. Allgegenwärtig aber verborgen regiert er durch das Auge des Einzelnen. Er sieht alles, und was er nicht sieht, das hat auch keinen Wert und verfällt dem Teufel.“ Thomas Assheuer, Gottes neuester Streich. Die Schöpfung kommt zur Vollendung: Mit Googles Datenbrille verschmelzen jetzt Körper und digitale Technik. In: DIE ZEIT, Nr. 19, Mai 2013. Verbunden mit dieser Tendenz zur Selbstunterwerfung unter ihre elektronischen Medien und zur Verabsolutierung ihrer Botschaften scheinen sich auch die Mentalitäten der Menschen und die Ausgestaltung ihrer sozialen Beziehungen zu verändern. Im Zustand, permanent „online“ und „connected“ zu sein, wird persönliche Meinungsbildung durch Zustimmung (zur jeweiligen Netzgemeinde), wird die intuitive und mühevolle Arbeit der Wissenssuche und ‑mehrung durch allzeitlichen

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Wissenszugang und „Big Data“ abgelöst. Räumliche Nähe und Berührung werden durch Erreichbarkeit und Gespräche durch elektronische Dauerkommunikation ersetzt; an die Stelle von reziproker Vertrauensbildung tritt die Möglichkeit permanenter wechselseitiger Beobachtung und sozialer Kontrolle und eine sich langsam entwickelnde Wertschätzung wird durch sprunghafte und schnell wechselnde Aufmerksamkeit verdrängt. Schließlich erodieren unsere Fähigkeiten zur Muße (und zur „Krise durch Muße“ Ulrich Oevermann) und zum Hinabtauchen in unseren „träumenden Geist“ (Kierkegaard) infolge medialer Dauerberieselung. Personale Authentizität wird durch Performance abgelöst und persönliche Geheimnisse verschwinden unter dem Drang zur Selbsttransparenz. Vgl. Peter Forderer, Christoph Klimmt, Das neue Normal. In: DIE ZEIT, Nr. 5, Januar 2016. Verbunden mit dieser Landnahme elektronischer Dauerkommunikation scheinen auch die körperlichen Berührungen zwischen den Menschen in den westlichen und sich verwestlichenden Gesellschaften zurückzugehen – und in der wachsenden Anzahl von Beziehungen zu Haus- und Schmusetieren kompensiert zu werden. Vgl. Martin Grunwald, Homo Hapticus. München 2018. Ders., Zur Not hilft auch ein Hund oder eine Katze. Gespräch mit Elisabeth von Thadden. In: DIE ZEIT, Nr. 38, September 2018. Vgl. auch dies., Komm mir nicht zu nahe. In: DIE ZEIT, Nr. 38, September 2018. Dies., Die berührungslose Gesellschaft. München 2018. Zum Beitrag des Zusammenlebens und Kommunizierens mit Tieren zur Befreiung von der „Tyrannei des Sehens“ (Charles Foster), zur Entfaltung unserer Sinne, unserer Aufmerksamkeit und Achtsamkeit siehe auch Charles Foster, Der Geschmack von Laub und Erde – Wie ich versuchte, als Tier zu leben. Berlin 2017. 67)

Ray Kurzweil, Menschheit 2.0. Die Singularität naht. Berlin 2013. Vgl. auch John Brockman, Die neuen Humanisten. Wissenschaft an der Grenze, 2004. Sowie: Christopher Coenen, Die Debatte über „Human Enhancement“. Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen, Transcript, 2010.



Bernd Guggenberger hat Funktion und Mentalität dieser „Geburtshelfer“ prägnant charakterisiert: „Der Techniker ist ein Mensch, der daran mitwirkt, den Menschen überflüssig zu machen. Mag er gelegentlich auch von seinem Tun in erheblichem Maße wirtschaftlich profitieren – im Grund ist er bis zur Selbstpreisgabe selbstlos. Er hat nicht selten etwas Missionarisches an sich, das heißt, er ist nicht so sehr „auf eigene Rechnung“ tätig, sondern sieht sich in Diensten einer großen Sache, eines alles überragenden transhumanen Auftrags, an dessen Sinn kein Zweifel erlaubt ist; einer Aufgabe, die ihn von lästigen Pflichten entbindet, sich immer wieder vor Menschen zu rechtfertigen. Seine unerbittliche Parteinahme für das transhumane Projekt der Maschine läßt sich in einem sehr strikten Sinn als Präventivkollaboration beschreiben: Noch ist der neue Macht- und Rechthaber gar nicht in vollem Umfang durchgesetzt; noch werden die Prinzipien seiner Herrschaft durch die Umstände vielfältig dementiert, und dennoch fühlt er sich ihm bereits unauflöslich verpflichtet. Sind wir dabei, zu einer Art nützlicher Haustiergattung im Dienste der nächsten Intelligenzträger zu werden? Vieles – am meist nur indirekt greifbaren – Ethos und Leitbild des Technikers läßt ihn in gewisser Weise schon als Dissidenten des Projekts „Menschheit“ erscheinen. Mindestens die Konturen einer von Grund auf neuen, mit der „menschheitlichen“ prinzipiell konfligierenden Loyalität sind zu erahnen. Joseph Weizenbaum, einer der „Väter“ des Computerzeitalters, deutet die Konflikte dieser Epoche vor eben diesem Hintergrund: ‚Einige Wissenschaftler‘, sagt er, ‚(Robert Jastrow kommt mir in den Sinn) und einige meiner Kollegen haben erklärt, dass sie bei einer Entscheidung zwischen Loyalität zur menschlichen Rasse und Loyalität zur ‚Intelligenz‘ auf der Seite der Intelligenz stehen werden.‘“ Bernd Guggenberger, Sachzwänge, Denkzwänge, Wachstumszwänge. Gibt es Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeit, Leben und Natur gegen die Autonomisierung von Technik und Ökonomie? Vortrag zum 3. Kempfenhausener Gespräch, 2. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Mai 1994.

68) Vgl. Jaron Lanier Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht. Berlin 2010. Es besteht die Gefahr, dass die technomorphe Selbstregulation in eine Bereitschaft zur „Reinigung“ vom „Anderen“, zur Ausschaltung von Komplexität, Unschärfe, des Zerbrechlichen und des Ungewissen kurz: des „Menschlichen“ im Fühlen und Denken, im Handeln und Kommunizieren mündet. 69) Eine „technische Ontologie“ (Reinhardt Knodt) könnte die kulturelle Lebensform überformen und schließlich ablösen. Knodt spricht vom „Sein als Verschaltetsein“, das sich nicht nur im „Ich bin vernetzt, also bin ich“ der gegenwärtigen Nutzung elektronischer Medien bereits abzeichnet, sondern darüber hinaus auch Assoziationen zu entsprechenden Zukunftsvisionen wie z. B. der Matrix-Trilogie weckt. Vgl. Reinhardt Knodt, Ästhetische Korrespondenzen. Denken im technischen Raum. Stuttgart 1994, S. 21. Ähnlich, wenn auch in anderer Begrifflichkeit argumentiert Gero von Randow: „Digitalisierung und Internet lassen eine eigene Struktur entstehen, deren Elemente Menschen und Rechner sind; ihr Verhalten untereinander folgt Programmen, Protokollen, sozialen Anweisungen und Gesetzen. In ihr treten besonders interessante Akteure auf: Roboter, die Körperwesen der Digitalisierung … Roboter nehmen aus der Welt Messdaten auf, um in diese Welt einzugreifen. Sie sind also ziemlich aktive Zwischenglieder des Netzes aus Menschen und Dingen. Und sie werfen eine neue Frage auf: Menschliche Handlungen werden durch Dinge vermittelt, aber stimmt das vielleicht auch umgekehrt? Könnten unsere Handlungen mittlerweile als eine Art des Verkehrs zwischen den Dingen betrachtet werden? … Könnte es nicht sein, dass der Mensch in Zukunft … von seiner Technikwelt umhüllt (sowie von Medizintechnik körperlich durchdrungen) sein wird, in der er nur Teil eines Ganzen ist?“ Gero von Randow, Vision und Unbehagen. In: DIE ZEIT, Nr. 11, März 2016. Vgl. auch ders., Der Cyborg und das Krokodil. Technik kann auch glücklich machen. Hamburg 2016. Was von Randow als „Immersion 3“ bezeichnet, lässt sich im Rahmen der hier versuchten Rekonstruktion als „Systembildung der Technik“ beschreiben. 70) Vgl. Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus. Bielefeld 2009. 71) Das hat mit dem System der Abzinsung von Investitionen („discontierte Einnahmeüberschussrechnung“) zu tun, die durch die Zins- und Kapitalbildungsfunktion der nationalen bzw. transnationalen Währungen vorgegeben ist. Dabei muss, vereinfacht gesagt, für jede Investition in Produktion und Dienstleistung die zu erwartende Rendite verglichen werden mit der Rendite, die die eingesetzte Investition als (risikoärmere) Geldanlage im selben Zeitraum erwirtschaften würde. Das Ergebnis

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ist, dass sich langfristige Investitionen dann in der Regel nicht mehr rechnen – und zwar umso weniger, je höher der Zinssatz für Geldanlagen ist. „Da diese Logik für alle finanziell motivierten Investitionen gilt, erzeugt sie kollektiv den wohlbekannten Druck des Währungssystems, kurzfristig Erträge zu erzielen zu Lasten jeglicher langfristiger Überlegungen – einschließlich der Nachhaltigkeit.“ Bernhard A. Lietaer, Das Geld der Zukunft. Über die destruktive Wirkung des existierenden Geldsystems und die Entwicklung von Komplementärwährungen, 1999, S. 371. 72) Wolfgang Streek, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen, 2012. Berlin 2013, S. 95. 73) Und, so lässt sich ergänzen, sie könnten ohne große Schwierigkeiten durch eine mehr an Solidarität und am Gemeinwohl orientierte politische Steuerung wirksam bearbeitet werden. Dazu könnte u. a. eine Ergänzung der bestehenden Gewaltenteilung (Legislative, Judikative und Exekutive) durch Einführung einer „Consultative“ (Dieter Schmidt) und einer „Monetative“ (Joseph Huber) sowie eine Differenzierung des Währungssystems gehören, das die Einrichtung regionaler Komplementärwährungen (Bernhard Lietaer) durch Bürgergemeinschaften eröffnet. Dazu mehr in Kap. VI. 74) „Und weil (das Geld) unter allen Konvertierungsstrukturen die schnellste, effizienteste, gegenüber den Agenten gleichgültigste ist, ist es auch das mächtigste Einfluss- und Korruptionsmittel. Doch damit es korrumpieren kann, muss es begehrt werden und muss diese Begierde unersättlich sein … Es bietet eine nicht zu sättigende virtuelle Welt. Für alle anderen Bedürfnisse oder Begierden gibt es eine durch die Sättigung angezeigte Grenze. Das Geld hingegen kann angehäuft werden, ohne diese Grenze jemals zu erreichen. Anders gesagt, es entgeht dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, das heißt der Grenze, ab der ein Gut aufhört, begehrt zu werden, weil sein Konsum befriedigt ist. Es ist das einzige Gut, das dieses Merkmal aufweist. Diese Grenzenlosigkeit – apeira pleonexia – faszinierte Aristoteles und blieb in seinen Augen unbegreiflich und monströs.“ Marcel Hénaff, a.a.O., S. 590. Vgl. auch Roman Pletter, Mehr ist nicht. Unsere Wirtschaft muss ständig wachsen. Seit einer Ewigkeit halten rechte wie linke Politiker daran fest. Es ist an der Zeit, damit aufzuhören. In: DIE ZEIT, Nr. 32, August 2015. 75) Sven Beckert, Mindi Schneider, Der große Landraub. In: DIE ZEIT, Nr. 37, September 2018. 76) Zum wirtschaftlichen Logozentrismus und seiner Legitimation gehören auch die Erfindung einer Vielzahl von „Falschwörtern“ (Ivan Nagel) und die Wirklichkeit verzerrenden Narrativen, die eine Offenlegung der Schattenseiten und Missstände unter dem Regime des Neo-Liberalismus vermeiden. Vgl. Ivan Nagel, Das Falschwörterbuch. Krieg und Lüge am Jahrhundertbeginn. Berlin 2004. Zur Verdrehung der Ursachen der „Staatsverarmung“ sowie zur Legitimation der Vernachlässigung von „sozialer Gerechtigkeit“ durch die Propagierung von „Marktgerechtigkeit“ vgl. auch Wolfgang Streek, Gekaufte Zeit, Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin 2013. 77)

Kennzeichnend für den ökonomischen Logozentrismus und Neo-Liberalismus ist gelegentlich die Tendenz, auch demokratische Willensbildung und Steuerung markt- und wettbewerbsförmig zu verstehen und damit dem Markt unterzuordnen sowie die Vorstellung, dass Marktwirtschaft und „offene Gesellschaft“ gar nicht anders als kapitalistisch dominiert sein können. Obwohl das „neoliberale Denkkollektiv“ (Philip Mirowski) in der Regel wenig von Allgemeingütern hält, wird hier der Markt als solches verklärt, was er als ethisch und politisch begrenzter „Vollzug von Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) ja auch sein könnte. Vgl. Colin Crouch, Die bezifferte Welt: Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin 2015.

78) „Nur unter diesen Bedingungen, also im Dienst und unter dem Primat politisch definierter sozialer Zwecke, ließ sich eine wiederbelebte Profitwirtschaft nach dem Ende der Kriegswirtschaft in eine stabilisierte, gegen faschistische Rückschritte und stalinistische Versuchungen gefeite liberale Demokratie einbauen und war die Wiedereinsetzung von Eigentums- und Direktionsrechten politisch durchsetzbar. Vermittelt und überwacht wurde die Einhaltung dessen, was in der Frankfurter Theoriediskussion als die ‚Friedensformel‘ des Nachkriegskapitalismus bezeichnet wurde, durch einen marktdisziplinierenden, planenden und umverteilenden Interventionsstaat, der bei Strafe des Verlustes seiner Legitimität die Geschäftsgrundlage des neuen Kapitalismus abzusichern hatte.“ Streek, a.a.O., S. 51/​52. Darüber hinaus konnten die Nationalstaaten ggfs. ihre Währungen (in Grenzen) abwerten, um Wettbewerbsnachteile in internationalen Märkten zu kompensieren, die durch die Erfüllung von Anforderungen sozialer Gerechtigkeit entstanden waren. Ferner konnte Kapitalflucht durch Kapitalverkehrskontrollen zumindest begrenzt werden. Vgl. Streek, a.a.O., S. 157. 79) Hier kann eine Politik, die allein auf quantitatives Wachstum setzt  –  sei es liberale Angebotspolitik oder keynesianische Nachfragepolitik – allenfalls kurzfristige Wachstumsschübe stimulieren. Zwar können Elemente einer Angebots- und Nachfragepolitik wie Steuer- und Zinssenkung, Senkung von Lohnnebenkosten, Flexibilisierung von Arbeitsmärkten u. ä. in wohldosierter Form und Kombination Sinn machen. Sie müssen aber eingebettet werden in eine gesellschaftliche Entwicklungsstrategie, die sich an den Leitzielen der sozialen Integration, der Naturverträglichkeit und der Entfaltung des Menschen orientiert und das reiche Erbe der Industriegesellschaft, die enorme Produktivität für eine wirtschaftlich und sozial innovative Bahnung eines qualitativen Wachstums mit fairem Einbezug aller Völker und Nationen nutzt. Siehe Kap. V. 80) „Als Reaktion begann es mit der Vorbereitung seines Ausstiegs aus dem Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit, indem es seine Passivität abschüttelte, seine Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit wieder herstellte und sich dem Geplant- und Genutztwerden durch demokratische Politik entzog. Dabei kam ihm zugute, dass es, anders als die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften, über eine zum Weitermachen im demokratischen Kapitalismus alternative Strategie verfügte, die darin bestand, diesem allmählich sein ‚Vertrauen‘ und mit ihm die für sein Funktionieren erforderlichen Investitionsmittel zu entziehen … (Nun) begannen Kapitalbesitzer und Kapitalverwalter einen langen Kampf für einen grundlegenden Umbau der politischen Ökonomie des Nachkriegskapitalismus – sie und nicht, wie von der Theorie der Legitimationskrise erwartet und erhofft, die breiten Massen der ‚Lohnabhängigen‘.“ Wolfgang Streek, a.a.O., S. 54. Ähnlich argumentieren auch John Urry und Sahra Wagenknecht. Vgl. John Urry,

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Grenzenloser Profit. Berlin 2015. Vgl. Sahra Wagenknecht, Freiheit statt Kapitalismus. Frankfurt/​Main 2011. Dies., Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Frankfurt/​Main 2016. 81) „Hierzu gehörten der Abbau von Rechten auf Kündigungsschutz, die Aufspaltung von Arbeitsmärkten in Kern- und Randbereiche mit unterschiedlichen Schutzrechten, die Zulassung und Förderung von Niedriglohnbeschäftigung, die Hinnahme einer hohen Sockelarbeitslosigkeit, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen bei Abbau öffentlicher Beschäftigung sowie die Dezentralisierung und, wo möglich, Entgewerkschaftung der Lohnfindung. Am Ende dieser Entwicklung stand, ungeachtet nationaler Unterschiede und Besonderheiten, ein zunehmend marktangepasster, ‚schlanker‘ und auf ‚Rekommodifizierung‘ hin ausgelegter ‚modernisierter‘ Wohlfahrtsstaat, dessen ‚Beschäftigungsfreundlichkeit‘ und niedrigere Kosten durch eine Absenkung des durch soziale Bürgerrechte gewährleisteten Mindestniveaus gesellschaftlicher Subsistenz erkauft worden waren.“ Ebd., S. 57 82) Um dies zu ändern, sollte an Stelle kurzfristiger „sozialer Wohltaten“ umfangreich und langfristig ausgerichtet in Bildung, in Gleichverteilung von Bildungschancen und in Ausbildung investiert werden. Vgl. Marcel Fratzscher, Verteilungskampf: Warum Deutschland immer ungleicher wird. München 2016. Ähnlich auch die Argumentation von Axel Honneth in: Das Recht der Freiheit, Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011. Vgl. auch Colin Crouch, Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit. Wien 2013. Auch dazu mehr in Kap. IV. 83) Der erste Schritt bestand (seit Ende der 60er-Jahre) aus einer inflationären Geldpolitik, die „an die Stelle des nicht mehr ausreichenden Wirtschaftswachstums trat und für Vollbeschäftigung sorgte. Insofern kam sie einer vorläufigen Reparatur der funktionsunfähig gewordenen neokapitalistischen Friedensformel gleich. Der Trick bestand darin, den sich abzeichnenden Verteilungskonflikt zwischen Arbeit und Kapital durch Einbringung zusätzlicher Ressourcen zu entschärfen, die allerdings nur als Geld und nicht, oder noch nicht, real zur Verfügung standen. Inflation bewirkte eine nur scheinbare, keine wirkliche Vergrößerung des zu verteilenden Kuchens, was aber kurzfristig nicht unbedingt einen Unterschied machte; sie erzeugt bei Arbeitnehmern wie Arbeitgebern die Illusion – mit Keynes die ‚Geldillusion‘ – eines, den neuen Konsumerismus ermöglichenden Wohlstandszuwachses. Allerdings musste sich diese mit der Zeit verbrauchen und spätestens dann ihr Ende finden, wenn der Verfall des Geldwerts die Besitzer von Geldvermögen erneut zur Zurückhaltung bei Investitionen oder gar zur Flucht in andere Währungen veranlassen würde.“ Ebd., S. 62. 84) Der zweite Schritt bestand (seit Anfang der 80er-Jahre) in der Staatsverschuldung. „Ebenso wie Inflation ermöglicht Staatverschuldung einer Regierung, zur Pazifizierung sozialer Konflikte finanzielle Ressourcen einzusetzen, die eigentlich noch nicht vorhanden sind – in diesem Fall: die von den Bürgern erst noch erwirtschaftet und ihnen vom Staat weggesteuert werden müssen.“ Ebd., S. 64. Weil infolge hoher Arbeitslosigkeit die Forderungen an die sozialen Sicherungssysteme anstiegen, ein weiterer Abbau des Sozialstaats oder Steuererhöhungen als politisch riskant erschienen, „retteten die Regierungen sich in die Verschuldung“. Ebd., S. 64. 85) „In den 1990er Jahren begannen die Regierungen sich über den wachsenden Anteil des Schuldendienstes an ihren Haushalten Sorgen zu machen, während ihre Gläubiger an der Fähigkeit der Staaten zu zweifeln begannen, ihre Schulden zurückzuzahlen.“ Ebd., S. 66. Die damit, zunächst in den USA und dann in den meisten anderen westlichen Nationen einsetzenden Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung durch Kürzung der Sozialausgaben bewirkten einen „konjunkturell gefährlichen Rückgang der Nachfrage und legitimationsschädliche Einkommensverluste der privaten Haushalte … Die Antwort war eine weitere Injektion von vorgezogener Zahlungsfähigkeit durch eine zweite Welle der Liberalisierung der Kapitalmärkte, die eine rapide Erhöhung der Privatverschuldung ermöglichte und in Gang setzte. (Dies) ist die dritte und bis jetzt letzte Variante der Schließung der Versprechenslücke des späten Nachkriegskapitalismus mit vorgezogener Kaufkraft. Bei ihr beschränkt der Staat sich darauf, durch eine entsprechende regulative Politik den privaten Haushalten zu ermöglichen, sich auf eigene Rechnung und eigenes Risiko zu verschulden, um Ausfälle bei ihren Einkommen aus Erwerbstätigkeit und staatlichen Sozialleistungen auszugleichen.“ Ebd., S. 68/​69. Wohin die Stimulation privater Verschuldung führen kann, hat die Blase der Eigenheimfinanzierung und ihr schließliches Platzen in den USA gezeigt. 86) Vgl. Thomas Piketty, Das Kapital im 20. Jahrhundert. München 2015. 87) „Das Ende der Inflation war verbunden mit einer säkularen Schwächung der Gewerkschaften … und dem Anfang einer bis heute anhaltenden strukturellen Dauerarbeitslosigkeit; die Konsolidierung der Staatsfinanzen in den 90er-Jahren mit tiefen Einschnitten in soziale Bürgerrechte, der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und vielfältigen Formen der Kommerzialisierung der Daseinsvorsorge …und das Ende des ‚Pumpkapitalismus‘ (Dahrendort 2009) mit einem in seinen Ausmaßen noch nicht annähernd absehbaren Verlust von Ersparnissen und eingeplanten Kapitalerträgen sowie mit Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und weiteren Kürzungen staatlicher Leistungen im Zuge einer neuen Welle der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.“ Streek, a.a.O., S. 76/​77. 88) „Heute scheinen die Mittel zur Beherrschung von Legitimationskrisen durch Erzeugung von Wachstumsillusionen ausgeschöpft; insbesondere der mit Hilfe einer entfesselten Finanzindustrie produzierte Geldzauber der letzten beiden Jahrzehnte ist wohl endgültig zu gefährlich geworden, als dass man es noch einmal wagen könnte, mit ihm Zeit zu kaufen. Wenn nicht noch ein Wachstumswunder geschieht, wird der Kapitalismus der Zukunft ohne die Friedensformel eines auf Pump finanzierten Konsumerismus auskommen müssen. “ Streek, a.a.O., S. 77/​78. Es darf auch bezweifelt werden, ob man mit dem derzeit aktuellen Rückgriff auf das einzige noch verfügbare Geld der Zentralbanken und auf eine (in Deutschland verfassungswidrige) Politik, „durch zunehmend raffiniertere Injektionen selbstgemachten Geldes die Banken und ihre Gewinnabhängigen aufzupäppeln und den Staaten zu ermöglichen, sich zu refinanzieren“, wirklich noch einmal Zeit gewinnen kann. „Mit dem uneingeschränkten Einsatz von Zentralbankgeld als letztem Mittel zur Vertrauensbildung angesichts der angehäuften Schuldenberge geht der Staat

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das Risiko ein, dass auch dieses Mittel versagen und die staatliche Selbstfinanzierung als ‚Insichgeschäft‘ – als Münchhausener Versuch, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen – durchschaut und die Zentralbank zu einer gigantischen ‚bad bank‘ mit angeschlossener elektronischer Notenpresse werden könnte.“ Streek, a.a.O., S. 227. 89) Darüber hinaus trägt der patriarchale Kapitalismus zumindest eine Mitschuld an der gegenwärtig beobachtbaren Eskalation interkultureller Gewalt, an neuen Kriegen und Bürgerkriegen und an der Wiederkehr des aggressiven Nationalismus und Regionalismus. Denn Im Zuge seiner globalen Landnahme vernichtet er vielfach (z. B. in Afrika) die Lebensgrundlagen von Völkern, bewirkt globale Migration und verstärkt weltweit Tendenzen der radikalen und (potentiell) gewalttätigen Negation westlicher Kultur und Kräfte, die die Wiedererrichtung eines politischen Patriarchats anstreben. Während der Linksradikalismus derzeit (vorübergehend?) an Virulenz und Einfluss verloren hat, findet der Rechtsradikalismus in den USA und auch in Europas Zentren wieder Verbreitung und Zulauf. An Europas Peripherie erleben wir die Wiedergeburt des territorial orientierten Nationalismus und Imperialismus in Verbindung mit einem Oligarchenkapitalismus russischer Prägung sowie eine Ausdehnung und Landnahme des islamistischen Radikalismus und Terrorismus. All diese bedrohlichen Entwicklungen könnten sich in Zukunft wechselseitig verstärken und in eine sich heute schon abzeichnende Konstellation mit neuen, geound machtpolitisch geschürten Konfrontationen und Konflikten führen, die (ähnlich wie im Mittelalter Europas und heute im Nahen Osten) in ein „Pendeln“ zwischen chaotischer Dynamik und Ordnungsbildungen münden, die mehr oder weniger ausgeprägt autoritäre und totalitäre Züge haben. Diese Globaldynamik könnte in Zukunft in ein post-demokratisches, technokratisches und auf künstliche Intelligenz gestütztes Globalmanagement münden, das einen globalen „Ausnahmezustand“ ausruft und unter Bedingungen des Erhalts kapitalistischer Wirtschaftsordnung Naturverträglichkeit, Stabilität und Weltfrieden auf Kosten von Demokratie und Selbstbestimmung der Völker zu erzwingen sucht. (Dazu mehr im „worst case Szenario“.) 90) Vgl. Niklas Luhmann, Europa und die Weltgesellschaft. Vortrag zum 3.  Kempfenhausener Gespräch, 1.  Gesprächszyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 1994. Folgt man Kenichi Ohmae, so sollen ausgerechnet die Unternehmensführer, weil sie angeblich so gut beobachten und schnell entscheiden können, in Zukunft qualifiziert sein, unter Bedingungen von Beschleunigung und information overload die gesellschaftliche Orientierungs- und Gestaltungsmacht zu übernehmen. Eine Fehleinschätzung, die vielleicht mit seiner Position als McKinsey-Direktor zu erklären ist und spätestens durch das ökonomistisch und nationalistisch verzerrte Tunneldenken und ‑handeln von Donald Trump widerlegt ist. Vgl. Kenichi Ohmae, The invisible continent. Four strategic Imperatives of the New Economy. New York 1991. 91) Vgl. die Forschungen von Daniel Kahneman, Amos Tversky und Keith E. Stanovich: Mit P. Slovic, A. Tversky (Hrsg.): Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. New York 1982. Mit A. Tversky (Hrsg.): Choices, Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) Values and Frames, New York 2000. Daniel Kahneman Schnelles Denken, langsames Denken. Berlin 2012. Vgl. auch Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt/​Main 2005. Ferner: Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit – Wege aus der kollektiven Erregung. München 2018. Und Thomas Druyen, Die ultimative Herausforderung – über die Veränderungsfähigkeit der Deutschen. Berlin 2018. 92) Vgl. Zygmunth Baumann, Schwache Staaten. Globalisierung und die Spaltung der Weltgesellschaft. In: Ulrich Beck (Hrsg.), Kinder der Freiheit. Frankfurt/​Main 1997. Nach Baumann haben die Staaten hier nur noch den Status von „Hilfspolizisten“. Colin Crouch hat die Abwanderung, die systematische Verkürzung und ethische Neutralisierung des Wissens im neoliberalen Denken und Handeln beschrieben: „Moderne Gesellschaften verfügen über weit ausgedehntere Wissensressourcen als ihre Vorgänger. Wir nutzen dieses Wissen, um unsere bereits formidablen Lebensverhältnisse immer weiter zu verbessern, und wir sind abhängig von diesem Wissen. Zum Teil aus technischen Gründen, zum Teil aus politischen Motiven, die auf die Hegemonie neoliberaler Ideen und die Macht reicher Konzerne zurückgehen, wird es jedoch für die Vertreter privater Interessen immer leichter, dieses für unsere Gesellschaften lebensnotwendige Wissen in ihren Besitz zu bringen und damit auch ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Das betrifft die gesetzeswidrige Verfälschung von Informationen wie den Erwerb von Monopolrechten an bestimmten Wissensfeldern … Unsere Abhängigkeit vom Wissen verwandelt sich auf diese Weise schleichend in eine Abhängigkeit von solchen Vertretern privater Interessen, deren Verhalten sich lediglich in dem Maße an Moral und Ethik orientieren, in dem sie vom Markt dazu gezwungen werden – oder eben nicht.“ Colin Crouch, Die bezifferte Welt. Berlin 2015, S. 103. Vgl. auch ders., Postdemokratie. Frankfurt/​Main 2008. Ders., Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II. Berlin 2011. 93)

Ein Statement wie seinerzeit das von Gerhard Schröder: „Für mich gibt es keine rechte und linke, sondern nur noch eine moderne Wirtschaftspolitik“ verschleiert diesen Tatbestand, wendet ihn scheinbar positiv.

94) Dazu gehört auch, dass wachsende Anteile der Bereitstellung öffentlicher Versorgung privatisiert werden. Neben einem begrüßenswerten Abbau bürokratischer „Wasserköpfe“ gehören dazu auch Bereiche und Leistungen (insbesondere der Bereitstellung und Sicherung von Allgemeingütern wie Umweltschutz, Energie- und Wasserversorgung, Information, Gesundheit, Altenpflege u. a.), die genuin politischer Verantwortung unterliegen und nicht oder jedenfalls nicht allein nach Kostenkriterien gestaltet werden können – abgesehen davon, dass Privatisierungen keineswegs immer, wie häufig propagiert, effektiver und kostengünstiger für die Bevölkerungen sind. Ein Beispiel dafür ist die von der EU, trotz schlechter Erfahrungen und gegen den Willen vieler Bürger vorangetriebene Privatisierung der Wasserversorgung. Colin Crouch bietet eine Fülle von Beispielen kontraproduktiver Privatisierung von Dienstleistungen und kommt zu folgenden Schlussfolgerungen: „Der Versuch, den öffentlichen Dienst nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten umzubauen, führt zu einer radikalen Beschneidung der Kenntnisse, Kompetenzen und Qualifikationen des dort beschäftigten Fachpersonals … Obgleich der Markt selbst eine hochelaborierte Form der Wissensproduktion darstellt, untergräbt er, wenn ihm keine Schranken gesetzt werden, andere Formen der Erkenntnisgewinnung … Die klassische marktwirtschaftliche Theorie ging davon aus, dass sich die Mehrzahl der Marktteilneh-

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mer moralisch integer verhält. Die gegenwärtig dominierende Rational-Choice-Theorie prämiert hingegen Verhaltensweisen, die sich der Verfälschung und Verzerrung von Informationen und Wissen bedienen … Eine marktwirtschaftliche Ökonomie zeichnet sich der ursprünglichen Idee nach dadurch aus, dass eine hohe Anzahl von Konsumenten und Produzenten am Markt teilnimmt. Der heute herrschende Neoliberalismus hingegen toleriert hohe Konzentrationen monopolartiger Marktmacht auf Anbieterseite. In manchen Fällen führt das so weit, dass einflussreiche Wirtschaftseliten den Zugang zu Informationen und Wissen kontrollieren und beides auf eine ihren Interessen förderliche Weise manipulieren können.“ Colin Crouch, Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin 2015, S. 194–199. 95) Eine brillante Analyse Trumpscher (Verbal)politik hat Thomas Assheuer vorgelegt: „Donald Trump (…) hat zur Sprache dasselbe Verhältnis wie zum Geld: Er betrachtet sie als sein Privateigentum. Trump ist nicht nur Großgrundbesitzer, er ist auch Großwortbesitzer, und so wie ihm sein Geld ganz allein gehört, so gehören ihm auch die Sprachbedeutungen. Sie sind sein symbolisches Kapital. Mit ihnen kann er machen was er will … Er dealt mit Wörtern und investiert sie in sein neues Geschäftsfeld, in die Vermehrung politischer Macht … Mit den symbolischen Kapitalien spekuliert er scheinbar völlig wahllos und unberechenbar; abrupt bringt er neue Tatsachen ins Spiel, (…) abrupt zieht (…) er alte Wahrheiten zurück. Anders gesagt: Trump benutzt die Sprache als situatives Instrument auf dem politischen Markt. Findet er Zustimmung, dann ist seine Aktion rentabel und wirft Gewinn ab: mehr Ruhm, mehr Macht, bessere Quoten. (…) In seinen Augen, darf man vermuten, sind bürgerliche Kriterien wie Wahrheit und Lüge schlichtweg die falschen Maßstäbe und taugen nichts zur Bewertung präsidialer Sätze. Sie stammen aus einem fremden, einem altertümlichen Geschäftsfeld – aus dem der Moral. Und Moral ist die Erfindung von Verlierern, damit kann man sich nichts kaufen. Moral ist unprofitabel (…). Mit einem Wort: Donald Trump ist das Musterexemplar des ökonomischen Menschen. (…). Er macht die Wörter so volatil wie Geld; er dereguliert ihren Bedeutungskern und entzieht ihnen den kommunikativen Kredit. Damit haben Trumps Wörter nur noch einen politischen Tauschwert und gehorchen nur einer einzigen Grammatik: dem Willen zur Macht. (…). Dem Ego des Liberalismus ist bekanntlich alles erlaubt, was nicht verboten ist, und deshalb ist es für dieses Ego ganz natürlich, wenn es in der ungestörten Ausübung seines freien Willens auch die öffentliche, die allen gemeinsame Sprache zu seiner Verfügungsmasse erklärt. Trump ist dieses liberale Ego: er hat sich, wie die rechten Medien schon vor ihm, aller bürgerlichen Hemmungen entledigt und benutzt Worte allein zur Maximierung von Macht oder zur Verhöhnung des Gegners, während er das, was in der Sprache auf Kooperation und Verständigung angelegt ist, anstandslos eliminiert. (…) Wahr ist für ihn das, was im Lebenskampf Profit abwirft. Wer die Welt so sieht wie er, der sieht sie als Krieg.“ Thomas Assheuer, Warum Trump kein Lügner ist. Seine Gegner werfen ihm vor, er sage ständig die Unwahrheit. Doch der Vorwurf verkennt den Präsidenten: Er spekuliert mit Worten wie mit Geld. In: DIE ZEIT, Nr. 36, August 2018. Dabei hat er „die Realitätsverleugnung nicht erfunden, aber zur Serienreife geführt.“ Manfred Dworschak, Angriff auf die Wirklichkeit. Warum sind offenkundige Lügen und absurde Wahngebilde in der Politik so erfolgreich? In: DER SPIEGEL, Nr. 50, Dezember 2018. Zum sich selbst immer wieder übertreffenden Verbalverhalten von Trump gehören auch die protofaschistische Sexualisierung von Macht und die Verherrlichung der Sexualität als Machtspiel. Vgl. Thomas Assheuer, Macht und Sex. Donald Trumps Umgang mit Frauen ist empörend. Doch seine Tabubrüche sind Kalkül: Amerikas Politik soll von Moral befreit werden. In: DIE ZEIT, Nr. 43, Oktober 2018. Dazu passt auch die Trumpsche Wissenschafts‑, Forschungs‑, Entwicklungs-und Klimapolitik, die vor allem seine Vorurteile bedient, z. B. den Klimawandel leugnet und entsprechend destruktiv internationale Wissenschaftskultur und Forschermigration, scientific community und dialogische Wahrheitssuche sowie ethisch orientierte Entwicklungshilfe und NGO-Projekte einzuschränken und finanziell „auszutrocknen“ sucht. Man kann Einverständnis und Begeisterung, die Trump mit seinem verwahrlosten, wissens‑, wissenschafts- und ethikfeindlichen Sprachgebrauch und seinem politischen Handeln in beachtlichen Anteilen der Bevölkerungen weckt, als Spitze eines Eisbergs betrachten, der die Erosion der impliziten Ethik der drei kultur-konstituierenden Alltagspraktiken – der reziproken Empathie in der Gemeinschaftsbildung, der reziproken Anerkennung in der Gesellschaftsbildung und der gemeinsamen Wahrheitssuche, ihr fortschreitendes Verschwinden aus der öffentlichen Verständigung – symbolisiert. Siehe auch weiter unten: die Erosion des „Zwischen“. Zu den „unvorstellbaren Risiken“, die die Trump-Regierung in die Welt setzt siehe auch: Bob Woodward, Furcht. Hamburg 2018. 96) Der bereits skizzierte Trend zur „post-nationalen Regionalisierung“ unterscheidet sich – auch wenn es gewisse Überschneidungen und Wechselwirkungen gibt – von vor-nationalen Regionalisierungen und ethno-nationalistischen Tendenzen, die vor allem dort entstehen, wo Völker unter der Zwangsintegration von Kolonialismus oder Kommunismus an einer allmählichen Entfaltung nationalstaatlicher Integration gehindert, abrupt „ins Freie gestellt“ und ihre Autonomiewünsche politisch instrumentalisiert wurden. Insofern gibt es – global gesehen – heute gleichzeitig Entwicklungen in Richtung auf Schwächung und Neubildung von Nationalstaaten, die in diesen unterschiedlichen Ausgangssituationen begründet sind. 97) „Die Mitgliedsstaaten wurden danach zur Herstellung des gemeinsamen Marktes nicht mehr gebraucht. Die EU-Kommission und der europäische Gerichtshof konnten die Aufgabe selbst in die Hand nehmen. Wo sie im nationalen Recht ein Hemmnis für den gemeinsamen Markt erblickten, erklärten sie es für unvereinbar mit Europarecht. Auf diese Weise verloren die Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, ihre Standards in der Daseinsfürsorge, im Umweltschutz, im Konsumentenschutz und so weiter durchzusetzen. Sie verloren auch die Möglichkeit zu entscheiden, was sie in öffentlicher Regie regeln und was sie dem Markt überlassen wollen … Nationales Recht konnte durch Bescheid oder Urteil außer Anwendung gesetzt werden. Dagegen war es schwieriger, die Lücken durch europäisches Recht zu füllen. So kam es zu einer Asymmetrie zwischen Deregulierung auf der nationalen und Reregulierung auf der europäischen Ebene … Auf nationaler Ebene regulieren Verfassungen die Herstellung politischer Entscheidungen, überlassen die Entscheidungen selber aber der Politik. Die zur Verfassung aufgewerteten europäischen Verträge treffen die Entscheidungen selbst. Sie sind voll von Regelungen, die im Mitgliedsstaat nur Gesetzesrang, also jederzeit mit einfacher Mehrheit geändert werden könnten. Was in der Verfassung steht, ist aber dem politischen Prozess

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entzogen. Die Entscheidungen von Kommission und Gerichtshof sind folglich unangreifbar. Die demokratisch legitimierten Instanzen Rat und Parlament können nichts dagegen ausrichten. Eine Aufwertung des Parlaments ließe dieses Problem völlig unberührt. Die einzige Korrekturmöglichkeit bestünde in einer Änderung der Verträge, aber das ist wegen der Einstimmigkeitserfordernisse unter den 28  Mitgliedsstaaten so gut wie aussichtslos. Da die Verträge nun einmal in Verfassungsrang erhoben sind, müssten sie auch wie eine Verfassung Gestaltet sein. Sie müssten sich auf die Zwecke, die Organe, die Kompetenzen, die Verfahren der EU und die Unionsgrundrechte beschränken. Alles andere müsste auf die Ebene des einfachen Rechts herabgestuft werden – und damit zur Repolitisierung offen stehen.“ Dieter Grimm, Von Putsch kann keine Rede sein. Wird Europas Legitimation größer, wenn das europäische Parlament mächtiger wird? Im Gegenteil! Ein Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Dieter Grimm. In: DIE ZEIT, Nr. 27, Juni 2014. Siehe auch: Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? München 2016. Vgl. auch Hauke Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas. Berlin 2017. „Die parlamentarischen Gewalten der Nationalstaaten dürfen nur noch zwischen unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen Strategien wählen, nicht selbst bestimmen, sondern nur noch mitbestimmen … Das nennt man marktkonforme Demokratie“. Brunkhorst, ebd. Ferner: Claus Offe, Europa in der Falle. Berlin 2017. Auf den Vorschlag von Dieter Grimm, die europäischen Verträge durchgreifend zu ändern, kommen wir in Kap. VI zurück. 98) Heute gibt es vielfältige Tendenzen zur Instrumentalisierung bis hin zur Verdrehung der Rechtsprechung für Kapitalinteressen durch hochbezahlte Rechtsexperten, z. B. wenn es um die mögliche Einschränkung der Grundrechte durch Profilerstellung, elektronisches „scoring“ von Kunden und die Vermarktung ihrer Daten geht oder mit Blick auf den gesetzlichen Rahmen der Gesundheitsindustrie und von internationalen Handelsabkommen. Dabei sind es häufig dieselben Experten, die einerseits die Politik beratend bis hin zur abschließenden Formulierung von Gesetzesentwürfen „entlasten“, um dann ihren Klienten aus der Wirtschaft die Schlupflöcher in diesen gesetzlichen Regelungen aufzuzeigen. 99)

In Brüssel gibt es derzeit ungefähr 15000 Lobbyisten, die mehrheitlich Vertreter der Wirtschaft und großer Unternehmen sind.

