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German Pages 383 [391] Year 2010
Wissen − Erzählen − Tradition
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
64 ( 298 )
De Gruyter
Wissen − Erzählen − Tradition Wielands Spätwerk
Herausgegeben von
Walter Erhart und Lothar van Laak
De Gruyter
ISBN 978-3-11-024036-8 e-ISBN 978-3-11-024037-5 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Wissen, Erzählen, Tradition : Wielands Spätwerk / edited by Walter Erhart, Lothar van Laak. p. cm. − (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-024036-8 (hardcover : alk. paper) 1. Wieland, Christoph Martin, 1733−1813 − Criticism and interpretation. I. Erhart, Walter. II. Laak, Lothar van. PT2571.W575 2010 8381.609−dc22 2010022768
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Walter Erhart / Lothar van Laak Einleitung
1
I. Grundlagen und Traditionen Walter Erhart Wieland ist nie modern gewesen
15
Ulrike Zeuch Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition
37
Steffen Martus Zeit und Wissen: Christoph Martin Wieland im Kontext der kritischen Kommunikation des 18. Jahrhunderts
53
Anja Oesterhelt Anachronistische Historiographie? Zur Metapher des Standpunkts in der Historiographie des 18. Jahrhunderts und ihrer Bedeutung für Christoph Martin Wielands Aristipp
69
Lothar van Laak Christoph Martin Wielands Konzeption aufklärerischen Philosophierens um 1800
85
Pascal Frey Anthropologie der Metaphysik. Religion und Aufklärung im Spätwerk Wielands
99
II. Erzählformen und Schreibweisen Uwe Wirth Erzählen im Rahmen der Herausgeberfiktion
121
Bernd Auerochs Was ist Wahrheit? oder Einsichten und Schreibweisen. Wielands philosophische Prosa und die menippeische Satire
139
Hannelore Schlaffer Poesie und Prosa. Wielands Verserzählungen
153
Alexandra Kleihues Rückkehr aus dem Elysium. Wielands Umgang mit der Tradition des literarischen Dialogs
169
Andreas Seidler Erzählen, Lust und Langeweile in Wielands späten Romanen Agathodämon und Aristipp und einige seiner Zeitgenossen
189
III. Spätwerke Klaus Manger Wielands moderner Klassizismus
205
Kai Kauffmann Wielands Peregrinus Proteus – ein Transzendentalroman der Goethezeit?
223
Laura Auteri Erkenntnisstreben und Humanität. Zu Wielands Versuch einer Zusammenlegung verschiedener Begriffe der Religion im Agathodämon
235
Jutta Heinz »Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«? – Das Hexameron von Rosenhain zwischen poetologischer Tradition und Innovation 253 Jan Cölln Wielands Sprengmetaphorik. Zur Funktion und Tradition des »hermetischen Zirkels«
277
IV. Antike und Moderne W. Daniel Wilson Ein »hartnäckiger Ketzer in Liebessachen« Wieland, griechische Liebe und Selbstzensur
293
Joachim Jacob Wielands Horaz – Die Ars poetica als Antipoetik
315
Michael Weissenberger Wieland als Übersetzer Lukians
329
Jan Philipp Reemtsma Wielands letztes Werk
345
V. Epilog Thomas C. Starnes Tod in Oßmannstedt
367
Siglenverzeichnis
379
Personenregister
381
Walter Erhart / Lothar van Laak
Einleitung »Wenn mich etwas stolz machen könnte,« so schreibt Christoph Martin Wieland am 12. April 1793 an den »Verehrte[n] u[nd] Geliebte[n] Freund« Johann Wilhelm Ludwig Gleim anlässlich dessen 74. Geburtstags nach Halberstadt, »so wäre es der Beyfall den sie meinem Peregrin geben, und der ganz allein mehr als genug ist, mich für manche schiefe Urtheile von jener seichten Art von anmaßlichen Kennern, wovon die gelehrte Demokratie in Teutschland jezt wimmelt, reichlich zu entschädigen.«¹ Dieser Hinweis auf die »schiefen Urtheile [… der] seichten […,] anmaßlichen Kenner« dokumentiert, wie die Wertschätzung Wielands in der literarischen Öffentlichkeit zurückgegangen ist, als er 1791 mit seinem Dialogroman über den Schwärmer Peregrinus Proteus das erste seiner Spätwerke vorlegt.² Die Rückversicherung beim alten »Papa« Gleim signalisiert auch das Bemühen, Anschluss zu halten an eine produktive, für die Entfaltung der Aufklärung wichtige literarische Tradition. Es ist eine vornehmlich
Christoph Martin Wieland an Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Brief Nr. 462 vom 12. April 1793. In: Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007. (Weiterhin abgekürzt mit der Sigle WBr) Bd. 11.1, S. 394-396, S. 395. Üblicherweise wird Wielands Werk in drei Phasen eingeteilt: das frühe Werk bis etwa Ende der 1760er Jahre mit dem Höhepunkt der Geschichte des Agathon, das mittlere der 1770er und 1780er Jahre und das späte von den frühen 1790er Jahren bis zu Wielands Tod im Jahr 1813. Im Folgenden soll nicht so sehr entlang dieser Chronologie argumentiert werden, die ja auch immer ein Modell des ›Reifens‹ eines Werks impliziert (was z. B. für die drei Fassungen der Geschichte des Agathon kaum zutreffen dürfte). Neueren theoretischen Konzepten zufolge ließe sich die Kategorie des (Spät-)Werks vielmehr auch als eine Form der Werkökonomie oder der »Werkpolitik« beschreiben (Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert; mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007). Als – vor allem heuristisch für die in diesem Band diskutierten Fragen und Texte zu verwendende – Werkeinteilung schlagen wir deshalb vor, zwischen Grundlagen (und den von Wieland vorgenommenen Selbstbegründungen) und deren Verarbeitungen, Umsetzungen und Transformationen zu unterscheiden. Ein Wechsel in dieser Akzentsetzung, die gleichwohl in jeder Werkphase als Option möglich bleibt, ist grosso modo auf Mitte der 1770er Jahre zu datieren, nachdem die Stürmer und Dränger und nicht zuletzt der junge Goethe den Autor Wieland als Repräsentant einer älteren und zu überwindenden Literatur attackiert haben und – was durchaus als eine der daraus resultierenden Konsequenzen aufgefasst werden kann – Wieland sich verstärkt der Übersetzung antiker Literatur zuwendet. Zur Bedeutung des Übersetzers Wieland siehe auch den neuen Sammelband: Bettine Menke u. Wolfgang Struck (Hg.): Wieland / Übersetzungen. Berlin, New York 2010.
Walter Erhart / Lothar van Laak
ästhetische Rückversicherung, die Wieland mit der Bilanz seiner bisherigen schriftstellerischen, übersetzerischen und publizistischen Tätigkeit verbindet: Ihnen, Mein Gleim, und IhresGleichen, wenn es anders deren giebt, einige vergnügte Stunden machen zu können, oder gemacht zu haben, ist die süßeste Belohnung für den warmen Eifer und die nicht immer leichte Mühe, die ich mir seit vierzig Jahren gegeben habe, Etwas hervorzubringen, wodurch auch ich, nach Abstreifung dieser gröbern Raupenhülle, noch unter den Menschen leben, und all das Gute, das die Xenofon, Platon, Horaz, Lucian u. s. w. mir gethan haben, vielleicht manchem, der erst im Jahr 3000 gebohren werden wird, wiedergeben möge.³
Wieland sieht sein literarisches, ja sein gesamtes Leben, das am 5. September 1733 in einem kleinen oberschwäbischen Dorf in der Nähe Biberachs begonnen hat, sub specie aeternitatis – und hier dezidiert in der Perspektive eines literarischen Nachruhms, der sich nicht nach modischen Entwicklungen, nicht nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sondern in Jahrtausenden bemisst. Der Brief an Gleim bilanziert ein Werk im Wissen um dessen Vergänglichkeit und Historizität, aber auch seine mögliche Fortdauer. Der 59jährige Wieland rückt dabei seine eigene literarische Produktion in eine lange kulturelle Tradition, die mit der antiken Philosophie und Literatur einsetzt und »all das Gute, das […] mir gethan [worden]«, als eine spezifische Gabe bewahren und weiter vermitteln möchte. Diese bewusste und entschiedene, aber auch bemühte und angestrengte Fortsetzung der Tradition impliziert bereits einen gravierenden ›modernen‹ Bruch mit dieser Tradition, der sich in der »gelehrten Demokratie in Teutschland« im Ausgang des 18. Jahrhunderts vollzogen hat. Deshalb verbindet Wieland seine eigene, sich selbst gesetzte Aufgabe eines kulturellen Vermittlers mit dem Wunsch und der Hoffnung, dass sein Werk nicht nur an dieser Überlieferung teilhabe, sondern die Tradition selbst »vielleicht manchem, der erst im Jahr 3000 gebohren werden wird, wiedergeben möge. Id quod faxit Jupiter. Optimus Maximus!«⁴ Dies ist nun nicht so sehr ein Hinweis auf die – »wenn es anders deren giebt«! – geschrumpfte Zahl derer, die sich der alten aufklärerischen Gelehrtenrepublik zurechnen lassen – wie Lessing, Gleim, Herder oder Klopstock. Wieland bezieht sich hier auch nicht nur auf jene Querelle des Anciens et des Modernes, die seit dem 17. Jahrhundert mit dem Wettstreit zwischen der antiken und der neuzeitlichen Literatur eine Epoche und ein bestimmtes Bewusstsein der ›Moderne‹ eingeleitet hat.⁵ Wielands
WBr 11.1, Nr. 462, S. 395f. Ebd., S. 396. Hans Ulrich Gumbrecht: »Modern, Modernität, Moderne«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 93-131 (jetzt auch
Einleitung
Hoffnung auf das Überdauern des eigenen Werkes ist vielmehr die ebenso hellsichtige wie selbst- und zeitkritische Diagnose, inmitten eines sozialen, politischen, kulturellen und ästhetischen Epochenumbruchs, eines – wie es später heißen wird – Paradigmenwechsels zu leben. Wielands Stellung, seine Selbsteinschätzung und seine »Werkpolitik«⁶ sind dabei weder auf der Seite der anciens noch der modernes zu verorten. Eher scheint sein gesamtes literaturkritisches und literarisches Werk Partei zu ergreifen für ein höchst überlegtes und komplexes Verfahren kultureller Selektion und eines epochenspezifischen (Wissens-)Transfers. Nicht zufällig beginnt Wieland seinen Geburtstagsbrief an Gleim damit, die jüngsten revolutionären Ereignisse in Europa und der politischen und kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich zu beschreiben und zu bewerten. Auch hierbei gilt sein Interesse, ebenso wie in der Literatur, vornehmlich der Tradition in ihrem Wortsinn, der die ›Übergabe‹ des zu Bewahrenden meint: Mein Trost bey allem diesem ist, daß das mannichfaltige Gute, das die französische Revoluzion mitten unter den gräßlichsten Ausbrüchen des aristokratischen und demokratischen Fanatismus und aller übelthätigen Leidenschaften, in Bewegung gebracht hat, für die Menschheit nicht verlohren gehen, sondern nach und nach, im Stillen und ohne sichtbare, wenigstens ohne gewaltsame und erschütternde Bewegungen Tausendfältige Früchte tragen wird. Denn nichts Gutes kann verlohren gehen.⁷
Eine höchst unsichere Epochenwende zu diagnostizieren und zugleich ganz optimistisch die Bewahrung und Bewährung des Guten zu erhoffen – dies ist vielleicht der stärkste Ausdruck dafür, dass und wie Wieland das durch Tradition aufbewahrte kulturelle Wissen in seiner Kontinuität versteht. Die Diskontinuität hingegen, die Zäsur, der Blick nach vorn und der Einsatz von etwas (radikal) Neuem sind die grundlegenden Annahmen und Provokationen der ›Modernen‹ (moderni) und bestimmen die Strategien ihrer Selbstbegründung und Selbstlegitimation.⁸ In diesem Sinn ist Wieland – bei all seiner Aufgeschlossenheit für die historischen, politischen und sozialen Veränderungen in diesen Jahrzehnten – eben kein ›Moderner‹, sondern ein ›Alter‹ (antiquus). Ganz charakteristisch dafür ist der in seinen späten Schriften und Briefen häufig artikulierte Gestus einer Aufmerksamkeit – im Sinn einer kulturellen Selektionssteuerung – für
in Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München 2006, S. 37-80). Vgl. Martus: Werkpolitik (Anm. 2). WBr 11.1, Nr. 462, S. 395. Siehe zur kritischen Diskussion der Kriterien für Moderne: Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004; Barbara Becker u. Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin, New York 2007.
Walter Erhart / Lothar van Laak
dasjenige, was sich in die neue Zeit ›hinüberretten‹ lässt und eine solche Rettung vor allem auch verdient. Zugleich behält Wieland stets die nicht mehr rückgängig zu machende Moderne im Blick. Er zielt darauf ab, die zu tradierenden, aber auch legitimationspflichtig gewordenen Wissensbestände zu überprüfen. Das ist ein in diesem Sinn modern gewordenes Denken, das sich dennoch stets aus dem begründeten Rückbezug auf Tradition heraus zu definieren und zu behaupten versucht. Wie an keinem zweiten Autor um 1800 lässt sich an Wieland deshalb ein anderer, vielleicht alternativer Weg in die Moderne zeigen: ein »Traditionsverhalten«⁹ spezifischer Art, das zwischen Bewahrung und Veränderung auf eigentümliche Weise oszilliert. Wielands literarisches und publizistisches Werk verlangt nach einem anderen Umgang mit Epochen – eine Tatsache, die insbesondere sein Spätwerk abseits vielfach diagnostizierter Brüche zwischen Früher Neuzeit, (Spät-) Aufklärung, Klassik und Romantik als eine bislang noch kaum gewürdigte Vermittlung zwischen Tradition und Moderne profiliert. Moderne und Modernität sind bei Wieland ganz bewusst nicht als revolutionäre Absetzbewegung und als bedingungslose Innovation bestimmt: »nach und nach, im Stillen und ohne sichtbare, wenigstens ohne gewaltsame und erschütternde Bewegungen«, soll es vielmehr, wie er an Gleim schreibt, in diesem ästhetisch lebendigen und kulturell reichhaltigen Traditionsgeschehen zu »Tausendfältige[n] Früchten« kommen.¹⁰ Umgekehrt geht es Wieland keineswegs darum, das schlechthin Moderne zu disqualifizieren und auf einem längst bestehenden, kanonisierten Wissen zu beharren. Moderne und Modernität gelten ihm nicht als bloß melancholische und sentimentalische Verlusterfahrungen. Vielmehr nötigen sie zum Umbau und zur Umbesetzung (auch zur ›Übersetzung‹) sämtlicher vorliegender Traditionsbestände, insbesondere der Philosophie und der Religion. Wielands Werk partizipiert an der aufklärerischen Leitvorstellung des ›ganzen Menschen‹¹¹ – und bemüht sich in diesem Kontext um eine zeitgemäße Reintegration des antiken Wissens. Zugleich eignet ihm von Anfang an – noch vor jedem ›Sturm und Drang‹ und kritisch gegenüber einer kritischen Philosophie – eine fundamentale Skepsis gegenüber der als unbegrenzt gedachten Perfektibilität des Menschen und eine fast
Zu diesem Begriff und Phänomen vgl. die Beiträge von Wilfried Barner: »Über das Negieren von Traditionen. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland«. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik XII). Hg. v. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck. München 1987, S. 3-51; Wilfried Barner: »Einleitung«. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. v. demselben. München 1989, S. IX-XXIV. WBr 11.1, Nr. 462, S. 395. Vgl. Hans Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994.
Einleitung
unüberwindbare Distanz zu geschichtsphilosophischen Fortschrittskonzepten jeglicher Art. Wielands literarische, literatur- und kulturkritische sowie politische Schriften scheinen immer zugleich mehreren Epochen verpflichtet. ›Aufklärung‹ bedeutet in diesem Zusammenhang deshalb nicht bloße Säkularisierung und Traditionsverlust, auch nicht (nur) ›Autonomie‹ und Freiheit, sondern die fortlaufende und fallweise operierende Interpretation des ›Alten‹ und des ›Neuen‹, ein insgesamt noch näher zu beschreibendes Verfahren des Erprobens und der Selektion von Geschichte(n), Wissens- und Traditionsbeständen. Damit eröffnet Wieland – entgegen einer vorwiegend teleologischen Auffassung von Modernität – ein Verfahren, das die Vielfalt und die Ambivalenz des Begriffs ›Modernität‹ betont (und heute nicht von ungefähr in kulturtheoretischen Reflexionen über die Moderne wiederzukehren scheint).¹² Ein entscheidendes Gewicht in diesen Interpretationen und Selektionsprozessen kommt – damals wie heute – dem ›Erzählen‹ und der narrativen Vermittlung zu.¹³ Sämtliche Traditionen und Wissensbestände zeigen sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert als kommunikativ ›verflüssigt‹, d. h. stehen unter dem Vorbehalt der Prüfung und Zustimmung. Sie bewähren sich im Kontext von (Lebens-)Erzählungen, anhand derer das kulturelle Zustimmungs- und Integrationspotential des ›alten‹ und ›neuen‹ Wissens jeweils durchgespielt werden kann. Die vielfach beschriebene Dialogizität von Wielands Erzählen¹⁴ ist selbst ein Beispiel für die von ihm auf diese Weise in Anspruch genommene Funktion aufklärerischer Literatur: Die fingierten Dialoge und Normenkonflikte in seinen Romanen und Essays spiegeln reflektierte Selbstverhältnisse und ermöglichen die Stabilisierung von Identitäten¹⁵ im epochalen Wandel; sie knüpfen zugleich an die Ästhetik der aufklärerischen Geselligkeitskultur an, um diese zu komplexeren Konzepten von Individualität fortzuentwickeln.¹⁶ Statt Standpunkte einzunehmen, experimentieren Wielands späte Schriften und Romane mit den religiösen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Gegenständen der ›traditionellen‹ und ›modernen‹ Wissensbestände – zumeist in Form von Dialogen und Gesprächen, narrativen Versuchsanordnungen und fingierten (Selber-)Lebensbeschreibungen (insbesondere
Thorsten Bonacker u. Andreas Reckwitz (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart. Frankfurt/M. 2007. Vgl. David Carr: Time, Narrative and History. Bloomington 1986; Dieter Thomä: Erzähle Dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Frankfurt/M. 1998; Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. I: Zeit und historische Erzählung. München 1988. Zuletzt: Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000. Birgit Nübel: Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz. Tübingen 1994. Ähnlich zeigt dies für Eduard Mörike: Wolfgang Braungart: »Prolegomena zu einer Ästhetik der Geselligkeit (Lessing, Mörike)«. In: Euphorion 97 (2003), S. 1-18.
Walter Erhart / Lothar van Laak
in den großen Romanen des Spätwerks, Peregrinus Proteus, Agathodämon und Aristipp und einige seiner Zeitgenossen), aber ebenso in publizistischer Form, in Zeitschriften (Der Teutsche Merkur, Das Attische Museum), fiktiven Gesprächen über die Französische Revolution sowie Übersetzungen antiker Texte (u. a. von Horaz, Lukian und Cicero) samt dazugehörigen, ›aktualisierenden‹ Kommentaren. Im Zeitalter der funktionalen Ausdifferenzierung von Philosophie und Theologie, Kunst und Literatur, Ästhetik und Wissenschaft beschreitet Wieland in seinem Spätwerk einen bislang kaum beachteten Weg einer integrativen ›Kulturpolitik‹.¹⁷ Statt die Idee der Kunst als ›neuen Mythos‹ zu etablieren¹⁸ oder als marginalisiertes kompensatorisches Residuum zu betrauern, versucht Wielands literarisches und essayistisches Spätwerk so, die ausdifferenzierten Sphären der Kunst, der Philosophie und der Kultur zu reintegrieren: mit Hilfe eines literarischen Mediums, das dialogisch Tradition produktiv macht und das die öffentliche intellektuelle Meinungsbildung mit einer epochenübergreifenden Wissensvermittlung verbindet. Die hier kurz skizzierte eigenständige Position Wielands im literarischen Feld um 1800 wird in den Beiträgen des vorliegenden Bandes genauer und in zahlreichen Dimensionen entfaltet. Ein immer wiederkehrendes Moment ist dabei, dass die doppelte Bezugnahme des späten Wieland auf die aufklärerischen Wissensbestände und Wissenskonfigurationen einerseits, auf antike philosophische und ästhetische Positionen andererseits, als ein entscheidender Transfer von Wissen zwischen Früher Neuzeit und Moderne aufgefasst werden kann. Drei Wissenskomplexe bzw. Verfahren und Umgangsweisen mit diesen Wissenskomplexen erweisen sich in dieser Hinsicht – nicht nur bei Wieland – als besonders bedeutsam: erstens die traditionell humanistisch-gelehrte Bildungswelt, wie sie einerseits mit den kanonischen Autoren der Antike, andererseits im Textproduktionssystem der Rhetorik als Modell der Kommunikationsstrukturierung und als Kulturtechnik kanonisiert wurde;¹⁹ zweitens die Religion, die sich gegen eine konfessionell verfestigten Lehrmeinung zu einer modernen Religiosität, einem ›Gefühl für das Unendliche‹ (Schleiermacher), wandelt und so die
Vgl. Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte. Wielands ›Aristipp‹ und Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Heidelberg 2006. Überlegungen dazu finden sich bereits bei: Irmtraut Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum. Tübingen 1990. Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie I. Frankfurt/M. ⁴1988. Vgl. Jörg Schönert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin, New York 2004; Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004; Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007.
Einleitung
religiöse Erfahrung des modernen Subjekts in den Mittelpunkt rückt;²⁰ drittens schließlich die narrative und rhetorische Verfasstheit der Wissensbestände, insbesondere die geläufigen Erzählformen, wie sie sich im Laufe des 18. Jahrhunderts bis zur Konzeption des ›Transzendentalromans‹²¹ neu herausbilden und entfalten. An allen diesen Umbesetzungsprozessen und Übergangsphänomenen ist Wielands Werk in besonderem Maße beteiligt. In seinen ›altphilologischen‹ Arbeiten und Übersetzungen praktiziert Wieland eine im Übergang begriffene ›Gelehrsamkeit‹, die sich um 1800 einerseits in eine philologische Wissenschaft jenseits des traditionellen ›alteuropäischen‹ Gelehrtenstandes²² und andererseits in eine literarisch-publizistische Öffentlichkeit zu verwandeln beginnt. In seinen Romanen Peregrinus Proteus, Agathodämon und Aristipp und einige seiner Zeitgenossen imaginiert Wieland eine Spätantike, deren religiöse und philosophische Inhalte zerstört, reformiert und neu gegründet werden: ein literarisches Epochenmodell, das historische und aktuelle Transformationsprozesse überblendet und damit zugleich der literarischen, ideengeschichtlichen und gesellschaftlichen Diagnostik der Gegenwart dient. In seinen essayistischen und literarischen Texten schließlich verbindet Wieland moderne und traditionelle Erzählformen zu einer bislang noch kaum erforschten ›Enzyklopädie‹ narrativer und dialogischer Verfahren, die auf Antike, Frühe Neuzeit und Moderne gleichermaßen verweist. Von entscheidender Bedeutung ist dabei stets das Verhältnis der Traditionsinhalte – religiöse Auffassungen, antike Gelehrsamkeit von Poetik und Rhetorik, narrativ konstituierte Lebensgeschichte in Roman und (Auto-)Biografie – zu den Verfahren des Tradierens, den Um-, Neu- und Übersetzungen des Wissens, der Bewahrung und ›Modernisierung‹ von Wissen, dem Wissenstransfer mittels Gattungen, intertextuellen Relationen, Erzählverfahren und Erzählformen. Vor allem Wielands Spätwerk seit den 1780er Jahren – dies zeigen die Beiträge dieses Bandes – konstituiert und variiert solche Verfahren auf vielfältige Weise. Es überschreitet dabei ständig die Grenzen von Essay und Roman, Philosophie und Literatur, Antike und Moderne und gestaltet ein Kompendium unterschiedlichster Wissens- und Prosaformen an der Schwelle zum 19. Jahrhundert.
Vgl. Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Frankfurt/M. 2001; Lutz Danneberg, Sandra Pott u. a. (Hg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus: Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Berlin, New York 2002; Richard Rorty u. Gianni Vattimo: Die Zukunft der Religion. Frankfurt/M. 2006. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993. Jan Cölln: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im Aristipp. Göttingen 1998.
Walter Erhart / Lothar van Laak
Der vorliegende Band gliedert sich in vier Abschnitte. Die Beiträge des ersten Abschnitts (»Grundlagen und Traditionen«) verfolgen die in Wielands (Spät-)Werk erkennbaren Umbrüche von Traditionen und Wissensordnungen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Wieland wird als eine Figur des Übergangs präsentiert: in der Literaturtheorie (Ulrike Zeuch), der Literaturkritik (Steffen Martus), der Historiographie (Anja Oesterhelt), der Philosophie (Lothar van Laak) und der Religion (Pascal Frey). Die Pointe dieses Übergangs besteht in einer Art produktiver Unentschiedenheit, die Wielands Haltung gegenüber dem ›modernen‹ 18. Jahrhundert prägt. In welcher Weise und in welchem Ausmaß Wielands Spätwerk die Traditionen und Innovationen in diesen unterschiedlichen Wissenssystemen verbindet und im Einzelnen austariert, ist von Fall zu Fall verschieden – und umstritten. Ob Wieland die Prozesse des Übergangs initiiert und begleitet oder sich vom ›Alten‹ nicht löst; ob er, auf Bewahrung bedacht, sich der Moderne nur fallweise, ›diplomatisch‹ und zögerlich anschließt; ob er ›Mittelwege‹ und Verhandlungen oder Abwehrmanöver vorschlägt; ob Wieland überhaupt je modern gewesen ist (Walter Erhart) – all dies bleibt eine offene Frage. So zeigte es auch schon die kontroverse Diskussion der Beiträge auf der Tagung, die den Anstoß für diesen Band gegeben hat. Unstrittig modern aber – seit den Abenteuern des Don Sylvio von Rosalva (1763) und der Geschichte des Agathon (1766/67) – ist Wielands Erzählen. Bisher hingegen weniger beachtet worden sind die Veränderungen der Wieland’schen Erzählformen seit den 1780er Jahren. Der zweite Abschnitt des Bandes (»Erzählformen und Schreibweisen«) nimmt deshalb die narrative Vielfalt, aber auch ein in diesem Zusammenhang explizit zu beobachtendes ›formales‹ und literarisches Traditionsverhalten der späten literarischen Werke in den Blick: die seit den 1760er Jahren für Wieland charakteristischen Herausgeberfiktionen (Uwe Wirth); die philosophischen Essays (Bernd Auerochs) und die Verserzählungen (Hannelore Schlaffer), mit denen sich Wieland ein weiteres Mal zwischen allen literarischen Epochen platziert und gleichzeitig eigentümlich unzeitgemäß zu werden droht; die literarischen Dialoge, die das Wieland’sche Erzählen mehr und mehr in einen bislang kaum gewürdigten ›extraterrestrischen‹ Erzählraum, das Elysium, verlagern (Alexandra Kleihues); schließlich die häufige Thematisierung des Erzählens und Lesens in den Romanen selbst, wodurch Wieland (und seine Figuren) in einer spezifisch ›modernen‹ Rezeptionsästhetik die Zusammenhänge von Neugier, (erotischer) Verführung, Spannung und Reiz des Lesens entfalten (Andreas Seidler). Auch im Fall der Erzählweisen und Schreibweisen freilich oszillieren Tradition und Moderne in eigentümlicher Weise: Wielands publizistischer Beitrag zur Frage »Was ist Aufklärung?« lässt sich als aktueller philosophischer
Einleitung
Kommentar zu einer von Mendelssohn und Kant geprägten Debatte lesen. Genau besehen bedient sich Wieland hier allerdings auch einer der ältesten Gattungen, der menippeischen Satire, und stellt die Berechtigung dieser modernen philosophischen Diskussion mit dem (Rück-)Blick auf die Antike und den Mitteln einer sie unterlaufenden Schreibweise sogleich gründlich in Frage (Bernd Auerochs). Der dritte Abschnitt des Bandes (»Spätwerke«) widmet sich Einzelinterpretationen der späten Erzählwerke. Ausgehend von der Frage nach Wielands »modernem Klassizismus« (Klaus Manger) zeigt sich en détail, wie Wieland zahlreiche Wissens- und Erkenntnismodelle mittels narrativliterarischer Verfahren überprüft, resümiert, umgestaltet und neu perspektiviert. Erkennbar wird eine höchst spezifische (Experimental-)Poetik,²³ die zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik sowie zwischen Antike, Platon, Kant und deutschem Idealismus changiert und vermittelt, ohne sich einer einzelnen Richtung zu verschreiben oder gar groß angelegte Lösungsmodelle vorzuschlagen. Die früher häufig konstatierte ›Unentschiedenheit‹ oder ›Standpunktlosigkeit‹ (gar ›Oberflächlichkeit‹) des Wieland’schen Denkens erscheint hier in einem gänzlich anderen Licht: Ein in allen Beiträgen hervorgehobenes Kennzeichen des Wieland’schen Spätwerkes ist die skeptische Infragestellung historischer und zeitgenössischer Wissensansprüche bei gleichzeitiger theoretischer Anerkennung und narrativer Beglaubigung der Tatsache, dass solche Ansprüche gleichwohl begründet gestellt werden können.²⁴ Im Dialogroman Peregrinus Proteus wird zu diesem Zweck eine regelrechte ›Mythopoetik‹ entworfen, mittels derer zugleich historische Funktionen der Einbildungskraft vorgeführt werden: Idealisierungen, Inszenierungen und Mythisierungen, die in ihrer antiken, christlichen und modernen Modellierung keineswegs ihre literarische und anthropologische Plausibilität verlieren (Kai Kauffmann). Agathodämon versetzt die aufklärerische Debatte um Vernunft und Glauben in einen historischen Roman, um einerseits die Ansprüche der Religion und der Philosophie auf Transzendenz aufrechtzuerhalten, sie andererseits im Blick auf ihre unterschiedlichen pragmatischen Wirkungen gleichzeitig jedoch zu beschränken, zu durchschauen oder umzulenken (Laura Auteri). Der Novellenzyklus Hexameron von Rosenhain führt die für das 18. Jahrhundert (und für Wielands eigenes Werk) zentrale poetologische Frage nach Fiktionalität, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit in eine literarische Ethik weiter, die nach der dem Einzelnen jeweils zuträglichen Konstruktion
Bereits 1971 sprach Jan-Dirk Müller von den späten »Experimentalromanen« und von Versuchsanordnungen in Wielands Spätwerk (Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit. München 1971. Vgl. dazu auch Dirk von Petersdorff: »Wieviel Metaphysik braucht die Aufklärung? Christoph Martin Wielands ›Musarion‹«. In: Merkur 667 (2004), S. 1009-1019.
Walter Erhart / Lothar van Laak
von ›Welten‹ und ›Wahrheiten‹ fragt (Jutta Heinz). In Wielands letztem Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen werden am Beispiel des antiken Platonismus nicht nur die philosophischen Theorien von Kant über Fichte bis zur Frühromantik thematisiert und kritisiert.²⁵ Im Bestreben, die theoretische Überbietung philosophischer Wahrheits- und Wissensansprüche zu relativieren, nähert sich Wieland sogar einer »Theorie der Unbegrifflichkeit«,²⁶ die das metaphorische Sprechen in den Gesprächen seiner fiktiven antiken Romanfiguren begleitet und fundiert (Jan Cölln). Wielands späte literarische Texte entfalten auf diese Weise eine moderne Poetik des Wissens. Sie verfremden das Tableau der zeitgenössischen Erkenntnisformen und Wissensmodelle zunächst, d. h. versetzten sie in einen fiktiven und historischen Rahmen zurück, um sie von dort aus – mittels narrativer und rhetorischer Verfahren – einer immer auch zeitgenössischen literarischen Prüfung zu unterziehen. Zuletzt allerdings werden die Leserinnen und Leser stets wieder auf die Antike verwiesen, die vor allem in ihrer spätzeitlich-hellenistischen Phase als das vorrangige Modell, als Resonanzraum und Vorbild der modernen Übergangsepoche um 1800 fungiert. Der vierte und letzte Abschnitt des Bandes (»Antike und Moderne«) widmet sich Wielands Auseinandersetzung mit der Antike. Er beginnt selbst mit einem Übergangsphänomen: Hatte Wieland mit seinen Comischen Erzählungen (1764) Erotik und Sexualität und dabei wie selbstverständlich auch die »griechische Liebe«, d. h. die antike Homosexualität, thematisiert und in sein Ensemble der griechischen Mythologeme und Figuren mit einbezogen, so hat er diese Stellen später – auch in der Reaktion auf die kritische Rezeption seiner Werke – vollständig getilgt und aus seinem Werk entfernt. Es handelt sich um einen eklatanten Fall von Selbstzensur (Daniel W. Wilson), aber auch um ein erstes, bislang unbekanntes Beispiel dafür, wie Wielands Antike mit den zeitgenössischen literarischen Strömungen des 18. Jahrhunderts korrespondiert – im Konsens und in der Dissonanz. Kein deutscher Autor seit dem 18. Jahrhundert hat die Antike mit allen ihren Erscheinungsformen derart umfassend thematisiert und literarisiert; kaum jemand lässt sich auch – vom Rokoko bis zur Weimarer Klassik – so wenig in Übereinstimmung bringen mit dem mainstream literarischer Antike-Rezeption. Gerade deshalb sind Wielands späte Übersetzungen gerichtet gegen den Geist der Zeit: Lukian gehört zu den im 18. Jahrhundert weitgehend abwesenden – und abgelehnten – Autoren (Michael Weißenberger); an Horaz entwickelt Wieland nicht nur
Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. München 2000. Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt/M. 2007.
Einleitung
ein kosmopolitisches Ideal antik-moderner Dichtung, sondern er deutet die Ars Poetica – höchst originell – als Anti-Poetik (Joachim Jacob); mit Cicero setzt er seine späten ›historischen Romane‹ fort und betreibt im Gewand einer kommentierten Übersetzung die abschließend letzte gesellschaftliche und politische Bestandsaufnahme auch der eigenen Gegenwart (Jan Philipp Reemtsma). Wie die letzten hier versammelten Beiträge zeigen, sind Wielands Übersetzungen insgesamt ein gewichtiger Beitrag zur Literatur und zur literarischen Kultur. Sie versetzen Lukian, Horaz und Cicero in das aufgeklärte 18. Jahrhundert und gestalten immer auch zugleich deren gegenwärtige und moderne Aneignung. Nicht zuletzt an diesem gewaltigen Übersetzungswerk wird deutlich, wie der späte Wieland die aufklärerischen Wissensbestände mit den kulturellen, philosophischen und ästhetischen Traditionen der Antike verschmilzt und dabei eine bis heute kaum (an-)erkannte ›Neustiftung‹ von Tradition vollzieht. Wie sehr diese Neustiftung auch der Biographie und den Lebensumständen des späten Wieland abgerungen war, zeigt der Epilog des vorliegenden Bandes, der sich der durchaus realen Beschäftigung Wielands mit dem Ende und der Vergänglichkeit widmet: dem Tod nahestehender Personen auf Wielands Landgut in Oßmannstedt, auf dem ja die meisten der Spätwerke und Übersetzungen entstanden sind (Thomas C. Starnes). Nicht nur die Tradition ist vom Ende der Überlieferung, ihrem metaphorischen ›Tod‹, bedroht (von dem die Rezeption der Wieland’schen Werke ein eigenes Lied singen könnte); ebenso prägt die Erfahrung des wirklichen Todes, der irdischen Verluste und der eigenen Hinfälligkeit das Verhältnis der Autoren und Zeitgenossen zur Tradition und zur Vergangenheit – auch davon erzählen Spätwerke. Die in diesem Band versammelten 21 Beiträge gehen auf die Tagungen und Jubiläumsfeierlichkeiten zurück, die anlässlich von Wielands 275. Geburtstag Ende August und Anfang September 2008 im Gleimhaus Halberstadt, auf dem Wieland-Gut in Oßmannstedt bei Weimar und in Biberach an der Riß stattgefunden haben. Der größte Teil der Beiträge wurde im Rahmen der Tagung »Literarische Innovation – Traditionsbildung – Wissenstransfer. Christoph Martin Wieland und die Erneuerung von Wissen, Religion, Kunst und Ästhetik um 1800« im Gleimhaus Halberstadt präsentiert und diskutiert; die Beiträge von Hannelore Schlaffer, Jan Philipp Reemtsma und Thomas C. Starnes basieren auf Vorträgen, die im selben Jahr auf einer vom »Freundeskreis des Goethe-Nationalmuseums e.V. Weimar« veranstalteten Tagung in Oßmannstedt gehalten worden sind. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn danken wir für die finanzielle Unterstützung der Tagung in Halberstadt, dem Verlag Walter
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de Gruyter für die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm und Innokentij Kreknin für die umsichtige Betreuung der Drucklegung. Schließlich danken wir ganz herzlich Frau Dr. Ute Pott, dem Gleimhaus Halberstadt und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die überaus kompetente Mitorganisation und die freundliche Gestaltung der Tagung. Der Tradition des geselligen Geists und der wissenschaftlichen und ästhetischen Aufgeschlossenheit von Gleim und Wieland haben sie in einer Weise entsprochen, dass Wielands Anliegen, »all das Gute, das […] mir gethan [worden ist]«, weiterzugeben, auf das Lebendigste vermittelt wurde. Ein Gleiches für die Beiträge dieses Bandes erhoffen die Herausgeber. Bielefeld, im Oktober 2009 Walter Erhart und Lothar van Laak
I. Grundlagen und Traditionen
Walter Erhart
Wieland ist nie modern gewesen Die der Wirkungsgeschichte abgelesenen Urteile sind eindeutig. »Wieland wird nicht mehr gelesen«¹ – so Walter Benjamin 1933 in einer Rezension aus Anlass eines Wielandjubiläums. Keiner habe »besser […] deutsch geschrieben […]; aber seine Gedanken geben uns Nichts mehr zu denken«² – so, ein halbes Jahrhundert früher, Friedrich Nietzsche in Menschliches Allzumenschliches II (1886). Und zuletzt, in einem 2008 erschienenen Wieland-Handbuch, heißt es: Wieland sei heute »außerhalb der Literaturwissenschaft so gut wie unbekannt«, das Werk gelte »als für heutige Leser unlesbar«, sein Autor scheine »unwiederbringlich dem Vergessen anheimgegeben.«³ Wer möchte dem widersprechen? Und wer möchte den Gründen dieser Fehlrezeption und dieses Vergessens noch einmal nachgehen – nachdem auch die Verwandlung des »klassischen Nationalautors« in einen »negativen Classiker« mittlerweile ausführlich beschrieben worden ist?⁴ Das Etikett eines »negativen Classikers« ließe sich heute vielleicht als Ehrentitel verwenden, kommt darin doch ein Element der Unruhe und der Provokation ins Spiel, das in nachklassischen Zeiten allemal interessant zu werden verspricht; die Macht der ›negativen‹ Wirkungsgeschichte und die Kraft des Vergessens waren dann aber wohl doch stärker – dank auch einer Deutschlehrerausbildung sowie germanistischer und gymnasialer curricula, in denen Wieland niemals eine Rolle gespielt hat. Alles beim Alten also: ein unlesbarer Autor, ein unwiederbringlich vergessenes Werk, eine Literatur ohne Leser. Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler haben dem meist nichts entgegenzusetzen, zumal erst dann ihre eigentliche Tätigkeit beginnt: an das Vergessene zu erinnern, um es als
Walter Benjamin: »Christoph Martin Wieland. Zum zweihundertsten Jahrestag seiner Geburt«. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II/1. Frankfurt/M. 1991, S. 395-406, hier S. 395. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. II. München 1999, S. 599. Jutta Heinz: »Vorwort«. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. VII-IX, hier S. VII. Zuerst von Herbert Jaumann: »Vom ›klassischen Nationalautor‹ zum ›negativen Classiker‹. Wandel literaturgeschichtlicher Institutionen und Wirkungsgeschichte, am Beispiel Wieland.« In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Hg. v. Karl Richter u. Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 3-26.
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Tradition zu verwalten und zu bewahren. Je mehr die evidente ›Wahrheit‹ aus der Poesie und je mehr anschließend die Literatur aus der Öffentlichkeit verschwindet, umso mächtiger tritt die Philologie auf den Plan,⁵ und im Falle Wielands scheint sich dies gerade heute zu bestätigen: In Weimar und Jena entsteht eine historisch-kritische Gesamtausgabe von Wielands Werken,⁶ ein bereits zitiertes Wieland-Handbuch versammelt noch einmal das gesamte philologische Wissen zu Wielands Leben, Werk und Wirkung.⁷
Eine Fehlrezeption: die Modernisierung des Wieland’schen Werkes Der Philologie obliegt es seit alters her, eine nicht mehr gelesene Literatur und einen nicht mehr gegenwärtigen Autor mit ihren Mitteln zu konservieren. Dem steht freilich das ebenfalls philologische Bemühen entgegen, die literaturgeschichtlichen Gegenstände stets auch an die Gegenwart zu vermitteln. Nicht von ungefähr wurde Wielands Werk zum Modellfall der Schwierigkeiten, zwischen der Bewahrung des nicht mehr Rezipierten und der vermittelnden ›Aktualisierung‹ der literarischen Tradition einen gangbaren Weg zu finden – und all dies scheint sich zu kristallisieren in der Rede von Wielands Modernität. Die Geschichte der literaturwissenschaftlichen Wieland-Rezeption (und der Wieland-Gedenkjahre) lässt sich deshalb auch als ein groß angelegter Versuch interpretieren, aus Wieland einen modernen Autor zu machen. Es begann vielleicht damit, Wielands Geschichte des Agathon als ›ersten modernen deutschen Bildungs- und Entwicklungsroman‹ auszugeben, und es setzte sich am Ende des 20. Jahrhunderts damit fort, Wielands Werk mit den großen Theoretikern der Moderne – mit Jürgen Habermas und Richard Rorty – in Verbindung zu bringen. Horst Thomé hat 1983 auf einer Jubiläumstagung in Biberach Wielands Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen als eine Art vorweggenommenen Modellversuch der ›herrschaftsfreien Kommunikation‹ interpretiert – als antikische Modellierung einer Diskursgemeinschaft, die handlungsentlastet Normen prüft, ohne dabei in handlungsorientierte Normkonflikte zu geraten.⁸ Jan Phillip Reemtsma hat dieser Auffassung
Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. 1990. Die ersten vier Bände der Historisch-Kritischen Werkausgabe – oder auch: Oßmannstedter Ausgabe (hg. v. Klaus Manger) sind seit Dezember 2008 im Verlag Walter de Gruyter erschienen. Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 3). Horst Thomé: »Utopische Diskurse. Thesen zu Wielands ›Aristipp und einige seiner Zeitgenossen‹«. In: Modern Language Notes 99 (1984), S. 503-521.
Wieland ist nie modern gewesen
vom literarisch-ästhetischen Modell der Wieland’schen Spätromane wenig später vehement widersprochen – im Rahmen einer anderen, von manchen ›postmodern‹ genannten Moderne, einer ›osmantischen‹ Aufklärung, die gegenüber Habermas nunmehr Richard Rorty ins Spiel gebracht hat. Wielands Aristipp zeige gerade keine ›ideale Kommunikationsgemeinschaft‹, sondern »nur eine der beiden Möglichkeiten, in denen wir Individuen sein können: indem wir das Gespräch fortsetzen. Die andere: indem wir das Gespräch abbrechen.«⁹ Eine neue Runde der Bemühungen um Wielands Modernität hat Dirk von Petersdorff vor einigen Jahren in der Zeitschrift Merkur eingeläutet – wieder mit Bezug auf Habermas, dessen Rede über Glauben und Wissen wenn nicht das Thema der Religion, so zumindest die von religiösen Traditionen aufbewahrten normativen Energien wieder in das Projekt der Moderne zu integrieren suchte.¹⁰ »Wieviel Metaphysik braucht die Aufklärung?« – so intoniert Dirk von Petersdorff die Selbstzweifel der Moderne und den Gehalt von Wielands Versepos Musarion.¹¹ Eine Antwort freilich bleibe bei Wieland programmatisch aus. Was diesen Autor für die Moderne gerade so wertvoll mache, sei die von ihm auf seine Figuren übertragene Widersprüchlichkeit: Spiel und Ernst, radikale Aufklärung und doch das »Plädoyer für die Bewahrung eines transzendenten Raumes«.¹² Die Widersprüche wiederum – so von Petersdorff weiter – lassen sich auf »verschiedene Anteile« im Autor selbst zurückführen; »das mag früher problematisch gewesen sein – für die Gegenwart wird er damit interessanter«.¹³ Handelt es sich bei der Modernisierung Wielands, so ließe sich fragen, um eine Aktualisierung, die unsere literarische Tradition bloß für die Gegenwart »interessanter« machen möchte? Oder soll Wielands Werk tatsächlich mit einem Begriff der Moderne verrechnet werden, der diesen Autor nunmehr in einen eminent modernen und deshalb zu Unrecht nicht mehr gelesenen Autor verwandelt? Zweifellos fällt Wielands Werk historisch in jene berühmte ›Sattelzeit‹, die nach Ausweis fast sämtlicher gängiger Modernisierungstheorien auch Wieland als einen pünktlichen Anwärter auf literarische Modernität erscheinen lässt. »Er hat tatsächlich die ersten modernen Romane in deutscher Sprache geschrieben«¹⁴ – so
Jan Philipp Reemtsma: Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands ›Aristipp und einige seiner Zeitgenossen‹. Zürich 1993, S. 305. Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt/M. 2001. Dirk von Petersdorff: »Wieviel Metaphysik braucht die Aufklärung? Christoph Martin Wielands ›Musarion‹«. In: Merkur 58 (2004), S. 1009-1019. Ebd., S. 1017. Ebd., S. 1011. Wolfgang Preisendanz: »Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (›Don Sylvio‹, ›Agathon‹)«. In: Nachahmung und Illusion. (Poetik und Hermeneutik 1). Hg. v. Hans R. Jauß. München 1964, S. 72-95.
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konnte Wolfgang Preisendanz in einem wegweisenden Aufsatz von 1964 die erzähltheoretischen und erzähltechnischen Innovationen in Wielands ersten Romanen Don Sylvio von Rosalva und Geschichte des Agathon zusammenfassen. Andererseits hat Wieland selbst immer wieder darauf beharrt, dass sich seit der Antike eigentlich nichts Wesentliches geändert habe: »Bei Wieland«, so auch Jutta Heinz in dem von ihr herausgegebenen Wieland-Handbuch, »ist (fast) alles schon einmal gesagt und gedacht worden«¹⁵ – ein manifester Einspruch gegen den mit der Moderne verbundenen Anspruch auf Neuheit und Veränderung, gerade auch im Hinblick auf die Philosophie und Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Die merkwürdige Schwierigkeit, Wielands Werk in dieser modernen Sattelzeit zu (ver-)orten, hat nicht zuletzt zum Versuch von Jutta Heinz geführt, den historischen Ort Wielands mit der Rede von der »Wielandizität« seines Werks fast jenseits der Epochen, jedenfalls in einer dem epochalen Schnitt von Vormoderne und Moderne eigentümlich enthobenen Sphäre zu lokalisieren.¹⁶ Solche Kategorisierungen dienen nicht der bloß literaturgeschichtlichen Einordnung eines Autors; sie stehen immer auch im Zusammenhang einer Beurteilung und Einschätzung der stets auch als Gegenwart begriffenen Moderne. Statt deshalb die Versuche fortzusetzen, Wielands Werk entweder als antiquiert (und deshalb womöglich als ›unlesbar‹) oder als überraschend modern auszulegen, könnte Wielands Werk heute selbst dazu anregen, unsere gängigen Auffassungen von der gesellschaftlichen und literarischen Moderne zu befragen und gegebenenfalls zu verändern. Zu diesem Zweck möchte ich kurzerhand die Gegenthese zur angestrengten Modernisierung Wielands aufstellen und behaupten, dass Wieland in dem uns geläufigen Sinn nie modern gewesen ist. Eine solche Behauptung zielt zunächst weder auf die Traditionalität noch auf die ›Überzeitlichkeit‹ des Autors, sondern zitiert eine These des französischen Soziologen und Wissenschaftshistorikers Bruno Latour,¹⁷ die besagt, dass trotz allen Anspruchs auf radikale Neugründungen die Moderne einige ihrer grundlegenden Postulate – glücklicherweise – nie richtig umgesetzt hat, dass wir trotz aller theoretischen Versuche eben nie so modern gewesen sind, wie wir geglaubt haben: »Wir bemerken, dass wir niemals begonnen haben, in die moderne Ära einzutreten.«¹⁸ Bei Latour geht es um die Trennung von Menschen und Dingen, von Kultur und Natur: Die Abtrennung alles Materiellen und Dinglichen vom »Menschlichen« und
Heinz: »Vorwort« (Anm. 3), S. VII. Vgl. Jutta Heinz: »›Wielandizität‹. Versuch einer Charakteristik«. In: Heinz: WielandHandbuch (Anm. 3), S. 457-466. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt/M. 2008. Ebd., S. 65.