100) Ein Beispiel ist der sog. „European Roundtable of Industrialists“ (ERT), der sich selbst als „Think Tank“ bezeichnet und in dem die Vorstände vieler europäischer Großunternehmen vertreten sind. Hier wurden Masterpläne zum europäischen Binnenmarkt und zur Entwicklung europäischer Infrastrukturen ausgearbeitet und – verbunden mit der Drohung, Unternehmen zu verlagern – der Europäischen Kommission „vorgelegt“ und von dieser nahezu deckungsgleich übernommen. Die europäische Binnenmarktinitiative war zwar politisch verkleidet, aber wirtschaftlich, durch ein „neoliberales Denkkollektiv“ (Philip Mirowski) gesteuert. 101) Vgl. Colin Crouch, Post-Demokratie. Frankfurt/​Main 2008. Ders., Die bezifferte Welt: Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin 2015. 102) Schon in dem 1995 geplanten Multilateralen Abkommen über Investitionen (MAI), wurde ein Anlauf genommen, die Dachregeln der Weltgesellschaft so zu definieren, dass auch jeweils auswärtige Wirtschaftsunternehmen und Investoren Schadensersatzforderungen an Staaten stellen können, wenn diese Regulierungen und Subventionen praktizieren, bestimmte Produktlinien nicht zulassen oder wenn die Arbeitsbevölkerung streikt – wobei jeweils über Rechtmäßigkeit und Höhe des Schadenersatzes in geheimen Verhandlungen in nicht staatlichen Schiedsgerichten (ohne Möglichkeiten der Anfechtung seitens der Nationalstaaten) entschieden werden sollte Vgl. Claudia von Werlhof, Das „MAI“, ein Ermächtigungsgesetz für die Multis. Vortrag im Rahmen des 1. Zyklus der Kempfenhausener Gespräche, 1995, unveröff. Manuskript. Dieses Vorhaben ist seinerzeit zwar (am Veto Frankreichs) gescheitert, aber das seit 2012 in Planung befindliche Handelsabkommen mit den USA (TTIP) wie auch die aktuellen Verhandlungen mit Japan und die hier anvisierten Freihandelszonen mit einheitlichen Standards, Patenten und Gesetzen können als zweiter Anlauf verstanden werden, in Geheimverhandlungen zwischen den Regierungen und der EU-Kommission europäische Errungenschaften des Bürger- und Verbraucherschutzes wie auch der Subventionierung kultureller, Angebote und Leistungen, die aus Sicht der Bürger erhaltens- und schützenswert sind u. a. so weit wie möglich auszuhebeln. Heute folgen große Konzerne aus allen Branchen hinter ihrer ethischen Fassade und Propaganda einer Strategie der Vermeidung von Verantwortung und Kosten durch Täuschen, Betrügen und Lügen. Die deutsche Autoindustrie und „Dieselgate“ sind nur ein extremes Beispiel. „Die Energieriesen haben die Öffentlichkeit beim Klimawandel belogen. Die Banken belügen die Politik, indem sie sagen, eine Erhöhung der Eigenkapitalquoten bringe die Finanzindustrie an den Rand des Kollapses. Die Nahrungsmittelkonzerne wissen genau, welche schädlichen Auswirkungen der Zuckerkonsum hat, und trotzdem überschwemmen sie die Schwellenländer mit Produkten, die zu einer Epidemie von Diabetes und Übergewicht führen. Und die Digitalkonzerne hebeln über die sozialen Netzwerke einen wichtigen Kontrollmechanismus der Demokratie aus: nämlich die (…) Medien.“ Thilo Bode, Täuschen, Betrügen. Lügen. Spiegelgespräch. In: DER SPIEGEL Nr. 34, 2018. Vgl. Thilo Bode, Die Diktatur der Konzerne – Wie globale Unternehmen uns schaden und die Demokratie zerstören. Frankfurt/​Main 2018. Eine andere Konstellation hat sich eingestellt, seit Donald Trump Präsident der USA ist und nun Handelsabkommen grundsätzlich in Frage stellt, anstatt an ihrer kultur‑, gesellschafts- und menschenfreundlichen Ausgestaltung mitzuwirken. Auch diese Politik betreibt unter der Führung des Präsidenten die Entwertung des Wahlrechts und die Reduktion der Demokratie auf eine Fassade voran. Vgl. auch Bob Woodward, Furcht. Hamburg 2018. 103) „Anders als das Staatsvolk des Steuerstaates ist das Marktvolk des Schuldenstaates transnational integriert. An den jeweiligen Nationalstaat sind die Mitglieder des Marktvolkes lediglich vertragsrechtlich gebunden, als Investoren statt als Bürger … Eine Regierung, die ihnen nicht gefällt, können sie als Gläubiger nicht abwählen; wohl aber können sie ihre Schuldscheine verkaufen oder davon absehen, an den Auktionen neuer Schuldscheine teilzunehmen … Wo der Schuldenstaat von seinem Staatsvolk Loyalität als Bürgerpflicht erwarten kann, muss er gegenüber seinem Marktvolk darauf bedacht sein, dessen Vertrauen zu erwerben und zu erhalten, indem er seine Schulden zuverlässig bedient und glaubhaft macht, dass er dies auch in Zukunft wird tun können und wollen.“ Streek, a.a.O.

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104) „Vieles spricht dafür, im Auftreten des Finanzkapitals als zweites Volk – als mit dem Staatsvolk rivalisierendes Marktvolk – eine neue Stufe im Verhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie zu sehen, auf der das Kapital seinen Einfluss auf die Politik nicht mehr nur indirekt ausübt – durch Investieren oder Nicht-Investieren in nationale Volkswirtschaften, sondern zusätzlich auch direkt: durch Finanzierung oder Nicht-Finanzierung des Staates selber.“ Streek, a.a.O., S. 124. 105) Streek, a.a.O., S. 141. „Die Politik des modernen Schuldenstaates wird zugleich kompliziert und demokratischem Zugriff entrückt, indem sie zu einem erheblichen Teil als internationale Politik – in der Gestalt von zwischenstaatlicher Finanzdiplomatie –stattfindet, vor allem in Europa. Dabei wird der Verteilungskonflikt zwischen Staatsvölkern und Marktvolk der selbst eine abgeleitete Version des Verteilungskonflikts zwischen Lohn- und Profitabhängigen ist, auf eine neue Ebene projiziert, auf der er bis zur Unkenntlichkeit verzerrt erscheint und sich als ideale zusätzliche Bühne für Aufführungen der Postdemokratie anbietet … Die Beauftragung internationaler governance mit der fiskalischen Überwachung und Regulierung nationaler Regierungen droht den Konflikt zwischen Kapitalismus und Demokratie durch Enteignung der politischen Produktionsmittel der Staatsvölker auf lange Zeit, wenn nicht ein für alle Mal, zugunsten des Ersteren zu entscheiden. Wenn die 2012 beschlossenen Pläne zur Neuordnung des europäischen Staatensystems mit Hilfe eines ‚Fiskalpakts‘ an ihr Ziel kommen sollten, werden die Nationalstaaten sich und ihre Politik unter dem Druck der Finanzmärkte und internationalen Organisationen völker- und verfassungsrechtlich an die Grundsätze der Marktgerechtigkeit gebunden und sich die Möglichkeit weitgehend versperrt haben, diese im Namen sozialer Gerechtigkeit zu modifizieren. An diesem Punkt wird dann die Liberalisierung des modernen Kapitalismus mit einer nachhaltigen Immunisierung seiner Märkte gegen diskretionäre politische Interventionen an ihrem Ziel angekommen sein.“ Streek, a.a.O., S. 132/​133. Ähnlich auch Alan Posener: „Das angeblich machtlose Zentrum des Europäischen Imperiums hat in Wirklichkeit bereits die nationalen Parlamente der Mitgliedsländer – und damit das Wahlvolk weitgehend entmachtet und arbeitet daran, sie weiter zu entmachten. Dabei kommt ihr die ideologische Waffe der politischen Korrektheit zugute, die jede Kritik an der Aushöhlung nationaler Zuständigkeiten als ‚antieuropäisch‘ stigmatisiert  … So ist die Europäische Union nicht nur postnational und postheroisch, sondern auch postpolitisch und postdemokratisch …“ Posener, Alan, Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muss. München 2007, S. 136. 106) „In der Verlängerung des Weges der letzten knapp vierzig Jahre liegt … der Versuch einer endgültigen Freisetzung der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer Märkte, nicht von den Staaten, auf die sie in vielfacher Weise zur Absicherung angewiesen bleiben, aber von der Demokratie als Massendemokratie, wie sie zum Regime des demokratischen Kapitalismus gehörte … Die Utopie des gegenwärtigen Krisenmanagements ist denn auch die mit politischen Mitteln betriebene Vollendung der schon weit vorangekommenen Entpolitisierung der politischen Ökonomie, zementiert in reorganisierten Nationalstaaten unter der Kontrolle internationaler, gegen demokratische Beteiligung isolierter Regierungs- und Finanzdiplomatie, mit einer Bevölkerung, die in langen Jahren hegemonialer Umerziehung gelernt haben müsste, die Verteilungsergebnisse sich selbst überlassener Märkte für gerecht oder doch für alternativlos zu halten.“ Streek, a.a.O., S. 77/​78. 107) Das „spliting“ der politischen Steuerungsebenen, die dem Subsidaritätsprinzip folgende Delegation politischer Entscheidung und Gestaltung auf subnationale, regionale und lokale Ebenen und auf transnationale Ebenen (wie z. B. Europa) wie auch die transkontinentalen Handelsabkommen und die vielfältigen Verflechtungen öffentlicher und privater Organisationen – bilden eine an sich begrüßenswerte Antwort der Politik auf diese Herausforderungen, die aber unter dem Regime des patriarchalen Kapitalismus mit Entstaatlichung und Entdemokratisierung verbunden ist. 108) Ralf Dahrendorf, Traurige Parlamente. In: FAZ, 8. September1999. Dazu aktuell: Caspar Hirschi, Skandalexperten, Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems. Berlin 2018. 109) Insofern „folgt Europa nur dem generellen Trend der exekutivisch dominierten politischen Globalisierung. Die herrschenden ‚politischen Klassen‘ aller Länder vereinigen sich auf Kosten der von ihnen Beherrschten.“ Hauke Brunkhorst, Verfassung ohne Staat? Das Schicksal der Demokratie in der europäischen Rechtsgenossenschaft. In: Leviathan, 30. Jh., 2004. S. 540. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt/​Main 2008. Ders., Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II. Berlin 2011. Ders., Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit. Wien 2013. 110) Wolfgang Streek, a.a.O., S. 214. 111) Dazu gehört neben der Aufblähung der Rüstungsindustrie und einer Klientelpolitik für begüterte Eliten auch, dass bestehende soziale Sicherungssysteme abgebaut bzw. ihre längst überfällige Einrichtung  –  z.  B. einer allgemeinen Krankenversorgung – verhindert wurden, eine Vernachlässigung der Pflege und des Ausbaus von Infrastrukturen, der Lobbyismus der Waffen- und Ernährungsindustrie, die geradezu idiotische Verleugnung des Klimawandels als ökologische Folge des industriellen Wachstums u. a. 112) Ferner gehört dazu die Kolonialisierung der Allgemeingüter durch Kapitalverwertung auch in Westeuropa. Hier haben die Privatisierungen der öffentlichen Versorgung und Infrastrukturen  –  Wasser, Abwasser, Abfall, Strom, Gesundheitsversorgung, Medien u. a. – in vielen Fällen zu Qualitätsverlust und Verfall, zu Ungerechtigkeit und Preisexplosionen für die Bevölkerungen geführt. 113) Wobei derzeit auch deutsche Firmen ohne eine Genehmigung zu benötigen Späh-Software an Diktaturen liefern, die als Waffen eingestuft und in ihrem Handel entsprechend reguliert werden könnten. 114) Insbesondere die USA, in denen viele sensible Bereiche von Staat, Militär und Wirtschaft „auf billiger und latent unsicherer Informationstechnologie aufgebaut“ sind (Sandro Gaycken) werden immer häufiger, intensiver und gezielter attackiert und reagieren zunehmend gereizt und hektisch darauf. Ein Beispiel dafür sind Initiativen, das Netz einer Totalkontrolle zu unter-

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werfen und Ideen, größere Cyberangriffe mit einer Kriegerklärung zu beantworten. Vgl. Sandro Gaycken, Wir müssen das Internet verkleinern. Die USA wollen das Netz einer Totalkontrolle unterwerfen. Das ist der falsche Weg. In: DIE ZEIT, Nr. 27, 2012. Vgl. auch Sandro Gaycken, Cyberwar. Das Internet als Kriegsschauplatz, Open Source Press, 2012. 115) Dabei wird „der Widerstand der von ihren Nationalstaaten vertretenen Völker gegen die Unterwerfung ihres Lebens unter die internationalen Marktgesetze …von der ‚eclesia militans‘ der Marktreligion als Unregierbarkeitsproblem wahrgenommen, das durch weitere Reformen derselben Art, durch mehr davon behoben werden muss und kann: durch neue Institutionen, die auch noch die letzten Reste an nationaler Artikulationsfähigkeit und politischer Willkürmöglichkeit aus dem System herausquetschen und sie durch rationale Anreize, einschließlich negativer in Gestalt von Geldstrafen, zu stillschweigender Fügung in das vom Markt verhängte Schicksal ersetzen sollen.“ Streek, a.a.O., S. 239. 116) Einige Daten dazu:

1986: Die Thatcher Regierung liberalisiert die Börsengeschäfte und verbilligt den Wertpapierhandel. Es ist der sog. „big bang“ für den Aufstieg Londons als Finanzplatz.



1999: Die Clinton Regierung erlaubt Banken, klassisches Kreditgeschäft und Investmentbanking zugleich zu betreiben.



Die amerikanische Börsenaufsichtsbehörde (SEC) senkt den kleinsten zu handelnden Wert von 16 auf 1 Cent und schafft damit das Geschäftsmodell der computergestützten Hochgeschwindigkeitshändler, die in diesem Centbereich millionenfach pro Minute handeln.



2001: In Deutschland führt die Schröder-Regierung die Riester-Rente ein. Diese private Absicherung der Altersversorgung spült Milliarden in die Hände der Banken, die das Geld der Bürger an den Börsen anlegen.



2004: In Deutschland werden Hedge-Fonds für Privatanleger zugelassen.



2005: Die Bundesregierung verabschiedet ein Gesetz, das es Unternehmen erlaubt, ihre Anteile an anderen Unternehmen steuerfrei zu verkaufen. Immer mehr Aktien werden frei gehandelt und damit werden immer mehr Unternehmen der Macht der Aktienmärkte unterworfen.



2005: In den USA führen alle Börsen den elektronischen Handel ein. Vgl. Zeit-Dossier, Die Straße der Tyrannen. In: DIE ZEIT, Nr. 45, November 2011.

117) „Mithilfe der Maschinen kaufen und verkaufen die wenigen Hochgeschwindigkeitshändler heute bis zu 70% aller in den USA gehandelten Aktien. Das erinnert an die Einkommensverteilung in den USA. Immer mehr Geld fließt auf immer weniger Konten. Oder anders gesagt: Die Zahlen haben die Macht über die Welt gewonnen. Und die Rechenmaschinen der Großanleger haben die Macht über die Zahlen.“ Colin Crouch, Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin 2015, S. 198/​ 199. Und, so kann man ergänzen über die Zeit. Nicht die globale Vereinheitlichung und Integration regionaler Zeiten ist das Problem, sondern ihre Kolonialisierung durch die Eigenzeit der Finanzmärkte, ihre Methode und Verträge, „in der Gegenwart eine Zukunft zu verwalten, die man nicht kennt.“ Elena Esposito, Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft. Heidelberg 2010, S. 13. Neben den militärischen haben heute die Netzwerke der globalen Finanzmärkte und ihre Hochleistungscomputer als „Zahlenfabriken“ auch die Funktion von „Geburtshelfern“ der Herrschaft künstlicher Intelligenz. 118) Seitdem Banken stärker reguliert werden, sind erhebliche Anteile des globalen Anlagevermögens in Schattenbanken geflossen, die die Regulationen umgehen können. Rund ein Viertel aller globalen Finanztransaktionen laufen heute bereits über Schattenbanken. Das entspricht etwa 67 Billionen (!) Dollar. Vgl. Marc Schieritz, Arne Sorn, Die dunkle Macht. In: DIE ZEIT, Nr. 48, November 2012. 119) Am Anfang von Finanzkrisen steht zumeist eine Mischung aus falscher Zuversicht und Gier. Der Glaube an immerwährendes Wachstum bei niedriger Arbeitslosigkeit und stabilen Preisen führt dazu, dass die Zentralbanken die Zinsen niedrig halten. Abgesehen davon, dass dies die Altersversorgung wachsender Bevölkerungsanteile gefährdet, können Finanzinvestoren sich nun billig Geld leihen, mit dem sie Aktien, Derivate und Immobilien kaufen und verkaufen und die Preise hochtreiben, bis an den Finanz- und Immobilienmärkten riesige Blasen entstehen, die dann schließlich platzen. Dann sind die auf Pump erworbenen Werte viel weniger wert und alle Welt ist verschuldet. Die Banken müssen mit gigantischen staatlichen Aufwendungen gerettet werden, was die Staaten in die Verschuldung treibt. Dann heißt es für die Staaten zu sparen, weniger zu investieren, Einkommen zu kürzen und Arbeitskräfte zu entlassen. Das ging 2008 von den Immobilienkrediten in den USA aus und könnte demnächst von den weltweit explodierenden Unternehmenskrediten und ‑anleihen (auch schlechter Qualität) ausgehen, die heute einen noch nie dagewesenen Schuldenberg der Unternehmen darstellen und, wenn die Zinsen wieder steigen, in eine verheerende Konkurswelle münden könnten, die dann nicht nur die Finanzmärkte, sondern auch die Arbeitsmärkte treffen würde. 120) Vom jeweiligen Höhepunkt einer Finanzkrise aus gesehen, gibt es im Durchschnitt folgende Veränderungen in einer Volkswirtschaft: die realen Immobilienpreise sinken im Durchschnitt sechs Jahre lang um 35%, die Aktienkurse über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren um 56%, die Arbeitslosenquote steigt um 7% und der Schuldenstand des Staats verdoppelt sich fast. Vgl. Carmen Reinhart, Kenneth Rogoff, This Time is different. Princeton 2009. Darüber hinaus haben Finanzkrisen massive gesellschaftliche und politische Konsequenzen: Die Wahlergebnisse ändern sich und es kommt zumeist zu einem, von Ängsten und Sicherheitsbedürfnissen geprägten Rechtsruck in den betroffenen Bevölkerungen. Vgl. hierzu Moritz Schularik, Credit Booms Gone Bust, American Economic Review, 2012, Alan Taylor; When Credit Bites Back , Journal of Money, Credit and Banking, 2013, Òscar Jordà, Alan Taylor, Leveraged Bubbles, Journal of Monetary Economics, 2015, Òscar Jordà, Alan Taylor, No Price Like Home, American Economic Review, 2017, Katharina Knoll, Thomas Steger.

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121) Ein aktuelles Beispiel dafür sind die mageren Ergebnisse der G20-Gipfel bis heute. 122) Propaganda im Sinne der Verbreitung „frisierter“ Informationen und systemaffirmativ „getrimmter“ Deutungsmuster und die „Fabrikation von Konsens“ (Edward S. Herman, Noam Chomsky) „von oben“ gibt es schon lange. Aber nun können z. B. über Medien wie Facebook schlichte Weltbilder, logozentrische und totalitäre Deutungsmuster (z. B. des Rechtsextremismus, des Antisemitismus, des Islamismus u. a.), Hasstiraden und Aufrufe zur Gewalt sich quasi von „unten“ und selbstorganisiert verbreiten. Zur „Fabrikation von Konsens“ siehe u. a. Edward S. Herman, The Propaganda Model Revisited. Monthly Review, Juli 1996. Zur Nutzung der Internetkommunikation für politische Radikalisierung: Toralf Staud, Neue Nazis. Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts. Köln 2012. 123) Wie bereits angedeutet, „bedienen“ die kommerzialisierte wie auch zunehmend die politische Massenkommunikation heute Bedürfnisse nach vereinfachten Narrativen, Weltsichten und Verallgemeinerungen. Diese waren zwar als Disposition, aus begrenzten Informationen schnell allgemeine Schlüsse zu ziehen, für das Überleben unserer Vorfahren wichtig. Vgl. Daniel Kahneman, Schnelles Denken – Langsames Denken. Berlin 2012. Aber heute müssen diese Tendenzen zur Simplifikation im Rahmen demokratischer Willensbildung durch (Zeit für) ihre Korrektur durch Reflexion weiterer Informationen und Kontexte ergänzt, begrenzt und relativiert werden. Dafür fehlen aber unter gegenwärtigen Bedingungen schneller sich ablösender Blasenbildungen und fake news zunehmend Zeit und Energie. Die Folgen sind „kollektiver Realitätsverlust“ und Erosion der Demokratie. Vincent. F. Hendricks, Mads Vestergaard, Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien. München 2018. 124) Hier treten Prominenz und expressive Leistungen und Darstellungsformen (Unterhaltsamkeit, Attraktivität, Telegenität, Stil, Humor, Gewandtheit, Ausstrahlung etc.) in den Vordergrund, während Reputation, sachbezogene und ethische Qualitäten (Kompetenz, Wahrheitsliebe, Vertrauenswürdigkeit u. a.) an Relevanz verlieren. Vgl. Birgit Peters, Prominenz. Eine soziologische Analyse ihrer Entstehung und Wirkung, Opladen 1996. Zit. nach Cornelia Koppetsch, Öffentlichkeitseliten und der Wandel von Expertenkulturen. Überlegungen zu Luhmanns Theorie der Massenmedien. In: Günter Burkhart, Gunter Runkel (Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt/​Main 2004. 125) „Ich mache mit Marshall McLuhan die Annahme, dass Verständigungen zwischen Menschen in Gesellschaften vor allem, was sie sonst noch sind und bewirken, einen autoplastischen Sinn haben. Sie geben den Gruppen die Redundanz, in der sie schwingen können. Sie prägen ihnen die Rhythmen und Muster ein, an denen sie sich erkennen und durch die sie sich als ungefähr dieselben wiederholen. Sprachen sind gruppennarzisstische Instrumente, die gespielt werden, um die Spieler zu stimmen und nachzustimmen; sie lassen ihre Sprecher in Tonarten der Selbsterregung klingen. Sie sind Systeme von Erkennungsmelodien, die auch schon meist die ganze Sendung sind. Ihr Gebrauch dient nicht primär dem, was man heute als Übermittlung von Information bezeichnet, sondern der Formierung des kommunizierenden Gruppenkörpers.“ Peter Sloterdjyk, Ich bin jetzt der unabhängigste Mann Europas. Über die Verbesserung der guten Nachricht: Nietzsches fünftes „Evangelium“. Vortrag zum hundertsten Todestag Nietzsches in Weimar. In: FAZ, 28. August 2000. Die Formatierung zum Mitspieler im „Erregungszirkus“ (Ullrich Fichtner) ist mit einer Stimulation und Förderung der (tief verankerten) Bereitschaft zur Konformität der involvierten Individuen – hier in den Nischen einer fragmentierten Gesellschaft – verbunden. Vgl. dazu Michael Pauen, Harald Welzer, Autonomie. Eine Verteidigung. Frankfurt/​Main 2015. 126) Vgl. Simon Reynolds, Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann. Mainz 2012. Auch hier gilt wohl die schon zitierte Einsicht: „Wen die Götter zerstören wollen, dem geben sie unbegrenzte Ressourcen.“ Auch vor diesem Hintergrund lassen sich Überlegungen verstehen, Information künstlich zu verknappen, indem ihr Fluss enger an Geld und Kaufakte gebunden wird. Das betrifft insbesondere Daten der Bürger, der Konsumenten und Prosumenten, deren Verfügbarkeit eine produktive Leistung darstellt, für die daran interessierte Unternehmen und Organisationen einen Preis zu zahlen hätten. Vgl. Jaron Lanier, Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht. Berlin 2010, S. 138 ff. Vgl. auch Andreas Weigand, Robin Dennis, Data for the People. How to Make our Post-Privacy Economy Work for You. Hamburg 2017. Weitere Vorschläge zur Regulation des Informationsmarkts – z. B. von Hendriks und Vestergaard – finden sich in Kap. V. 127) So werden u. a. auch Gelingen und Misslingen einer Verwirklichung der vier fundamentalen Leitorientierungen intuitiver Sittlichkeit – Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit – in den verschiedenen Unterhaltungsformaten (von der Talk-Show bis zum Krimi) immer wieder durchgespielt und beschworen, während und weil sie in der kulturellen Wirklichkeit an Bedeutung und Einfluss verlieren. 128) Zur Ablösung der Konsumentensouveränität durch „Computersouveränität“ siehe: Mathias Binswanger, Das Ende des souveränen Konsumenten. Noch entscheiden Menschen selbst, was sie kaufen und welche Konzerne sie mögen. Doch bald übernehmen das die Computer. Ein Beispiel ist der einkaufende Kühlschrank, der u. a. ihre medizinischen Daten auswertet. In: DIE ZEIT, Nr. 12, März 2016. 129) Dabei werden über Information und Wissen hinaus auch der gesamte Produkt- und Dienstleistungskonsum durch „Datenspurensuche“ und ‑sammlung und algorithmische Modellierung der Lebens‑, Konsumgewohnheiten und –stile formatiert, personalisiert und als maßgeschneidertes, wachsendes Angebotsspektrum an jeden einzelnen Konsumenten gezielt zurückgespielt (Micro Targeting). Ein erfolgreiches Beispiel ist die Firma Demand Media, die mit Hilfe von Computern und Algorithmen kontinuierlich ermittelt, was die Menschen interessiert, dann von frei beschäftigten Schreibern täglich tausende entsprechende Text‑, Bild- und Filmbeiträge anfertigen lässt und diese über Werbung finanziert und kostenfrei ins Netz stellt. Heute werden diese Bedürfnisse zunehmend auch durch computergenerierte Texte befriedigt. Vgl. Jana Gioia Baurmann, Willkommen Kollege. Die Arbeit von Journalisten verändert sich deutlich. Was es bedeutet, wenn Texte bald von Rechnern geschrieben werden. In: DIE ZEIT, Nr. 22, 28. Mai 2015.