Wieland ist nie modern gewesen
»Geistigen« gehöre zum Grundverständnis einer Moderne, die mit den vermeintlich vormodernen und magischen Vermischungen, den von Latour so genannten »Hybriden«, radikal aufräumen möchte. Statt der »großen Trennung« und »Reinigung«¹⁹ des Nicht-Menschlichen vom Menschlichen seien jedoch die Bestände nur neu angeordnet worden; die immer noch fortbestehenden Vermischungen und Grenzgebiete seien verleugnet und abgedrängt worden – bis sie sich heute wieder zeigen und das Projekt der Moderne zumindest in diesem Punkt korrigieren und auf neue Wege bringen, in Richtung auf die von Latour antizipierten »Netzwerke« und »Kollektive«.²⁰
Wielands Distanz Bruno Latours These von der Selbsttäuschung der Moderne ist der bislang radikalste in einer Reihe von Versuchen, die Folgerichtigkeit und Zielgerichtetheit der Modernisierung sowie die unausweichliche Periodisierung der neuzeitlichen Geschichte in ein ›vorher‹ und ›nachher‹ durch eine »neue Lektüre unserer Geschichte«²¹ in Frage zu stellen. Ich möchte eine ähnliche Revision der Moderne mit Blick auf Wielands Werk und Wielands Denken vorschlagen – und behaupten, dass Wieland als durchaus moderner Autor die entscheidenden Bedingungen und Konsequenzen des modernen Denkens und der modernen Literatur nie akzeptiert hat, dass folglich auch Wielands Werke sich der Zwangsläufigkeit und der teleologischen Programmatik einer in Philosophie und Literatur fortschreitenden Moderne entziehen. Exemplifizieren lässt sich dies besonders gut an seiner Geschichte des Agathon (1766/67 – 1794). Die Korrekturen, Revisionen und Neugestaltungen dieses Romans umfassen mehrere Jahrzehnte, mit ihnen entfaltet Wieland seine Stellung zum modernen 18. Jahrhundert. Die zu Beginn des Romans vorgeführten Kontrahenten Agathon und Hippias verkörpern und entwickeln wie in einer experimentellen Versuchsanordnung zwei anthropologische und philosophische Optionen, mit denen das gesamte 18. Jahrhundert seine (moral-)philosophischen Konflikte orchestriert;²² die zugespitzte Form der dabei entstehenden Widersprüche prägt bereits die erste Fassung des Romans und ist für die Moderne bis heute konstitutiv: Lassen sich die normativen Potentiale des gesellschaftlichen Zusammenlebens säkular begründen – oder triumphiert die kausale
Ebd., S. 20. Vgl. hierzu: Georg Kneer, Markus Schroer u. Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive: Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen. Frankfurt/M. 2008. Latour: Wir sind nie modern gewesen (Anm. 17), S. 65. Vgl. dazu ausführlich Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt. Tübingen 1991.
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Determination einer das Menschsein gänzlich bestimmenden, unpersönlichen und ›seelenlosen‹ Natur? Wieland hat sehr wohl verfolgt, welche modernen Antworten angesichts dieser Fragen entstehen; in seinem eigenen Werk hat er sich davon freilich zunehmend distanziert. Es genügt in diesem Zusammenhang nur daran zu erinnern, in welch auffälligem Maße Wieland an den für die Start-Phase der Moderne im ausgehenden 18. Jahrhundert entscheidenden Prozessen, mithin an welchen ›Modernisierungen‹ er ostentativ nicht beteiligt war und nicht beteiligt sein wollte.²³ Da ist zum einen das geschichtsphilosophische Denken, das mit dem Sattelzeitphänomen der Verzeitlichung entsteht²⁴ und dem Wieland ein Denken in zeitübergreifenden Analogien und Typologien entgegenhält. Da sind – zweitens – die Projekte der philosophischen und moralphilosophischen Letztbegründungen von Descartes über Kant (bis zu Habermas), denen Wieland allesamt modellartige Philosophien der Antike entgegenhält. Mehr noch: In einer Art philosophischer Totalrevision möchte Wieland die Anstrengungen der Moderne, neue Fundamente des philosophischen Denkens zu entwickeln, wieder rückgängig machen: Statt der Letztbegründung von Moral (von Kant bis Habermas) propagiert Wieland die sokratische Lebenskunst; statt der cartesianischen Letztbegründung von Subjektivität empfiehlt er die Rückkehr zur Skepsis; statt der Kopernikanischen Wende, aufgrund derer die Welt vom Subjekt her gedacht wird, integriert sein Werk kosmologische und antike (Rest-)Vorstellungen, mit denen sich das Denken an der Schwelle der Zeitalter gewissermaßen als rückläufig erweist. Da ist – drittens – schließlich die Selbstbestimmung und Selbststeigerung des modernen souveränen Subjekts, denen sich insbesondere die autonom gewordenen und ausdifferenzierten Künste zu widmen beginnen.²⁵ Wieland jedoch, statt sich auf den Weg der Bildungsromane zu machen und den Ideen des perfektiblen Individuums, des Genies und der tiefen, unendlich bildsamen und unverwechselbaren Individualität zu folgen, reduziert – als Leser antiker Literatur – das Subjekt auf reichlich typenhafte Figuren und Charaktere, denen weniger ihre Individualität und Bildung als ihre psychologische Simplizität, ihre Zitathaftigkeit und ihre oberflächlich anmutende Rollenexistenz abgelesen werden kann.²⁶ In
Vgl. hierzu auch Walter Erhart: »›Wüste in Tyrol‹. Die Fremdheit des Schwärmers«. In: Wieland-Studien 4 (2005), S. 132-146. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979. Vgl. dazu – im Anschluss an Niklas Luhmann – Marianne Willems: »Individualität – ein bürgerliches Ordnungsmuster. Zur Epochencharakteristik von Empfindsamkeit und Sturm und Drang«. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis u. Marianne Willems. Tübingen 2006, S. 171-200. Auch dies kann freilich als zukunftweisend interpretiert werden: vgl. Walter Erhart: »Beziehungsexperimente. Goethes ›Werther‹ und Wielands ›Musarion‹«. In: DVjs 66 (1992), S. 333-360.
Wieland ist nie modern gewesen
diesem Zusammenhang bleiben dem literarischem Werk Wielands auch die charakteristischen Varianten der Selbststeigerung von Individualität fremd: Unverwechselbarkeit, ästhetische Originalität und (an prominenter Stelle) die Idee der romantischen Liebe mit ihrer auf Dauer gestellten Inklusion von Subjektivität, Sexualität und Affekten.²⁷ Zu all den beschriebenen modernen Entwicklungen, die zugleich zentrale Bestandteile unseres modernen kulturellen Wissens präsentieren, zu Geschichtsphilosophie, Letztbegründung und Selbststeigerung, steht Wielands Werk in kritischer Distanz. Umgekehrt rückte ihn diese ›Verzichtleistung‹ selbst in eine gewisse Isolation und ließ ihn zuletzt bereits für die eigenen Zeitgenossen zunehmend fremd werden. Die Verzeitlichung des Wissens und die Bildungsprozesse der Individuen bilden um 1800 die beiden zentralen Grundlagen der ›schönen Künste‹ und der historisch-philologischen Wissenschaften. Insbesondere mit Blick auf das Wieland’sche Spätwerk scheint mir hier ein für die Wirkungsgeschichte entscheidendes Moment vorzuliegen: Wielands Wissen ließ sich gewissermaßen nicht mehr länger mit der modernen Wissensproduktion verrechnen. Literatur wiederum wird für Wieland zu einem Medium, diese Distanz zum zeitgenössischen Wissen auch erzähltechnisch zu artikulieren. Seine späten Romane und die in ihnen porträtierten Figuren nehmen Abstand vom (Zeit-) Geschehen; die Ferne zu einer sich nach der Französischen Revolution und um 1800 als überaus modern gerierenden Epoche bestimmt die Erzähltechnik und Wirkungsästhetik dieser Romane: Die Figuren befinden sich im Elysium oder an abgeschiedenen ›posthistorischen‹ (Erzähl-)Orten; die Leser verwandeln sich in Teilnehmer antiker Philosophengespräche. Bevor ich die Konsequenzen dieser bei Wieland um 1800 vorliegenden Erzählmodelle für einen neuen Begriff der Moderne skizziere, möchte ich die Überlegungen zur Ungleichzeitigkeit des Wieland’schen Œuvres mit zwei Überlegungen fortsetzen: in Bezug auf Literaturkritik und Literaturgeschichte sowie auf die dritte Fassung der Geschichte des Agathon.
Gelehrsamkeit 1780 machte sich Wilhelm Heinse an eine erneute Lektüre der mittlerweile in einer neuen zweiten Fassung erschienenen Geschichte des Agathon.
Vgl. dazu Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt/M. 1982; Verena Ehrich-Haefeli: »Körper und Sprache bei Wieland und Maler Müller«. In: Autorität und Sinnlichkeit. Studien zur Literatur- und Geistesgeschichte zwischen Nietzsche und Freud. Hg. v. Karol Sauerland. Frankfurt/M., Bern 1986, S. 237-280; Verena Ehrich-Haefeli: »Die Kreativität des ›Genies‹: Zur psychohistorischen Archäologie der modernen Individualität«. In: Von Rousseau zum Hypertext. Subjektivität in Theorie und Literatur der Moderne. Hg. v. Paul Geyer u. Claudia Jünke. Würzburg 2001.
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Danach notiert er unter anderem in sein erst 2003 vollständig ediertes Notizbuch: Höchstunwahrscheinliche jugendliche Träumereyen in weitschweifigen schleppenden Styl voll eitler gezierter Gelehrsamkeit, ohne alle Natur bis auf einige beblümte Empfindungen der Liebe, mit platonischen Schwärmereyen verwässert. Da ist gar nichts wirkliches vom Menschen, lauter Stubenphantasie. Wahre schöngeisterische Altweibergeschwätzigkeit […]. Bücher und Stubenphantasie in weitschweifigen Perioden ohne allen Sinn für Wirklichkeit u ohne Darstellung in lebendiger Sprache.²⁸
Wieland-Forscher haben sich angewöhnt, auf solche Passagen mit geflissentlicher Empörung zu reagieren – und sie zugleich in eine bruchlose Linie mit der beklagten Wirkungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einzuordnen. Es lässt sich jedoch auch, historisch genauer, nach den in Heinses Urteil wirksamen Kategorien fragen, und dabei kommt eine durchaus angemessene literaturkritische und wissenschaftsgeschichtliche Diagnostik zum Vorschein. Zieht man nämlich die Affekte des sich zeitlebens an Wieland abarbeitenden Heinse ab, dann erkennt man, dass Heinse als moderner Dichter durchaus triftig gegen den ›Ancien‹ Wieland argumentiert. Was er kritisiert, ist Wielands Verankerung in den alten Institutionen der Gelehrtenrepublik: der ›schleppende‹ Stil und die ›gezierte‹ Gelehrsamkeit, die ›Stubenphantasie‹ ohne ›Natur‹, ›Wirklichkeit‹ und ›lebendige‹ Sprache. Es handelt sich einerseits um eine Abrechnung aus dem Geist der modernen Gelehrtensatire,²⁹ andererseits aber auch um die durchaus präzise Registratur eines rhetorisch-gelehrten Wissens, an dem Wieland teilhat und an dem er gegen alle Innovationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts festzuhalten scheint. Wenig später erscheint Schillers erste Fassung des Don Karlos. Da Schiller zur gleichen Zeit herzoglicher Rat in Weimar werden soll, bittet Herzog Karl August seinen Dichter Wieland 1785 um ein Gutachten zum ersten Akt. Wieland reagiert wiederum anders, als man es damals von einem modernen Dichter bereits erwarten könnte; er übt die Kritik eines Gelehrten: Soll ich aber aufrichtig gestehen, was das Resultat einer aufmerksamen Prüfung seiner Arbeit bey mir gewesen ist, so glaube ich, daß er seine noch immer zu feurige und zum Ausschweiffen geneigte Einbildung noch durch leichtere Vorübungen, z. B. durch Bearbeitung eines oder mehrerer Sujets aus den alten Heroischen Zeiten, noch mehr zu bändigen suchen, die Kunst der Tragödie noch mehr aus den Werken der Griechischen und Französischen Meister studieren, sich um eine nicht bloß dichterische sondern exacte Philosophische Theorie
Wilhelm Heinse: Die Aufzeichnungen 1784 – 1803. Hg. v. Markus Bernauer. München 2003, S. 281f. Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998.
Wieland ist nie modern gewesen
der Menschlichen Natur bewerben, und mit Einem Worte, die Zeit der Reiffe seines Geistes erwarten sollte, ehe er ein Werk unternähme, wo der Verfasser der Räuber alle Augenblicke Gefahr läuft gegen Wahrscheinlichkeit, Schiklichkeit und Anständigkeit zu verstoßen.³⁰
Wielands Stellungnahme ist die spiegelverkehrte Version von Heinses Kritik: eine Empfehlung, sich in die alte Schule des Gelehrtenstandes zu begeben und sich aus den Archiven der ›Stubenphantasie‹ zu bedienen, statt im Namen von ›Natur‹ und ›Leben‹ gegen das decorum (die »Schiklichkeit«) und das philosophisch-gelehrte (und damit universale) Wissen über die Natur des Menschen (die »exacte Philosophische Theorie der Menschlichen Natur«) zu verstoßen. Die Zugehörigkeit Wielands zum gelehrten Stand und seines Literaturbegriffs zum gelehrten Wissen ist die wissenschaftshistorische Grundlage seines literaturgeschichtlichen Ortes, und diese Zugehörigkeit hat sich im Spätwerk fast dramatisch verstärkt: durch die nun immer größer werdende historische Distanz zu zeitgenössischen philosophisch-literarischen Entwicklungen sowie durch Wielands Bestreben, gegenüber den sich abzeichnenden literarischen und gesellschaftlichen Veränderungen noch einmal an die Inhalte und Formen der alteuropäischen Gelehrtenrepublik zu erinnern. Dem widerspricht nicht, dass Wieland mit seiner eigenen Literaturpolitik, der Vermarktung seiner Werke und der zentralen Stellung seiner Zeitschrift Der Teutsche Merkur im Literatur- und Kulturbetrieb des ausgehenden 18. Jahrhunderts sich überaus bereitwillig und versiert auf die ›moderne‹ Ausdifferenzierung des Wissens und die neuen literarischen Institutionen seiner Zeit eingelassen hat.³¹ Dem widerspricht auch nicht, dass er als Zeitgenosse und Beobachter der europäischen Politik und Gesellschaft vor und nach der Französischen Revolution stets den Standpunkt eines modernen politischen Schriftstellers eingenommen und die sich dabei abzeichnende Moderne mit ihren radikalen Veränderungen hellsichtig analysiert hat.³² Im Gegenteil: Gerade die Aufmerksamkeit und Sensibilität für das Zeitgeschehen verweist auf das scheinbar gegenläufige literarische und literaturkritische Programm. Während Wieland innerhalb des ›Sozialsystems‹ Literatur zweifellos als ›Moderner‹ agiert, markiert er die Funktion des ›Symbolsystems‹ Literatur³³ im Rückgriff auf Zit. in: Friedrich Schiller: Nationalausgabe. Begr. v. Julius Peterson. Bd. 7: Don Karlos. Hg. v. Paul Böckmann u. Gerhard Kluge. Weimar 1986, S. 503 f. Vgl. hierzu etwa Andrea Heinz (Hg.): Der Teutsche Merkur – die erste deutsche Kulturzeitschrift? Heidelberg 2003, sowie den Beitrag von Steffen Martus im vorliegenden Band. Vgl. Jan Philipp Reemtsma: »Der politische Schriftsteller Christoph Martin Wieland«. In: Christoph Martin Wieland: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. 3 Bde. Nördlingen 1988, Bd. I, S. XII-LXXV. Zur Unterscheidung von ›Sozialsystem‹ und ›Symbolsystem‹ vgl. Claus-Michael Ort: »Sozialsystem ›Literatur‹ – Symbolsystem ›Literatur‹. Anmerkungen zu einer wissenssoziologischen Theorieoption für die Literaturwissenschaft«. In: Literaturwissenschaft und
Walter Erhart
die Position der ›Anciens‹, und erst im Hinblick auf diese bewusste und gleichsam strategische Reaktion auf das gesellschaftliche und literarische Zeitgeschehen gewinnt Wielands Spätwerk seine bislang vielleicht noch kaum erfasste literaturgeschichtliche Kontur.
Zurücknahme der Moderne: Geschichte des Agathon, Ich möchte einige literarische Konsequenzen dieses Sachverhalts andeuten und nehme als Ausgangspunkt noch einmal Schillers Don Karlos. In seinen Briefen über Don Karlos hat Schiller seinen Titelhelden als eine Figur konzipiert bzw. interpretiert, die eine überraschende Ähnlichkeit mit Wielands Agathon aufweist und dessen Geschichte sogar mit der narrativen Struktur des zuvor bereits in zwei Fassungen erschienenen Romans übereinstimmt. Schiller wollte in die »Natur« dieses Fürstensohnes eine gewisse »Reinigkeit« legen: »ein weiches, wohlwollendes Herz, Enthusiasmus für das Große und Schöne, Delikatesse, Mut, Standhaftigkeit, uneigennützige Großmut«³⁴ – alles, was einen jungen Enthusiasten ausmacht. Schillers dramatisches Programm wiederholt hier exakt und fast mit denselben Worten die in Wielands »Vorbericht« angekündigte Lebensgeschichte des Agathon: Der Held, »edel«, »tugendhaft« und »enthaltsam« (SW I.1, S. XII),³⁵ solle »auf verschiedene Proben gestellt werden […], durch welche seine Denkart und seine Tugend geläutert, und dasjenige, was darin unächt war, nach und nach von dem reinen Golde abgesondert würde« (SW I.1, S. XVIII). Zu Beginn soll auch Don Karlos – ebenso wie Agathon – gerade nicht »weise«, sein Charakter »noch nicht von Leidenschaft geschieden, noch nicht zu reinem Gold geläutert« sein; ›Weisheit‹ und ›Läuterung‹ (und damit auch die Kompetenz des aufgeklärten Philosophen und Politikers, Voraussetzung für »den künftigen Schöpfer des Menschenglücks«) müssten vielmehr – so Schiller – »aus dem Stück gleichsam hervorgehen«.³⁶ Systemtheorie. Hg. v. Siegfried J. Schmidt. Opladen 1993, S. 269-294; Jörg Schönert: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis. Tübingen 2007, S. 51ff. Friedrich Schiller: Nationalausgabe. Begr. v. Julius Peterson. Hg. v. Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Bd. 22: Vermischte Schriften. Hg. v. Herbert Meyer. Weimar 1958, S. 165. Christoph Martin Wielands Werke werden – wenn nicht anders angegeben – nach folgender Ausgabe zitiert: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier im Text zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl. Alle Hervorhebungen finden sich so im Text. Schiller: Nationalausgabe. Bd. 22: Vermischte Schriften (Anm. 34), S. 166.
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Auf diese Weise formulieren Wieland und Schiller ein Aufklärungsexperiment, das den Figuren die epochal wirksamen Widersprüche zwischen normativer tugendhafter ›Gesinnung‹ und gesellschaftlich-empirischer Erfahrung mit auf den Weg gibt: »quid virtus et quid sapientia possit« – so das dem Horaz entnommene Motto der Geschichte des Agathon. Zugleich entwirft Don Karlos ebenso wie Wielands Roman ein psychologisches und politisches Entwicklungsprogramm, das in Form einer literarischen ›Experimentalordnung‹ zuletzt auch neue Antworten auf die am Ende des 18. Jahrhunderts zur Disposition stehende anthropologische Unbestimmtheit verspricht. Bei Schiller soll die Rechnung – zumindest dem Willen des Autors nach – aufgehen. Don Karlos, so sieht es Schillers eigene Interpretation in den Briefen über Don Karlos vor, geht als ein gestählter Charakter aus dem Drama hervor, er ist am Ende »Manns genug« und konnte sich erfolgreich »bewähren«,³⁷ um mit sich versöhnt in den tragischen Tod zu gehen. »Vorbey. Ein reiner Feuer hat mein Wesen / Geläutert.«³⁸ Mit diesen Worten entsagt Don Karlos der Liebe der Königin; anders als der ihm hier scheinbar wieder ähnliche Agathon, der bereits am Ende der zweiten Romanfassung (1773) seiner Geliebten Danae abschwört, hat Don Karlos damit seine existentielle Mission besiegelt, hat Unbestimmtheit und Unentschiedenheit mit einer Ästhetik und Moral des Erhabenen beantwortet und damit zugleich die Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts vorweggenommen und exekutiert: »Meine Leidenschaft wohnt in den Gräbern / Der Todten. Keine sterbliche Begierde / Theilt diesen Busen mehr / […] Eine kurze Nacht / Hat meiner Jahre trägen Lauf beflügelt, / Frühzeitig mich zum Mann gereift.«³⁹ Mit Don Karlos – so lässt sich literaturgeschichtlich fortsetzen – beginnt die Reihe der modernen, durchaus gebrochenen und regelmäßig tragisch endenden männlichen Helden, es beginnt die moderne Literatur: die tragischen Alternativen zwischen Glück und Scheitern, die zwischen Leben und Tod, Schönheit und Erhabenheit gestellte heroische Existenz moderner Figuren, die nie auszulotende Tiefe der unverwechselbaren Charaktere und Bildungsprozesse. Wielands literarische Antwort auf das hier parallel gezeichnete anthropologische und moralphilosophische Problem zeigt einen gänzlich anderen Umgang mit dem in Schillers Drama und in der Geschichte des Agathon anfangs selbst angelegten Entwicklungsgang. In der dritten und letzten Fassung des Romans (1794) trifft Agathon mit Hippias und Archytas zusammen, und Agathons Lebensweg endet in Tarent inmitten
Ebd., S. 164. Friedrich Schiller: Nationalausgabe. Bd. 7: Don Karlos (Anm. 30), S. 643. Ebd., S. 643.
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von langen philosophischen Gesprächen.⁴⁰ Im neu eingefügten Gespräch mit Hippias rekapituliert Agathon im Gefängnis zu Syrakus, in Abgrenzung zu der ›Denkart‹ des Hippias, seinen eigenen Lebensweg und die damit verbundenen Entscheidungen; in Tarent betreibt er wissenschaftliche Studien. Mit Archytas tauscht er sich über die von ihm in Tarent verfasste Autobiographie aus, sucht Rat in philosophischen Fragen, lässt sich die Lebensmaximen des Archytas erläutern und entwirft mit deren Hilfe ein Programm der Bescheidenheit und des Maßes, auch der Askese und des Verzichts in Bezug auf die frühere Geliebte Danae. Die Interpretationen und kritischen Beurteilungen dieses letzten abschließenden Agathon-Romans basierten fast immer auf der Frage nach dem dynamischen Prozess in der Entwicklung des Helden sowie nach einer nun endlich zu erfolgenden Lösung des im Roman geschilderten Konflikts.⁴¹ Zumeist haben die Interpreten den Roman gleichsam vor die Wahl gestellt: Scheitern oder Versöhnung. Sie drängten und drängen gewissermaßen darauf, die Modernität des Programms fortzuführen: Entweder ist das Individuum zu seiner unverwechselbaren Reife gelangt, oder es wird mit einer Theorie des Archytas philosophisch entwertet und entmachtet. Entweder das Individuum bleibt perfektibel, unbestimmt und individuell – oder es wird theoretisch überbestimmt und zugleich in seiner anthropologischen Tiefe entwertet. Entweder der Roman endet planmäßig als Bildungsroman, oder er verdünnt sich zum philosophischen Thesenroman, dessen Thesen zudem das transzendentalphilosophische oder literarisch-kritische Niveau seiner Zeit verfehlen. Blickt man noch einmal auf den Agathon letzter Hand, dann zeigt sich die Unangemessenheit solcher Entscheidungen. Stattdessen wird die Geschichte des Agathon – wie die anderen späten Romane Wielands – nunmehr zuallererst als ein althistorischer und altphilologischer Roman konzipiert. Das in der ersten Fassung entworfene philosophisch-theoretische Problem – der Konflikt zwischen kausaler und normativer Welterklärung – wird nicht nur nicht gelöst, sondern gar nicht weiter entwickelt; bereits in der zweiten Fassung eröffnet den Roman nunmehr ein historiographisches Vorwort – »Über das Historische im Agathon«. Die Tragweite dieser ganz auf der Linie von Heinses Urteil und Wielands Don Karlos-Rezension liegenden Verwandlung literarischer Stoffe in gelehrte Gegenstände und Abhandlungen lässt sich nicht überschätzen. Wieland knüpft nicht nur an die frühneuzeitliche Gelehrtenrepublik und die damit Vgl. Walter Erhart: »Geschichte des Agathon«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 3), S. 259-274. So zuletzt noch bei Robert Kiehl: Das Experiment des aufgeklärten Bildungsromans. Ein Vergleich der Frassungen von Christoph Martin Wielands »Geschichte des Agathon«. Würzburg 2008.
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verbundenen gelehrten Wissensbestände an, er setzt die ›alteuropäischen‹ Inhalte und Institutionen dem Modernisierungsprozess geradezu entgegen – und macht den Weg seiner Figur Agathon zur Probe auf ein exemplum, das mindestens drei zur Moderne gegenläufige Programmpunkte aufweist: Gelehrsamkeit, ›Entzeitlichung‹ und antike Medizin. In Tarent wird Agathon weder zum erfolgreichen noch zum gescheiterten Helden, sondern vertauscht seine unsichere und unbestimmte Existenz mit eben jenem ›alten‹ Stand und Beruf, der um 1794 herum kaum noch Ansehen besaß: dem des Gelehrten. Agathon »beschäftigte« sich hauptsächlich »mit den mathematischen Wissenschaften, mit Erforschung der Kräfte und Eigenschaften der natürlichen Dinge, mit der Astronomie«, mit allen Teilen der »spekulativen Filosofie«. Damit verbunden sind »das Lesen der besten Schriftsteller von allen Klassen (insonderheit der Geschichtsschreiber)«, das »Studium des Alterthums und der Sprache« sowie die Pflege von Dichtkunst, Musik und bildenden Künsten. (SW I.3, S. 214 f.). Dieses ›Bildungsprogramm‹ bezeichnet gerade keine moderne Bildung, sondern versammelt noch einmal die akademischen Wissenschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit: die im Quadrivium und Trivium aufgelisteten septem artes liberales. Heinse notierte ebenso spitz wie treffend und korrekt: »Ag. wird ein Meßkünstler, Astronom, und Physicus. Liest Geschichtsschr. u studiert die Antiquitäten. Scherzt mit den Musen, u studiert Mahlerey u Musik.«⁴² Statt den Bildungsprozess, die kumulierte Erfahrung oder die teleologische ›Läuterung‹ des Helden zu thematisieren, rückt der Roman – zweitens – von seinem im »Vorbericht« einst angekündigten Programm ab; der Weg Agathons durch die Erlebnissphären und die Institutionen wird am Ende regelrecht durchgestrichen – und dies nicht als Folge von Resignation oder als Zuflucht zu einem neuen theoretischen Dogma, sondern als ein Programm der Dietätik und der Selbstsorge,⁴³ das die Individualisierungen, Exaltationen und Schwärmereien des Romans wieder rückgängig macht. Am Ende geht Agathons Bestreben nämlich einzig und allein dahin, »wieder zu jener heitern Stille der Seele, jenem seligen Frieden in und mit sich selbst zu gelangen, die er zu Smyrna unvermerkt verloren, und deren Verlust er zu Syrakus zwar öfters lebhaft und schmerzlich empfunden, aber […] nicht zu ersetzen vermocht hatte.« (SW I.3, S. 359). Der Roman verwandelt sich in ein gewissermaßen zyklisches Narrativ, in ein Lehrstück über die verlorene, wiederzuerlangende und sicherzustellende ataraxia. Die Figuren ›entwickeln‹ und ›entdecken‹ sich nicht, sie sollen am Ende lediglich wieder in die »bessere Übereinstimmung« (SW I.3, S. 379) mit sich selbst gelangen. Es wäre eigentlich Heinse: Die Aufzeichnungen 1784 – 1803 (Anm. 28), S. 271. Vgl. hierzu im Einzelnen: Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (Anm. 22), S. 295 ff.
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besser gewesen, so scheint es, Agathon wäre sein ganzer Roman erspart geblieben. Zur Technik der hellenistischen Sorge um sich selbst gehören – drittens – Gespräche, Selbstgespräche, Lektüre und Schreiben. Es handelt sich freilich weder um bildungsphilosophische Konversationen noch um schulphilosophische Lektionen, sondern um medizinische Selbstpraktiken bei vorliegender Störung des psychisch-physiologischen Gleichgewichts. Agathon – so wird er von Archytas belehrt – sei ein »Pazient«, er leide an spezifischen »Krankheiten der Seele«, die gerade keinen tragischen Konflikt offenbaren und verhältnismäßig leicht zu kurieren seien. Der »Grund des Übels« – so Archytas weiter – sitze nicht im »Willen«; es geht dabei offensichtlich nicht um Erkenntnis und nicht um Persönlichkeitsbildung, sondern um eine den körperlichen Krankheiten analoge Infektion durch die eigenen Wünsche, Leidenschaften und Bestrebungen: »Denn das haben die Krankheiten der Seele vor den körperlichen voraus, dass keine unheilbar ist so bald der Pazient geheilt seyn will.« (SW I.3, S. 379). Sieht man dies im Lichte der bisherigen Agathon-Interpretationen, ihrer Frage nach dem geglückten oder missglückten Entwicklungsprogramm, aber auch im Lichte der im Roman selbst durchgespielten Problemkonstellation zwischen Hippias und Agathon, ergibt sich ein erstaunlicher Befund. Wielands antike Gelehrtengemeinschaft arbeitet an nichts Geringerem als an der Aufhebung, genauer: der Zurücknahme neuzeitlicher Subjektivität. Die durch Verzeitlichung, ästhetische Erfahrung und Individualisierung geprägte Subjektivität wird als ›Krankheit‹ entlarvt; die verlorengegangene »Stille der Seele« markiert zugleich einen Zustand diesseits moderner Bildungsprozesse und neuzeitlicher Vernunft, denen in der Lebensweisheit des Archytas deshalb – hier ganz konsequent – eine »Theosofie« (SW I.3, S. 412) entgegen gestellt wird. Bis in die Einzelheiten hinein rekonstruiert und modelliert Wieland jene antiken und frühchristlichen »geistigen Übungen« (»exercises spirituels«), die in den 1980er Jahren von Pierre Hadot und Michel Foucault als Formen philosophischer Selbstsorge und Seelenerforschung (wieder-)entdeckt⁴⁴ und jüngst von Bernard Stiegler wieder in Erinnerung gerufen⁴⁵ worden sind: das gemeinsame Gespräch und die gemeinsame Lektüre mit dem Ziel, eine gänzliche Verwandlung des Selbst zu erreichen, sich von den eigenen Wünschen und den äußeren Einflüssen zu befreien und auf diese Weise die »Heiterkeit der Seele« (SW I.3, S. 383) mit der meditativen Betrachtung der Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Berlin ²1991 (franz.: Exercices spirituels et philosophie antique. Paris 1981); Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège des France (1981/82). Frankfurt/M. 2004. Bernard Stiegler: Von der Biopolitik zur Psychomacht. Die Logik der Sorge I.2. Frankfurt/M. 2009.
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kosmischen Ordnung, dem »Plane des Weltalls« (SW I.3, S. 409), zu verbinden. Im Falle von Wielands Spätwerk hier vom ›Einfluss‹ der Antike zu reden, wäre untertrieben und träfe kaum den Sachverhalt. Statt sich auf das Ende eines ›Entwicklungsganges‹, statt sich überhaupt auf die Psychologie seines zuvor so überaus ›psycho-logisch‹ präsentierten Helden zu konzentrieren, verwandelt Wieland den Romanschluss in einen Katalog all solcher geistigen Übungen, wie sie etwa in den Schriften Philons von Alexandria und in den Schulen der Sokratiker, Pythagoräer, Kyniker, Epikureer und Stoiker überliefert worden sind: Untersuchung (zetesis), gründliche Prüfung (skepsis), Lektüre, Anhören, Wachsamkeit (prosoche), Selbstbeherrschung (enkrateia), Gleichgültigkeit gegenüber den gleichgültigen Dingen. […] Meditiationsübungen (meletai), Therapie der Leidenschaften, Erinnerungen an das, was gut ist, […] und Ausübung der Pflichten.⁴⁶
Agathon, der als »sein eigener Biograf« (SW I.3, S. 358) die »Geschichte seiner Seele […] zu Papier zu bringen« und zu »bearbeiten« (SW I.3, S. 361) sucht, und Archytas, »mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien« (SW I.3, S. 366), vertiefen sich gemeinsam in die Übungen einer askêsis, zu der »Enthaltsamkeit, Auswendiglernen, Gewissenserforschung, Meditation, Schweigen und Zuhören« ebenso gehören wie Lektüre, Briefwechsel und das Schreiben über sich selbst.⁴⁷ Die drei oben rekapitulierten Momente am Ende der Geschichte des Agathon – Gelehrtentum, zyklische Rückkehr zur ›Seelenruhe‹ des Anfangs, Krankheitsgeschichte des Romanhelden – bezeichnen deshalb keine ›Schwachstellen‹ in Wielands Spätwerk; sie öffnen vielmehr den Blick auf die gesamte, in diesem Spätwerk entworfene antikische Konstellation. Die dritte Fassung der Geschichte des Agathon mag sich aus der Perspektive der zur selben Zeit geschriebenen Bildungsromane und romantischen Subjektivitätsentwürfe als Stilllegung der im Roman selbst bereits erzeugten epochalen Unruhe lesen; als Ursache hierfür haben die Interpreten regelmäßig ein ›immer noch‹ wirksames archaisches Prinzip teleologischen und kosmologischen Denkens identifiziert⁴⁸ und sogleich die »rhetorische Gewalt dieser narrativen Teleologie«⁴⁹ mitgelesen. Wielands literarische Hadot: Philosophie als Lebensform (Anm. 44), S. 16. Michel Foucault: »Über sich selbst schreiben«. In: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften. Bd. 4: 1980 – 1988. Frankfurt/M. 2005, S. 503-521, hier S. 505. David Wellbery: »Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman (Wieland, Goethe, Novalis)«. In: Das Ende. Figuren einer Denkform (Poetik und Hermeneutik 16). Hg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning. München 1996, S. 600-639; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich, Berlin ²2004. So zuletzt Sascha Michel: Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano). Tübingen 2006, S. 120.
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Inszenierung der Antike wird dabei stets an einem um 1800 jeweils etablierten Stand des modernen philosophischen Wissens gemessen, vor dem die ›Weltanschauungen‹ der von Wieland präsentierten Figuren folgerichtig versagen.⁵⁰ Wieland und seine Figuren stellen zu dieser Zeit allerdings gar keine modernen Bildungs- und Erkenntnisfragen mehr; von den modernen Interpreten reichlich unbemerkt, bildet der Romanschluss bereits die Form eines gänzlich anderen antiken Wissens ab, in die der neue Agathon-Roman mit seinem neuen tarentinischen Schauplatz nunmehr buchstäblich hineingeschrieben wird: in ein »Ensemble von Suchverfahren, Praktiken und Erfahrungen«, mit denen Michel Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France (1981 / 82) eine der Moderne entgegengesetzte »Hermeneutik des Subjekts« zu dechiffrieren versuchte: »[…] Läuterung, Askese, Verzicht, Umwendung des Blicks, Lebensveränderungen usw. […] die, zwar nicht für die Erkenntnis, aber für das Subjekt […] den Preis darstellen, den es für den Zugang zur Wahrheit zu zahlen hat.«⁵¹ Statt um die »Wahrheit« selbst geht es um deren Vorbereitung: um Übungen und Techniken einer ›Seelenführung‹, die keinesfalls das Drama, die Entfaltung oder das Scheitern moderner Individualität zelebriert, sondern aus den Zitaten antiker Texte und Lebensregeln besteht. Es handelt sich um die Form einer von Archytas und Agathon praktizierten Mnemotechnik: der fortgesetzten Aneignung antiker Techniken des Selbst. Statt einer Versöhnung oder eines teleologischen Romanabschlusses tritt dieses antike Text-Modell an die Stelle des Agathon-Romans selbst: ein sich für Wielands gesamtes Spätwerk abzeichnendes literarisches Verfahren, das um 1800 mit dem modernen Roman und der sich von Descartes bis Kant erstreckenden modernen Philosophie konkurriert.
Ungleichzeitigkeiten: Wielands Antike Die Gespräche zwischen Hippias, Agathon und Archytas in der dritten Agathon-Fassung, die Zurücknahme des Entwicklungsromans, die Reduktion des Schwärmers Agathon auf eine spezifische Charakter- und
Entsprechend auch das Resümee in einer neuen Studie über Wielands Don Sylvio von Rosalva und Geschichte des Agathon: »Auch für die Fragestellung vorliegender Untersuchung erweist sich die Analyse der Erstfassung als am ergiebigsten. Der Konflikt zwischen den verschiedenen Systemreferenzen zeigt sich dort am deutlichsten und wird im Roman selbst bereits reflektiert. So gesehen erscheint die Erstfassung der Geschichte des Agathon als die modernste, während die späteren Fassungen sich in ihren Überarbeitungen an einem bereits anachronistischen Projekt versuchen, dessen Ergebnis weder literarisch noch moralisch zu überzeugen vermag.«; Andreas Seidler: Der Reiz der Lektüre. Wielands »Don Sylvio« und die Autonomisierung der Literatur. Heidelberg 2008, S. 101. Foucault: Hermeneutik des Subjekts (Anm. 44), S. 32.
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Denkform neben anderen, der bereits 1773 hinzugefügte Prolog »Über das Historische im Agathon« – all dies ist in einem engen, ja programmatischen Zusammenhang zu sehen mit Wielands Versuch, mit dem Attischen Museum zugleich eine neue Instanz und Institution des historischen Wissens um 1800 zu etablieren. Das Attische Museum, so Wieland 1797 an seinen Verleger Geßner, solle »mit der Zeit das Hauptobjekt meiner Beschäftigung ausmachen«⁵² – genau zu jener Zeit, als er die Geschichte des Agathon letzter Hand im Gespräch mit Friedrich von Matthisson als »Archetypon alles dessen« beschreibt, »was er je gedacht und geschrieben.«⁵³ Die im Attischen Museum versammelten Übersetzungen sind ebenso Bestandteile einer antiquarischen Rekonstruktion der griechisch-römischen Antike wie die von Archytas in Form eines Lebensberichts vorgetragene »Theosofie der Pythagoräer« (SW I.3, S. 412) und die fortgesetzten Lebensberichte, Geständnisse, ›Läuterungen‹ und Selbstbeschreibungen, die Wieland in seinem antikischen Spätwerk versammelt. Bezeichnenderweise erscheint auch der Nachtrag zum Agathon-Roman, das Elysiumgespräch zwischen Agathon und Hippias, in diesem Attischen Museum (1799): ein letzter Versuch, den Roman von seinem ursprünglichen Plan wegzurücken und statt eines modernen ›Experimentalromans‹ die Meditationen und Übungen antiker Elysiumsgespräche vorzuführen. Das groß angelegte antiquarische Projekt des späten Wieland ist viel ernster zu nehmen, als es die Verweise auf die seit eh und je gepflegte – und im Alter eben verstärkte – Wieland’sche Vorliebe für antike Stoffe bislang erahnen ließen. Es geht Wieland nicht um eine streng wissenschaftliche ›moderne‹ Erforschung der Antike, wie sie gleichzeitig von der neu entstehenden Philologie an den Universitäten betrieben wird.⁵⁴ Wieland rekonstruiert das Wissen, die Denk- und Lebensformen der Griechen und Römer vielmehr als einen zeitlosen enzyklopädischen Wissensspeicher – mit literarisierten exercices spirituels als die ihm angemessene Praxis der ›Seelentechnik‹. Mehr noch: Die Messinstrumente der Moderne – Subjektivität, Geschichtsphilosophie, Kantianismus, Letztbegründungen – sollen sich unter dem Brennspiegel der antiken Welt entweder als unbrauchbar und hinfällig erweisen – oder als altbekannt.
Christoph Martin Wieland an Heinrich Geßner. Brief Nr. 463 vom 29. u. 30. Januar 1797. In: Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007 Bd. 13.1. (1999) Bearbeitet von Klaus Gerlach, S. 491. Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. 3 Bde. Sigmaringen 1987. Bd. II, S. 354. Vgl. hierzu jetzt Matthias Buschmeier: Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft. Tübingen 2008. Zu Affinitäten und Differenzen in der Behandlung althistorischer Stoffe vgl. die Hinweise bei Jan Cölln: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im ›Aristipp‹. Göttingen 1998.
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Deshalb ist es kein Widerspruch und mehr als ein bon mot, wenn Wieland anlässlich der »Revision des Agathon« 1793 an seinen Schwiegersohn, den Kantianer Karl Leonhard Reinhold, schreibt, dieser könne an der dritten Fassung sehen, »daß ich schon vor 25 Jahren eine Art von Kantischer Filosofie in herba im Schooß meiner Seele herum trug«.⁵⁵ In den zu Unrecht abgewerteten philosophischen Gesprächen der dritten AgathonFassung wird ziemlich viel ›herumgetragen‹. Die philosophischen Differenzierungen werden vermischt, modernes und vormodernes Denken sind nicht mehr voneinander abgegrenzt, die von Wieland anderswo so heftig attackierte Kantische Philosophie wird zu einer Spielart der pythagoreischen Philosophie. Versammelt sind Bestandteile der philosophischen Tradition von Antike, Mittelalter und Neuzeit, die Götter, der Kosmos, die »Stadt Gottes (SW I.3, S. 404), das »unermeßliche Weltall« (SW I.3, S. 401), die Moral, Pflicht und Neigung, die »Harmonie« (SW I.3, S. 394) und der »innerliche Krieg« (SW I.3, S. 396) der Vernunft mit der Sinnlichkeit. Es handelt sich freilich nicht um einen ebenso unbedarften wie unphilosophischen und bloß literarischen Eklektizismus; die in Wielands späten Romanen versammelten Theoreme sind vielmehr Bestandteile jener antiken philosophischen Praktiken, deren Wirkung und Bedeutung – folgt man Pierre Hadot und Michel Foucault – einerseits durch die mittelalterliche Theologie, anderseits durch die modernen Selbstbegründungsprogramme und Erkenntnisideale seit Descartes verlorengegangen sind. Pierre Hadot hat auf das Unverständnis moderner Historiker und Philologen hingewiesen, mit dem diese zuweilen auf die »Widersprüche« und die »Zusammenhanglosigkeit«⁵⁶ in den Werken antiker Philosophie reagiert haben: »Der Lehrinhalt kann also von einem Kommentar zum anderen beträchtlich variieren, obwohl beide vom gleichen Autor abgefasst wurden«;⁵⁷ statt sich um abstrakte Begründungen und theoretische Beweisführung zu bemühen, wechseln die Philosopheme je nach den Personen, an die sie gerichtet, und je nach den persönlichen Kontexten, innerhalb der sie gelehrt werden. Auf ähnliche Weise orchestriert Wieland die Gespräche, Selbstbiographien und Briefwechsel seiner späten Philosophenromane; die Transformation des Agathon-Romans wiederum lenkt den Blick auf die Funktion einer Wieland’schen Literatur, die sich zuletzt den der Antike nachempfundenen ›seelentherapeutischen‹ Praktiken regelrecht verschrieben hat. Es handelt sich bei Wielands literarisierten Philosophen-, Seelen- und Elysiumsgesprächen fast durchgehend
Brief vom 18.09.1793 in: Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007, Bd. 11.1, S. 54. Hadot: Philosophie als Lebensform (Anm. 44), S. 42. Ebd., S. 44.
Wieland ist nie modern gewesen
um eine Art »Psychotechnik der Aufmerksamkeitsformierung« und um ein mit der Antike verbundenes »Sorgesystem«, dessen Fortentwicklung und dessen gegenwärtigen Verlust kürzlich von Bernard Stiegler mit kulturkritischer Verve rekonstruiert worden ist.⁵⁸ Wieland mag sich zeitweise Lieblingsphilosophen und Lieblingsfiguren wie Aristipp auserkoren haben; die eigentümliche Redundanz der scheinbar mit eklektizistischen Theoriegebäuden durchsetzten Romangespräche und Romanthemen sind freilich allesamt Variationen einer antiken Seelentechnik, deren Verzicht auf philosophische Strenge und Stringenz, auf literarische Originalität und moderne Subjektivität schnell zum skandalon einer sich als modern verstehenden Literatur werden konnte. In diesem Sinne ist Wieland tatsächlich nie modern gewesen. Statt einer Ausrichtung der Vernunft an die Subjektivität wird die Vernunft in Wielands Spätwerk durchgängig – ganz nach antiker Manier oder sollte man sagen: in altphilologisch korrekter Weise? – auf den Kosmos bezogen; Natur und Kultur sind nicht mehr – oder sollte man sagen: noch nicht? – voneinander getrennt; die Grundlagen des modernen Denkens und moderner Subjektivität sind außer Kraft gesetzt, trotz der gleichzeitig inszenierten ›Modernität‹ eines polyperspektivischen Erzählens sowie der fraglosen Anerkennung aufklärerischer Säkularisierungsprozesse. Zuletzt könnte Wielands ›unmodern‹ anmutendes Spätwerk deshalb dazu beitragen, das Konzept einer Moderne in Frage zu stellen, die sich in fortlaufender Abkehr von einer ›Vormoderne‹ konstituiert und dabei gänzlich aus teleologischen Versprechungen und historischen Überbietungen besteht. In den Geschichts- und Sozialwissenschaften ist eine solche Idee in den letzten Jahren gründlich ins Wanken geraten: Es gibt viele ›Modernen‹⁵⁹ und mehrere ›Sattelzeiten‹,⁶⁰ und statt der Einheit einer seit dem 18. Jahrhundert sich kontinuierlich entfaltenden Moderne⁶¹ kommen nunmehr verschiedene Interpretationen und Deutungsmuster eines vielschichtigen, ungleichzeitig verlaufenden Prozesses in den Blick.⁶² Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge – Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Frankfurt/M. 2008, S. 34, S. 163; Stiegler: Von der Biopolitik zur Psychomacht (Anm. 45). Titel der französischen Originals: Prendre Soin. De la jeunesse et des générations. Paris 2008. Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist 2000. Vgl. Jörn Leonhard: »Erfahrungsgeschichten der Moderne: Von der komparativen Semantik zur Temporalisierung europäischer Sattelzeiten«. In: Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper. Hg. v. Ute Schneider u. Lutz Raphael. Frankfurt/M. u. a. 2008, S. 549-566. Kritisch dazu: Thomas Mergel: »Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne«. In: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. Hg. v. Thomas Mergel u. Thomas Welskopp. München 1997, S. 203-232. Vgl. dazu Thorsten Bonacker u. Andreas Reckwitz (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart. Frankfurt/M. 2007.
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Mit der Wiederentdeckung einer philosophisch-literarischen Antike im Umfeld hellenistischer Philosophenschulen hat Wieland selbst vielleicht an eine andere Variante der Moderne erinnert (und dementsprechend auch eine andere Moderne literarisiert). Vor dem fälschlicherweise seit Descartes mit der Moderne identifizierten Paradigma der Rationalität habe es – so der Wissenschaftshistoriker Stephen Toulmin – bereits eine andere und erste Moderne gegeben, die in der Renaissance statt der Systeme, der Theologie, des Allgemeinen und der strengen Wissenschaften eine humanistische Kultur der Skepsis, des Dialogs, des Besonderen und Situativen entwickelt hat.⁶³ Wielands literarische Antike erprobt am Ende des 18. Jahrhunderts eine dem epochalen Wandel seiner Zeit entgegengesetzte Tradition; sie lässt sich demnach auch nicht mit einem entweder ›modernen‹ oder ›traditionellen‹ Bild der Antike verrechnen, wie es der Stand der Altertumsforschung und der kulturellen Antike-Rezeption um 1800 vorgeben mag.⁶⁴ Wielands Werk an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert markiert vielmehr eine auch in der Literatur wirksame Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, eine Überlagerung verschiedener »Zeitschichten«,⁶⁵ die für eine neue Literaturgeschichtsschreibung jenseits literaturtheoretischer Programme und etablierter Epochenmuster erst noch zu entdecken wäre. Ein Jahr nach der dritten Fassung der Geschichte des Agathon veröffentlichen Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel ihre poetologischen Programmschriften, mit denen sie in der Querelle des Anciens et des Modernes Stellung beziehen und der modernen Literatur einen historischen Vorrang gegenüber der Antike zuerkennen.⁶⁶ Wieland verschafft der antiken Lebensphilosophie zur gleichen Zeit eine literarische Renaissance und verwandelt diese Tradition zugleich in einen Einspruch gegen die moderne Selbstermächtigung des Denkens, der Subjekte und der Literatur. Seine späten Romane umkreisen auf diese Weise den gewissermaßen statischen Ort einer fortgesetzten Überprüfung und Relativierung historischen Wandels – eine ihrerseits durchaus moderne ›seelentherapeutische‹ Funktion der Literatur, die allerdings nicht in die wohl bekannte (Literatur-) Geschichte der Moderne einzumünden vermochte. Auch Wielands spätes Werk ist deshalb dazu angetan, das Verhältnis von Literatur und Moderne neu zu überdenken und dabei auch die Engführung von gesellschaftlicher Vgl. Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt/M. 1994. Volker Riedel: »Wieland und die Weltliteratur. Antike«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 3), S. 109-118. Zu einer solchen »Theorie der historischen Zeit« vgl. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2000. Vgl. Hans Robert Jauß: »Schlegels und Schillers Replik auf die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹«. In: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M. 1970, S. 67-106.
Wieland ist nie modern gewesen
und literarischer Moderne in Frage zu stellen.⁶⁷ Das Lob der womöglich ›modernen‹ Erzählweise Wielands sollte jedenfalls nicht mehr mit einem verwunderten Blick auf die antiquierten Inhalte kombiniert werden. Und die eigentümliche sokratische, seelentechnische Lebenskunst der Figuren und Dialogpartner in Wielands Spätwerk sollte man nicht länger mit der Tiefe und unendlichen Interpretierbarkeit moderner Helden wie Wilhelm Meister, Heinrich von Ofterdingen, Faust und dem Prinzen von Homburg verrechnen wollen. Man muss und soll dem Wieland’schen Werk keine Modernismen abtrotzen – dort wo eben keine sind, wo sogar programmatisch keine sein wollen. Viel besser wäre es, den Gewinn der Wieland-Lektüre daraus zu ziehen, dass solche Unterscheidungen – zwischen Tradition und Innovation, modernem Subjekt und widerständiger Welt, Antike und Moderne – an diesem Werk gewissermaßen abgleiten, dass Wieland, wenn er denn nie modern gewesen ist, trotzdem und vielleicht gerade deshalb ein Zeitgenosse bleibt.