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Die Besonderheit dieser zirkulären Koppelung von Angebot und Nachfrage ist ihre Individualisierung: indem die Individuen durch ihre Datenspur vermelden und bekommen, was zu ihnen „passt“, wirken sie mit an der Entstehung von Symbiosen mit den Anbietern, in denen sie nun, zunehmend unbehelligt von Überraschungen und Irritationen, also „geschützt“ vor der Erfahrung des Nicht-Identischen nur noch sich selbst bzw. dazu Passendem begegnen. „Das Problem sind die menschlichen Vorlieben und Verhaltensweisen, und die Algorithmen lösen es, indem sie uns berechenbar machen. Sie schlagen uns auf Basis unseres Verhaltens im Netz vor, was wir mögen, lesen und kaufen oder ansonsten tun sollen. Sie machen aus dem Menschen einen digitalen Narziss, der nur noch Spiegelbilder seiner eigenen Wünsche und Vorlieben zu sehen bekommt und irgendwann den Blick verliert, was ausserhalb seiner selbst in der Welt geschieht.“ Miriam Meckel, Weltkurzsichtigkeit. Wie der Zufall aus unserem digitalen Leben verschwindet. In: DER SPIEGEL, Nr. 38, 2011. Vgl. auch Miriam Meckel, NEXT – Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns. Hamburg 2011. Dabei scheinen die Prosumenten zunehmend das Datensammeln und die Erzeugung ihres zweiten quantifizierten und objektivierten „Daten-Ichs“ als individualisierte Selbstverortung und erweiterte Selbstkontrolle zu verinnerlichen und auch diese der Logik des Wettbewerbs zu unterwerfen, die einen „marketingstrategischen Zugang zum eigenen Selbst“ (Andreas Bernard) erfordert. Vgl. Andreas Bernard, Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur. Frankfurt/​Main 2017. Diese Entwicklung wird an Umfang und Tiefe zunehmen, wenn immer mehr Daten von den privaten Festplatten in die „Wolke“ des Internets verlagert werden. Inzwischen werden auch die kommunikativen Aktivitäten der Netznutzer beobachtet, gemessen, bewertet und von vielen Unternehmen prämiert. Da die Vielnutzer über ihre Prämien im Internet berichten, werden sie von den Unternehmen als Werbungsträger genutzt. Vgl. Who’s who des Internets. In: DER SPIEGEL, Nr. 31, 2012. Jaron Lanier sieht hier die Gefahr eines neuen computergestützten Totalitarismus, in dem die Grenzen zwischen Unternehmen und Staat verschwimmen. Jaron Lanier, Wem gehört die Zukunft. Berlin 2013. Zu den Vorzeichen dieser Entwicklung gehört auch die Abhängigkeit und „Landnahme“ Europas durch amerikanische Internettechnologien und Geräte. Da niemand weiß, welche Beobachtungs- und Kontrollfunktionen hier integriert sind und von amerikanischen Sicherheitsbehörden genutzt werden, lässt sich damit „keine sichere europäische Infrastruktur herstellen.“ Yvonne Hofstetter, Europa versagt. In: DIE ZEIT, Nr. 10, März 2015. Vgl. dazu auch, Yvonne Hofstetter, Sie wissen alles. Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen. München 2014. Wie schon erwähnt, ist China derzeit ein Vorreiter im Ausbau einer auf Datensammlung und artifizielle Intelligenz gestützten Kontrolle und Bevormundung der Menschen. Vgl. Dirk Helbing u. a., Digital-Manifest. In: Spektrum der Wissenschaft I/​2016. 130) Wie schon zitiert: „Wen die Götter vernichten wollen, dem geben sie unbegrenzte Ressourcen“ (Indisches Sprichwort). Das scheint nicht nur für die Inanspruchnahme der natürlichen materiellen Ressourcen und die damit verbundene ökologische Selbstgefährdung, sondern auch für die Informationsressourcen, das „Öl des Informationskapitalismus“ (Yvonne Hofstetter) zu gelten, wobei im Unterschied zu Kohle, Erdöl und ‑gas die Kosten der Förderung von Informationen und Daten auf den Plattformen der schon erwähnten „Superstar-Unternehmen“ und „Datenraffinerien“ durch die hier bislang umsonst liefernden Prosumenten wesentlich niedriger und die Gewinnspannen (vor allem durch Werbung) um ein Vielfaches höher sind. In ähnlicher Weise wie die verwertungsorientierte Stimulation, die Ausgestaltung und das grenzenlose Wachstum materiellen Massenkonsums die Weiterexistenz kultureller Lebensform gefährdet, könnte auch die grenzenlose Erschließung von Datenressourcen durch einen Informationskapitalismus, dem es nur um schnelle Verwertung geht, dazu beitragen. Ein Indiz dafür könnte der massenhafte Einbezug der Kinder und ihrer Aufmerksamkeit (und der Eltern, die sie via TV und Internet ruhigstellen wollen) sein: „Man kann sich vorstellen, wie die hohen Zuschauerzahlen zustande kommen: Wenn ein Video zu Ende ist, startet ein Algorithmus automatisch den nächsten Film, den er als thematisch dazu passend einstuft, und bietet in einer Seitenleiste weitere verwandte Videos an. Ein Kleinkind, das einmal vor dem Bildschirm sitzt, ist für Stunden ruhig gestellt. Offenbar werden solche Videos am Fließband produziert – mit dem einzigen Ziel, Werbeumsätze zu generieren. Auch bei der Herstellung nutzen die Macher Algorithmen, die weitgehend ohne jede menschliche Kontrolle ablaufen. Egal, ob es um hirnlose Kindervideos geht, um Falschmeldungen oder russische Wahlbeeinflussung: Zunehmend müssen sich die digitalen Plattformen fragen, ob sie überhaupt noch einen Überblick über das haben, was sie da in die Welt gesetzt haben, oder ob ihnen längst wie Goethes Zauberlehrling jede Kontrolle abhanden gekommen ist.“ Christoph Drösser, Außer Kontrolle. Was wir im Internet sehen? Das bestimmen Maschinen. Wie Zauberlehrlinge haben die Internetkonzerne eine Macht entfesselt, die sie nicht bändigen können. In: DIE ZEIT, Nr. 7, Februar 2018. 131) Je weniger Systemreflexion und ‑kritik in den Massenmedien noch stattfinden kann, weil die Vieldeutigkeit und Komplexität der Welt die Prosumenten überfordert, umso mehr wird moralisiert: werden stellvertretend prominente (bzw. dadurch erst prominent gemachte) Personen ausgeforscht, ihr mögliches Fehlverhalten moralisch beleuchtet, öffentlich diskutiert und mit kaum verhüllter Schadenfreude verurteilt. Dabei überrascht häufig die Scheinheiligkeit, mit der verbal moralische Standards gepredigt werden, ohne sich selbst an diese zu halten. Vgl. Thomas Druyen, Krieg der Scheinheiligkeit. Plädoyer für einen gesunden Menschenverstand. Düsseldorf 2012. Im Möglichkeitsfeld des Internets und der hier unberechenbaren und nicht voraussehbaren Eigendynamik von Informationsflüssen entstehen „bislang unbekannte, nicht mehr eingrenzbare Erregungszonen in der Sphäre der Öffentlichkeit“ mit „neuen Enthüllern, neuen Opfern und neuen Themen.“ Hier könnte eine Gesellschaft entstehen, „deren Mitglieder sich aus Angst vor dem Kontrollverlust und dem grausamen Ad-hoc- Spektakel permanent selbst kontrollieren, sich allenfalls noch flüsternd verständigen und möglichst keimfrei austauschen. Ganz so, als würde man sie ausspionieren und als würde jeder, der ihnen zuhört, eigentlich nur ihre baldige Hinrichtung planen. Es wäre eine Gesellschaft, die an der eigenen Transparenz erstickt.“ Bernhard Pörksen, Hanne Detel, Kollaps der Kontexte. In der Digital-Ära wird der Kontrollverlust zur Alltagserfahrung – und der Skandal allgegenwärtig. In: DER SPIEGEL, Nr. 14, 2012. Vgl. auch Bernhard Pörksen, Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, 2012. Man kann sich fragen, ob nicht auch die oft unverhältnismäßige, ungehemmt sich bahnbrechende Wut auf ordnungsverletzende Einzeltäter und die Faszination und Beliebtheit der unzähligen Katastrophenfilme sowie der exzessiv Krieg und Gewalt

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simulierenden Computerspiele eine heute aktuelle mentale Ambivalenz bedienen und diese verstärken. Nämlich ein „Pendeln“ zwischen uneingeschränkter Affirmation der westlichen Wirklichkeit, weil die Menschen in ihr und von ihr leben (müssen) und der lustvollen Imagination ihrer Zerstörung wegen des Sinnentzugs und der Leiden, die sie ihnen (immer auch) zufügt. 132) „Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – viel mehr als man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterung in nahezu allen Ländern der Erde.“ Aus der Erfahrung, dass dieses Zwischen zerstört werden könnte, hat Hannah Arendt befürchtet, dass „die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwinden“ könnte. Hannah Arendt, Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg 1999. Dieses (sich anbahnende) Verschwinden kann man durchaus als eine „Verwahrlosung“ diagnostizieren: „Verwahrlosung heißt jeder Anschlag auf die und sei es nur mögliche oder möglicherweise erst noch kommende Welt zwischen Menschen, also jeder Anschlag darauf, was Arendt als ‚Lessings Menschlichkeit‘ (…) zu denken gibt.“ Michael G. von Dufving, Die Zerstörung der Welt. Hannah Arendts Zwischen als Element einer Theorie der Verwahrlosung. In: Ästhetik und Kommunikation, Heft 132, Frühjahr 2006, S. 50. Vgl. auch Roberto Simanowski, Facebook-Gesellschaft. Berlin 2017. Ein aktuelles Beispiel für aktiv mitbetriebene Verwahrlosung des „Zwischen“ durch systematische Manipulation und Verbreitung von Lügen bietet der Kommunikations- und Politikstil von Donald Trump. 133) Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben diesen Zusammenhang zwischen (Selbst)unterdrückung und Kunst(genuss) in ihrer berühmten Interpretation der Vorbeifahrt des Odysseus an den Sirenen dargestellt. Seitdem und je mehr die patriarchal formatierten Subjekte versuchen, die widerspenstige kontingente Dynamik innerer und äußerer Umwelt im logozentrischen Denken und in glaubenspraktischen Abstraktionen „verschwinden“ zu lassen, umso stärker erfahren sie diese Abstraktion auch als eine an sich selbst und suchen sich davon zu „heilen“, indem sie dem „Nicht-Identischen“ in der Kunsterfahrung einen Wiedereintritt eröffnen. Kunst verspricht die Entfaltung einer Konkretheit der Erfahrung und Selbsterfahrung, die sich die Funktionseliten in ihrer patriarchal-logozentrisch dominierten Alltagspraxis selbst verbieten. 134) Wie versucht wurde zu zeigen, ist der spätkulturelle Entwicklungspfad der Kunst ein von Alltags- wie von Glaubenspraktiken sich lösender Weg der spielerischen Gestaltung, der Wahrnehmung und des Empfindens von Kohärenz und Schönheit und ihre Herstellung in der Vielfalt von Kunsthandwerken und Künsten, der seine eigenen, genuin ästhetischen Geltungsansprüche ausdifferenziert. In der künstlerischen Praxis wird das „Nicht-Identische“, dass in den alltagspraktischen Identifikationen und begrifflichen Modellierungen der Umweltdynamik notwendig immer wieder „aufbricht“ und in Glaubenspraktiken identifiziert und „beruhigt“ wird, in immer wieder neuen Anläufen vergegenwärtigt. Auch in der künstlerischen Praxis sind Systemdifferenzierung mit Ausübung und Gewinn persönlicher Freiheit gekoppelt: nur in Vollzügen der evolutionär ausdifferenzierten Konstruktionsregeln der Künste können die Künstler und nur in ihrem Nachvollzug können die Kunstrezipienten hier ihre Freiheit zur Öffnung und zur Erfahrung des Nicht-Identischen realisieren und nur, soweit sie diese Freiheit wollen und ergreifen, kann sich das System der Kunst weiter ausdifferenzieren. Wie schon ausgeführt, kann die Kunst die alltagspraktischen Umweltbezüge und Weltentwürfe transzendieren, ohne geschlossene Weltbilder zu erzeugen. Insofern operiert das System der Kunst, ähnlich wie auch die Theoriepraxis, gleichsam auf der Grenze zwischen Alltags- und Glaubenspraxis. Die „Logik“ künstlerischer Praxis verbindet im Werkcharakter ihrer Formbildungen die ästhetische Virtualisierung und Kohärenzerzeugung der Alltagspraxis mit dem pars pro toto-Charakter der Glaubenspraxis. Mit zunehmender Durchsetzung einer logozentrischen Organisation der Alltagspraxis haben die Künste eine kompensierende aber auch kritische Funktion in der Selbstbeobachtung und ‑interpretation westlicher Kultur übernommen. 135) Während „Multikulturalität“ eine Form des Nebeneinanders von Kulturen und Lebenswelten in den „Gefäßen“ von Nationalstaaten bezeichnet, kann man das, was heute auf den Wachstumsinseln der globalen Wirtschaft entsteht, mit Byung-Chul Han als „Hyperkultur“ bezeichnen. „Hyperkultur“ ist das Ergebnis einer Implosion der verschiedenen Kulturen zu einem „Gemenge“, in dem Differenzen virtualisiert und sich in Ähnlichkeiten verwandeln und aus dem „sich bedienen“ kann, wer über Geld und „Stil“ verfügt. „Die Hyperkultur markiert das Ende des Ortes im emphatischen Sinne … Die allgemeine Implosion lässt nicht nur Orte, sondern Wege verschwinden … Der Weg weicht dem Hyperlink und dem ‚Enter‘. Zu bemerken ist, dass die Transkultur noch an die Figur des Wegs gebunden ist. Wo Wege verschwinden, gibt es nämlich kein Trans. Im hyperkulturellen Fundus von Möglichkeiten sind auch die Herkunftsmarkierungen gelöscht. Die Hyperkultur unterscheidet sich auch insofern von der Multikultur, als sie kaum Erinnerungen an die Herkunft und Abstammung besitzt. Der hyperkulturelle Fundus von Möglichkeiten ist eine Art kultureller Hypertext. Hyperkultur und Hypertext besitzen eine ähnliche Struktur. Der Hypertext entspringt dem Ende des emphatisch gedachten Textes. Die Hyperkultur ist eine Erscheinung des Endes der Kultur im emphatischen Sinne … Die Hyperkulturalität kennzeichnet eine allgemeine Promiskuität kultureller Formen. Der Dialog weicht einer prä-dialogischen Berührung, ja einer prä-dialogischen Kopulation …“ Byung-Chul Han, Globalisierung und Hyperkultur. In: Lettre International 74, Herbst 2006. 136) „Visuelle Industrie“ meint weniger, dass künstlerische Produktion industrieförmig organisiert ist …, sondern dass die Verantwortung für die Produktion von Bildern, ihre Sichtbarkeit und Bedeutungszuschreibung tendenziell nicht bei einzelnen Händler/​‑innen oder Künstler/​‑innen liegt und in die Hände größerer internationaler Akteur/​‑innen übergeht. „Wie in der Modewelt ist auch das Format ‚Einzelhandel‘ korporativen und kooperativen Strukturen gewichen, wobei diese global organisierten oder ausgerichteten Unternehmen Züge eines mittelständischen Unternehmens beibehalten können. Waren Galerien internationale Kooperationen bislang nur gelegentlich eingegangen, schließen sie sich heute verstärkt zu Großfirmen zusammen; … Wenn modeindustrieelle Prinzipien (korporative Strukturen, Celebrity culture, Performativitätsdruck) nun auch die Kunstwelt regieren, so ist dies Ausdruck einer gestiegenen Macht der Mode. Mode steht derzeit ganz oben in der kulturellen Hierarchie …Die Grenzen zwischen dem System ‚Mode‘ und der Kunstwelt sind immer durchlässiger, die Übergänge immer fließender geworden …

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Die Mode verfügt über ein Identifikationspotential, von dem Kunst nur träumen kann, denn Mode lässt sich unmittelbar für das eigene Selbstbild nutzen.“ Isabelle Graw, Kunst, Markt, Mode. Prinzip Celebrity – Porträt des Künstlers in der visuellen Industrie. In: Lettre International, Herbst 2006. 137) „Kunstwerke zirkulieren als Waren auf dem Kunstmarkt – daran ist nichts Besonderes … Dass mit ihnen spekuliert wird, dass sie den Status von Anlageobjekten besitzen, dürfte kaum überraschen. Neu jedoch ist die Autorität, die den Setzungen des Marktes heute zugebilligt wird … (Heute) bedeutet ein Erfolg auf dem Markt keine Gefährdung künstlerischer Glaubwürdigkeit mehr – im Gegenteil Markterfolg und künstlerische Glaubwürdigkeit bedingen einander …“ Der kommerzielle Kunstmarkt „hat in dem Maße an Volumen und Selbstbewusstsein zugenommen, wie er sich weniger denn ja mit Legitimationsproblemen herumschlagen muss … Tobias Meyer, Chef der Abteilung zeitgenössische Kunst bei Sotheby’s, erklärte kürzlich, ohne auf großen Widerspruch zu stoßen, die teuersten Werke seien tatsächlich auch die besten. Aus dieser Sicht hat der Markt stets das letzte Wort und immer recht – als gäbe es keine außerökonomischen Kriterien mehr für Kunst … Auch in Deutschland gibt es Fälle …, wo das Museum als wertsteigernde Instanz für private Leihgaben funktioniert, die nach gewisser Zeit abgezogen und, da mit musealen Weihen versehen, gewinnbringend verkauft werden. Da Museen über immer schmalere Ankaufetats verfügen, sind sie zunehmend auf Unterstützung durch Sponsoren und Privatsammler angewiesen. Dies kann dazu führen, dass sie Werturteile des Marktes gleichsam gezwungenermaßen ratifizieren, indem sie Privatsammlungen übernehmen oder enge Kooperationen mit solchen Händlern eingehen, die sich ihrerseits bereit erklären, die Produktionskosten einer künstlerischen Arbeit zu übernehmen … Die Autorität jener Künstler/​‑innen, deren Arbeiten hohe Preise erzielen und hinter denen ein wirkungsvolles System aus gläubigen Förderern steht, wird gleichsam als gegeben vorausgesetzt. Es herrscht das Motto: Wer derart viele Fürsprecher und Investitionen zu vereinen vermag, kann so schlecht doch nicht sein. Und jene, die die Setzungen des Marktes im Stillen anzweifeln, können es sich oft nicht leisten, öffentlich gegen dessen Werturteile einzutreten. Sämtliche Akteure des künstlerischen Feldes sind zuletzt aufeinander angewiesen, und kaum ein Galerist oder Kurator würde es riskieren, als Spielverderber zu agieren und einen vorhandenen Konsens in Frage zu stellen“. Isabelle Graw, ebd. Vgl. hierzu auch: Marcus Metz, Gerhard Seeßlen, Geld frisst Kunst – Kunst frisst Geld. Berlin 2014. 138) Auch ihre Einfügung in ein „new public management“ von Stadtverwaltungen, wenn z. B. „Theater“ zu einem Produkt wird, dessen Bewertungsmaß die eingenommenen Eintrittspreise sind, ist ein Indiz für die Kolonialisierung der Kunst durch Verwertungslogik. Ein anderes Beispiel bietet die von Aby Warburg entlehnte und heute modisch gewordene Kombination, Collage und Montage von Bildern aus verschiedenen Zeiten, Epochen, Stilen und Kulturen, wo oft „unergründliche Nachbarschaften“ beliebig, „kryptisch und damit maniriert“ gestiftet und suggeriert werden. Hier wird schnell klar, „dass die originellen Kombinationen vor allem Strategien der Wertschöpfung, Motor und Feigenblatt eines rastlosen Kunstmarkts“ sind. Wolfgang Ullrich, Denn Bedeutung schlummert überall. Warum ausgerechnet der Kunsthistoriker Aby Warburg zur Kultfigur des Kunstbetriebs aufgestiegen ist. Ein Lehrstück. In: DIE ZEIT, Nr. 3, Januar 2013. 139) Vgl. hierzu Wolfgang Ullrich, Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik. Berlin 2006. Hinzu kommt, dass im Rahmen der Kapitalverwertung Kunst von Unternehmen, die allen Grund haben, ihre sozialen, ökonomischen und ökologischen „Sünden“ zu verbergen, zur Demonstration „kultureller Verantwortung“ missbraucht wird. Diese ästhetische Maskerade prägt häufig auch die Stadtgestaltung  –  wobei dem nicht selten Naivität oder auch Korrumpierbarkeit der Künstler entgegenkommen. Vgl. dazu Hanno Rauterberg, Die Kunst und das gute Leben – Über die Ethik der Ästhetik. Berlin 2015. 140) Slavoj Zizek bezeichnet den westlichen Buddhismus als einen Fetisch: Er „befähigt einen, voll am hektischen Wettlauf des kapitalistischen Spiels teilzunehmen, während er den Eindruck stützt, dass man nicht wirklich drin ist, dass man sich wohl bewußt ist, wie wertlos dieses Spektakel ist – was einen wirklich betreffe, sei der Friede des inneren Selbst, zu dem man sich stets zurückziehen könne.“ Slavoj Zizec, Die Brisanz des christlichen Erbes, in: Information Philosophie, März 2002, S. 9. 141) In Umkehrung der Gedichtzeile von Rilke „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen“, scheinen Ästhetik und Kunst heute zu Medien und Verstärkern einer Abdankung von Erkenntnis und Ethik angesichts einer Wirklichkeit zu werden, deren schreckliche Züge nicht ertragbar sind. Insofern hier die ästhetisierende Lebensgestaltung und Weltsicht zu einem ritualisierten Abwehrmechanismus erstarren, kann man (nur scheinbar paradox) von einem „Logozentrismus des Ästhetischen“ sprechen. In Zukunft werden mit der Durchdringung unserer Wirklichkeit durch virtuelle Realitäten und Identitäten die Fluchtmöglichkeiten, ‑angebote und ihre Nutzungen explosiv zunehmen. 142) Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt/​Main 2003. Neben Schönheits‑, Wellness- und Gesundheitskult kann man auch den verbreiteten Abenteuereskapismus und den Extremsport als Ausdrucksformen einer Fetischisierung des Selbst bezeichnen: sich der Eindeutigkeit der Gefahr und des Risikos und dem „Rausch des Augenblicks“ auszuliefern, um gegen die modernen Entzauberungseffekte und Gewissheitsverluste eine momentane Eindeutigkeit und Klarheit des Selbst zu gewinnen. „If life bores you, risk it.“ 143) Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/​Main 1983. Ferner: Michael Hartmann, Die Abgehobenen. Frankfurt/​Main–New York 2018. Vgl. auch Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017. Hier wird u. a. auch die Argumentation von Bourdieu zur Individualisierung, zu Einmaligkeitskult und Distinktionsgewinn wiederaufgenommen. Das fein gesponnene Netz von Gesten und Ritualen, des Habitus und der Deutungsmuster, die der Zugehörigkeit, der internen Hierarchisierung und der Ausgrenzung dienen, erinnern tatsächlich an die höfische Kultur und werden vielleicht in Zukunft ähnlich lächerlich erscheinen. Vgl. Leonhard Horowski, Das Europa der Könige. Macht und Spiel an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts. Reinbek 2017. In diesem Rahmen wird der Künstler

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vom Sonderling zum berühmten Star, der das von allen erstrebte kreative Leben vorlebt. Kunstsammeln wird zur höchsten Sublimierung des Konsums und der Kunstsammler zur verehrten Inkarnation des souveränen, mit (vermeintlicher) Kennerschaft ausgestatteten Konsumaristokraten. Siehe auch Wolfgang Ullrich, Helden des Konsums. Warum der Kunstsammler zum Vorbild des neuen Bürgers avanciert. In: DIE ZEIT, Nr. 41, Oktober 2012. 144) „Mit einem ästhetisch gebildeten Geschmack trainiert der Einzelne den Auftritt auf dem Laufsteg des Sozialen, er trainiert seine Verwertbarkeit als Selbstunternehmer, hält sich auf dem Arbeitsmarkt verkäuflich und modelliert das Design seines Lebens: ‚Passt die Sache in mein Leben? Welches Leben passt zu dieser Sache? Wie muss ich mein Leben ändern, damit ich mich dieser neuen Sache anpassen kann?‘“ Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hrsg.) Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2011. Zitiert nach Thomas Assheuer, Die Kunst der Gegenwart wird atmosphärisch. Was soll das bedeuten? In: DIE ZEIT, Nr. 47, November 2012. 145) „Den seltsamen Kult um das selbstbestimmte, selbstoptimierte, sich aus sich selbst schöpfende Ich der Kreativwirtschaft. Dieses Ich lebt in einer Gesellschaft, die nichts so sehr preist wie die Konvention des Unkonventionellen. Und sie erblickt im Kunstbetrieb ihr Ebenbild: auf ähnliche Weise undurchlässig und machtverkrustet, bestimmt von ängstlich-freier Unfreiheit.“ Hanno Rauterberg, Geht ja gar nicht! Auf der Suche nach Kreativität: Wie ein Künstler-Casting-Show auf Arte den selbstgefälligen Kunstbetrieb aufmischt. In: DIE ZEIT, Nr. 48, November 2012. 146) Den beiden heute dominierenden Ausprägungen post-religiöser Glaubenspraxis  –  der Verdinglichung und Technokratie einerseits wie auch der Ästhetisierung der Welt und ihrer Auflösung in eine affirmative Ästhetik und Kunstreligion andererseits – wäre die ungeglättete künstlerische Erfahrung, die unverkürzte Vernunft philosophischer Rekonstruktion und Reflexion sowie eine unverstellte empirische Beobachtung der Faktizität und Brutalität des Realen entgegen zu setzen. 147) Vgl. Joachim Rossbroich, Kultur-Bildung. Ein evolutionärer Ansatz. In: Sven Lippert, Joachim Rossbroich (Hrsg.), Ergebnisse aus der Zukunftswerkstatt Mariposa. Arona, Teneriffa. Reflexionen und Empfehlungen zur Bildungstheorie und ‑praxis. Voraussichtlich Frühjahr 2020. 148) Anspruch und Verpflichtung zur Entfaltung der Kinder zu mündigen Personen sind in Menschenwürde und ‑rechten begründet. Ebenso wie gesellschaftliche Praxis die Würde und Rechte der erwachsenen Menschen verletzt, wenn sie ihnen ihre Freiheit zur Entfaltung ihrer Mündigkeit und Persönlichkeit vorenthält, werden Menschenwürde und Menschenrechte der Kinder und Jugendlichen verletzt, wenn ihnen Bildung und damit Chancen zum Ergreifen dieser Freiheit vorenthalten bzw. systematisch eingeschränkt werden. 149) Henri Lefebvre, Ich träume von einer Welt, in der jeder seine Identität findet, indem er seine Differenz sucht. Aus einem Dialog zwischen Henri Lefebvre und Catherine Regulier. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 104, Mai 1979. Ähnlich formuliert auch Colin Crouch: „Um wirklich uneingeschränkt effizient am Markt agieren zu können, müssen wir uns in egozentrische und amoralische Rechenmaschinen verwandeln. Solange wir daneben auch noch andere Verhaltensweisen an den Tag legen, ist das nicht unbedingt problematisch. Wenn jedoch der Markt und analoge Systeme auf immer weitere Lebensbereiche übergreifen, wie es heute der Fall ist, schafft das einen Anreiz, alle unsere sonstigen Verhaltensweisen zu unterdrücken und uns in unserem alltäglichen Handeln vor allem am Vorbild derartiger Maschinen zu orientieren.“ Colin Crouch, Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin 2015, S. 198/​199. Mit Francoise Sironi kann man diesen Typus auch als „System-Mensch“ charakterisieren: „Der System-Mensch ist ein Mensch, der eine einzigartige und komplexe Identität in jeglicher Hinsicht aufgibt, zugunsten des vorgefertigten Denkens, das ihm ein System bietet. Dieses verleiht ein Außenskelett, mit dem er sich aufrecht halten kann. Der System-Mensch verhält sich so, wie er glaubt, dass ein anderer möchte, dass er sich verhält. Doch die Initiative geht weder allein vom Menschen aus, der dem System anhängt, noch allein vom System, das ihn hervorbringt: Sie bauen das System auf und niemand von beiden weiß, was sich entwickeln wird. Ab einem bestimmten Moment kann das System aus sich selbst heraus funktionieren. Damit diese freiwillige Unterwerfung geschieht, braucht es keine mörderische Ideologie oder Gewalt. So gesehen kann es System-Menschen in jeder Art von kollektiver Organisation geben: in Unternehmen, politischen Parteien, der Armee, religiösen Bewegungen“. Francoise Sironi, Catherine Portevin, Töten ist nicht leicht. In: Das Böse. Sonderausgabe des Philosophie-Magazins, 2018. 150) Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, S. 18. „Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, er selbst zu werden … Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.“ Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/​Main 2008, S. 14. Zit. nach Byung-Chul Han, a.a.O., S. 151. Diese Anreicherung und Kultivierung, Integration und Nutzung der Bedürfnisse und Sehnsüchte in der kapitalistischen Arbeitsökonomie, die Emotionalisierung des ökonomischen Selbst scheint sich mit der umgekehrten Tendenz zu verbinden, emotionale private und Liebesbeziehungen zu ökonomisieren, z. B. die Suche nach und Organisation von Liebesbeziehungen über Märkte im online Dating. Vgl. Eva Illouz, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurt/​Main 2004. Damit verbunden scheinen auch sexuelle Beziehungen sich weiter von ihrer Einbettung in Liebe und Bindung zu entkoppeln und die Bereitschaft zu Sex-Partnerschaften zuzunehmen. Vgl. Eva Illouz, Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Berlin 2018. 152) Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt/​Main 2005. 153) Paul und Anne Ehrlich, Bevölkerungswachstum und Umweltkrise. Die Ökologie des Menschen. Frankfurt/​Main 1972. Eine aktuelle Bestandsaufnahme und globale Situationsanalyse bieten Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman u. a., Wir

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sind dran. Club of Rome. Der große Bericht. Gütersloh 2017. Vgl. auch die Untersuchung von Daniel O’Neill u. a., University of Leeds 2017/​18 zur Analyse der Zusammenhänge zwischen Lebenszufriedenheit und Ressourcenverbrauch der Menschheit. „Die Arbeitsgruppe kombinierte zwei Nachhaltigkeitsindikatoren, einerseits das bereits länger etablierte Konzept des „Fußabdrucks“, einer Maßzahl für den Ressourcenverbrauch von Systemen, andererseits die planetaren Grenzen, innerhalb derer diese Systeme operieren können, ohne dass die Ressourcen irgendwann weg sind, mit elf sozialen Indikatoren wie etwa Bildung, Energie, Gesundheit und Zufriedenheit. Dabei erfüllen nach der Analyse drei der untersuchten Länder alle elf dieser Indikatoren: Deutschland, Österreich und die Niederlande. Die hohe Lebenszufriedenheit ist damit erkauft, dass diese Länder nahezu alle planetaren Limits überschreiten: Deutschland fünf von sieben, die anderen Länder sechs … Eine hohe Lebenszufriedenheit kostet pro Person zwei- bis sechsmal so viele Ressourcen, wie die Welt auf Dauer bereitstellen kann. Das Team untersuchte knapp 150 Länder daraufhin, welche Ressourcen sie verbrauchen, um insgesamt elf als grundlegend betrachtete menschliche Bedürfnisse zu befriedigen – und ob dieser Verbrauch, hochgerechnet auf die Weltbevölkerung, vom Planeten langfristig gedeckt werden kann. Die Antwort ist bei allen Ländern nein. Sechs der sieben globalen Grenzen, darunter Phosphor- und Rohmaterialverbrauch, aber auch Biodiversität und Klimagase, überschreiten mehr als die Hälfte der untersuchten Länder … Über alle untersuchten Länder zeigt sich ein gemeinsamer Trend: Je mehr soziale Indikatoren erreicht werden, desto mehr globale Grenzen überschreitet ein Land. Besonders bei den Kohlendioxid-Emissionen ist das der Fall. Für die Erfüllung der Kriterien für Lebenszufriedenheit würde die Menschheit bis zu sechsmal so viel Kohlendioxid ausstoßen wie nachhaltig möglich. Deswegen warnt die Arbeitsgruppe, dass allgemeine soziale Entwicklung sich selbst untergräbt, weil sie gegenwärtig die Grundlagen der menschlichen Existenz zerstören würde. Das müsse aber nicht sein. Ein hoffnungsvolleres Szenario sei, dass sich die Welt zu einem ökonomischen Modell bewegt, dessen Fokus nicht Wachstum sei, sondern nachhaltige und gerechte menschliche Existenz.“ Zitiert nach Spektrum.de., Newsletter vom 8. Februar 2018. 154) Hier wird deutlich, was Donella und Dennis Meadows mit „Grenzüberschreitung“, Peter Kafka mit „globaler Beschleunigungskrise“ und Hans Peter Duerr mit „Wettsägen am eigenen Ast“ meinen. Ähnlich argumentiert Günter Altner: „Wenn man unter ökologischer, ich denke auch unter sozialer Perspektive unser gegenwärtiges Wachstum betrachtet, so kommt man zu der Feststellung, dass der Preis zu hoch ist. Die externen Kosten, die in unsere Bruttosozialprodukt-Rechnung nicht Eingang finden, sind zu hoch und steigen weiterhin bedrohlich an … Gewaltige ökologische Schäden, auch gesundheitliche Schäden am Menschen und soziale Fehlentwicklungen sind in die externen Kosten mit hinein zu rechnen. Als bedrohlich an dieser Kostensituation empfinde ich, dass wir diese externen Kosten in der Bruttosozialproduktberechnung und in unserer Wirtschaftspolitik nicht ernst nehmen, sondern nach wie vor ausklammern … Meines Erachtens muss eine solche Wirtschaft kurz- oder langfristig zum Kollaps führen. Die Befürchtung ist, dass wir eine Geldvermehrung betreiben, die im letzten nicht mehr gedeckt ist durch die Regenerationsfähigkeit der Natur und der natürlichen Gleichgewichte. Das ist das große Problem.“ Günter Altner, Zusammenhangswissen, Lebensverträglichkeit und individuelle Verantwortung. Schritte zur Versöhnung von Natur und Kultur. Vortrag zum 3. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Mai 1994. 155) Die Desertifikation betrifft mehr als 70% des produktiven Potenzials der Böden in den Trockenzonen der Welt. 73% der Trockengebiete Afrikas sind bereits geschädigt, wovon rund eine Milliarde Menschen betroffen sind. Afrika ist der erste Kontinent, der durch das Zusammentreffen von Bevölkerungswachstum einerseits und klimabedingter Verschlechterung der Lebensbedingungen andererseits eine Serie humanitärer Katastrophen erleben wird, zu deren Auswirkungen auf Europa auch die anschwellenden Migrantenströme zählen. Der Klimawandel lässt den Meeresspiegel ansteigen und wird weltweit zu Überflutungen führen. Das Auftauen der Permafrostböden in den Polregionen eröffnet neue Zugänge zu fossilen Energieressourcen und damit neue Begehrlichkeiten und Konflikte und birgt u. a. die Gefahr, dass hier schlummernde Viren wieder aktiv werden und Pandemien auslösen. 156) Rolf Peter Sieferle, Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt. Studien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie. Frankfurt/​Main 1990. Zur allgemeinen Trägheit, zum Abwarten und Verdrängen der Gefahren vgl. auch Thomas Druyen, Die ultimative Herausforderung –über die Veränderungsfähigkeit der Deutschen. Berlin 2018. Wie aussichtslos und nahezu hoffnungslos es ist, dass die Menschheit aus dieser Froschsituation und ‑perspektive heraustritt, um eine kulturelle Lebensform zu entwickeln, die nicht länger durch Erzeugung von Naturmüll wie auch durch „Menschenmüll“ ihre Existenzgrundlagen zerstört, durchzieht auch die letzte Publikation von Zygmunt Bauman, Das Vertraute unvertraut machen. Ein Gespräch mit Peter Haffner, Hamburg 2017. 157) Wir könn(t)en diese aber erhöhen, wenn wir diese Partnerschaft mit der Natur entlang des Regulativs der Wahrheit und der Nachhaltigkeit im Rahmen von „Landschaftspflege“ vorsichtig und langsam ausgestalten und nicht im Dienste ihrer kurzfristigen Kapitalverwertung bloß ausbeuten. Dazu mehr in Kap. VI. 158) Kommunikationstheoretisch stellt Wettbewerb, wie schon gesagt, eine Abstraktion sozialer Beziehung dar, die Interaktion und Verständigung vereinfacht. „Konkurrenz neutralisiert insofern das Problem der „doppelten Kontingenz“ und damit die Notwendigkeit, Kommunikationen zu suchen und zu finden, auf die mit ‚ja‘ und nicht mit ‚nein‘ reagiert wird.“ Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 102. Wird diese Abstraktion glaubenspraktisch verallgemeinert und verabsolutiert, wie z.  B. in den Vorstellungen amerikanischer Politiker, dass die Weltgesellschaft ausschließlich eine „Arena“ der Durchsetzung nationaler Interessen sei, dominieren Konkurrenz und Nullsummenspiele die Ausgestaltung wirtschaftlicher und politischer Beziehungen auf allen Ebenen. Vgl. Uwe Jean Heuser, Immer gleich im Clinch. Währungen, Handel, Flüchtlinge, Öl – Staaten setzen zunehmend auf Konfrontation. Das verschlimmert die Krisen. In: DIE ZEIT, Nr. 9. Februar 2016. Und wird diese Orientierung und Strategie in Bildungsprozessen der involvierten Individuen vermittelt und verinnerlicht, blockiert sie mit den Möglichkeiten der Kooperation und des „Ja-Sagens“ auch reziproke Resonanz, Empathie und Anerkennung zwischen den involvierten Individuen. Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016

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159) Hier wird nun die „Form der Ware zum durchgängigen und ordnenden Prinzip gesellschaftlicher Regulation gemacht und das Institut des Privateigentums an Produktionsmitteln hergestellt … Dies bedeutet: Der Grund und Boden muss als Ware mobilisiert werden können, das Geld und das Kapital und – vor allem – die Arbeitskraft müssen zur Ware werden. Erst wenn die dieser Logik zum Durchbruch verhelfende gewaltige gesellschaftliche Transformation geschehen ist, hat die Marktwirtschaft als System gesiegt: die kapitalistische Gesellschaftsformation ist entstanden … Wenn also Märkte nicht nur dem Austausch der Produkte der Arbeit dienen, sondern die Produktbildnerin Arbeitskraft gegen Lohn vermitteln, werden die gesellschaftlichen Beziehungen und die Produktionsbedingungen umgestaltet, in kapitalistische transformiert.“ Elmar Altvater, Von nachholender zu nachhaltiger Entwicklung? Perspektiven und Wege für ein ökologisch verträgliches Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern. Überarbeiteter Vortrag zum 7. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Juli 1995. 160) Vgl. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2000. Zit. nach Martin Kronauer, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt/​Main–New York 2010. 161) Kronauer, a.a.O. Diese Vierteilung gilt, wie schon gesagt, auch und in besonderem Maße für die Situation in Deutschland. Vgl. Marcel Fratzscher, Verteilungskampf: Warum Deutschland immer ungleicher wird. München 2016. 162) Während innerhalb der nicht integrierten Anteile der Jugend die Frauen und Töchter als (werdende) Mütter durch das Kindergeld eine gewisse ökonomische Absicherung haben, befinden sich die männlichen Jugendlichen in einer schwierigeren Situation – und zeigen auch deshalb gelegentlich eine hohe Gewaltbereitschaft. Vgl. die Studie: Mediennutzung, Schulerfolg, Jugendgewalt und die Krise der Jungen, von Thomas Mößle, Matthias Kleimann, Florian Rehbein und Christian Pfeiffer. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 3/​2006. 163) Internationale sozialpsychologische Studien bestätigen diese Vermutungen. Vgl. Richard Wilkinson, Kate Pickett, The Spirit Level: Why greater Equality makes Societies Stronger. New York 2009. Dt. Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin 2013. „The data all point to the fact that as larger differences in material circumstances create greater social distances, feelings of superiority and inferiority increase. In short: growing inequality makes us all more neurotic about ‚image management‘ and how we are seen by others … It is hard to avoid the conclusion that we become less nice people in more unequal societies. But we are less nice and less happy: greater inequality redoubles status anxiety, damaging our mental health and distorting our personalities – wherever we are on the social spectrum.“ Richard Wilkinson, Kate Pickett, How inequality hollows out the soul. In: International New York Times, 2. Februar 2014. Zu den subtilen Mechanismen der Ausgrenzung gehört beispielsweise die Diskriminierung von (jungen) Menschen durch ranghöhere Personen zwecks Bestätigung und Durchsetzung persönlicher Überlegenheit, also ein typisch patriarchales Verhaltensmuster: „Analog zum auf Rasse oder Geschlecht basierenden Missbrauch wird der auf dem Rang basierende Missbrauch „rankism“ genannt. Wenn man erst einmal einen Namen dafür hat, erkennt man rankism im Kern einer jeden Verletzung der Menschenrechte. Rankism ist die Wurzel jeder würdelosen Behandlung und Ungerechtigkeit.“ Robert W. Fuller, Somebodies and Nobodies: Overcoming the abuse of Rank, USA 2003. Vgl. auch Christian Kortmann, der die heute verbreitete Degradierung der Berufsanfänger zu Bittstellern und ihren Missbrauch als Gratispraktikanten als Beispiel für „rankism“ darstellt und diesen mit Fuller als die „große soziale Seuche der modernen Gesellschaft“ bezeichnet: „Denn nicht nur die Nobodies leiden unter den Rangbarrieren, die ihr Tätigkeitsfeld streng limitieren sowie Einsatz und Qualität nicht belohnen: Modekrankheiten wie das Burn-out-Syndrom werden erst dadurch ermöglicht, dass jemand sich in seine Rolle als Somebody hinein steigert und in der Angst, wieder zum Nobody zu werden, seine Kräfte nicht vernünftig einteilt. Die Gesellschaft, die den Mythos pflegt, Chancengleichheit für alle zu bieten, ist in Wahrheit besessen von Macht und Erfolg und läßt die Erfolglosen ihr Desinteresse spüren.“ Christian Kortmann, Wir müssen leider draußen bleiben, Die Generation Praktikum und die Diskriminierung durch „rankism“. In: SZ, 9./​10. April 2005. Zur Demütigung als Machtmittel vgl. auch Ute Frevert, Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt/​Main 2018. 164) Indem auf der einen Seite die Reichen sich zunehmend in Wohlstandsghettos zurückziehen und auf der anderen Seite Arme zunehmend vom Bürgerstatus ausgeschlossen werden, droht dieser Bürgerstatus als eine für alle Individuen staatlich garantierte Errungenschaft moderner Gesellschaft wieder zu verschwinden. Vgl. Ralf Dahrendorf, Ein neuer dritter Weg? Reformpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts. Tübingen 1999. 165) Vgl. Leo Nefiodow, Die großen Märkte des 21. Jahrhunderts. Psychosoziale Gesundheit als neuer Antrieb für Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Entwicklung. Vortrag zum 3.  Kempfenhausener Gespräch, 2.  Zyklus: Strukturwandel der Arbeitswelt. Entwicklungschancen für Mensch und Gesellschaft? Publikation der Bayerischen Hypobank. Oktober 1997. 166) Charakteristisch für viele Gewaltausbrüche heute, (wie z. B. anlässlich des G20-Gipfels im Juni 2017 in Hamburg) ist „individuell oder meist kollektiv spontan verübte Gewalt. Diese verstehen wir aber nicht, wenn wir ihr einfach angebliche Protestziele unterstellen oder sie auf Wertorientierungen oder deren puren Verlust zurückführen. Wir müssen sie vielmehr als Resultat einer interpersonalen Eskalationsdynamik auffassen, deren Ausgang in verschütteten Wegen zur integrierten Kreativität liegt. Wo Partizipation als unmöglich erscheint und Kreativität nicht sinnvoll in die persönliche Balance eines sinnvollen Lebens eingegliedert werden kann, staut sich ein am Ausdruck gehindertes Potential. Im Enthusiasmus der Gruppengewalt werden Erfahrungen der Stärke und des Zusammenhalts gemacht, für die es an konstruktiven Gelegenheiten mangelt. Wo die postmoderne Koexistenz heterogener Lebensstile nicht intellektuelles Vergnügen bereitet, sondern als Überforderung erlebt wird und Angst macht, kann Gewalt gegen die Fremden und die Schwachen entstehen.“ Hans Joas, Die Kreativität sozialen Handelns zurückgewinnen: schöpferische Betätigung im Gemeinwesen. Vortrag im Rahmen des 1.  Zyklus der Kempfenhausener Gespräche, Wie ist qualitatives Wachstum möglich? September 1994.