Vgl. die im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutscher Literatur geführte Debatte um das Verhältnis von gesellschaftlicher und literarischer Moderne: Anke-Marie Lohmeier: »Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe«. In: IASL 32.1 (2007), S. 1-15; Walter Erhart: »Editorial: Stichworte zu einer literaturwissenschaftlichen Moderne-Debatte«. In: IASL 34.2 (2009), S. 176-194 .
Ulrike Zeuch
Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition Die Ambivalenz in der Legitimierung der Literatur als wahr durch Wirklichkeitstreue oder durch Fiktionalität als eine andere Art der Wahrheit ist ein Erbe der wirkungsmächtigen, aber dissonanten Auseinandersetzung mit Horaz’ Wahrscheinlichkeitspostulat als Kriterium für Wahrheit seit der Frühen Neuzeit. Beide Legitimierungen zielen dabei auf den Anspruch ab, dass Literatur, indem sie etwas Wahres darstellt, zugleich etwas Allgemeines repräsentiert. Im Votum für Fiktionalität als eine andere Art der Wahrheit geht die seit Scaliger verbindliche Horaz-Nachfolge in die Rebellion; das Votum für Fiktionalität als solche stellt aber keine Lösung des Problems dar. Denn es gibt keine einhellige Antwort auf die Frage, was wirklich und was objektiv ist. Auch stellt das Votum für den Wahrheitsanspruch der Fiktionalität keine plausible Alternative dar. Denn fiktionale Wahrheit ist entweder etwas subjektiv Vorgestelltes oder konsensuell als wahr Beglaubigtes, nicht aber objektiv wahr.¹ Dass es noch eine dritte Möglichkeit gibt, Wahrheit der Literatur zu begründen, ist durch die Poetik des Aristoteles implizit zwar präsent, spielt aber seit Scaliger explizit keine Rolle.²
Welche Position nimmt Wieland innerhalb dieses Problemfeldes ein? Dass Wielands Literaturbegriff in Bezug auf die Wahrheitsbegründung Horaz’ Ars poetica verpflichtet ist, scheint keiner weiteren Bestätigung zu bedürfen; es gilt als communis opinio der Forschung.³ Ob aber auch die seit der Frühen Neuzeit nicht minder wirkungsmächtige Poetik des Aristoteles
Vgl. Kendall L. Walton: »Furcht vor Fiktionen«. In: Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie. Hg. v. Maria E. Reicher. Paderborn 2007, S. 94-119, hier S. 100. Vgl. Ulrike Zeuch: »Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur. Scaligers Begriff des Allgemeinen und seine stoischen Prämissen«. In: Poetica 34 (2002) H. 1-2, S. 99-124. Klaus Manger: »Aristipp in Wielands Horaz-Übersetzungen von 1782 und 1786«. In: Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 28; hier im Text zitiert mit der Sigle SW), S. 1041-1050; Manfred Fuhrmann: »Wieland und Horaz«. In: Christoph Martin Wieland: Übersetzung des Horaz. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 10; hier im Text zitiert mit der Sigle ÜH), S. 1082-1089.
Ulrike Zeuch
bei Wieland nachwirkt, ist in der Forschung bislang nicht thematisiert, was auch nachvollziehbar ist angesichts der durch Wielands Œuvre selbst nahegelegten Dominanz des Horaz. In meinem Beitrag werde ich dieser Frage nachgehen und dafür (1) die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Aristoteles’ und Horaz’ Gegenstandsbestimmung der Literatur benennen, (2) die Probleme anführen, die sich im Laufe der Rezeption der beiden antiken Dichtungstheorien seit der frühen Neuzeit für das 18. Jahrhundert und damit für Wieland ergeben, und schließlich (3) Wielands Position innerhalb dieses wirkungsgeschichtlichen Feldes bestimmen. Dadurch wird sich – das sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen – das Bild von Wielands Affinität zu Horaz’ Poetik modifizieren.
Was soll Literatur Wieland zufolge leisten? Wieland lässt Aristipp im gleichnamigen Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, dem letzten großen Roman Wielands (veröffentlicht 1798 bis 1802), in einem Brief Aristipps an Lais von einem Gemälde des Malers Parrhasius berichten. Aristipp nennt erst die Aufgabe, die sich Parrhasius gestellt hat: das Volk Athens zu schildern,⁴ und zwar »von der schönen und hässlichen Seite, mit allen ihren Tugenden und Lastern, Ungleichheiten, Launen und Widersprüchen mit sich selbst, zugleich und auf einen Blick« (AZ, S. 167). Dann erläutert Aristipp, wie dieser vorgegangen ist, um das Ziel: »die Veränderlichkeit und Vielgestaltigkeit des alle möglichen Widersprüche in sich vereinigenden Charakters des Athenischen Demos allegorisch darzustellen« (AZ, S. 169), zu erreichen: Parthasius hat tableauartig eine Volksversammlung in Athen dargestellt, mit über hundert Menschen, die, um drei Personen zentriert, in Gruppen geteilt sind. Dargestellt ist der Moment, da die Volksversammlung im Begriff ist, sich aufzulösen. Vorangegangen sind drei Handlungen: Der Beschluss einer militärischen Aktion, die Billigung des Staatshaushalts und ein Todesurteil. Die erste Hauptperson ist der Demagoge, eitel, selbstgewiss, machtlüstern und manipulativ. Die um den Demagogen Gescharten spiegeln dessen Eitelkeit und Selbstgewissheit (AZ, S. 167); aber nicht nur: Es gibt auch die Zweifler, Melancholiker, Skeptiker. Die zweite Hauptperson ist der Schatzmeister Athens, erleichtert, dass das Volk seine Bilanzen akzeptiert hat; gleichwohl zeigt er per Profession ein sorgenvolles Gesicht.
AZ, S. 166; zum Verfahren des Schilderns als eines zentralen Terminus’ im 18. Jahrhundert für den zumindest intendierten Anspruch, authentisch wiederzugeben, was ist, im Unterschied zur Beschreibung als immer schon Bedeutung zuschreibender Interpretation, vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. ⁵1997, S. 7ff.
Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition
Die um ihn Gescharten sind Schmeichler, Schmarotzer und genusssüchtig (AZ, S. 168); aber auch da gibt es Ausnahmen: diejenigen, die die Rechnungen des Finanzministers nachrechnen und zu einem anderen Ergebnis kommen, das eher den Staatsbankrott ankündigt. Die dritte Hauptperson ist der zum Tode Verurteilte, ein Feldherr; dieser selbst ist gefasst, entschlossen und innerlich gestärkt; die ihn begleiten, zeigen in unterschiedlichen Graden Gefühle der Trauer, des Mitleids, der Anteilnahme. Aber es gibt auch die Schadenfreudigen, die Denunzianten, die Meineidigen und schließlich einen, der im Nachhinein bereut, für die Verurteilung gestimmt zu haben. Abgesehen von den drei Hauptgruppen gibt es weitere, die an dem Geschehen keinen Anteil nehmen, sondern ihren privaten Vergnügungen nachgehen. Dargestellt werden, so Aristipp, Gefühle als Voraussetzungen von Handlungen, sowie Gefühle als Reaktionen auf Handlungen von moralischer Relevanz; diese Darstellung soll Einsicht der »wirklichen Menschen« (AZ, S. 170) erlauben, der Menschen, »wie sie leiben und leben, und des Laufs der Welt, nicht wie wir ihn gern hätten, sondern wie er ist« (AZ, S. 170f.). Nachdem Aristipp das Bild beschrieben, d. h. eigentlich: in eine durch Sprache vermittelte Bedeutung übersetzt hat, beurteilt er das Ergebnis: Dargestellt ist nicht die personifizierte Idee des Volkes im Sinne eines Allgemeinen, sondern »eine Menge einzelner Glieder dieses Volks« in einem Moment (AZ, S. 169). Zu einer einheitlichen Idee eines allgemeinen Volkscharakters werden diese Einzelheiten nur im betrachtenden Rezipienten, aber selbst dann gilt, dass sie nur die eines Volkes »in einer jeden Demokratie« ist, weder aber jedes Staatssystems (AZ, S. 169) noch, müsste man ergänzen, zu allen Zeiten. Das Problem, welches hier verhandelt wird, ist folgendes: Wie lässt sich etwas Mannigfaltiges so darstellen, dass die Vielheit weder in Disparates zerfällt noch sich in der Verschiedenes einheitlich fassenden Allgemeinheit verliert? In der ersten Fassung der Geschichte des Agathon ⁵ von 1766/67 nennt Wieland ein Beispiel, da einzelne Momente zu einem Gesamteindruck zusammenstimmen; in einem solchen Fall stimmt alles, d.h. stimmen alle einzelnen Momente »mit dem Begriff überein« (GA, S. 246). Agathon findet sich im Haus seines Vater und wird von diesem in einen Saal geführt, dessen Mauern vielleicht nicht zufällig von »einem der besten Schüler des Parrhasius« bemalt worden sind. »Die Tafel, das Gerät, die Aufwärter, alles stimmte mit dem Begriff überein, den ich mir bereits von dem Geschmack und dem Stande des Haus-Herrn gemacht hatte« (GA, S. 246).
Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 11, hier im Text zitiert mit der Sigle GA)
Ulrike Zeuch
Im Aristipp ist die Messlatte für Kunst nicht nur höher gesteckt, auch das Darzustellende ist ungleich komplexer: Nicht nur der Charakter eines einzelnen Menschen, sondern eines ganzen Volks soll repräsentiert werden. Wieland lässt im weiteren Verlauf des Romans Parrhasius auch selbst zu Wort kommen. Auf die Frage, ob er tatsächlich den »Karakter des Athenischen Volks« (AZ, S, 278) habe darstellen wollen, antwortet dieser, das habe er zwar wollen, aber bald eingesehen, dass das auf nur einer Tafel zu leisten unmöglich sei, weswegen er auf den Einfall gekommen sei, statt allegorischer Personifizierungen von Charaktereigenschaften des athenischen Demos eine Volksversammlung in Auflösung begriffen darzustellen, und »zwar so, daß man aus den verschiedenen Gruppen erraten könnte, was unmittelbar vorher verhandelt und beschlossen worden, was dieser und jener für eine Rolle dabei gespielt habe« (AZ, S. 279). Statt einer statischen Zustandsbeschreibung zielt Parrhasius also auf die Darstellung der Genese bestimmter Handlungen, ihrer Vorgeschichte sowie ihrer Akteure ab, deren einheitliche Fassung im Begriff dem Rezipienten obliegt – ein nicht nur kluger, sondern insofern auch wirkungsmächtiger Einfall, als dieser Einfall tatsächlich in der Folge zu einer Verlagerung von einer Produktions- zu einer Rezeptionsästhetik geführt hat.⁶ Implizit vorausgesetzt ist dabei, dass die Darstellung der Vorgeschichte, die dem Rezipienten eine Rekonstruktion der zeitlichen Abfolge ermöglichen soll, zugleich Aufschluss erlaube über die Ursachen und Folgen, der causae et effectus, der dargestellten Handlung(en). Die zeitliche Abfolge von Handlungen hat mit der Kausalität jedoch nur am Rande etwas zu tun. Insofern intendiert Parrhasius mit seinem Bild etwas, das er gar nicht leisten kann: die Darstellung von seelischen Handlungen im Äußeren: Gesten, Mimik, Körperbewegungen. Und von dem Rezipienten wird ebenso Unmögliches verlangt: von etwas Äußerem, das so oder anders gedeutet werden kann, auf etwas Inneres zu schließen. Parrhasius meint, ihm sei es gelungen, »alle die verschiedenen Züge, woraus der Karakter der Athener zusammengesetzt ist, auf die natürlichste Art in Handlung und Kontrast zu setzen« (AZ, S. 279). Aristipp selbst sieht das anders. Und folglich entspricht die Darstellung des athenischen Demos durch Parrhasius nicht Aristipps Erwartung, ist mithin – so sein Urteil – nicht wahr. Es sei aber, so Aristipp abschließend, nicht das Versäumnis des Malers; vielmehr liege es in den Grenzen der Kunst begründet. Niemand könne besser malen als Parrhasius (AZ, S. 170). Leistet eben dies dann aber die Literatur? Und wie kommt es überhaupt zu dem
Alexandra Pontzen: Künstler ohne Werk. Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur von Wackenroder bis Heiner Müller. Berlin 2000; Stefanie Hüttinger: Der Tod der Mimesis als Ontologie und ihre Verlagerung zur mimetischen Rezeption. Eine mimetische Rezeptionsästhetik als postmoderner Ariadnefaden. Frankfurt/M. u. a. 1994.
Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition
Ansinnen, Kunst oder Literatur sollten etwas Allgemeines und Wahres, wie es ist, zugleich darstellen? In der Geschichte der Literaturtheorie hat es auf die Frage, ob die Literatur Wahres darstelle, im Wesentlichen zwei Antworten gegeben:
Allgemeinbegriff bei Aristoteles und Horaz Indem die Literatur etwas Allgemeines im Unterschied zur Geschichtsschreibung darstellt, wie Aristoteles im 9. Kapitel der Poetik ausführt, ist sie wahr.⁷ Das in der Poetik gemeinte Allgemeine in der Tragödie ist, dass ein in seinem charakterlichen Habitus bestimmter Mensch in einer bestimmten Situation auf bestimmte Weise handelt, etwa dass ein zu übermäßigem Zorn Neigender, wenn er sich in seiner Ehre verletzt fühlt, auch übermäßig zornig handelt. Der griechische Terminus ist καϑόλου (Poetik, 1451b 8). Es ist ein konkret Allgemeines;⁸ nicht Handlung als solche ist gemeint, sondern eine bestimmte Handlung einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation. Aristoteles zufolge ist die Nachahmung einer Handlung in diesem Sinne Gegenstand der Tragödie (Poetik, 1449b 36 - 1450a 1), nicht ein Substrat, von dem Verschiedenes prädizierbar ist, etwa eine Person mit Eigenschaften. Auch geht es nicht um ein in der Vorstellung Gegebenes im Sinne historischer Einmaligkeit, dessen Umgebung und Umstände jeweils andere sind. Das ist nach Aristoteles Sache der Geschichtsschreibung (Poetik, 1451b 6-7, 1459a 21-24). Zwar hat die Tragödie u. a. eine Handlung zum Gegenstand, wie sie ist oder war. Aber mit dem ›wie sie ist‹ ist keine historisch getreue, authentische Wiedergabe beabsichtigt; denn die Tragödie kann ebenso auch Handlung zum Gegenstand haben, wie sie der Mutmaßung oder aller Wahrscheinlichkeit nach zu sein scheint oder wie sie sein sollte (Poetik, 1460b 7-11). Es gibt noch eine zweite, ebenfalls sehr wirkungsmächtige Variante dieses Allgemeinen: Indem die Literatur darstellt, was der Wahrscheinlichkeit entspricht und damit der allgemeinen Erfahrung nahe kommt bzw. ihr nicht widerspricht, genügt sie dem Anspruch auf Wahrheit, wie Horaz zu Beginn der Ars poetica am Beispiel frei imaginierter Lebewesen erläutert.⁹
Vgl. dazu Arbogast Schmitt: »Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik (1451 a 36-b 11)«. In: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Jörg Schönert u. Ulrike Zeuch. Berlin, New York 2004, S. 65-95. Vgl. dazu Aristoteles: Poetik, übers. und erl. v. Arbogast Schmitt. Darmstadt 2008. Zur Rezeption dieser beiden Varianten einer Darstellung des Wahren innerhalb der Literatur seit der Frühen Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert vgl. Burghard Damerau: Die Wahrheit der Literatur. Glanz und Elend der Konzepte. Würzburg 2003.
Ulrike Zeuch
Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur wird von Horaz dabei auf dreierlei Weise erörtert. Als allgemein bezeichnet Horaz ein für eine Gruppe von Menschen typisches Merkmal, ob nun für eine nach Alter, Herkunft, sozialer Stellung oder Beruf unterschiedene Gruppe.¹⁰ Dieses Merkmal oder eine bestimmte Anzahl von bestimmten Merkmalen ist gewonnen aus der Wiederholung gleicher Erfahrung. Es ist folglich ein Allgemeines, das dem Konsens und der üblichen, allgemeinen Realitätserfahrung entspricht und insofern Glaubwürdigkeit genießt.¹¹ Damit wird das aus der Empirie abgeleitete konstante Merkmal zugleich in den Status eines Ideals versetzt, was natürlich nur im Bereich des ethisch Vorbildhaften gelten kann, denn der Inbegriff des Schlechten, auch wenn es etwas Allgemeines ist, kann kein Vorbild sein. Es wird zum »exemplar vitae morumque« (Ars poetica, Z. 317). Die Konstanz bezieht sich jedoch nicht nur auf eine Gruppe von Menschen, bei denen sich dieselbe Beobachtung eines bleibenden und deshalb typischen Merkmals machen lässt, sondern auch bei ein und derselben Person in verschiedenen Situationen: Sie muss immer sie selbst, aus einem Guss und bestimmt sein durch ein signifikantes Merkmal, das sich in allen verschiedenen Zuständen und Handlungen durchhält¹² und als Merkmal mit dem inneren Affekt übereinstimmender äußerer Ausdruck ist.¹³ Laut Horaz (Ars poetica, Z. 125 ff.) ist der Gegenstand der Literatur die darzustellende Person, bestimmt durch eine vorherrschende Leidenschaft, die ihr eigentümlich ist und sie von allen anderen unterscheidet. Nach Horaz gilt es, die Leidenschaft darzustellen, nicht die Handlung, die unterschiedliche Subjekte der Handlung und unterschiedliche Motive und Ursachen aufweist. Der darzustellende Affekt bestimmt die Person von Anfang bis Ende durchgängig. Die Konstanz des Affekts macht das literarische Werk zu einem einfachen, einheitlichen (»simplex dumtaxat et unum«, Ars poetica, Z. 23) und ganzen (»totum«, Ars poetica, Z. 34), nicht die Einheit der Handlung, d. h. der sachliche und damit notwendige Zusammenhang einzelner Handlungen. Und noch in einer dritten Hinsicht wird von Allgemeinem gesprochen. Die Literatur dient der Versinnlichung allgemeiner Handlungsmaximen
Quintus Flaccus Horatius: »Ars poetica«. In: Opera. Ed. D. R. Shackleton Bailey, Ed. 4. Monachii u. a. 2001, Z. 114 ff., 154 ff. und 316. Beispiele gegen die Glaubwürdigkeit, nämlich »vanae species« (Z. 7 f.), Horaz: Ars poetica (Anm. 10), Z. 1 ff., also z. B. phantastische Zusammensetzungen aus Menschenkopf, Pferdehals und Gliedmaßen diverser anderer Tiere. Horaz: Ars poetica (Anm. 10), Z. 125-127: »siquid inexpertum scaenae conmittis et audes / personam formare novam, servetur ad imum, / qualis ab incepto processerit, et sibi constet«. Horaz: Ars poetica (Anm. 10), Z. 108-111: »format enim natura prius nos intus ad omnem / fortunarum habitum: iuvat aut inpellit ad iram / aut ad humum maerore gravi deducit et angit: / post effert animi motus interprete lingua«.
Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition
oder Sentenzen (Ars poetica, Z. 333-336). Letztere sind allgemein, insofern sie als immer gleiche Richtschnur des Handelns in verschiedenen Situationen dienen sollen. Für alle drei Varianten des Allgemeinen gilt, dass dieses Allgemeine »simplex dumtaxat et unum« (Ars poetica, Z. 23), einheitlich ist und keinen immanenten Widerspruch aufweist. Von allem, was diese Einheitlichkeit stört, ist abzusehen. Für alle drei Varianten des Allgemeinen gilt ferner, dass etwas Allgemeines individualisiert wird; es geht darum, »proprie communia dicere« (Ars poetica, Z. 128). Zwar gesteht Horaz ein, dass es schwierig sei, »proprie communia dicere«. Gleichwohl hält er – trotz dieses Eingeständnisses – daran fest: Literatur personifiziert allgemeinverbindliche Tugenden oder Handlungsmaßstäbe wie etwa die pietas; sie stellt nicht, wie Aristoteles meint, eine bestimmte handelnde Person im Hinblick auf dasjenige dar, was an deren Handlungen weder zufällig noch beliebig ist, sondern bei einem Charakter mit bestimmten Eigenschaften sich in einer bestimmten Situation mit Gewissheit und insofern verallgemeinerungsfähig ergibt.
Probleme der beiden Allgemeinbegriffe In der Geschichte der Literaturtheorie sind diese beiden Antworten Anlass zu vielfältigen Deutungen gewesen. Was hat Aristoteles mit ›Allgemeinem‹ gemeint? So man davon ausgeht, es handele sich um Mimesis menschlicher Handlung: Ist dieses Allgemeine ein Vorbild, ein Exempel, eine Norm, ein Ideal, etwas Typisches, in jedem Fall etwas, das sich in aller möglicher Erfahrung gleich bleibt?¹⁴ So man davon ausgeht, es gehe um Mimesis aller nur vorstellbaren Gegenstände: Ist dieses Allgemeine ein Abstraktum, das sich in allen Modifikationen in der Vorstellung vorfindbarer Gegenstände durchhält, sei dieses Allgemeine nun Ergebnis abstrahierenden Denkens, sei es, dass es in den Gegenständen selbst liege? Wenn aber das Allgemeine ein immer gleiches Abstraktum ist, wie lässt sich dann die Vielfalt der Literatur(en) als Spiegel vielfältiger Erfahrungen begründen? Wird die Darstellung dann nicht irgendwann langweilig? Gibt es überhaupt noch etwas zu sagen? Bedeutet die Bindung der Literatur an die Darstellung eines Allgemeinen nicht den Tod der Literatur?
Dies ist die seit der Frühen Neuzeit gängige Auffassung des Allgemeinen als Gegenstand der Literatur; vgl. Brigitte Kappl: »›Exemplar vitae‹ – Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten im Cinquecento«. In: Mimesis – Repräsentation – Imagination (Anm. 7), S. 167-180; Ulrike Zeuch: »Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit. Francesco Robortellos ›In librum Aristotelis de arte poetica explicationes‹ und die Folgen«. In: Ebd., S. 181-214.
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Dass Aristoteles selbst ein derartiges Abstraktum nicht gemeint hat, sondern den Inbegriff bestimmt unterscheidbarer und erkennbarer Möglichkeiten menschlichen Handelns, dass aber der von ihm in diesem Zusammenhang benutzte Allgemeinbegriff in der Rezeption seit der Frühen Neuzeit in diesem Sinne interpretiert worden ist und deshalb zum Stein des Anstoßes werden konnte – dies weiter auszuführen ist hier nicht der Ort.¹⁵ Tatsache jedenfalls ist, dass die Literatur mit der an sie seit der Frühen Neuzeit gestellten Erwartung, eine immer gleiche Verhaltensnorm darzustellen, Mühe hat; denn zum einen geht sie auf den einzelnen Menschen, zum anderen erkundet Literatur (auch) den Bereich frei imaginierbarer Möglichkeitswelten.¹⁶
Wieland und die beiden Allgemeinbegriffe Was aber macht Wieland aus dem inhomogenen ideengeschichtlichen Erbe? Ich nehme das Ergebnis vorweg: Auf das widersprüchliche Erbe literaturtheoretischer Bestimmungen gibt Wieland eine ebenso inhomogene Antwort. Gleich zu Beginn des Vorberichts der Geschichte des Agathon destruiert Wieland eine mögliche Lesererwartung: Die Geschichte des Agathon sei nicht authentisch verbürgt. Es bleibe dem Leser überlassen, sich ein eigenes Urteil zu bilden, ob das Erzählte »aus einem alten Griechischen Manuskript« gezogen sei oder nicht. Die Grundlage für ein eigenes Urteil ist jedoch so prekär wie die rhetorisch geschickt verpackte Vergewisserung des Herausgebers selbst, ›nur‹ als Herausgeber zu fungieren. Denn das griechische Manuskript als Vorlage des Erzählten kann ebenso fingiert sein wie das Erzählte selbst. Mit der Frage der Authentizität ist üblicherweise die Frage nach der Wahrheit des Erzählten, seiner Übereinstimmung mit der Wirklichkeit verknüpft. Hinsichtlich des Wirklichkeitsbegriffs lässt Wieland den Herausgeber eine Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit vornehmen: ›Wirklichkeit‹ könne einerseits äußere Lebensdaten wie Geburt, Heirat, Kinder usw. meinen; das interessiere aber nicht, sei mithin kein Stoff für Literatur. Die reinen Fakten trügen nichts zur Wahrheit bei, die er hier meine. Wahr sei vielmehr die innere Wirklichkeit, die
Zur Umdeutung des Begriffs des Allgemeinen als Gegenstand der Literatur seit der Frühen Neuzeit vgl. Zeuch: Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur (Anm.2). Wie sehr Wieland der neuzeitlichen Überzeugung des besser Verstehens als der Autor selbst verpflichtet ist, wie sie sich schon im ersten gedruckten Kommentar der Poetik des Aristoteles bei Robortello zeigt, wird an der Zueignungsschrift der Übersetzung der Episteln des Horaz durch Wieland an den Herzog von Sachsen, Carl August, deutlich: Christoph Martin Wieland: »Übersetzung des Horaz«. In: ÜH, S. 12 f.
Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition
innere Geschichte Agathons, und zwar die Geschichte seiner charakterlichen Entwicklung, seines Herzens, seiner Leidenschaften, die aufgrund ihrer Individualität und aufgrund der immer anderen Lebensumstände eine ganz spezifische Färbung aufwiesen (GA, S. 11). Eben dieser Agathon, so der Herausgeber weiter, sei der Natur entnommen, sei keine bloße Fiktion, sondern habe ein Vorbild. Dieses Vorbild aber sei nicht historisch belegbar, durch Fakten im Sinne der äußeren Wirklichkeit abgesichert, sondern zeige eine andere Art der Übereinstimmung »mit dem Lauf der Welt« im Sinne der inneren Wirklichkeit (GA, S. 11). Diese Übereinstimmung habe zur Folge, dass das, was erzählt werde, selbst wenn alles erfunden sei, dennoch so hätte geschehen können. Sowohl ›Natur‹ wie ›Lauf der Welt‹ stehen im Vorbericht für etwas Allgemeines, das mit dem absolut Individuellen auf irgendeine Weise zusammenstimme. Ein paar Zeilen weiter aber versichert der Herausgeber, »daß Agathon und die meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind, wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch gibt […]« (GA, S. 12). So soll Agathon einerseits erfunden, andererseits eine historische Person sein, einerseits ist er vorgeblich nicht willkürlich konstruiert, andererseits ist der Lauf der Welt, mit dem Agathons Entwicklung übereinstimmen soll, eine Konstruktion des Herausgebers »nach unserm Plan« (GA, S. 15), einerseits will der Herausgeber einen Menschen darstellen, dessen Charakter heterogene Eigenschaften aufweist und dessen Geschichte eine eigene Dynamik hat, andererseits soll am Ende doch das Modell einer musterhaften Entwicklung zum tugendhaften Mann stehen, einerseits soll Agathon ein absolut unvergleichliches Individuum sein, andererseits ein Mensch, »dergleichen es von jeher viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch gibt« (GA, S. 12). Wie lassen sich diese offensichtlichen Widersprüche deuten? Zwei Antworten darauf liegen nahe: Entweder übernimmt Wieland die aus der Geschichte der Literaturtheorie tradierten Widersprüche (etwas Individuelles, das zugleich allgemein ist, der Inbegriff der Tugend selbst, der zugleich sämtliche, dem Menschen nur mögliche Charaktereigenschaften aufweisen soll, um tatsächlich für alle Menschen repräsentativ sein zu können, die Entwicklung eines Individuums gemäß der für es spezifischen Lebensgeschichte, die zugleich exemplarisch sein soll, die Ablehnung der Fiktion und zugleich die ebenfalls fiktionale, in jedem Fall subjektive Konstruktion einer außersubjektiven Notwendigkeit oder Natur), ohne diese Widersprüche zu bemerken. Oder aber er destruiert durch diese auch für ihn offensichtlichen Widersprüche die Erwartung des Lesers an eine logisch stringente Darlegung der Prinzipien des Herausgebers, wobei dieser
Ulrike Zeuch
explizit den Leser mit »gesunden Augen« (GA, S. 14), den »vernünftigen und ehrlichen Leser« (GA, S. 15) anspricht. Letztere Antwort scheint mir wahrscheinlicher zu sein. Zwar bedarf es einer kritischen, in diesem Sinne vernünftigen Lektüre des Vorberichts, um die Widersprüche überhaupt zu bemerken; Vernunft soll nicht generell suspendiert werden. Aber die Geschichte des Agathon selbst enthält, wie der Herausgeber sagt, so viel unwahrscheinliche Gedanken und Handlungen, dass sie – anders, als der Vorbericht eigentlich glauben machen will –, gerade den Leser fordert, der sich vorbehaltlos auf die Wechselfälle in Agathons Leben einlässt und ihnen zunächst einmal naiv folgt. Die Aufklärung erfolgt dann – durch den Herausgeber wiederum; und auch sie ist, wie schon der Vorbericht zeigt, rationale Plausibilisierung im Nachhinein, die abgetrennt ist vom Fluss der Erzählung, welche die Entwicklung der Gefühle und das mit den Sinnen wahrnehmbare Ambiente beschreibt. Die vom Herausgeber geleistete Aufklärung ist, wie der Vorbericht, in sich widersprüchlich und löst gerade das nicht ein, was sie zu leisten beansprucht: Erhellung von Unbegreiflichem, was sich der Erzähler irgendwann auch eingesteht: »Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder abtreten, ohne daß sich begreifen läßt, warum sie kamen, oder warum sie wieder verschwinden? Wie viel wird in beiden dem Zufall überlassen?« (GA, S. 439). Statt das Unbegreifliche zu erhellen, tritt ein deus ex machina auf, der Gordische Knoten wird zerschnitten statt gelöst, und dann hat »auf die eine oder andere Art das Stück ein Ende« (GA, S. 439). Damit aber wird die eigentliche Aufgabe, das Unbegreifliche zu erhellen, dem Leser überantwortet.¹⁷
Wieland zwischen den Stühlen Wieland ist Horaz’ Ars poetica dahingehend verpflichtet, dass er nach wie vor an der Darstellbarkeit der Tugendhaftigkeit, d. i. einer moralischen Haltung selbst festhält; nur ist sie in der Gestalt des Agathon nicht von Anfang an voll ausgebildet präsent, sondern entwickelt sich vor den Augen des Lesers. Wieland zieht damit die naheliegende Konsequenz aus Horaz’ Forderung nach sinnlicher Präsenz, nach Augenscheinlichkeit, indem er
Frank Baudach: »Die Dichtungsauffassung des jungen Wieland«. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Hg. v. Theodor Verweyen u. Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 1995, S. 187-199, hier S. 197, stellt diese Art der ›Problemlösung‹ schon in Wielands Schrift Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen von 1755 fest; Wieland zerschlage »den Knoten dort [in dieser Schrift; U.Z.], indem er das Problem praktisch wendet und dem Leser als Aufgabe überantwortet, deren Lösung er durch sein eigenes Handeln anstreben muß«.
Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition
das Werden eines Tugendhaften darstellt und die Statik, die Horaz’ Allgemeinbegriff eignet, zugunsten einer dynamisierten Variante transformiert, die zugleich einer Begriffsbildung, in diesem Fall dessen, was der Mensch ist, der »Kenntnis des Menschen« (GA, S. 497), mit Hilfe der Empirie Rechnung zu tragen beansprucht. Die Priorität der Empirie, die Wieland in der Vorrede dezidiert gegenüber apriorischen ideellen Vorgaben vertritt, ist im Kontext der Platon-Rezeption seit der Frühen Neuzeit und der kritischen Auseinandersetzung mit ›dem‹ Platonismus beziehungsweise mit dem, was man für platonisch hält, zu sehen. Indem in den Humanitätsdiskursen der Aufklärung davon ausgegangen wird, dass es so etwas Allgemeines wie eine Menschheit und einen Zweck des Menschen überhaupt gibt, nämlich als Mensch nach dem für ihn als Menschen Besten zu streben, dass dieser Zweck für den Menschen erkennbar und es die Aufgabe des Menschen sei, diesen erkannten Zweck in sich zu verwirklichen, für sich individuell auszubilden, übernimmt er eine Position des seit der Frühen Neuzeit von Marsilio Ficino, Giordano Bruno und anderen entwickelten Platonismus.¹⁸ Die spezielle Neudeutung des frühneuzeitlichen Platonismus ist in der Annahme begründet, dass die Ideen der Materie, den einzelnen Phänomenen, immanent und in ihnen auch erkennbar seien. Indem davon ausgegangen wird, dass die Ideen als solche in der Materie offenbar würden, wird dem Vorrang der Wahrnehmung, der Erfahrung und Empirie vor der Abstraktion im Erkenntnisprozess Rechnung getragen, wie er in den einzelnen Wissenschaften als methodischer Zugang seit der Frühen Neuzeit propagiert wird.¹⁹ Ich kann an dieser Stelle nicht in extenso auf die erkenntnistheoretischen Probleme eingehen, die mit der Annahme einer Immanenz der Ideen in der Materie einhergehen. Hervorheben möchte ich jedoch, dass genau dies ein zentraler Ansatzpunkt für die Kritik am Humanitätsbegriff der Aufklärung in der Nachfolgezeit ist: Wenn das, was der Mensch ist bzw. sein soll, in der Materie selbst, in den einzelnen Verwirklichungen des Menschseins ablesbar sein soll, in der Erfahrung aber einander widersprechende, ja miteinander unvereinbare Verwirklichungen angetroffen werden, dann liegt der Schluss nahe, dass es diese Idee als normative und teleologische Vorgabe selbst nicht gibt.
Ulrike Zeuch: »Herders Begriff der Humanität: aufgeklärt und aufklärend über seine Prämissen? Zur Bestimmung des höchsten Zwecks des Menschen in den ›Ideen‹ und in der ›Oratio‹ von Giovanni Pico delle Mirandola«. In: Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹. Hg. v. Regine Otto u. John H. Zammito, Heidelberg 2001, S. 187-198. Zu Ficinos Ideenbegriff vgl. Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tübingen 2000, S. 183ff.
Ulrike Zeuch
Nun ließe sich einwenden, dass sich ein Abweichen von der Norm, von dem, was das Menschsein ausmachen soll, nur erkennen lässt, wenn es zumindest einen vagen Vorbegriff a priori gibt, wie bei Kant etwa die systematischen, empirisch nicht gegebenen »drei regulativen Ideen der spekulativen Vernunft«: Seele, Welt und Gott.²⁰ Ansonsten hätte man kein Beurteilungskriterium, anhand dessen sich die Erscheinungen bewerten ließen. Eben dieses Dilemma ist der Erkenntnistheorie der Aufklärung eigen: Eigentlich kommt der Mensch nur über die Wahrnehmung und die in der Vorstellung erinnerten Wahrnehmungsmomente, die unter einen Begriff subsumiert werden, zu einem inhaltlich angereicherten Begriff dessen, was der Mensch ist bzw. sein soll. Zugleich aber muss er auf irgendeine Weise schon wissen, was er sucht, sonst könnte er seine Erfahrungen nicht ordnen, Dazugehörendes sammeln, Nichtdazugehörendes als Akzidenzien absondern, Widersprechendes aussondern usf. Wieland versucht, dieses Dilemma zu lösen, indem er davon ausgeht, es habe, zumindest bedingt, in der Geschichte der Menschheit schon einmal eine solche in der Erfahrung ablesbare Verwirklichung der Idee der Menschheit gegeben: in Agathon. Zwar mache dieser »kein Modell eines vollkommen tugendhaften Mannes«, aber es gebe auch keinen, der »unter allen nach dem natürlichen Lauf Gebornen, in ähnlichen Umständen, und alles zusammen genommen, tugendhafter gewesen wäre, als Agathon« (GA, S. 13). Damit gerät Wieland aber in ein zweites Dilemma: die Gleichwertigkeit der Verwirklichungen des Menschseins in ihrer Vielgestaltigkeit mit der Vorgabe einer real gewordenen Norm, einem leibhaften Maßstab zu vereinbaren. In seinen antiplatonischen²¹ Briefen an Eurybates (AZ, S. 748 ff.) legt Aristipp eben dieses Dilemma in der Auseinandersetzung mit Platons Politeia dar. Der Mensch läßt sich nicht, wie eine regelmäßige geometrische Figur, in etliche scharf gezogene gerade Linien einschließen; und es sind vielleicht noch Jahrtausende einer anhaltenden, eben so unbefangenen als scharfsichtigen Beobachtung unsrer Natur vonnöten, bevor es möglich sein wird, nur die Grundlinien zu einem echten Modell der besten gesellschaftlichen Verfassung für die
Immanuel Kant: »Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781)«. In: Kants Werke. AkademieTextausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 4. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1968, A 682 / B 710 im Kapitel »Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik«; allgemeiner, was Kant unter einer Idee versteht, vgl. B 384 / A 327 ff. »Von den transzendentalen Ideen«; dort werden die drei Bereiche Psychologie, Kosmologie, Theologie auch noch einmal angeführt. Zur Kritik Wielands an Platon vgl. Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung: Das Beispiel des späten Wieland. Frankfurt/M. 1991, S. 144 f., 179 ff.
Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition
wirklichen Menschen zu zeichnen; und selbst dieses Modell würde für jedes besondere Volk, durch dessen eigene Lage und die Verschiedenheit der Zeit- und Ortumstände, auch verschiedentlich bestimmt und abgeändert werden müssen. Aber auf alles dies nimmt ein Platon keine Rücksicht […] (AZ, S. 755).
Wieland bleibt auch dahingehend Horaz verpflichtet, als an einem Individuum exemplarisch etwas Allgemeines ablesbar sein soll, denn »die Geschichte Agathons«, so heißt es an einer Stelle, sei »die Geschichte aller Menschen« (GA, S. 503). Mit der Dynamisierung aber entgleitet Wieland das Horaz’sche Allgemeine als konstant gleichbleibendes Ideal; mit der Aufgabe des Wahrscheinlichkeitspostulats als Wahrheitskriterium zugunsten des Unbegreiflichen entfällt Horaz’ Legitimation der Literatur als Darstellung von Wahrem. In der Einleitung zum ersten Brief des Horaz an C. Cilnius Maecenas zeichnet Wieland Maecenas als einen mittleren Charakter, weder besonders vorbildhaft noch reduzierbar auf eine hervorragende Eigenschaft. In der Mischung der durchaus heterogenen Eigenschaften zeigt sich für Wieland etwas Allgemeines in dem Sinne, dass man sich den Maecenas der Antike nicht anders denken müsse, als wie »Personen von seinen Umständen auch in unseren Zeiten zu sein pflegen«.²² Maecenas als Substrat, von dem Verschiedenes prädiziert wird, ist Horaz verpflichtet. Indem aber die Heterogenität, ja Disparatheit eines komplexen Charakters betont wird, entgleitet Wieland das Horaz’sche Allgemeine als widerspruchsloses Eines. Im Aristipp zieht Wieland daraus folgende Konsequenz: Während Horaz, wie Wieland ihn im Kommentar zum 17. Brief des 1. Buches der Horaz’schen Briefe auslegt, Aristipp als »Muster und Ideal eines ›Philosophen‹ am Hofe darstellt« (ÜH, S. 262), ist der Wieland’sche Aristipp im gleichnamigen Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen keineswegs als reines Ideal oder Muster konzipiert und dargestellt. Im Vorwort zum 1. Brief der 1. Buches der Briefe des Horaz enthält Wieland sich sogar explizit eines Urteils: »Ich untersuche hier nicht, ob diese ziemlich ›unpoetische‹ Art zu philosophieren die beste sei; ich sage nur: dies war Aristipps Philosophie (ÜH, S. 61).« Um seine Enthaltung eines Urteils, welches Aristipp eine Monopolstellung zuweisen würde, glaubwürdig zu machen, stellt Wieland Aristipps moralphilosophische Haltung in den Kontext des von Wieland konstruierten bzw. rekonstruierten und breit angelegten Diskurses über die Tauglichkeit verschiedener, zeitgenössischer Philosophien hinsichtlich ihrer lebenspraktischen ethischen Relevanz. Gleichwohl lässt Wieland durch die Art, wie er den Diskurs führen lässt, keinen Zweifel, wem seine Sympathie gilt: Aristipp, und zwar wegen dessen Präferenz der Lebenspraxis, seines aus Erfahrung abgeleiteten
Christoph Martin Wieland: »Briefe des Horaz«. In: ÜH, S. 34.
Ulrike Zeuch
Wissens, seiner Offenheit und Dialogbereitschaft – mit diesen Charaktereigenschaften stattet ihn Wieland zumindest in der Romanfiktion aus. Die Heterogenität, Disparatheit bzw. Widersprüchlichkeit der Haltungen ist dabei – auch dies eine Konsequenz aus dem Dilemma mit dem Romankonzept des Agathon – konsequent von der Handlungsebene auf die Diskursebene verlagert, die kritische Stimmen pro und contra Aristipp vereinen. Letztlich gilt für den Wahrheitsanspruch der Literatur als Medium eines derartigen Diskurses, was Wieland Diogenes in den Mund legt: »Jeder hat für seine eigene Person Recht; aber so bald sie miteinander hadern, und sich um den ausschließlichen Besitz der Wahrheit, wie Hunde um einen fetten Knochen, herumbeißen, dann haben sie alle Unrecht […].« (AZ, S. 865 f.) Angesichts der impliziten Distanzierung von Horaz’ Allgemeinbegriff der Literatur würde naheliegen, dass Wieland nach Alternativen theoretischer Begründung von Literatur, etwa in Auseinandersetzung mit dem Allgemeinbegriff des Aristoteles, sucht. Das hat er nicht getan. Im dritten der Briefe an einen jungen Dichter ²³ von 1784 findet sich der mögliche Grund dafür. Literatur soll, schreibt Wieland in diesem Brief, den Blick in »die innersten Falten des Herzens« offenlegen (SW XIV.6, S. 272) und lebendig, reich an Bildern und Gedanken sowie mit innerer Anteilnahme den Menschen darstellen (SW XIV.6, S. 273). Die »Stärke aller Seelenkräfte, an innigem Gefühl der Natur« (SW XIV.6, S. 274) als Voraussetzung für Literatur in Wielands Sinne betont er mehrfach. Nur: Dieses Gefühl lässt sich weder erwerben noch durch Regeln erlernen noch nachahmen (SW XIV.6, S. 276). Und: Literatur, die diesem Maßstab genügt, wie die Dramen Shakespeares, so Wieland, sind zwar selbst »Abdrücke der Natur« (SW XIV.6, S. 276); es macht aber keinen Sinn, sie 1 : 1 nachzubilden. Sie können als »Modelle« (SW XIV.6, S. 277) betrachtet werden; sie sind aber nicht identisch übertragbar. Da Wieland Aristoteles in Gottscheds Nachfolge als Regelpoeten begreift,²⁴ ist die Poetik des Aristoteles für die Literatur, die Wieland favorisiert, nicht der geeignete Leitfaden. Stattdessen versucht er, Horaz’ Allgemeines so zu deuten, d. h. eigentlich – wie schon Francesco Robortello
Christoph Martin Wieland: »Briefe an einen jungen Dichter«. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. (Hier im Text zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl.) Bd. 14, Supplement 6, S. 267-296. Ulrike Zeuch: »Dichtungstheorie der Frühaufklärung«. In: Aufklärung 17 (2005), S. 117-140; Dies.: »Bewußtseinsphilosophische Prämissen der Literaturtheorie vor 1800. Am Beispiel von Gottscheds ›Versuch einer Critischen Dichtkunst‹ und deren Folgen«. In Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 46/1 (2001), S. 53-75.
Wielands Literaturbegriff: transformierte Tradition
in dem gedruckten Kommentar zur aristotelischen Poetik der Frühen Neuzeit – umzudeuten, zu transformieren (besser zu verstehen als der Autor selbst), dass es zur Anforderung der eigenen Zeit passt, die weder als homogen noch kontinuierlich noch einfach wahrgenommen wird. Oder in den Worten von Wieland selbst: »Nicht darin daß wir schlechte Muster genommen, sondern daß wir den guten größtenteils auf einem verkehrten Wege und auf eine verkehrte Art nachgeahmt haben, liegt das Übel […].« (SW XIV.6, S. 278) Diese produktive Transformation hat Wieland Horaz’ Ars poetica zuteil werden lassen, Aristoteles’ Poetik nicht. Aber auch literarisch entspricht Wieland nicht dem Aristotelischen Allgemeinen, wenn er im Aristipp als Gegenstand der Darstellung definiert, was eine Person ihrem Wesen nach ausmacht bzw. diese wesentlich bestimmt, so dass diese Wesensart durchgängig alle ihre Handlungen bestimmt, wie Aristipp über die Hetäre Lais ausführt. Die Natur schickt uns […] mit lauter unbestimmten Anlagen in die Welt […] Indessen würde doch, glaube ich, ein Gott, der das ganze, uns unsichtbare Gewebe der innern Anlagen eines Menschen zu durchschauen vermöchte, das, wozu ihn diese Anlagen vor allem andern bestimmen, unfehlbar entdecken; denn in der Natur gibt es nichts wirklich unbestimmtes. Je lebendiger also das Selbstgefühl bei einer Person ist, desto mehr ist zu vermuten, daß sie, wenn die äußern Umstände ihr völlig Freiheit lassen, sich selbst für diejenige Lebensweise bestimmen werde, zu welcher sie durch ihre ganze Naturanlage vor allem andern geschickt gemacht ist (AZ, S. 621).
Lais habe sich zugetraut, »den außerordentlichen Karakter, worin sie in der Welt auftreten wollte, immer behaupten zu können« (AZ, S. 622). Es ist eben dieser Begriff des individuellen Allgemeinen, der dank des durch den stoischen Allgemeinbegriff bestimmten Horaz und des Nominalismus des Spätmittelalters an die Frühe Neuzeit vermittelt wird und trotz grundsätzlicher Probleme, wie dargelegt, unangefochten gültig bleibt, nurmehr erfassbar durch das Gefühl bzw. das Selbstgefühl. Insofern stellt sich – dies mein Resümee – Wielands Position innerhalb des anfangs skizzierten Problemfeldes als wenig homogen dar; zwar folgt er Horaz nominell, unterschwellig aber transformiert er ihn. Diese Transformation geht aber nicht so weit, nach einer grundsätzlichen Alternative zu forschen. Wielands Unentschiedenheit lässt sich durchaus als Signum eines Übergangs, desjenigen von der Frühmoderne zur Moderne, begreifen, als Versuch, die Autonomie des Lesers ernst zu nehmen. Deshalb wählt er eine Erzählform, das Gespräch in Briefen, die sich durch Polyvalenz, Multiperspektivik und Intersubjektivität auszeichnet, diese legitimiert und die historisch zurückliegende mit zeitgenössischen Sinnund Deutungsangeboten kontrastiert wie verbindet. Es gibt nicht die eine verbindliche Konstruktions- und Lesart von Wirklichkeit und Fiktion; es gibt nicht den monologischen Sprecher und nicht den privilegierten
Ulrike Zeuch
Adressaten oder Leser. Das Gespräch ist ergebnisoffen, mithin unendlich fortsetzbar. Das ist Wielands komplexe Antwort auf die komplexe Frage nach der Wahrheit der Literatur.
Steffen Martus
Zeit und Wissen: Christoph Martin Wieland im Kontext der kritischen Kommunikation des . Jahrhunderts In der Vorrede des Herausgebers zum Teutschen Merkur von 1773 beschreibt Christoph Martin Wieland den Problemhaushalt des zeitgenössischen Literaturbetriebs¹ und entwickelt ein entsprechendes Lösungsangebot für das Publikum: Der Merkur reagiert demnach auf die Uneinheitlichkeit und Unüberschaubarkeit der deutschen Kulturlandschaft, die – anders als etwa Frankreich – kein nationales Zentrum zur allgemeinen Orientierung aufweise. Die neue Zeitschrift verspricht daher, die »besten Köpfe« zu versammeln und als eine Art virtuelle geistige Hauptstadt alles zu beund verhandeln, was zum »Ruhm der Nation« beiträgt (S. 895).² Auf diese Weise soll das Interesse der Allgemeinheit erregt werden. Man wird nicht vergessen dürfen, dass es Wieland in der HerausgeberVorrede um Verkaufsargumente geht. Und tatsächlich beschreibt er seine Autorenkarriere nebenbei als Karriere zunehmender Professionalisierung, die ihn vom Dasein des »Nebenstunden«-Autors befreit und den Konkurrenzverhältnissen freier Autorschaft aussetzt. Aber gerade in der engen Verbindung von ökonomischer Motivierung und hellsichtiger Diagnose des Ist-Zustands sind seine Beobachtungen triftig und aufschlussreich. Dies gilt insbesondere für das literaturkritische Programm des Teutschen Merkur, also für die Rubrik »Beurteilung neuer Schriften und Revision bereits gefällter Urteile«. Darauf, so Wieland, seien die »Liebhaber« am meisten gespannt (S. 897). Wieland also legt im Merkur-Programm besonderen Wert auf die literaturkritische Sparte seiner Zeitschrift und baut dabei eine Korrekturinstanz ein: Alle gefällten Urteile stehen unter Revisionsvorbehalt. Auf diese Weise gleicht Wieland den Teutschen Merkur den Kontextbedingungen an. Denn wie viele andere Beobachter des literaturkritischen Betriebs
Vgl. zu grundsätzlichen Informationen zum Teutschen Merkur: Jan Cölln: »Zeitschriftenherausgeber«. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 374-393, S.374 ff. Die Seitenzahlen im Text verweisen auf folgende Ausgabe: Christoph Martin Wieland: Von der Freiheit der Literatur. Kritische Schriften und Publizistik. Hg. u. kommentiert von Wolfgang Albrecht. Bd. 2. Frankfurt/M., Leipzig 1997. Hervorhebungen in den Zitaten entsprechen – wenn nicht anders angegeben – Hervorhebungen in den Originaltexten.