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167) Inzwischen gehören rund 50% der Einwohner Lateinamerikas zum „informellen Sektor“. In vielen Megacitys der dritten Welt – wie z. B. in Sao Paulo, in Mexico City u. a. – ist die vertikale Teilung zwischen „gated communities“ für die Reichen und den wachsenden Anteilen, aus denen sich Staat und Stadtverwaltung zurückziehen und Macht und soziale Regelungen kriminellen Netzwerken und Banden überlassen, schon fest etabliert. Und in vielen US-amerikanischen Großstädten sind Tendenzen und Ansätze in diese Richtung deutlich erkennbar. 168) Paul Collier, Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann. München 2008. Hinzu kommt, dass „gut meinende“ (oder sich als solche maskierende) Initiativen, private Investitionen in arme Länder (z. B. Afrika) zu lenken, oft kontraproduktive und zerstörerische Auswirkungen haben, indem sich hier hochrationalisierte Landwirtschafts- und Industriebetriebe ansiedeln, die die einheimischen Bauern arbeitslos machen, enteignen und zur Migration zwingen. 169) Naomi Klein hat in scharfer Polemik das Netzwerk von neo-liberalen Ökonomen (z. B. die sog. „Chicago boys“ um Milton Friedman), Wirtschaftsberatern, Experten der Weltbank, Bush- Regierung u. a. für viele destruktive Folgen der Globalisierung verantwortlich gemacht und ihre „Schocktherapien“ für Entwicklungs- und Schwellenländer mit Folterprozeduren verglichen, die diese zur „reinen Wahrheit“ führen sollen. Das mag zwar in den Formulierungen überzogen sein, kommt aber im Kern der Wirklichkeit ziemlich nahe. Vgl. Naomi Klein, Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus. Frankfurt/​Main 2007. Vgl. auch Noam Chomsky, Hopes and Prospects. Great Britain 2010. 170) Vgl. Wilfried Bommert, Bodenrausch. Eichborn Verlag 2012. 171) Der Anstieg betrifft sowohl Hungersnöte, die plötzlich durch Naturkatastrophen und soziale Katastrophen wie Kriege entstehen („konjunktureller Hunger“) wie auch das schleichende Elend der kontinuierlichen Unterernährung, die dadurch bedingten Erkrankungen (z. B. Wachstumsausfall bei Kindern, Erblinden, Wurmbefall etc.) und das langsame Sterben. 172) Inzwischen haben zwar Klimawandel und Erosion den Bodenbestand reduziert, aber andererseits haben sich die technischen Möglichkeiten der Landwirtschaft verbessert. Heute produziert die Menschheit mehr Nahrung als sie braucht. Aber während die Menschen in den reichen Ländern zwischen 30 und 50%der Nahrungsmittel wegwerfen, ist der Hunger in den armen Ländern immer noch weitverbreitet. Vgl. Martin Caparrós, Der Hunger. Berlin 2015. „Die 225 größten Vermögen der Welt belaufen sich auf eine Gesamtsumme von mehr als 1000 Milliarden Dollar, das entspricht dem Gegenwert des Jahreseinkommens von 47% der Ärmsten auf der Welt (2,5 Milliarden Menschen). Das Vermögen von Bill Gates ist so hoch wie der Gesamtnettowert des Vermögens der 106 Millionen ärmsten Amerikaner. Individuen sind heute reicher als Staaten. Der Besitz der 15 reichsten Männer der Welt übersteigt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aller afrikanischen Länder südlich der Sahara außer Südafrika  … Jedes der 100 bedeutendsten globalen Unternehmen verkauft mehr, als jedes der 120 ärmsten Länder der Welt exportiert. 200 Firmen kontrollieren 23% des Welthandels. Hinter den oben zitierten Zahlen verbirgt sich eine Welt voller Leiden und Verzweiflung. Die negative Dynamik der Ungleichheit bestimmt die derzeitige Ordnung der Welt: Auf der einen Seite steht eine politische, ökonomische, ideologische, wissenschaftliche und militärische Machtkonzentration, beherrscht von einer schmalen, transnationalen Oligarchie. Auf der anderen Seite ein Leben ohne Zukunft, Verzweiflung und Hunger für Hunderte von Millionen anonymer Menschen … Nichts rechtfertigt diese bestehende Ungleichheit. Sie basiert ausschließlich auf der vorgegebenen sozialen Klassengesellschaft, auf diskriminierenden Ideologien und Privilegien, die mit Gewalt verteidigt werden.“ Jean Ziegler, Wie kommt die Armut in die Welt, Ein Gespräch mit meinem Sohn. S. 145/​46. Vgl. hierzu auch ders., Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung. München 2008. Vgl. auch Christian Neuhäuser, Reichtum als moralisches Problem. Berlin 2018, S. 173. Wenn und wo Bevormundung durch neo-liberale Wirtschaftsberatung mit Privatisierungsprogrammen, die mehr korrupten Eliten als den Bevölkerungen nutzten, nicht hinreichte, wurden die Regierungen der betreffenden Länder „geschmiert“ und durch sog. „economic hit men“, die im Auftrag der NSA und getarnt als Wirtschaftsberater agierten, zur hohen Verschuldung bei der Weltbank verführt und auf diese Weise in wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA gebracht. Für Schuldenerlasse der Weltbank und Infrastrukturinvestitionen und ‑projekte (amerikanischer Firmen) konnten dann im Gegenzug in diesen Ländern Privatisierungen von Schlüsselindustrien, insbesondere der Ölindustrie unter Beteiligung amerikanischer Unternehmen durchgesetzt werden. Funktionierte dies nicht, wurden Revolutionen von rechts angezettelt, notfalls auch militärisch interveniert, Regierende liquidiert und amerikafreundliche Marionettenregierungen und Militärdiktaturen installiert. 174) Der damit verbundene gigantische militärische Aufwand hat zu einer selbstdestruktiven imperialen Überdehnung der USA geführt. Ihr Niedergang in den vergangenen Jahren, der sich u. a. in einem gigantischen Außenhandelsdefizit ausdrückt, ist in großen Anteilen durch die immensen Ausgaben für Rüstung, Waffenindustrie, Geheimdienste, paramilitärische Aufgaben und eine auch dafür aufgeblasene Bürokratie im Zuge der Bemühungen, militärische Welthegemonie zu erhalten, verursacht. „Im Jahr 1990 betrug der Anteil der militärischen Waffen, Geräte und Fabrikanlagen am Gesamtwert aller Produktionsanlagen und Maschinen in der verarbeitenden Industrie Amerikas bereits 85%. Zwischen 1947 und 1990 gaben die USA insgesamt 8,7 Billionen Dollar für ihr Militär aus.“ Chalmers Johnson, USA – dem Bankrott entgegen. In: Lettre International, Nr. 80, Frühjahr 2008. Wenn man Zinstilgungen für kreditfinanzierte Rüstungsausgaben, militärnahe NASA-Investitionen u. ä. mit einbezieht, haben sich die militärischen Investitionen, vorsichtigen Schätzungen zufolge, für das Jahr 2008 auf mindestens 1.1 Billionen Dollar belaufen. Eine ökonomische Studie des „Center for economic and political Research“ von 2007 (Dean Becker) belegt, dass der „militärische Keynesianismus“ (Chalmers Johnson) irrt: sehr hohe Rüstungsausgaben des Staates können bestenfalls kurzfristig Wirtschaftswachstum auslösen. Mittelfristig müssen sie „Ressourcen aus den produktiven Bereichen Konsum und Investition abziehen. Letztenendes verlangsamen sie das Wirtschaftswachstum und führen zum Abbau von Arbeitsplätzen“. Dean Becker, zit., nach Chalmers Johnson, a.a.O.

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An anderer Stelle äußert David Graeber den Verdacht, dass die USA hinter der Fassade des Marktliberalismus sich zu einer gigantischen Bürokratie entwickelt haben und „Amerika tatsächlich zu einem Volk von Bürokraten geworden ist. Der endgültige Sieg über die Sowjetunion führte in Wirklichkeit nicht zur Herrschaft des Marktes. Er festigte vielmehr die Vorherrschaft einer konservativen Managerelite, von Wirtschaftsbürokraten, die unter dem Vorwand kurzfristigen Wettbewerbsdenkens alle ungewöhnlichen, neuartigen oder möglicherweise auch revolutionären Gedanken zu ersticken versuchen.“ David Graeber, Unsere Träume von fliegenden Autos. Die Zukunftsvisionen früherer Jahrzehnte haben sich nicht erfüllt. Warum? Der Neoliberalismus hat Schuld. In: DER SPIEGEL, Nr.  7, 2016. Hinzu kommt, dass die oft (pseudo)wissenschaftlich legitimierte bürokratische Blasenbildung eine Fülle von „Bullshit Jobs“ generiert, die sogar von ihren Inhabern als sinnlos und langweilig empfunden, nur noch über die Höhe des Gehalts bewertet werden und nicht selten mit Neid gegenüber Inhabern intrinsisch motivierter und sinnstiftender Jobs verbunden sind. Vgl. David Graeber, Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Stuttgart 2018. Darüber hinaus leitet heute diese aufgeblasene Bürokratie eine Re-industrialisierung und eine neue explosive Steigerung von Energie- und Materieflüssen an, die sich hier u. a. auf die Erschließung von vermeintlich gigantischen Schiefergasfeldern stützen kann – womit weitere ökologische Katastrophen absehbar sind. 175) Vgl. Steven Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt/​Main 2011. Vgl. auch Karlheinz Koppe: Der vergessene Frieden, 2001. 176) Während der chinesische Kommunismus diese Lektion gelernt hat und heute eher eine post-territoriale, wirtschaftliche Dominanz in der Welt anstrebt, erleben wir im putinistischen Russland eine Wiederkehr des Nationalismus und eine dadurch geleitete Strategie territorialer Expansion und Herrschaft. 177) Ein Indiz für die Wiederkehr geistiger und darauf gestützter organisierter Gewalt ist die zunehmende verbale Kriegsführung gegenseitiger Einschüchterung, die z. B. bei Trump, Erdogan und Putin (gelegentlich aber auch von Seiten der NATO) an die Stelle von Verständigung und Diplomatie tritt. 178) „Man macht sich falsche Vorstellungen von der Bombe, wenn man meint, sie sei ein Gerät oder ein über die ganze Welt verteilter Haufen Geräte. Denn sie besteht ihrem Wesen nach, ursprünglich und unwiderruflich aus einer Ansammlung wissenschaftlicher und technologischer Fähigkeiten, die jedem offen stehen und die uns gleichsam ständig und von allen Seiten angetragen werden. Sobald man das Feuer an einer Stelle gelöscht hat, entflammt eines an einer anderen und immer so weiter. Militärische Gewalt ist eine denkbar ungeeignete Antwort auf diese Zwickmühle, und trotzdem hat sich die Regierung Bush genau dafür entschieden. So als wollte man einen Nebel mit einem Maschinengewehr vertreiben: es ist einfach das falsche Mittel.“ Jonathan Schell /​Tom Engelhardt, Die Bombe im Kopf. Atomare Bedrohungen, nukleare Illusionen, Abrüstungsoptionen. In: Lettre International, Nr. 80, Frühjahr 2008. In ähnlicher Weise wie die Bush-Regierung könnte auch die Regierung Trump ihren zunächst propagierten Pfad der Nicht-Einmischung wieder aufgeben und erneut zu militärischen Aktionen tendieren. Dafür spricht, dass Trump dazu tendiert, das Abkommen über die Mittelstreckenraketen (INF Vertrag von 1987) wie auch das Abkommen über strategische Nuklearwaffen (New Start von 2010) aufzukündigen und damit ein neues atomares Wettrüsten einzuleiten. Vgl. Bob Woodward, Furcht. Hamburg 2018. 179) „Der Krieg wird zur Lebensform. Seine Akteure sichern sich ihre Subsistenz durch ihn.“ Herfried Münkler, Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg 2002. Dass das nicht nur für die ethnischen Kriege in Afrika, sondern ähnlich auch für den Krieg der USA gegen den Terror gilt, zeigt James Risen, Krieg um jeden Preis. Frankfurt/​Main 2015. 180) Rechts- und Linksterrorismus wie auch der islamistische Terrorismus unterscheiden sich durch die sie anleitende patriarchal logozentrische Glaubenspraxis von den Befreiungsbewegungen und ihren militärischen und teilweise auch terroristisch geführten Kämpfen um politische Selbstbestimmung von Völkern und Regionen wie z.  B. in Südamerika, in Asien und im Nahen Osten – auch wenn es hier gleitende Übergänge und Überschneidungen geben kann. 181) Vgl. Toralf Staud, Neue Nazis. Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts. Köln 2012. Vgl. auch Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart 2017. 182) Vgl. Philipp Oehmke, Im Geiste des Gorillas. In: DER SPIEGEL, Nr. 26, 2017. Vgl. auch Thomas Assheuer, Germanische Thing-Zirkel. In: DIE ZEIT, Nr. 14, März 2018. Ders., Kitsch und Kampf. In: DIE ZEIT, Nr. 31, Juli 2018. Vgl. auch Manfred Dworschak, Angriff auf die Wirklichkeit. Warum sind offenkundige Lügen und absurde Wahngebilde in der Politik so erfolgreich? In: DER SPIEGEL, Nr. 50, Dezember 2018. 183) Vgl. Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus. Hamburg 2006. Vgl. auch: Frank Witzel, Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Berlin 2015. Ferner: Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen. München 2014. Überhaupt scheint die Selbststilisierung zum (potentiellen) Opfer häufig die patriarchale Strategie „harter Grenzziehung“ zu legitimieren. Von der Bedrohung durch das „Weltjudentum“ in der Paranoia der Nazis über die Selbststilisierung der RAF als Opfer des Kapitalismus, der Rechtsradikalen und der Pegida-Bürger als Opfer von Ausländern und Migranten, des Selbstbilds des IS wie auch Putins Russland als Opfer des Westens bis hin zur Selbststilisierung der Trump-Gemeinde als Opfer des liberalen politischen und journalistischen Establishments scheint sich die archaische Angst, Beutetier und Opfer zu sein, hier immer wieder zu artikulieren, offenkundige Lügen zu motivieren und heftigste Aggression zu legitimieren. Zur Rolle der Opfergemeinschaft als Legitimation von Angriffskriegen im Nationalsozialismus vgl. Nikolas Stargardt, Der Deutsche Krieg. Frankfurt/​Main 2015. 184) Martin Burkhard, Wie war der Himmel so blau. In: Lettre International, Nr. 25, Winter 2001.

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185) Wie alle Religionen wird auch der Islam – über die Systemleistung des Wiedereintritts – in Bruchstücken vermischt und neu komponiert, teils in Gestalt privater Religiosität und Spiritualität, teils auch nur als Nostalgie und Folklore, in den westlichen und sich verwestlichenden Kulturen einen Platz behalten 186) Burkhardt, a.a.O. 187) Burkhardt, a.a.O. 188) Vgl. Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Berlin 2003. „Territoriale Expansion und Ausweitung der Einflusssphäre sind die unleugbare Realität der amerikanischen Geschichte und tief im amerikanischen Charakter verwurzelt.“ Ders., a.a.O., S. 27. 189) „Can it be, that what Jihad and McWorld have in common is anarchy: the absence of common will and that conscious and collective human control under the guidance of law we call democracy?“ Benjamin Barber, Jihad vs. McWorld. How Globalism and Tribalism are Reshasping the World. New York 1995, S. 5. 190) Ein Indiz dafür ist die Sexualisierung der Gewalt auch in dieser Konfrontation. „Dass die amerikanischen Greueltaten vor allem sexuellen Missbrauch beinhalten, macht deutlich, worum es in diesem Kampf geht – um Männlichkeit. Abgesehen von der Wirkung, ist die Tatsache, dass amerikanische Soldaten irakische Gefangene in ihrer Männlichkeit zu degradieren suchten, zum Teil eine Reaktion auf die Angst, muslimische Männer könnten erneut auftauchen und – nach Libanon, Somalia und Jemen – ein weiteres Mal unter Beweis stellen, dass ihr Glaube sie stärker gemacht hat als die amerikanischen Männer, obwohl diese mit den fürchterlichsten Waffen ausgerüstet sind.“ Roger Friedland, Religiöser Terror. Der Kampf gegen den Säkularismus und die Erotik der Ausnahmegewalt. In: Lettre International, Sommer 2004, S. 37. 191) „Globale Finanznetzwerke wollen natürlich die Kapitalzinsen maximieren. Ihre Gegner wiederum bilden Netzwerke, die Gottes Ruhm maximieren, und auch sie versuchen, die globalen Finanznetzwerke unter ihre Kontrolle zu bringen.“ Manuel Castells, Das Netz und sein Werk. In: Letttre International, Nr. 25, Winter 2001. Vgl. auch ders., The Information Age: Economy, Society and Culture, Oxford 1996–1998. 192) Heute sind bereits 19000 Drohnen mit Telepiloten im Einsatz, auch als Reaktion auf den drohenden Mangel an jungen Soldaten. Bei Drohnenangriffen sind durchschnittlich 20 bis 30% zivile Opfer, sog. „Kollateralschäden“ zu beklagen. Die USA versuchen, die gezielte Tötung von Terroristen auch jenseits von Kriegsgebieten völkerrechtlich zu legitimieren, indem sie argumentieren, dass sie sich in einem globalen Krieg befinden, in dem Terroristen den Krieg überall hintragen. Globale Sicherheit wird immer mehr über Kriegsvölkerrecht definiert, womit die Tendenz verbunden ist, nicht nur Terroristen, sondern auch andere Sicherheitsbedrohungen wie z. B. Piraten mit Drohnen zu bekämpfen. Vgl.: Living Under Drones. Rechtswissenschaftliche Studie der Stanford und der New York University, 2012. Vgl. auch Byung-Chul Han, Clausewitz im Drohnenkrieg. Kampfroboter als moralisches Problem. Wo kein Soldat sein Leben riskiert, wird Krieg zum Terror. In: DIE ZEIT, Nr. 47, November 2012. Man kann allerdings im Drohneneinsatz, der weniger zivile Opfer fordert als beispielsweise Bombardierungen, eine passende Antwort auf den Terrorismus sehen. Vgl. Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20.und 21. Jahrhundert. Berlin 2015. 193) So würde beispielsweise ein massiver Cyberangriff auf einen NATO-Staat den Bündnisfall auslösen. Das betrifft dann nicht nur den Islamismus, sondern könnte z. B. auch in einen Krieg zwischen dem Westen und Russland führen. Grundsätzlich wird die von allen Industrienationen und hier insbesondere von China und den USA betriebene Verwandlung des Internets in einen rechtsfreien Raum und ihre Vorbereitung von Angriffskriegen im Internet in gefährliche Situationen führen. Vgl. Kontrollierte Eskalation. In: DER SPIEGEL, Nr. 4, 2015. 194) Baudrillard spricht in diesem Zusammenhang vom „vierten Weltkrieg“, der als einziger wirklich global ist, „da in ihm die Globalisierung selbst auf dem Spiel steht. Die beiden Ersten Weltkriege entsprachen dem klassischen Bild des Krieges. Der erste beendete die Vorherrschaft Europas und das Kolonialzeitalter. Der zweite beseitigte den Nazismus. Der dritte, der in Form des kalten Kriegs und der Abschreckung bereits stattgefunden hat, setzte dem Kommunismus ein Ende. Jeder dieser Kriege bedeutete einen weiteren Schritt in Richtung einer einheitlichen globalen Weltordnung. Heute befindet sich diese – virtuell an ihre Grenzen gestoßene – Weltordnung im Konflikt mit antagonistischen Kräften, die überall, in sämtlichen gegenwärtigen Zuckungen, ja im Herzen des Globalen selbst anzutreffen sind. Ein fraktaler Krieg aller Zellen, aller Singularitäten, die in Form von Antikörpern revoltieren … Es entsteht ein phantomhafter Feind, der sich über den ganzen Planeten ausbreitet, wie ein Virus überall einsickert und in sämtliche Ritzen der Macht dringt: Der Islam. Doch ist der Islam nur die bewegliche Front, an der dieser Antagonismus Gestalt annimmt. Dieser Antagonismus ist überall, und er ist in jedem von uns.“ Jean Baudrillard, Die Intelligenz des Bösen. Wien 2007, S. 63. 195) Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt/​Main 1998. Ders., Jenseits des Nationalstaats? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung. In: Ulrich Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung. Frankfurt/​Main 1998. 196) „Waren es 2002 noch 5 arabische Staaten, auf deren Territorien Gewaltkonflikte tobten, waren es 2016 bereits 11, und die Zahl dürfte bis 2020, so die düstere Prognose des UN-Berichts (Arab. Development Report 2016), auf 15 ansteigen. Obwohl die arabische Bevölkerung nur 5% der Weltbevölkerung stellt, so entfielen 2014 doch auf sie 45% aller Terroranschläge auf der gesamten Welt, 68% aller durch Kriegshandlungen Umgekommenen, 47% aller Binnenflüchtlinge und 58% aller zur Flucht ins Ausland getriebenen Flüchtlinge … Wie in Zeitlupe scheint – vorerst noch mit Ausnahme der meisten Golfstaaten – die gesamte Region auf eine gesellschaftliche und staatliche Implosion zuzutreiben: Fast alle Länder zwischen Bahrain und Ma-

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rokko verharren in verschiedenen Stadien eines politischen Verfalls und eines rapiden Niedergangs der Wirtschaft. Mehr und mehr Araber kämpfen in ihrem Lebensalltag mit einer Wirtschaftskrise, die sie jeder Hoffnung beraubt. Und eine tiefgreifende Trendumkehr ist nicht in Sicht. Ein Grund dafür ist auch die überall in der Region erkennbare Bevölkerungsexplosion. So hat sich in Staaten wie dem Irak, dem Jemen und Jordanien die Bevölkerung in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt, eine Tendenz, die anhält. Zugleich werden zu wenig Arbeitsplätze geschaffen. Kaum bemerkt vom Westen brodelt in den Köpfen von Abermillionen arabischer Jugendlicher ein Höllengebräu aus Desillusionierung, Unzufriedenheit und Hass gegen die privilegierten Eliten, Gewalt und Rebellion liegen vielerorts in der Luft. Gleichzeitig tragen die äußerst egoistischen Eliten die Hauptverantwortung für die weit verbreitete Korruption und Misswirtschaft, von der sie selbst am meisten profitieren. Ernsthafte wirtschaftliche Reformen und Versuche zu einer echten demokratischen Öffnung unternehmen sie nicht – aus Furcht, ihr Machtmonopol zu untergraben. Stattdessen setzen sie fast überall auf Repression, eine Repression, die sich gleichermaßen gegen demokratische Dissidenten und oppositionelle Fundamentalisten richtet und letztlich den Dschihadisten des IS am meisten nützt. Sie füllen das vom Staat geschaffene politische und geistig religiöse Vakuum, das ihnen mehr und mehr radikalisierte Anhänger in die Arme treibt … Wenn der Zerfall des Iraks (2003), Libyens (2012) und des Jemens (2012) eines beweist, dann das: Ist die eiserne Hand des Diktators, die lange widerstreitende Stämme, Ethnien und Konfessionen mit Zwang vereinte, einmal zerbrochen, zerplatzt wie ein Seifenblase auch das staatlich verordnete Hirngespinst der nationalen Identität. Wo nationale Identität fehlt, fehlt auch jede nationale Solidarität. Es bricht gewaltsam auseinander, was nie zusammengehörte … Der Glaube, man könne die Staaten der arabischen Welt in absehbarer Zeit politisch und kulturell dem demokratischen Westen angleichen, sie durch wirtschaftliche Kooperation und politische und militärische Unterstützung stabilisieren und sie überdies irgendwie und irgendwann auf den Pfad demokratischer Reformen lenken, ist und bleibt eine Schimäre.“ Wilfried Buchta, So könnte es kommen. Wie sich die arabische Welt in den nächsten Jahren entwickeln wird, lässt sich recht genau vorhersehen. Ein Szenario. In: DIE ZEIT, Nr. 18, April 2017. Vgl. auch ders., Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt. Berlin 2016. 197) Arnold Toynbee, Menschheit und Mutter Erde. Die Geschichte der großen Zivilisationen. Wiesbaden 2006. 198) Alan Minc hat diese Erosion schon 1994 beschrieben. „Tatsächlich gibt es keine durchorganisierten Systeme mehr, jedes Zentrum verschwindet; fließende und flüchtige Gemeinschaften entstehen, alles ist unbestimmt, von Zufällen abhängig, nur lose verbunden. Tatsächlich entwickeln sich immer mehr ‚Grauzonen‘, in denen es keine Autorität mehr gibt, von dem Chaos in Russland bis zum schrittweisen Rückzug des Rechts vor Mafiastrukturen und Korruption in den reichen Ländern. Tatsächlich wird das Prinzip Vernunft immer mehr von bornierten Ideologien und lange Zeit verschwundenen, abergläubischen Überzeugungen verdrängt. Tatsächlich begleiten schwere Krisen, Erschütterungen und Umwälzungen wieder unseren Alltag. Tatsächlich gibt es immer weniger Räume, in denen die Welt noch ‚geordnet‘ ist, während sich Räume und Gesellschaften ausbreiten, die für die Instrumente unseres Handelns und unsere analytischen Mittel immer undurchdringlicher werden. Das alles sind Charakteristika des Mittelalters.“ Alain Minc, Das neue Mittelalter. Hamburg 1994, S. 137. 199) Wie schon ausgeführt gehört zum chinesischen Kontrollsystem u. a. die Einrichtung eines digital gestützten Einwohner-Bewertungssystems, das alle Daten über alle Bürger speichert und in ein Punktsystem umsetzt, in dem jeder Bürger eine Bewertung seines (Wohl)verhaltens erfährt, die herangezogen wird, wenn es um Stellenbewerbungen, Kredite, Auslandsreisen u. a. geht. Insofern kann man China als Avantgarde bezeichnen, die „eine ganz neue Ära der Herrschaftstechnik eröffnen könnte  –  die Epoche von Soft Power, Soziometrie und Psychopolitik  … Das Sozialkreditsystem lässt das Auge des Staates nämlich von außen nach innen wandern, tief hinein in das Wünschen und Wollen der Bürger. Die Bürger, heißt das, sollen sich dem staatlichen Gesetz nicht bloß unterwerfen, sie sollen es proaktiv begehren und sich mit dem Blick des Staates so betrachten, als sei es ihr eigener Blick … Es ist kybernetische Politik, die den Bürger zum Komplizen seiner eigenen Überwachung macht … Wenn Wohlverhaltenspunkte die Leitwährung sind, dann fragt sich der Einzelne nicht mehr ‚Wer bin ich?‘, sondern ‚Wo stehe ich?‘ Es heißt nicht mehr: ‚Erkenne Dich selbst‘, sondern ‚Scanne Dich selbst.‘ Das Leben wird nicht mehr erzählt, es wird berechnet; es wird nicht in Geschichten und Bildern gedeutet, sondern in Leistungskurven und Vitalparametern vermessen … Wenn Bürger Preisschildchen auf der Stirn tragen, wenn ihre Rechte an einen selbst erwirtschafteten Wert gekoppelt werden – dann vollendet, Ironie der Weltgeschichte, der chinesische ‚Sozialismus‘ die ökonomische Logik der Moderne … Der erwünschte Egoismus der Marktteilnehmer zerstört den Gemeinsinn, weshalb der chinesische Vertrauenshaushalt nun durch persönliche Folgsamkeitsbeweise wieder aufgefüllt werden muss. Nicht der Bürger muss Vertrauen in das System, sondern das System muss Vertrauen in den Bürger haben … Vielleicht entwickelt die Supermacht gerade den Prototyp einer nachliberalen Moderne – eine Art Remix aus platonischer Erziehungsdiktatur und maoistischem Cäsarismus (der Kult um Xi), eine Giftmischung aus Neoliberalismus und kommunistischer Einparteien-Zwangsherrschaft … Sie ist eine evolutionäre Möglichkeit der Moderne, ein gangbarer Entwicklungspfad der Weltgesellschaft, auf jeden Fall aber eine preiswerte Alternative zum Liberalismus.“ Thomas Assheuer, Die Big-Data-Diktatur. China plant, die Aktivitäten seiner Bürger lückenlos durch Datenspeicherung und Gesichtserkennung zu überwachen. Jeder bekommt ein Punktekonto zugewiesen. Hier entsteht die Welt der Zukunft. In: DIE ZEIT, Nr. 49, November 2017. Vgl. Dirk Helbing u. a., Digital-Manifest. In: Spektrum der Wissenschaft I/​ 2016. Vgl. auch Tom Hillenbrand, Drohnenland. Köln 2014. Ferner Evgeny Morozov, Wir ahnungslosen Versuchskaninchen. In: FAZ, 29. Juli 2014. 200) Wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der menschlichen Psyche ein persönliches Wahnsystem weniger das Chaos des Verlusts, sondern den Versuch der Restitution des verlorenen Weltbezugs und der Weltkontrolle darstellt, kann man befürchten, dass auch mit den bevorstehenden Versuchen, das Weltchaos durch globales Management unter Kontrolle zu bringen, der Wahnsinn noch zunehmen wird.

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201) Ein Beispiel dafür, wie die begrenzte Ausstattung und Fähigkeit auch logistisch und technisch hochgerüsteter Apparate, mit Naturkatastrophen umzugehen und den Opfern angemessen zu helfen, schließlich in Gewalt gegen die Opfer umschlagen können, waren die Aktionen der Polizei, von privaten Sicherheitsorganisationen und Söldnerunternehmen gegen Obdachlose nach dem Wirbelsturm „Katharina“ an der amerikanischen Ostküste. 202) Vgl. Carl Amery, Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts. München 1998. Vgl. auch Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. München 2015. 203) Vgl. hierzu Wolfgang Streek, Gekaufte Zeit, Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin 2013. Ferner: Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010. Ders., Der Souveränitätseffekt. Zürich 2015. Ironischerweise könnte hier eine der Planwirtschaft ähnliche „Plangesellschaft“ entstehen, die nicht länger selbstorganisierend aus Marktdynamik (der unsichtbaren Hand von Adam Smith) und demokratischer Willensbildung hervorgeht, sondern sich durch Algorithmen gestaltet und reproduziert. 204) Was amerikanische Konservative bereits mit den derzeitigen Ansätzen zu einer ökologisch reflektierten Politik und Intervention verbinden und deshalb heftig abwehren, nämlich die Erwartung einer radikalen Einschränkung persönlicher Freiheit und Lebensführung durch strikte staatliche Reglementierung und Zuteilung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen, könnte dann, im Rahmen des Globalmanagements Wirklichkeit werden. Vgl. dazu auch Naomi Klein, This changes everything. Penguin USA 2014. 205) Vgl. Eric Sadin, La Silicolonisation du monde –Le irrisistible expansion du liberalisme numerique. L’echappèe, Oktober 2016. 206) Vgl. Michael Wolffson, Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München 2015. 207) Eine erschreckende Diagnose, dass das Glas halb leer ist und die Prognose, dass es sich weiter leeren wird, weil wir den „point of return“ bereits überschritten haben, bietet Stephen Emmott, 10 Milliarden, Berlin 2015. Im Rahmen einer „Strategischen Vorausschau 2040“ haben auch Experten des deutschen Verteidigungsministeriums neben positiven Szenarien auch ein negatives Zukunftsszenario entwickelt. Es beschreibt u. a. eine Erosion internationaler Ordnungen, einen Stopp der Globalisierung, ein Scheitern der EU, einen Zerfall des Westens und das Entstehen einer weltweiten „multiplen Konfrontation“ als mögliche Entwicklungen, die auch die Sicherheit Deutschlands ernsthaft gefährden könnten. Vgl. Denken auf Vorrat. In: DER SPIEGEL, Nr. 45, 2017. 208) Eine positive Diagnose, dass das Glas halb voll ist und dass es sich auch weiter füllen wird, wurde von Hans Rosling und wird von Steven Pinker vertreten. Rosling hat bis zu seinem Tod in vielen Vorträgen und mit vielen Statistiken zu belegen versucht, dass es „der Welt heute besser geht, als wir denken“. Indikatoren sind für ihn wie auch für Pinker, dass die Wachstumsrate der Weltbevölkerung auf allen Kontinenten sinkt, dass weltweit Armut und Kindersterblichkeit rückläufig sind, dass Lebenserwartung und Wohlstand steigen, dass Seuchen besiegt bzw. drastisch eingedämmt wurden, dass das Risiko, durch Verbrechen, Unfälle und Naturkatastrophen umzukommen, sinkt, dass die Welt heute weniger rassistisch, sexistisch und homophob ist, dass die Zahl der Demokratien in der Welt zugenommen hat, dass die Anzahl der Erfindungen und technischen Innovationen schnell zunimmt, dass die Menschen weltweit liberaler geworden sind, dass Alphabetisierung und Bildung in der Weltbevölkerung zunehmen und dass in vielen Regionen der Welt eine Mittelklasse zwischen den Reichen und den Armen entstanden bzw. im Entstehen ist usw. Vgl. Guido Mingels, Der Saldo der Welt. Ein Schwede wird zum Star mit Vorträgen über die Erfolgsgeschichte der Menschheit. In einer Zeit voller Angst lehrt Hans Rosling ein anderes Denken. In: DER SPIEGEL, Nr. 37, 2014. Ferner: Hans Rosling, Die Welt wird besser und keiner glaubt es. In: FAZ, Wirtschaft, 1. März 2015. Ders., Factfulness: wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin 2017. Ferner Steven Pinker, Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt/​Main 2018. Auch wenn zu berücksichtigen und ggfs. zu relativieren wäre, mit Bezug auf welche Ausgangsniveaus die statistischen Verbesserungen gemessen wurden, kann man diese zweifellos als Fortschritte identifizieren. Im Rahmen der hier versuchten Rekonstruktion stellt sich allerdings die Frage, ob und wie weit man diese Fortschritte, wie es vielfach geschieht, einfach der Globalisierung kapitalistischer Wirtschaft zuschreiben kann. Oder ob und wie weit diese positiven Trends sich trotz der Globalisierung eines Raubtierkapitalismus, nämlich dank der Wirkmacht des „systemisch Guten“ und „werdender Vernunft“ durchsetzen konnten. Diese lassen sich diesseits des Kapitalismus in der Bildung von Solidargemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Bewegungen der Bürger und ihrer intuitiven Sittlichkeit identifizieren, jenseits des Kapitalismus finden wir diese Wirkmacht in Gestalt einer expliziten Ethik und ihrer „Gerinnung“ im Rechts- und Demokratiesystem und innerhalb kapitalistischer Wirtschaft ist sie in Ansätzen einer „gekonnten Regulation“ und Anwendung kultur- und naturfreundlicher Technologien erkennbar, die von beiden Seiten, von der Zivilgesellschaft und Nicht-Regierungsorganisationen wie vom Rechts- und Demokratiesystem vorangetrieben werden. 209) Slavoj Zizek, Disparitäten. Darmstadt 2018. 210) Vgl. auch Perry Anderson, Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs. Berlin 2018.

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V. Regulative Ideen und Leitorientierungen zur Zukunftsgestaltung Europas 1)

Die Aktivitäten und Vollzüge des subjektiven, sich autopoietisch (organisch, kognitiv und kulturell) organisierenden Geistes, wie auch (seit Entstehung der Kultur) die des sich selbst beobachtenden, reflexiven Geistes lassen sich als Fortsetzungen der nicht-linear dynamischen Entwicklung unseres Universums verstehen, dessen Zukunft auch von diesen Aktivitäten in nicht voraussagbarer Weise beeinflusst wird. Gerade weil es ein „partizipatives Universum“ (John Wheeler) ist, nimmt mit dem Wachstum unseres Wissens und den damit verbundenen Eingriffen das Unwissen über Zukunft und darin über die Zukunft der Menschheit zu. Vgl. auch Ernst Peter Fischer, Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. Berlin 2005.

2)

Denn wie das Leben insgesamt sind auch seine evolutionären Ausdifferenzierungen autopoietische Systeme, die „Eigenwelten“ erzeugen. Das gilt für die Evolution der Kognition und des Verhaltens generell, darin auch für die Kultur als menschliche Hineinkonstruktion einer sinnhaften Welt in ein (grundsätzlich unbekannt bleibende) Umweltdynamik und in diesem Rahmen auch für die westliche Kultur und ihre evolutionär ausdifferenzierten Subsysteme. Zur Kontinuität und Differenz natürlicher und kultureller Evolution ausführlicher: Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. I: Das Werden der Kultur in der Natur. Amazon, Create Space 2016.

3)

Wie bereits angedeutet, lässt sich (der Theorie der Quanten- und der nicht-linearen Dynamik folgend) schon in der Selbstorganisation der unbelebten Natur eine dynamische Balance von komplexitätserzeugender „Öffnung“ (in Möglichkeitsfeldern) und komplexitätsreduzierender „Schließung“ (in Gesetzes‑, Bauplan- und Regelbildungen) beobachten, die sich im Rahmen der Autopoiesis organischen Lebens, der Kognition und der Kultur auch als „weiche Grenzziehung“ subjektiven Geistes gegenüber einer nie vollständig erschließbaren Umweltdynamik fassen lässt. Zur Viabilität subjektiven Geistes – des organischen Lebens, der Kognition und der Kultur – in diesem nicht-linear-dynamischen Universum gehört die zirkuläre Koppelung von Entgrenzung (Öffnung) und autonomer Grenzziehung (Schließung). Die organische Erzeugung von Lebensräumen, die kognitive von Bedeutungsräumen und die kulturelle Erzeugung von Sinnräumen trennen ein „Innen“ (oder „Selbst“) von einem „Außen“, um in einem weiteren Schritt diese Ausgrenzung wieder aufzuheben und in einer Erweiterung bzw. Veränderung des „Innen“ eine neue Abgrenzung zu schaffen usw. Schon Leben-Intelligenz hat sich in seiner Entwicklung von der Zelle über den Organismus bis zu den ökologischen Netzwerken „nie eingemauert“ (Hubert Markl), mehr noch scheint Verhalten-Kognition durch eine fortschreitende Verwandlung eines „Außen“ in ein „Innen“ (als modelliertes „Außen“ oder „innere Umwelt“) charakterisiert zu sein und schließlich zieht Kultur-Sinn in der kontinuierlichen Erzeugung manifesten Sinns „Schnitte durch die Welt“ (Niklas Luhmann), um in folgenden „Schnitten“ dem damit Ausgegrenzten einen Wiedereintritt zu ermöglichen usw. Auch dazu ausführlicher: Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. I: Das Werden der Kultur in der Natur. Amazon, Create Space 2016.

4)

Dabei spielt in diesem Öffnen der Alltagspraktiken und ihrer Handlungslogiken „Weiblichkeit als innere Zweiheit“ (Luce Irigary) eine zentrale Rolle, auch für ihre zukünftige Ausgestaltung im Rahmen einer europäischen Integration. Dazu ausführlicher: Joachim Rossbroich, Evolution, westliche Kultur und die Zukunft Europas. Bd. II: Das systemisch Gute in der Kultur. Amazon, Create Space 2016.

5)

„Wenn die Komplexität eines Systems zunimmt, wird unsere Fähigkeit geringer, präzise und zugleich signifikante Aussagen über sein Verhalten zu machen, bis ein Grenzwert erreicht ist, über den hinaus Präzision und Signifikanz (der Relevanz) sich nahezu ausschließende Charakteristiken werden … Je genauer man sich ein Problem der realen Welt anschaut, desto fuzziger wird seine Lösung.“ Lotfi Zadeh, zit. nach Ernst Peter Fischer, a.a.O., S. 413. Dies ist eine andere Ausdrucksweise für die bereits zitierte Formulierung von Niels Bohr: „Wahrheit und Klarheit sind komplementär. Nimmt das eine zu, nimmt das andere ab.“ Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Gianni Vattimo, der in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit eines „schwachen Denkens“ spricht. Vgl. ders., Glauben-Philosophieren. Stuttgart 1997. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir auf Wissenschaft verzichten sollen, sondern „dass die wichtigen Konzepte der Wissenschaft ‚fuzzy‘ sein und bleiben sollten.“ Ernst Peter Fischer, a.a.O., S. 41. Das bringt auch die hier schon zitierte Formulierung von Ludwig Wittgenstein zum Ausdruck: „Ich verwende bewusst unscharfe Begriffe, um möglichst viel Raum für zukünftige Präzisierungen zu haben.“ Und der Systemtheoretiker Heinz von Foerster hat es sinngemäß etwa so ausgedrückt: „Handle immer so, dass sich die Zahl Deiner zukünftigen Handlungsoptionen erhöht.“ Heute scheinen sich im westlichen Entwicklungspfad (neben den beschriebenen Prozessen der Verhärtung und Verkürzung) auch Fuzzy-Logik und weiche Grenzziehungen weiter auszubreiten, an Einfluss zu gewinnen und können vielleicht auch auf diese Weise zur Überwindung des Logozentrismus beitragen. Vgl. auch Aaron Ben–Ze’ev, Liebe in Zeiten der Langlebigkeit. In: Tobias Hülswitt, Roman Brinzanik, Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie. Berlin 2010. Dies hat, wie noch gezeigt werden soll, auch erhebliche Konsequenzen für Verständnis und Förderung des (kindlichen) Lernens. Auch hier sollte die humanspezifische, ästhetische Bezugnahme auf Umweltdynamik, die sich in der Kunst – und hier sowohl in ihrer „selbstreferentiellen Entstehungsweise wie auch in ihrer Rezeption“ (Mayer Brennenstuhl)  –  spezifisch ausdifferenziert hat, im Zentrum stehen. „Lernen ist die schöpferische Konstruktion von Kontextbeziehungen, die wir den Wahrnehmungsinhalten entgegenbringen.“ Andreas Mayer Brennenstuhl, Das Zeichnen bezeichnen, das Denken bedenken. Perspektiven aktuellen Kunstlernens. Oktober 1996, Vortrag im Rahmen einer Vortragsreihe „Befähigung zur Zukunft. Perspektivfreiheit als Chance in der Berufsausbildung“, Kunstseminar Metzingen Freie Hochschule, S. 5. Dazu mehr, wenn es um Bildung geht.

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6)

Die gärtnerische Fähigkeit, die europäische Natur-Kultur-Landschaftsbildung entlang des (ästhetischen) Regulativs einer zwanglosen Einheit des Vielfältigen (als gelingender Balance von Öffnung und Schließung) mitzugestalten, scheint stärker in den Alltagspraktiken, (sofern sie nicht glaubenspraktisch verzerrt sind) und in der intuitiven Sittlichkeit von „Alltagsmenschen“ als in der „Führungskunst“, Professionalität und Expertise von Management und Politik ausgeprägt zu sein, auch wenn es hier hin und wieder Lichtblicke gibt. Dazu gehört z. B. eine europäisch ausgeprägte Fähigkeit zur Diplomatie in der interkulturellen und internationalen Verständigung mit politischen Führern und Repräsentanten, die (noch) „harte Grenzziehungen“ praktizieren. Dazu mehr, wenn es um Europas Beitrag zur Entwicklung einer Weltgesellschaft geht.

7)

Vgl. Michel Serres, Der Naturvertrag. Frankfurt/​Main 1994.Vgl. auch Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Berlin 2014. Ders., Kampf um Gaia. Berlin 2017.

8)

Die explosiv beschleunigten Energieflüsse in der westlichen Lebens- und Wirtschaftsform und ihrer den Erdball überziehenden „Landschaftsbildungen“ sind zwangsläufig mit erhöhter Entropie in der einbettenden biologischen und prä-biologischen Umwelt verbunden. Sie machen sich als Klimawandel, in der Erosion der Artenvielfalt wie auch in physischen und psychischen Erkrankungen der Menschen bemerkbar. Vgl. hierzu auch Claude Levi-Strauss, Anthropologie in der modernen Welt. Berlin 2012. Deshalb ist eine Entschleunigung der kulturellen, westlich geprägten Lebensformen – nicht für die Natur, die sich davon wieder erholen wird, aber für die Menschheit – (über)lebenswichtig. „Weil das qualitative Wachstum anti-entropisch ist, müssen wir die Zeitkonstanten beachten. Das ist genauso wie in einer Bergsteigersituation: dass man runterfällt, ist sozusagen das Natürliche. Dass man rauffällt, passiert nie, und trotzdem kommt ein Bergsteiger hoch am glatten Fels. Aber er muss ganz anders vorgehen, als wenn er absteigt. Er muss nämlich sehr vorsichtig steigen, jeden Tritt prüfen, damit er das nächsthöhere Niveau erreicht. Und wenn er zu schnell klettert, stürzt er ab. Das heißt also, die syntropischen, anti-entropischen, also die ordnungssteigernden Prozesse, müssen genügend langsam sein, damit nicht die Abwärtsbewegung, nämlich die entropischen Prozesse überwiegen. Schritt für Schritt, mit anderen Worten. Und das ist der Grund, warum das so mühsam ist. Es ist mühsam, langsam, wir müssen uns Zeit nehmen. Der Grund ist, weil jeder Tritt geprüft werden muss, das heißt, wir brauchen ein Austesten jeder Änderung, inwieweit das Neue sozusagen kooperativ mit dem schon Bestehenden weiter existieren kann. Nur dann erreiche ich die nächste Stufe. Und wenn ich das zu schnell mache, zerstöre ich mein System.“ Hans Peter Dürr, Das neue Naturverständnis der modernen Physik und seine Konsequenzen: Verantwortung für das Ökosystem der Erde. Vortrag zum 2. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? April 1994.

9)

Insofern man dabei von den Konstruktionsregeln wie auch von den phänotypischen Organisationsformen des Lebens viel lernen kann, kann man auch von einem „systemisch-bionischen Organisationsmanagement“ sprechen. Vgl. Werner Nachtigall, Kurt G. Blüchel, Bionik, Neue Technologien nach dem Vorbild der Natur. Stuttgart 2000. Vgl. auch Werner Nachtigall, Vortrag im Rahmen der Kempfenhausener Gespräche, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 1993, unveröffentlichtes Protokoll.

10) „Wenn man unter ökologischer, ich denke auch unter sozialer Perspektive unser gegenwärtiges Wachstum betrachtet, so kommt man zu der Feststellung, dass der Preis zu hoch ist. Die externen Kosten, die in unsere Bruttosozialprodukt-Rechnung nicht Eingang finden, sind zu hoch und steigen weiterhin bedrohlich an. Bezogen auf Deutschland ist es so, dass wir im Gefolge des jährlichen Wachstums des Bruttosozialproduktes externe Kosten in der Größenordnung (da weichen die groben Schätzungen der Institute voneinander ab) von ca. 600–800  Milliarden DM haben, mit steigender Tendenz. Das ist gewaltig. Und das gilt ja nicht nur für Deutschland, das könnte man entsprechend für die Weltwirtschaft formulieren. Gewaltige ökologische Schäden, auch gesundheitliche Schäden am Menschen und soziale Fehlentwicklungen sind in die externen Kosten mithineinzurechnen … Meines Erachtens muss eine solche Wirtschaft kurz- oder langfristig zum Kollaps führen. Die Befürchtung ist, dass wir eine Geldvermehrung betreiben, die im letzten nicht mehr gedeckt ist durch die Regenerationsfähigkeit der Natur und der natürlichen Gleichgewichte. Das ist das große Problem. Es käme also darauf an, das menschliche Produktions- und Konsumverhalten wieder an die natürlichen Regenerationskapazitäten und ‑potentiale anzukoppeln. Das wäre die Forderung, die hier zu erheben ist und in dem Zusammenhang wird ja eine sehr leidenschaftliche Diskussion geführt über nachhaltiges Wirtschaften. Das wäre ein Wirtschaften, das rückgekoppelt ist an die Produktionsgrundlage der Natur. Ein Wirtschaften, das bemüht ist, die Produktionsgrundlage, die der Mensch für seine weitere Entwicklung braucht so zu gestalten, dass für beide Teile – die menschlich-kulturgeschichtliche wie die naturgeschichtliche Entwicklung – die Grundlagen bewahrt bleiben … Auf dieser Grundlage, und nur auf dieser Grundlage werden wir dann auch das, was unter den Stichworten von Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in unseren Köpfen ist, gewährleisten können. Zerstören wir diese ökologische Grundlage, setzen wir die exponentielle Erzeugung externer Kosten, die wir nicht ehrlich wirtschaftlich kalkulieren, fort, so werden wir auch im Bereich der Solidarität vergeblich geredet und spekuliert haben, weil uns schlicht die Grundlage dafür fehlt, menschliche Kultur fortzusetzen.“ Günther Altner, Zusammenhangswissen, Lebensverträglichkeit und individuelle Verantwortung. Schritte zur Versöhnung von Natur und Kultur. Vortrag zum 3. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Mai 1994. 11) „Wieviel Raum lassen wir der Natur neben unserem Eigennutz? Es gibt viele Ökologen und Naturschützer die sagen, wenn wir den Anspruch des Eigenwertes der Arten und der mit ihnen verbundenen Biotope ernst nehmen, dann müssten wir, wenn die nicht-menschliche Natur in unserem Handlungskalkül wirklich Beachtung finden sollte, 20 bis 30% unserer Landschaft unter Naturschutz oder zumindest unter Landschaftsschutz stellen. Man könnte eine mittlere Beachtung des Arten- und Biotopschutzes einführen oder eine sehr hohe Beachtung. Und je nachdem, welche Anspruchshöhe man zugunsten der Natur einnimmt, desto größer ist auch der Raum, der vom Menschen nicht oder nur schonend bewirtschaftet werden darf. Vor diesen Erwägungen stehen wir heute in allen Bereichen. Das ist ja nicht nur eine Frage der Besiedlungspolitik, sondern es ist genauso auch eine Frage der Bewirtschaftung der Böden in der Landwirtschaft. Es ist aber genauso auch eine Frage der Chemiepolitik, wie stark wir die

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Stoff-Flüsse aus der Produktion in die relativ intakten Naturflächen hinauslassen, oder wie weit wir uns hier an neuen Produktlinien orientieren. Wir stehen immer wieder vor der Frage, wie wir diese Pyramide unseres Anspruches in Einklang bringen mit den Ansprüchen, die wir unter Berücksichtigung des Spektrums der heute existierenden Arten wahrzunehmen vermögen.“ Altner, a.a.O. 12) Hermann Daly hat schon 1987 drei Bedingungen für Nachhaltigkeit definiert, die heute noch gelten:

1. Von nachwachsenden Rohstoffen sollten nicht mehr verbraucht werden, als regeneriert werden können.



2. Von nicht-erneuerbaren Rohstoffen sollte so wenig wie möglich verbraucht werden, bis nachhaltige erneuerbare Ersatzstoffe entwickelt werden.



3. Luftverschmutzende Emissionen sollten nicht die Aufnahmekapazität der Umwelt überschreiten.



Vgl. Hermann A. Daly u. a., For the common good: Re-directing the economy toward community, the Environment and a Sustainable Future. Boston 1989. Die systemevolutionäre Begründung „starker Nachhaltigkeit“ geht auch über die bekannte Begründung nachhaltiger Entwicklung in intergenerationeller Gerechtigkeit hinaus („Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ WECD. Our common future. World commision of Environment and Development. Oxford 1987.) und rahmt diese in gewisser Weise: Bemühungen um intergenerationelle Gerechtigkeit der Naturnutzung machen überhaupt nur Sinn, wenn die Mitnatur als begrenzte, gefährdete und zu erhaltende Ressource (ökonomisch: als knappes Gut) definiert werden kann. „Starke Nachhaltigkeit“ kann auch damit begründet werden, dass die Risiken im Falle eines Nicht-Ausreichens von „schwacher Nachhaltigkeit“ zu groß sind. Entgegen vielfachen Missverständnissen bedeutet „starke Nachhaltigkeit“ nicht eine Verabsolutierung und zwangsläufige Präferenz des Naturerhalts in jeder Situation und im Falle von Normkonflikten, wo in jedem Einzelfall die Güter abzuwägen sind. Sie schließt auch nicht aus, dass in Teilbereichen und in bestimmten Situationen eine Substitution des Naturkapitals – z. B. des Verbrauchs fossiler Energien und der Klimabelastung durch Investitionen in regenerative Energienutzung – möglich und sinnvoll sein kann. Vgl. hierzu H. Daly, Wirtschaft jenseits von Wachstum. Die Volkswirtschaftslehre nachhaltiger Entwicklung. Salzburg 1999. E. Neumayer, Weak versus strong sustainability. Exploring the limits of Two Opposing Paradigms. Cheltenham 1999.

13) Dazu gehört vor allem die dramatische Steigerung und Beschleunigung des Artensterbens, die durch Verlust an Lebensräumen, durch Dominanz einer mit chemischen „Waffen“ operierenden Landwirtschaft, durch die Vergiftung von Tieren (insbesondere Insekten), Pflanzen und Böden durch Massentierhaltung und Pestizide verursacht sind. Hier wäre eine europaweite Agrarwende dringend notwendig. 14) Albert Schweitzers Idee der „Konvivialität“ ist aus der Einsicht in die Co-evolution und Vernetzung aller Lebensformen auf der Erde abgeleitet. Weil die Menschen von dieser „Einheit des Lebens“ wissen (können), tragen sie auch eine Verantwortung dafür. Organismen sind weder bloße „Bio-Materie“ noch Maschinen, sondern Lebewesen mit Spielräumen der Freiheit, der Wahrnehmung und der Erkenntnis, des Bewusstseins und der Mitgestaltung ihrer Umwelten – in einem Sinn, der mit menschlichen Freiheitsspielräumen des Fühlens, Denkens, Bewusstseins und Handelns Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten aufweist. Auch um uns selbst besser erkennen zu können, dürfen wir Lebewesen nicht länger abwerten, sondern müssen sie angemessen aufwerten, im Lichte der uns leitenden Möglichkeiten und Regulative betrachten, ihnen „Würde“ zusprechen und diese respektieren. Hierzu detaillierter: Sue Donaldson, Will Kymlicka, Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte. Berlin 2013. 15) Vgl. Frans de Waal, Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere. München 2005. 16) „So wie für den Menschen der Begriff der Personalität fundamental ist, wäre für eine solche Ethik … der Begriff der Art fundamental. Das Leben auf der Erde organisiert sich in der Gestalt von Arten, zeigt sich und repräsentiert sich in einer bestimmten Artenvielfalt und im Artenwandel. Und so müsste auf dieser Ebene die ethische Reflexion bei den Arten und ihren Bedürfnissen einsetzen … Die Ethik der Mitkreatürlichkeit muss zwei Aspekte berücksichtigen. Auf der einen Seite die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Lebensformen, und gleichzeitig muss sie das, was verschieden ist bei den Organismen auch als verschieden würdigen und muss den Versuch machen, zu entsprechenden Schlussfolgerungen zu kommen.“ Günter Altner, a.a.O. Vgl. auch David George Haskell, Der Gesang der Bäume. Die verborgenen Netzwerke der Natur. München 2017. Haskell begründet die „neue Ethik der Verbundenheit“ in einer „ökologischen Ästhetik“, die die Schönheit in den Beziehungen aller Lebensgemeinschaften erfahrbar macht. 17) Zum Beitrag des Zusammenlebens und Kommunizierens mit Tieren zur Befreiung von der „Tyrannei des Sehens“ (Charles Foster), zur Entfaltung unserer Sinne, unserer Aufmerksamkeit und Achtsamkeit siehe auch Charles Foster, Der Geschmack von Laub und Erde – Wie ich versuchte, als Tier zu leben. Berlin 2017. Heute mehren sich Indizien und Forschungsergebnisse, die nahe legen, dass auch Pflanzen intelligent sind, wahrnehmen, situationsabhängige Entscheidungen treffen, Überlebensstrategien entwickeln und Informationen an Artgenossen weitergeben können. Vgl. Stefano Mancuso, Die Intelligenz der Pflanzen. München 2015. Ferner: Monica Gagliano, John C. Ryan, Patricia Vieira (Hrsg.), The Language of plants. Science, Philosophy, Literature. 2017. Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen. München 2018. Insofern ist nicht nur die Tierwelt, sondern schon die Pflanzenwelt eine Ausdrucksform subjektiven Geistes und sollte in eine Pflege der Artenverwandtschaft einbezogen werden. Vgl. hierzu Donna J. Haraway, Unruhig bleiben. Frankfurt/​Main 2018. 18) Schon in der frühen Verhaltensevolution werden die Verteilung, Bearbeitung und arbeitsteilige Nutzung von Information unter den Individuen als „distribuierte Kognition“ (Karin Knorr-Cetina) für Entstehung, Erhalt und Stabilisierung kohären-

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ter und viabler kommunikativer Netzwerke genutzt, in denen wiederum die kognitiven Leistungen der Individuen und ihr Lernen sich weiter ausdifferenzieren können. Beispiele sind die Bildung von Schwärmen und ihre Schwarmintelligenz, später sozialer Gruppen bis hin zu den komplexen sozialisatorischen und sozialen Gruppen in der kulturellen Lebensform und man kann annehmen, dass auch die bereits begonnene technologisch kognitive Evolution sich in zirkulärer Koppelung von kommunikativer Netzwerkbildung und kognitiver Leistung der involvierten künstlichen Intelligenzen vollziehen wird. Generell scheinen schon höher entwickelte tierische, dann insbesondere kulturelle Lebensformen und vermutlich bald auch artifizielle Existenz- und Intelligenzformen ihre Viabilität zu steigern, indem sie System/​Netzwerkdifferenzierungen mit einer Zunahme von Freiheitsgraden und Mitgestaltungsmöglichkeiten der involvierten Individuen (Organismen, Gehirne, Personen, Roboter) zirkulär koppeln. 19) James Surowiecki, The Wisdom of Crowds. New York 2005, vgl. Kap. IV.2. 20) „Gleichsam intuitiv werden hier Erkenntnisse vorweggenommen, wie sie als erster der französische Minister Turgot – ein Anhänger der sog. „physiokratischen Lehre“ – 1767 für die Landwirtschaft in seinem „Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses“ formulierte; dass nämlich jenseits einer fünfzigprozentigen Auslastung der Tragekapazität der Grenznutzen der Arbeit immer rascher abnimmt.“ Bernd Guggenberger, Sachzwänge, Denkzwänge, Wachstumszwänge. Gibt es Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeit, Leben und Natur gegen die Autonomisierung von Technik und Ökonomie? Vortrag zum 3. Kempfenhausener Gespräch, 2. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Mai 1994. 21) „Die soziale Handlungswelt der Subsistenzökonomien zeigt sich, bei genauerem Hinsehen, voller Risikominimierungsstrategien. Der ganze Kosmos des sozialen Verhaltens von der nomadisierenden Lebensweise über verwirrende Verwandtschaftsstrukturen und Verzehrverbote bis zu Gast- und Geschenkritualen, der uns sonst fremd und unerklärlich bliebe, schließt sich von hier auf. Dass man die Möglichkeiten einer ökologischen Nische nicht voll ausnutzt, dass man der Muße einen sehr hohen Wert zumisst, dass man Jagd- und Sammelaktivitäten, Weidestrategien und Anbautechniken derart wählt, dass auch bei ungünstigsten äußeren Bedingungen das Überleben der Gruppe, des Dorfes oder des Stammes gesichert ist, diese drei Verhaltensweisen hängen zusammen wie ein Regelsystem. Vielleicht ist die „Risikominimierungsstrategie“ überhaupt die zentrale Kategorie, unter die sich auch die Unterproduktivität (die stets einen „Sicherheitsrest“ für den Fall unvorhersehbar ungünstiger Bedingungen belässt) und die Mußepräferenz (als Kommunikation ermöglichende Einstellung ist sie gleichsam eine „Ressource für soziale Ressourcen“) subsumieren lassen.“ Guggenberger, a.a.O. 22) Vgl. Claude Levi-Strauss, Anthropologie in der modernen Welt. Berlin 2012. 23) Vgl. Ute Frevert, Gefühlswissen. Frankfurt/​Main–New York 2012. Auch rekurrieren beispielsweise Versuche afrikanischer Intellektueller, eine post- koloniale afrikanische Identität zu entwickeln, auf die Logik sozialisatorischer Alltagspraxis und eine prä-logozentrische Glaubenspraxis und setzen der westlichen objektivierenden und analytischen Vernunfttradition eine Vernunft der symbiotischen Verbindung von Mensch mit Mensch und mit der Natur entgegensetzen. Vgl. Dieter Senghaas, Politische Innovation. Versuch über den Panafrikanismus. In: Zeitschrift für Politik. Bd. 12. 1965.21. 24) So gab es schon in manchen antiken Hochkulturen, z. B. bei den Hebräern, eine Art instutionalisierte Selbstlöschung der Akkumulation von Schulden und dem entsprechend auch eine Begrenzung der Reichtumskonzentration. „Alle sieben Jahre wurden Hebräer, die aufgrund hoher Schulden in Sklaverei gefallen waren, von ihrer Sklavenarbeit befreit. Alle 49 Jahre wurden die Schulden erlassen und das Land ging an die ursprünglichen Stammesfamilien zurück.“ Thomás Sedlácek, Die Ökonomie von Gut und Böse. München 2012. 25) „Ich kann mir den Bewährungsmythos des zukünftigen Subjekts, das nicht mehr sein Einkommen über institutionalisierte Arbeit bezieht, nur so vorstellen: Er wird in Maßstäben der Klarheit, Detailliertheit und Genauigkeit bestehen, mit denen das Subjekt sein je konkretes Leben, in welchen Inhalten es sich auch immer realisiert, in seiner konkreten Bildungsgesetzlichkeit rekonstruiert und auf deren Folie es jeweils seinen Zukunftsentwurf verantwortlich artikuliert. Diese Maßstäbe werden nicht mehr primär in inhaltlichen Prinzipien bestehen, sondern in ästhetischen der authentischen Gestaltung, so dass die Basis jeglicher Erkenntnis, die ästhetische Erfahrung, und damit einhergehend die Basis von authentischer Darstellung, die gelungene künstlerische Synthesis von Form und Inhalt, ins Zentrum der Stiftung lebenspraktischen Sinns immer mehr rücken werden.“ Ulrich Oevermann, Die Krise der Arbeitsgesellschaft und das Bewährungsproblem des modernen Subjekts. Vortrag auf der Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes in St. Johann, September 1999. 26) Hannah Arendt, Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg 1999. Mit dem „Anfangen-Können“ ist in der kulturellen Lebensform auch die Möglichkeit für jeden Menschen verbunden, sein Leben ändern zu können. Vgl. Christoph Menke, Wahrheit. Nicht Stil. Es geht um die gerechte Gesellschaft. Zum Streit zwischen den Philosophen Axel Honneth und Peter Sloterdijk. In: DIE ZEIT, Nr. 43, Oktober 2009. 27) Die Formulierung von Hannah Arendt, „Der Sinn der Politik ist Freiheit“, kann man auch so interpretieren, dass politische Ordnungsbildung der regulativen Idee einer (freilich nie vollkommen erreichbaren) zwanglosen Einheit des vielfältig Verschiedenen folgt, in der – mit Adorno ausgedrückt – das Besondere mit der Allgemeinheit einer gesetzlichen Ordnung „versöhnt“ wäre. Diese Möglichkeit wie auch die Realität ihrer Verschüttung und Blockierung betrifft immer sowohl die Handlungslogiken wie auch die Psyche der involvierten Individuen. 28) Wie bereits ausgeführt, lassen sich die funktional differenzierten Alltagspraktiken mit Niklas Luhmann auch als Kommunikationssysteme verstehen, die „symbolisch generalisierten Steuerungsmedien“ folgen – z. B. die Politik nur der Macht, die Wirtschaft nur dem Geld, die Wissenschaft nur der Wahrheit – und durch Reduktion von Komplexität eine starke Dynamik,

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Integrations- und Gestaltungskraft entwickeln, die zur Kolonialisierung und Vereinnahmung der kulturellen Lebensform tendieren. Deshalb bedarf es ihrer normativen Begrenzung „von oben“ durch das Rechtssystem und ihrer produktiven Irritation „von unten“ durch das System „Kultur der Kultur“, die sich z. B. in Bügerbewegungen, ‑protesten und Boykotten, in Aktionen, Aktionskunst u. ä. artikulieren kann. 29) „Jede menschliche Kultur ist Ausfüllung eines Freiraums, das heißt jede Kultur ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der Mensch in ihr dank seiner Reflexivität gegenüber den Naturzwängen einen Freiraum erschließt. Dieser Freiraum ist Spielraum: Raum für spielerisches Erproben unterschiedlicher Möglichkeiten. Dies eben gilt es wiederzuentdecken: dass die Regeln unserer Zivilisation – unseres Lebens, unseres Wirtschaftens, unseres Umgangs mit der Natur – unsere eigenen Spielregeln sind und damit – änderbar; dass Rollen, die wir spielen, eben nur „Rollen“ sind, für die es immer auch ein anderes Drehbuch geben könnte; dass Computerprogramme „Programme“ sind, Setzungen mehr oder weniger willkürlicher Art, die immer auch anders hätten ausfallen können; dass es mithin nicht Naturgesetze sind, die uns die industriezivilisatorischen Imperative des blinden Wachstums, des himmelstürmenden Fortschritts und des Wagnisses a tout prix auferlegen, sondern die selbstgesetzten Handlungsbedingungen. Entdecken wir also aufs Neue, dass wir machen, was wir immer gemacht haben, dass die Welt Gestaltbar ist, weil sie uns selbst immer schon als Ergebnis von Gestaltung entgegentritt!“ Guggenberger, a.a.O. 30) Dabei kann gerade eine konsequent (selbst)objektivierende und wahrheitsorientierte (Selbst)beobachtung an die Grenzen der Objektivierung führen und diese spürbar und evident machen – und damit die Einsicht von Niels Bohr – „Wahrheit und Klarheit sind komplementär. Nimmt das eine zu, nimmt das andere ab“ – bestätigen. Wenn hier nach bestem Wissen und Gewissen nach Wahrheit gesucht wird, gewinnen notwendig auch Ästhetik, Eigenlogik und implizite Ethik der Gemeinschaftsund der Gesellschaftsbildung an Konturen, Relevanz und Orientierungskraft. Als „Früchte“ konsequenter Objektivierung und Wahrheitssuche eröffnen sich hier also auch Perspektiven der Selbstbeobachtung unserer Kultur und Wege ihrer Mitgestaltung, die ihrer (wissenschaftlichen) Objektivierung voraus und über diese hinausgehen. 31)

Wie versucht wurde zu zeigen, kommt man zum Regulativ der Gerechtigkeit mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, wenn man die implizite Normativität der Gesellschaftsbildung, das Bemühen um reziproke (An)erkenntnis des (fremden) Anderen folgt und diese Anerkenntnis als Geltungsanspruch „ausbuchstabiert“. Vgl. hierzu Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011. Ders., Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel. In: Barbara Merker, Georg Mohr, Michael Quante (Hrsg.), Subjektivität und Anerkennung. Paderborn 2004. Ders. u. Nancy Fraser, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt/​Main 2003.

32)

Auch zum Regulativ des Schutzes und der fürsorglichen Entfaltung von seelisch-geistiger Subjektivität kommt man mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, wenn man der impliziten Normativität sozialisatorischer Alltagspraxis, dem Bemühen um (An) erkenntnis innerer Natur folgt und sich am Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit ihrer Artikulation und Interpretation orientiert. Der anthropologische Kern dieser Orientierung ist das Empfinden der Eigenart des „Anderen“ und das Gefühl einer Verantwortung für Schutz und Entfaltung dieser Eigenart, die Gehirn und Psyche von Menschen in sozialisatorischer Praxis entwickeln und weitergeben – wobei, wie schon erwähnt, Weiblichkeit und „innere Zweiheit“ (Luce Irigary) in Vergangenheit und Gegenwart und wohl auch für die Zukunft der Kultur eine große Rolle spielen. Vgl. hierzu auch Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979. Hier insbesondere das Kap. „Das Kind – Urgegenstand der Verantwortung.“ S. 234 ff. Hier werden die Wurzeln der sozialisatorischen Praxis und Verantwortung in der Interaktionstriade von Mann, Frau und Kind beschrieben.

33) Diese in der „Logik“ reziproker Beseelung begründete Fürsorge ist in die Idee der christlichen Nächstenliebe eingeflossen und schwingt auch in Jacques Derridas „Politik der Freundschaft“ mit, wenn er z. B. davon spricht, dass Demokratie die Lebensform sein sollte, „in der jeder anders sein kann.“ Ähnlich formuliert Jean-Luc Nancy, die Demokratie solle den Bürgern eine „politische Teilhabe am Unberechenbaren“ bieten. Jacques Derrida, Politik der Freundschaft. Frankfurt/​Main 2002. Ders., Jürgen Habermas, Giovanna Borradori, Philosophie in Zeiten des Terrors. Leipzig 2006. Ferner Jean-Luc Nancy, Die Wahrheit der Demokratie. Wien 2009. Vgl. auch: Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt/​Main 1991. 34) Vgl. Klaus Dörner, Der gute Arzt: Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, 2003. Siehe auch ders., Leben und sterben, wo ich hingehöre: Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem, 2012. Ferner ders., Tödliches Mitleid: Zur sozialen Frage der Unerträglichkeit des Lebens 2002. Vgl. hierzu auch Alexa Franke und Aaron Antonovsky, Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit, 1997. 35) Vgl. hierzu Joachim Rossbroich, Kultur-Bildung. Ein Evolutionärer Ansatz. In: Sven Lippert, Joachim Rossbroich (Hrsg.), Ergebnisse aus der Zukunftswerkstatt Mariposa. Arona, Teneriffa. Reflexionen und Empfehlungen zur Bildungstheorie und ‑praxis. Voraussichtlich Frühjahr 2020. 36) Realistisch scheint die Einschätzung, dass es heute Potentiale und Tendenzen in beide Richtungen gibt und diese derzeit in eine diffuse Seitwärtsbewegung westlicher Kultur-Bildung münden, die durch wenig Orientierung und viel „Durchwursteln“ gekennzeichnet ist. 37)

Auch in der Formulierung von Andreas Mayer Brennenstuhl „Lernen ist die schöpferische Konstruktion von Kontextbeziehungen, die wir den Wahrnehmungsinhalten entgegenbringen“, kommt das zum Ausdruck. Andreas Mayer Brennenstuhl, Das Zeichnen bezeichnen, das Denken bedenken. Perspektiven aktuellen Kunstlernens. Oktober 1996, Vortrag im Rahmen einer Vortragsreihe „Befähigung zur Zukunft. Perspektivfreiheit als Chance in der Berufsausbildung“, Kunstseminar Metzingen Freie Hochschule. S. 5. Mayer Brennenstuhl beruft sich hier auch auf Gregory Bateson, der Lernen „im Sinne eines kreativen Produzierens von Kontextbestimmungen“ versteht. Vgl. Gregory Bateson, Geist und Natur. Frankfurt/​Main 1993, S. 27.