Steffen Martus
erkennt er dort vor allem Unordnung. Seit einiger Zeit, so sein Eindruck, hat die »gelehrte Republik« in Deutschland »die Gestalt einer im Tumult entstandnen Demokratie« angenommen, in der man sich mit allen Mitteln durchzusetzen versucht (auch durch »Ränke, Kabalen und verwegne Streiche«). Aus der »Nachlässigkeit« und »Parteilichkeit« der Richter resultiere die Forderung nach einer ›aristokratischen‹ Ordnung. Das aber sei realitätsfremd und illusorisch. Wieland hingegen erkennt die normative Kraft des Faktischen an und positioniert seine Zeitschrift nicht als »Oberrichter«. Vor allem aber entpersonalisiert er die Etablierung von Wissen und setzt als Urteilsinstanz das Abstraktum »Zeit« ein, wenn er schreibt: »[…] die Kunstrichter sind nur Sachwalter; das Publikum allein ist Richter, aber die Zeit spricht das Endurteil aus« (S. 900). Im Folgenden sollen die Implikationen dieser Selbstpositionierung in einer anarchischen Situation der Meinungsbildung herausgearbeitet werden.
. Die Revidierbarkeit des Urteils Beim Rezensions-Programm des Teutschen Merkur geht es weniger um inhaltliche Bestimmungen als vielmehr um die Festlegung von publizistischen Formen. Dabei ergeben sich Probleme, denn Wieland nutzt auf zweifache Weise den Faktor ›Zeit‹: Zum einen soll Zeit die Wertungsoder Deutungskontroversen schlichten – sie soll das »Endurteil« fällen. Bis dorthin aber sorgt Wieland dafür, dass jedes Einzelurteil der Zeit ausgesetzt wird, und zwar nicht durch die Stabilisierung des Urteils, sondern durch Revidierbarkeit bzw. Destabilisierung. Wenn also das Alleinstellungsmerkmal des Merkur in der doppelten Selektionsfunktion für intellektuelle Qualität (die ›besten Köpfe‹) und nationale Qualität besteht (alles, was zum ›Ruhm der Nation‹ beiträgt): Wie soll diese Maximierungsleistung dann erbracht werden? Immerhin kann ja prinzipiell jede Selektionsentscheidung revidiert werden. Mit anderen Worten: Was geschieht mit dem literaturkritischen Wissen, wenn man es – wie Wieland – prinzipiell unter Irrtumsvorbehalt stellt? Warum interessieren sich die »Liebhaber« privilegiert für Kritiken und Revisionen? Und vor allem: Wie plausibel ist es, dem Leser möglicherweise irreführende Literaturkritiken anzukündigen, um damit für eine Zeitschrift zu werben? Um zu verstehen, warum Wieland die Artikel seiner Zeitung unter Irrtumsvorbehalt stellt, will ich kurz den Kontext skizzieren: Der kritische Diskurs des 18. Jahrhunderts verhandelt immer wieder die beobachterabhängige Sichtbarkeit von relevanten Merkmalen.³ Zur Disposition stehen
Zum Folgenden sowie zu weiteren Quellen vergleiche die Kapitel 2 und 3 in: Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20.
Zeit und Wissen
also nicht unbedingt die ›richtigen‹ Regeln für die ›richtigen‹ Wertungen, sondern es geht eher darum, wie man die Regeln für die Anwendung der Regeln, wenn man sie denn hat, bestimmt. In diesem Aushandlungsprozess von Aufmerksamkeiten erscheint das literarische Werk so komplex, dass es mehr oder weniger genau, mehr oder weniger richtig und mehr oder weniger vollständig in den Blick gerät. Immer wieder formulieren Kritiker den Verdacht, dass andere Kritiker »Schönheiten« und / oder »Fehler« nicht an den Stellen wahrnehmen, wo sie tatsächlich zu finden sind. Einige Beispiele für diese Position im literaturkritischen Diskurs: Die Freymüthigen Nachrichten werfen 1758 den »Herren Nicolaiten« vor, dass sie »Schönheiten« und »Fehler« nicht an sich falsch qualifizieren, sondern dass sie diese an den falschen Stellen ›sehen‹, »daß sie jene [die »Schönheiten«; S.M.] nicht gesehen haben, wo sie waren und diese [die »Fehler«; S.M.], wo sie nicht waren, erdacht, und dann kunstmäßig getadelt haben«.⁴ Ähnliche Formulierungen finden sich immer wieder. Die Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter (1762) erklären die »Erblickung von Fehlern, selbst da wo sie nicht sind […]«, zu einer der zentralen Kompetenzen des Kritikers.⁵ In der Herausgeber-Vorrede des Teutschen Merkur greift Wieland diese Diagnose auf: Aktuell, so bemerkt er, ernte insbesondere das Mittelmaß großen Beifall; man übe Nachsicht gegenüber wesentlichen Mängeln, wohingegen vortreffliche Werke auf kleinliche Weise kritisiert würden; Gleichgültigkeit gegen das Einfache und Große sei an der Tagesordnung. Zusammenfassend stellt Wieland »die beinahe allgemeine Willkürlichkeit des Geschmacks« fest. Der gesunde Verstand und die unverdorbene Empfindung haben sich in Sachen Literatur nicht durchgesetzt (S. 901). Das satirische Alexandrinerpaar auf dem Titelblatt der Geheimnisse der deutschen Kunstrichter (1771) benennt ein grundsätzliches Problem. Dort heißt es: »Von mir hängt es bloß ab, was ich erheben will, / Scribenten, merkt euch dies, und schweiget für mich still!« Freilich banalisiert das Verspaar die Visibilisierungsleistung des Kritikers, weil die Beobachterabhängigkeit der Sichtbarkeit von Merkmalen nicht bedeutet, dass die Fähigkeit zur Visibilisierung und Invisibilisierung in der Verfügbarkeit des Beobachters steht. Insofern trifft auch Wieland das Problem nicht
Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007. Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 15 (1758), S. 299. [Johann Gottfried Gellius]: Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter. Nebst einigen andern Wahrheiten, o. O. 1762, unpag. (»An den Herrn Übersetzer des ersten Theils der Heloise des Rousseau«). Zu Gellius vgl. Martin Fontius: »Tendenzen der Literaturkritik in Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert«. In: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hg. von Siegfried Jüttner u. Jochen Schlobach, Hamburg 1992, S. 125-140, S. 137 ff.
Steffen Martus
wirklich, wenn er die Aufmerksamkeitsleistung des Kritikers als »Willkürlichkeit« verbucht. Die Perspektivität der Kritik bildet auf der einen Seite die Voraussetzung für die explosionsartige Vermehrung von Literaturbeobachtung im 18. Jahrhundert – nur wenn eine multiperspektivische Beobachtung von Literatur ein Mindestmaß an Plausibilität beanspruchen kann, ist es letztlich einleuchtend, dass es viele Beobachtungsinstanzen gibt, die in ihrer Verschiedenheit zur Kenntnis genommen werden sollten. Zugleich wird diese Perspektivität eben in der Auseinandersetzung um Positionen im literarischen Feld überhaupt erst installiert. In der wechselseitigen Infragestellung und Korrektur erscheint das Kunstwerk als zunehmend komplexer Gegenstand, der von verschiedenen ›Standpunkten‹ aus beobachtet werden kann. Das von Wieland entworfene »Revisions-Gericht« muss also gar nicht eigens installiert werden. Es existiert ohnehin schon in der Selbstbezüglichkeit des Rezensionsbetriebs. Die Selbstvervielfältigung kritischer Kommunikation lässt sich an einer bestimmten Gattung von Rezensionszeitschriften verdeutlichen, die es seit dem frühen 18. Jahrhundert gibt und die sich nichts anderes vornimmt, als andere Rezensionen zu rezensieren.⁶ Wohin diese Potenzierung kritischer Kommunikation führt, sieht man im unmittelbaren Umfeld des Teutschen Merkur an der Zeitschrift Antikritikus: Herausgegeben von Christian August Wichmann erscheint diese Zeitschrift 1768 und 1769 und beurteilt Rezensionen. Sie wendet sich vor allem gegen die beiden großen Rezensionsimperien ihrer Zeit: gegen die Zeitschriften von Christian Adolph Klotz (Acta litteraria; Neue Hallische gelehrte Zeitungen; Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften) sowie gegen Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek. Und so überrascht es nicht weiter, dass sich die Polemiken rund um den Antikritikus endemisch verbreiten. Es gibt zensierte Verteidigungsschriften, die dann in einer kommentierten und revidierten Ausgabe erscheinen; öffentliche und zum Teil fingierte Briefwechsel werden geführt; Polemiken erscheinen von allen Seiten.⁷ Vor allem aber: Wie nicht anders zu erwarten, wird auch der Antikritikus rezensiert. Und wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, rezensiert der Antikritikus die ihm gewidmeten Rezensionen. Kurz: Die kritische Kommunikation tendiert zur Selbstpotenzierung, in diesem Fall zur Kritik der Kritik der Kritik der Kritik. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Wieland das Projekt einer prinzipiellen Revidierbarkeit von Urteilen für ein gutes Verkaufsar
Vgl. dazu im Rahmen einer Zeitschriftentypologie: Thomas Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 185 ff.; zum Verfahren der ›Antikritik‹: ebd., S. 250 ff. Das folgende Beispiel wird im historischen Kontext ausführlicher behandelt in: Martus: Werkpolitik (Anm. 3) S. 101 ff. Allgemeine deutsche Bibliothek 10 (1769), 2. St., S. 121, 123 f., 126 ff.
Zeit und Wissen
gument halten konnte. Er spiegelt gewissermaßen die Selbstanregung des Literaturbetriebs in seiner Zeitschrift und überführt die Absurditäten publizistischer Selbstpotenzierung in ein literaturkritisches Programm. Dass diese Neigung zur Potenzierung ein konstitutiver Bestandteil des kritischen Diskurses selbst ist, wird bis zum Ende des 18. Jahrhunderts immer deutlicher. Schiller, um ein prominentes Beispiel zu wählen, wird Bürgers Gedichte kritisieren, dieser wird der Kritik von Schiller mit einer »Antikritik« entgegnen, und Schiller wiederum wird der Kritik der Kritik mit einer neuerlichen Kritik antworten. Zudem bezieht Schillers Kritik sich, was in der Regel übersehen wird, bereits auf eine vorgängige Kritik der Bürgerschen Gedichte (vermutlich auf diejenige August Wilhelm Schlegels). Und diese Kritik, die Schiller kritisiert, bezieht sich wiederum auf eine andere Kritik. Bei Schillers Bürger-Kritik handelt es sich also um eine Kritik mindestens fünfter Stufe, um eine Kritik der Kritik der Kritik der Kritik der Kritik.⁸ Wenn Friedrich Schlegel in seinen frühromantischen Programmschriften die Kritik wie die Poesie dem Prinzip der Potenzierung unterstellt,⁹ dann beschreibt er damit lediglich den gegenwärtigen Zustand des Literaturbetriebs – dass die Allgemeine Literatur-Zeitung, in der Schillers Bürger-Kritik erscheint, Getadelten gegen Gebühr einräumt, im beigelegten Intelligenzblatt eine Antikritik einzurücken,¹⁰ bestätigt auf kuriose Weise die Reflexionsförmigkeit kritischer Kommunikation und deren Akzeptanz. Wieland verfolgt also mit dem Teutschen Merkur insgesamt keine Maximierungsstrategie im Blick auf eine stabile Urteilsbildung. Vielmehr zielt er auf die Prozessualisierung von Aufmerksamkeit. Oder anders: Wieland verortet den Teutschen Merkur in den Strukturen des literaturkritischen Publikationsbetriebs, und zwar unter Bedingungen seiner Selbstbezüglichkeit und Temporalisierung. Er fordert zu einer Beobachtung von Literatur heraus, die Zeit und Wissen als Element des kritischen Diskurses miteinander verbindet. Er verspricht dem Leser keine Sicherheit, sondern Irrtümer, Halbwahrheiten, Verbesserungsbedürftiges und empfiehlt den Autoren und Lesern des Teutschen Merkur, sich in einer Situation prinzipieller
Vgl. dazu Steffen Martus: »»Man setzet sich eben derselben Gefahr aus, welcher man andre aussetzet«. Autoritative Performanz in der literarischen Kommunikation am Beispiel von Bayle, Bodmer und Schiller«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001), S. 481-501. Dazu ausführlich: Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt/M. 1987. Anni Carlsson: Die deutsche Buchkritik von der Reformation bis zur Gegenwart. Bern, München 1969, S. 100. Zum Zusammenhang von Aktion, Reaktion und Reflexion in den Antikritiken und den Antworten der Rezensenten vgl. Irina Denissenko: »Die inszenierte Öffentlichkeit des Streites. Die Gattung Antikritik und das kritische Profil der ›Allgemeinen Literatur-Zeitung‹«. In: Organisation der Kritik. Die Allgemeine LiteraturZeitung in Jena 1785-1803. Hg. von Stefan Mattuschek, Heidelberg 2004, S. 113-142.
Steffen Martus
Unsicherheit einzurichten. Stets besteht das Risiko, dass eine Position bestritten wird – für Autoren und für Kritiker.
. ›Bescheidenheit‹ und ›Behutsamkeit‹ als literaturkritische Maximen Das »Revisions-Gericht, worin über die Beurteilungen geurteilt« wird, geht, so erklärt der Teutsche Merkur, mit »Freimütigkeit, Bescheidenheit und Unparteilichkeit« zur Sache (S. 900): »Wir können uns zuweilen irren, aber wenigstens werden wir alle mögliche Behutsamkeit anwenden, damit es nicht geschehe« (S. 899). ›Unparteilichkeit‹ und ›Freimütigkeit‹, ›Bescheidenheit‹ und ›Behutsamkeit‹ – diese Leitbegriffe des RezensionsProgramms folgen der Leitidee einer prinzipiellen Revidierbarkeit literaturkritischer Urteile. Während ›Unparteilichkeit‹ zum wenig aussagekräftigen Standardprogramm literaturkritischer Selbstbeschreibung gehört, ist ›Freimütigkeit‹ im 18. Jahrhundert ein umkämpfter Wert. Hinter der Forderung nach Freimütigkeit verbergen sich umfassende Umprogrammierungen der Verhaltenscodes.¹¹ Es geht – kurz gefasst – um die Entmächtigung der auf Nahkommunikation abonnierten Standards der vormodernen Verhaltenslehren, bei der die Semantik auf fernkommunikative Verhaltenskonventionen umgeschaltet wird. Die Forderung nach Freimütigkeit ist Teil einer Selbstbeschreibung, die schriftlichen Kommunikationsstandards gerecht wird. Für Wieland sind indes die beiden anderen Leitbegriffe wichtiger: Bescheidenheit und Behutsamkeit. Im Folgenden sollen die Implikationen dieser spezifischen Positionierung Wielands kurz herausgearbeitet werden. Dazu skizziere ich einen etwas weiteren historischen Kontext. Die Forderung nach Unparteilichkeit und Freimütigkeit gehört zu einem zentralen Projekt der Aufklärung: Schlechte Autoren sollen die Furcht vor Rezensionszeitschriften lernen. Die Tadlerinnen Johann Christoph Gottscheds beispielsweise wollen »Furcht und Zittern« verbreiten bzw. die Autoren »furchtsam« machen.¹² Weder stehen die Tadlerinnen damit allein, noch beschränkt sich diese offene Androhung von Gewalt auf unfähige Autoren. Um einige willkürlich herausgegriffene Beispiele zu zitieren, die Wielands literarische Sozialisation begleiten: So stellt Samuel Gotthold Lange 1747 in einer Antikritik seinen Gegnern »schwere[ ] Züchtigungen« in Aussicht und wirft den Kritikern Jakob Immanuel
Vgl. dazu: Martus: Werkpolitik (Anm. 3), S. 71 ff., insbes. 75 ff. Die vernünftigen Tadlerinnen 1725 – 1726. Hg. von Johann Christoph Gottsched. Bd. 2. Im Anhang einige Stücke aus der 2. und 3. Auflage 1738 und 1748. Neu hg. u. mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und einem Inhaltsverzeichnis versehen von Helga Brandes. Hildesheim u. a. 1993 (Nachdruck), S. 106 f.
Zeit und Wissen
Pyras vor, sie hätten »gegen alle Vernunft, gegen alles Kriegsrecht in der gelehrten Welt, gegen alle Billigkeit gehandelt«. Daraufhin kündigen die Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks »Gegenzüchtigungen« für Lange an.¹³ Hier wird auch klar, was Wieland konkret meint, wenn er von den Kabalen im Literaturbetrieb seiner Zeit spricht, in denen die Kontrahenten alle Mittel für erlaubt halten. So wird Lange von den Bemühungen zur Beförderung der Critik denunziert, indem man ihn als Haller-Kritiker, mithin als einen Abweichler von der Front der Zürcher Haller-Verteidiger, entlarvt und dafür einen Brief als Beweis verspricht. Die disqualifizierende Frage lautet: »Kann wohl ein geschworner Schweizerianer zugleich ein Antihallerianer seyn?«¹⁴ Die Reihe von Belegen für das Projekt der Verbreitung von ›Furcht‹ und ›Angst‹ lässt sich fast beliebig erweitern: Johann Jacob Bodmer fordert in seiner Anklagung Des verderbten Geschmackes (1728) eine kritische Rede, die mit den Elementen »Haß / Hohn / Verachtung / Eckel« operiert und entsprechend »wehe thut«¹⁵; und Georg Friedrich Meier erklärt in seiner Abbildung eines wahren Kunstrichters (1745), der Kritiker habe auch dann seine »Beurtheilungen vorzutragen, wenn er sieht, dass er sich selbst oder andern einigen Schaden dadurch verursacht«.¹⁶ Dass es den Kritikern in erster Linie nicht darum geht, »der Welt oder dem Schriftsteller zu dienen«, sondern sich »furchtbar zu machen«¹⁷ wird selbstverständlich als Manko verbucht, ist aber als Faktum unumstritten. Ebenso unumstritten ist die Tatsache, dass Kritiker die Dichter »in Angst« halten, wie es Mauvillon und Unzer 1771 in ihren Ausführungen Über den Werth einiger Deutschen Dichter formulieren.¹⁸ Gerade Wielands Mentor Bodmer verfolgt das Projekt einer offensiven Brutalisierung der kritischen Kommunikation, und dies vor dem Hintergrund, dass ihn sein anfängliches Zutrauen in die Überzeugungskraft von Argumenten offenbar getäuscht hat: Die Frage, ob »die Wercke der Wohlredenheit nach einer sinnlichen Empfindung oder nach gewissen Vernunfts = Gründen zu beurtheilen seyen«, bedeutet für Bodmer in der Frühaufklärung zunächst die Frage nach Sicherheit oder Unsicherheit der Wertung. Bodmer entscheidet sich im Brief =Wechsel von der Natur
Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks (1747), 16. St., S. 715 f. Ebd, S. 722 f. [Johann Jacob Bodmer]: Anklagung Des verderbten Geschmackes, Oder Critische Anmerkungen Uber Den Hamburgischen PATRIOTEN Und Die Hallischen TADLERINNEN, Frankfurt/M., Leipzig 1728, unpag. (Widmungsvorrede). Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Kunstrichters, Halle 1745, S. 179 f. Johann Gottfried Gellius: Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter. [Leipzig 1762] S. 5. [Jacob Mauvillon / Leopold August Unzer]: Über den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. Erstes u. zweytes Stück, Frankfurt/M., Leipzig 1771, S. 55.
Steffen Martus
des Poetischen Geschmackes (1736) zeittypisch für die Eindeutigkeit: Die »Critick« habe sich nicht an die unsichere Urteilsinstanz des Geschmacks, sondern an die »geübte, fertige und selbst in den kleinsten Stücken behutsam=gehende Uberlegung« zu halten.¹⁹ Die Urteile werden einhellig ausfallen, »weil eines jeden Meinung auf den Verstand, der nicht mehr als einer ist, gegründet ist«.²⁰ So einfach aber funktioniert literarische Kommunikation nicht. Jedenfalls äußert sich Bodmer vier Jahre später in der Vorrede ²¹ zu Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) zurückhaltender. Er gesteht ein, dass »der Geschmack an critischen Schriften […] bey der deutschen Nation noch nicht so wohl befestiget [sei], daß man nicht nöthig hätte, sie mit Vorerinnerungen über gewisse Puncten einzuführen […]«. Dabei beruft er sich nicht zuletzt auf den Satiriker Christian Ludwig Liskow, der für ein bestimmtes Kritikprogramm steht: für die ›vernichtende Kritik‹. »In der bürgerlichen Gesellschaft«, so erklärt Liskow im Zusammenhang mit seinen Briontes-Satiren, »werden einige Missethäter gezüchtiget zu ihrem eigenen Besten; einige hergegen, ohne Absicht auf ihre eigene Besserung, die nicht mehr zu hoffen ist, andern zum Schrecken, gestrafet und abgethan«. Diejenigen, die augenscheinlich nicht zum Schreiben geboren, aber hochmütig seien, verdienten kein Mitleid. Vielmehr sollen sie zur Rache an der »beleidigte[n] Vernunft« aus »dem Lande der Gelehrten vertilget« werden.²² Bodmer schließt sich an dieses krude Kritikmodell an und verkündet im letzten Satz der Vorrede zu Breitingers Critischer Dichtkunst gewissermaßen als Pointe seines Programms: […] es ist nicht möglich Wercke von diesem Inhalt zu schreiben, ohne daß sich dieser oder jener dadurch verletzt finde; ja dieses ist vielmehr das Wahrzeichen der rechtschaffenen Critick, so wohl als der rechtschaffenen Philosophie[.]
Verletzung als ein Zeichen wahrer Kritik – deutlicher lässt sich das gewaltsame Moment des aufklärerischen Diskurses kaum benennen und wieder geht es darum, »Furcht und Zittern« unter den Autoren zu verbreiten.²³
Johann Jacob Bodmer: Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1736. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart 1966, unpag. (Vorrede). Bodmer: Brief-Wechsel (Anm. 19), unpag. (Vorrede). Johann Jacob Bodmer: »Vorrede«. In: Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Bd. I, Stuttgart 1966, unpag. Christian Ludwig Liscov: Schriften (1806). Hg. von Carl Müchler. Bd. II, Frankfurt/M. 1972 (Repr.), S. 175, 178 f. So in Bodmers Hauszeitschrift: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheils und des Wizes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie, 1741, 2. St., S. 134.
Zeit und Wissen
Von Anfang an steht der Aufklärung also die Option zur Verfügung, unfähige Autoren nicht zu verbessern, sondern sie gewissermaßen zu traumatisieren. Bodmer entwickelt seine Position nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Streits um Milton, und genau hier sieht man, dass auf der Rückseite der ›freimütigen‹, gewaltbereiten Urteilsäußerung ›Bescheidenheit‹ und ›Behutsamkeit‹ als Ausgleichsfaktoren ins Spiel kommen. Einerseits lassen sich die Anforderungen an Autoren beliebig steigern, andererseits gibt es auch bei den Anforderungen an die Leser potentiell keine Grenze. Bodmer will nicht nur »Furcht und Zittern« unter den Autoren verbreiten, er klagt zudem auch ein größeres Maß an »Behutsamkeit und Bescheidenheit« beim Leser ein.²⁴ In einer Bewegung der Genialisierung erklärt er bestimmte Werke wie diejenigen Miltons in Analogie zu den Werken Gottes: Über die göttlichen Machenschaften habe der Mensch keine Urteilskompetenz, er könne diese nur »ehrerbiethig[ ]« betrachten, mit »reichem Nachsinnen und ohne Tadelsucht«. In seiner Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie schreibt er 1740: Eh ich aber den Anfang zu dieser Arbeit mache, wünschete ich das Gemüthe meines Lesers in den gehörigen Zustand der Bedachtsamkeit und Bescheidenheit setzen zu können, womit die Erwegung solcher Arten Wercke, welche zu verfertigen unleugbar die höchste Kraft des menschlichen Geistes erfordert wird, billig sollte vorgenommen werden. Ie weiter die Verfertigung eines Werckes so wohl in Absicht auf die Materie als die Kunst, die Fähigkeit der menschlichen Natur übersteiget, je mehr Behutsamkeit und Bescheidenheit muß man in den Urtheilen darüber gebrauchen.²⁵
Bei der Beurteilung gottgleicher Autoren gilt die Prämisse, dass der Leser eher an sich selbst, als an deren Werken zu zweifeln hat. Negative Kritik wird auf diese Weise zur »Übereilung«, und das voraussetzungslose Vertrauen auf den Autor wird zur conditio sine qua non der Beurteilung.²⁶ Woran aber erkennt der Kritiker die ›Gottgleichheit‹ von Autoren?
Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart 1966, z. B. S. 5. Ebd., Hervorhebung S. M. Ebd., S. 57, S. 144. Auch hier steht das Billigkeitsprinzip als wichtiges Moment der Aufklärungshermeneutik im Hintergrund. G. F. Meier beispielsweise stellt die hermeneutische Billigkeit ins Zentrum seiner Auslegungslehre. Die entsprechende Definition dürfte Bodmer sehr gut gefallen haben: »Die hermeneutische Billigkeit (æquitas hermeneutica) ist die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erwiesen wird« (Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Düsseldorf 1967 (Repr. d. Ausg. Halle / Saale 1757) S. 20; vgl. dazu: Oliver R. Scholz: »Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier«. In: Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Hg. v. Axel Bühler, Frankfurt/M. 1994, S. 158-191, S. 176 ff.).
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Wieland jedenfalls – so meine These – übernimmt das hermeneutische Programm der ›Bescheidenheit‹ und ›Behutsamkeit‹ von Bodmer, normalisiert es aber. Oder anders: Bei ihm geht es nicht um die Gottgleichheit von Autoren, sondern um deren Menschlichkeit, genauer: um deren »Individualität«. So erweist sich Wieland in seiner frühen Zeit bei allen poetologischen Divergenzen²⁷ als Schüler Bodmer. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass er dessen Dichtung verteidigt, sondern vor allem in der Art, wie er sie verteidigt. In der Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah (1753) wird Wielands Nähe zu Bodmer bereits im Titel (»Abhandlung von den Schönheiten«) deutlich. Die ganze Abhandlung ist ein Ausweis dafür, dass Wieland – wie er selbst es programmatisch formuliert – »Mißtrauen in sich selbst« hat. Daher pflegt er eine »behutsame[ ] Aufmerksamkeit«. Er demonstriert »Furchtsamkeit« beim Beurteilen, er tritt »mit Ehrfurcht, mit Lehrbegierde, mit behutsamer Aufmerksamkeit« dem Kunstwerk gegenüber. Für ihn zeigt ein Tadel eher »einen Mangel meiner Erkentniß als einen Fehler des Dichters« an. Diese ›bescheidene‹ Haltung bettet Wieland in die Argumentationsfigur ein, die dem literaturkritischen Urteil prinzipielle Perspektivität unterstellt. Denn er stellt sich unter prinzipiellen Irrtumsvorbehalt. Die Gefahr, dass Leser »aus Mangel richtiger Einsicht Schönheiten vor Fehler gehalten, oder Mißtritte und Sprünge da zu finden vermeynt, wo Ordnung und Zusammenhang ist«, lässt sich nicht bannen. Und schon hier markiert Wieland die hermeneutischen Prinzipien seiner Literaturkritik durch das Angebot der Revidierbarkeit. Er stellt seine eigene Kritik einer möglicherweise kompetenteren Kritik zur Disposition, erklärt sie damit für potentiell vorläufig bzw. er temporalisiert die Urteilsbildung.²⁸ Die Freymüthigen Nachrichten fordern daher konsequenterweise die Leser zur Parallellektüre von Bodmers Noah und Wielands Abhandlung auf. Sie begründen dies im Anschluss an eben jene zentrale Argumentationsfigur: Die Leser, so die Freymüthigen Nachrichten, sehen dank Wielands Kritik mehr an einem Werk, und sie sehen das Werk anders. Sie werden »da Ordnung und Schönheit bemerken […], wo auch manchmal die vernünftigen Leser beym ersten Anblick Fehler zu sehen geglaubt haben.«²⁹
Frank Baudach: »Die Dichtungsauffassung des jungen Wieland«. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Hg. von Theodor Verweyen in Zusammenarbeit mit HansJoachim Kertscher, Tübingen 1995, S. 187-199. Wichtig könnte für Wielands Fortführung von Bodmers Perspektivismus vor allem seine Übertrumpfung der Zürcher Konzeption vom »Wunderbaren« sein, weil er in neoplatonischer Tradition das ›Mögliche‹ auch als ›Wirkliches‹ denkt (ebd., S. 190 ff.). [Christoph Martin Wieland]: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah. Von Dem Verfasser des Lehrgedichts Uber die Natur der Dinge, Zürich 1753, S. 1-4. Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, Und Andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 11 (1754), 45 St., S. 353 f. Zu einer harmonisierenden, die privatpolitische Dimension des Verhältnisses ausblendenden Sicht auf das Bündnis von Wieland und Bodmer:
Zeit und Wissen
Im Teutschen Merkur greift Wieland diese kritische Theorie auf. Als ob er in nuce das Verfahren der Noah-Abhandlung in Maximen fassen wollte, erklärt er in der Herausgeber-Vorrede den »Ton des Zweifels«, das Interesse an »Schönheiten« und dann eben auch die »Behutsamkeit« zu Prinzipien der Kritik (S. 899).³⁰ Mit anderen Worten: Wieland zeigt, wie wichtig ein zweiter, dritter oder vierter Blick auf das literarische Werk ist, bevor man ein Urteil fällt. Der kompetente Kritiker zeichnet sich dadurch aus, dass er das »Revisions-Gericht« internalisiert. Er realisiert bereits in sich, was Wielands Teutscher Merkur als publizistische Gattung der »Revision« installiert. Oder umgekehrt: Der Teutsche Merkur ist ein Instrument zur Ausbildung von Kritikern, denen eine bestimmte Haltung eingeprägt werden soll, eine Haltung, bei der die Zeitlichkeit des eigenen Urteils erkannt und genutzt wird. Ein gutes Beispiel für den Zusammenhang von Revidierbarkeit als Zeitschriftenprinzip und Bescheidenheit als literaturkritischer Leitnorm ist Wielands Antikritik zu Christian Heinrich Schmids Besprechung von Goethes Götz von Berlichingen – Schmidts Rezension erscheint 1773 im Teutschen Merkur, Wielands »Revision« ein Jahr später. Wielands Nachbemerkung im Anschluss an Schmids Kritik lautet: Die Mitarbeiter am Merkur haben nicht auf die Grundsätze und Meinungen des Herausgebers geschworen. Jeder denkt und urteilt nach seiner Fähigkeit, Überzeugung und eignen Weise; und daher wird es sich nicht selten zutragen, daß der Merkur sich selbst widersprechen und in einem Stücke behaupten wird, was ein andrer Verfasser in einem andern Stücke bestreitet.³¹
Dass die Mitarbeiter des Merkur von Anfang an damit gerechnet haben, selbst im Merkur ›revidiert‹ zu werden, ist allerdings fraglich. Während Schmid sich am Leser und dessen Fassungsvermögen orientiert, richtet sich Wieland am Autor aus. Im Kernstück seiner Besprechung beschäftigt er sich mit dem Vorwurf mangelnder Motivation: Wer – wie es beispielsweise Christian Heinrich Schmid ausdrücklich tut – im Charakter Weislingens Ungereimtheiten finde, dem fehle es offensichtlich Egon Freitag: »»Welch ein himmlischer Affekt ist die Freundschaft? Wie schön kann sie edle Seelen bilden?« Christoph Martin Wieland und Johann Jakob Bodmer«. In: Ars et Amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998. Hg. von Ferdinand van Ingen und Christian Juranek. Amsterdam, Atlanta 1998, S. 535-549. Zur Kritik im Teutschen Merkur vgl. Astrid Urban: Kunst der Kritik. Heidelberg 2004, S. 85 ff.; Sven-Aage Jørgensen u. a. (Hg.): Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994, S. 169 ff.; Jan Cölln: »Zeitschriftenherausgeber« (Anm. 1), S. 381 ff. Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Hg., eingeleitet und kommentiert von Karl Robert Mandelkow. Teil I. 1773 – 1832. München 1975, S. 520. Zur Herausgeberpraxis Wielands vgl. Cölln: »Zeitschriftenherausgeber« (Anm. 1), S. 377 ff., 383.
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an Bekanntschaft mit der komplizierten menschlichen Natur. Anders als viele Kritiker hält Wieland keine Szene des Dramas für entbehrlich. Wer Elisabeth nicht als »würdige Gemalin« erkenne, dem mangele es an Empfindungsfähigkeit.³² Bei der Verteidigung Marias gesteht Wieland offen ein: Bescheidenheit im Urteilen über Werke des Genies ist in unsern Tagen schon eine Art von Verdienst; Behutsamkeit im Tadeln würde für jene kunstrichterliche Tugend eine sehr nützliche Gesellschafterin sein. Wie oft scheint uns bei der ersten Lesung tadelhaft, was wir bei der zweiten oder dritten vortrefflich finden[.]³³
In der Tradition des Bodmerschen Perspektivismus belastet Wieland den Leser. Dieser muss seine Kompetenzen durch »Bescheidenheit« und »Behutsamkeit« bei Werken beweisen, deren komplexe Anlage sich erst mehrmaliger Lektüre erschließt. Wieland entwickelt eine Vorliebe für solche Einleitungen und Anmerkungen zu Artikeln. Überhaupt demonstriert er immer wieder ein ausgesprochenes Faible für Revisionen und Rettungen. Bei der Besprechung von Schillers Dom Karlos im Teutschen Merkur (1787) etwa, einer Gefälligkeits-Rezension für Göschen, beurteilt er das Drama insgesamt positiv, obwohl er von dem Text – wie er brieflich bemerkt – nach seiner »Vorstellungsart unmöglich eine günstige Anzeige machen« kann (S. 1093, vgl. auch 1095): Er findet den Dom Karlos »vornehmlich« deswegen »interessant«, weil das Stück »von dem was sich unsere dramatischen Musen in Zukunft von ihm [Schiller; S.M.] zu versprechen haben, unterrichtet, und uns, so zu sagen, zu Zuschauern eines langen muthvollen Kampfes seines Genius mit seinem Süjet macht […]« (S. 271). Verstöße gegen die regelmäßige Dramenästhetik entschuldigt Wieland wie in der Götz-Antikritik dadurch, dass er darauf hinweist, was der Autor »wollte« (S. 272) – von diesem Standpunkt sei das Werk zu betrachten. Auch die Rezensionen der Musen-Almanache für das Jahr 1797 (1797 im Neuen Teutschen Merkur) und von Herders Adrastea (1802 im Neuen Teutschen Merkur) sind für den skizzierten Zusammenhang einschlägig. Die Almanach-Kritik ist dialogisch angelegt und verhindert schon dadurch Einseitigkeiten. Sie votiert dafür, Mittelmäßigkeit im Rahmen bestimmter Kontexte sowie im Blick auf die Entwicklung eines Autors zu akzeptieren. Mehrfache Lektüren hält Wieland auch in diesem Fall für notwendig (S. 286). Die Urteilsfindung sei in den historischen Zeitbedingungen zu situieren (S. 300 f.). Schließlich verurteilt die Almanach-Rezension einen Teil der Xenien zwar scharf; sie spricht Goethe und Schiller die Autorschaft der kritisierten Gedichte aber gerade ab und erklärt die Veröffentlichung aus
Ebd., S. 16 ff. Ebd., S. 18 f.
Zeit und Wissen
bestimmten Zwängen des Zeitschriftenbetriebs (S. 309 ff., insbes. 312 ff.). Diese harte Kritik an den Xenien-Dichtern ist strukturell für Wielands Rettungen typisch.³⁴ Daher rekurriert Wieland auf seine eigene frühe Kritikerphase der 1750er Jahre, um die kritischen »Exzesse[ ]« zu verstehen und nicht einfach nur zu verurteilen (S. 319). An Herders Adrastea interessiert Wieland dann auch vornehmlich, dass diese Zeitschrift die Kompetenz der »Billigkeit« vermittelt, indem sie menschliches Verhalten im Blick auf »innere und äußere Umstände und Verhältnisse« einschätzt (S. 326).
. Das »Endurteil« der Zeit Welchen Stellenwert das Programm des bescheidenen und damit temporalisierten Urteilens für Wieland in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung einnahm, zeigen beispielsweise die Briefe an einen Freund über eine Anekdote aus J. J. Rousseaus geheimer Geschichte seines Lebens (1780). Dort will Wieland, wie in verschiedenen anderen Texten (z. B. seiner Horaz-Edition), beweisen, mit welcher Behutsamkeit und Zartheit man im Urtheilen über die Triebfedern, Absichten und innere Moralität einzelner Personen und Handlungen verfahren müsse, und welche feine Instrumente, welch eine leichte Hand erfordert werde, um bey Zerlegung des menschlichen Herzens die zarten, oft kaum sichtbaren Fasern nicht zu zerreissen, die man entdecken will, und von deren oft sehr fein verwickeltem Zusammenhange die Erklärung der schwersten psychologischen Aufgaben abhängt[.]³⁵
Von zentraler Bedeutung ist der Zusammenhang von Zeit und Wissen im Blick auf die Literaturkritik, weil Wieland eine komplexe literarische Strategie verfolgt, die Literaturkritik, Kritiker- bzw. Leserbildung, ein bestimmtes Werkmodell und das korrespondierende Autorkonzept umfasst. So schließt Wieland im Teutschen Merkur bei aller ›Bescheidenheit‹ an das eben skizzierte Programm kritischer Gewalt an. Auch er bekennt: ›Schlechte‹ Autoren sollen den Teutschen Merkur fürchten. Er fügt dann allerdings hinzu: Gerade diese ›schlechten‹ Autoren hätten am wenigsten Anlass zur Sorge: »Nur gute Schriftsteller verdienen eine scharfe Beurteilung […]« (S. 899). Diesen harten Zugriff auf die ›guten‹ Autoren mildert Wieland durch Temporalisierung ab: »[…] denn an ihnen [den guten Schriftstellern; S.M.] ist alles, bis auf die Fehler selbst, merkwürdig und unterrichtend« So z. B. für die unten erwähnte ›Rettung‹ Rousseaus. Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck d. Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], ersch. in 14 Bänden. Hier Bd. V.15, S. 251.
Steffen Martus
(S. 899). Hinter dieser Formulierung verbirgt sich Wielands großes autorhermeneutisches Projekt, das sich auf den grundlegenden Wechsel von literaturkritischer Selektion zur tendenziell selektionslosen Aufmerksamkeit bezieht. Damit wird eine historische Beobachtungshaltung anvisiert und damit der Wechsel vom Beurteilen zum Verstehen als Leitorientierung des Kritikers. Fehler veranlassen in diesem Modell den Kritiker nicht dazu, die Aufmerksamkeit von einem Gegenstand abzuziehen. Die Literaturkritik im Sinne Wielands rät bei einem ›guten fehlerhaften‹ Werk dem Leser nicht dazu, zu einem anderen Werk zu greifen. Vielmehr empfiehlt sie dem Leser, sich auch für die Fehler zu interessieren, weil diese auf die Individualität eines Autors hinweisen. Und eben diese Empfehlung verbirgt sich hinter der Formulierung, dass das »Endurteil« der Zeit überlassen bleibe. Nach seiner Diagnose der »beinahe allgemeine[n] Willkürlichkeit des Geschmacks« (S. 901) kommt Wieland in der Merkur-Vorrede auf das Problem der Parteilichkeit zu sprechen. Zunächst behauptet Wieland, dass sich im Lauf der »Zeit« diese Parteilichkeit verliere. Letztlich aber bekennt er, dass das Urteil über große Autoren ständig schwanke: »das Ansehen steigt oder fällt mit dem Steigen oder Fallen des menschlichen Geistes«. Wie also sieht dann ein »Endurteil« aus? Das »Endurteil« bezeichnet letztlich – nicht ganz glücklich – eine autorhermeneutische Einstellung. Denn im Zentrum der Diskussion von Parteilichkeit steht folgender Passus: Alles dieses beweiset nichts gegen das Richteramt des Publici, es beweiset nur: daß die Zeit allein seinen Ansprüchen das Siegel der Gültigkeit aufdrückt. Was will man mit diesem Ausdruck sagen? Nichts als dies: das Publikum urteilt selten (vielleicht hätte ich gerade heraussagen sollen, niemals) über seine Zeitgenossen richtig, teils, weil es so vielen einzelnen Personen, woraus es besteht, an der Einsicht oder dem Geschmack, oder den Kenntnissen fehlt, welche zum richtigen Beurteilen gewisser Personen oder Sachen unumgänglich erfordert werden; teils, weil sich Privat-Neigungen und zufällige Nebenumstände in die Urteile mischen. Allein nach und nach vermehrt sich die Summe der Begriffe, welche den Geist der Nation leiten […]. Unparteiische Kunstverständige treten auf; sie haben diese Werke studieret, verstanden, geprüft; sie haben den Verfasser mit sich selbst, mit seinen Umständen, mit dem Charakter seiner Zeit, mit andern Verfassern seiner Gattung verglichen; sie haben das, was ihn unterscheidet, ausgefunden; sie kennen seine starke und schwache Seite; nichts hindert sie, gegen seine Vorzüge oder Verdienste gerecht zu sein; nichts schließt ihre Augen gegen seine Fehler. (S. 901 f.)
Mit anderen Worten: Wieland will in bestimmten Fällen mittels einer prinzipiell revidierbaren und damit temporalisierten Rezensionspraxis nichts aussortieren, sondern die Aufmerksamkeit für Werke und Autoren maximieren – für Autoren und Werke: Beides lässt sich Wieland zufolge nicht trennen. Als Autor revidiert er permanent seine Werke und führt damit
Zeit und Wissen
den Kritikern temporalisiertes Verhalten vor. Durch den Zusammenhang von »Zeit und Wissen« begründet Wieland die uneingeschränkte Aufmerksamkeit für den Autor und sein Werk, indem er den Leser auf zeitintensive Lektüreleistungen verpflichtet. Das literaturkritische Programm des Teutschen Merkur und insbesondere das Konzept des »Revisions-Gerichts« gehört ins Ensemble von Wielands Werkpolitik.³⁶ Der Teutsche Merkur stimmt die Literaturkritik über den Zusammenhang von Zeit und Wissen auf das Werkkonzept ab, das Wieland seit den 1760er Jahren entwickelt und bis zu den Bänden der Sämmtlichen Werke aus den späten 1790er Jahren fortführt – daran schließen Herausgeber des 19. und 20. Jahrhunderts an. Innerhalb dieser Werkpolitik wird die Zeit, die der Autor in sein Werk investiert hat (Lebenszeit) sowie die Zeit, als deren repräsentativer Teil der Autor gilt (historische Zeit), zum Grund für jene zeitintensive Aufmerksamkeit, die auch Leser, Kritiker und Literaturwissenschaftler an das Werk verschwenden: Das Einzelwerk soll im Kontext des Gesamtwerks gesehen werden (also im Rahmen der Werkentwicklung), und das Gesamtwerk soll als Teil der Literaturgeschichte erscheinen. Für diese historische Beobachtung aber benötigt der Leser Zeit. Im Blick auf die Epochenschwelle ›um 1800‹ heißt dies: Wieland zieht aus den Streitigkeiten der Früh- und Hochaufklärung weitreichende Konsequenzen: in seinen Rezensionen seit den 1750er Jahren, in seiner Werkkonzeption seit den 1760er Jahren und in seinem Zeitschriften-Projekt seit den 1770er Jahren. In allen diesen Fällen stiftet er einen Zusammenhang von »Zeit und Wissen«. Die Bedeutung dieser Temporalisierung belegt Goethes Aufsatz Literarischer Sansculottismus (1795), denn der Essay zieht seinerseits die Konsequenzen aus Wielands Koppelung von »Zeit und Wissen«: Wie Wieland hält Goethe eine »bedeutende Schrift« für die »Folge des Lebens« und seiner »Umstände«; wie Wieland empfiehlt er (mit direktem Bezug auf Wielands Revision der eigenen Werke) die Beobachtung der Werkentwicklung. »Vielleicht wagen wir in der Folge«, so Goethe, »die Geschichte der Ausbildung unsrer vorzüglichsten Schriftsteller, wie sie sich in ihren Werken zeigt, dem Publikum vorzulegen«.³⁷ Mit den bereits zitierten Worten des Kritik-Programms aus dem Teutschen Merkur formuliert: Leser, die dem Zusammenhang von Zeit und Wissen gerecht werden, vergleichen »den Verfasser mit sich selbst, mit seinen Umständen, mit dem Charakter seiner Zeit« sowie »mit andern Verfassern seiner Gattung«. Martus: Werkpolitik (Anm. 3), S. 186 ff. Johann Wolfgang Goethe: »Literarischer Sansculottismus«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 14. Schriften zur Literatur. Einführung und Textüberwachung von Fritz Strich. München, Zürich 1977, S. 179-185, S. 183.
Anja Oesterhelt
Anachronistische Historiographie? Zur Metapher des Standpunkts in der Historiographie des . Jahrhunderts und ihrer Bedeutung für Christoph Martin Wielands Aristipp
Wielands späte Schriften galten den Zeitgenossen als hoffnungslos unzeitgemäß. Tatsächlich stehen sie für eine Literatur, die um die Jahrhundertwende kaum noch interessierte. Es wäre aber falsch anzunehmen, Wieland hätte sein literarisches Programm blind gegen die zeitgenössischen Tendenzen einfach fortgeführt. Trotz der hohen Kontinuität, die in Themen, ästhetischem Verfahren und ethischem Anliegen ohne Zweifel gegeben ist, schärfte sich Wielands spätes literarisches Programm gerade durch die – freilich kritische – Auseinandersetzung mit den neuen Entwicklungen um 1800. Es sollte deswegen nicht als Zeugnis einer schon überholten Spätaufklärung gelesen werden, sondern als spezifisch spätaufklärerische Auseinandersetzung mit den Tendenzen um 1800, die von der Warte einer untergehenden Kultur, nichtsdestotrotz aber auf der Höhe der Zeit argumentiert.¹ Auch der in den Jahren 1800 und 1801 erschienene Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen ist ein spätaufklärerischer, aber zugleich einer, dessen Brisanz sich erst vor dem Hintergrund der Entwicklungen um 1800 ergibt. Ja, die Opposition gegen diese Tendenzen ermöglicht es Wieland überhaupt erst, sein aufklärerisches Programm mit diesem Roman auf eine neue, letzte ästhetische Spitze zu treiben. So kann der Aristipp als Bilanz und zugleich als Höhepunkt der literarischen Aufklärung gelten.²
Das Argument kann ausführlicher nachgelesen werden in: Anja Oesterhelt: Perspektive und Totaleindruck. Höhepunkt und Ende der Multiperspektivität in Christoph Martin Wielands ›Aristipp‹ und Clemens Brentanos ›Godwi‹. München 2010. Missbilligende Aussagen der Zeitgenossen versammelt Klaus Manger in seinen Anmerkungen zu der von ihm besorgten Aristipp-Ausgabe: Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 28; hier im Text zitiert mit der Sigle SW) S. 1129 ff. Jan Philipp Reemtsma resümiert: »Daß speziell dem Aristipp neues Interesse zuteil geworden ist, hängt allerdings unmittelbar mit seinem Misserfolg unter seinen Zeitgenossen zusammen. In ihm hat Wieland – durchaus im Bewußtsein, so etwas wie einen vorläufigen Schlußstrich zu ziehen – für sich eine Bilanz dessen gezogen, was Aufklärung bedeutete, und zwar zu einer Zeit, als deren Werte endgültig außer Kurs gerieten.« Jan Philipp Reemtsma: »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. In: Interpretationen. Romane des 17. und 18. Jahrhunderts.
Anja Oesterhelt
Eine der Fragen, um die der Roman kreist, ist die nach den Bedingungen historischer Erkenntnis. Dabei greift Wieland auf die von Chladenius fünfzig Jahre früher entwickelte Sehepunktmetapher zurück. Dieser Themenkreis des Romans verdient nähere Besprechung, da hier die Funktion des nur scheinbar Anachronistischen besonders greifbar wird. Die Frage ist: Wieso greift Wieland Chladenius’ Theorie des Sehepunkts noch einmal auf ? Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wird nicht nur die Frage nach dem historischen Prozessen zugrunde liegenden Plan, sondern auch die nach den Bedingungen historischer Erkenntnis neu gestellt. Nicht nur die Geschichtsphilosophie also, sondern auch die Historiographie unterliegt im 18. Jahrhundert einem Wandel. Eben die historiographischen Reflexionen erweisen sich für das Verständnis von Wielands Roman als zentral. Schon ihr bloßes Vorhandensein stellt eine starke Aussage dar, ist doch die Frage nach den Erkenntnisbedingungen als deutlich markierte Abwendung von der Systembildung und Teleologie der Geschichtsphilosophie zu lesen. Es ist in diesem Sinn eine Aussage über die Sache, dass Wielands eigene Position gerade nicht im geschichtsphilosophischen Komplex des historischen Diskurses, sondern im historiographischen greifbar wird.³ Für das hergebrachte Selbstverständnis des Historikers, der von einem unveränderlichen Sein von Natur und Geschichte ausging, war lediglich das eigene Wissen über dieses Sein erweiterungsfähig. Geschichte, heißt das, war akkumuliertes, sich immer gleichbleibendes Wissen.⁴ Der Historiker arbeitete unter der Vorgabe, dass er zu den unzähligen schon notierten Ereignissen nur noch die jüngsten hinzufügen müsse, weil Geschichte als objektive Gegebenheit von Fakten und nicht als zeitlicher Verlauf verstanden wurde.