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38) Demgegenüber führt jede glaubenspraktisch (religiös oder post-religiös) geleitete Vernachlässigung wie auch Überhöhung oder gar Verabsolutierung eines dieser vier Umweltbezüge zu logozentrischen Verkürzungen der Weltsicht, von Entscheidungen und damit der Organisation unserer kulturellen Lebensform. 39)

Der akademisch hochgebildete, in der Familie klassische Musik und Dichtung pflegende Kommandant eines Konzentrationslagers ist dafür ein extremes Beispiel.

40)

Hier kann, wie später ausgeführt, auch die Einrichtung einer „Consultative“ (Dieter Schmidt) nützlich sein, die die drei Gewalten – Legislative, Judicative und Executive – ergänzt und Brücken zwischen Zivilgesellschaft und politischem System bildet.

VI. Wege und Schritte der Mitgestaltung Europas 1)

In gewisser Weise kann man hier auch von einer quasi-medizinischen Einstellung und „Behandlung“ sprechen, die die nachsorgende kompensatorische Reparaturpraxis der Bearbeitung ökologischer und sozialer, ökonomischer und informationeller Krisen durch vorsorgenden Erhalt und Pflege der „Gesundheit“, im Sinne von Resilienz und Viabilität Europas abzulösen sucht. Im Rahmen dieser „Behandlung“ ist eine gekonnte Regulation der Internetkommunikation und der Informationsmärkte wahrscheinlich ebenso wichtig wie die Regulation der Finanzmärkte. Zur Regulation der Informationsmärkte siehe Vincent F. Hendricks, Mads Vestergaard, Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien. München 2018.

2)

Eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen, ist zwar einerseits wegen der historisch gewachsenen, unterschiedlichen nationalen Verständigungs- und Deutungsmuster schwierig und langwierig. Sie ist aber durchaus möglich, weil sie sich auf die spezifisch westliche Offenheit der meisten europäischen Nationalkulturen und auf viele Gemeinsamkeiten stützen kann. Hinzu kommen die wechselseitigen produktiven Irritationen und die „Rythmik von Missverständnissen“ (Walter Benjamin), in denen „Inseln“ gemeinsamen Bewusstseins entstehen und wachsen können. Insofern ist die Einschätzung von Wolfgang Streek, dass eine solche Öffentlichkeit nicht zustande kommen kann, zu pessimistisch. Vgl. Wolfgang Streek, a.a.O.

3)

Vgl. Stephan Weichert, Leif Kramp, Eine Art Marshallplan. Fünf Modelle, wie die Zeitungsbranche gerettet werden kann. In: DIE ZEIT, Nr. 29, 2009.

4)

„Das heutige estnische Modell, X-Road genannt ist dafür das Vorbild. Es beruht auf einer Verschlüsselung aller Daten; jeder besitzt einen individuellen Zugangscode, eine digitale Identität, zeichnet mit einer digitalen Signatur. Alle spezifischen Daten unterliegen dem Once-Only Prinzip, müssen also nur einmal erfasst werden. Jeder, der nachweisbar Zugriff auf bestimmte Daten braucht, bekommt ihn  –  sicher und überprüfbar. Beide Prinzipien, Once-Only und die digitale Identifikation durch eine ‚e-Signature‘ sind EU-weit mittlerweile beschlossen.“ Luukas Ilves (Lisbon Council) und Taavi Kotka (Ehemaliger Chief Information Officer der estnischen Regierung). Zitiert nach Hannes Grassegger, Ein Befreiungsschlag. Die Welt versinkt im Online-Populismus. Vielleicht kann ausgerechnet Digitalspätzünder Europa die Demokratie neu erfinden. In: Futura Spiegel Online, 24. Oktober 2018. Vgl. auch Bernd Schiphorst, Hans Hege, Christoph Wagner, Wo ist der Netzminister? Deutschland braucht dringend eine neue Medienpolitik. In: DIE ZEIT, Nr. 3, 2012. Zur Verfügungsfreiheit der Bürger über ihre Daten und ihre Verwertung hat sich u. a. Jaron Lanier geäußert: „In einer Welt der digitalen Würde wäre jeder Mensch der kommerzielle Eigentümer aller seiner Daten – und wer sie haben will, muss dafür zahlen.“ Jaron Lanier, Wem gehört die Zukunft? Hamburg 2013.

5)

Vgl. Marina Weisband, Wir nennen es Politik. Stuttgart 2013. Im Rahmen des Ausbaus von Selbstbeobachtung und einer daran orientierten Mitgestaltung der Gesellschaft durch die Bürger bekommen auch ihre Vernetzung mit Wissenschaft und Forschung, die wechselseitige Öffnung, Übersetzung und Durchdringung von Bürgerengagement und Wissenschaftspraxis in „citizen science“ (Peter Finke) eine zentrale Bedeutung. Vgl. Peter Finke, Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien. München 2014. Vgl. auch weiter unten die Ausführungen zur Einrichtung einer „Consultative“.

6)

Beispiel für erfolgreiche virtuelle Protestnetzwerke sind internationale Netzöffentlichkeiten, wie sie sich beispielweise in der Anti-Acta Initiative herausgebildet haben sowie das von Ben Rattray gegründete Online-Portal Change.org. Vgl. DER SPIEGEL, Nr. 37, 2012. Ferner „Campact“, Open Petition.de. Futura u. a. Vielversprechend ist auch der jüngste Zusammenschluss internationaler Medienunternehmen (Mediapart, The Daily Telegraph, The Intercept, Wiki Tribune und DIE ZEIT) und ihr Aufruf an Bürger, die in der Technologie-Industrie arbeiten, als Whistelblower aktiv zu werden und sich bei Kenntnis von Datenmissbrauch bei den o.g. Medien zu melden. „Wir wollen von Ihnen hören“. In: DIE ZEIT, Nr. 26, Juni 2018. Zu erinnern ist auch an die Gruppe „Forensic Architecture“ und ihre Wahrheitssuche und ‑findung im Falle von Versuchen der Verschleierung von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Vgl. Kap. II, Anmerkung 28. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch das „Dangerous Speech Projekt“, das in den USA von der Rechtsprofessorin und Anwältin für Menschenrechte Susan Benesch gegründet wurde, um weltweit den Zusammenhang zwischen Sprache und Massengewalt zu untersuchen und diese zu verhindern. Vgl. DER SPIEGEL, Nr. 47, November 2018. Auch kraft ihrer (potentiellen) Repräsentativität, nämlich kurzfristig und konkret auf Missstände und Wege ihrer Behebung bezogen Petitionen zu formulieren und jeweils eine große Anzahl von Bürgern zu mobilisieren und zur Unterschrift zu motivieren, bilden viele Bürgerbewegungen in den westlichen und sich verwestlichenden Gesellschaften einen „Lobbyismus für gemeinsame Vernunft“, der schon heute und in Zukunft zunehmend dem Lobbyismus der Partikularinteressen entgegenwirken kann.

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7)

Bernhard Pörksen, Hanne Detel, a.a.O.

8)

Dazu gehören Agrarwende, Natur- und Artenschutz, eine europäische Regional‑, Raum‑, Stadt- und Verkehrspolitik: Klimaschutzmaßnahmen, Reduktion der Stoffströme, Energieeinsparung und Effizienzsteigerung, Elektromobilität, Recycling, Stoff- und Prozesskombinatorik, Verkürzung von Transportwegen und, wo immer möglich, Ersetzung von Verkehrsströmen durch Informationsströme u. a. Vgl. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman u. a., Wir sind dran. Club of Rome. Der große Bericht. Gütersloh 2017.

9)

Hier geht es auch darum, „transareale Wissenskonfigurationen in die Gesellschaft (zu) übersetzen“ und einen europäischen Wissensraum zu schaffen, „der nicht im Zeichen einer Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, sondern einer Vergesellschaftung des Wissens“ steht. Ottmar Ette, Das Humboldt-Forum. Wo Humboldt draufsteht  … Plädoyer für ein Mobile der Kulturen. In: Lettre International, Nr. 96, Herbst 2009. Ein solches Wissen ist, wie bereits angedeutet, diesseits und jenseits einer Erfahrung und Erkenntnis verkürzenden Welt- und Selbstobjektivierung wie auch linearer und eindimensionaler Narrative zu suchen und zu entwickeln. Diesseits in der Ästhetik, Logik und impliziten Ethik der drei universellen und fundamentalen Alltagspraktiken und in der intuitiven Sittlichkeit der Menschen und jenseits in einer philosophischen Reflexion und expliziten Ethik post-logozentrischer Selbstbeobachtung westlicher Kultur, die sich für das „Nicht-Identische“ (Theodor W. Adorno) und damit für eine Multiperspektivität mit Blick auf die Eigenlogiken und ‑geschichten anderer Kulturen öffnet. Vgl. hierzu auch Neil Macgregor, Es gibt nicht die eine Geschichte, sondern es sind viele Geschichten, die zählen. Eine Antwort an die Kritiker des Humboldt Forums. In: DIE ZEIT, Nr. 14, März 2018. Es ist Zeit, auch mit Blick auf das Werden Europas solche Narrative zu entwickeln – eine Einschätzung, die inzwischen sogar unter Ökonomen Zustimmung findet. Vgl. Robert Shiller, Narrative Economics. Vortrag Yale, Januar 2017. Ders., Narrative Economics Revisited, Vortrag Columbia Business School, März 2018.

10) „Die Stärke Europas – auch des vereinigten Europa – beruht auf seiner Vielfalt. Wenn Vielfalt und Differenziertheit nicht auflösend wirken sollen, müssen sie bewußt bewahrt und wenn nötig auch gegen nivellierende und homogenisierende Tendenzen gefördert werden. Wenn ein Schlagwort gewünscht wird, dann sollte es lauten: so viel Einheit und Einheitlichkeit wie nötig, so viel Vielfalt und Vielgestaltigkeit wie möglich. In einer solchen politischen Union könnten sich alle – und gerade auch die Kleinen und Schwachen – wohl fühlen.“ Iring Fetscher, Europas Entwicklung: kulturelle Unterschiede und die Herausbildung einer gemeinsamen Zivilgesellschaft. Vortrag zum 6. Kempfenhausener Gespräch, Januar 1995. Ähnlich formuliert Wolfgang Streek: „Ohne föderale Unterteilung und umfangreiche partikularistische Autonomie- und Reservatrechte, ohne vor Dauermajorisierung schützende Gruppenrechte für die vielen verschiedenen, auf räumliche Nähe gegründeten Wirtschafts- und Identitätsgemeinschaften, aus denen Europa besteht – nicht nur in Belgien, sondern auch in Spanien und Italien sowie im Verhältnis zwischen Finnland und Griechenland oder zwischen Dänemark und Deutschland – könnte keine europäische Demokratie entstehen.“ Streek, a.a.O., S. 243. Streek begründet in diesem Rahmen auch seine Sympathie für die von Sarah Wagenknecht u. a. gegründete linke Sammlungsbewegung: „‚Aufstehen‘ will verhindern, dass die, die sich von grenzenloser Globalisierung bedroht fühlen, den Rattenfängern der reaktionären Rechten nachlaufen.“ Wolfgang Streek, Wir müssen aufstehen. Der Wunsch nach einer linken Sammlungsbewegung ist nicht fremdenfeindlich. Eine Antwort auf Colin Crouch. In: DIE ZEIT, Nr. 36, August 2018. 11) Europa kann nicht bloß ein territorial ausgedehnter Nationalstaat sein und sollte auch keine darauf gestützte Identität entwickeln, sondern diese, wie schon gesagt, auf die Logik, implizite und explizite Ethik spätkultureller, europäisch ausdifferenzierter Lebensformen stützen. Vgl. Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität: Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe. Hamburg 2010, Ders., Die Konstruktion Europas. Ein neues Zeitalter erfordert ein Laboratorium der Demokratie. Vgl. auch Emil Tode, Europa und seine Angst. Abschweifungen zu einem Tintenkleks auf Löschpapier. Beide Beiträge in: Lettre International, Frühjahr 2003. 12) „Die Mitgliedstaaten der EU sind nicht Würfelzucker im heißen Tee, sondern die Knotenpunkte in jenem Netz, das die europäische Integration ausmacht … Die nationalen und internationalen Institutionen greifen ineinander, sind wechselseitig voneinander abhängig. Die einen brauchen die anderen. Alle gemeinsam brauchen die Akzeptanz, das Verständnis von Bürgern, die Selbstverantwortung suchen und keine Bevormundung wollen.“ Udo di Fabio, Staaten sind kein Würfelzucker. Warum von einer Auflösung der Nationen in Europa keine Rede sein kann – und weshalb jedes Land seine Finanzen selbst in Ordnung bringen muss. In: DIE ZEIT, Nr. 38, September 2012. Vgl. auch ders., Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss. München 2015. Ähnlich argumentiert Wolfgang Streek: „Wenn es ein gemeinsames europäisches Haus geben soll, muss dort Platz für die europäischen Nationen sein.“ Wolfgang Streek, Nicht ohne meine Nation. Ob nun Frankreich, Großbritannien oder Polen: Die Europäer wollen ihre Identitäten nicht aufgeben. Nur die Deutschen träumen von neoliberaler Grenzenlosigkeit. In: DIE ZEIT, Nr. 18, April 2017. Vgl. auch Heinrich August Winkler, Europas falsche Freunde. Wer die Nationen abschaffen will, fördert die Nationalisten. In: DER SPIEGEL, Nr. 43, 2017. Ferner ders., Ohne Werte ist Europa nichts. Abschied von einer Illusion: Nur die liberalen Demokratien können das europäische Projekt retten. In: DIE ZEIT, Nr. 49, November 2017. Winkler bezeichnet die Mitglieder der Europäischen Union als „postklassische Nationalstaaten, die einige ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben und andere auf supranationale Einrichtungen übertragen haben … Die Beharrungskraft der postklassischen Nationalstaaten beruht in erster Linie darauf, dass sie von den meisten Europäern noch immer und aus guten Gründen als Hort von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie betrachtet werden … Ohne eine angemessene Mitwirkung der Parlamente der Mitgliedsstaaten lassen sich europäische Entscheidungsprozesse nicht hinreichend demokratisch legitimieren. Die Europapolitik der nationalen Parlamente könnte, den politischen Willen vorausgesetzt, wirksam koordiniert werden. Vorstellbar wäre auch ein gemeinsamer Ausschuss der nationalen Parlamente der Euro-Zone, dessen Empfehlungen in die Beschlussfassung der Volksvertretungen einfließen könnten. Anders als eine Parlamentarisierung der EU wäre eine Europäisierung der nationalen Parlamente ein Beitrag zur Minderung des Demokratiedefizits des Staatenverbundes.“ Winkler, ebd.

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13) „Die europäischen Nationalstaaten sind mehr als nur Museen ihrer jeweiligen Emanzipationsgeschichte; sie sind historisch-gesellschaftliche Artefakte, die in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit anerkannt werden wollen. Ihre Legitimation als Demokratien beziehen sie nicht zuletzt aus ihrem Beitrag zur Verteidigung und Entwicklung von gewachsenen Identitäten und erkämpften Lebensmöglichkeiten. Deren friedliches Mit- und Nebeneinander bedarf einer zwischenstaatlichen Organisation, die ihre Mitgliedstaaten unterstützt, statt zu versuchen, sie durch Vereinheitlichung überflüssig zu machen. Europa wird nicht dadurch geeint, dass es die Außenpolitik zwischen seinen Mitgliedsstaaten in die Innenpolitik eines europäischen Superstaats überführt; im Gegenteil wird es dadurch gespalten.“ Streek, ebd. 14) Streek, a.a.O. 15) Im Gegensatz dazu wünscht sich Ulrike Guérot eine Abschaffung der Nationalstaaten. An ihre Stelle soll eine europäische Republik als „Föderation vieler regionaler Einheiten ohne nationale Zwischeninstanz“ treten. „Wir müssen das Erbe der französischen Revolution europäisieren und die damals genommene Abbiegung in Richtung Nationalstaaten überwinden.“ Ulrike Guérot, Es lebe die Europäische Republik. Wer den Rechtspopulismus besiegen will, muss Ernst machen mit Europa. In: DER SPIEGEL, Nr. 18, 2017. Dies. Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Berlin 2017. 16) „Ein Europa der „Vaterländer“ – das heißt der souverän bleibenden Staaten – dass lediglich ein einheitliches Wirtschaftsgebiet ist, halte ich auf die Dauer für nicht überlebensfähig. Auch ohne politische Homogenisierung im Sinne des zentralistischen demokratischen Staates wird es in einem so gearteten größeren Wirtschaftsgebiet eine Vielzahl von regional benachteiligten Gebieten und Bevölkerungsteilen geben, deren Bedürfnisse nicht durch den freien Markt „automatisch“ befriedigt werden. Die Tendenz zur Angleichung des Arbeits- und Konsumverhaltens wird traditionelle Lebensweisen notwendig zurückdrängen, und es ist kaum vorstellbar, dass stärker betroffene soziale Gruppen und Regionen nicht darauf reagieren werden. Aus diesem Grunde halte ich eine politische Einigung – nicht nur im Interesse einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik – für unabdingbar. Eine europäische Einigung, die auf eine bloße gemeinsame Wirtschaftszone beschränkt bliebe, würde in Kürze an ihren inneren Konflikten leiden und vermutlich nicht lange erhalten bleiben.“ Iring Fetscher, a.a.O. 17) Wie mit der schon angedeuteten Förderung der regionalen und lokalen Netzwerkökonomien könnten auch mehr lokale und regionale politische Selbstbestimmung einen Beitrag zur notwendigen kommunitaristischen Ergänzung der liberalen Gesellschaftsordnung Europas beitragen. „Europe – that is also the hope of the local authorities that they will find it easier to be heard as equal members of this connected society of discourse than in the classical nations states with their insular and frequently hierarchical decision-making procedures.“ Beate Weber, Europe and the Development of the Municipalities. In: Global Marhall Plan Initiative (ED), European Hope.Strategy of Partnership. Hamburg 2006. „Politisches Handeln ist ( immer auch Ergänzung des Verfassers) an verortete Gemeinschaften gebunden – Verständigungs‑,Verantwortungs‑, Verpflichtungs‑ und Praxisgemeinschaften … Wer sich zur Vielfalt bekennt, bekennt sich zu Grenzen, zu Unterscheidungen von innen und außen und zu Besonderheiten, einschließlich zur eigenen … All politics is local – das heißt auch, keine Politik, jedenfalls keine gute Politik, ohne Patriotismus, ohne ein Gefühl verpflichtender Zugehörigkeit zu einer politisch organisierten Gemeinschaft, an dessen laufender Verbesserung man sich zu beteiligen hat.“ Wolfgang Streek, Ein Weltbürger ist nirgendwo Bürger. In: DIE ZEIT, Nr. 26, Juni 2018. Allerdings erweckt Streek gelegentlich den Eindruck, dass aus diesen Gründen die Arbeit an der europäischen Integration und darüber hinaus an einer Weltgesellschaft nicht sinnvoll sein kann – auch weil diese den Kapitalismus nicht zu domestizieren vermag, sondern vielmehr seine Übermacht befestigen wird. Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, dass auf allen – lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen – Ebenen die o.g. verorteten Gemeinschaften etabliert werden können und sollten – auch und gerade um eine „gekonnte“ Regulation des Kapitalismus zu ermöglichen. Im Rahmen einer zukunftsoffenen pro-europäischen Politik brauchen wir in Zukunft einen sich selbstkritisch korrigierenden Liberalismus, der Solidarität mit und Aufmerksamkeit für die Verlierer der Globalisierung praktiziert, sich öffnet für die Relevanz und Hochschätzung von Heimatliebe und lokaler und regionaler Identität und ein entsprechendes Narrativ entwickelt, das den Patriotismus nicht länger den rechten Populisten überlässt. 18) „Die Pflichten der Staaten wurden dadurch in Rechte der Wirtschaftsakteure verwandelt und konnten eingeklagt werden. Die Mitgliedsstaaten wurden danach zur Herstellung des gemeinsamen Marktes nicht mehr gebraucht. Die EU-Kommission und der europäische Gerichtshof konnten die Aufgabe selbst in die Hand nehmen. Wo sie im nationalen Recht ein Hemmnis für den gemeinsamen Markt erblickten, erklärten sie es für unvereinbar mit Europarecht. Auf diese Weise verloren die Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, ihre Standards in der Daseinsfürsorge, im Umweltschutz, im Konsumentenschutz und so weiter durchzusetzen. Sie verloren auch die Möglichkeit zu entscheiden, was sie in öffentlicher Regie regeln und was sie dem Markt überlassen wollen … Nationales Recht konnte durch Bescheid oder Urteil außer Anwendung gesetzt werden. Dagegen war es schwieriger, die Lücken durch europäisches Recht zu füllen. So kam es zu einer Asymmetrie zwischen Deregulierung auf der nationalen und Reregulierung auf der europäischen Ebene … Auf nationaler Ebene regulieren Verfassungen die Herstellung politischer Entscheidungen, überlassen die Entscheidungen selber aber der Politik. Die zur Verfassung aufgewerteten europäischen Verträge treffen die Entscheidungen selbst. Sie sind voll von Regelungen, die im Mitgliedsstaat nur Gesetzesrang, also jederzeit mit einfacher Mehrheit geändert werden könnten. Was in der Verfassung steht, ist aber dem politischen Prozess entzogen. Die Entscheidungen von Kommission und Gerichtshof sind folglich unangreifbar. Die demokratisch legitimierten Instanzen Rat und Parlament können nichts dagegen ausrichten. Eine Aufwertung des Parlaments ließe dieses Problem völlig unberührt. Die einzige Korrekturmöglichkeit bestünde in einer Änderung der Verträge, aber das ist wegen der Einstimmigkeitserfordernisse unter den 28 Mitgliedsstaaten so gut wie aussichtslos … Da die Verträge nun einmal in Verfassungsrang erhoben sind, müssten sie auch wie eine Verfassung Gestaltet sein. Sie müssten sich auf die Zwecke, die Organe, die Kompetenzen, die Verfahren der EU und die Unionsgrundrechte beschränken. Alles andere müsste auf die Ebene des einfachen Rechts herabgestuft werden – und damit zur Repolitisierung offen stehen.“ Dieter Grimm, Von Putsch kann keine Rede sein. Wird Europas Legitimation größer, wenn das europäische Parla-

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ment mächtiger wird? Im Gegenteil! Ein Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Dieter Grimm. In: DIE ZEIT, Nr. 27, Juni 2014. Zweifellos gilt mit Blick auf die EU, „dass der Aufbau einer echten Wirtschaftsunion die Voraussetzung für eine vertiefte politische Union und für eine effizientere Mitwirkung auf der internationalen Bühne ist“ Vgl. Mario Telò, Regionalismus, Globalisierung und die Rolle der EU. In: Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, 1/​2, Bonn 2015. S. 53. Aber ohne Reform der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung und ohne eine gekonnte Regulation des Kapitalismus wird diese Wirtschaftsunion weiter von Krisen geschüttelt werden und Möglichkeiten der Mitgestaltung globaler Ordnung kaum hinreichend wahrnehmen können. 19) Denn „bei der globalen Expansion des Kapitalismus handelt es sich nämlich (…) nicht um einen evolutionären Rationalisierungsfortschritt, sondern um die landnehmende Anverwandlung des sozialen Lebens an die ‚Sachzwänge‘ grenzenloser Kapitalakkumulation – einen gesellschaftsfressenden Prozess, der der sozialen Eindämmung bedarf, die aber auf sehr lange Sicht allenfalls auf lokaler, partikularer Ebene geleistet werden kann.“ Streek, ebd. 20) Christian Lutz hat diese Vielfalt sich überlappender gesellschaftlicher Netzwerke in seinem Szenario „Leben und Arbeiten in der Zukunft“ am Beispiel des Schweizer Kantons Basel Stadt illustriert: „Er ist Mitglied einer der zwölf Schweizer Kantonszusammenschlüsse, die je einen Vertreter in den EU-Regionalrat entsenden. Mit Basel-Land, dem Elsass und Baden Württemberg zusammen bildet er die Regio Basiliensis. Diese gehört dem Rat der Alpenregionen an, in dem die ost- und südostfranzösischen, die norditalienischen, die süddeutschen und die österreichischen Länder sowie Slowenien und Kroatien vertreten sind; es handelt sich um den politisch und wirtschaftlich stärksten europäischen Regionalverbund. Außerdem hat Basel-Stadt gemeinsam mit den schweizerischen, deutschen und elsässischen Nachbarstädten einen kommunalen Agglomerationsverbund aufgebaut. Zusammen mit 20 weiteren größeren Städten in ganz Europa ist dieser Mitglied des Verbundes der EIA-Pilotstädte (EIA= europäischer Informationsraum), und ähnliche Verbünde sind gerade im Bereich der Entwicklung und Erprobung neuer Entsorgungs- und Transportkonzepte im Aufbau begriffen.“ Christian Lutz, Leben und Arbeiten in der Zukunft. München 1995. Ders., Diskussionsbeitrag zur 6. Gesprächsrunde des 1. Zyklus der Kempfenhausener Gespräche: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Januar 1995. 2011. 21) „Was die gleichmacherischen Nationalisten des 19. Jahrhunderts am Reich verachteten, der Flickenteppich von König- und Fürstentümern. Markgrafschaften, freien Reichsstädten, Hochstiften und Reichsabteien, das Durch- und Nebeneinander von katholisch-geistlichen Adelsrepubliken, protestantischen Stadtrepubliken, mehr oder weniger absolutistisch und mehr oder weniger aufgeklärt regierten Flächenstaaten, von Ständeversammlungen und Stadtparlamenten, erworbenen Rechten und überkommenen Pflichten, Freiheiten und Abhängigkeiten  –  kurz die verwirrende Vielfalt gelebter Subsidiarität, die jedes Durchregieren erschwerte: genau das macht die Stärke des Reichs aus … Und zu den finstersten Kapiteln europäischer Geschichte, gehören die Versuche, diese Unschärferelation aufzuheben, die ‚fuzzy logic‘ des Imperiums zu ersetzen durch die binäre Logik des Nationalstaats: Wir oder sie, Zugehörigkeit oder Fremdsein, Unterordnung oder Unterdrückung, rein oder raus.“ Posener, a.a.O., S. 111/​ 117. Vgl. auch Michael Wolfsohns Plädoyer für Europa als Konföderation föderaler Staaten. In: Ders., Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München 2015. 22)

Vgl. Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt/​Main 2011. Im Rahmen einer grundsätzlichen Ausrichtung auf Souveränitätstransfer und Demokratisierung Europas könnte dann eine „faktische Vergemeinschaftung der Politik“ (Joschka Fischer) im Sinne einer gemeinsamen Problembearbeitung, Willensbildung und Entscheidung der (demokratisch gewählten) Regierungschefs der Euro-Länder in Kombination mit einer Versammlung der Führungsleute und Fraktonsvorsitzenden aus den nationalen Parlamenten als eine Übergangsform in Richtung auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ (Joschka Fischer) akzeptiert werden. Denkbar ist auch, dass intergouvernemental getroffene Schritte einer differenzierten Koordination der Politik (z. B. der Haushaltspolitiken) unter Kernländern der Euro-Gruppe (z. B. zwischen Deutschland und Frankreich) eine Art Sogeffekt auf andere Mitglieder ausüben.

23)

„Der notwendige Minimalkonsens der Bürger einer politischen Union Europas kann kaum etwas anderes sein als die begründete Überzeugung, einer Ordnung anzugehören, die jedem Individuum, aber auch jeder Gemeinschaft – im Rahmen gesetzlicher Grenzen – freie Entfaltung und aktive Mitbestimmung am Ganzen erlaubt. Die aus solcher Überzeugung erwachsende Gesinnung kann man – analog zu der in einem nicht mehr ethnisch-kulturell homogenen Einzelstaat – „Verfassungspatriotismus“ oder besser noch „demokratischen Patriotismus“ nennen. Voraussetzung für die Entwicklung eines solchen Bewußtseins wäre die Erkenntnis, dass die größere politische Einheit – über die rechtsstaatlichen Sicherungen der Menschen- und Bürgerrechte durch die Einzelstaaten hinaus – jedem Einzelnen zusätzliche Garantien verschafft. Kleinere Gemeinschaften kennen den informellen, aber deshalb nicht weniger beschränkenden Konformitätszwang, vor dem allein eine feste Rechtsordnung mit Freiheitsgarantien bewahren kann. Insofern ist die Emanzipation des Individuums im neuzeitlichen Rechtsstaat eine nicht aufzugebende und zu festigende Errungenschaft. Ansätze zu einem solchen – über die einzelstaatlichen Gewährleistungen hinausreichenden – Schutz der individuellen Freiheitssphäre durch den Europäischen Gerichtshof gibt es schon jetzt. In dem Maße, in dem das Bewußtsein dieser zusätzlichen Absicherung durch die Erfahrung bestätigt wird, könnte ein wichtiger Beitrag zu einem europäischen politischen „Gemeinschaftsbewußtseins“ entstehen. Ebenso notwendig wäre die Erkenntnis (und die Erfahrung), dass die Europäische Union auch dem Eigenrecht und der Eigenart kultureller, ethnischer, religiöser, sonstiger Gemeinschaften ihren Schutz angedeihen läßt. Hier könnte ihre Rolle sogar nicht nur ergänzend, sondern auch korrigierend dem Verhalten der Regierungen (und Gesetzgeber) der Mitgliedsstaaten zur Seite (oder auch entgegen) treten. Regionale Gemeinschaften, deren traditionelle Lebensweisen durch die Dynamik der modernen Wirtschaft und Industrie bedroht werden, bedürfen einer gewissen – mit dem Interesse des Ganzen zu vermittelnden – Schonung, eventuell auch bewußter Förderung, damit aus Verletzungen keine Ressentiments entstehen und der Zusammenhalt bedroht wird. Wenn derartige Gemeinschaften, deren Bedeutung für das Wohlbefinden der Individuen die Kommunitaristen wieder ins Bewußtsein gehoben haben, ihre Absicherung und Förderung durch die EU erfahren, könnten auch gerade sie zu Trägern eines – über die Einzelstaaten

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hinausgehenden – politischen Zusammengehörigkeitsbewußtseins werden … Das Subsidiaritätsprinzip kommt hier auf scheinbar paradoxe Weise zum Tragen, indem die größte politische Organisation dafür sorgt, dass die zwei Stufen „darunter“ liegenden genügend Autonomie gegenüber den Einzelstaaten erhalten (oder behalten) … Die Stärkung der europäischen Einheit würde von der Stärkung kleinräumiger, relativ autonomer Einheiten begleitet und bestärkt … Diese beiden Einwirkungen von Seiten der Europäischen Gemeinschaft (oder Union) stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Die partikularen Gemeinschaften, die geschützt und eventuell auch gefördert werden sollen, dürfen „nach innen“, gegenüber ihren Mitgliedern, nicht intolerant und repressiv sein. Ihre Offenheit sowohl für Abgänge wie für Zugänge wird durch das individuelle Menschenrecht garantiert und darf von diesen Gemeinschaften nicht verletzt werden. Was so entsteht, könnte man eine europäische Zivilgesellschaft nennen. Sie ist aber – im Unterschied zu dem Konzept der Zivilgesellschaft, das in den ehemals „real existierenden sozialistischen Staaten“ entwickelt wurde – nicht gegen die politische Organisation gerichtet, sondern umgekehrt auf nachhaltige Hilfe durch die politischen Institutionen der Europäischen Gemeinschaft angewiesen.“ Iring Fetscher, a.a.O. 24) Der Senat könnte auch das „Übergewicht der großen Mitgliedsstaaten im europäischen Parlament ausgleichen, indem er, wie der amerikanische Senat, jedem regionalen Teilstaat, ganz gleich, wieviel Einwohner er hat, nur zwei Senatoren zubilligt.“ Iring Fetscher, a.a.O. 25) „Dabei wäre derzeit nichts notwendiger als die Willkür der Staaten durch international anerkannte legitime Gegenmächte zu begrenzen. Ich möchte daher vorschlagen, durch die Festschreibung eines Gastfreundschaftsrechts über diese Texte hinauszugehen. Es würde die Umherirrenden (und die ihnen zu Hilfe kommenden) in die Lage versetzen, den „souveränen“ Staat zu verpflichten, ihre Würde und Sicherheit nicht mehr wie heute mit Füßen zu treten … Das leitende Prinzip bestünde darin, dass die Umherirrenden in den Genuss eines Rechtschutzes kommen, der auch gegen staatliche Gesetze und Regulierungen wirksam ist…Hier geht es nicht darum, das Umherirren der Migranten und Asylsuchenden per Gesetz zu beenden; es geht auch nicht um eine Beseitigung der Ursachen, die zu ihrer Flucht geführt haben. Vielmehr soll verhindert werden, dass Staaten den Exodus unter dem Vorwand von Sachzwängen in einen Prozess der Aussonderung oder gar der Eliminierung münden lassen.“ Etienne Balibar, Für ein Recht der Gastfreundschaft. Die Menschenrechte müssen neu interpretiert werden: Wir sind es den Umherirrenden schuldig, dass wir sie nicht als Feinde behandeln. In: DIE ZEIT, Nr. 37, September 2018. 26) Vgl. Aladin EL-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln 2018. Dazu auch detailliert: Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. München 2014. 27)

Vgl. Beth Noveck, Smart Citizens, Smarter State: The Technologies of Expertise and the Future of Government. Harvard 2015. Die Analysen und Vorschläge, Initiativen und Projekte von Beth Noveck sind auch deshalb produktiv und weiterführend, weil sie auf eine digital gestützte „Verzahnung“ von Zivilgesellschaft und Regierung und ihre organisatorische Verstetigung zielen. Wenn überhaupt so eröffnet wohl diese Verzahnung Chancen einer Reform und Transformation der westlichen Gesellschaft, die wohl kaum von der etablierten Politik oder von der Zivilgesellschaft alleine eingeleitet werden können. Letztere spielt zwar eine wichtige Rolle für Erhalt und Ausdifferenzierung von Staat, Demokratie und politischer Steuerung, kann diese aber nicht ersetzen. Politische Entscheidung und Steuerung werden aller Voraussicht nach „auch in Zukunft von der Vorformung durch verlässliche Organisationen“ abhängig bleiben. Udo Di Fabio, Ein großes Wort. Verantwortung als Verfassungsprinzip. In: FAZ, 2. Mai 2002. „Subpolitik“ und „Politik der Lebensführung“ (Ulrich Beck) sowie die „erfinderische Politik“ der „gescheiten Leute“ (Antony Giddens) sind wichtige Beiträge zur politischen Steuerung und Selbstorganisation westlicher Kultur, können hier aber nicht Staatlichkeit und demokratische Institutionen ersetzen. Vgl. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale Subpolitik. Wien 1997. Vgl. auch Antony Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie. Frankfurt/​Main 1997. Vgl. Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter. Frankfurt/​Main 1998: Albrow beschreibt eine Entkoppelung des Staats vom Territorium, er wird „dezentriert“, existiert nur noch als „globale Sphäre sinnvoller Handlungen“ (S. 105), angelegt in neuen sozialen Bewegungen: „Der performative Weltbürger handelt nicht aufgrund einer ihm gesetzlich auferlegten Pflicht, sondern aufgrund seiner persönlichen Einstellung und eines freiwilligen Engagements. Daher bestimmen auch freiwillige Aktivitäten und nicht aufgezwungene Strukturen die Formen des globalen Staates.“ (S. 277). Nach Albrow kommen die Bürger zu diesem Engagement aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit drohender Entmündigung und Kolonialisierung der Lebenswelt.