Stuttgart 1996, S. 302-322, hier S. 304. Vgl. auch ders.: Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands ›Aristipp und einige seiner Zeitgenossen‹. Zürich 1993, S. 39. Als maßgebend für die hier verfolgte Lesart des Romans als Reaktion auf die zeithistorischen Umbrüche kann der in mehreren Hinsichten aus der Aristipp-Philologie herausragende Aufsatz von Bernd Auerochs gelten, der die kontrastive Funktion der Frühromantik für den Aristipp beschreibt. Auerochs zeigt dies am nucleus des Romans, der zugleich dessen Thema, Form und Poetologie darstellt, dem Dialog, und der Rolle, der hier die Figur des Platon als Kontrastfolie zum aufklärerischen Dialogverständnis zukommt. Vgl. Bernd Auerochs: »Platon um 1800. Zu seinem Bild bei Stolberg, Wieland, Schlegel und Schleiermacher«. In: Wieland-Studien 3, hg. v. Klaus Manger und vom WielandArchiv Biberach. Sigmaringen 1996. S. 161-193. Der historiographische Diskurs wurde bisher nur von Jan Cölln als zentraler Schlüssel zum Verständnis des Romans erkannt: Jan Cölln: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im ›Aristipp‹. Göttingen 1998. Vgl. Reinhart Koselleck: »Historia Magistra Vitae«. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1989, S. 38-66 und Wilhelm SchmidtBiggemann: Geschichte als absoluter Begriff. Der Lauf der neueren deutschen Philosophie. Frankfurt/M. 1991, S. 20
Anachronistische Historiographie?
Die Idee, dass es objektive Geschichtsschreibung nicht geben könne, die revolutionäre Einsicht also in das Bedingungsverhältnis von Standpunkt und Wahrheit, wurde für die Geschichtswissenschaft erstmals Mitte des 18. Jahrhunderts von Johann Martin Chladenius formuliert.⁵ Dass Wieland über 50 Jahre später eben Chladenius’ Sehepunkttheorie ins poetologische Zentrum seines Romans stellt, ist eine Stellungnahme gegenüber den zeitgenössischen Tendenzen um 1800, die diese Auffassung des Sehepunkts ins Abseits drängen. Wielands unzeitgemäßes Durchdeklinieren der Sehepunkttheorie ist vor diesem Hintergrund auch als Abwehr der geschichtsphilosophischen Konjunktur um 1800 zu lesen, die über der Systembildung die Grundlagenreflexion der historischen Arbeit als standpunktgebunden wieder aus dem Auge verliert. Zunächst sei Johann Martin Chladenius’ (1710 – 1759) Sehepunkttheorie in Erinnerung gebracht, die der Gelehrte der Theologie, Beredsamkeit und Dichtkunst in der Auslegekunst (1742) und der Allgemeinen Geschichtswissenschaft (1752) entwickelt. Hier werden Einsichten argumentativ entfaltet, die schon bald zu selbstverständlich wurden, um sie noch näher zu exemplifizieren. Die Originalität des Gedankens, die Standortgebundenheit des Geschichtsschreibers nicht als Manko, sondern als konstitutives Element der Geschichtsschreibung zu begreifen, kann dem heutigen Leser deswegen gerade an Chladenius’ Schriften nachvollziehbar werden. Wie neu Chladenius’ Gedanke ist, zeigt die Umständlichkeit seiner argumentativen Entwicklung. Für den Leser einer Allgemeinen Geschichtswissenschaft einigermaßen verblüffend, beginnt der Text mit einer ausführlichen Erörterung der Frage, wie der Mensch einzelne Körper optisch wahrnimmt und wie er sie aufgrund dieser optischen Wahrnehmung denken lernt. Die Argumentation zielt, das wird später deutlich, auf die Fähigkeit des Betrachters, seinen eigenen Gesichtspunkt bewusst zu beeinflussen, um sich einen klaren Begriff vom Objekt seiner Betrachtung zu bilden. Von hier aus wird dann die Idee des ›Sehepunktes‹ entwickelt. Die aus der Optik abgeleitete Definition des Sehepunktes soll dann für die historische Erkenntnis fruchtbar gemacht werden. Auf die richtige Anwendung des Begriffs des Sehepunktes, so heißt es, komme fast alles in der historischen Erkenntnis an.⁶ Der Standpunkt-Begriff, dessen sich
Der Mitte des 18. Jahrhunderts stattfindende Umbruch, innerhalb dessen der Standpunkt des beobachtenden und beschreibenden Historikers erstmals als konstitutiv für die Geschichtsschreibung erschien, ist u. a. von Koselleck als grundlegende Umwälzung des Geschichtsverständnisses beschrieben worden. Vgl. Reinhart Koselleck u. Horst Günther: Artikel »Geschichte, Historie«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 593-717. Vgl. Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Mit einer Einleitung
Anja Oesterhelt
die Geschichtswissenschaft in Zukunft ganz selbstverständlich bedienen wird, findet hier nicht einfach das erste Mal Anwendung, sondern dessen Metaphorisierung selbst wird zum Gegenstand des systematischen Interesses. Insofern hier die Überführung eines optischen Phänomens in eine Metapher theoretisch entwickelt wird, ist Chladenius’ Sehepunkttheorie historisch beispiellos. Es ist diese Metapher der Perspektive, die die revolutionäre Einsicht in die Standpunktgebundenheit des Geschichtsschreibers ermöglicht.⁷ Chladenius greift auf einen Gedanken von Leibniz zurück, der Standpunktgebundenheit nicht nur als Erkenntnisbeschränkung, sondern zugleich dialektisch als positive Erkenntnisbedingung formuliert.⁸ Die neue Qualität der Chladenschen Standpunktreflexion besteht in der Vehemenz, mit der sie zur Grundlage aller Reflexion erklärt wird. Die perspektivische Wahrnehmung ist nun systematischer Ausgangspunkt jeder historischen Aussage. Der Sehepunkt wird als Begriff verstanden, »der mit den
von Christoph Friedrich und einem Vorwort von Reinhart Koselleck. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1752. Wien u. a. 1985, S. 100, Kap. 5, § 12. Die Frage nach dem Standort des Historikers wurde schon früher in optischer Metaphorik gestellt. Comenius kleidet 1623 die Historiker ins Bild von »Menschen mit sonderbar gewundenen und gebogenen Posaunen«, die sie »über die Schulter hinweg nach rückwärts kehrten«. Diese »Fernrohre« bzw. »gebogenen Perspektiven«, mit denen »man nach rückwärts sehen könne«, sollten aber zur Vorsicht mahnen. Denn, wie der Erzähler feststellt: »Das eine ließ die Dinge in weiter Ferne, das andere in unmittelbarer Nähe, das eine in diesem, das andere in einem anderen Lichte sehen, in einem dritten sah man sie überhaupt nicht mehr; so kam ich bald dahinter, daß man sich keineswegs darauf verlassen könne, eine Sache verhalte sich wirklich so, wie sie dem Beobachter erscheine«. Johann Amos Comenius: »Das Labyrinth der Welt …« und andere Meisterstücke. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Klaus Schaller. München 2004, S. 72 f. Bei Comenius geht es aber im Unterschied zu Chladenius um die Warnung vor der Verzerrung einer an sich bestehenden Wahrheit. Es gilt, sich vor möglichen Wahrnehmungsverschiebungen zu schützen, nicht aber, diese als unhintergehbare Erkenntnisbedingung zu werten. Leibniz ist der Mittler zwischen Optik und neuer Geschichtsreflexion. Schon in der Auslegekunst verweist Chladenius auf Leibniz als den Vorläufer seiner Sehepunkt-Theorie. Von Leibniz sei der Begriff »Sehe-Punckt« vermutlich »zuerst in einem allgemeinern Verstande genommen worden, da es sonsten nur in der Optick vorkam«, heißt es dort (Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1969, S. 188, Kap. 8, § 309). Auch in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft verweist Chaldenius explizit auf Leibniz, vgl. Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft (Anm. 6), S. 100 f., Kap. 5, § 12. Zu Leibniz selbst vgl. v. a. Gottfried Wilhelm Leibniz: »Monadologie«. In: Ders.: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie. Auf Grund der kritischen Ausgabe von André Robinet und der Übersetzung von Artur Buchenau mit Einführung und Anmerkungen hg. von Herbert Herring. Hamburg, 2. verbesserte Auflage 1982, S. 52 f.; sowie Ders.: »Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels«. In: Ders.: Philosophische Schriften. Bd. 2.1., hg. und übersetzt von Herbert Herring. Darmstadt 1965, S. 458 f.
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allerwichtigsten in der gantzen Philosophie im gleichen Paar gehet« und auf den in der historischen Erkenntnis »fast alles« ankomme. Denn: Wir können nicht anders erkennen, als standortgebunden. Da nun der Sehepunckt nach den verschiedenen Beschaffenheiten der Objeckten und der Zuschauer, in so verschiedener Weitläufftigkeit muß genommen werden, so ist dienlich, daß man diese Begriffe sämtlich unter einen allgemeinen Begriff bringe: welcher folgender ist. Der Sehepunckt ist der innerliche und äusserliche Zustand eines Zuschauers, in so ferne daraus eine gewisse und besondere Art, die vorkommenden Dinge anzuschauen und zu betrachten, flüsset. Ein Begriff, der mit den allerwichtigsten in der ganzen Philosophie im gleichen Paare gehet, den man aber noch zur Zeit zu Nutzen anzuwenden noch nicht gewohnt ist, ausser daß der Herr von Leibniz hie und da denselben selbst in der Metaphysick und Psychologie gebraucht hat. In der historischen Erkenntniß aber kommt fast alles darauf an.⁹
Chladenius wendet den Grundgedanken der Standpunktgebundenheit also auf die Geschichtswissenschaft an. Er führt vier Erweiterungen des Begriffs ein: Es ist erstens nicht nur die räumliche Stellung, sondern auch die körperliche Disposition des Betrachtenden, die den Sehepunkt bestimmt. Zweitens muss die optische Qualität des Sehepunktes auf den gesamten Bereich der Sinne übertragen werden. Drittens hat auch der seelische Zustand des Menschen Einfluss auf seinen Sehepunkt. Zusätzlich zu diesen körperlichen und seelischen Grunddispositionen werden viertens auch die kulturelle Prägung, der Bildungsgrad und die gesellschaftliche Stellung, sowie im spezielleren Sinn der Grad von Anteilnahme, Kenntnis und gesellschaftlichem Verhältnis bezüglich des Beschriebenen bedacht. Bei allen Differenzierungen wird aber ein grundsätzlicher Unterschied nicht bedacht: Der zwischen dem Zeitzeugen und dem Historiker. Chladenius geht – und darin ist er der hergebrachten Auffassung verpflichtet, dass der Augenzeuge der Wahrheit am nächsten sei – von einem einheitlichen historischen Erfahrungsraum von Zeuge und Historiker aus. Von hier aus wird die enge Bindung seiner Erkenntnistheorie an die Optik verständlich. Denn auch wenn Chladenius die ursprünglich visuelle Bedeutung des Sehepunkts auf abstrakte Bereiche wie z. B. psychologische oder soziologische Einflussfaktoren überträgt, erschließt sich sein Sinn weiterhin über die räumliche Metapher des Standortes. D. h., je geringer die räumliche Distanz zum Gegenstand, desto zuverlässiger die Aussage über ihn. Johann Christoph Gatterer (1727 – 1799), Professor der Geschichte in Göttingen, wird die durch Chladenius auf die Historiographie angewandte Metapher des Sehepunkts aufgreifen.¹⁰ Aber es ist kein Zufall, wenn er nicht
Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft (Anm. 6), S. 100 f., Kap. 5, § 12. Zur allgemeinen Einführung vgl. Peter Hanns Reill: »Johann Christoph Gatterer«. In: Deutsche Historiker, Bd. 5, hg. v. Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1980, S. 7-22.
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mehr auf den Ursprung seiner Metaphorik in der Optik hinweist. Sie spielt dort tatsächlich nur noch eine untergeordnete Rolle, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Dieser zweite, etwas ausführlichere Schritt der Argumentation ist notwendig, bevor Wielands Roman besprochen wird, weil eben hier eine Entwicklung beginnt, von der sich Wieland distanzieren wird. Zwölf Jahre nach Erscheinen der Allgemeinen Geschichtswissenschaft verwendet Gatterer den nun theoretisch fundierten Standortbegriff in seiner Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtsschreibers oder der teutsche Livius (1768), die übrigens an keiner Stelle auf Chladenius als Referenz verweist. Sowohl theoretisch wie in der Darstellungsform überbietet Gatterer seinen unterschlagenen Vorgänger in entscheidenden Punkten. In einem ersten Teil trägt Gatterer den von Chladenius noch so umständlich entwickelten Gedanken vom Einfluss des Standortes auf den Bericht des Geschichtsschreibers als selbstverständliche Tatsache vor. Die Standpunktgebundenheit bedarf keiner weitschweifigen Explikationen mehr, sie ist evident: »Es gehört eben keine grosse Belesenheit dazu« – so beginnt Gatterers Abhandlung – um zu wissen, daß die nämliche Geschichte anders in diesem, anders in einem andern Zeitalter, anders von Einheimischen, anders von Ausländern: anders von Freunden, oder Feinden oder gleichgültigen Personen: anders von Staatsmännern oder Soldaten, oder Gelehrten, oder Mönchen: anders von Leuten, die zur Historie gebohren und erzogen sind, oder von Leuten ohne historischen Talente, geschrieben werde. Denn alle diese Leute haben ihren eigenen Standort, ihren eigenen Gesichtspunct, der ihnen eine Sache, oder einen Umstand, eine gewisse Seite der Sache bald wichtig, bald unbedeutend, bald ganz unbekant macht, und folglich nach ganz verschiedenen Aussichten ihre Auswahl der Begebenheiten bestimmt.¹¹
Am Beispiel von Livius’ Römischer Geschichte entwickelt Gatterer dann detailliert die Faktoren, die Livius’ Gesichtspunkt bestimmt haben, als den »Standort und Gesichtspunct des Einheimischen, des Freundes, des Heiden, des monarchischen Unterthans, des Zeitgenossens Augusti und der schönsten Geister von Rom, des Staatsmannes, des verbesserten sanguinischen Temperamentes«.¹² Gatterer gesteht zu, dass der einzelne Historiker diesen Einflussfaktoren nicht völlig ausgeliefert sei, sondern sich diesen je nach Vermögen entziehen könne, aber eben immer nur graduell und nie grundsätzlich.¹³
Johann Christoph Gatterer: »Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtsschreibers oder der teutsche Livius«. In: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Hg. v. Horst Walter Blanke u. Dirk Fleischer, 2 Bde. Stuttgart – Bad Cannstatt 1990, Bd. 2, S. 452-465, hier S. 454. Ebd., S. 455. Ebd., S. 457.
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Die Frage, wie ein zeitgenössischer deutscher Historiker dieselbe Zeitspanne der Geschichte Roms berichten würde, beantwortet Gatterer im Folgenden am Beispiel der eigenen Person. Zunächst bestimmt er seinen individuellen Standpunkt im Verhältnis zu dem des Livius: Nicht Römer, sondern Ausländer, nicht Beteiligter, sondern Gleichgültiger, nicht Heide, sondern protestantischer Christ, nicht unfreier Untertan einer Monarchie, sondern »freye[r] Unterthan[ ] in einem vermischten monarchischen Staate«,¹⁴ Zeitgenosse nicht von Augustus, sondern von Franz I. und Joseph II., nicht Staatsmann, sondern Gelehrter und Professor, und, ebenso wie Livius, von sanguinischem Temperament. In einem zweiten Teil des Textes gibt Gatterer eine anschauliche Probe, wie sich unter diesen Standpunktvoraussetzungen die Darstellungen des gleichen geschichtlichen Ereignisses unterscheiden. Der übersetzten Vorrede zur römischen Geschichte von Livius lässt er einen eigenen Text folgen, der bis ins Detail Argumentationsaufbau und Satzstruktur übernimmt, um so die andersartige Bewertung der dargestellten Ereignisse deutlicher herauszustellen. Indem die Reflexion über Perspektivität eine ihrerseits multiperspektivische Form erhält, landet Gatterer einen darstellungstechnischen Coup, der in der Geschichte des multiperspektivischen Erzählens einen herausgehobenen Platz verdient. Es ist für das 18. Jahrhundert singulär, zwei Texte bis ins Detail parallel anzulegen, um sie auf ihre Perspektivverschiebung hin zu untersuchen. Gatterer führt mit der Kontrastierung der beiden Versionen den Unterschied von beteiligter oder unbeteiligter, von einheimischer oder ausländischer Perspektive vor. Er zeigt, wie die eigene Nationalität das Urteil bestimmt. Vor allem aber wird anschaulich, welche Differenz der historische Standpunktwechsel mit sich bringt. Es ist die zeitlich differierende Perspektive, die in der exemplarischen Vorführung Gatterers die offensichtlichsten Unterschiede der Darstellung erzeugt. Kann Livius nur vom Verfall der Moral berichten, so ist Gatterer in der Lage, den moralischen Niedergang als die Ursache der Zerstörung des Römischen Reiches zu benennen. Sein entfernter geschichtlicher Standpunkt erlaubt ihm einen Überblick über die Ursachen, Zusammenhänge und Auswirkungen eines Zeitereignisses, die dem Augenzeugen nicht möglich ist. Zeitlichkeit wird bei Gatterer damit zum produktiven Standort-Faktor. Mit der Temporalisierung der Perspektive kommt nicht einfach ein neues Kriterium der Standortbestimmung hinzu, sondern auch ein neuer Wertmaßstab. Denn Gatterers Perspektive auf die römische Geschichte weiß im Gegensatz zu der des Livius ja nicht nur anderes, sie weiß mehr. Die Differenz der temporalen Perspektive wird zur Qualitätssteigerung. Die historische Ferne entpuppt sich als Gewinn für den Historiker, denn
Ebd., S. 460.
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je größer der zeitliche Abstand zum beschriebenen Ereignis, desto größer die Übersicht über das Ganze. Wie im Fall der Einheit des historischen Raumes bei Chladenius entwickelt auch hier die Metapher ihre ganz eigene Plausibilität. Die Schlussfolgerung, die Gatterers Parallellektüre nahelegt, dass sich nämlich der zeitliche Abstand als Erkenntnisgewinn des Historikers auswirkt, dass der zeitlich ferne Standpunkt der bessere sein kann, wird bald darauf von anderen Historikern ausgesprochen.¹⁵ Die temporale Perspektive als spezifisch moderne Idee birgt immer zwei gegenläufige Aspekte: Zum einen den Aspekt der Bewegung, der eine neue Qualität der Standpunktrelativierung mit sich führt. Wenn Geschichte als stete Bewegung aufgefasst wird, von der auch der Historiker notwendig Teil ist, wenn so immer wieder neue Ansichten des historischen Gegenstandes entstehen, dann kann es keine letztgültige Aussage über ein historisches Ereignis geben. Bewegliche Geschichte lässt sich nicht feststellen, sie muss immer wieder neu geschrieben werden. Der zweite Aspekt zielt dagegen auf eine qualitative Unterscheidung historischer Standpunkte. Die jeweils aktuellste Perspektive auf das Vergangene ist dann die bessere, da sie mehr Wissen als die vergangene eröffnet. Die doppelte Auslegungsoption der temporalen Perspektive besteht also zum Ersten darin, die zeitliche Dimension als weiteren relativierenden Faktor historischer Aussagen zu lesen. Nicht nur die metaphorische Übertragung der verschiedenen Standpunkte im Raum, wie bei Chladenius, sondern auch die der verschiedenen Standpunkte in der Zeit stellen jede letztgültige Aussage in Frage. Die zweite Auslegungsoption ermöglicht es dagegen, den neuesten historischen Standpunkt als den überlegenen zu verstehen und damit nicht den relativen, sondern den absoluten Aspekt von historischer Wahrheit hervorzukehren. Besonders diese zweite Auslegungsoption spiegelt das dominant werdende historische Selbstverständnis des frühen 19. Jahrhunderts.¹⁶ Indem der zeitlich ferne zum potentiell überlegenen Standpunkt wird, findet, dramatisch formuliert, eine Verkehrung des ursprünglichen StandortGedankens statt, der auf eine Relativierung der eigenen Position zielte. Stattdessen wird nun die aktuellste Geschichtsschreibung als die – wenn
»Jede große Begebenheit ist immer für die Zeitgenossen, auf welche sie unmittelbar wirkt, in einen Nebel verhüllt, der sich nur nach und nach, oft kaum nach einigen Menschenaltern wegzieht.« Gottlieb Jakob Planck: Geschichte der Entstehung, Veränderungen und der Bildung unsers protestantischen Lehrbegriffs. Bd. 1, Leipzig 1781, S. VII. Koselleck verweist auf Planck, vgl. Reinhart Koselleck: »Standortbindung und Zeitlichkeit«. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1989, S. 176-207, hier S. 191. So auch die These des grundlegenden Aufsatzes zum Thema von Röttgers, vgl. Kurt Röttgers: »Der Standpunkt und die Gesichtspunkte«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 257-284.
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auch immer nur vorläufig – beste Geschichtsschreibung gewertet. Die Idee des historischen Relativismus wird damit tendenziell aufgehoben. Immer bleibt im Auge zu behalten, dass diese Verabsolutierung des eigenen historischen Standpunkts ohne die Chladenius’sche Einsicht in die Standpunktrelativität nicht zu denken ist. Obwohl also auf der Einsicht in die Standpunktrelativität basierend, wird im Prozess der Temporalisierung der Perspektive¹⁷ ›Geschichte‹ als ein absoluter Begriff¹⁸ etabliert. Signifikanterweise wird um den Zugriff auf ihn ebenfalls mit Absolutheitsanspruch gestritten. Die ab 1770 einsetzende Ablösung des Geschichtsverständnisses als einer Sammlung vieler Einzelgeschichten zugunsten einer Geschichte, die sich selbst zum Subjekt wird, hat Reinhart Koselleck anhand der Begriffsverschiebung von der in den Plural gesetzten Geschichte hin zum Kollektivsingular nachvollzogen.¹⁹ Zunehmend ist es ›die Geschichte selbst‹, die spricht, und nur in dieser neuen, sich schnell durchsetzenden Bedeutung konnte Friedrich Schlegel auf die herabschauen, die »sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben« haben.²⁰ Spricht Schlegel vom »großen Standpunkt der Geschichte«,²¹ dann hat er Teil an einer Entwicklung, die nicht nur aus den Geschichten die handelnde, richtende, selbstbezügliche, eben subjektgewordene Geschichte formt, sondern die zudem die Metapher der Übersicht an die Geschichte knüpft. So wie die Geschichten von der Mehrzahl in die Einzahl
Nach Kosellecks treffender Umschreibung, vgl. Reinhart Koselleck: »Standortbindung und Zeitlichkeit« (Anm. 15), S. 192. Wilhelm Schmidt-Biggemann sieht den »absoluten Begriff« von Geschichte als »epochalen Leitbegriff« des 19. und 20. Jahrhunderts, vgl. Schmidt-Biggemann: Geschichte als absoluter Begriff (Anm. 4), S. 11. Geschichte schließt nach Schmidt-Biggemann mehr als andere Begriffe einen absoluten Gesichtspunkt aus, da Bewegung für sie konstitutiv ist: »Die Bedeutung von ›Geschichte‹, Bewegung in bezug auf den Menschen zu sein, macht es für diesen Menschen gerade unmöglich, im Begriff von Geschichte einen absoluten Point de vue zu haben, einen Aussichtspunkt fürs sonst Unüberschaubare. Dieser vermeintlich absolute Gesichtspunkt schwimmt selbst, ist selbst nur Charakter, der außer seiner Veränderung nichts zeigt: er ist ein Unbegriff, der von allen absoluten Begriffen am wenigsten handhabbar, beherrschbar ist. Und die Betroffenen, wir Menschen, bleiben darauf angewiesen, damit umzugehen. Eine solche Spannung von Bedeutung und Bedürftigkeit reduziert Machbarkeitsphantasien.« (Ebd., S. 12). Diese richtige Beobachtung schließt aber nicht aus, dass im Gegenteil immer wieder versucht wurde, einen absoluten Gesichtspunkt ausfindig zu machen. Geschichte konnte unter der Voraussetzung, dass sie als Addition von Einzelgeschichten verstanden wurde – und diese sind so lange addierbar, wie sie vergleichbar sind – bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts im Plural stehen. Tatsächlich lautete eine bis dahin gebräuchliche Formulierung etwa: »die Geschichte sind [sic] ein Spiegel der Tugend und Laster, darin man durch fremde Erfahrung lernen kann«. Jablonskis Allgemeines Lexikon der Künste und Wissenschaften 1748, zitiert nach Koselleck: »Historia Magistra Vitae« (Anm. 4), S. 50. Friedrich Schlegel: »Fragmente«. In: Ders.: Kritische Ausgabe seiner Werke (KFSA). Hg. v. Ernst Behler. München u. a. 1967 ff., Bd. 2, Nr. 216, S. 198. Friedrich Schlegel: »Über die neuere Geschichte«, Vorlesungen 1810/11. In: Ders.: Kritische Ausgabe seiner Werke. (Anm. 20) Bd. 7, S. 129.
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übergehen, werden auch die verschiedenen Blickpunkte auf die Geschichte, kaum dass sie von Chladenius entdeckt wurden, zu dem einen Blickpunkt zusammengezogen. Das hängt unmittelbar mit der Transformation der räumlichen in die zeitliche Perspektive zusammen: Der ›hohe weite Standpunkt der Geschichte der Menschheit‹, wie es bei Schlegel heißt, ist natürlich umso höher und weiter, je höher der Berg der sich ansammelnden Geschichte ist. Die eigene Perspektive, nämlich die jüngste und damit potentiell historisch fernste, gerät zur überlegenen Perspektive. Zunehmend wird nicht mehr die Relativität, sondern die Überlegenheit des eigenen Weltzugriffs herausgestrichen.²² Diese Entwicklung wird beispielsweise schon bei August Ludwig Schlözer (1735 – 1809) deutlich, einem Kollegen Gatterers an der Universität Göttingen.²³ In seiner Universal-Historie (1772) wird zunächst das Ziel jeder Geschichtsschreibung formuliert, das darin bestehe, »die Revolutionen des Erdbodens, den wir bewohnen, und des menschlichen Geschlechtes, dem wir angehören, im Ganzen [zu] übersehen, um den heutigen Zustand von beiden aus Gründen zu erkennen«.²⁴ Zwei zu diesem Ziel zur Verfügung stehende Methoden, das Aggregat und das System, werden unterschieden: Das Aggregat als »blosse Nebeneinanderstellung«²⁵ verschiedener Spezialgeschichten wird als Darstellungsmethode verworfen. Der »allgemeine Blick, der das Ganze umfasset«,²⁶ der die Geschichte der Staaten der ganzen Welt überblickt, kann nie vom Aggregat, sondern immer nur vom System geleistet werden. Das System, das alle Teile »unter Einen Gesichtspunct« bringen kann, »vermittelst dessen sich die Mannichfaltigkeit auf einmal fassen läßt«,²⁷ macht das Übermaß an historischen Daten erst brauchbar. Schlözer definiert sein ›System‹ gerade mit diesem einen potenten Blick, »der das ganze umfasst«.²⁸ Mit der exzessiv eingesetzten Metapher des »mächtige[n] Blick[s]«²⁹ plausibilisiert Schlözer seine zentrale Unterscheidung zwischen den beiden möglichen Darstellungsformen, zwischen denen der Historiker zu wählen habe – Aggregat und System. Schon im Jahr ihres Erscheinens, 1772, wurde Schlözers geschichtstheoretische Programmschrift scharf von Herder verurteilt, und zwar in
Vgl. Röttgers: »Der Standpunkt und die Gesichtspunkte« (Anm. 16), S. 257-284. Zur Einführung vgl. Ursula A. J. Becher: »August Ludwig v. Schlözer«, in: Deutsche Historiker, Bd. 7, hg. von Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1980, S. 7-23. August Ludwig Schlözer: »Vorstellung seiner Universal-Historie«. In: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Hg. v. Horst Walter Blanke u. Dirk Fleischer, 2 Bd. Stuttgart – Bad Cannstatt 1990, Bd. 2, S. 663-688, hier S. 664. Ebd., S. 669. Ebd., S. 670. Beide ebd., S. 671. Ebd., S. 679. Ebd., S. 670.
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Bezug auf die Behauptung der Möglichkeit eines universalen Zugriffs auf Geschichte. Er gibt zu bedenken, daß die Punkte der Zusammenleitung, wenn man Hand anlegt, schwerer werden, als es bei einer Tabelle scheint, und daß in Absicht der Aggregation vieler einzelner Geschichten nur zu oft ein Gemisch werde, wo die Theile nicht halten wollen – aus einander fließen, oder auseinander fallen! insonderheit aber, daß es mit dem Einen in der Geschichte, ›fürs menschliche Geschlecht‹ betrachtet, immer für uns Menschen eine so problematische Sache sey – wo steht der Eine, große Endpfahl? wo geht der gerade Weg zu ihm? […] wo sind Data zum Maaße in so verschiednen Zeiten und Völkern, selbst, wo wir die besten Nachrichten der Aussenseite haben?³⁰
Die Suche nach dem einen umfassenden Gesichtspunkt, die schon lange vor Erscheinen des Aristipp ins Zentrum der intellektuellen Bemühungen gerückt ist, können weder Herder noch Wieland abwenden. Schillers Antrittsvorlesung 1789 in Jena etwa sieht die Weltgeschichte durch den philosophischen Verstand aus einem »Aggregat von Bruchstücken […] zum System [erhoben], zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen«.³¹ Nach 1800 spitzt sich diese Entwicklung zu: Hegel wird das »geistige Prinzip« seiner philosophischen Weltgeschichte als »die Totalität aller besonderen Gesichtspunkte« definieren.³² Auf der Basis des historischen Relativismus wird mit wachsender Intensität nach dem einen, wahren Gesichtspunkt gesucht. Auch diese Suche nach dem absoluten Gesichtspunkt speist sich also aus der Einsicht in die Perspektivität jeder Wahrheit, wie sie für die Geschichtswissenschaft von Chladenius entwickelt worden ist. Historisch lässt sich aber nachweisen, dass, je mehr die zeitlich ferne Perspektive als Vorzug betrachtet wird, das Prinzip des Perspektivismus in sein Gegenteil verkehrt wird. Vor diesem Hintergrund ist Wielands Auseinandersetzung mit der Historiographie im Aristipp zu lesen. Dass Wieland ähnlich Chladenius Johann Gottfried Herder: Rezension »A. L. Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 5, hg. von Bernhard Suphan. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1891. Hildesheim, New York o. J., S. 436-440, hier S. 438. Schlözers Replik auf Herders Angriff ist im ersten Teil von Schlözers Weltgeschichte nach ihren Haupt-Theilen im Auszug und Zusammenhange (1785) nachzulesen. Friedrich Schiller: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?«. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann u. a., Bd. 6: Historische Schriften und Erzählungen I. Hg. von Otto Dann. Frankfurt/M. 2000, S. 411-431, hier S. 427. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »»Philosophie der Weltgeschichte«. Nach der Vorlesung im Wintersemester 1822/23 in Berlin«. In: Ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 12, hg. v. Karl Heinz Ilting u. a. Hamburg 1996, S. 3-521, hier S. 15. Weiter heißt es: »Die Prinzipien selbst, die Geister der Völker sind selbst die Totalität des einen Weltgeistes. In ihm schließen sie sich ab, stehen in einer notwendigen Stufenfolge. Sie sind Sprossen des Geistes, der sich in ihnen zur Totalität in sich selbst abschließt.«
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die räumlichen und nicht die zeitlichen Aspekte des historischen Perspektivismus hervorkehrt, ist, bezogen auf die Romanentstehung, nicht nur als Anachronismus, sondern auch als Stellungnahme gegenüber Tendenzen der Monopolisierung des Standpunkts lesbar. Hält Wieland an seinem Konzept der Multiperspektivität fest, das grundsätzlich jede Systembildung in Zweifel zieht, dann ist das um 1801 als ethisches und erkenntnistheoretisches Manifest gegen die Suche nach letztgültigen Standpunkten zu lesen. Wie jede Problemstellung im Aristipp wird auch die der historischen Perspektive in mehreren Diskussionen umkreist: zunächst anlässlich von Xenophons Anabasis,³³ später von Philistus’ Geschichte Siziliens. In dieser zweiten Debatte geht es um die positive Darstellung des gemeinhin als Tyrann angesehenen Monarchen Dionysos. Ob und warum diese freundliche Darstellung gerechtfertigt ist, darüber wird gestritten. Der Kerngedanke der Debatte wird von Philistus selbst vorgetragen. Geschichtsschreibung kann danach nie ganz wahr sein: »Glaubst du an eine ganz unparteiische und durchaus wahre Geschichte von Begebenheiten, deren Augenzeugen wir gewesen sind und an denen wir selbst unmittelbaren Anteil genommen haben? Ich nicht.« (AZ, S. 843) Zunächst nennt Philistus die unter günstigsten Bedingungen möglicherweise noch erfüllbaren Voraussetzungen für den wahrhaftigen Geschichtsbericht: völlige Unbefangenheit und Wille zur Wahrheit, direkte Augenzeugenschaft, fehlende Eigenliebe.³⁴ Immer noch bleiben dann zwei Aspekte, die wahre historische Aussagen unmöglich machen müssen. Der erste: Der Standpunkt des Historikers ist immer ein äußerlicher, es ist ihm nicht möglich, ins Innere eines Menschen zu sehen, und so bleiben dessen Handlungsmotive immer spekulativ.³⁵ Das zweite und schwerwiegendste Argument betrifft die individuelle Standortgebundenheit des Geschichtsschreibers. Das Ich kann seinem Standpunkt nicht entrinnen, es wird die Ereignisse immer als eine individuelle Person, die in einem bestimmten Verhältnis zu den Dingen steht, erleben, betrachten und beschreiben: Aber auch ohne dieses Hindernis wird es ihm schon allein dadurch unmöglich ganz wahr zu sein, daß er, unvermögend sich selbst aus dem festen Punkt seiner Individualität herauszurücken, Personen, Handlungen und Ereignisse niemals sehen kann wie sie sind, sondern nur wie sie ihm, aus dem Gesichtspunkt, woraus er sie ansieht, erscheinen. […] so ist es allerdings deine Pflicht, so wahrhaft zu sein als dir nur immer möglich ist; aber zum Unmöglichen bist du nicht verbunden. Du konntest nicht Alles sehen, nicht allenthalben Eine kurze Interpretation der Anabasis-Episode findet sich bei Reemtsma: Das Buch vom Ich (Anm. 2), S. 278-281. Vgl. AZ, S. 843 f. Vgl. AZ, S. 844.
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sein; und wie ernstlich du auch unparteiisch sein wolltest, du kannst es nicht sein! Du bist weder ein Gott noch ein Platonischer Mensch, sondern Filistus, Archomenides Sohn, ein Verwandter, Freund und Gehülfe des Mannes, dessen Geschichte du erzählen willst, und es geziemt dir, die Personen und Begebenheiten so darzustellen, wie sie dir unter allen den Verhältnissen, worin du mit ihnen standest, erschienen und erscheinen mußten. Nur so kannst du wahr und mit dir selbst einig sein, gesetzt auch daß du öfters getäuscht wurdest. Der unfehlbarste Weg, die Welt mit einer ungetreuen und verschrobenen Erzählung zu belügen, wäre, wenn du aus dir selbst herausgehen, und, unter dem Vorwand desto unparteiischer zu sein, einen Gesichtspunkt, aus welchem du die Dinge nicht gesehen hättest, aber gesehen zu haben schienest, erdichten wolltest. (AZ, S. 844 f.)
Neben die intellektuellen und moralischen Dispositionen des Historikers tritt nach Philistus dessen konkrete gesellschaftliche Lebenssituation: Es macht die Individualität Philistus’ aus, in einem bestimmten verwandtschaftlichen, freundschaftlichen und dienstlichen Verhältnis zu der von ihm dargestellten Person zu stehen – aber nur als eben dieses Individuum Philistus kann er Wahrheit beanspruchen, nämlich die Wahrheit, wie sie sich unter seiner individuellen Perspektive darstellt. Offensiv wird hier der Vorwurf der Unwahrhaftigkeit zurückgegeben: Nicht die Einseitigkeit, sondern die Behauptung von Objektivität ist Lüge. In der Konsequenz wird die unentrinnbare Standpunktgebundenheit als einzig mögliche Form der Wahrhaftigkeit gedeutet. Nur indem das Verhältnis, in dem der Erzähler zum Erzählten steht, aufgedeckt wird, kann einem Wahrheitsanspruch genügt werden; die Behauptung, von sich selbst abstrahieren zu können und eine objektiv wahre Geschichte zu erzählen, führt zur Unwahrheit. Die Reflexion auf die eigene Standpunktgebundenheit wird zur Grundbedingung jedes Wahrheitsanspruchs und jedes historischen Erzählens. Philistus formuliert also die – ganz offensichtlich an Chladenius orientierten – erkenntnistheoretischen Grundlagen des Perspektivismus: Sind persönliche Interessenlagen bis zu einem gewissen Grad noch ausschaltbar, so sind es die intellektuellen, moralischen und soziologischen Dispositionen dessen, der Geschichte schreibt, keinesfalls. Weder ist der Geschichtsschreiber in der Lage, sich zweifelsfrei in die inneren Beweggründe des Handelns anderer hineinzuversetzen, noch ist er in der Lage, sich aus seiner eigenen Perspektive herauszuversetzen. Aristipp verteidigt als einziger der Debattierenden Philistus’ standortgebundene Geschichtsschreibung und bringt noch ein weiteres Argument ein. Den Vorwurf von Philistus’ Gegnern nämlich, er verkaufe der Nachwelt einen Tyrannen für einen guten Fürsten, kehrt Aristipp um: Zuallererst müsse man sehen, dass Dionysos von seinen Feinden zu Unrecht schwarz gemalt werde, so dass eine ihrerseits überzogen positive Darstellung den heilsamen Effekt haben könne, der Nachwelt ein angemessenes,
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nämlich zwischen den extremen Perspektiven liegendes Bild zu überliefern.³⁶ An eben der Stelle, wo sich mit dem Hinweis auf die ›Nachwelt‹ die Dimension einer temporalen Perspektive andeutet, wird besonders deutlich, dass sie in der historiographischen Standpunktdebatte im Aristipp keine Rolle spielt. Die Argumentation Philistus’ und Aristipps kommt zwar polemischer daher, bleibt aber Chadenius’ räumlichem Verständnis der Perspektiv-Metapher verbunden. So kann die Nachwelt nach Aristipps Argument auch nicht kraft eines größeren Überblicks mehr wissen, sondern sie kann bestenfalls auf den differenzierten Stand der Zeitgenossen gebracht werden; aus ihrem historischen Abstand ergibt sich kein Mehrgewinn. Wieland problematisiert die historiographische Standortfrage wie Chladenius immer anhand des Augenzeugen. Neben allen Drehungen und Wendungen des Problems, wie sich der Augenzeuge selbst betrügen könne und wie er oder diejenigen, die auf seine Berichte zurückgreifen müssen, sich vor diesem Betrug schützen können, bleibt trotzdem die radikalste Konsequenz, die Wieland für das Wahrheitsproblem aus der Standortfrage des Historikers zieht, positiv an das Konzept des Augenzeugen gebunden. Sie nimmt ihm den Anspruch auf Objektivität, gesteht ihm aber zugleich nach dem neuen relativistischen Maßstab den einzig überhaupt verfügbaren Wahrheitsanspruch zu. Wieland geht wie Chladenius von einem einheitlichen Erfahrungsraum von Augenzeuge und Historiker aus. In diesem Raum bleibt auf der einen Seite die Aussage des Augenzeugen dem Historiker grundsätzlich immer verständlich und auf der anderen Seite ist die Aussage des Historikers der des Augenzeugen nicht überlegen. Insofern kann behauptet werden, dass bei Wieland wie bei Chladenius das Problem des Standpunktes primär an seine räumliche Metaphorik gebunden bleibt. Wenn sich Wieland vor dem Hintergrund einer um 1801 schon lange der Temporalisierung der Perspektive widmenden Historiographie dennoch den Ursprüngen der Sehepunkttheorie eines Chladenius versichert, dann kommt dies einer Stellungnahme zur zeitgenössischen Umwertung der Perspektivmetaphorik gleich. Man könnte sagen: Der Roman bleibt einem ›veralteten‹ Denken verhaftet. Man könnte aber auch sagen: Er entgeht auf diese Weise der Gefahr, vor der er so eingehend warnt: dem Trugschluss des erhabenen Standpunkts. Dass diese für Wieland so charakteristische Argumentation nicht mit einer Suche nach der goldenen Mitte, sondern mit dem vorurteilslosen Ausprobieren von Denkmöglichkeiten zu tun hat, betont Reemtsma an vielen Stellen seiner Schriften zu Wieland, vgl. dazu beispielsweise Reemtsma: »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen« (Anm. 2), S. 316.
Anachronistische Historiographie?
Perspektivismus ist erkenntnistheoretisches und ethisches Programm, zugleich aber auch ästhetisches Verfahren des Romans. Das betrifft erstens das leitmotivisch wiederkehrende Thema der Perspektive. So wird die Frage nach Techniken der Perspektive in der Malerei oder die Frage nach perspektivischer Wahrnehmung einer Plastik zum Diskussionsstoff des Textes. Das betrifft zweitens die multiperspektivischen Darstellungsverfahren des Romans. Mit einer Radikalität, die im Briefroman des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ihresgleichen sucht, wird die Form des Briefwechsels im Aristipp genutzt, um eine auf Gleichrangigkeit der Perspektiven beruhende Dialogsituation zu entwerfen. Die erkenntnistheoretische Begründung des Perspektivismus wird in der ästhetischen Form also eigentlich erst in die Multiperspektivität überführt. Dieses Gespräch in Briefen³⁷ orientiert sich am Ideal eines konsensualistischen Wahrheitskonzepts. Wenn nur über die subjektive Perspektive Wahrheit zugänglich ist, muss diese zugleich durch andere subjektive Perspektiven relativiert werden, um auf diese Weise zu einem komplexeren Wahrheitsverständnis vorzudringen. Nur die Vielzahl der einzelnen, subjektiven Perspektiven macht eine Annäherung an Wahrheit überhaupt möglich. Medium dieses Erkenntnismodells ist das Gespräch, verstanden als unbefangener und aufrichtiger Austausch von Meinungen, der im Idealfall zu gemeinschaftlicher Einigung führen kann. Jede der als gleichwertig tolerierten Stimmen, die diese Toleranz ebenso selbst aufbringen muss, um Rederecht zu erlangen, trägt ihren Teil zur sich solchermaßen erst im Dialog herstellenden Wahrheit bei. Mit diesem Modell kann immer nur zu einer relativen Wahrheit vorgedrungen werden. Dieses Eingeständnis der Relativität bezieht sich auf das erkennende Subjekt, nicht auf das Erkenntnisobjekt; die Existenz einer letzten Wahrheit wird also nicht notwendig bezweifelt. Ohne die Möglichkeit, zu solch letzter Gewissheit vordringen zu können, bleibt der Mensch aber auf die gegenseitige Ergänzung möglichst vieler Perspektiven verwiesen. Solch radikales multiperspektivisches Programm argumentiert in der Zeit um 1800 mit ihrer Sehnsucht nach der ›Totalität aller Gesichtspunkte‹ freilich auf verlorenem Posten – wenn auch auf der Höhe der Zeit.
Der dialogische Charakter von Wielands Aristipp ist ein in vielen Schriften behandeltes Thema, vgl. u. a. Ernst Theodor Voss: Erzählprobleme des Briefromans dargestellt an vier Beispielen des 18. Jahrhunderts. Bonn 1960; Volker Neuhaus: Typen multiperspektivischen Erzählens. Köln, Wien 1971; Horst Thomé: »Utopische Diskurse. Thesen zu Wielands ›Aristipp‹«. In: Modern Language Notes 99/3 (1984): Beiträge des Ersten Internationalen Symposions zur Wielandforschung, Biberach September 1983, hg. v. Lieselotte E. KurthVoigt und John A. McCarthy, S. 503-521; Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland. Frankfurt/M. 1991; Reemtsma: Das Buch vom Ich (Anm. 2); Jutta Heinz: Kulturkonzepte in Wielands ›Aristipp‹ und Goethes ›Wilhelm Meistes Wanderjahre‹. Studien zu Begriff und Theorie der Kultur in Wissenschaft und Literatur. Heidelberg 2002; Oesterhelt: Perspektive und Totaleindruck (Anm. 1).
Lothar van Laak
Christoph Martin Wielands Konzeption aufklärerischen Philosophierens um Die Romantiker Friedrich Schlegel, Novalis, Wackenroder und Tieck fordern und gestalten um 1800 das reflektierte und sich selbst reflektierende Kunstwerk. Sie stellen damit einen Entwurf vor, in dem Philosophie und Kunst, Poetologie und Poesie nicht nur mindestens gleichwertig, sondern wechselweise so aufeinander bezogen sind, dass sie sich in ihrer Wirkung potenzieren. Es entstehen in dieser transzendentalpoetischen Wende der Literatur die Forderung nach einer »progressiven Universalpoesie« und das Ideal einer »Poesie der Poesie«, das sich für Schlegel oder Novalis paradigmatisch in Goethes Wilhelm Meister realisiert hat. Aber diese frühen modernen Entwürfe von Literatur als Norm zu setzen und von ihr her die Literatur insgesamt zu bewerten, verengt den Blick auf die Vielfalt der möglichen literarischen Praktiken und Formen, und dies nicht nur für diese Zeit, sondern generell. Insbesondere einem Autor wie dem späten Wieland wird eine solche Einschätzung nicht gerecht. Er steht mit seiner Konzeption aufklärerischen Philosophierens, wie sie sich aus den literarischen Werken ableiten lässt, und mit seiner poetischen Praxis durchaus auf der Höhe des romantisch-literarischen Philosophierens und der poetologischen Debatten um 1800. Wieland gibt dabei seine aufklärerische Position nicht preis. Er setzt ihre Tradition fort und vermittelt sie zugleich an die Kultur und die literarischen Strömungen seiner Gegenwart. Darin liegt die besondere Leistung und Aktualität insbesondere seines Spätwerks. Es lässt sich weder literaturgeschichtlich-teleologisch als »Vorromantik« bewerten, wie Friedrich Sengle dies – wenn auch mit z.T. nachvollziehbaren Gründen – getan hat;¹ und es ist auch nur insofern ein moderner Klassizismus,² als
Friedrich Sengle: Christoph Martin Wieland. Stuttgart 1949, S. 479, begreift den Peregrinus Proteus und den Agathodämon »im Sinne der Glaubenssehnsucht« als religiös und als »echte Dokumente der Vorromantik«. Horst Thomé: »Religion und Aufklärung in Wielands ›Agathodämon‹. Zu Problemen der ›kulturellen Semantik‹ um 1800«. In: IASL 15.1 (1990), S. 93-122, S. 115, sieht Wielands Konzept einer »religiösen Erziehung« als Gegenentwurf zu Schillers Ästhetischen Erziehung. Vgl. zu einer ähnlichen Abwägung (spät-)aufklärerischer und romantischer Aspekte am Beispiel des Peregrinus Proteus den Beitrag von Kai Kauffmann in diesem Band. Vgl. dazu den Beitrag von Klaus Manger in diesem Band sowie Klaus Manger: »Wielands klassizistische Poetik als die Kunst des Mischens«. In: Literarische Klassik. Hg. v. Hans Joachim Simm. Frankfurt/M. 1988, S. 327-354.
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dieser einen Romantizismus in sich zulässt, wie es so eindrucksvoll Schillers Jungfrau von Orleans und später dann Goethes Faust II tun. »Wieland ist nie modern gewesen«³ – und doch hat er der sich in seiner Zeit herausbildenden Moderne etwas zu vermitteln: Eine Konzeption aufklärerischen Philosophierens, die zum einen den Klassizismus entidealisiert und konkretisiert und zum anderen dem Romantischen (als entschieden Modernem) eine symphilosophische Praxis als Selbst-Aufklärung und einen universalen Anspruch (von Universalität als Ganzheit und nicht als Totalität) entgegenhält. Lässt sich aber überhaupt von einer Konzeption aufklärerischen Philosophierens bei Wieland sprechen? Von einem zusammenhängenden, gar systematisch geschlossenen Entwurf dessen, was als relevanter Kern von Aufklärungsphilosophie unter den Bedingungen der beginnenden Moderne Bestand hat?⁴ Oder sind es nurmehr einzelne Philosopheme, einzelne und eklektisch bleibende Elemente philosophierender Praxis im rhapsodischen Raisonnement?⁵ In der Tat findet sich eine Konzeption des Philosophierens bei Wieland, die sich in die Traditionslinien der antiken Philosophie, insbesondere Sokrates’ und Platons,⁶ aber auch der Moralistik und des Skeptizismus einrücken lässt.⁷ Aber es findet sich ebenfalls, fast durchgängig im Werk und noch einmal besonders entschieden im Spätwerk, ein gleichsam ostentatives Insistieren auf einer Nicht-Konzepthaftigkeit und auf einer philosophischen Nicht-Systematizität. Dies lässt sich aus der Zuordnung zur Tradition des Skeptizismus oder zur prinzipiell eklektischen Qualität der (Spät-)Aufklärung nicht vollständig begründen. Ebensowenig aber ist diese Nicht-Konzepthaftigkeit eine Konzeptlosigkeit. Den Anspruch und das grundsätzliche Verfahren dieser Konzeption aufklärerischen Philosophierens hat Wieland kurz und treffend im Jahr der Französischen Revolution im Teutschen Merkur skizziert. In seinen Sechs Antworten auf sechs Fragen, unter dem Pseudonym Timalethes publiziert,⁸
Siehe dazu den Beitrag von Walter Erhart in diesem Band. Gerade gegen die »neue Schulfilosofie« Kants und der Kantianer wendet sich Wieland selbst in seinem Beitrag zu Herders Auseinandersetzung mit Kant in seiner Metakritik der reinen Vernunft (Christoph Martin Wieland. In: Neuer Teutscher Merkur 2/1799, S. 69-90). Das Problem diskutiert im Blick auf die Auseinandersetzung Wielands mit Kant: Jan Philipp Reemtsma: Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk Christoph Martin Wielands. Zürich 1999, siehe insbesondere S. 203-227. Vgl. dazu: Bernd Auerochs: »Platon um 1800. Zu seinem Bild bei Stolberg, Wieland, Schlegel und Schleiermacher«. In: Wieland-Studien 3 (1996), S. 161-193; zuletzt auch: Torsten Voß: »Wieland, Agathon und Platon. Rezeption und Diskussion platonischer Parameter und die Liebestheorie in der ›Geschichte des Agathon‹«. In: Wirkendes Wort 59.1 (2009), S. 1-15. Vgl. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands ›Agathon‹Projekt. Tübingen 1991, und die weiterführenden Überlegungen im Beitrag dieses Bands. Siehe zu Wielands Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten zu sechs Fragen auch den Beitrag von Bernd Auerochs in diesem Band.
Wielands Konzeption aufklärerischen Philosophierens um
formuliert er im dialogischen Prozess einen pragmatisch-populären common sense von Aufklärung und ihren Aufgaben. Er ist pragmatisch und konkret und gleichermaßen weit entfernt von Gelehrten-Pathos und einem System-Entwurf. Die Abfolge von Frage und Antwort als Struktur des Textes zeigt erstens die eminente Bedeutung des dialogischen, diskursiven Charakters von Wielands Konzeption des Philosophierens.⁹ Diese Dialogizität ist eines der Grundcharakteristika, die sein gesamtes Werk prägen.¹⁰ Interessant ist an dem Gespräch über die Aufklärung zweitens die Intensität, mit der Wieland auf die Dunkelmänner, die Aufklärungskritiker und Feinde der Aufklärung, eingeht. Fast der größere Teil seiner Antworten nimmt eine defensive, die Kritiker abwehrende und sie ironisierende Haltung ein. Hierin zeigt sich eine grundlegende spätaufklärerische, selbstkritisch-skeptische Position. Dem Dunklen widmet Wieland sich mehr als dem aufklärerischen Licht. Er zieht dabei eine klare Trennlinie, zu denen, die aus Eigeninteresse nur das Dunkle wollen: Alle diese wackern Leute sind also natürliche Gegner der Aufklärung, und nun und nimmermehr werden sie sich überzeugen lassen, daß das Licht über alle Gegenstände verbreitet werden müsse, die dadurch sichtbar werden könnten; ihre Einstimmung zu erhalten ist also eine pure Unmöglichkeit; sie ist aber, zu gutem Glücke, auch nicht nötig.¹¹
Drittens ist der demokratische und universale Ansatz Wielands hervorzuheben – auch wenn, wie sich gerade gezeigt hat, für die Feinde von Aufklärung und Demokratie diese Universalität beschränkt ist. Wieland formuliert dabei eine zentrale Aufklärungsprämisse: Alles bedarf des aufklärerischen Lichts und der »uneingeschränkteste[n] Untersuchung«,¹² der Kritik. Und: Alle Menschen sind Aufklärer, und alle sollen auch die Freiheit aufzuklären haben. Es soll keine ausschließlichen und autonomen Agenturen geben, die Aufklärung (nur) verwalten. Wieland spricht von »heimlichen Konventikeln und geheimen Verbrüderungen«,¹³ die »das sehr weise Strafgesetz der alten Kaiser des ersten und zweiten Jahrhunderts« verboten habe.
Siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Alexandra Kleihues in diesem Band. So hebt Jutta Heinz die Verwendung der Gesprächsform in Wielands Texten hervor und betont sein »kommunikatives Ethos, das zur Verständlichkeit und Eindeutigkeit der verwendeten Begriffe ebenso verpflichtet wie zur Aufrichtigkeit des Argumentierens und zur Anerkennung des fremden Standpunkts in seiner Andersartigkeit.« Jutta Heinz: »Wieland und die Philosophie«. In: Wieland Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 83-94, hier S. 91. Christoph Martin Wieland: »Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten zu sechs Fragen«. In: Der Teutsche Merkur, 66 (2/1789), S. 97-105. Zitiert nach: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Hg. v. Ehrhard Bahr. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1996, S. 22-28, hier S. 24. Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27.
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Selbst-Aufklärung wird gegenüber einer Aufklärung durch Vermittlungsinstanzen tendenziell höher bewertet. Dies ist aufschlussreich, weil Wieland damit das Vermittlungsproblem von Aufklärung umgeht bzw. ausblendet. Das Subjekt selbst ist die Vermittlungsinstanz für Aufklärung. Ähnlich kritisiert auch Hamann Kants berühmte Bestimmung der Aufklärung: Metakritisch wirft Hamann Kant vor, dass der öffentliche Gebrauch der Vernunft philosophischen Vormündern als Vermittlern von Aufklärung vorbehalten sei.¹⁴ Diesen Vermittlern gegenüber sind Hamann und Wieland skeptisch und heben hervor, dass das einzelne Subjekt sich letztlich nur selbst aufklären kann und soll. Aufklärung in diesem Sinn von Selbst-Aufklärung als dialogische und universale philosophisch-ästhetische Praxis bleibt das Konzept Wielands auch im Spätwerk. Bei Wieland von einer Konzeption und von Philosophieren zu sprechen und nicht von Philosophie, ist deshalb kein grundlegender Widerspruch. Denn was heißt: ›nur‹ Philosophieren? Wertet das nicht die Praxis zu schnell ab gegenüber dem disziplinären System-Entwurf? Und tut man einem Schriftsteller nicht prinzipiell Unrecht, wenn man die Philosophie und die Poetologie vor die konkrete, in den Kunstwerken realisierte ästhetisch-literarische Praxis stellt? Gerade in ihr scheint bei Wieland die philosophische Haltung zum Ausdruck zu kommen.¹⁵ ›Modern‹, den Romantikern ›zeitgemäß‹, daran ist, dass die (philosophische) Wissenschaft, ja ›Wissen‹ generell, in der ästhetischen Performanz zur Darstellung kommen. Es handelt sich insofern um ›Lehrdichtung‹ in einem nicht-instrumentellen Sinn, als in ihr Literatur nicht zum Zweck der Wissensvermittlung benutzt wird, sondern einen selbstzweckhaften Charakter behält bzw. gewinnt, und dennoch Welt-Wissen (neu) hervorbringt. Durch und als Kunst wird belehrt, gebildet.¹⁶
Johann Georg Hamann: Brief an Christian Jacob Kraus vom 18.12.1784. In: Bahr: Was ist Aufklärung? (Anm. 11), S. 18-22. Jutta Heinz resümiert in »Wieland und die Philosophie« (Anm. 10), S. 92f., sehr treffend: »Das Denken kann dem Leser so in seiner individuellen Entstehung präsentiert, in seinen empirischen oder ideellen Konsequenzen veranschaulicht, in seiner Auseinandersetzung mit anderen Denkweisen vorgeführt und schließlich, nicht zuletzt, in seinen Begrenzungen gezeigt werden. Eine solche Philosophie kann sich nicht anders als praktische, als Lebensphilosophie im wörtlichen Sinne verstehen. Ihre Wirkung findet sich deshalb auch nicht in der Philosophiegeschichte, sondern im Leben der Leser, sei es als Lebenskunst, als Therapie oder auch ›nur‹ als Schule des Denkens und Diskutierens.« Das ist ein anderes, dynamischeres und an der Wirkung orientiertes Konzept des Bildungsromans, das weniger auf die vermittelten Inhalte als auf die vermittelte Wirkung abzielt und das einer differenzierteren, modern-dynamischen und performativen Subjektkonzeption entspricht. Sie ist in der Konzeption des Bildungsromans durchaus früh angelegt, so z. B. in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774). Der sich auf die Erziehung des Helden konzentrierende Blick in der Debatte um den Bildungsroman hat dies ausgeblendet.
Wielands Konzeption aufklärerischen Philosophierens um
Statt von einer Konzeption des Philosophierens zu sprechen, richtet die neuere Forschung ihren – in vergleichbarer Weise ›modernisierenden‹ Blick auf Wielands »Schreibweisen«.¹⁷ Mit der Konzentration auf den Stil der schriftlichen Präsentationsweise aber tritt das skizzierte Problem in den Hintergrund, welcher Anspruch erhoben, d. h. genauer: welcher philosophische Anspruch ästhetisch erhoben, und wie er erfüllt werden soll (ästhetisch bzw. poetologisch programmatisch) und erfüllt wird (ästhetisch rezeptiv). Im Folgenden soll dieser Anspruch ästhetischer Selbst-Aufklärung nachvollzogen und an einem Beispieltext aus Wielands Spätwerk, dem Agathodämon, in seiner ästhetischen Bedeutung erläutert werden. Wie also vollzieht Selbst-Aufklärung sich dort, philosophisch, ethisch, geschichtlich bzw. geschichtsphilosophisch und vor allem: literarisch-ästhetisch?
. Geschichts-, Religions- und Kunstphilosophie in Wielands Agathodämon Wielands Agathodämon gibt eine sehr differenzierte Antwort auf das Problem der Aufklärungsphilosophie, wie es sich an Wielands Merkur-Beitrag zeigen und als Aufforderung zur Selbst-Aufklärung bestimmen lässt. Die sieben Bücher der Brief-Erzählung, die Hegesias seinem Freund Timagenes sendet und in der er von seiner überaus beeindruckenden Begegnung mit Apollonius von Tyana berichtet, lassen sich auch als ein »Makro-Brief« auffassen.¹⁸ Dieser bietet eine gesprächshaft vorgetragene Geschichts- und Religionsphilosophie.¹⁹ Apollonius entwickelt sie diskursiv, bisweilen perspektivisch erweitert durch die Einlassungen und alternativen Auffassungen des Hegesias. Hegesias fragt zwar immer wieder kritisch nach; letztlich aber nimmt er zu Apollonius eine vorwiegend affirmative Position ein. Die so im Gespräch entfaltete Religionsphilosophie des Apollonius ist auch eine Geschichtsdeutung. Geschichte wird prinzipiell als ein philosophischer Aufklärungsprozess und als eine ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ aufgefasst.²⁰ Sie erfolgt aus dem Blickwinkel der Religion, einer natürlichen Religion, für die das Christentum das Format liefert. So blickt
So Bernd Auerochs: »Wielands Schreibweisen«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 10), S. 141-149. Mit einem ähnlichen Ansatz argumentiert: Andreas Seidler: Der Reiz der Lektüre. Wielands ›Don Sylvio‹ und die Autonomisierung der Literatur. Heidelberg 2008. So Horst Thomé: »Wielands Romane als Spiegel der Aufklärung«. In: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. Hg. v. Sven-Aage Jørgensen u. a. München 1994, S. 150. Auf die Struktureigentümlichkeiten komme ich in Abschnitt 2 noch einmal zurück. Zur Bedeutung der Religion im Agathodämon vgl. die Beiträge von Laura Auteri und Pascal Frey in diesem Band; einführend auch: Bernd Auerochs: »Wieland und die Religion«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 10), S. 53-67. Wielands Nähe zu den Aufklärern Lessing und Herder ist an diesem Punkt evident.
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Apollonius skeptisch auf das, was die Philosophie bisher ausgerichtet hat: Was die Filosofen, die seit vier bis fünf Jahrhunderten an der Verbesserung, Aufklärung und Veredlung der Menschen arbeiten oder zu arbeiten vorgeben, ausgerichtet haben, liegt am Tage. Ihr Wirkungskreis erstreckt sich nur auf eine verhältnismäßig sehr kleine Anzahl, und das beste, was sie bey dieser bisher gewirkt haben, geht selten über eine gewisse Verfeinerung und Abglättung des Verstandes und der Sitten hinaus. Wer durch sie besser wird, war vorher schon gut […].²¹
Statt »auf eine verhältnismäßig sehr kleine Anzahl«, auf eine aristokratisch geprägte Eliten-Kultur hin zu arbeiten, seien wirkliche Aufklärung und moralischer Fortschritt an ihrer ›Breitenwirksamkeit‹ zu messen. Insofern dokumentiert das Gespräch auch die Einsicht des Apollonius, dass sein eigenes aufklärerisches Lebens-Projekt letztlich gescheitert ist. Es betrieb die Weltverbesserung durch ein Institut, ein »heimliche[s] Konventikel[ ]«, eine »geheime[ ] Verbrüderung[ ]«.²² Die Einsicht, die Apollonius am Ende seines fast 100jährigen Lebens gewonnen hat, ist die, dass die Religion die Leistung der Philosophie übertrifft, zum einen, weil sie Anschauungen liefert und das Gefühl der Menschen trifft, zum anderen, weil sie ein Projekt auf Dauer, ja auf Ewigkeit ist. Apollonius formuliert das so: Eben deßwegen, weil jene [praktische] Theosofie [d. i. das Christentum], in ihrer lautersten Reinheit gedacht, das höchste Ideal der moralischen Güte und Vollkommenheit der menschlichen Natur ist, kann ihre heilsame Einwirkung auf das tief verderbte Menschengeschlecht nicht anders als langsam, und, aus einem niedrigen Gesichtskreise betrachtet, fast unmerklich seyn. Aber sie ist auf die Dauer eines unsterblichen Geschlechts berechnet, auf eine Folge von Zeiten, in welcher vielleicht ein Jahrtausend nicht mehr als im Leben der Sterblichen ein einzelner Tag ist.²³
Die Erziehung des Menschengeschlechts also, die die »praktische Theosophie« des Christentums leistet, vollzieht sich als unendlicher Progress; langsam und unmerklich ist er »auf die Dauer eines unsterblichen Geschlechts berechnet«. Die aufklärerische Idee von der Perfektibilität des Menschen und des sich so realisierenden Fortschritts des Menschengeschlechts wird damit in die Religionsgeschichte des Christentums übertragen.²⁴
Christoph Martin Wieland: Agathodämon. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier im Text zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl. Alle Hervorhebungen finden sich so im Text. SW X.32, S. 404 f. Wieland: »Ein paar Goldkörner« (Anm. 11), S. 27. SW X.32, S. 466 f. Siehe dazu den zweiten Abschnitt von Laura Auteris Beitrag in diesem Band. Aufklärerischer Fortschritts-Optimismus und Sündenfall-Theologie bilden einen grundsätzlichen Gegensatz (vgl. dazu: Manfred Koch: »Der Sündenfall ins Schöne. Drei Deutungen der
Wielands Konzeption aufklärerischen Philosophierens um
Wenn die Religion zudem wegen ihrer Bild- und Gefühlswirkung wertgeschätzt wird, ist man an Friedrich Schleiermachers Bestimmung der Religion von der Anschaulichkeit des Gefühls her und als »Sinn und Geschmack für das Unendliche« erinnert.²⁵ Dass die Idee der Religion auch von Apollonius ästhetisch gedacht ist, zeigt sich an einer weiteren Stelle seiner Ausführungen im 7. Buch des Agathodämon: Es bedarf, um die größten Veränderungen im Zustande der Welt hervorzubringen, nur weniger Ideen, die in beschränkten aber kraftvollen Menschen lebendig und herrschend werden. Diese wenige Ideen brauchen nicht einmal deutlich und bestimmt zu seyn; im Gegentheil, sie wirken nur desto gewaltiger, je verworrener sie sind; ja, in kurzem wirken die bloßen Zeichen derselben, Worte oder symbolische Bilder, in welche jeder so viel selbstbeliebige Bedeutung legen kann als er will, stärker als die Ideen selbst.²⁶
Was Apollonius hiermit zum Ausdruck bringt, ist die Hermeneutisierung der ästhetischen Erfahrung, wie sie für die Zeit um 1800 so bedeutsam ist.²⁷ Apollonius korreliert die Kraft der »wenige[n] Ideen« damit, dass sie »nicht […] deutlich und bestimmt«, sondern »verworren« sind. Rückübersetzt in die philosophische Sprache der Ästhetik Baumgartens, heißt das nicht ›clara et distincta‹, sondern ›confusa‹.²⁸ So ist die religiöse Idee als ästhetische Idee zu verstehen. Und wenn diese dann von ihrer »gewaltigen Wirkung« her gefasst wird – »sie wirken nur desto gewaltiger, je verworrener sie sind« – wird ihr auch noch Erhabenheit zugeschrieben, ›sublimitas‹.²⁹ Dieser religiösen Idee nun wird in der ästhetischen
Paradiesesgeschichte im 18. Jahrhundert (Kant, Herder, Goethe)«. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden I: um 1800. Hg. v. Wolfgang Braungart u. a. Paderborn u. a. 1997, S. 97-114). Dieser Gegensatz erklärt auch die besondere Aktualität und Attraktivität der Vorstellung von der Apokatastasis im 18. Jahrhundert (siehe dazu u. a.: Ralph Häfner: »Johann Lorenz Mosheim und die Origenes-Rezeption in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts«. In: Johann Lorenz Mosheim (1693 – 1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Hg. v. Martin Mulsow u. a. Wiesbaden 1997, S. 229-260). Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hg. v. Günter Meckenstock. Berlin, New York 1999. Siehe dazu auch: Ernst Müller: »Religion als Kunst ohne Kunstwerk. F. D. E. Schleiermachers Reden ›Über die Religion‹ und das Problem ästhetischer Subjektivität«. In: Braungart: Ästhetische und religiöse Erfahrungen (Anm. 24), S. 149-165, S. 151-155. SW X.32, S. 425 f. Manfred Frank: »Einleitung« zu: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt/M. ⁵1993, S. 7-67. S. 18 u. 55-57. Siehe auch: Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003, S. 42 ff. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern. Hg. v. Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg 2007, S. 21-23. Siehe zur Diskussion des Erhabenen: Walter Erhart: »Verbotene Bilder? Das Erhabene, das Schöne und die moderne Literatur«. In: JbSG 41 (1997), S. 79-106; Uwe Spörl: »Berge, Meer und Sterne als Erhabenes in der Natur? Eine Untersuchung zur Poetik der
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Bestimmung eine ›poietische‹ Kraft zugesprochen, die »die bloßen Zeichen derselben, Worte oder symbolische Bilder,« dynamisiert, beweglich, autonom und produktiv macht. Aus der vormalig substanziellen religiösen Idee werden »bloße Zeichen«, die aber unendlich vieldeutig werden und »selbstbeliebige Bedeutung« entfalten können.³⁰ Die Hermeneutisierung der ästhetischen Erfahrung geht mit einer Subjektivierung einher. Die Selbst-Beliebigkeit der Deutungsprozesse meint aber nicht subjektive Willkür, sondern die Legitimierung der Deutung durch das Subjekt.³¹ Die Zentrale Kategorie ist deshalb hier auch die Aufrichtigkeit, die Selbst-Identität oder auch Authentizität der Person.³² So sieht Apollonius den entscheidenden, den alles entscheidenden, Unterschied zwischen Christus und sich selbst darin, dass er eben das war, was ich schien, und der bloß durch das was er war, ohne alle Geheimanstalten, Kunstgriffe und Blendwerke, auf dem geradesten Wege und durch die einfachsten Mittel, zum Heil der Menschheit zu Stande bringen wird, was ich vermutlich durch die meinigen verfehlte. (SW X.32, S. 404 f.)
Und später ergänzt Apollonius noch: »Ich setze hinzu: er glaubte auch, der zu seyn, für den er sich gab; er wollte nicht täuschen, und wurde jemand durch ihn getäuscht, so war ers selbst vorher[.]« (SW X.32, S. 386) Auch wenn Illusion, insbesondere religiöse Illusion, vielleicht nicht zu vermeiden ist, sind damit Selbst-Gefühl und Ich-Anschauung, IdentitätsBehauptung und Selbst-Beglaubigung trotzdem unhintergehbar.³³ Was Apollonius von Tyana hier entwickelt, lässt sich also nicht nur als ein romantisches Kunstprogramm zusammenfassen, sondern in der legitimierenden Grundfigur auch als eine moderne Subjekt-Philosophie: Er bestimmt die Idee der Religion als ›progressive Universalpoesie‹, als eine ästhetische Idee und als ›unendliche Aufgabe des Sinns‹, wie sie ebenfalls Schleiermacher in der modernen Bestimmung der Hermeneutik gegeben sieht.³⁴ Und er bestimmt die persönliche Identität des Subjekts von Frühaufklärung und der ›poetischen Malerei‹ Brockes’«. In: DVjs 73 (1999), S. 228-265; Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. Zum Problem der Vieldeutigkeit: Gerhard Kurz: »Vieldeutigkeit. Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Paradigma«. In: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der »Theoriedebatte«. Hg. v. Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt. Stuttgart 1992, S. 315-333. Vgl. dazu Lothar van Laak: »Gutes Deuten, schlechtes Deuten. Das Prinzip der hermeneutischen Billigkeit«. In: Ethik des Verstehens. Beiträge zur philosophischen und literarischen Hermeneutik. Hg. v. Susanne Kaul u. Lothar van Laak. München 2007, S. 83-104. Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte. Tübingen 2002. Ausführlicher ist das für den Roman Peregrinus Proteus entwickelt in: Lothar van Laak: »Christoph Martin Wielands ›Peregrinus Proteus‹ als Satyrspiel der Aufklärung«. In: Sprache und Literatur 80 (1997), S. 21-50. Frank: »Einleitung« (Anm. 27), S. 23.
Wielands Konzeption aufklärerischen Philosophierens um
der Fähigkeit, sich aus sich selbst heraus zu imaginieren, zu identifizieren und zu beglaubigen. Wieland lässt Apollonius eine Deutung des Christentums und mit ihr ein Programm formulieren, das sowohl die romantischen Positionen Friedrich Schlegels und Schleiermachers als Parallelen erscheinen lässt, als auch die Positionen Schillers und Herders umgreift. Denn: Mit Schillers Position vereinbar ist die Konzeption und zentrale Stellung der ästhetischen Idee und die Emphase des Subjekts; mit Herder die Wertschätzung der Poiesis, die dieser in der Welt-Schöpfungsgeschichte des Geistes am Werk sieht, und die in dieser Geschichte sich vollendende Humanität.³⁵ Hierin liegt Kontinuität zur aufklärerischen Position. Zu ihr passt die optimistische Grundtatsache von Apollonius’ Geschichtsauffassung, nach der »von der Zeit an, da dieß Licht über die Menschheit aufgegangen seyn wird, ein wirklicher Rückfall in die alte Finsterniß nicht mehr möglich ist.« (SW X.32, S. 467) Selbst die Institutionalisierung des Christentums und die damit verbundene Entfernung von der Lehre seines Stifters kann das Licht nicht ganz verdunkeln. Das Christentum wird zur Selbstkritik und Selbstreinigung fähig sein: Ihr [der Menschheit] Jahrhunderte lang gefangen gehaltner Geist wird seine Kräfte wieder versuchen; neue Erfindungen und Entdeckungen werden vielleicht einen höhern Grad von Kultur und Aufklärung befördern, als das menschliche Geschlecht noch nie erreicht hat; diese Aufklärung wird sich wahrscheinlich auch über den Christianism verbreiten […]. (SW X.32, S. 465)
Dass diese Selbstaufklärung des Christentums mit der Reformation einsetzt, verdeutlichte Wieland schon in seiner kleinen Erörterung der Frage nach der Aufklärung ein Jahrzehnt zuvor.³⁶ Damit ist ein Bogen gespannt von den Wissensbeständen und kulturellen Auffassungen seit dem Beginn
Ähnlich wertet Thomé: »Wielands Romane als Spiegel der Aufklärung« (Anm. 18), S. 156 f.: »Der Überblick über ihre Geschichte [die Geschichte der Gattung Mensch], der gewissermaßen mit der Prophetie des Apollonius konkurriert, lehrt, daß sie in einem unendlichen Fortschritt mit unbekanntem Ziel begriffen ist, wobei sich hier mit der Verfeinerung der Zivilisation die primitiven Antriebskräfte der Menschen sublimieren und humanisieren. Jede Errungenschaft von Individuen und Völkern trägt zur Vervollkommnung des Ganzen bei, der akkumulative Prozeß kann durch Perioden des Niedergangs oder durch Regressionen in die Barbarei nur aufgehalten, nicht aber beendet werden.« Schon wenn Luther das Subjekt und sein Gewissen in den Mittelpunkt der Glaubenslehre und -praxis stellt, beginnt die Aufwertung und Ausgestaltung von Subjektivität, die Wieland hier als große frühneuzeitliche Entwicklungslinie von Aufklärung, Säkularierung und menschlicher Emanzipationsgeschichte auffasst. Für Auerochs: »Wieland und die Religion« (Anm. 19), S. 66, spricht Wieland im Agathodämon etwas unentschieden »aus der Perspektive eines Philosophen, der den siegreichen (aber vor einer historischen Niederlage stehenden) Protestantismus als Bundesgenossen gerne in Anspruch nähme. Hieraus erklärt sich die eigenartige Mischung aus Apologie und Distanz, die das Verhältnis des Agathodämon zur christlichen Religion ausmacht.«
Lothar van Laak
der frühen Neuzeit bis in Wielands Gegenwart, die Zeit um 1800. Die Traditionen werden befragt im Hinblick auf ihre aktuelle Gültigkeit und bestätigt in ihrer fortdauernden Legitimität. Lässt sich nun Ähnliches feststellen für die Verfahren, mit denen diese Traditionen vermittelt und übersetzt werden? Inwiefern modifiziert und variiert Wieland sie in seinem Spätwerk?
. Romantische Prinzipien in Subjektivierung und Dialogizität? Die inhaltlichen und argumentativen Konkretisierungen in der Position des Apollonius lassen sich durchaus als eine romantische Position auffassen. Ist diese aber auch formal mit romantischen Prinzipien in Einklang zu bringen? Die moderne Dynamisierung des Subjekts, die Performativität seiner Identitätsbildung und die Hermeneutisierung (und Ästhetisierung) seiner Erfahrungshaltung zur Welt können ja in der Figur und Philosophie des Apollonius als nur gesetzt gesehen werden. Doch die ästhetischen Verfahren, die die Position authentisch wirken und ihr Setzen anerkennen und akzeptieren lassen, müssen hinzukommen. Eine Relativierung dieser Setzung lässt sich womöglich in der Einleitung des Briefs des Hegesias an Timagenes wahrnehmen, in dem das Gespräch gegenüber der schriftlichen Erzählung abgewertet wird. In der That schien mir die Sache von solcher Beschaffenheit zu seyn, daß sie sich besser für eine schriftliche Erzählung, zu welcher ich durch sorgfältige Sammlung meiner Erinnerungen mich vorbereiten könnte, als für den irrenden Gang eines Gespräches schickte; und gewiß würdest du, wenn ich deiner Ungeduld damahls nachgegeben hätte, manchen nicht gleichgültigen Zug an dem Bild dieses merkwürdigen Menschen verloren haben. (SW X.32, S. 7 f.)
Wenn das Gespräch als Vermittlungsform so angezweifelt wird, kann dieser Zweifel auch dem dann im Folgenden erzählten Gespräch und seinen Gegenständen gelten, der Philosophie des Apollonius. Das ganze Gespräch erhielte ein negatives Vorzeichen. Allerdings wird dieser Zweifel eben dadurch relativiert, dass das »Bild« dieses Menschen möglichst genau wiedergegeben werden soll, das »lebendige[ ] Bild[ ] […], welches Agathodämon selbst mit enkaustischen Farben meinem Herzen einbrannte.« (SW X.32, S. 8) Des Weiteren wird der Zweifel an der Mündlichkeit auch dadurch nicht zum Prinzip erhoben, dass der Brief in einer Gesprächssituation eingebettet ist und bleibt: Er ist die Antwort auf ein im Gespräch diskutiertes Problem, »des verwickelten Knotens, der uns damahls beschäftigte« (SW X.32, S. 7). Die Wertschätzung der Schriftlichkeit der Erzählung geht damit also keineswegs auf Kosten der Mündlichkeit, sondern sie dient
Wielands Konzeption aufklärerischen Philosophierens um
und erweitert die Möglichkeiten des Gesprächs. In gewisser Weise lässt sich auch eine Flaschenpost-Strategie dieses Brief-Gesprächs annehmen. Denn Apollonius bedingt sich aus, dass Hegesias das Buch von seiner Erzählung unter drei Siegeln verschließen und es erst in ferner Zukunft, im Jahr 347, öffnen solle (vgl. SW X.32, S. 355). Der Brief hingegen setzt sich darüber hinweg; er kann schon zuvor davon erzählen und das Wissen zirkulieren lassen. Der Makro-Brief erscheint so als Medium, das erzählt, ein Geheimnis stiftet und mitteilt, das dabei Zweifel einbezieht und gesprächshaft verhandelt, und sich so auch nicht ganz in die SelbstBeliebigkeit der schriftlichen Zeichen ›ver-schreibt‹.³⁷ Denn was offen und dem Empfänger des Makro-Briefs und seinem Leser überlassen bleibt, ist die Gesamtbewertung des Apollonius, mit dem Hegesias Timagenes letztlich nur etwas vertrauter machen will. Seine Ergriffenheit für Apollonius, sein ebenso extatischer wie sentimentaler Abschied von ihm, werden dem Leser zwar berichtet, aber durch die episch-distanzierte Vermittlung nicht unmittelbar als Haltung angesonnen, wie es z. B. in Wackenroders Her zensergießungen geschieht.³⁸ Und statt »das Büchlein deinen Freund sein« zu lassen, wie der Herausgeber des Werther den Leser auffordert,³⁹ erweitert sich am Ende nur die freundschaftliche Gesprächsrunde, wenn Hegesias sich von Kymon verabschiedet, »und wir trennten uns von einander, wie Freunde, die sich wieder zu sehen hoffen.« (SW X.32, S. 476) Vergleichbar dem Schluss von Hölderlins Hyperion, in dem es im letzten Brief nur etwas knapper heißt: »So dacht ich. Nächstens mehr«.⁴⁰ Die Offenheit der subjektiven Haltung, Deutung und Wertung des Berichteten und die freundschaftlich-gesellige Gesprächsutopie werden so bedingend aufeinander bezogen. Was die Vorrede ankündigte, realisiert der Schluss der Erzählung. Er bricht nicht ab, sondern nimmt sich zurück. Und er nimmt sich zurück, um wieder in das Gespräch einzumünden. Diese besondere Verbindung also von Tendenzen der Subjektivierung einerseits, die Parallelen zur romantischen Kunstphilosophie, Religionsauffassung und Hermeneutik aufweist und andererseits einer Konzeption des
Nur auf die »Schreibweisen« zu blicken, verengt damit den Blick auf die ästhetischen Besonderheiten des literarischen Werks, die nicht nur auf die Paradigmen von Schrift und Text zu beziehen sind. Vgl. dazu: Wolfgang Braungart: »»Alle Kunst ist symbolisch« – Und alle Religion auch. Kunstreligiöse Anmerkungen mit Blick auf Kafka und Wackenroder«. In: Sprache und Literatur 109 (2009), S. 13-45, S. 28 und 34. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Frankfurt/M. ⁹1984, S. 8. Siehe dazu: Dirk von Petersdorff: »»Ich soll nicht zu mir selbst kommen«. Werther, Goethe und die Formung des Subjekts in der Moderne«. In: Goethe-Jahrbuch 123 (2006), S. 6785; und zu einem Vergleich zwischen Goethe und Wieland: Walter Erhart: »Goethes ›Werther‹ und Wielands ›Musarion‹«. In: DVjs 66 (1992), S. 333-360. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Günter Mieth. München ²1978. Bd. 1, S. 575-744, hier S. 744.
Lothar van Laak
Gesprächs, die von einer modernen Bestimmung von Sozialität und Ethik besonders von der Kritik her sehr entfernt ist, will ich nun abschließend noch an drei Überlegungen etwas weiter skizzieren. Dabei zeigt sich, dass Wieland eine negativierende Dynamik der romantischen Haltung versucht still zu stellen oder zu vermeiden, um einen Kern aufklärerischen Philosophierens in der literarisch-ästhetischen Praxis zu bewahren. Erstens zeigt sich am Enthusiasmus, seit Shaftesbury nobilitiertes Konzept genialer Subjektivität,⁴¹ dass das religiöse Gefühl zwar bis zur schwärmerischen Illusion reichen kann. Diese betrifft Apollonius, und selbst auch Christus, wie sich in der Geschichte zeigt. Aber die Illusionen werden entschuldigt. Das religiöse Gefühl ist unabkömmliche ästhetische Idee und Qualität und geschichts-eschatologisch gerechtfertigt. Letztlich wird auch der schlimmste Schwärmer den positiven Verlauf der Geschichte nicht in Frage stellen. Die Schwärmerkritik reicht also nicht so weit wie die Kritik an den Aufklärungsfeinden und Dunkelmännern. Selbst-Aufklärung und Enthusiasmus sind und bleiben allemal besser als Aufklärungsskepsis. Zweitens wird an dem Problem der Form deutlich, dass sie, in Gestalt des einzelnen Individuums geschichtswirksam und geschichtsbedingend ist.⁴² D. h., die Form, die jedes einzelne Subjekt, jeder einzelne Mensch darstellt, die humane ›persona‹, ist Selbstwert und Begrenzung geschichtlicher Negativität und ebenso auch geschichtsidealistischer Positivität. An der Aufgabe der Imitatio zeigt sich dies besonders gut: Imitatio Christi geht nicht so weit und gehe nie so weit, dass man sich ihn so buchstäblich zum Muster nähme, daß [man] darüber seine eigene Form verlöre. Meiner Vorstellungsart nach, könnte ihm einer sehr unähnlich scheinen, der im Grunde mehr mit ihm gemein hätte, als ein anderer, der jeden Tritt mit sklavischer Ängstlichkeit in einen seiner Fußstapfen setzte. (SW X.32, S. 471)
Hier werden nicht nur Bigotterie und religiöses Eifertum gegeißelt, hier liegt auch eine prinzipielle Einsicht in das formuliert, was Imitatio, Nachahmung und Mimesis als menschliches Vermögen letztlich ausmacht. Nicht Entgrenzung bis zur Identität kann das Ziel sein, dies wäre nämlich in der Tat Nicht-Identität; sondern die Entfaltung der inneren Form, nach Shaftesbury der ›inward form‹, die die besondere Qualität des Einzelnen ist, der sich dem Gegenüber öffnet und in und als Öffnung aber seine Selbstidentität bewahrt.⁴³ Vgl. zur Bedeutung Shaftesburys für Wieland: Mark-Georg Dehrmann: Das »Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 271-340. Allgemeiner diskutiert das Problem der Form: Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart 2001. Auf die ›innere Form‹ weist auch Jutta Heinz: »Wieland und die Philosophie« (Anm. 10), S. 92, hin. Weitergehend zu perspektivieren ist dieses Konzept von Form, das nicht nur eine »konsequente und reflektierte Umsetzung« der Tradition Shaftesburys darstellt,
Wielands Konzeption aufklärerischen Philosophierens um
Drittens und letztens heißt das für eine sehnsuchtsvolle Entgrenzung in die Natur eben nicht Selbstauflösung, sondern Mensch-Werdung. In der Schlusspassage in den Ausführungen des Apollonius heißt es: Die grenzenlose Natur, die ewige Ordnung und Harmonie der Dinge, das, was diese Masse der ungleichartigsten Erscheinungen außer mir zusammen hält und in ein unergründliches Ganzes innigst verwebt und vereinigt, und das, was die unermeßliche Masse von Empfindungen, Ideen, Trieben und Gesinnungen in mir zusammen hält, und in einem sich selbst unerforschlichen Ich zu Einem Ganzen zu verbinden strebt – alle diese helldunkeln geistigen Anschauungen fallen, wenn ich, tief in mich selbst gekehrt, jede derselben einzeln betrachten will, plötzlich in einander; das unendliche Eins verschlingt Raum und Zeit; alles was war, was ist und was seyn wird, zerfließt in den einzigen Akt eines einzigen ewigen Augenblicks, und ich verliere mich darin, wie Kymon gestern sagte, gleich einem Wassertropfen im uferlosen Ocean. – (SW X.32, S. 472 f.)
Versenkung und Selbstverschlingung sind hier in Vorstellung und Tonfall Hölderlins Empedokles gar nicht unähnlich. Doch Apollonius bleibt hier nicht stehen, dem Traum folgt das Erwachen: Aber bald öffnen sich meine Augen wieder, und glücklicher Weise finde ich mich wieder in meinem angebornen beschränkten Vaterland, Himmel und Erde; ich sehe wieder das allerfreuende Licht, und die allernährende Erde; die schönen Horen mit ihrem wimmelnden Gefolge von Tagen und Stunden tanzen wieder um mich her; das allgemeine Leben der Natur drängt sich wieder warm an mein Herz, ich webe in allem was webt, und fühle mich in allem was athmet; die Fantasie schließt ihre unsichtbare Zauberwelt wieder vor mir auf; die Unsterblichen nahen sich meinem Geiste, und mit süßem Schauern umfaßt mich die Gegenwart des allgemeinen Genius der Natur, des liebenden, versorgenden Allvaters, oder wie der beschränkte Sinn der Sterblichen den Unnennbaren immer nennen mag, und ich bin – mit Einem Worte, wieder was ich seyn soll, ein Mensch, gut und glücklich, und verlange nicht mehr zu seyn als ich seyn kann und soll. (SW X.32, S. 473)
Entgrenzungs- und Verschmelzungs-Phantasien, Beschwörung des Kairos und Werthereske Natur-Emphase werden hier in Apollonius’ Vermächtnis konterkariert mit seinem Insistieren auf der Humanitas, auf die er sich von all diesem zurückgeführt sieht – Unsterblichkeit, nun bist du mein, mein, in mir als Mensch. Der ich nicht mehr bin und sein will als ein Mensch. Die Konsequenzen für dessen Identität, ihre performative Herstellung und immer wieder vorzunehmende Aufrechterhaltung sind, dass sich Enthusiasmus und andere Entgrenzungskonzepte einerseits und menschliches, menschheitliches Form-Bewusstsein andererseits einander bedingen und wechselweise aufeinander beziehen müssen. Die Grundstruktur dafür sondern auch als ein moderner Selbstentwurf zu verstehen ist, wie ihn Dieter Thomä: Erzähle Dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Frankfurt/M. 2007 [erstmals 1998], formuliert hat.
Lothar van Laak
ist eine, ist die dialogische. Dialogizität, die die Subjektivierung überhaupt erst entfaltet und zugleich sozialisiert. Wenn wir uns im Gespräch äußern und entäußern, gewinnen wir Kontur, verlebendigen wir uns als Form, in der wiederum wir uns neu bestätigen. Das ist es, was ein aufklärerisches Philosophieren um 1800 sein kann und auszeichnet: Es kann diskursiv und dialogisch Selbstverständigungs-, Selbstbestätigungs- und Anerkennungsprozesse ermöglichen; und d. h. konkret den Aufklärungsprozess des Menschen und der Menschheit bilden und fortbilden. Dieser konzeptionelle Kern aufklärerischen Philosophierens um 1800 steht einer modernen Auffassung in vielem nahe; und doch formuliert Wieland diesen Anspruch zurückgenommen auf »mein angeborne[s] beschränkte[s] Vaterland, Himmel und Erde[.]« Bescheiden, aber nicht demütig, sondern im Stolz und in der Hoffnung auf weitere Selbst-Aufklärung. Sie bedarf durchaus einer Modernisierung ihrer Verfahren. Sie bedarf aber auch des Fortwirkens ihres aufklärerischen Grundanspruchs.
Pascal Frey
Anthropologie der Metaphysik Religion und Aufklärung im Spätwerk Wielands¹
Gespenster, Schwärmer, das Wunderbare sind ganz wichtige Gegenstände der Diskurse der Aufklärung. Sie berühren die Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten respektive den Erkenntniskräften des Menschen. Ab den 1780er Jahren verknüpfte Christoph Martin Wieland die Frage nach der Erkenntnis des Wunderbaren mit der Frage, warum Menschen an Übernatürliches glauben. Hintergrund ist eine neue Entwicklung der Religionsdiskussion, ausgelöst von der kritischen Philosophie Immanuel Kants. In einer durchgängig anthropologisch fundierten Argumentation gewinnt Wieland allmählich die Erkenntnis eines menschlichen Triebs nach Glauben.
. Der Hang der Menschen zum Wunderbaren Das Wunderbare und mit ihm die Einbildungskraft waren Objekte einer der bedeutendsten Debatten der Aufklärungszeit. Die Dominanz der Einbildungskraft über die Vernunft wurde verantwortlich gemacht für die Schwärmerei. Aussagen, Darlegungen, Meinungen zur Schwärmerei, zu Wundern, zu Geisterseherei gibt es im 18. Jahrhundert unzählige. Im Sinne einer Konkretisierung der Problemlage beschränke ich die Untersuchung auf den Hang zum Wunderbaren auf drei Autoren, die sich explizit dazu geäußert haben: Christian Garve, Karl Leonhard Reinhold und Carl Friedrich Pockels. Der Titel von Christian Garves Aufsatz, erschienen im Juni-Stück 1778 des Deutschen Museums, lautet: Bemerkungen über die Neigung der Menschen zum Wunderbaren, und über den Zweck dieses Zuges in der menschlichen Natur. Garve hält den Hang zum Wunderbaren gleichzeitig für den Motor der Zivilisationsentwicklung der Menschheit als auch für die Ursache einer entscheidenden menschlichen Schwäche. Das Wunderbare definiert er als das Neue, Bessere, Größere. Insofern ist der Hang zum
Der vorliegende Aufsatz basiert auf der Dissertation des Autors mit dem Titel Erkenntnis, Esoterik und das Seelenheil des Schwärmers. Religion und Aufklärung im Spätwerk Christoph Martin Wielands. Solothurn 2001.
Pascal Frey
Wunderbaren der dem Menschen notwendige und angeborene Trieb, sich weiterzubilden und auf diesem Weg dem Urzustand seiner schwächlichen Natur zu entrinnen. Das Wunderbare ist das Neue, das ihn zur Entwicklung herausfordert und ihn auf eine höhere Ebene seines Daseins heben kann. Andererseits erachtet aber auch Garve den Hang zum Wunderbaren als eine große Schwäche des Menschen, weil er ihn dazu verleite, Nichtrealem eventuell mehr Bedeutung beizumessen als der Wirklichkeit. Nach der Wahrheit oder Falschheit der Wunderbarkeiten scheidet sich die Liebe für das Grosse und Seltene der wahrhaftigen Natur, und der Geschmack an dem natürlich Wunderbaren von dem Hange zu den Abentheuerlichkeiten der idealischen und mythologischen Welt. Dieses letztere ist eine Verirrung, eine Sucht und Krankheit des menschlichen Karakters; und jenes ein natürlicher Zug im menschlichen Wesen, der Bedeutung, Zweck und Bestimmung hat.²
Fein säuberlich zerlegt Garve den Hang zum Wunderbaren in eine natürliche und in eine schädliche Hälfte. Der Zweck dieses menschlichen Hangs wird allerdings von Garve teleologisch gedacht: er ist die Erkennung des christlichen Gottes und die Unterordnung unter den christlichen Glauben. Das Wunderbare in der Welt und göttlichen Weltregierung erweckt Empfindungen und erhebende Aussichten, die sich durch nichts Greifbares, durch nichts aus der altäglichen Welt ersetzen lassen. […] Der ganze Glaube der Christen ist seinem Gegenstand nach wunderbar, und beruht auf Grundgesetzen, die eben so gross, als fern und zugleich nahe sind; so gross, daß jeder, der sich mit den zufälligen Verunstaltungen und Profanationen gewisser Dinge dieses Gebiets erst ausgesöhnt hat, und damit ins Reine gekommen ist, bedenken muss, es lasse sich nichts grösseres denken, noch sey etwas gleiches in eines Menschen Herz gekommen.³
Der Hang zum Wunderbaren scheint Garve nur zum Zweck zu haben, die unergründlichen Schritte Gottes zu akzeptieren und sich zu ihm hingezogen zu fühlen. Der Hang zum Wunderbaren, dem Menschen von Gott gegeben, dient dazu, Göttlichkeit zu empfinden. Im Frühjahr 1784 trifft der 26-jährige Wiener Jesuit Karl Leonhard Reinhold in Weimar ein, ausgerüstet mit Empfehlungsschreiben für Wieland. Diesem ist er sehr willkommen. Wielands Biograf Gruber schildert den Empfang des zukünftigen Schwiegersohns: »Wieland ward gleich bei dem ersten Besuche seines Schutzempfohlenen in hohem Grade für ihn eingenommen, zeigte sich ihm in dem Glanze seiner
Christian Garve: »Bemerkungen über die Neigung der Menschen zum Wunderbaren, und über den Zweck dieses Zuges in der menschlichen Natur«. In: Deutsches Museum. Hg. v. Heinrich Christian Boie u. Christian Wilhelm Dohm, 1778, Band 1, Januar – Juni, 6. Stück, S. 517-528, hier S. 519. Ebd. S. 526 f.
Anthropologie der Metaphysik
liebenswürdigsten Laune und entließ ihn mit herzlichen Äußerungen seines Wohlwollens.«⁴ Ein halbes Jahr zuvor, am 3. November 1783, hatte der Novize Reinhold in der Wiener Freimaurer-Loge »Zur wahren Eintracht« in einer Rede Über den Hang zum Wunderbaren gesprochen. Darin bezeichnete er diesen Hang rundheraus als Seelenkrankheit. Er äußere sich im Geschmack am Übernatürlichen. Manche Menschen glaubten, »dem Urheber der Natur viel Ehre zu erweisen«⁵, wenn sie ihn überall und unmittelbar wirken ließen. Dieser Glaube sei gefährlich sowohl für die Maurerei wie für das Christentum. In der Zeit der Kindheit des menschlichen Geistes sei die Wundergläubigkeit vielleicht verzeihlich gewesen, mittlerweile habe aber die Entwicklung in den »Weltaltern« die Grenzen des Geisterreiches eingeschränkt. Der Hang zum Wunderbaren mache die Vernunft untertänig, ließe Menschen Aberglauben anheimfallen, werte die Natur ab, vertilge Wissbegierde und arbeite dem »edlen Trieb entgegen, sich durch gute Handlungen um die Menschheit verdient zu machen«.⁶ Reinhold verdammt den Hang zum Wunderbaren, weil er zu Passivität, Innerlichkeit und Müßiggang verführt. Diese im besten aufklärerischen Sinne konservative Rede Reinholds zeigt, wie man aus edlen volkspädagogischen Motiven zu einer geringschätzigen Bewertung des Hangs zum Wunderbaren gelangen konnte. Reinhold erklärt ihn zu einer menschlichen Regung, die durch das Fortschreiten des Geistes in der Entwicklung der Menschheit überholt worden ist. Auch ein Beitrag von Carl Friedrich Pockels, dem zeitweiligen Herausgeber von Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, geht ausdrücklich auf den Hang zum Wunderbaren ein. Anders als Garve ist ihm die affektive Dimension des Hangs zum Wunderbaren wichtiger als der Zusammenhang mit der Metaphysik. Zwar behauptet auch er, dass jede Religion direkt auf der Erfahrung des Wunderbaren gründe. Er erkennt die Ursache des Glaubens in der Beschränktheit der menschlichen Sinneserkenntnis, die allerdings durch die Verstandestätigkeit kompensiert werden könne. Im Unterschied zu Reinhold erscheint der Hang zum Wunderbaren in Pockels’ Aufsatz nicht mehr als eine durch die Aufklärung zu überwindende Neigung, sondern als eine Alternative zur verstandesmäßigen Erkenntnis. Wir sind durch die tägliche Erfahrung so unendlich oft belehrt worden, daß eine jedwede Würkung eine vorhergegangene Ursach zum Grunde haben muß,
Johann Gottfried Gruber: C. M. Wielands Leben. Mit Einschluß vieler noch ungedruckter Briefe Wielands. 1. u. 2. Theil, Leipzig 1827, 3. u. 4. Theil, Leipzig 1828. (Reprint, hg. v. Hamburger Stiftung z. Förderung v. Wissenschaft und Kultur. Hamburg 1984), 7. Buch, S. 104. Journal für Freimaurer 3, [Wien] (1784), S. 125 f. Ebd. S. 136.
Pascal Frey
daß auch der gemeinste Verstand, gleichsam durch eine mechanische Verknüpfung seiner Vorstellungen von Ursach und Würkung, gezwungen wird, sich da eine Ursach hinzuzudenken, wo sie auch nicht in die Sinne fällt, oder überhaupt ganz unbekannt ist.⁷
Darüber hinaus betont Pockels sehr stark das Moment des Vergnügens und der Unterhaltung, das das Wunderbare bietet. Diese neuen Eingebungen, »wonach wir vermöge eines uns natürlichen Erweiterungstriebes unserer Geistesthätigkeit streben«,⁸ sind uns nämlich umso willkommener, je lebhafter die Eindrücke sind, die sie verursachen. Damit erhält der Hang zum Wunderbaren eine stimulierende Wirkung. »Nichts beschäftigt und unterhält daher die Einbildungskraft mehr, als das Wunderbare.«⁹ Der Hang zum Wunderbaren stellt für Pockels gar nicht ein Verlangen nach dem Wunderbaren dar, sondern ein Verlangen nach Erregung von Phantasie und Gefühlen, wie sie durch die Begegnung mit dem Wunderbaren und Geheimnisvollen ausgelöst wird. Der Hang zum Wunderbaren ist – nimmt man Pockels Argumentation ernst – bei ihm ein Bedürfnis nach starken Emotionen und lebhafter Phantasietätigkeit. Das gilt auch umgekehrt; das Nicht-Wunderbare, das bereits Erklärte und Verstandene, vermag diese Wirkung nicht auszuüben. Doch auch Pockels versäumt nicht, abschließend auf die Gefahr hinzuweisen, die im Hang zum Wunderbaren steckt: »Unserer Phantasie kann mit uns machen, was sie will, wenn der ihr so nöthige Führer, die gesunde Vernunft, erst von seinem Posten vertrieben worden ist.«¹⁰
. Wieland und der Hang zum Wunderbaren Wielands Spätwerk ist voller Erwähnungen und Erörterungen der Neigung der Menschen zum Übernatürlichen.¹¹ Ich wähle drei Äußerungen aus. Die erste stammt aus dem Jahr 1781 und ist eine Bemerkung im Teutschen Merkur, die zweite entstand 15 Jahre später und findet sich im 1. Buch des Agathodämon, die dritte im zweiten Gespräch von Euthanasia noch einmal 9 Jahre später. Wie ich zeigen kann, bewegt sich Wieland in allen Fällen, wo er die Neigung zum Übernatürlichen verhandelt, im Umfeld von Metaphysik und Erkenntnistheorie.