28) Zu den neuen plebiszitären Elementen zählen – nach Werner Patzelt – der Volksantrag, kraft dessen „das Volk seine Repräsentanten zwingen (kann), sich mit Problemen zu befassen, die sie bislang nicht aufgreifen wollen“, eine „üblicherweise dreistufige – von der Volksinitiative über das Volksbegehren bis zu Volksentscheid reichende – Volksgesetzgebung“, die „eine Steigerung des Volksantrags zu einer Vorgabe der politischen Richtung“ darstellt sowie das „fakultative Gesetzesreferendum“, das ermöglicht, „ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu korrigieren oder abzuschaffen. Die Wirkung dieses Instruments ginge dahin, dass Gesetze fortan nicht nur ‚verfassungsgerichtssicher‘, sondern auch ‚referendumssicher‘ sein müssten.“ Ferner gehören zu Patzelts Vorschlägen die Einrichtung eines „obligatorischen Referendums“ mit Blick auf einen in der Verfassung zu verankernden „Katalog von Themen, die dem Volk so wichtig sind, dass es vor entsprechenden Entscheidungen gefragt werden müsste“, sowie schließlich die Möglichkeit der „Auflösung des Parlaments“ und die Anordnung von Neuwahlen. „Mit diesem Instrument – das idealerweise dank seiner erheblichen Vorauswirkung gar nicht erst in die Hand genommen werden müsste – könnte auch eine Parlamentsmehrheit zum Tätigwerden gezwungen werden, die vom eindeutig artikulierten Mehrheitswillen der Repräsentierten abweicht.“ Um „plebiszitäre Elemente mit einer repräsentativen Demokratie systemverträglich zu verbinden“, müssten Patzelt folgend „sinnvolle Antrags‑, Beteiligungs‑ und Zustimmungsquoten festgelegt werden.“ Zu Recht weist Patzelt mit Bezug auf die Schweiz als Beispiel darauf hin, dass es nicht zutrifft, „dass plebiszitäre Instrumente immer nur Populismus und Demagogie entfesselten oder gar nicht anders könnten, als eine inkonsistente Politik herbeizuführen. Gegen beides ist übrigens auch

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der Parteienwettbewerb vor und nach Parlamentswahlen nicht gefeit – ohne dass ihn deshalb jemand beseitigen wollte.“ Heute sind mit dem Internet und den Möglichkeiten der Online-Petition, „Abgeordneten-Watch“ (Gregor Hackmack) u. a. bereits funktionierende Instrumente der Wirkung von „unten nach oben“ gegeben. Werner J. Patzelt, Die Stimme des Volkes. In: FAZ, Nr. 128, Juni 2011. 29) Vgl. Fritz Scharpf, Politische Konsequenzen der Globalisierung für Europa. Vortrag zum 1.  Kempfenhausener Gespräch: Globalisierung der Wirtschaft und gesellschaftlicher Strukturwandel. Chancen und Risiken für Deutschland und Europa. 2. Gesprächszyklus: Strukturwandel der Arbeitswelt: Entwicklungschancen für Mensch und Gesellschaft. Oktober 1996. 30)

Dieter Schmidt, Die Consultative. Beitrag zum 6. Kempfenhausener Gespräch, 1. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Januar 1995. Ein ähnlicher Vorschlag kommt von dem britischen Soziologen Harry Collins: „Er regt die Einrichtung eines ‚Komitees der Eulen‘ (The Owls) an, um politische Entscheidungsträger in komplexen Streitfragen schnell mit knappen, aussagekräftigen Berichten zu versorgen. Der Name ist Programm, weil Eulen ihren Kopf um 180 Grad drehen, also quasi in alle Richtungen schauen können. In einem solchen Eulenkomitee säßen Natur‑, Technik‑, Geistes- und Sozialwissenschaftler, die sowohl die technischen als auch die sozialen Aspekte eines wissenschaftlichen Themas ausleuchten können … Die Wissenschaftler würden damit keine politischen Entscheidungen vorwegnehmen … Ein solches Komitee würde den Wert von Wissenschaft betonen, ohne offene Forschungsfragen zu kaschieren.“ Reinhard Hüttl, Volker Stollorz, Wie man Wissen zugänglich macht. In: DIE ZEIT, Nr. 42, Oktober 2018.

31)

Eine „Consultative“ könnte die Arbeit der Enquete-Kommissionen verstetigen und wahrscheinlich bessere Resultate erzielen, als beispielsweise die Enquete-Kommission zur Neubestimmung von Wachstum. Wie schon angedeutet, könnte die „Consultative“ auch die Funktion einer „Informative“ mit Aufgaben der Organisation von Wissen und Wissenflüssen, von Orientierungen und Anwendungen in und über Europa übernehmen.

32) Vgl. Peter Finke, Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien. München 2014. 33)

Hierzu mehr bei David Van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Göttingen 2016. Ähnlich argumentiert Jason Brennan, der epistokratische Elemente probeweise in das Wahlsystem einführen will: z. B. 20000 Bürger nach dem Zufallsprinzip auswählen, ihnen Zeit für Information und Diskussion geben und sie dann wählen lassen. Das würde, nach Brennan, mehr Vernunft und Gerechtigkeit in die politische Willensbildung bringen als eine pure Umsetzung des allgemeinen Wahlrechts, die durch die Meinungen größtenteils uninformierter und desinteressierter Bürger geprägt ist. Jason Brennan, Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Berlin 2017.

34) Antony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt/​Main 1999. 35) Vor diesem Hintergrund ist es äußerst bedauerlich, dass Europa bislang nicht einmal daran arbeitet, eine Energieunion zustande zu bringen. Dazu gehören strafrechtliche Maßnahmen gegenüber Energiekonzernen, die nachweisbar die Bürger zum Thema Klimawandel belügen, (wie sie derzeit in den USA eingeleitet werden), ferner eine politische Regulation, die die weitere Erschließung fossiler Energiereserven verhindert bzw., streng limitiert und eine europaweite Initiative zum Rückzug von Investoren (Divestment) aus den Energiekonzernen. Diese Ziele verfolgt u. a. die von Bill McKibben gegründete Klimaschutzorganisation 350.org. Eine hervorragende Analyse und Programmatik für eine europäische Bürger-Energiewende bietet Claude Turmes, Die Energiewende. Eine Chance für Europa. München 2017. 36)

Vgl. Reinhard Loske, Wie weiter mit der Wachstumsfrage? Rangsdorf 2012. Vgl. auch Robert und Edward Skidelsky, Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. München 2013.

37) Vgl. Ingo Pies (Hrsg.), Die Tugenden des Marktes. Diskussionsmaterial zu einem Aufsatz von Luigino Bruni und Robert Sudgen. München 2017. Wenn ökonomische Praxis ein evolutionär ausdifferenzierter „Vollzug von Gesellschaft“ (Niklas Luhmann) ist, dann bedeutet dies, dass auch Wirtschaftsethik nicht neben der Ethik gesellschaftlichen Handelns als ein Sonderbereich existiert, sondern als ihre spezifische, evolutionäre Ausdifferenzierung und historische Entwicklung zu verstehen ist. In diesem Rahmen hat die Organisation wirtschaftlicher Leistung eine „Pflicht“ und eine „Kür“ zu leisten: zur „Pflicht“ gehören die Einfügung in die Ökologie und die Sicherung der materiellen und geistigen Lebensgrundlagen aller in einer Volkswirtschaft gegenwärtig und, so gut es geht, auch zukünftig lebenden Menschen. Demgegenüber gehören darüberhinausgehendes Wachstum, die Steigerung von Wohlstand und die leistungs- und wettbewerbsgestützte Differenzierung von Einkommen wie auch der Kapitalrendite zu einer (in ökologischen und kulturellen Grenzen) wünschenswerten „Kür“. 38)

Während Umweltzerstörungen, Krankheiten, Unfälle etc. durch ihre unternehmerische und marktförmige Bearbeitung zu einer Steigerung des BIP beitragen, können umgedreht Rückgänge des quantitativen Wirtschaftswachstums und des BIP – z. B. durch Entschleunigung und Schonung des Natur- und des Sozialkapitals – zum Anstieg des NWI führen. Vgl. Hans Diefenbacher, Roland Zieschank, Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt. Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt. München 2011. Vgl. auch Petra Pinzler, Gutes Leben, neu berechnet. Während der Finanzkrise ist Deutschland reicher geworden. Auch weil es die Umwelt geschont hat. In DIE ZEIT, Nr. 4, Januar 2013. Das gilt vermutlich für viele europäische Länder, in denen, wie in Deutschland, die Wachstumsraten des Sozialprodukts seit den siebziger Jahren kleiner werden.

39) Über den dringend gebotenen Abschied von der Kohle-Verstromung, eine Erhöhung der Anteile regenerativer Energien (Sonne, Wind, Wasser) und ihre Vernetzung hinaus muss eine ökologisch orientierte Energiepolitik auch die dezentrale Energieerzeugung und ‑versorgung, ihre dynamische Koppelung in einer Internetsteuerung der Energieflüsse („Energie-Internet“) ausbauen. Darüber hinaus sollten die Anteile einer Selbstversorgung der Städte mit landwirtschaftlichen Produkten („urban farming“) gezielt gefördert, erhöht und ausgebaut werden.

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40) Wolfgang Streek, a.a.O., S. 254. Vgl. auch Lisa Nienhaus, Die Südländer brauchen ihren eigenen Euro. Gespräch mit Allan Meltzer. In: FAZ, Nr. 46, November 2014. Vgl. auch Andreas Roedder, Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems. Frankfurt/​Main 2018. Hier wird auch die Möglichkeit eines vorübergehenden Austritts aus der Währungsgemeinschaft als Möglichkeit im Rahmeneiner „Integration unterschiedlicher Dichte“ befürwortet. Diese Flexibilität gehört zu einer „positiven Integration“ Europas (Vgl. Fazit). 41) Dazu ausführlich Bernhard A. Lietaer, Das Geld der Zukunft. Über die destruktive Wirkung des existierenden Geldsystems und die Entwicklung von Komplementärwährungen, 1999. 42) Vgl. Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus. Bielefeld 2009. Einige der folgenden Vorschläge sind dort detaillierter ausgeführt und begründet. 43)

Bert Rürup, Zukunft der Arbeit im Europa des 21. Jahrhunderts. Überarbeiteter Vortrag zum 6. Kempfenhausener Gespräch, 1. Gesprächszyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Mai 1995.

44) Peter Bofinger, Public Sector Credit Rating Agencies. More stable Financial Architecture. In: Re-defining the Global Economy, Dialogue on Globalisation, Occasional Papers, Friedrich Ebert Foundation. New York 2009. Zit. nach: Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann, a.a.O., S. 162. 45) Vgl. Jaques Delor, Henrik Enderlein, Wer Schulden macht, muss Macht abgeben. In: Die ZEIT, Nr. 51, Dezember 2012. Bedenkenswert ist auch der Vorschlag von Wolfgang Schäuble, den derzeitigen Rettungsschirm ESM in einen europäischen Währungsfonds umzubauen. 46) Vgl. Sebastian Dullien, Hansjörg Herr, Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus. Bielefeld 2009, S. 130 ff. 47) Darüber hinaus zeigen OECD-Studien, dass unbegrenzte Kreditexpansion seitens der Banken langfristiges Wachstum sogar eher dämpft statt fördert, wenn ein bestimmtes Niveau der Verschuldung von Unternehmen und Haushalten (ca. 150% des Bruttossozialprodukts) erreicht ist. Vor diesem Hintergrund werden derzeit (auch von Ökonomen) radikale Ansätze diskutiert, die Kreditfinanzierung der Wirtschaft zugunsten der Börsenfinanzierung zu reduzieren, Großbanken zu zerschlagen oder sogar den Banken das Recht auf Geldschöpfung in der Kreditvergabe zu entziehen und ihre Funktion auf die Vermittlung zwischen Geldbesitzern und Geldbedürftigen zu beschränken, sodass sie nur so viel (oder jedenfalls nicht wesentlich mehr) verleihen können, wie sie an Spareinlagen besitzen. 48) Vgl. Joseph Huber, Monetäre Modernisierung: Zur Zukunft der Geldordnung. Marburg 2011. Auf Hubers Überlegungen zur sog. Vollgeldreform, der zufolge Buchgeld nicht mehr von den Privatbanken, sondern nur noch von der Zentralbank geschöpft werden dürfte, bezieht sich auch der „Verein für monetäre Modernisierung“ in der Schweiz. Ähnliche Initiativen, die hier aber von der Regierung ausgehen, finden sich in Island. Vgl. Mark Schieritz, Frosti gegen das alte Geld. Ein isländischer Politiker will den Banken die Macht über die Währung nehmen. In: DIE ZEIT, Nr. 43, Oktober 2015. In diesem Sinne auch Peter Ulrich: „Der Finanzsektor sollte nicht mehr als eine privatwirtschaftliche Branche wie jede andere aufgefasst werden; vielmehr ist er im Wesentlichen als eine öffentliche Infrastruktur zur Versorgung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Geld, Kredit und Finanzdienstleistungen zu begreifen, so wie etwa die Energieversorgungs-, Kommunikations- oder Verkehrsinfrastruktur eines Landes. Das bedeutet keineswegs, dass die Banken verstaatlicht werden müssten, sondern nur, dass dem Staat (für die Volkswirtschaft) bzw. einer supranationalen Finanzbehörde (für die Weltwirtschaft) die Gewährleistungsverantwortung für das Funktionieren dieser Infrastruktur im Dienst der Allgemeinheit zu übertragen ist. Bestimmte Teilaufgaben können durchaus in Form von demokratisch legitimierten und kontrollierten Leistungsaufträgen an privatwirtschaftliche Akteure delegiert werden. Ein so verstandener Kapitalismus der Verantwortung bedeutet mehr als nur die Forderung nach mehr (Mit)verantwortung der Wirtschaftsakteure im Markt, nämlich eine bürgerrechtliche Verfassung der Marktwirtschaft. Eine dementsprechende Finanzmarktverfassung könnte den Anfang machen in der nächsten historischen Etappe der großen Transformation.“ Peter Ulrich, Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft. Bern–Wien–Stuttgart 1993. Demgegenüber vertritt der Ökonom Thomas Mayer eine entgegengesetzte neo-liberale Position, der zufolge jegliche staatliche Regulation abgeschafft werden sollte, sodass Geld zu einer Ware wird, die in vielfältigen, miteinander konkurrierenden Währungen von „privaten Institutionen“, auf dem Markt angeboten und gehandelt werden könnten. Vgl. Thomas Mayer, Die neue Ordnung des Geldes. München 2014. 49) Wenn wir, Bernhard Lietaer folgend, ihre Rechnungseinheit als „Terra“ bezeichnen, so könnte diese definiert sein „durch einen Standardwarenkorb von Gütern und Dienstleistungen, die im internationalen Handel besonders wichtig sind, und ihr relatives Gewicht in dem Warenkorb würde im Idealfall das Gewicht widerspiegeln, das sie im internationalen Handel haben.“ Bernhard Lietaer, a.a.O., S. 376 50)

Bernhard Lietaer, a.a.O., S. 386. Möglicherweise wäre die Bitcoin-Währung ein „Kandidat“ für eine solche Referenzwährung. Ihre Einführung und Koppelung mit negativem Zins würde allerdings wohl nur dann funktionieren und die gewünschten Effekte bringen, wenn sie mit einer weitgehenden Abschaffung des Bargelds, (das ansonsten ja Hortung ohne Gebühren ermöglicht), verbunden wäre.

51) Seitdem Banken stärker reguliert werden, sind erhebliche Anteile des Anlagevermögens in Schattenbanken geflossen, die die Regulationen umgehen können. Rund ein Viertel aller globalen Finanztransaktionen laufen heute bereits über Schattenbanken. Das entspricht etwa 67 Billionen (!) Dollar. Quelle: Marc Schieritz, Arne Sorn, Die dunkle Macht. In: DIE ZEIT, Nr. 48, November 2012.

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52) Dazu hat u. a. Peer Steinbrück seinerzeit Vorschläge gemacht. Demnach sollte europäische Politik in drei Bereichen handeln:

1. Regulierung der Finanzmärkte • Trennung der Banken, die Eigenhandelsgeschäfte und Investmentbanking praktizieren von solchen die Kredit- und Einlagengeschäfte machen • Nur letztere erhalten eine staatliche Bestandsgarantie und müssen die damit verbundenen Refinanzierungsvorteile an den staatlichen Garanten abführen • Handel von Derivaten und Rohstoffen nur über transparente Handelsplattformen • Verbot des spekulativen Handels mit Kreditversicherungsscheinen, sofern sich die unterlegten Anlagen wie etwa Staatsanleihen nicht im Eigentum des Erwerbers der Kreditversicherungsscheine befinden • Verbot von Warentermingeschäften zwischen Finanzinstitutionen, wenn diese keinen Bezug zu konkreten realwirtschaftlichen Warentransaktionen haben • Der physische Rohstofferwerb und die Lagerung von Rohstoffen durch Finanzdienstleister wird verboten • Ein Teil des Handelsgewinns von Finanzinstituten wird mit einer Umsatzsteuer, der sog. „Finanzmarktstransaktionssteuer“ belegt • Unbestellte Ratings, insbesondere über Staaten, die sich im Programm der Rettungsschirme EFSF/​ESM bewegen, werden EU-weit verboten und sanktioniert



2. Rahmenbedingungen für die Rekapitalisierung von Banken • Einheitliche europäische Lösung, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden • Rekapitalisierung mit öffentlichem Geld muss mit öffentlicher Kontrolle, Regulierung und Aufsicht (incl. der Gehälter der Manager) verbunden werden • Für den Einsatz von öffentlichem Geld muss der Staat Anteile bekommen • Ausschüttungsverbot von Dividenden zugunsten der Aufstockung von Eigenkapital



3. Änderung der europäischen Verträge mit Blick auf eine vertiefte Integration, insbesondere mit Bezug auf Artikel 146 des Grundgesetzes.



Quelle: Peer Steinbrück, Besser spät als nie. In: DIE ZEIT, Nr. 45, November 2011.

53) Vgl. Robert J. Shiller, Märkte für Menschen. So schaffen wir ein besseres Finanzsystem. Frankfurt/​Main 2012. Vgl. auch die Gründung der Bürgerbewegung Finanzwende durch den Grünenpolitiker Gerhard Schick. 54) „Boomt die Wirtschaft in einem Land, so fließt mehr Geld ab nach Brüssel und von dort in Länder mit schwächerer Konjunktur. Im Boomland wird die Konjunktur gebremst, im Stagnationsland angekurbelt. Zudem würde verhindert, dass einzelne Länder in Phasen schwachen Wachstums, wenn die öffentlichen Haushalte unter Finanzdruck stehen, ihre Arbeitslosenabsicherung zurückschneiden – was den Abschwung verstärken und verlängern kann.“ Dullien u. a., a.a.O., S. 194. In ähnliche Richtung geht der Vorschlag von Jaques Delor und Henrik Enderlein, einen europäischen Versicherungsfond gegen zu starke Konjunkturschwankungen einzurichten. 55) „Die wachsende Zahl der Teilzeitarbeitsplätze und die der neuen Selbständigen werden zu Dysfunktionalitäten der lohnzentrierten sozialen Alterssicherungssysteme führen, da eine Rente aus einem Teilzeitarbeitspatz nicht die angestrebte Lohnersatzfunktion erfüllen kann und die „neuen“ Selbständigen in Ermangelung ihrer Beitragspflichtigkeit nur in seltenen Fällen ausreichende Ansprüche erwerben dürften. Altersarmut wird daher in Zukunft keine Domäne alleinstehender Frauen ohne eigene Erwerbsbiographie bleiben. Eine politische Antwort kann in einer steuerfinanzierten, bedarfsorientierten Grundsicherung bestehen.“ Bert Rürup, Zukunft der Arbeit im Europa des 21. Jahrhunderts. Vortrag zum 6. Kempfenhausener Gespräch, 1. Gesprächszyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 1995. An Stelle des Grundeinkommens oder auch darüber hinaus können teils durch Staatsfonds, teils über Steuern finanzierte Gratisleitungen treten wie z. B. Reise‑, Bildungs‑, Gesundheits‑, Pflegegutscheine u. a. Vgl. Mark Schieritz, Wir brauchen Utopien für den Kapitalismus. Was könnte ein sehr reicher Staat mit seinem Geld tun? Er sollte seinen Bürgern einen Freifahrtschein für Reisen und Bildung schenken. Damit ließen sich viele gesellschaftliche Probleme lösen. In: DIE ZEIT, Nr. 1, Dezember 2017. 56) Vgl. Empfehlungen des deutschen Sachverständigenrats für wirtschaftliche Entwicklung, 2013. 57) Im Unterschied zu Privatpersonen sind Staaten befähigt und auch legitimiert, ggfs. ihre Schuldendienste zu reduzieren und ihren Gläubigern Verzichte aufzuerlegen. „Dass es nur recht und billig ist, dass alle Schuldner immer ihre Schulden bezahlen, ist ein Mythos, der dazu dient, globale Finanzmärkte unter Inanspruchnahme der Moralität des Alltagslebens zu moralisieren und Opposition gegen ihre Forderungen als unmoralisch erscheinen zu lassen. Dass Staaten anders als Privatpersonen ihren Gläubigern eine Umschuldung auferlegen oder gar ihre Zahlungen ganz einstellen können, ergibt sich aber schlechthin aus ihrer Souveränität … Demokratien sind zuallererst ihren Bürgern verpflichtet; sie können Gesetze machen, die Verträge lösen; wer ihnen Geld leiht, kann und muss das wissen.“ Streek, a.a.O., S. 221. Dabei könnte die Reduktion staatlicher Schuldendienste, der Argumentation von Sahra Wagenknecht folgend, sich auf Gläubiger mit großen Vermögen beschränken und solche mit geringem Vermögen davon ausschließen. Vgl. Sahra Wagenknecht, Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Frankfurt/​Main 2016. 58)

Ulrich Schäfer, Die Ungleichheitssteuer. In: SZ, Nr. 239, 16. Oktober 2013 Vgl. Robert Shiller, Märkte für Menschen. So schaffen wir ein besseres Finanzsystem. Frankfurt/​Main–New York 2012.

59) Vgl. hierzu u. a. Bernd Rürup, Zukunft der Arbeit im Europa des 21. Jahrhunderts. Vortrag zum 6. Kempfenhausener Gespräch, 1. Gesprächszyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 1995.

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60) Vgl. Richard Wilkinson, Kate Pickett, Gleichheit ist Glück, Haffmanns, 2012. 61) Gesetzliche Mindestlöhne sollten einer Person einen Lebensstandard erlauben, der „die angemessene Teilnahme am sozialen Leben der Gesellschaft erlaubt.“ Dullien u. a., a.a.O., S., 205. Da in den letzten 20 Jahren die Durchschnittslöhne in Ländern wie den USA, Großbritannien und Frankreich anderthalbmal bis doppelt so stark wie in Deutschland gestiegen sind, sollten diese auch in Deutschland deutlich angehoben werden – auch um hier mehr inländische Kaufkraft zu erzeugen, die helfen würde, Deutschlands Exportüberschuss zu reduzieren. 62) Dullien u. a., a.a.O,. S. 214/​215. Ferner wäre eine europäische Niedriglohnkommission sinnvoll, die von europäischen Gewerkschaftern und Mitgliedern der Arbeitgeberverbände besetzt sein und einen jährlichen Bericht über die Entwicklung der Mindestlöhne sowie Empfehlungen über ihre weitere Ausgestaltung vorlegen sollte. 63) Ansätze zu einer sozial und ökologisch orientierten Neufassung des Unternehmensrechts finden sich derzeit in der wirtschaftspolitischen Strategie von Emmanuel Macron, der den bis heute in Frankreich geltenden Artikel 1833 des Code Napoleon entsprechend erweitern will. Siehe Georg Blume, Dann halt wie Napoleon. In: DIE ZEIT, Nr. 14, März 2018. Beispiel einer ähnlich orientierten praktischen Umsetzung ist Christian Felbers alternatives Wirtschaftsmodell, das heute schon von zahlreichen Unternehmen, Organisationen und Institutionen genutzt sowie in Schulen und Universitäten weiterentwickelt wird. Vgl. Christian Felber, Kooperation statt Konkurrenz – 10 Schritte aus der Krise. 2009. Ders., Die Gemeinwohl-Ökonomie – Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. 2010. Ders. (Hrsg.), Wir bauen Europa neu – Wer baut mit? Alternativen für eine demokratische, soziale, ökologische und friedliche EU. 2009. Ders., Ethischer Welthandel. Wien 2017. 64) Vgl. Björn Bloching, Lars Luck, Thomas Ramge, Data Unser. München 2012. 65) Vgl. Leo A. Nefiodow, Die großen neuen Märkte des 21. Jahrhunderts – Psychosoziale Gesundheit als neuer Antrieb für Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Entwicklung. Vortrag zum 3.  Kempfenhausener Gespräch, 2.  Zyklus: Strukturwandel der Arbeitswelt. Entwicklungschancen für Mensch und Gesellschaft? Publikation der Bayerischen Hypobank. Oktober 1997. Zu den Beispielen für Sozialunternehmen, die im zweifachen Sinn von sozialer Effizienz und Rendite erfolgreich sind, gehören Micro-Versicherungen und Social Impact Bonds in Bereichen Sozial‑, Jugendarbeit, Gefangenenresozialisierung und Gesundheitsversorgung. Vgl. Felix Stephan, Der gute Geist des Geldes. In: SZ, Nr. 211, September 2014. Vgl. auch Joachim Wille, Häftlinge als Geldanlage. Neue Finanzprodukte bieten Investments in soziale Projekte – das ist hip und oft lukrativ. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 266, November 2014. Einen weiteren beeindruckenden Beitrag leistet die europäische Slow Food-Bewegung mit ihrer Beschaffung landwirtschaftlicher Nutzflächen in Afrika, die dann von Familien, Schulklassen und Bauerngenossenschaften bestellt werden können. Vgl. Ulrike Sauer, Gärten für Afrika. In: SZ, Nr. 255, November 2014. Hierzu gehört beispielsweise auch das Bemühen um Erhalt der genetischen Vielfalt von Kulturpflanzen als Zukunftsressource im Rahmen von Agrargenossenschaften. Vgl. Konrad Hagedorn, Agrargenossenschaften. Berlin, Inst. für Genossenschaftswesen, 1998. 66) Vgl. Studie des Bundesamts für Naturschutz, Dezember 2012, die mit Blick auf den Erhalt von Biodiversität eine Ökologisierung der europäischen gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) im Zeitraum bis 2020 als zwingend notwendig empfiehlt. Hier können beispielsweise der Einsatz satellitengespeister Unkrauterkennungssoftware, die Mechanisierung und Robotisierung der Unkrautbekämpfung und der Anbau gentechnisch resistent gemachter Pflanzen, von Mischsaaten und längeren Fruchtfolgen den Einsatz von Pestiziden, Pflanzenschutzgiften aller Art (z. B. Glyphosat) und Nervengiften (Neonics) deutlich reduzieren bis nahezu überflüssig machen. Urban farming in Gewächshäusern kann Ackergifte vollkommen überflüssig machen. 67) Claudia Kemfert, Kampf um Strom. Mythen, Macht und Monopole. Hamburg 2013. In Zukunft sollte die Energiewende durch eine „Chemie-Wende“ (Hermann Fischer) ergänzt werden, um weniger fossiles Öl und mehr pflanzliche Vielfalt für die Herstellung von Grundstoffen (Fasern, Öle, Harze) zu nutzen. Hermann Fischer, Stoff-Wechsel, Auf dem Weg zu einer solaren Chemie für das 21. Jahrhundert. München 2012. 68) Vgl. hierzu: Joachim Rossbroich, Wie wollen wir in Zukunft leben und arbeiten? Vortrag zur Tagung der evangelischen Akademie Tutzing 1999. Publiziert in: Evangelischer Pressedienst Nr. 35, 1999. Ders., Die Kultur als Entwicklungsabteilung der Gesellschaft. In: Andreas Grosz, Daniel Delhaes, Die Kultur AG. Neue Allianzen zwischen Wirtschaft und Kultur. München– Wien 1999. Ders., Auf dem Weg in die Tätigkeitsgesellschaft. In: Psychologie Heute, Heft 3, 1999. Ders., Tätigkeitsgesellschaft – utopische Spinnerei oder realistische Chance für ein menschenwürdiges Zusammenleben. Vortrag zur Tagung der evangelischen Akademie Meißen, 5.–7. Mai 2000. Ders., Wissensgesellschaft und Individualisierung – Wo liegen die Chancen für neue Solidarität? Vortrag zur Tagung: „Wandel in Gegenwart und Zukunft – Herausforderungen und Perspektiven“, Aktion Gemeinsinn und Landeszentrale für politische Bildung. Thüringen 5.–7. Juni 2001. Ders., Das Konzept der Tätigkeitsgesellschaft – eine Antwort auf Die Spaltungen der Wissensökonomie? Vortrag zum Münchner Wissenschaftsforum, 24. Juni 2001. 69) Vgl. Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt. Mohr, Tübingen 1999. Dies., Gemeingütermanagement – eine Perspektive für bürgerschaftliches Engagement In: Silke Helfrich /​Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter. München 2009. Dies., Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter. München 2011. Vgl. auch Christian Felbers alternatives Wirtschaftsmodell, das heute schon von zahlreichen Unternehmen, Organisationen und Institutionen genutzt sowie in Schulen und Universitäten weiterentwickelt wird. Vgl. Christian Felber, Kooperation statt Konkurrenz – 10 Schritte aus der Krise. 2009. Ders., Die Gemeinwohl-Ökonomie – Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. 2010. Ders. (Hrsg.), Wir bauen Europa neu – Wer baut mit? Alternativen für eine demokratische, soziale, ökologische und friedliche EU. 2009. Ders., Ethischer Welthandel. Wien 2017.

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70)

Vgl. Jaron Lanier Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht. Berlin 2010. Vgl. auch Frithjof Bergmann, Projekte „neuer Arbeit“. Vortrag zum 3. Kempfenhausener Gespräch, 2. Zyklus: Strukturwandel der Arbeitswelt. Entwicklungschancen für Mensch und Gesellschaft? Publikation der Bayerischen Hypobank. Oktober 1997. Frithjof Bergmanns Projekte zur „Neuen Arbeit“ in den USA haben in gewisser Weise Symbiosen zwischen Markt- und Netzwerkwirtschaft geschaffen und Erwerbsarbeit, Tätigkeit, Entfaltung und Bildung der Menschen in eine neue Beziehung gesetzt. Diese Kooperation zwischen Staat, Wirtschaft, Kirchen und selbstorganisierten Bürgerinitiativen kann auch dazu beitragen, eine Aufblähung des öffentlichen Sektors, in dem Einkommen nicht über Märkte generiert, sondern durch den Staat finanziert wird, zu vermeiden. Dem kommt entgegen, dass sich in wachsenden Bevölkerungsanteilen eine Erweiterung dessen anbahnt, was unter „Leistung“ zu verstehen ist: Nämlich nicht länger nur Erwerbsarbeit, sondern auch Hausarbeit, Kindererziehung, Altenpflege, Bürgerengagement und Kulturinitiativen vieler Art. Im Zuge dieser Erweiterung dessen, was unter sinnvoller Arbeit und Leistung zu verstehen ist, die der Gesellschaft als Ganzes zugutekommt, könnte sich die Entstehung einer mehr lebens- und kulturverträglichen „Netzwerkökonomie“ anbahnen, die die Marktökonomie ergänzen und einige ihrer Zumutungen und destruktiven Folgen kompensieren könnte. Diesen Bestrebungen kann vielleicht auch die derzeitige Verbreitung einer internetgestützten „sharing economy“ entgegenkommen, „die sich weg vom reinen Diktat des Eigentums bewegt und Teilen über Besitzen stellt“ (Jeremy Rifkin) – wobei allerdings derzeit der digitale Informations- und „Plattform-Kapitalismus“ (Sascha Lobo) auch das „sharing“ unter seine Regie nimmt und in neuen Geschäftsmodellen ausbaut. Vor diesem Hintergrund bleibt skeptisch abzuwarten, ob Rifkins Prognose zutrifft, dass sich hier – in Verbindung mit Grenzkostenreduktion und Individualisierung moderner Produktion (3D-Drucker) – der Kapitalismus in the long run selbst abschafft. Vgl. ders., Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Frankfurt/​ Main 2014. Als vielversprechend in diesem Zusammenhang könnte sich die weitere Entwicklung der Block Chain – Technologie erweisen, sofern diese über dezentrale Vernetzung von Kunden und Anbietern in einem Web 3.0 nicht nur viele kommerzielle Internetplattformen (wie z. B. Uber oder airbnb ) überflüssig machen und ihre Gewinnquellen, den Daten- und Informationskapitalismus erheblich einschränken könnte, sondern auch im Bereich der politischen Willensbildung zur Demokratisierung beitragen würde, indem sie auf allen kommunalen, regionalen, nationalen und transnationalen Ebenen Abstimmungen der Bürger ermöglicht.

71) Aus dieser Sicht sollte, wie schon gesagt, die Möglichkeit bestehen, aus einem existierenden Währungsverbund (vorübergehend) auszusteigen und/​oder transnationale Währungen durch nationale und regionale Währungen zu ergänzen. 72) Eine ausführliche Darstellung dieser Vorteile findet sich bei Bernhard Lietaer, a.a.O. 73) Zur Anzahl, Verbreitung und zu den spezifischen Ausprägungen und Leistungen dieser Komplementärwährungen siehe ebenfalls Bernhard Lietaer, a.a.O. 74)

Vgl. Christian Lutz, Leben und Arbeiten in der Zukunft. München1995. Vgl. auch Victor Mayer-Schönberger, Thomas Range, Das Digital. Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus. Berlin 2017.

75)

Soziale Folgen industriellen Strukturwandels können z. B. über Modelle „Bildung als Arbeit“ aufgefangen werden und neue Beschäftigungsmöglichkeiten können entstehen. „Ich will als Beispiel nur mal die sogenannten „regions of declining industries“ nennen, also ganz dramatisch die Region Wales … Ein Wirtschaftszweig, der dort völlig dominant war, ist zusammengebrochen. Es gab bei der männlichen Bevölkerung dort eine Arbeitslosigkeit von über 90%. Und was nun interessant ist: aus dieser Region kommen überhaupt keine Migranten in die Zentren Europas, während es in anderen Regionen passiert ist. Da kann man untersuchen: warum eigentlich nicht? Unter anderem ist es gelungen, in dieser Region von der Thatcher-Regierung Modelle finanziert zu bekommen wie „Bildung als Arbeit“. Es sind sehr viele Bildungskooperativen entstanden, die die Leute wieder in Tätigkeit brachten, Stichwort Tätigkeitsgesellschaft, und die es ermöglichten, ganz moderne Technologien anzusiedeln, zum Beispiel modernste Softwareproduktionen. Dies war aber nur möglich, weil in einer Übergangszeit dieses Modell „Bildung als Tätigkeit“ funktioniert hat. Warum hat es funktioniert? Eine meiner Hypothesen ist, dass hier tatsächlich eine Nutzung auch kommunitärer Ressourcen möglich war. Das heißt, in dieser Industriegesellschaft ist mehr produziert worden als nur das, was man aus den Gruben an Kohle herausgeholt hat. Es sind auch kommunitäre Strukturen entstanden, die in dem Augenblick, als die Industrien niedergingen, nicht zerbrochen sind. Und sie wurden sofort benutzt bei der Bildung dieser neuen Bildungsstrukturen, also Bildung als Tätigkeit. Und darauf aufsetzen konnten sich jetzt neue Industrieansiedlungen. Das wäre ein interessanter Aspekt.“ Ursula Apitzsch, Beitrag zum 4. Kempfenhausener Gespräch, 2. Zyklus, Zukunft der Arbeit. 1997.

76) „Es gibt in der jüngeren Generation – und ich beobachte das bei meinen Studenten – viele, die ein ganz bestimmtes Interessenund Angebotsprofil haben, aber auf dem Arbeitsmarkt einfach nichts finden … Studenten, die sich lange Jahre während ihres Studiums mit der Abschätzung von ökologischen und sozialen Folgen neuer Technologien auch praktisch beschäftigt haben und jetzt keine Stelle finden. Was machen die? Die sagen: wir gucken, dass wir Drittmittel auftreiben und machen ein Non-Profit-Unternehmen auf. Wir gucken, dass so viel Geld reinkommt, dass wir sechs wissenschaftliche Mitarbeiter und drei nicht-wissenschaftliche beschäftigen können. Und siehe da: es hat geklappt. Dieses Institut gibt es heute. Da werden keine Erträge erwirtschaftet, aber es werden Leute in Lohn und Brot gehalten. Und die können etwas Sinnvolles tun. In aller Vergangenheit haben wir Arbeitsplätze entworfen, ohne zu fragen, für welche Menschen die eigentlich sind. Wir haben selbstverständlich vorausgesetzt, dass es dann schon Menschen geben wird, die zu diesen Arbeitsplätzen passen würden. Die haben es umgekehrt gemacht. Die haben gesagt: ich finde angesichts der immer noch zu geringen Differenziertheit des Arbeitsmarkts mein Nachfrageprofil nicht in der Wirklichkeit. Also schaffe ich es mir. Mache ich den Leuten klar, dass das, was ich zu bieten habe, etwas ist, was diese Gesellschaft braucht. Und ich finde, diesen Weg gehen wir viel zu selten.“ Bernd Guggenberger, Beitrag zum 3. Kempfenhausener Gespräch, 2. Zyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? Mai 1994.