Carl Friedrich Pockels: »Ueber die Neigung der Menschen zum Wunderbaren«. In: Gnothi Sauthon oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, (1785), 3. Stück, S. 81-99, hier S. 82 f. Ebd. S. 84. Ebd. S. 87. Ebd. S. 97 f. Horst Thomé sprach von »Wielands lebenslanges Thema vom Hang der Menschen zum Übersinnlichen« (Horst Thomé: »Religion und Aufklärung in Wielands ›Agathodämon‹. Zu Problemen der kulturellen Semantik um 1800«. In: IASL 15.1 (1990), S. 93-122, hier S. 94).
Anthropologie der Metaphysik
.. Der Hang zum Wunderbaren als natürlicher Erkenntnistrieb Wieland beteiligte sich an der Diskussion um den Hang zum Wunderbaren 1781 mit einem Merkur-Aufsatz mit dem Titel Betrachtungen über den Standpunct, worinn wir uns in Absicht auf Erzählungen und Nachrichten von Geistererscheinungen befinden,¹² in die Sämmtlichen Werke 1796 leicht verändert unter dem gängigeren Titel Über den Hang der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben aufgenommen. Darin betrachtete Wieland den Hang zum Wunderbaren von einer anderen Blickrichtung als beispielsweise Reinhold. Ihm ging es darum zu begreifen, wieso das Wunderbare trotz aller aufgeklärter Erklärungsansätze nicht überwunden ist. Er entwickelt für die Erklärung des Hangs zum Wunderbaren ein Argument, das das Wunderbare als Teil des noch nicht Erklärbaren deutet. Die empirische Naturwissenschaft verdränge die verzauberte Welt nach und nach. Das habe den Nebeneffekt, dass sich der Kreis des Möglichen im selben Maße ausdehne, wie unsere Erkenntnisse zunehme. Gerade die Naturwissenschaft bestätige uns immer wieder viel Unbegreifliches, so dass uns heute beinahe nichts mehr in Erstaunen versetze. Die Natur […] erscheint immer wundervoller, geheimnißreicher, unerforschlicher, je mehr sie gekannt, erforscht, berechnet, gemessen und gewogen wird. Die unendliche Mannigfaltigkeit und der grenzenlose Schauplatz ihrer Wirkungen verschlingt unsern Geist; er verliert sich in einem Ocean von Wundern, an welchen, wie viel wir auch erklären und begreifen zu können meinen, doch noch immer unerklärbares und unbegreifliches genug übrig bleibt, um die verlegene Imaginazion in ihre alte Lage zurück zu werfen. (SW VIII.24, S. 80 f.)¹³
Diese spiralförmige Verwicklung von naturwissenschaftlichen Erklärungen und neuen Mysterien bietet Platz für die Annahme, bei aktuell unerklärlichen, also wunderbaren Begebenheiten handle es sich um noch nicht erklärte, potentiell jedoch durchaus natürliche und erklärbare Erscheinungen, was wiederum das Wunderbare durchaus rational erklärt.¹⁴
Der Teutsche Merkur (hier zitiert mit der Sigle TM) 2/1781, S. 226-239. Zitiert wird nach: Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden, hier im Text bezeichnet mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl. Alle Hervorhebungen finden sich so im Text. Die Konturen von Wielands Position zeigen sich am schärfsten im Vergleich mit anderen Äußerungen seiner Zeit. Wieland argumentiert hier gerade umgekehrt als beispielsweise Georg Christoph Lichtenberg, der meinte, die Fortschritte der Naturwissenschaften vertrieben den Geisterglauben. »So wie unser Kenntniß der Körper=Welt zunehme, so verengerten sich die Gräntzen des Geisterreiches. Gespenster, Dryaden, Najaden, Jupiter mit dem Bart über den Wolcken pp seyen nun fort. Das eintzige Gespenst, was wir
Pascal Frey
Und verbietet uns da nicht eben diese Vernunft – welche uns abhält zu entscheiden, daß etwas darum unmöglich sey weil wir uns keine deutliche Vorstellung machen können wie es möglich sey – etwas bloß darum für möglich zu erklären, weil wir nicht einsehen wie und warum es unmöglich seyn sollte? (SW VIII.24, S. 84)
Wieland hat wahrgenommen, wie trotz einer relativ großräumigen Verbreitung der Aufklärung Wunderglaube und Geisterseherei immer noch um sich griffen. In der Tat macht Über den Hang hinreichend klar, dass solche Strömungen nicht prinzipiell verwerflich sind, denn es wäre ein sinnloses Unterfangen, der Natur abzuverlangen, sich in unsere wissenschaftlichen Schlüsse und Regeln zu fügen. Und ein Rest Unerklärbares bleibt in jeder menschlichen Erklärung. In diesem Sinne ist die Einbildungskraft eine, wenn nicht notwendige, so zumindest willkommene Ergänzung zu den Wissenschaften. Wir […] glauben immer, daß sie [die Philosophie; P. F.] uns gerade das nicht sagen könne, was wir am Liebsten wissen möchten, und fühlen uns also um soviel geneigter, Jedem Gehör zu geben, der unsre Einbildungskraft in Erwartung setzt, und ihr eine Befriedigung zu versprechen scheint, die sie bey jener vergebens gesucht hätte.¹⁵
Die Merkur-Fassung der Schrift betont die Ambivalenz der aufklärerischen Haltung irrationalen Phänomenen gegenüber. Sie endet in einem hochbrisanten Abschnitt: Ich glaube also, es werde wenigstens auf die Allermeisten passen, wenn ich sage: wir sind, bey der allgemeinen Aufklärung unsrer Zeit, zuviel Philosophen um Geistererscheinungen zu glauben; und wir sind, mit aller unsrer Aufklärung, nicht Philosophen genug, um sie nicht zu glauben. Zwischen diesem Glauben und Nichtglauben hin und herschwankend, werden wir, größtentheils, immer so räsonniren oder scherzen, als ob wir sie nicht glaubten, und sobald uns ein neues Geistergeschichtchen erzählt wird, so andächtig zuhören – auch, bey Gelgegenheit, uns eben so herzhaft – vor Geistern fürchten, als ob wir sie glaubten.¹⁶
Die Unsicherheit im Umgang mit dem durchaus menschlichen Hang zum Wunderbaren entspringt nicht einem Mangel an Mut zur uneingeschränkten Bejahung der Aufklärung. Verstandesmäßig werden wir auch mit dem Irrationalen und Metaphysischen fertig. Emotional jedoch bleiben uns Faszination, Ungewissheit und Furcht. Diese Ambivalenz – meine ich – kennzeichnet das Verhältnis der Spätaufklärung gegenüber
noch erkennten, sey das, was in unserm Körper spücke und Würckungen verrichte, die wir eben durch ein Gespenst erklärten, so wie der Bauer das Poltern in seiner Kammer; weil der hier, so wie wir dort die Ursachen nicht erkennten.« (Ihre Hand, Ihren Mund, nächstens mehr. Lichtenbergs Briefe 1765 – 1799, hg. v. Ulrich Joost. München 1998, S. 211, Brief vom 03.07.1786). TM 2/1781, S. 232. Ebd. S. 238 f.
Anthropologie der Metaphysik
irrationalen Phänomenen wie Angst, Einbildungskraft und Glauben. Der horror vacui lässt sich nicht wegrationalisieren. .. Der Hang zum Wunderbaren als alternativer Erkenntnisweg 1796 nimmt Wieland im ersten Buch des Agathodämon¹⁷ den maßgeblichen Gedankengang von 1781 wieder auf. Hegesias trifft auf den ebenso gefürchteten wie geachteten Geist des Dorfes. Es ist ein durchaus lebendiger, munterer Alter, der sich als der Wunderheiler und Philosoph Apollonius von Tyana zu erkennen gibt. Verblüfft befragt Hegesias den Roman-Apollonius nach seinem Geister-Status und wird bekannt mit dessen Geister-Theologie. Zwey unverträglich scheinende Eigenheiten unsrer Natur vereinigen sich, die Idee von dem, was man Dämonen oder Götter nennt, in unsrer Seele zu erzeugen: auf der einen Seite, ein angeborner instinktmäßiger Drang, uns über diese sichtbare Welt, den für unsern Geist allzu engen Kreis der Sinne, Bedürfnisse und Leidenschaften, ins Unendliche empor zu schwingen; auf der andern, die Unmöglichkeit, jemahls (wenigstens in diesem Erdenleben) aus den Schranken herauszukommen, die unsrer Vorstellungskraft von innen und außen gesetzt sind. (SW X.32, S. 23)
Die Dichte der Argumentation überrascht den unvorbereiteten Leser. Doch der Gedankengang ist derselbe wie in der Merkur-Schrift, die Wieland ja im selben Jahr 1796 für die Sämmtlichen Werke redigierte. Verwirrung stiften könnte die Wendung »angeborener instinktmäßiger Drang«. Der Drang zur Transzendierung ist in der Erörterung Apollonius’ eine Voraussetzung gleichsam im Sinne einer anthropologischen Konstante, die besagt, ein Jeder komme zwangsläufig an die Grenze seiner Auffassungsgabe, jenseits derer er jedoch ein unbestimmtes Etwas noch zumindest vermuten kann. Die Transzendierung der Vernunft erfolgt also in vollem Wissen um die Grenze der Erkenntnis. Ein Jenseitsgefühl ist aber nicht etwa angeboren im Sinne apriorischer Ideen. Im Gegenteil: »Angeboren« meint hier nur so viel, als dass eine dem Menschen eigene Anlage zur Vernunfttätigkeit existiert, die über das sinnlich Wahrnehmbare und über die Reflexion hinaus die Fähigkeit zur Einbildung hat. »Instinktmäßig« meint dabei, dass diese Fähigkeit ohne Absicht wirkt und wohl auch nicht intentional-zielgerichtet ist. Es ist ein wunderbares Etwas in uns, das immer geneigt ist, die Dinge außer uns als bloßen Stoff zu behandeln, und sich unaufhörlich beschäftigt, Welten nach seinem eigenen Entwurf und zu seinem eigenen Zweck daraus hervor zu rufen. (SW X.32, S. 25 f.)
Die ersten drei Bücher des Agathodämon erschienen im ersten Band des Attischen Museum 1796. (Erstes und zweites Buch in I, 1. Heft, S. 115-212; drittes Buch in II, S. 1-70).
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Dabei stößt der phantasierende Mensch notgedrungen an eine Grenze, jenseits derer er sich keine klaren Vorstellungen mehr machen kann. Dennoch kann er über den Raum jenseits dieser Grenze reflektieren, d. h. er kann sich z. B. fragen, warum er darüber kein verifizierbares Wissen erlangen kann und was jenseits der Erkenntnisgrenze liegen mag. Auf diese Weise kann er eine wenn auch verschwommene und abstrakt bleibende Idee dessen, was jenseits seiner Erkenntnisgrenze liegt, erhalten. Das ist Spekulation. Doch genau wie das Wissen ist auch die Spekulation ein Ergebnis der Verstandestätigkeit, zumal der Verstand ja auch über die Produkte der Einbildung reflektieren kann. Die entscheidende Schlussfolgerung Wielands ist nun die: Das Erkenntnisvermögen macht nicht halt an der Grenze von sinnlich wahrnehmbarem, empirisch erhärtetem, objektivierbarem Wissen, sondern drängt über die Erkenntnisgrenzen hinaus. Es entsteht ein Trieb zur Transzendenz. Nichts von allem was wir sehen und hören, und keiner von den angenehmsten Eindrücken, womit diese Erscheinungen in unserm Innern verbunden sind, kann jenem wunderbaren Triebe genug thun. Nichts erscheint uns so schön, so groß, so vortrefflich in seiner Art, daß wir nicht etwas noch schöneres, größeres und vortrefflicheres in dieser Art denken könnten, oder, oft sogar wider unsern Willen, ahnen müßten. (SW X.32, S. 24)
Ein in der Psychologie des Menschen angelegter »instinktmäßiger Drang, uns über diese sichtbare Welt ins Unendliche emporzuschwingen« (SW X.32, S. 23) verführt den Menschen, an Übersinnliches zu glauben. Der Akt des Glaubens ist weniger ein willentlicher als ein unwillkürlicher, ein der Einbildungskraft entspringender Vorgang, der, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr in den Grenzen des Vorhandenen oder Wahrscheinlichen zu bleiben gezwungen ist und sich von der vorhandenen Realität emanzipiert. Wieland erkannte im Hang der Menschen, an Magie und Wunder zu glauben, einen – ich nenne ihn so – »Idealitätstrieb«. Dieser »Idealitätstrieb« treibt den Menschen – gemeint ist in erster Linie der individuelle Mensch – dazu, sich über das Vorhandene hinaus Gedanken zu machen, Pläne zu entwerfen, Wünsche und Träume zu haben. Darin liegt ein universales Konzept der Einbildungskraft vor. Märchenhaftes, Wunderbares und letztlich auch alles Metaphysische sind nicht von der tatsächlichen Existenz von Feen, Engeln, Hexen oder Gott abhängig, sondern von der Gabe der Einbildungskraft, deren Aufgabe es schließlich ist, sich Dinge einzubilden, die in der Realität nicht existieren. Der »Idealitätstrieb« generiert subjektive Wirklichkeit.
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.. Exkurs über die Art der philosophischen Reflexion Wielands Die Neigung zum Übersinnlichen steht nicht isoliert in der öffentlichen Diskussion des 18. Jahrhunderts. Sie gehört zu den Auseinandersetzungen um Wunder und Schwärmerei. Die Schwärmerdebatte, in der letztlich die aufklärerische Diskussion um die Einbildungskraft kulminiert, ist im Jahre 1781 längst angelaufen und auch Wieland hat bekanntlich rege an ihr teilgenommen. Das Jahr 1781 bringt allerdings einen entscheidenden Neuansatz. 1781 ist nämlich Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft erschienen, ohne große Resonanz vorerst, doch Wieland hat – via Herder und später Reinhold – früh davon erfahren. Zwischen 1781 – dem ersten Aufsatz Wielands zum Idealitätstrieb – und 1796, als derselbe Wieland sich hinter den Agathodämon hockte, erscheinen der Reihe nach 1783 Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, 1784 und 1785 Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1785 Jacobis Briefe Über die Lehre des Spinoza und Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten, ab 1786 Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie, 1787 Herders Spinoza-Schrift Gott. Einige Gespräche und Kants 2. Fassung der Kritik der reinen Vernunft, im Jahr drauf die Kritik der praktischen Vernunft, 1790 die Kritik der Urteilskraft, schließlich 1793 auch noch die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 1799 haben wir zu guter Letzt, der Agathodämon ist bereits erschienen, die Kontroverse zwischen Kant und Herder anlässlich Herders Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Es fällt auf, dass von Wieland selber im berichteten Zeitraum, also von 1781 an, als die Abderiten erschienen sind, kein größeres Werk entstanden ist – selbstverständlich wollen wir die Horaz-Übersetzung nicht unterschlagen –, bis dann Anfang 1788 im Merkur ein zweiteiliger, umfangreicher Aufsatz erscheint mit dem Titel: Gedanken von der Freyheit über die Gegenstände des Glaubens zu philosophieren, der belegt, dass Wieland die Diskussionen um Metaphysik und Erkenntnistheorie sehr wohl zur Kenntnis genommen hat. Das heißt: Wieland schweigt zwischen 1781 und mindestens 1788 zu den Entwicklungen in den genannten philosophischen Gegenständen. Reden über Religion und Metaphysik war zu dieser Zeit zunehmend eine Auseinandersetzung mit der sich abzeichnenden philosophischen Vorherrschaft der kritischen Philosophie. Das gilt auch für Wieland. Es dauerte lange, bis Wieland seine Position zu Kant gefunden hatte. Nicht zuletzt Reinholds wegen, den er zeitlebens hochgeschätzt hatte, stand Wieland Kant zunächst keineswegs abgeneigt gegenüber. Kants Diskursart,
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die er in einem Brief an Reinhold als »kantische Mysterien«¹⁸ bezeichnete, stieß ihn jedoch ab. Er übte angesichts der führenden Stellung seines Schwiegersohnes für die Verbreitung der kritischen Philosophie große Zurückhaltung im Urteil über Kant. Einer direkten Kontroverse ging er – anders als Herder¹⁹ oder sein Jugendbekannter Jacob Hermann Obereit,²⁰ der in dieser Zeit nach Jena übergesiedelt ist – aus dem Wege. Gegenüber Gesprächspartnern oder auch gegenüber Reinhold selbst kritisierte er nur den schlechten Schreibstil Kants und aller Kantianer.²¹ Vor allem die kantischen Epigonen waren ihm ein Dorn im Auge. Böttiger berichtet uns von wiederholten Seufzern Wielands über die Epidemie der kantischen Philosophie. […] Ein Fürst solle die Barmherzigkeit haben, für die transcendentalen Herrn ein Tollhaus anzulegen. Kants eigne Schriften würden als Denkmäler des subtilen menschlichen Scharfsinnes bestehn. Aber seiner Jünger Schriften würden wie Spreu zerstieben.²²
Es gibt keinen Hinweis dafür, dass Wieland außer der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft je eines der Werke Kants wirklich gelesen hätte. Allerdings machte er sich als aufmerksamer Beobachter und nicht zuletzt über Reinholds Schriften mit Kant und mit dem immer weiter um sich greifenden Kantianismus vertraut – über die teilweise bereits im Teutschen Merkur erschienenen Briefe über die Kantische Philosophie ²³ insbesondere mit dem religionsphilosophischen Gehalt der kritischen Philosophie. Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007. Bd. 10.1, S. 161. Johann Gottfried Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Erster Theil. Leipzig 1799, bzw. Ders.: Vernunft und Sprache. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Mit einer Zugabe, betreffend ein kritisches Tribunal aller Facultäten, Regierungen und Geschäfte. Zweiter Theil. Leipzig 1799. Jacob Hermann Obereit: Des Sprechens mit der Nachteule Avertissement von der Herausgabe einer endlich real-kritischen Final-Vernunft-Kritik und darzu allgemein zielfüglichen Syntheokritik. o. O. 1795. Etwa gegenüber Karl Morgenstern oder gegenüber dem Königsberger Johann Friedrich Abegg (nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. Sigmaringen 1987, Bd. 2, S. 591 u. 659). Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Gerlach u. René Sternke. Berlin 1998, S. 134. Die Briefe erschienen im TM 3/1786 S. 97-141; TM 1/1787 S. 3-39, S. 117-142; TM 2/1787 S. 167-185; TM 3/1787 S. 67-88, S. 142-165, S. 247-278. Zwischen Oktober 1788 und März 1794 publizierte Reinhold im Merkur eine Reihe weiterer Beiträge, hauptsächlich zur Verteidigung der kantischen Philosophie: Ueber die Natur des Vergnügens (4/1788 u. 1/1789), Ueber das bisherige Schicksal der Kantischen Philosophie (2/1789), Fragmente über das bisher allgemein verkannte Vorstellungs-Vermögen (4/1789), Vorschlag und Bitte an den streitenden Philosophen (NTM 3/1790), Ehrenrettung der neuesten Philosophie (NTM 1/1791), Ueber die Grundwahrheit der Moralität und ihr Verhältniß zur Grundwahrheit der Religion (NTM 1/1791), Wie und worüber läßt sich in der Philosophie Einverständnis der Selbstdenker hoffen? (NTM 2/1791), Systematische Darstellung aller bisher möglichen Systeme der Metaphysik (NTM 1/1794).
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Wir können einen Sachverhalt festhalten. Wieland äußerte sich zu Kant nur indirekt, um nicht zu sagen: gleichsam eingeschüchtert. Dabei zeigt sich, meine ich, gerade in der Gegenüberstellung mit anderen Positionen – und dazu gehören auch jene Kants – der philosophische Gehalt der Wieland’schen Schriften am schärfsten. Ich möchte das an einem naheliegenden Beispiel in aller Kürze sichtbar machen. In der Kritik der reinen Vernunft nennt Kant alles, was zu dem Zweck unternommen wird, das Dasein eines höchsten Wesens, einer Gottheit nachzuweisen, dogmatisches Blendwerk. »Ich behaupte nun, daß alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind.«²⁴ Denn wir können nicht aus dem weltimmanenten Gebrauch unseres Verstandes, der sich in den Grenzen möglicher Erfahrung hält, zu einem transzendenten Wissen aufsteigen, das Gegenstand der Metaphysik sein soll. Unter diesem Gesichtpunkt kann man den Agathodämon durchaus als Antwort Wielands auf die kritische Philosophie lesen. Denn immerhin versucht Apollonius genau das, was Kant als unmöglich taxierte, er transzendiert die Grenzen des Verstandes und erlangt durch die Einbildungskraft ein transzendentes Wissen, das allerdings subjektiv bleibt und nicht verifizierbar ist. .. Der Hang zum Wunderbaren als Erkenntnisskepsis Neun Jahre nach dem Agathodämon, inzwischen sind Wielands Ehefrau Anna Dorothea, Herder, Schiller gestorben, das Gut in Oßmannstädt verkauft, der Autor mittlerweile 72 Jahre alt, taucht der Hang zum Wunderbaren in einer der letzten Schriften Wielands wieder auf. Euthanasia. Drei Gespräche über das Leben nach dem Tode. Veranlasst wurde die Schrift durch Johann Karl Wötzels »Geschichte der wirklichen Erscheinung seiner Gattin nach ihrem Tode« aus dem Jahr 1804. Im zweiten Gespräch von Wielands Euthanasia legt der Wortführer Wilibald seinem Freund Selmar dar, wie absurd und unwahrscheinlich die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele sei. Freund Selmar ist enttäuscht. Dennoch sind ihm die Gründe des Philosophen nicht hinreichend, denn »sonderbar ist es doch, wie bey so bewandten Sachen eine so ungeheure Menge von Geister- und Gespenster-Geschichten« (SW XII.37, S. 149) verbreitet ist, die sich beträchtlicher Wertschätzung rühmt. Ein so »allgemeiner Volksglaube« könne doch schwerlich einen »schwachen, zufälligen, auf bloßen Sagen und Mährchen beruhenden Grund
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft B 664 A 636. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt ⁵1983. Bd. 4, S. 559.
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haben – er muss in der menschlichen Natur selbst tief verwurzelt sein« (SW XII.37, S. 149): – er muß in der menschlichen Natur selbst tief verwurzelt sein. Ist es vielleicht eine allen Menschen angeborene dunkle Ahnung der Unsterblichkeit unsers Wesens, was den Erscheinungen verstorbener Personen den Ursprung gab? (SW XII.37, S. 149)
Selmar stellt fest, dass das Übersinnliche eine lange Tradition hat, die anhält und anscheinend in der Natur des Menschen wurzelt. Das bestätigt ihm Wilibald: Mir ists nicht unwahrscheinlich, daß ein solches Ahnungsvermögen in dem räthselhaftesten, noch viel zu wenig gekannten und erforschten Theil unsrer Natur, den man die Einbildungskraft nennt, schlummere, und vielleicht im Wachen als im Schlafe die Quelle mancher unserer Träume sey. Indessen erkläre ich nicht gern Dunkles aus ebenso Dunklem. Irr’ ich nicht, so liegt uns der Schlüssel zu diesem Geheimnis näher als wir vermuthen. (SW XII.37, S. 150)
Und Wilibald setzt an zu einer umfangreichen, der Aufklärung nicht nur in der Metaphorik verpflichteten Erklärung mit Beispielen, die ich allesamt auslasse – ebenso die Selbstzitate und Paraphrasen zu Agathodämon und Peregrinus Proteus – und komme direkt auf den hier interessierenden Bescheid. Der Schlüssel, den Wilibald zu seiner Erklärung des Wunderbaren braucht, liegt nämlich im Menschen selber, das heißt in »starker Einbildungskraft«, »Leichtgläubigkeit« und im »Hang zum Wunderbaren« (SW XII.37, S. 161). Es ist leicht einsichtig, dass Wilibald seiner Gesinnung, Dunkles nicht mit Dunklem zu erklären, nicht hat nachkommen können. Jedenfalls erscheint in der Behandlung der Neigung der Menschen zum Übersinnlichen in dieser späten Schrift Wielands eine gewisse Skepsis. Eine Skepsis nämlich gegenüber der Möglichkeit, diese Neigung produktiv zu nutzen, wie das Agathodämon ja noch vormachte. Wilibald rechnet vor, wie groß die Zahl der Verstorbenen sein muss, so dass es unerklärlich bleibt, wieso sie nur so selten in Erscheinung treten. Wenn die Menschen trotz solcher Argumente doch an das Leben nach dem Tode glaubten, so führt der Hang zum Wunderbaren nur Aberglauben. .. Anthropologisierung der Metaphysik Alle wortführenden Protagonisten in den späten Romanen Wielands – Apollonius genauso wie Wilibald, auch Kerinthus in Peregrinus Proteus gehört dazu, ebenso der Archytas der 3. Fassung des Agathon – sie alle gehen davon aus, dass es keine außermenschlichen »Geister« gibt. Am eindrücklichsten zeigt sich das in Agathodämon – auf witzige Art bereits im Titel des Romans, der darauf anspielt, dass Apollonius ja als »guter Geist« ebenso gefürchtet wie kultisch verehrt wird.
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Apollonius’ Dämonologie zufolge gibt es keine Geister. Der Hang zum Wunderbaren, den wir nun schon kennen, verleitet die Menschen dazu, übermenschliche Phänomene anzunehmen. Wir nennen sie Götter, Geister, Dämonen, Gespenster und so weiter. Nun neigen wir zur Anthropomorphisierung dieser unsichtbaren Phänomene, weil wir nicht in der Lage sind, sie uns anders als in uns bekannter Gestalt vorzustellen. Aber die Vorstellung vom Göttlichen in Menschengestalt verfehlt das wahre Göttliche nur knapp. Denn Apollonius definiert es als das, was jenseits der Grenzen des menschlichen Verstandes, dennoch – ich habe es vorhin zitiert – »in uns« (SW X.32, S. 38) ist. Das ist ja logisch, um nicht zu sagen »tautologisch« völlig einsichtig. Denn wenn – wir verfolgen noch einmal den Gedankengang Apollonius’ – das Göttliche eine Projektion unseres Seelenvermögens ist, liegt das Göttliche letztlich in uns selbst. Die Idee läuft darauf hinaus, dass der Mensch qua Einbildungskraft und quasi naturgeleitet zum Glauben an Übernatürliches findet. Dieser Glaube ist dem Menschen in dem Sinne »angeboren«, als er durch seine Vernunfttätigkeit zur Frage nach den Grenzen seiner Möglichkeiten vorstößt und durch seine Einbildungskraft sich Vorstellungen vom Raum jenseits dieser Grenzen macht. Dennoch vermögen die menschlichen Fähigkeiten nicht, die Dinge jenseits dieser Grenzen zu verifizieren. Kein Mensch kann dort Wissen erlangen; er muss sich auf das Glauben verlassen. Meines Erachtens liegt hierin eine der wichtigsten Aussagen von Wielands Religionsreflexion: Glauben ist keine Angelegenheit des freien menschlichen Willens, man kann nicht frei wählen, ob man glauben will oder nicht, und schon gar nicht kann man das rational entscheiden. Glauben entsteht unwillkürlich, sobald die menschliche Einbildungskraft arbeitet. Dementsprechend gipfelt Apollonius’ Argument in der unerhörten Aussage, »daß es dem Menschen natürlich ist, übernatürliche Dinge zu glauben« (SW X.32, S. 182). Diesem Satz – genau genommen handelt es sich um einen leicht ungläubig ausgesprochenen Fragesatz Kymons – gilt besondere Aufmerksamkeit. Er schließt eine ganze Theologie ein. Darin erscheint, und das ist das eigentlich Unerhörte, Glauben nicht als Produkt der Verehrung eines übernatürlichen Wesens, das Gott genannt wird. Glauben entsteht unabhängig von der Existenz eines solchen Wesens als ein Glauben-Müssen. »Anthropologisierung der Metaphysik« habe ich dieses Denkmuster deswegen benannt, weil das Glaubenkönnen den Menschen eigen ist, nur davon – und nicht von Gott oder Übersinnlichem – ist Glauben abhängig. Es fällt noch etwas anderes auf beim Überblicken der drei Stellen, die von der Neigung zum Wunderbaren handeln: Wieland – der Autor all dieser Texte – versteckt sich zusehends. Die Merkur-Schrift von 1781
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ist ein Aufsatz, und damit gemeinhin Ausdruck der Ansicht seines Verfassers. Anders sieht die Sache schon in Agathodämon aus: Hier handelt es sich um die Aussage einer zwar historisch verbürgten, letztlich aber doch fiktiven Figur. Einer Figur, mit der man, das bringt die Erzähltheorie so mit sich, nicht einfach den Verfasser identifizieren darf. Noch komplexer stellt sich die Sache in Euthanasia dar. Euthanasia verhandelt ja die Geistererscheinung anhand eines Berichtes eines Zeitgenossen, der über die Erscheinung seiner verstorbenen Frau berichtet hat, und zwar so, dass dieser Bericht einem gegenübergestellt wird, den Swedenborg über eine Geistererscheinung gegeben hat. Konkret sieht das so aus, dass der Autor, also Wieland, einen Erzähler einsetzt, in diesem Fall Wilibald, der wiedergibt, was er in einem Bericht eines gewissen Thiébault gelesen hat, der wiederum Berichterstatter war von einer Begegnung mit Baron von Ammon, der von seiner Königin eine geheime Unterredung mit Swedenborg vernommen haben will. In dieser Erzählsituation ist es unmöglich, die Meinung des Autors einzuordnen. Ablesen lässt sich daran die zunehmende Verunsicherung gegenüber der Frage, was der Hang zum Wunderbaren im Menschen auslöst.
. Religion und Aufklärung im Spätwerk Wielands Bedeutungsvoll ist bereits die Zahl der Äußerungen Wielands zum Thema Religion, was naturgemäß Heterogenitäten mit sich bringt. Über das gesamte Spätwerk hinweg – ab den 1780er Jahren also – lässt sich vielleicht keine konsistente Religionsphilosophie Wielands herausarbeiten, immerhin aber zeigt sich, dass Wieland sich sehr bewusst mit den theologischen und metaphysischen Ideen in Deutschland, die am Ende der Aufklärung zahlreich im Umlauf waren, auseinandergesetzt hatte. Es handelt sich insbesondere um folgende vier Diskurse, an denen Wieland wiederholt teilgenommen hat. a) Kritik am Missbrauch der Religion durch Machtträger. Priesterkritik ist ein Topos der Aufklärung. Auch in Wielands Werk erscheint er oft. Etwa dort, wo er bereits das ganz frühe Christentum – Peregrinus und Apollonius sind Zeitgenossen von Jesus Christus – als betrügerische Sekte darstellt. Diese These taucht in scharfer Form in Peregrinus Proteus auf, und zwar in der Behauptung, die Christen hätten sich die Verfolgung zumindest teilweise selber zuzuschreiben. Dieselbe Einschätzung des Christentums als genuin intolerante Sekte findet sich auch in Agathodämon. Gemäß Apollonius’ Ausführungen machte sich die christliche Sekte die natürliche Toleranz des Polytheismus zunutze. Sie habe »die Gleichgültigkeit des Polytheismus gegen alle Arten von Religionen« (SW X.32,
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S. 438) ausgenutzt, um konkurrierende religiöse Strömungen niederzuringen mit dem Ziel, Monopolreligion zu werden. Der entscheidende Vorteil des mythologischen Polytheismus, der darin besteht, dass die freie Auslegung und Ausgestaltung des Mythos kein Sakrileg ist, fällt dem Absolutheitsanspruch des Christentums zum Opfer.²⁵ Die Rückschau auf den Aufstieg des primitiven, aber aufrichtigen Christentums zu einer absolutistisch herrschenden Volks- und Staatsreligion erhält eine aktuelle Brisanz: Religion, Herrschaft und die freie Meinungsäußerung sind große Themen des 18. Jahrhunderts – und nicht nur des 18. b) Individualisierung des Glaubens. Quasi eine direkte Folge dieser Kritik am frühen Christentum, die nichts anderes als eine verkappte Kirchenkritik war, ist die Forderung nach einem subjektiven, von der reglementierenden Gemeinschaft losgelösten Glauben. Dass Glauben erst dann rein und wohltätig sein kann, wenn man ihn von der Kirche löst und in die Eigenverantwortung des Einzelnen gibt, gehört ebenfalls zu den Topoi der Aufklärung. Dieser Gedanke war hauptsächlich in zwei Strömungen verbreitet: im protestantischen Neologismus und im Pietismus. Für die erste Strömung meint die Idee religiöser Subjektivität: Religion kann unmittelbar als subjektive Erkenntnis begriffen werden; das ist ein menschlicher, damit natürlicher Vorgang. Man nannte sie deshalb auch »natürliche Religion«. Davon wiederum lassen sich zwei Ausprägungen ausmachen. Als Hauptvertreter des rationalen Zweigs können wir auf Hermann Samuel Reimarus verweisen. Prominenter Wortführer des emotionalen Zweiges war Johann Salomo Semler: Gerade nicht die Vernunft, sondern nur das eigene, individuelle Empfinden Gottes war ihm Grundlage des Glaubens. Vor allem war es der Pietismus, schon im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts aus dem Protestantismus hervorgegangen, der die Innerlichkeit in den Glauben übertrug. Er geht von den selbstständigen und gleichberechtigten Einzelmenschen aus, das war soweit ganz aufklärerisch. Aber nicht die Vernunft leitet den Pietisten, sondern das Herz, durch das er sich unmittelbar mit Gott verbunden fühlt. Ausdruck der pietistischen Innerlichkeit waren Melancholie und Enthusiasmus, tiefe Trauer über das eigene sündige Wesen und eine überfließende Freude, wenn man sich aufgrund göttlicher Zeichen im Zustand der Gnade und Sündenvergebung fühlte.
Diese These hat eine gewisse Aktualität, wie beispielsweise eine Tagung zur »Achsenzeit« belegt, die Anfang Juli 2008 in Erfurt stattgefunden hat. Am vehementesten vertritt Jan Assmann die These einer fundamentalen kulturellen Veränderung durch die aggressiven monotheistischen Religionen. Vgl. Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus. München 2003.
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Neologismus und Pietismus setzen beide auf religiöse Subjektivität. Beide richten sich gegen die herkömmliche Vorstellung von Religion als ein vorgegebenes Regelwerk für den richtigen Glauben. Beide setzen das Individuum ins Zentrum des Glaubens. Wieland setzte sich früh schon mit diesem Anspruch auseinander – im Umfeld der Schwärmerei-Diskussion. Agathon hatte im Gespräch mit Hippias vorgemacht, was in diesem Rahmen wohl nicht im Detail mehr wiedergegeben werden muss: die Demonstration radikaler Ich-Betontheit auf der Suche nach Religion und die ebenso radikal ich-zentrierte Argumentation für die Notwendigkeit Gottes. Später allerdings – bereits einsetzend mit dem referierten Aufsatz über die Geistererscheinungen 1781 – setzt Wieland auf die konsequente Intellektualisierung der Innerlichkeit. Das heißt letztlich, die subjektive Religion entsteht auf der Grundlage einer subjektiven Erkenntnis eines Glaubensdefizits, das der Einzelne dank seines ihm – wie wir gesehen haben – angeborenen Hanges zum Übernatürlichen erfahren kann. Dabei geht es allerdings weniger um das religiöse Fühlen, als vielmehr um ein Wirklichkeit generierendes Denken jenseits des verifizierbaren Wissens. c) Intellektualisierung der Metaphysik. Die Neigung zum Wunderbaren bildet ein über die Erklärung der Geistererscheinungen weit hinausweisendes Argument. Wieland selber hat das zunehmend wahrgenommen und sachte, zurückhaltend, fast versteckt ausgebaut, und zwar in der Philosophie des Archytas, einem Zusatz in der dritten Fassung des Agathon, die 1793 erschienen ist, und in Agathodämon. Der Hang zum Wunderbaren ist der potentielle Weg zu einer höheren Erkenntnis. Er wächst über die Neigung zum Übersinnlichen hinaus zu einem regelrechten Trieb zum Übersinnlichen. Um es zu erreichen, muss die Vernunft die Sinnes- und Erfahrungswelt übersteigen, denn die physische Welt und die rational begreifbare Welt sind immer nur Teilmengen der vorstellbaren. Der Hang zum Wunderbaren zeichnet letztlich für Metaphysik verantwortlich. Die Transzendierung der rationalen Vernunft folgt einer langen Tradition des Okkulten. Dass dieses Denken Faszination auf Wieland ausübte, belegt rein quantitativ die beeindruckende Anzahl der Nennungen mystischer Gestalten – Orpheus, Pythagoras, Isis, Zarathustra, Hermes, die theurgische Magie, der Stein der Weisen, die eleusinischen Mysterien etc. Ich meine, dass Wieland »Orpheus«, »Pythagoras«, »Hermes«, »Zoroaster« und andere als Signaturen verstanden hat für etwas, was nicht primär und nicht direkt aus Quellen heraus zu lernen und verstehen ist, d. h. konkret als Gegenpol zum institutionellen, vorgefertigten Wissen. Alle diese Figuren verkörpern, so verstanden, das Gegenteil von Wissenschaft, die sich in Institutionen, und von Glauben, der sich in kanonischen Schriften etabliert. Unter anderem von daher erklärt sich Wielands Wahl der Zeit
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des Hellenismus als Hintergrund seiner religionsphilosophischen Überlegungen in den Werken der neunziger Jahre. Religion an der Schnittstelle von Antike und Christentum war ungefertigt. Gnosis, Hermetik, Orphik etc. – wie auch immer im Detail definiert – ist immer mystischer Separatismus und nie Orthodoxie. Das machte – meine ich – einen grossen Teil der Attraktion des Okkultismus für das 18. Jahrhundert aus. d) Affinität zum Geheimbund. Sowohl Kerinthus in Peregrinus Proteus als auch Apollonius in Agathodämon sind Anführer von okkulten Geheimorden. Beide bedienen sich ähnlicher Doppelstrategien, indem sie äußerlich durch kultische Inszenierungen ihre Anhänger disziplinieren, während der esoterische Kern den lautlosen Staatsstreich einleitet. Zwar war Wieland selber nie Illuminat, gehörte auch erst im hohen Alter und nur kurz den Freimaurern an, zwar hat er sich im Jahr 1800 genötigt gesehen, im Merkur eine öffentliche Erklärung abzugeben, weder mit den Maurern, Rosenkreuzern, Illuminaten oder anderen geheimen Gesellschaften zu sympathisieren, noch ihnen gar anzugehören. Aber dennoch: Der Geheimbund zieht sich wie ein roter Faden durch Wielands Spätwerk. Die Geheimgesellschaften der europäischen Intelligenz gehören zu den sozialhistorisch relevantesten Erscheinungen der Aufklärung. Im letzten Drittel des 18. Jahrhundert besitzt jede größere Stadt in Mitteleuropa eine Akademie oder eine gelehrte Gesellschaft, ein Lesekabinett, eine gemeinnützige oder ökonomische Gesellschaft – und ein bis zwei Freimaurerlogen. Das Geheimbundmodell setzt auf eine Aufklärung der Eliten. Es erstaunt angesichts der weitgehenden Erfolglosigkeit der Aufklärung auf politischem Parkett wenig, dass von vielen Intellektuellen schließlich eine Aufklärung im Geheimen, unter Ausschluss des Volkes, favorisiert worden ist. Die beiden Romane Peregrinus Proteus und Agathodämon setzen sich mit der Legitimation geheimer Aufklärungsstrategien auseinander. Peregrinus Proteus verwirft eine Aufklärung im Geheimen, die einer kleinen Elite das Problem überträgt, ein für alle befriedigendes Gemeinwohl zu finden. Der später entstandene Agathodämon nimmt die bereits allgemein diskreditierte Strategie der aufklärerischen Geheimgesellschaft wieder auf. Er wendet sich gegen das Dogma der Öffentlichkeit, das Kant in seiner Antwort auf die Frage Was ist Aufklärung neu etablieren wollte, und setzt als passable Alternative die Aufklärung im Geheimen, die für sich einen »wohltätigen Aberglauben« beanspruchen kann. So unterschiedlich die Beurteilung der Geheimbünde bei Wieland auch ausfällt, sind letztlich die Anordnungen in den Geheimlogen des Kerinthus und des Apollonius Übungen in praktischer Moral.
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. Zusammenfassung: Metaphysik als Anthropologie Anthropologie als im weitesten Sinne des Begriffs »Wissenschaft vom Wesen des Menschen« ist das eigentliche, und man könnte fast behaupten: einzige Thema Christoph Martin Wielands. Wieland formulierte seine anthropologische Grundüberzeugung schon früh: »Der Mensch, so wie er der plastischen Hand der Natur entschlüpft«, äußert er in seinen Beyträgen zur geheymen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens, »ist beynahe nichts als Fähigkeit. Er muß sich selbst entwickeln, sich selbst ausbilden, sich selbst diese letzte Politur geben, welche Glanz und Grazie über ihn ausgießt – kurzum, der Mensch muß gewissermaßen sein eigener zweyter Schöpfer sein.« (SW V.14, S. 60) »Mensch« meint zwar das Gattungswesen, wohl aber hauptsächlich das Individuum, welches sein Leben selber gestaltet kann, ja muss. Wielands Anthropologie meint also keinesfalls Physiologie, Ethnologie oder dergleichen angewandte Formen, sondern letztlich die Frage nach glücklichem, weil individuell glückendem Leben. Und ein glückendes Leben ist eben eines, das alle Fähigkeiten, die ihm die Natur gegeben hat, voll entwickelt hat. Programmatisch sind in diesen wenigen Sätzen die elementaren Bestandteile des Menschseins, wie es sich Wieland darstellt, zusammengehalten. Der Mensch als Naturwesen, welches, mit nichts als intellektueller und emotionaler Fähigkeit ausgerüstet, sich daran macht, aus sich einen Menschen zu machen (»herauszuentwickeln«) – und dazu gehört nicht zuletzt auch der Hang zum Übersinnlichen, und mit ihm: das Glauben. Wielands Überlegungen zielten auf das Individuum, den einzelnen religiösen Menschen. Gegenüber Kant hält Wieland fest, dass es im Menschen ein Glaubensgefühl gibt, eine Notwendigkeit zu glauben sozusagen. Durch die Einbildungskraft können wir die Grenzen der Erkenntnis überschreiten. Deswegen gibt es immer eine offene Valenz, einen Bereich, den wir ahnen müssen, den aber nicht das Wissen füllen kann, sondern nur das Glauben. Das bedeutet wiederum, dass die Aufklärung die Religion nicht vollständig verschwinden lassen konnte, auch die kritische Philosophie Kants nicht. Sie drängte zwar die Theologie zurück. Trotzdem oder deswegen gab es zahlreiche religiöse Strömungen. Diese kanalisierten den Glauben aber nicht mehr, sondern individualisierten ihn. Heute würde man sie als Sekten bezeichnen. Die Individualisierung des Glaubens war für Wieland unbefriedigend, weil es dem Einzelnen keine Gewissheit gibt, ob das, was er fühlt, gewissermaßen wahr ist. Wenn man das Phänomen Glauben dem Einzelnen zur Lösung überlässt und der Austausch darüber unterbleibt, fehlt die emotionale Verlässlichkeit. Dadurch wird der Einzelne leicht verführbar für neue Ideologien.
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Das ist das Gefährliche dieser Entwicklung. Darauf wies Wieland in seinen Geheimbund-Romanen dezidiert hin. Was Wieland drängte, war die Frage, wie man diesen Trieb zum Glauben »nutzen« oder mindestens lenken kann. Wieland überprüfte dazu die Möglichkeiten des religiösen Pluralismus, der Esoterik, der Geheimlogen, der Intellektualisierung des Glaubens, den Rückzug in die Innerlichkeit. Keine dieser Möglichkeiten scheint wirklich überzeugend. Das ist auch für uns Menschen im 21. Jahrhundert ein offenes Problemfeld.
II. Erzählformen und Schreibweisen
Uwe Wirth
Erzählen im Rahmen der Herausgeberfiktion Vor dem Hintergrund der von Wieland 1794 selbst besorgten Ausgabe seiner Sämtlichen Werke – einer »Ausgabe von der letzten Hand«, in der Wieland zugleich als Autor und Editor auftritt – äußerte Wolf Kittler die These, die »Verwechslung zwischen Autor und Herausgeber« habe »den modernen Roman begründet«.¹ Ich möchte diesen Gedanken aufgreifen und dahingehend zuspitzen, dass die Geburt des modernen Erzählers aus der Verwandlung der im 18. Jahrhundert durchgängig anzutreffenden Herausgeberfiktion in eine auktoriale Erzählfunktion entsteht. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen anstellen, wie diese Verwandlung in Wielands Geschichte des Agathon vollzogen wird, die als erster moderner Roman im deutschen Sprachraum gilt. So heißt es bei Lessing, durch seine selbstreflexive Erzählweise lege es dieser »erste und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke«, darauf an, bei seinen Lesern ein Bewusstsein für »verschiedene Möglichkeiten der Deutung«² zu schaffen.³ Dabei kommt dem »Vorbericht« der Geschichte des Agathon eine »zentrale Bedeutung«⁴ zu, denn er führt nicht nur »einschlägige Positionen«⁵ der poetologischen Romanreflexion des 18. Jahrhunderts vor, sondern auch die Prämissen für das Verständnis »der immanenten Poetik des Romans«.⁶ Der Vorbericht thematisiert jedoch nicht nur »die Absichten und Schwierigkeiten«⁷ des Projekts, sondern ironisiert die »zeitübliche Berufung auf historische ›Wahrheit‹« und rückt statt dessen »die
Wolf Kittler: »Literatur, Edition und Reprographie«. In: DVjs 65 (1991), S. 205-235, hier S. 214. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Ders.: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert u. a., 8 Bde. München 1970 – 1979, hier Bd. 4, S. 555. Vgl. Wolfgang Preisendanz: »Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon)«. In: Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik 1). Hg. v. Hans Robert Jauß. München 1964, S. 72-93, hier S. 93. Monika Schrader: Mimesis und Poiesis. Poetologische Studien zum Bildungsroman. Berlin u. a. 1975, S. 31. Sven-Aage Jørgensen u. a. (Hg.): Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994, S. 122. Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1988, S. 388. Harald Stang: Einleitung – Fußnote – Kommentar. Fingierte Formen wissenschaftlicher Darstellung als Gestaltungselemente moderner Erzählkunst. Bielefeld 1992, S. 63.
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Bedeutung der Fiktionalität«⁸ in den Blick. Dies wirft die Frage auf, wie in den Paratexten der Geschichte des Agathon das Verhältnis von Fiktion und Nicht-Fiktion verhandelt und dadurch ein Raum für ein modernes Erzählen geschaffen wird, das sich gleichsam im space in between von Autorschaft und Herausgeberschaft situiert. Auch wenn dem Vorbericht zur Geschichte des Agathon zentrale Bedeutung zugesprochen wird, bleibt sein logischer Status und seine diskursive Funktion für den Haupttext auf merkwürdige Weise unklar. Diese Unklarheit ist programmatischer Natur. Der Paratext der Geschichte des Agathon gibt sich als »zone intermédiaire«,⁹ als Zone performativer Überblendungen, um die »Technik der Doppelrahmung«¹⁰ am »szenischen Rahmen des Schreibens«¹¹ vorzuführen. Der Vorbericht versucht – wie die »Préface« zur Nouvelle Héloïse – mit Hilfe einer Rahmenkonfusion die Aufmerksamkeit auf die poetischen Rahmungsbedingungen zu lenken: Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen sei; daß er am besten zu tun glaubt, über diesen Punkt gar nichts zu sagen, und dem Leser zu überlassen, davon zu denken, was er will. (GA, S. 11)
Irritierend wirkt der Umstand, dass das Angebot eines Fiktionsvertrags durch die Selbstbeschreibung des Vorwortverfassers als ›Herausgeber‹ gleichsam in actu dementiert wird. Durch diese Selbstbeschreibung wird der editoriale Rahmendiskurs »zum Medium«, das dazu dient, »einen Widerspruch in mehreren Varianten vorzuführen«.¹² Zu klären bleibt zum einen, inwieweit und inwiefern dieser Widerspruch als »Verfahren der Rahmung«¹³ zu deuten ist. Zum anderen gilt es, die poetologische Rolle
Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands ›Agathon‹Projekt. Tübingen 1991, S. 87. Antoine Compagnon: La Seconde main ou le Travail de la citation. Paris 1979, S. 328. Dabei befinden sich in der Ausgabe letzter Hand zwischen dem Vorbericht zur ersten Ausgabe und dem einleitenden Aufsatz »Über das Historische im Agathon« der Ausgabe von 1773 jeweils noch die kurzen Vorworte: »An die Leser des Agathon« (1773) sowie »Vorbericht zu dieser neuen Ausgabe« (1794). Bemerkenswerterweise stehen diese beiden Vorworte nicht vor dem jeweils älteren Vorwort, bewegen sich also nicht digressiv nach außen, sondern die Vorworte zu den Ausgaben von 1773 und 1794 sind chronologisch dem Vorbericht der Erstausgabe nachgeordnet, wobei der Aufsatz »Über das Historische im Agathon« sowohl 1773 als auch 1794 die Schwelle zum Haupttext markiert. Vgl. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 11; hier im Text zitiert mit der Sigle GA), S. 559. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1999, S. 178. Vgl. Rüdiger Campe: »Die Schreibszene. Schreiben«. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M. 1991, S. 759-772, hier S. 764. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (Anm. 8), S. 110. Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002, S. 313.