415

77) Vgl. Gerhard Scherhorn, Beitrag zum 4.  Kempfenhausener Gespräch, 1.  Zyklus, Wie ist qualitatives Wachstum möglich? 1995. Vgl. auch Adelheid Biesecker, Zur Öffnung der Ökonomie für die Eigenlogik der Lebenswelt. Kann verständigungsorientiertes Handeln zu einem Koordinationsmedium der Wirtschaft werden? Vortrag zum 5. Kempfenhausener Gespräch, im Rahmen des 1. Gesprächszyklus: Wie ist qualitatives Wachstum möglich? November 1994. Ferner Riane Eisler, The real wealth of Nations. Creating a caring economics. San Francisco 2007. 78) Das schließt nicht aus, dass Erfahrungen, Befunde und Ansprüche aus den genannten Quellen und Perspektiven als Argumente in die Bildungsdiskurse eingebracht werden können und sollten. Aber der Orientierungsrahmen für die Organisation von Bildung – von der frühkindlichen Entfaltung und Erziehung über Bildung bis zur lebenslangen Weiterbildung – sollte in Anspruch und „Logik“ der Entfaltung der Menschen begründet werden. 79) Es geht hier also nicht um „Gleichheit“ im Sinne einer Nivellierung oder gar „Gleichschaltung“ der notwendig unterschiedlichen Ausgangssituationen und Rahmenbedingungen für Bildungsprozesse, sondern um eine Verbesserung der Bildungschancen von Kindern aus bildungsfernen sozialen Gruppen und Elternhäusern. So steigt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind von Eltern mit Hauptschulabschluss das Gymnasium besucht, um 83%, wenn dieses im Kleinkindalter eine Krippe besucht hat. T. Fritschi, T. Oesch, Volkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Bildung in Deutschland – Eine ökonomische Bewertung langfristiger Bildungseffekte bei Krippenkindern, Bertelsmann-Stiftung, 2008. Zit. nach Dullien u. a., a.a.O., S. 179. Vgl. auch Remo Largo, Wer bestimmt den Lernerfolg: Kind, Schule, Gesellschaft? Weinheim 2013. Vgl. hierzu auch: Norbert Hoerster, Was ist eine gerechte Gesellschaft. Eine philosophische Grundlegung. München 2013. 80) Stattdessen geschieht vielfach das Gegenteil: da die einer dialogischen Bildungspraxis eigentümlichen sozialen Interaktionen sich nicht „komprimieren“ lassen (Niklas Luhmann), gibt es eine Tendenz zur Normierung von Bildung durch Einsatz und Maximierung von Bildungstechnologie, vor allem der Nutzung von Computern und Internet auf Kosten einer Reduzierung des persönlichen Einsatzes. Vgl. Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt/​Main 2002. 81)

Ulrich Oevermann, Mündlicher Beitrag zum 2. Akademischen Bildungsmariposion der Zukunftswerkstatt Mariposa. Arona, Teneriffa August 2012. Vgl. auch ders., Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: A. Combe, W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/​Main 1997.

82) Dazu gehören u. a.: • eine Begrenzung des Anteils von SchülerInnen mit nicht-deutscher Herkunftssprache in Schulklassen auf höchstens 40%, weil jenseits dieser Marke die Gefahr besteht, dass das Leistungsniveau der Kinder sinkt, • eine Ausbildungsoffensive für Erzieher, Sozialpädagogen und Lehrer mit einem Schwerpunkt bei interkulturellen Kompetenzen, • die Einstellung neuer Erzieher, Sozialarbeiter, Psychologen und Lehrer für gemischte Teams, • höhere Gehälter für Grundschullehrer und/​oder Sonderzulagen für Brennpunktschulen, • die Öffnung der Grundschulen für ausgebildete Lehrer anderer Schulformen, • eine verstärkte Lehrerfortbildung für interkulturellen Unterricht, • die Zuweisung von Lehrern an Brennpunktschulen statt schulscharfer Stellenbesetzung bei personellen Notlagen, • den Bau neuer Schulen wegen steigender Geburtenraten und Zuwanderung, • die Überprüfung und ggfs. Rückführung der Inklusion.

Joachim Wagner, Die Macht der Moschee. Scheitert die Integration am Islam? Freiburg 2018. Zit. nach Peer Steinbrück, Überforderte Schule. In: DIE ZEIT, Nr. 22, Mai 2018.

83) Wenn, (wie dargestellt), die Verdrängung von Empathie im Zentrum patriarchaler Formatierung junger Männer steht, kann und sollte hier gezielt gegengesteuert werden, was ja auch vielversprechenden Tendenzen der Öffnung von Männlichkeit für Weiblichkeit und ihre „innere Zweiheit“ (Luce Irigary) entgegenkommt. Wie neuere Ergebnisse der Empathieforschung zeigen, können (durch Spiegelneuronen gestützte) Einfühlung und Mimesis und damit ein „tätiges Mitgefühl“ (Tanja Singer) und Altruismus schon bei Kindern gefördert und trainiert werden. Vgl. hierzu auch Paul Bloom, Jedes Kind kennt Gut und Böse. München 2014. Hier sind naturgeschichtlich verwurzelte Potentiale kultureller Praxis und menschlicher Psyche erkennbar, vor deren Hintergrund die ideologischen Verkürzungen auch der ökonomischen Praxis, Theorie und ihren Menschenbildern erkennbar werden. Sie indizieren u. a., wie schon gesagt, dass die Implementation von Elementen einer „Ökonomie der Fürsorglichkeit“ (Caring economy) in die herrschende Wirtschaftsordnung kein romantischer Traum, sondern eine evolutionäre und historische Möglichkeit darstellt. Vgl. T. Singer, N. Steinbeis, The effects of social comparison on social emotions and ‑behaviour during childhood: The ontogeny of envy and Schadenfreude predicts developmental changes in equity-related decisions. In: Journal of Experimental Child Psychology, 2012, 11.009. T. Singer, H. Engen, H. G. Empathy Circuits. Current Opinion in Neurobiology, 2012. Vgl. auch Christian Keysers, Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen. München 2013. Ders., „Eine fast mystische Verbindung“, Spiegelgespräch. In: DER SPIEGEL, Nr. 29, 2013. 84) Wie schon ausgeführt, sollte im Rahmen einer Förderung des Lernens und der Lernfähigkeit bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die humanspezifische, ästhetische Bezugnahme auf Umweltdynamik, die sich in der Kunst – und hier sowohl in ihrer „selbstreferentiellen Entstehungsweise wie auch in ihrer Rezeption“ (Mayer Brennenstuhl) – spezifisch ausdifferenziert hat, im Zentrum stehen. Denn „Lernen ist die schöpferische Konstruktion von Kontextbeziehungen, die wir den Wahrnehmungsinhalten entgegenbringen.“ Andreas Mayer Brennenstuhl, a.a.O., S. 5. Oder auch anders ausgedrückt: Lernen ist die „gelingende“ Selektion und Transformation latenten Sinns in subjektive bewusste Deutungsmuster. Vgl. auch das (von der Mercatorstiftung finanzierte) Modell „Kulturagenten im Unterricht“. Eine Beschreibung bieten: Rüdiger Frohn, Tobias Diemer,

416

Kulturelle Bildung als Teil allgemeiner Bildung in der Schule. In: Sven Lippert, Joachim Rossbroich (Hrsg.), Reflexionen und Empfehlungen zur Bildungstheorie und ‑praxis. Zwischenergebnisse aus der Zukunftswerkstatt Mariposa. Arona, Teneriffa. 85) Vgl. Ulrich Oevermann, a.a.O. 86) Vgl. Richard David Precht, Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern. München 2013. 87)

Vgl. Heinz Elmar Tenorth, Rezeption und Transformation in der Deutschen Pädagogik. Über Offenheit und Geschlossenheit einer pädagogischen Kultur. In: Elmar Lechner (Hrsg.), Pädagogische Grenzgänger in Europa. Frankfurt/​Main 1997.

88) Vgl. hierzu die Plattformen „Bürger schaffen Wissen“ und „Forschungswende“. Ferner die erste Konferenz der „European Citizen Science Association“ (ECSA). Berlin Mai 2016. 89)

Im Rahmen der Bildungsoffensive der Zukunftswerkstatt Mariposa verstehen sich die seit etlichen Jahren durchgeführten SchülerMariposien® auch als Beitrag zur Entwicklung von Verantwortungseliten. Hier wird insbesondere – unter Bedingungen von Entschleunigung und Muße – der für Kultur konstitutiven und lebenswichtigen Funktion ästhetischer Erfahrung und Produktivität sowie der Vermittlung eines Zusammenhangswissen Rechnung getragen, das den Schülern hilft, sich zu vergegenwärtigen, wer sie als Bürger westlicher Kultur und Europas sind und welche Beiträge sie zu ihrer verantwortungsbewussten Mitgestaltung leisten können. Eine Ausdehnung dieses Programms auf die Weiterbildung erwachsener Mitglieder von Funktionseliten, auf Studenten und Berufstätige, Manager und Politiker ist angestrebt, konnte aber bislang noch nicht verwirklicht werden.

90) Einen interessanten Beitrag dazu hat Emmanuel Macron mit seiner Forderung nach der Gründung eines transnationalen Netzwerks „wahrhaft europäischer Universitäten“ mit jeweils unterschiedlich geprägten europäischen Fakultäten und einem „europäischen Studium Generale“ geleistet. Vgl. Emmanuel Macron, Rede an der Frankfurter Goethe-Universität, 10. Oktober 2017.

VII. Zusammenfassung und Fazit: Europa finden und erfinden 1)

Allerdings praktizierten die europäischen Nationalstaaten dies noch lange im Kolonialismus, in der Unterdrückung und Ausbeutung von Nicht-Europäern und wirken bis heute an subtileren Ausprägungen westlicher Ausbeutung von Entwicklungsländern mit.

2)

Die schon mehrfach erwähnte Unterscheidung zwischen positiver und negativer Integration wurde von Niklas Luhmann (Referat zu „Europa und die Weltgesellschaft“ im Rahmen der Kempfenhausener Gespräche) übernommen und hier etwas anders akzentuiert. Während positive Integration sich nur über eine Balance von Öffnung und Schließung in „weichen Grenzziehungen“ einstellen kann, kennzeichnet negative Integration ein „Pendeln“ zwischen Öffnung in unorganisierter eruptiver Gewalt und Schließung in autoritärer Ordnungsbildung und organisierter Gewalt, durch Herrschaft, Totalitarismus und Diktatur. Dieses „Pendeln“ hat über Jahrhunderte immer auch die europäische Geschichte geprägt, charakterisiert heute vor allem den Nahen Osten und bedroht Europa. Die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Integration ist auch mit Blick auf die Integration von Migranten nützlich. Sie kann nämlich hier erklären, dass aktuelle Reibereien, Konflikte und öffentlicher Streit über und mit Migranten eher Indizien ihrer bereits gelungenen bzw. gerade gelingenden positiven Integration in eine offene Gesellschaft sind, in der Streitkultur und die immer erneute „Aushandlung eines Wir“ (Aladin El-Mafalani) selbstverständlich dazu gehören. Allerdings sind es genau auch diese Erfolge, die die Gegner der offenen Gesellschaft mobilisieren. Aladin EL-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln 2018.

3)

„Ein freiheitsorientiertes Verständnis erfordert nämlich, dass die Menschen in der Lage sein sollten, selbst über ihr Leben zu bestimmen. In dieser Perspektive besteht der Wert des Multikulturalismus darin, dass Menschen sich frei entscheiden und innerhalb der Vielfalt der Kulturen frei wählen können, Neuansätze und Synthesen eingeschlossen … Die Ausübung dieser Freiheit besteht darin, dass sich jemand nach der Prüfung von Alternativen für die Tradition entscheidet, in die er hineingeboren wurde. Oder darin, sich mit guten Gründen von den ererbten Werten abzuwenden. Reflexion und Urteilskraft – darauf beruht die Ausübung multikultureller Freiheit … Für mich folgt daraus: Wir dürfen auf keinen Fall der Abkehr vom Multikulturalismus das Wort reden. Ebenso wenig dürfen wir den Egalitarismus aufgeben, also die Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind, unabhängig von ihrer rassischen oder ethnischen Herkunft, ihrer Sprache oder religiösen Zugehörigkeit.“ Amartya Sen, Der Freiheit eine Chance. Warum wir die Idee der multikulturellen Gesellschaft nicht aufgeben dürfen. In: DIE ZEIT, Nr. 50, 6. Dezember 2007.

4)

„Außerdem wird die Verknüpfung von Gebiet, Gebietshoheit und rechtmäßiger Autorität im Prinzip dadurch aufgelöst, dass rechtmäßige Autorität von nun an auf mehreren Ebenen, nämlich der lokalen, subnationalen, nationalen und supranationalen Ebene zur Geltung gebracht werden kann. Dementsprechend kann Staatsbürgerschaft als gleichwertige Mitgliedschaft in verschiedenen, sich überschneidenden politischen Gemeinwesen, welche für bürgerliche und politische Werte und Standards eintreten, aufgefasst werden. Dies ist in der EU bereits heute der Fall. Demzufolge gründet die Staatsbürgerschaft nicht auf der ausschließlichen Zugehörigkeit zu einem einzigen Gemeinwesen, sondern auf einem Fundament von Grundsätzen und Rechtsvereinbarungen, die die Menschen in den verschiedenen Gemeinwesen miteinander verbinden.“ David Held, Zwischenschritte auf dem Weg

417

zu einer kosmopolitischen Ordnung. In: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 1/​2. 2015, S. 65. Vor diesem Hintergrund ist auch der Vorschlag von Etienne Balibar, Europa als eine „föderale Nationalität“ zu definieren und den Migranten eine europäische Staatsbürgerschaft zu eröffnen, durchaus bedenkenswert. Vgl. Etienne Balibar, Stunde der Wahrheit. In: DIE ZEIT, Nr. 41, Oktober 2015. 5)

Wie bereits ausgeführt, kann man sich die im westlichen Pfad ausdifferenzierte Systemarchitektur als „Tempel“ vorstellen: Hier bildet das System „Kultur der Kultur“ und die hier generierte Verständigung und Orientierungssuche ein „flüssiges“ Fundament, während die Systeme der Gemeinschaft, der Gesellschaft und der Technik, der Theorienbildung und der Künste sowie religiöse und post-religiöse Glaubenspraktiken die „Säulen“ und das Recht das „Dach“ bilden. In diesem Rahmen leistet das westliche, in den universalen Menschenrechten begründete Rechtssystem „Schließung“ unter Bedingungen maximaler „Öffnung“ durch das System „Kultur der Kultur“.

6)

Vgl. Wolfgang Ischinger, Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten. Berlin 2018. Die Auffassung, dass Deutschland als in Europa zentrale und stärkste Macht im Prozess der Formung einer politischen und Verteidigungsunion sowie in der Artikulation und Durchsetzung europäischer Interessen in der Welt eine Führungsrolle übernehmen sollte, teilt Wolfgang Ischinger mit Herfried Münkler. Vgl. hierzu Herfried Münkler, Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa. Hamburg 2015. Die von Münkler empfohlene Strategie einer „Stärkung der Macht in der Mitte“ kann allerdings nicht zu einer nachhaltigen positiven Integration und Stabilisierung Europas beitragen, wenn sie ohne Einbettung in eine deutsche Mitarbeit an der Demokratisierung europäischer politischer Steuerung, ohne Mitwirkung an einer „gekonnten“ Regulation europäischer Wirtschaft sowie ohne Engagement für ihre Legitimation und Stützung durch eine europäische Zivilgesellschaft stattfindet. Eine Führungsrolle kann Deutschland gemeinsam mit Frankreich auch mit Blick auf die Schaffung eines ökologisch und sozial orientierten Wirtschafts- und Handelssystems und eines entsprechenden Unternehmensrechts (Emmanuel Macron) in Europa übernehmen.

7)

Vgl. Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf, Konkurrenz für das Empire. Die Europäische Union in der globalisierten Welt. Münster 2007. Wie schon mehrfach ausgeführt, wird diese Umgestaltung wohl nicht ohne eine Revision der europäischen Verträge möglich sein, die in ihrer bisherigen Fassung eine Politik der Deregulation seitens der europäischen Kommission stützen und legitimieren, die Erhalt und Fortbestand sozialstaatlicher Errungenschaften gefährdet. Vgl. Dieter Grimm, Von Putsch kann keine Rede sein. Wird Europas Legitimation größer, wenn das europäische Parlament mächtiger wird? Im Gegenteil! Ein Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Dieter Grimm. In: DIE ZEIT, Nr. 27, Juni 2014.

8)

Dabei sind Ausprägungen einer religiösen (Iran, Saudi-Arabien u. a.), aber auch post-religiösen (Korea, China, Syrien) „Sakralisierung der Politik“ (Hans Joas) entstanden, die auch Europas Stabilität bedrohen. Vgl. Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zu der Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, S.  485. Selbstverständlich existieren auf der Erde noch mehr, z. B. früh- und hochkulturell strukturierte „Welten“, die bislang aber kaum in diese multipolare Weltdynamik und Machtverteilung einbezogen wurden, geschweige denn diese beeinflussen konnten.

9)

Vor diesem Hintergrund erscheint die skizzierte Vorstellung, dass sich weltweit die europäische Vision einer Marktwirtschaft rahmenden und den Kapitalismus „gekonnt“, ökologisch und sozial regulierenden Wirtschaftsordnung und liberalen Demokratie durchsetzen wird, nicht sehr realistisch. Im Gegenteil: wie im „worst case Szenario“ ausgeführt, könnte es so kommen, dass nicht einmal in Europa selbst die Errungenschaften westlicher Kultur erhalten und ihr Versprechen eingelöst werden können.

10) Wie schon gesagt, führen Donald Trump und sein Team einen Krieg gegen Demokratie und Rechtstaatlichkeit und versuchen, die amerikanische Errungenschaft der „balance of power“ außer Kraft zu setzen. Was dies mit Blick auf die zukünftige Innen- und Außenpolitik der bislang noch größten wirtschaftlichen und politischen Macht auf der Erde bedeutet, ist kaum abzuschätzen und birgt große Risiken. Vgl. Bob Woodward, Furcht. Hamburg 2018. 11) Timothy Snyder, Russland will die EU zerstören. In: DIE ZEIT, Nr. 40, September 2014. Vgl. auch Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika. München 2018. 12)

Wie schon erwähnt, ist China hier mit der Einrichtung eines digital gestützten Einwohner-Bewertungssystems, das alle Daten über alle Bürger speichert und in ein Punktsystem umsetzt, in dem jeder Bürger eine Bewertung seines (Wohl)verhaltens erfährt, die herangezogen wird, wenn es um Stellenbewerbungen, Kredite, Auslandsreisen u. a. geht, ein „Vorreiter“ der „Automatisierung der Gesellschaft“ und der Entwicklung eines „smarten Staats“, der Kontrolle und Herrschaft über Bürger zunehmend digital und automatisch ausführt. Vgl. Dirk Helbing u. a., Digital-Manifest. In: Spektrum der Wissenschaft I/​2016. Vgl. auch Tom Hillenbrand, Drohnenland. Köln 2014. Insofern kann man China als Avantgarde bezeichnen, die „eine ganz neue Ära der Herrschaftstechnik eröffnen könnte – die Epoche von Soft Power, Soziometrie und Psychopolitik … Das Sozialkreditsystem lässt das Auge des Staates nämlich von außen nach innen wandern, tief hinein in das Wünschen und Wollen der Bürger. Die Bürger, heißt das, sollen sich dem staatlichen Gesetz nicht bloß unterwerfen, sie sollen es proaktiv begehren und sich mit dem Blick des Staates so betrachten, als sei es ihr eigener Blick …Es ist kybernetische Politik, die den Bürger zum Komplizen seiner eigenen Überwachung macht … Wenn Wohlverhaltenspunkte die Leitwährung sind, dann fragt sich der Einzelne nicht mehr ‚Wer bin ich?‘ sondern ‚Wo stehe ich?‘ Es heißt nicht mehr: ‚Erkenne Dich selbst‘, sondern ‚Scanne Dich selbst.‘ Das Leben wird nicht mehr erzählt, es wird berechnet; es wird nicht in Geschichten und Bildern gedeutet, sondern in Leistungskurven und Vitalparametern vermessen … Wenn Bürger Preisschildchen auf der Stirn tragen, wenn ihre Rechte an einen selbst erwirtschafteten Wert gekoppelt werden – dann vollendet, Ironie der Weltgeschichte, der chinesische ‚Sozialismus‘ die ökonomische Logik der Moderne … Der erwünschte Egoismus der Marktteilnehmer zerstört den Gemeinsinn, weshalb der chinesische Vertrauenshaushalt nun durch persönliche Folgsamkeitsbeweise wieder aufgefüllt werden muss. Nicht der Bürger muss Vertrauen in das System, sondern das System muss Vertrauen in den Bürger haben … Vielleicht entwickelt die Supermacht gerade den Prototyp einer nachliberalen Mo-

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derne – eine Art Remix aus platonischer Erziehungsdiktatur und maoistischem Cäsarismus (der Kult um Xi), eine Giftmischung aus Neoliberalismus und kommunistischer Einparteien- Zwangsherrschaft … Sie ist eine evolutionäre Möglichkeit der Moderne, ein gangbarer Entwicklungspfad der Weltgesellschaft, auf jeden Fall aber eine preiswerte Alternative zum Liberalismus.“ Thomas Assheuer, Die Big-Data-Diktatur. China plant, die Aktivitäten seiner Bürger lückenlos durch Datenspeicherung und Gesichtserkennung zu überwachen. Jeder bekommt ein Punktekonto zugewiesen. Hier entsteht die Welt der Zukunft. In: DIE ZEIT, Nr. 49, November 2017. Andererseits fördert, mitgestaltet und forciert China (wenn auch kontrolliert und restringiert) die Ausdifferenzierung der Wissenschaften, die weltweite Wissenschaftskommunikation und den Ideenaustausch – auch, um seinen eigenen Weg in die Zukunft zu finden. Vgl. hierzu Kishore Mahbubani, Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen Dominanz. Berlin 2008. 13) Ein zentraler Baustein dieser Politik ist derzeit die Wiedererrichtung der Seidenstraße, ein 900 Milliarden-Dollarprojekt zur Infrastrukturentwicklung in diesen Regionen. Dem chinesischen Imperialismus kommt entgegen, dass die USA derzeit auch in Asien ihre Sicherheitsgarantien zurückziehen und damit hier zunächst viel Chaos und Konflikte bewirken werden, bevor sich auch hier stabile Kerne und Achsen der Kooperation – z. B. zwischen Japan, China u. a. – herausbilden können. Vor diesem Hintergrund kann es auch zu Konflikten und Kooperationen zwischen Russland und China kommen. Vgl. Jan Ross, Hoppla, jetzt kommt China. Wie durch Donald Trumps Nationalegoismus die Machtverhältnisse in Asien ins Wanken geraten. In: DIE ZEIT, Nr. 33, August 2017. 14) World Economic Forum, Eurasia Group (Hrsg.), Global Risks Report 2018, April 2018. Eine Konstellation, die der britische Journalist H. N. Brailsford ähnlich bereits im Jahre 1919 diagnostiziert hat. Vgl. Lucian M. Ashworth, Von großen Illusionen und bewaffneten Frieden: Norman Angell und H.N. Brailsford über die Ursachen internationaler Konflikte. In: Jens Steffek, Leoni Holthaus (Hrsg.), Jenseits der Anarchie. Weltordnungsentwürfe im frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt/​Main–New York, 2014. 15)

Adam Tooze, Ohne großen Bruder. Von den USA allein gelassen, müssen die Europäer aufrüsten. Das ist auch der Preis einer verfehlten Politik. In: DIE ZEIT, Nr. 7, Februar 2017. Vgl. auch ders., Sintflut. Die Neuordnung der Welt. Berlin 2015.

16)

Das gilt auch mit Blick auf die hybride Kriegsführung Russlands, „denn die Zeit der sicherheitspolitischen Trittbrettfahrerei geht zu Ende.“ Joschka Fischer, Mehr Härte im Kern. Putin führt einen Kampf gegen die „Dekadenz“ des Westens. Die EU muss darauf entschlossen reagieren – und sich strategisch neu aufstellen. In: DIE ZEIT, Nr. 42, Oktober 2014. Vgl. auch Joschka Fischer, Wir sind auf uns gestellt. In: DIE ZEIT, Nr. 31, Juli 2017.

17) Auch hier stellt sich die heikle Frage nach den Grenzen der Anerkennung staatlicher Souveränität. „It is observed that dictators, fascists, war lords, feudal souvereigns and tribal chiefs, and antidemocratic forces are the major beneficiaries of the so called sacred law of the state sovereignty.“ Musthtaq Mirani, European Hope. What it must be. In: Global Marshall Plan Initiative (Hrsg.), European Hope. Strategy of Partnership. Hamburg 2006. 18) Eine solche Diplomatie könnte gelegentlich der bekannten Formulierung folgen: „Es ist ja nur ein Vorschlag, aber bedenken Sie, von wem er kommt“. 19) Vgl. hierzu Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion. München 2016. 20) Heute stehen 500 Millionen Westeuropäer 1,3 Milliarden Afrikanern gegenüber, von denen 40% unter 15 Jahre alt sind. Schon im Jahre 2050 werden es 2,5 Milliarden Afrikaner sein, von denen zwei Drittel unter 30 sein werden. Zu diesem Zeitpunkt wird es noch 450 Millionen zu einem großen Anteil alte Westeuropäer geben. Quelle: Stephen Smith, Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent. Berlin 2018. Den hier entstehenden Migrationsdruck kann Europa weder durch grenzenlose Öffnung noch durch harte Grenzziehungen und Bau einer „Festung Europa“ bewältigen. Vielmehr gilt das Regulativ der „weichen Grenzziehung“ auch mit Blick auf eine Migrationsethik und eine daran orientierte europäische Migrationspolitik. Selbstverständlich muss das Asylrecht ohne Einschränkungen gelten und Flüchtlinge, die durch Hungersnöte, durch Terrorismus Krieg und Diktatur an Leib und Leben bedroht sind, müssen in Europa aufgenommen werden. Darüber hinaus braucht Europa eine gemeinsame gesetzliche Basisregelung für Migration, die „Öffnung“ und „Schließung“ balanciert, nämlich regelt, in welchem Umfang, in welchen Quoten und Anteilen und aus welchen Ländern Zuwanderer auf sozial verträgliche Weise aufgenommen und (in den europäischen Staaten fair verteilt) integriert werden sollen. Dass diesbezügliche Kooperationen gelingen und auch positive Effekte in den Aufnahmeländern bewirken können, zeigen viele Beispiele aus der jüngeren Geschichte. Vgl. Philip Ther, Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa. Berlin 2017. Eine Regelung und Dosierung von Zuwanderung kann aber keineswegs die Probleme in den Herkunftsländern lösen. Dazu bedarf es einer globalen Entwicklungskooperation zwischen reichen und armen Ländern, mit Blick auf Europa einer Kooperation und eines fairen Handels zwischen EU und Afrika, die durchaus den Umfang eines „Marshallplans für Afrika“ haben sollten. Vgl. hierzu auch Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration. Hamburg 2017. Heute gibt es die Möglichkeit, die Ausbeutung Afrikas auf dem Wege einer friedlichen, durch Verständigung und gemeinsame Zielsetzungen geprägten politischen und wirtschaftlichen Kooperation zwischen Europa und Afrika hinter sich zu lassen. Um Beziehungen auf Augenhöhe zu realisieren, müssen Prinzip und Wahrung der Menschenrechte und der Chancengleichheit bei allen Beteiligten oberste Priorität haben und faire Reformpartnerschaften, gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Willensbildung sollten die wirtschaftlichen Beziehungen, die Handels- und Investitionspolitik und die Schaffung gemeinsamer Märkte rahmen und prägen. Dann können entsprechende Entwicklungs- und Wirtschaftshilfen wirklich den Afrikanern, Landwirten, Firmen und lokalen Anbietern zugutekommen und nicht bloß als Altruismus maskiert die Ansiedlung westlicher Industrieunternehmen unterstützen, die keine oder kaum Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen für diese schaffen, sondern im Gegenteil dazu beitragen, dass die lokalen Anwohner und Kleinbauern in Konkurrenz mit den Europäern weiter in die Enge getrieben und zu Migranten werden.

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Nötig wären eine Förderung der Ansätze zu einer kontinentalen Freihandelszone in Afrika, wie sie u. a. von der afrikanischen Union als „Continental Free Trade Africa“ (CFTA) angestrebt wird. Darüber hinaus braucht es faire Handelsabkommen mit Europa, einen Ausbau lokaler kleiner bis mittelgroßer Landwirtschaftsbetriebe, die Förderung mittelständischer Unternehmen, ein breites Angebot an Kleinkrediten, medizinische Hilfe und den Aufbau robuster Sozialversicherungs- und Gesundheitssysteme. Ferner sollten junge Talente und ihrer Projekte, insbesondere von Frauen, Unternehmerinnen, Frauenorganisationen und ‑projekten und Frauenbildung sowie Entwicklung und Nutzung von Solartechnologien intensiv gefördert werden. Schließlich sind auch für ein demographisch alterndes Europa solche Investitionen in qualitatives und nachhaltiges Wachstum in Entwicklungs- und Schwellenländer von Nutzen. Vgl. dazu auch Miguel Angel Moratinos, Rendezvous der Kontinente. Wenn Afrika und Europa wirtschaftlich enger zusammenarbeiten, stärkt das beide. Amerika und Asien machen es vor. In: SZ, 4. November 2015. Moratinos unterstreicht u. a. auch die pragmatischen und ökonomischen Vorteile der Öffnung Europas für Migranten: „Der Pariser Demographie-Experte Hervé Le Bras hat errechnet, dass wir jährlich 2,2 Millionen Flüchtlinge aufnehmen müssten, um bis ins Jahr 2050 das heutige Niveau der ökonomisch aktiven Bevölkerung halten zu können – das sind dreimal so viel Migranten, wie heute netto in die EU einwandern.“ Ebd. 21) Der westfälische Friedensschluss „ordnete die internationalen Beziehungen mitnichten nach dem Modell eines Machtgleichgewichts souveräner Einzelstaaten. Er machte vielmehr die konfessionellen Angelegenheiten innerhalb der Territorialstaaten zum potentiellen Gegenstand einer legitimen Prüfung, Durchsetzung und Intervention von außen und sorgte für eine ‚Verrechtlichung‘ solcher Konflikte. Die konfessionellen Spaltungen wurden somit in einen rechtlich-diplomatischen Rahmen gelenkt und mittels Gerichtsverfahren und Verhandlungen entschärft statt durch Krieg entschieden … Damit am Ende eine Lösung stehen konnte, musste erst eine Desillusionierung über die Möglichkeiten einer religiösen Landnahme einsetzen … Nach 1648 war Mitteleuropa nie wieder in einen Religionskrieg verstrickt.“ Brendan Simms, Michael Axworthy, Patrick Milton, Ein westfälischer Friede für Nahost. In: DIE ZEIT, Nr. 20, Mai 2017. Vgl. auch Forum für Geopolitik. Labor des Wiederaufbaus, wo nach einem Westfälischen Frieden für den Nahen Osten gesucht wird. 22) Hier sollten die regionalen Parteien motiviert werden, offen über ihre Sicherheitsinteressen zu sprechen, kollektive Verantwortung für regionale Probleme zu übernehmen und eine wechselseitige Aufsicht und Garantien, supranationale vertragliche und rechtliche Arrangements für die Überwachung und Durchsetzung der Vertragsnormen zu akzeptieren. Darüber hinaus wäre ein Umbau von Teilen des Nahen Ostens zu einer von außen garantierten Sicherheitszone denkbar, wo u. a. Bürger und Gruppen „das Recht bekämen, bei einer höheren Autorität gegen ihre Regierung Beschwerde einzulegen.“ Brendan Simms u. a. ebd. 23) Ansätze dazu finden sich derzeit in einer (insbesondere von der deutschen Regierung, auch in Reaktion auf den Nationalismus der derzeitigen amerikanischen Politik forcierten) Strategie, ein Netzwerk global orientierter, westlicher und westlich orientierter Industrienationen zu bilden, die sich in der Außen‑, Sicherheits‑, Migrations‑, Handels- und Klimapolitik eng aufeinander abstimmen. Dieser Zusammenschluss, zu dem nach jetzigem Entwicklungsstand neben Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Nationen ggfs. auch Südkorea, Japan, Indonesien, Südafrika, Australien sowie Mexiko, Kanada u. a. gehören könnten, ließe sich als eine „internationale Verpflichtungsgemeinschaft“ (Jan Philip Reemtsma) und – in optimistischer Sicht – als Keimbildung einer zukünftigen Weltgesellschaft verstehen. Siehe auch das „best case Szenario“. 24) Zwar waren in der europäischen Geschichte die Schübe spätkultureller Ausdifferenzierung „werdender Vernunft“ in ihren revolutionären Ausprägungen von organisierter und eruptiver Gewalt geprägt bzw. mündeten – wie z. B. in der französischen und russischen Revolution – in die Wiedererrichtung des politischen Patriarchats. Aber wie versucht wurde zu zeigen, lassen sich die evolutionäre Ausdifferenzierung der Tempelarchitektur und der damit verbundene Mentalitäts- und Bewusstseinswandel der Bürger im europäischen Pfad auch als „Dreischritte“ der Öffnung und Schließung und ihrer immer erneuten Balance in neuer kultureller Form- und Landschaftsbildung rekonstruieren, die auch deswegen kaum Gewalt benötigten, weil sie sich – wie z. B. in der ostdeutschen Revolution von 1989 – auf die intuitive Sittlichkeit und Kreativität der Bürger stützen konnten und ihnen die Integrationsschwäche, das Erlahmen und der Kräfteverfall patriarchaler Herrschaft in ihren verschiedenen religiösen wie auch post-religiösen Ausprägungen entgegen kamen. 25) Zum Begriff des „Auswegs“ Vgl. Giorgio Agamben, Europa muss kollabieren. In: DIE ZEIT, Nr. 35. August 2015. Die kulturelle Dauerkrise scheint, wie bereits angedeutet, spätestens seit der frühen Neuzeit, die Entwicklung verschiedener Regionen auf dem eurasischen Kontinent zu charakterisieren und hier zu, in Grundzügen ähnlichen Mustern ihrer kreativen und konstruktiven Bearbeitung, z. B. in Gestalt einer Formierung von Staatlichkeit (vielfach noch mit integrierter Monarchie), durch ethische und gesetzliche Regulation von Handelsbeziehungen und durch die Entwicklung entsprechender Menschenbilder geführt zu haben. Vgl. Victor Liebermann, Strange Parallels: Southeast Asia in Global Context, c.800–1830. Cambridge 2003. 26) „Eigentlich könnte die Sozialdemokratie ein zentraler Akteur sein, der eine solche Balance zwischen liberaler Öffnung und normativer Regulierung formuliert und die Konfliktlinie zwischen Kosmopoliten und Kommunitariern produktiv verarbeitet … Aber werden die sozialdemokratischen Parteien Europas noch die Kraft dazu haben?“ Andreas Reckwitz, Das Band zerreißt. In: DIE ZEIT, Nr. 9, Februar 2018. 27) Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wurde im September 2015 vollzogen, als sich die internationale Staatengemeinschaft auf 17 gemeinsame Ziele für nachhaltige Entwicklung einigte: Keine Armut, kein Hunger, Gesundheit und Wohlergehen, hochwertige Bildung, Geschlechtergleichheit, Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen, bezahlbare und saubere Energien, menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum, Industrie, Innovation und Infrastruktur, weniger Ungleichheiten, nachhaltige Städte und Gemeinden, nachhaltige Produktion und Konsum, Maßnahmen zum Klimaschutz, Leben unter Wasser, Leben an Land, Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen, Partnerschaften zur Erreichung der Ziele. Siehe: Homepage, Sustainable Development. 17 Goals to transform Our World.

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