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des Prinzips der Wahrscheinlichkeit zu beleuchten, auf das sich der Herausgeber beruft, während er einen performativen Widerspruch begeht.¹⁴
Performative Widersprüche am Rahmen Nach Berthold gibt das Prinzip der Wahrscheinlichkeit in der Romanpoetik des 18. Jahrhunderts den Rahmen vor, innerhalb dessen der »Gegensatz von Fiktivität und Realität entschärft werden konnte«.¹⁵ Zunächst führt die Orientierung am Prinzip der Wahrscheinlichkeit jedoch dazu, dass die »Tatsächlichkeits-Vorspiegelung der Texte«¹⁶ radikalisiert wird, wodurch das Prinzip der Wahrscheinlichkeit mit dem Prinzip der Wahrheit in Konflikt gerät. Meine These ist nun, dass zur Darstellung dieses Konflikts die »Vorredenreflexion«¹⁷ von der Mitte des 18. Jahrhunderts an in Form eines inszenierten performativen Selbstwiderspruchs vollzogen wird, der den Leser / die Leserin zum ›Selbstdenken‹ auffordert. Dabei verweist der performative Widerspruch auf jenen zentralen poetologischen Konflikt, der die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmt: Der Konflikt zwischen der »erzähltechnischen Faktizitätsbeglaubigung und deren eigener Glaubwürdigkeits-Unterminierung«.¹⁸ Die paratextuelle Inszenierung dieses Konflikts lässt sich sowohl an der »Préface« zur Nouvelle Héloïse als auch am Vorbericht der Geschichte des Agathon beobachten. Während der Vorwortverfasser zu den »Briefen zweier Liebenden« die Behauptung aufstellt, er habe, wiewohl er »bloß des Herausgebers Namen führe«, doch »selbst mit an dem Buch gearbeitet und mache daraus kein Geheimnis«,¹⁹ ohne dass daraus der Schluss abgeleitet werden dürfe, der ganze Briefwechsel sei erdichtet, bezeichnet sich der Vorwortverfasser der Geschichte des Agathon ohne Einschränkung als »Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte«, der dem Leser das Urteil über den logischen Status der von ihm eingeleiteten Geschichte überlässt, nämlich »davon zu denken, was er will« (GA, S. 11). Fast gleichlautend heißt es in der »Préface« zur Nouvelle Héloïse: »Ein jeder denke, wie es ihm gefällt!«,²⁰ wobei der Appell zum Selbstdenken noch nicht im ersten
Vgl. ebd., S. 322. Christian Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993, S. 136. Ebd. Ernst Weber: Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. Zur Theorie und Praxis von ›Roman‹, ›Historie‹ und pragmatischem Roman. Stuttgart u. a. 1974, S. 20. Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit (Anm. 15), S. 123. Jean Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse. Hg. v. Dietrich Leube, übers. v. Johann Gottfried Gellius u. Dietrich Leube. München 1978, S. 5. Ebd.
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Satz erfolgt, sondern erst am Ende des vierten Absatzes, als die Frage nach »der Geschichte Wahrheit« in einer Weise aufgeworfen – und offengelassen – wird, die impliziert, dass zwar Zweifel an der Authentizität der Briefe, nicht aber an der Glaubwürdigkeit des Herausgebers aufkommen können. Angesichts der Tatsache, »daß man an einigen Stellen grobe Fehler wider die Beschreibung der Gegenden«²¹ gemacht habe, überlässt es der Herausgeber der Nouvelle Héloïse dem Leser zu beurteilen, ob es sich dabei um ein Täuschungsmanöver oder aber um die Unwissenheit des Verfassers handelt. Die »groben Fehler« erhalten dabei – als »faussetés significatives«²² – die Funktion von Indizien, die gegen die Authentizität der Briefe und für die Glaubwürdigkeit des Herausgebers sprechen. Der performative Widerspruch besteht nun darin, dass mit dem Hinweis des Herausgebers auf die mögliche Nicht-Authentizität der Briefe zugleich die Glaubwürdigkeit seiner Selbstbeschreibung als Herausgeber in Frage gestellt wird. Einen analogen performativen Widerspruch impliziert die Argumentation des Vorwortverfassers zur Geschichte des Agathon. In seinem ersten Satz überlässt es der »Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte« scheinbar dem Leser, die Plausibilität der Manuskriptfiktion – und damit auch deren Authentizität – zu beurteilen. Anders jedoch als der Vorredenverfasser der Nouvelle Héloïse wird die Frage, ob es sich bei der Geschichte des Agathon um eine Dichtung handelt, nicht mit einem provokanten »Was liegt euch daran?«²³ repliziert; vielmehr wird das Fiktionsbekenntnis performativ als poetologisches Konzept vorgeführt, das eine Modulation des Begriffs der Geschichte und der Geschichtsschreibung in Gang bringen soll. Die Strategie, mit der diese Modulation ins Werk gesetzt wird, besteht in der beinahe »aufdringlichen«²⁴ Inszenierung eines performativen Widerspruchs, der in »mehreren Varianten«²⁵ vorgeführt wird. Die erste Variante dieses performativen Widerspruchs besteht darin, dass sich der Vorredenverfasser selbst als »Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte« beschreibt, zugleich jedoch eingesteht, dass die Geschichte nicht »aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen«, sondern »so gedichtet sei, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können«
Ebd. Pierre Daniel Huet: Traité de l’origine des romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der [Eberhard Werner] Happel’schen Übersetzung von 1682. Stuttgart 1966, S. 86 f. Rousseau: Neue Héloïse (Anm. 19), S. 5. Vgl. Sven-Aage Jørgensen: »Warum und zu welchem Ende schreibt man eine Vorrede? Randbemerkungen zur Leserlenkung, besonders bei Wieland«. In: Text und Kontext 4 (1976), S. 3-20, hier S. 16. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (Anm. 8), S. 110.
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(GA, S. 12). Die Selbstbeschreibung als Herausgeber erweist sich bereits im ersten Satz als fausseté performative. Die zweite Variante des performativen Widerspruchs begeht der »Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte«, wenn er einerseits behauptet, er sehe »so wenig Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie [d. i. die Geschichte; U. W.] in der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen sei« (GA, S. 11), dass er die Beantwortung dieser Frage dem Leser überlassen wolle. Im weiteren Verlauf der Geschichte nimmt der Herausgeber jedoch dann immer wieder auf das Manuskript des griechischen Autors Bezug: sei es in Form romanpoetologischer Reflexionen über die narrative Wahrscheinlichkeit der Geschichte, sei es in Form editorialer Symptomkommentare, die sich auf ›monumentale Leerstellen‹ des Manuskripts beziehen, so wenn der Herausgeber darauf hinweist, das Manuskript sei »an diesem Ort halb von Ratten aufgegessen« (GA, S. 493). Die dritte Variante des performativen Widerspruchs betrifft den Umstand, dass die Struktur des ersten Buchs das im Vorbericht vorgestellte poetologische Programm einer »mit dem Lauf der Welt« (GA, S. 11) übereinstimmenden Geschichte zu widerlegen scheint.²⁶ Damit stellt sich auch die Frage, inwiefern der Vorbericht als hors d’œuvre außerhalb des Werks steht oder ob er als Teil des Werks zu gelten hat. Alle drei Varianten lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Gegensatz zwischen Fiktivität und Realität,²⁷ der in einen Konflikt zwischen Wahrscheinlichkeit und Wahrheit mündet. Dieser Konflikt betrifft jedoch nicht nur den Begriff der Wirklichkeit, sondern auch die »moralischen Erwartungen«,²⁸ die Autor und Leser dieser Wirklichkeit gegenüber haben. Eben hierin besteht das Grundproblem aufklärerischen Denkens und aufklärerischer Romanpoetik.
Die Funktionen Herausgeber, Autor, Erzähler Das den Lesern der Geschichte des Agathon vom Herausgeber gegebene Versprechen, dass alles »nach dem Lauf der Welt« »gedichtet« sei, weil es aus dem »unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen« ist (GA, S. 11), lässt sich zunächst als Fiktionsvertrag deuten, der sich beim Dichten einer »wahrscheinlichen historischen Fiction«²⁹ auf einen poetischen
Vgl. ebd. Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit (Anm. 15), S. 136. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (Anm. 8), S. 98, sowie Jürgen Jacobs: »Fehlrezeption und Neuinterpretation von Wielands ›Agathon‹. Anmerkungen zu einem neuen Deutungsvorschlag«. In: Wieland-Studien 3 (1996), S. 273-281, hier S. 274. Vgl. Christoph Martin Wieland: »Theorie und Geschichte der Rede-Kunst« (1757). In:
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Wahrheitsbegriff festlegt und die »imitatio historiae als Aspekt der imitatio naturae«³⁰ ins Spiel bringt. Allerdings bleibt vor dem Hintergrund der Annahme eines solchen Fiktionsvertrages vollkommen unklar, wie die folgende Behauptung des Herausgebers zu deuten ist: »Allein, da er [der Herausgeber; U. W.] selbst gewiß zu sein wünschte, daß er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe; so wählte er denjenigen [nämlich den Protagonisten, das heißt Agathon; U. W.], den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat« (GA, S. 12). Hier nimmt der Herausgeber nicht nur einen modalen Rahmenwechsel vor, indem er die wahrscheinliche Möglichkeit zur poetischen Wirklichkeit erklärt, sondern er initiiert eine Konfusion der Rahmen, wenn er behauptet, er habe »Gelegenheit gehabt«, den Protagonisten »genauestens kennen zu lernen« (GA, S. 12). Dabei ist zum einen die metaleptische Konstruktion bemerkenswert, dass der Dichter die von ihm gedichtete Figur »genauestens« kennt, zum anderen aber vor allem auch der Umstand, dass der Vorredenverfasser hier nicht als Dichter, sondern als Herausgeber auftritt: Als Herausgeber wohlgemerkt, der behauptet, er habe wie ein »Original-Historicus« an den geschilderten Begebenheiten »selbst Anteil«³¹ gehabt und verhalte sich ihnen gegenüber wie ein »aufrichtiger Zeuge«.³² Die poetologische Pointe dieser Aussage besteht darin, dass sich der Herausgeber als Augenzeuge von »erdichteten Umständen«³³ beschreibt und dadurch zu einer Instanz wird, welche die Funktion des »Original-Historicus« mit der des Dichters verklammert. Damit erhält der Herausgeber die Funktion, die Modulation des Geschichtsschreibers zum Poeten mit einem Rahmen zu versehen. Nach Frick besteht die »bedeutende Einsicht« von Wielands Romanprojekt darin, dass er die Erfüllung des im Vorbericht entworfenen Konzepts »verschiedenen Textinstanzen« zuweist und insofern eine »Aufspaltung der narrativen Funktionen« vornimmt.³⁴ Erhart sieht den Grund für die »Aufspaltung des Erzählers« in den »widerstreitenden Intentionen des Romans«.³⁵ Ihm zufolge benötigt Wieland »die ironische Trennung Gesammelte Schriften. Hg. v. Bernhard Seuffert u. a., Abt. I, Bd. 4: Prosaische Jugendwerke. Berlin 1916 (Nachdruck: Hildesheim 1986), § 10, S. 344. Schrader: Mimesis und Poiesis (Anm. 4), S. 35. Vgl. hierzu auch Klaus Oettinger: Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik Christoph Martin Wielands. München 1970, S. 84. Johann Jakob Bodmer u. Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern, Nr. 1-3. Zürich 1721 – 1722 (Nachdruck: Hildesheim 1969). Erster Teil, V. Discours, E (S. 34). Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst. Zürich 1740, 2 Bde. (Nachdruck: Stuttgart 1966, mit einem Nachwort v. Wolfgang Bender), S. 277. Ebd., S. 279. Frick: Providenz und Kontingenz (Anm. 6), S. 489 f. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (Anm. 8), S. 159. Im Gegensatz dazu betont Horst Thomé die Entsprechung zwischen den »Intentionen des ›Vorberichts‹« und den
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in einen antiken Autor und einen gegenwärtigen Herausgeber, um die Romangeschichte überhaupt erzählen und zu Ende bringen zu können«.³⁶ Versteht man die »ironische Trennung« mit Foucault als Spiel der partage,³⁷ so wird die Ebenendifferenzierung zur Voraussetzung dafür, dass sich die Funktion Autor als Funktion Herausgeber in Szene setzen lässt. Dies wird deutlich, sobald man Foucaults These um die Einsicht Martínez-Bonatis erweitert, dass die Aufspaltung des Erzählers als Folge eines auktorialen Selbstzitats anzusehen ist, wobei der reale Schriftsteller die Rede seines fiktiven Erzählers zitiert.³⁸ Der Verfasser des Vorberichts stellt sich als fingierter Herausgeber vor, der sich zugleich als Quasi-Autor ins Spiel bringt, wenn er zu verstehen gibt, die von ihm herausgegebene Geschichte sei auch von ihm selbst gedichtet worden. Dieser performative Widerspruch wird durch die Modulation der Selbstbeschreibung verstärkt, im Zuge derer sich der »Herausgeber« auch als »Verfasser« beschreibt (GA, S. 13). Im Haupttext befindet sich der fingierte Herausgeber des Vorberichts im Übergang zu einer fiktiven Herausgeber-Figur, die das ›Originalmanuskript‹ eines fiktiven griechischen Autors übersetzt und kommentiert. Allerdings wird der Bruch zwischen fingiertem und fiktivem Herausgeber überspielt. Ausgespielt wird nur der Bruch zwischen dem deutschen Herausgeber und dem griechischen Autor, mit dem eine strikte »Ebenendifferenzierung«³⁹ eingeführt wird. Die Verantwortung für die »alte Handschrift« (GA, S. 494) und die gewaltsame Finalisierung des Erzähldiskurses obliegt eindeutig dem griechischen Autor. Er ist als narrative Instanz für die wahrscheinliche kausale Verknüpfung der Ereignisse im Rahmen der Geschichte zuständig. Die Kausalität, aber auch die Kontingenz des Geschehens werden durch eine auktoriale Intentionalität gerahmt, der es darum geht, »stringente Finalität«⁴⁰ herzustellen. Allerdings kann diese aufs Ende zielende Intentionalität Kausalität und Kontingenz auch in einer Weise in Dienst nehmen, die dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit widerspricht, weil sie Lücken in der kausalen Motivationskette lässt. Der deutsche Herausgeber ist als editoriale Instanz dafür zuständig, die alte Handschrift zitierend und übersetzend anzuführen und gleichzeitig »Kommentare[n] des Erzählers im Text selbst« (vgl. Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik. Frankfurt/M. u. a. 1978, S. 196). Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (Anm. 8), S. 159. Michel Foucault: »Was ist ein Autor? (Vortrag)«. In: Ders. Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 1. Frankfurt/M. 2001, S. 1003-1041, hier S. 1020. Vgl. Félix Martínez-Bonati: »Die logische Struktur der Dichtung«. In: DVjs 47 (1973), S. 185-200, hier S. 188, Anm. 2. Matthias Bickenbach: Von der Möglichkeit einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens. Tübingen 1999, S. 206. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart u. a. 1993, S. 111.
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seine Politik der Edition transparent zu machen. Sein Rekurs auf das Prinzip der Wahrscheinlichkeit und die ›historische Wahrheit‹ erfolgt dabei nicht nur mit Blick auf den Status der alten Handschrift als historisches Monument, sondern auch mit Blick auf die Erzählweise des griechischen Autors. Der Herausgeber fungiert als meta-narrative Instanz, indem er die Handlungsführung des griechischen Autors vor dem Hintergrund der möglichen Welt des Romans reflektiert und jede Abweichung vom Prinzip der Wahrscheinlichkeit kritisch kommentiert. Allerdings offenbart diese Ebenendifferenzierung einen weiteren Widerspruch. Sah der Herausgeber im Vorbericht »wenig Wahrscheinlichkeit«, das Publikum zum Glauben an die Manuskriptfiktion zu überreden, so bekräftigt er im Verlauf des Romans immer wieder, dass er sich auf Manuskripte und Originaldokumente stützte. Das im Vorbericht entworfene Konzept einer ›wahrscheinlichen historischen Fiction‹ wird durch die vom Herausgeber im Haupttext in Szene gesetzte Authentizitätssuggestion wieder dementiert. Der Herausgeber übernimmt die Rolle eines Geschichtsschreibers, dessen Funktion von der des Romandichters scharf unterschieden wird. So heißt es im romanpoetologisch zentralen achten Kapitel des fünften Buches: Wie groß ist in diesem Stücke der Vorteil eines Romanendichters vor demjenigen, welcher sich anheischig gemacht hat, ohne Vorurteil oder Parteilichkeit, mit Verleugnung des Ruhms, den er vielleicht durch Verschönerung seiner Charaktere, und durch Erhebung des Natürlichen ins Wunderbare sich hätte erwerben können, der Natur und Wahrheit in gewissenhafter Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener die ganze grenzenlose Welt des Möglichen zu freiem Gebrauch vor sich ausgebreitet sieht; […] [s]o sieht sich hingegen der arme Geschichtschreiber genötiget, auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußstapfen der vor ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegenstand so groß oder so klein, so schön oder so häßlich, wie er ihn würklich findet, abzumalen; die Würkungen so anzugeben, wie sie vermöge der unveränderlichen Gesetze der Natur aus ihren Ursachen herfließen. (GA, S. 159)
Ob diese Passage tatsächlich als »Abrechnung mit der Zürcher Ästhetik«⁴¹ zu werten ist, mag dahingestellt bleiben. Fest steht, dass der Herausgeber damit seine eigenen, im Vorbericht aufgestellten, Prämissen dementiert. Dort ging es darum, die Grenze zwischen dem poetischen Romandichter und dem historischen Geschichtsschreiber aufzuheben und in das Konzept eines poetischen Geschichtsschreibers zu transformieren: eines Geschichtsschreibers, dessen Aufgabe es ist, mit der Verwandlung des Wirklichen ins Mögliche eine »wahrscheinliche historische Fiction« zu erfinden und sich ihr gegenüber als »aufrichtiger Zeuge«⁴² zu verhalten. Auch der zu Beginn des zweiten Kapitels formulierte poetische Freibrief, Klaus Oettinger: Phantasie und Erfahrung. München 1970, S. 76. Ebd.
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wonach eine historisch wahre Geschichte »zuweilen viel seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein Romanen-Schreiber zu dichten wagen dürfte« (GA, S. 23), scheint vergessen zu sein. Stattdessen wird der die Welt des Möglichen frei gebrauchende »Romandichter« dem »arme[n] Geschichtsschreiber« (GA, S. 159) gegenübergestellt, der sich genötigt sieht, »auf einem engen Pfade, Schritt für Schritt in die Fußstapfen der vor ihm hergehenden Wahrheit einzutreten« und jeden Gegenstand, der ihm begegnet, getreu der Realität »abzumalen« (ebd.). Der Herausgeber identifiziert sich eindeutig mit der Rolle des ›armen Geschichtsschreibers‹, der sich dem Verdikt der historischen Wahrheit verschrieben hat und deshalb von jeder Form der Finalisierung Abstand nehmen muss. Auch wenn der Herausgeber »aus verschiednen Gründen in Versuchung« gerät (GA, S. 163), eine teleologische Umschrift der Geschichte des griechischen Autors vorzunehmen, verzichtet er schließlich doch darauf, »der historischen Wahrheit dieses einzige mal Gewalt anzutun, und unsern Agathon, wenn es auch durch irgend einen Deum ex Machina hätte geschehen müssen, so unversehrt aus der Gefahr, worin er sich würklich befindet, herauszuwickeln« (GA, S. 163, Herv. i. Orig.). Die Konsequenz einer gewaltsamen teleologischen Umschrift wäre nämlich gewesen, dass »diese einzige poetische Freiheit uns nötigen würde, in der Folge seiner Begebenheiten so viele andre Veränderungen vorzunehmen, daß die Geschichte Agathons würklich die Natur einer Geschichte verloren hätte« (GA, S. 163). Der narrative Herausgebereingriff unterbleibt also mit Hinweis auf eine Politik der Edition, der es um die ›historische Wahrheit‹ geht, wobei diese nicht nur den Status der Geschichte als ›wahrscheinliche historische Fiction‹ betrifft, sondern auch die »alte Urkunde« (GA, S. 517) als Monument. Dabei gerät die auf ›historische Wahrheit‹ abzielende Politik der Edition in ein poetologisches Paradox: Der Herausgeber darf nämlich selbst dann nicht in das griechische Manuskript eingreifen, wenn die Handlungsführung des griechischen Autors dem vom deutschen Herausgeber vertretenen Prinzip der Wahrscheinlichkeit widerspricht. Das heißt, der Herausgeber ist gezwungen, die Erzählung des griechischen Autors auch dann noch ›originalgetreu‹ wiederzugeben,⁴³ wenn sich dessen Erzählweise als nicht »allzu wahrscheinlich«, ja womöglich als »wunderbar« erweist. Damit hat die Aufspaltung der narrativen Funktionen direkte Rückwirkungen auf die »Finalproblematik des Romans«:⁴⁴ Sie führt die Brüchigkeit eines auf Geschlossenheit und harmonische Synthesis zielenden
Vgl. Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen (erstmals 1974). Frankfurt/M. 1996, S. 92. Frick: Providenz und Kontingenz (Anm. 6), S. 488.
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Romanprojekts vor,⁴⁵ und sie schafft mit der strikten Ebenendifferenzierung die Voraussetzung dafür, dass der Herausgeber eine ironisch distanzierte Haltung gegenüber den »teleologischen Eingriffen«⁴⁶ des griechischen Autors einnehmen kann. So heißt es zu Beginn des fünften Kapitels des zehnten Buchs: Der Autor der alten Handschrift, aus welcher wir den größesten Teil dieser Geschichte gezogen zu haben gestehen, triumphiert, wie man gesehen hat, darüber, daß er seinen Helden mit seiner ganzen Tugend von einem Hofe hinweggebracht habe. Es würde allerdings etwas sein, das einem Wunder ganz nahe käme, wenn es sich würklich so verhielte. (GA, S. 494)
Das Eingeständnis des deutschen Herausgeber-Übersetzers, die Geschichte Agathons zum »größesten Teil« aus einer alten Handschrift gezogen zu haben, impliziert eine Authentizitätssuggestion, die in direkter funktionaler Analogie zu dem Eingeständnis des Vorwortverfassers der Nouvelle Héloïse steht, er habe, wiewohl er »bloß des Herausgebers Namen« führe, »doch selbst mit an dem Buch gearbeitet«.⁴⁷ Wollte sich der ganze Text offen als Dichtung zu erkennen geben, wäre solch ein Hinweis überflüssig. Mithin verstärkt das editoriale Eingeständnis der Mitarbeit die Authentizitätsfiktion für all jene Teile, an denen der Herausgeber nicht mitgearbeitet hat. In gleicher Weise verstärkt die Aussage, die Geschichte des Agathon sei zum »größesten Teil« aus einer »alten Handschrift« gezogen, die Ebenendifferenzierung. Den »größesten Teil« macht demnach das Originalmanuskript des griechischen Autors aus, während der verbleibende kleinere Teil vom deutschen Herausgeber im Rahmen seiner Kommentarfunktion ›dazugeschrieben‹ wird.
Vom Herausgeber zum Autor: zwischen Leerstellenergänzung und Digression Die editorialen Akte des Dazuschreibens rahmen die editorialen Akte des Zitierens und haben entweder die Form der Leerstellenergänzung oder die der Digression. Im zehnten Buch, zu Beginn des vierten Kapitels, das mit »Nachricht an den Leser« überschrieben ist, heißt es: »Dank sei« (so ruft hier der Autor des griechischen Manuskripts, als einer, dem es auf einmal ums Herz leichter wird, aus) »Dank sei den Göttern, daß wir unsern Helden aus dem gefährlichsten aller schlimmen Orte, wohin ein ehrlicher Mann verirren kann, unversehrt, und was beinahe unglaublich ist, mit seiner ganzen Tugend davon gebracht haben! Er hat allerdings von Glück zu
Vgl. ebd. Ebd., S. 492. Rousseau: Neue Héloïse (Anm. 19), S. 5.
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sagen«, fährt das Manuskript fort; »aber – beim Hund (dem großen Schwur des weisen Socrates) was hatte er auch an einem Hofe zu tun? […]« (GA, S. 492)
Der Herausgeber-Übersetzer zitiert den griechischen Autor wörtlich, unter Verwendung von Anführungszeichen. Seine eigenen Kommentare markiert er durch Klammern, vollzieht also mit Hilfe editorialer Indices eine strikte Ebenendifferenzierung, da Anführungszeichen und Klammern dazu dienen, »Rahmen auseinanderzuhalten«.⁴⁸ Eine Seite später findet sich die Anzeige einer Textverderbnis, die durch einen editorialen Symptomkommentar gerahmt wird. Die an dieser Stelle stehenden »verschiedenen Digressionen« des griechischen Autors könnten, so der Herausgeber, nicht mitgeteilt werden, da »das Manuskript an diesem Ort halb von Ratten aufgegessen« beziehungsweise »durch Feuchtigkeit so übel zugerichtet« ist, »daß es leichter wäre, aus den Blätter der Cumäischen Sibylle, als aus den Bruchstücken von Wörtern, Sätzen und Perioden, welche noch übrig sind, etwas Zusammenhängendes herauszubringen« (GA, S. 493). Da die fehlenden Digressionen für den Fortgang der Geschichte des Agathon offensichtlich nicht relevant sind, stellt sich die Frage, welche diskursive Funktion der editoriale Hinweis auf die Textverderbnis an dieser Stelle hat. Frick interpretiert den Rattenfraß als »Ironisierung der Manuskript-Fiktion«,⁴⁹ lässt damit allerdings unberücksichtigt, dass mit der Ironisierung zugleich eine Bekräftigung der Manuskriptfiktion einhergeht. Plausibler scheint mir daher die folgende Erklärung, dass die Lücken im Manuskript als aufdringliche Rahmungshinweise für die Authentizität der Manuskripte und als Appelle zur editorialen Leerstellenergänzung fungieren.⁵⁰ Dabei folgt der Herausgeber exakt jenem Programm, das Wielands »Theorie und Geschichte der Rede-Kunst« propagiert: Er füllt die »Lücken« aus, »welche der Geschichtsschreiber gelassen hat«.⁵¹ Indem der Herausgeber die ›monumentalen Leerstellen‹ des griechischen Manuskripts ergänzt, kommt eine Dynamik in Gang, im Zuge derer der
Goffman: Rahmen-Analyse (Anm. 43), S. 254. Frick: Providenz und Kontingenz (Anm. 6), S. 490. Das Problem der Leerstellenergänzung wird auch in Wielands Roman Der goldne Spiegel thematisiert. Dessen erstes Vorwort, die »Zueignungsschrift an den Kaiser Tai-Tsu«, weist am Ende eine Lücke auf, die vom lateinischen Übersetzer wie folgt kommentiert wird: »Hier bin ich genöthigt gewesen eine Lücke zu lassen, welche sich zwar in meinem Sinesischen Exemplare nur zufälliger Weise befand, die ich aber aus Mangel eines anderen Exemplars nicht ergänzen konnte« (Wieland: Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt (1772), zitiert nach dem Faksimiledruck von: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier in Band II, Originalbände 6 und 7, hier Bd. II.6, S. XX). Wieland: »Theorie und Geschichte der Rede-Kunst« (Anm. 29), § 10, S. 344.
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Herausgeber als Quasi-Autor auftritt, sobald er in die Textlücken seine eigenen Gedanken als Digressionen einschreibt. Dieser digressive Akt des Dazuschreibens erweist sich als doppelte performative Geste. Mit dem Akt des Dazuschreibens wird eine parergonale Rahmung und eine partage der diskursiven Ebenen vollzogen. Dort die auktoriale Intentionalität des griechischen Autors, die finalisierend auf ein glückliches Ende abzielt; hier die editoriale Intentionalität des deutschen Herausgebers, der die performativen Rahmungsbedingungen eines poetologischen Konzepts reflektiert, das sich am Prinzip der Wahrscheinlichkeit orientiert. Das Wechselspiel dieser beiden intentionalen Einstellungen zeigt sich an der »Apologie des griechischen Autors«, in der der deutsche Herausgeber als Geschichtsschreiber argumentiert, wenn er die ›wundersame Poesie‹ des griechischen Autors auf ihr Verhältnis zum Wahrscheinlichkeitsprinzip hin befragt: Bis hierher scheint die Geschichte unseres Helden in hauptsächlichen Stücken, dem ordentlichen Lauf der Natur, und den strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit so gemäß zu sein, daß wir keinen Grund sehen, an der Wahrheit derselben zu zweifeln. Aber in diesem eilften Buch, wir müssen es gestehen, scheint der Autor aus dieser unsrer Welt […] ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret zu sein. (GA, S. 512)⁵²
Noch deutlicher wird der Herausgeber, wenn er kurz darauf bemerkt, der Schluss der Geschichte zeichne sich durch eine »nicht allzuwahrscheinliche Verbindung glücklicher Umstände« aus (GA, S. 513), ja dem griechischen Autor bleibe bei seinem Versuch, dem Charakter des Romanhelden und damit dem Romanende die »gehörige Konsistenz« (ebd.) zu verpassen, nur der diskursive »Sprung aus dem Fenster« (GA, S. 516). Hier wird deutlich, in welcher Form die Orientierung am Prinzip der Wahrscheinlichkeit die Ebenendifferenzierung verstärkt: Während der griechische Autor auf der intradiegetischen Ebene sein »nicht allzuwahrscheinliche[s]« Ende konstruiert, versucht der deutsche Herausgeber-Übersetzer, dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit zumindest auf der extradiegetischen Ebene Geltung zu verschaffen. Allerdings werden die Verstöße des griechischen Autors gegen das Prinzip der Wahrscheinlichkeit nicht korrigiert, sondern die an seiner Erzählung festgestellten Widersprüche zwischen dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen werden als Symptomkommentare in den editorialen Rahmendiskurs integriert. Das heißt, die auktoriale Intentionalität wird von der editorialen Intentionalität gerahmt. Dies belegt die folgende Passage, in welcher der Herausgeber schreibt:
Vgl. den Kommentar von Gerhart Mayer: Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart 1992, S. 32.
Erzählen im Rahmen der Herausgeberfiktion
Das Urteil mag indessen ausfallen wie es will, so beladet sich der Herausgeber, wie er schon erklärt hat, dessen nicht im geringsten. Die Absichten, warum er die alte Urkunde, welche zufälliger Weise in seine Hände gekommen ist, in einen Auszug von derjenigen Form und Beschaffenheit, wie die vorhergehenden zehen Bücher weisen, gebracht hat, sind bereits erreicht. Es ist verhoffentlich unnötig, sich hierüber näher zu erklären. Doch soviel können wir wohl sagen, daß er niemalen daran gedacht hat, einen Roman zu schreiben, wie sich vielleicht manche, ungeachtet des Titels und der Vorrede, zu glauben in den Kopf gesetzt haben mögen – und da dieses Buch, in so fern der Herausgeber Teil daran hat, kein Roman ist, noch einer sein soll; so hat er sich auch um die so genannte Schürzung des Knotens, und ob der Verfasser der Urkunde seinen Knoten geschickt oder ungeschickt entwickelt oder zerschnitten hat, wenig zu bekümmern (GA, S. 517).
An dieser Passage wird deutlich, dass die intentionale Einstellung des Herausgebers die eines Geschichtsschreibers ist, der für das originalgetreue Überliefern und Übersetzen der ›Urkunde‹ verantwortlich zeichnet, aber nicht für die diskursive Strategie der erzählten Geschichte, die ›so genannte Schürzung des Knotens‹. Indem der Herausgeber seine Funktion darauf beschränkt, den Roman des griechischen Autors zu zitieren und zu kommentieren, erklärt er zum einen, dass er für die Erzählweise des gerahmten Materials nicht verantwortlich ist, zum anderen begeht er einen performativen Selbstwiderspruch, der die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Rahmungsbedingungen lenkt: Hatte der Herausgeber im Vorbericht implizit eine ›wahrscheinliche historische Fiction‹ versprochen, so dementiert der Herausgeber an dieser Stelle sein Konzept eines poetischen Geschichtsschreibers. Er delegiert die Verantwortung für das nicht allzu wahrscheinliche Ende an den griechischen Autor und reklamiert für den von ihm zu verantwortenden editorialen Rahmendiskurs den logischen Status eines Nicht-Romans. Der Herausgeber zitiert als Geschichtsschreiber, der sich am Prinzip der Wahrscheinlichkeit orientiert, die Geschichte eines Autors, dessen Erzählweise bisweilen ›wunderbar‹ wirkt. Die vom Herausgeber im Haupttext vollzogene strikte Ebenendifferenzierung führt zu einer bemerkenswerten Konsequenz bei der Darstellung der ›inneren Geschichte‹ Agathons. So sieht sich der Herausgeber im zehnten Kapitel des ersten Buchs genötigt, die folgende editionsgeschichtliche Erklärung anzubieten, warum es ihm möglich ist, ein Selbstgespräch Agathons wiederzugeben: Da wir uns zum unverbrüchlichen Gesetze gemacht haben, in dieser Geschichte alles sorgfältig zu vermeiden, was gegen die historische Wahrheit derselben einigen gerechten Verdacht erwecken könnte; so würden wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbstgespräch, welches wir hier in unserm Manuskript vor uns finden, mitzuteilen, wenn nicht der ungenannte Verfasser die Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine Erzählung sich in den meisten Umständen auf eine Art von Tagebuch gründe, welches (sichern Anzeigen nach)
Uwe Wirth
von der eignen Hand des Agathon sei, und wovon er durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhalten. Dieser Umstand macht begreiflich, wie der Geschichtschreiber habe wissen können, was Agathon bei dieser und andern Gelegenheiten mit sich selbst gesprochen; und schützet uns gegen die Einwürfe, die man gegen die Selbstgespräche machen kann, worin die Geschichtschreiber den Poeten so gerne nachzuahmen pflegen, ohne sich, wie sie, auf die Eingebung der Musen berufen zu können. (GA, S. 37 f.)
Diese metadiegetische Manuskriptfiktion lässt keinen Zweifel daran, dass die ›innere Geschichte‹ Agathons von keinem auktorialen Erzähler beschrieben, sondern von einer editorialen Instanz zitiert wird.⁵³ Die relativ komplizierte Editionsgeschichte, die an die Stelle der für Herausgeberfiktionen typischen Auffindungsgeschichte tritt, dient dazu, die Authentizität des Tagebuchs aus »sichern Anzeigen« (GA, S. 38) abzuleiten. Allerdings kann die Beurteilung dieser »sichern Anzeigen«, sofern sie sich auf die genuine Indexikalität⁵⁴ des »von der eignen Hand« Geschriebenen stützen will, weder vom Herausgeber noch vom griechischen Autor vorgenommen werden, sondern muss sich auf jenen »Freund zu Crotona« berufen, von dem der griechische Autor eine Abschrift des Tagebuchs erhalten hat. Des »ungenannten Verfassers« anonymer »Freund zu Crotona« übernimmt damit zwei Funktionen: Er ist erstens der einzige auktoriale Bürge für die Authentizität der Geschichte Agathons, zweitens ist er der Kopist, der die Abschrift von Agathons Tagebuch besorgt hat. Das heißt, der »Freund zu Crotona« koppelt als Greffier die Transkriptionsfunktion mit der Beglaubigungsfunktion.⁵⁵ Das Original des griechischen Autors, auf das sich der deutsche Herausgeber bezieht, erweist sich mithin selbst als zitierende Abschrift, die eine auktoriale Rahmung erfahren hat. Diese auktoriale Rahmung unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der editorialen Rahmung, denn beide Rahmungsverfahren setzen einen Akt des Zitierens voraus. Die Darstellung der ›inneren Geschichte‹ Agathons ist so besehen das Resultat einer Doppelrahmung, wobei die editoriale Tätigkeit des deutschen Herausgeber-Übersetzers eine Spiegelung der auktorialen Tätigkeit des griechischen Autors ist: Die editoriale Tätigkeit des deutschen Herausgebers wird im Rahmen seiner Transkriptions- und Kommentarfunktion der auktorialen Tätigkeit des griechischen Autors Vgl. hierzu auch Wolfram Buddecke: C. M. Wielands Entwicklungsbegriff und die Geschichte des Agathon. Göttingen 1966, S. 184, für den das Selbstgespräch das Instrument ist, »um Höhepunkte des inneren Vorganges einerseits durch intensive Besinnung festzuhalten und herauszuarbeiten, andererseits sie überhaupt erst zu schaffen«. Zum Begriff der genuinen Indexikalität aus semiotischer Perspektive vgl. Uwe Wirth: »Zwischen genuiner und degenerierter Indexikalität: Eine Peircesche Perspektive auf Derridas und Freuds Spurbegriff«. In: Spur. Hg. v. Sybille Krämer. Frankfurt/M. 2007, S. 55-81. Vgl. Denis Diderot u. Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie. Band 7 (1757), Stichworte »Greffe« und »Greffier«, S. 924.
Erzählen im Rahmen der Herausgeberfiktion
gleichsam aufgepfropft, das heißt sie pflanzt eine »Rahmenfunktion in den Romantext«⁵⁶ ein, die den Raum für metafiktionale Reflexionen und metaleptische Rahmenbrüche konstituiert. So schreibt der deutsche Herausgeber im vierten Kapitel des achten Buchs: […] wir bedenken uns besser – was für Betrachtungen könnten wir anstellen, daß nicht diejenige welche Agathon selbst, sobald er Muße dazu hatte, über sein Abenteur machte, um soviel natürlicher und interessanter sein sollten, als er sich würklich in dem Falle befand, worein wir uns erst durch Hülfe der EinbildungsKraft setzen müßten, und die Gedanken sich ihm freiwillig darboten, ja wohl wider Willen aufdrangen, welche wir erst aufsuchen müßten. Wir wollen also warten, bis er sich in der ruhigern Gemütsverfassung befinden wird, worin die sich selbst wiedergegebene Seele aufgelegt ist, das Vergangene mit prüfendem Auge zu übersehen. (GA, S. 330)⁵⁷
Die Pointe dieser Stelle besteht darin, dass die »Hülfe der EinbildungsKraft« gerade nicht in Anspruch genommen werden muss, weil sich der Protagonist »würklich in dem Falle befand«, in dem sich ihm Gedanken »darboten« beziehungsweise »aufdrangen« (GA, S. 330). Dabei wird Agathon als Augenzeuge seiner eigenen ›inneren Geschichte‹ in Szene gesetzt, die vom Herausgeber als innere Gedankenrede originalgetreu zitiert wird. Diese Konstellation mündet in eine »narrative Metalepse«:⁵⁸ Um nicht zum Dichter werden zu müssen, wartet der Herausgeber – »wir wollen also warten« – und bittet den Leser mit ihm zu warten, bis sich der Protagonist »in einer ruhigeren Gemütsverfassung befinden wird«, damit sich ihm (dem Protagonisten) die Gedanken »freiwillig« darbieten, die der Herausgeber sonst mit »Hülfe der Einbildungskraft« erfinden müsste. Doch hier geschieht noch mehr: Der editoriale Akt des Zitierens kommt um der ›historischen Wahrheit‹ willen als Substitut des poetischen Akts der Erfindung ins Spiel. Zugleich wird der Akt des Zitierens aber auch zum Verschwinden gebracht: Dadurch nämlich, dass der extradiegetische Herausgeber auf die Rede Agathons Bezug nimmt, ohne die intradiegetische Instanz des griechischen Autors zu berücksichtigen. Das Resultat ist ein metaleptischer Rahmensprung: Der Herausgeber ist auf einmal in der Lage, die innere Gedankenrede Agathons als quasi-auktoriale Instanz wiederzugeben.⁵⁹ Der Herausgeber überspringt dabei die intradiegetische
Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit (Anm. 13), S. 327. Zugleich handelt es sich hier um eine der Stellen, die Blanckenburg als Beispiel für die von ihm geforderte Darstellung der »innern Geschichte« heranzieht, da die moralischen Betrachtungen durch den Herausgeber-Erzähler darauf beschränkt werden, »sich selbst sein innres Seyn aufzuklären und Rechenschaft davon zu geben« (Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig 1774 (Neudruck: Stuttgart 1965), S. 407 f.). Gérard Genette: Die Erzählung. München 1998, S. 168. Vgl. hierzu Wolfram Buddecke, der behauptet, der mit der Herausgeber- und Quellenfiktion einhergehende Anspruch auf »Geschichtlichkeit« impliziere eine »Begrenzung
Uwe Wirth
Ebene des griechischen Autors und tut so, als könne er Agathons Gedanken wie ein direktes Zitat anführen. Durch dieses ›Ausblenden‹ des griechischen Autors als dazwischenliegende Zitierinstanz erfährt die innere Geschichte Agathons eine ›Intradiegetisierung‹.
Zusammenfassung: Verhältnis von ›Herausgeber‹, ›Verfasser‹ und ›Autor‹ Halten wir abschließend fest: Die Geschichte des Agathon befindet sich im Übergang vom fingierten Herausgeber zum fiktiven Erzähler – ein Prozess, der einerseits eine quasi-auktoriale Instanz konstituiert, andererseits aber auch das Verhältnis von Autorschaft und Herausgeberschaft re-konfiguriert, wie sich an der mehrdeutigen Verwendung der Begriffe ›Herausgeber‹, ›Verfasser‹ und ›Autor‹ zeigt. Die erste begriffliche Überlappung ereignet sich im Vorbericht der ersten Fassung der Geschichte des Agathon von 1766, wo der Herausgeber zugleich als »Verfasser« auf sich Bezug nimmt. Dienen die Beschreibungen »Verfasser« und »Herausgeber« im Vorbericht der intransitiven Selbstbeschreibung derjenigen Instanz, die als Herausgeber das Vorwort verfasst hat, so nimmt der Herausgeber gegen Ende des Romans, in der »Apologie«, transitiv auf den griechischen Autor als »unseren Verfasser« Bezug (GA, S. 513 f.). Ihre Reprise findet diese begriffliche Überlappung der Selbstbeschreibung in zwei Fußnoten gegen Ende der 1773 hinzugefügten – auch in die Ausgabe der Sämmtlichen Werke 1794 aufgenommenen – Vorschrift »Über das Historische im Agathon«. Dort wird eine ausführliche Geschichte der Sokratischen Schule angekündigt und mit der folgenden Fußnote kommentiert: »Vielerlei meist bloß zufällige, aber darum nicht weniger unüberwindliche Hindernisse haben diese Idee, die der Verfasser lange mit sich herumtrug, nicht zur Ausführung kommen lassen. Der Herausgeber« (GA, S. 584). Die Frage, wer hier mit »Verfasser« gemeint ist und wer mit »Der Herausgeber« unterschreibt, ist weitaus schwieriger zu beantworten als im Vorbericht von 1766. Die Bezeichnung »Verfasser« kann sich nämlich nicht nur auf den griechischen Autor beziehen, sondern auch auf jene Instanz, die für die Disposition des Gesamttextes verantwortlich ist. Die Bezeichnung »der Verfasser« steht in diesem Falle wahlweise für einen implied author als Abbild des realen Autors Wieland⁶⁰ oder für eine diskursive Strategie, die alle der Erzählperspektive«, denn die »Pflichten eines Geschichtsschreibers verbieten die Einnahme eines allwissenden Standpunktes«. Buddecke: C. M. Wielands Entwicklungsbegriff (Anm. 53), S. 217. Das Problem der realen Autorschaft taucht auch an einer Stelle des Vorberichts auf, an der eine Fußnote erwähnt wird (GA, S. 14), die in der ersten Fassung von 1766 von seiten des Verlegers eingefügt wurde, offenbar mit der Absicht, das Gespräch zwischen
Erzählen im Rahmen der Herausgeberfiktion
Ebenen des Textes koordiniert. Doch welche Instanz unterschreibt dann mit »Der Herausgeber«? Offensichtlich führt die Fußnote einen konstitutiven Akt der Selbstrahmung vor, bei dem sich mit dem »Verfasser« und dem »Herausgeber« zwei quasi-auktoriale Instanzen am Rand des Textes begegnen. Der »Verfasser« ist diejenige Instanz, die für die Ausführung der Geschichte zuständig ist. Der »Herausgeber« kommentiert und reflektiert dagegen die performativen Rahmungsbedingungen – hier sind es die Hindernisse, die der Ausführung der Idee des Verfassers im Wege standen. Dabei übernimmt der Herausgeber gegenüber dem Verfasser nicht nur eine Rahmungsfunktion, sondern er weist sich als allwissende, auktoriale Instanz aus: Er weiß, dass der Verfasser seine Idee »lange mit sich herumtrug«, kennt mithin dessen ›innere Geschichte‹. Die Differenzierung zwischen ›Verfasser‹ und ›Herausgeber‹ erweist sich so besehen als Binnendifferenzierung eines impliziten, auktorialen Bewusstseins, das seine Funktion als Autor im Rahmen einer Herausgeberfiktion ausführt. Die Unterschrift »Der Herausgeber« fungiert dabei als Prosopopoiia der Funktion Herausgeber: als rhetorische Maske eines editorialen Dispositivs.⁶¹ Bestätigt wird diese These in der unmittelbar darauffolgenden, letzten Fußnote, die eine Bemerkung über die »Grundsätze des Aristipp« kommentiert. In dieser Fußnote heißt es: Dieses Urteil von der Philosophie Aristipps, und den Charakter, mit welchem er im Agathon aufgeführt ist, hat unser Autor (wenn wir nicht irren) durch die ausführliche Darstellung, die er von beiden in seinem Kommentar über die Horazischen Episteln gemacht hat, hinlänglich gerechtfertigt. Der Herausgeber. (GA, S. 584)
Wurde in der Geschichte des Agathon durchgängig nur der griechische Autor als »Autor« bezeichnet, so nimmt diese Fußnote eine Modulation des Begriffs ›Autor‹ vor: »Unser Autor« ist nicht mehr der griechische Autor, sondern der Kommentator der »Horazischen Episteln« – ein Text, der von Wieland selbst verfasst wurde.⁶² Die Kennzeichnung »unser Autor« bezieht sich also offensichtlich auf die Funktion Autor, die Wieland als Verfasser der Geschichte des Agathon und als Verfasser anderer, nichtfiktionaler, Texte hat. Doch auch hier stellt sich die Frage: Welche Instanz tritt in der Klammer »(wenn wir nicht irren)« auf und signiert mit »Der Herausgeber«? Die Signatur »Der Herausgeber« ist möglicherweise auch
Hippias und seinem Sklaven gegen Einwände der Zensur abzusichern (vgl. Klaus Manger: »Stellenkommentar« zur Geschichte des Agathon, GA, S. 968 ff.). Dabei stellt sich die Frage, welche Instanz auf diesen Eingriff des Verlegers reagiert. Vgl. hierzu Uwe Wirth: Die Geburt das Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008, S. 186 ff. Wieland besorgte Übersetzung und Kommentar der Horazischen Episteln, die allerdings erst 1782 erschienen.
Uwe Wirth
hier als Prosopopoiia der Funktion Herausgeber zu verstehen, die einen Akt der Selbstrahmung beglaubigt: ein Akt, bei dem sich der Autor nicht zum Verschwinden bringt, sondern bei dem Autorschaft als eine Form der Selbstherausgeberschaft vorgeführt wird.
Bernd Auerochs
Was ist Wahrheit? oder Einsichten und Schreibweisen Wielands philosophische Prosa und die menippeische Satire
Ralph Sichler zum 50. Geburtstag
I. Rahmen 1783, im ersten Jahrgang der Zeitschrift, erscheint in der Berlinischen Monatsschrift ein Aufsatz mit dem herzerwärmenden Titel Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei Vollziehung der Ehen zu bemühen. Autor des pseudonymen Texts ist der rührigere der beiden Herausgeber der Zeitschrift, Johann Erich Biester. Der Aufsatz enthält nicht nur ein Plädoyer für die Zivilehe, er klagt auch beredt über die »unselige Spaltung zwischen Kirche und Staat«¹ und visiert so etwas wie eine Zivilreligion an. Ihr Väter der Völker! Verbindet die Edlen unter den Religionslehrern mit Euch, die Wenigen, welche in der That das Glück des Volks suchen, wie Ihr es Eurer Schuldigkeit gemäß auch sucht. Es giebt ja nicht zweierlei Art Glük für Menschen, es kann nur Eines sein; Ihr arbeitet beide darauf, verbindet Euch! Laßt Politik und Religion, Gesetze und Katechismus Eins sein!²
Berlin in den frühen 80er Jahren des 18. Jahrhunderts, in den letzten Lebensjahren Friedrichs des Großen, war ein gutes Pflaster für die Religionskritik, vor allem für die staatsfromme. Trotzdem konnte Widerspruch gegen Biesters Vorschlag nicht ausbleiben. Einer, der sich zu Wort meldete, wiederum in der Berlinischen Monatsschrift, war Johann Friedrich Zöllner, der in Frankfurt an der Oder beim Neologen Töllner Theologie studiert hatte und inzwischen selbst den Kreisen der Berliner Aufklärung angehörte. Auch Zöllner kann sich, wie Biester, nicht auf den Problemkomplex der Zivilehe beschränken. Vor allem versucht er die Ehre der »Religionslehrer« gegen seinen Opponenten zu verteidigen. »Ich kenne Religionslehrer genug,« schreibt er,
Berlinische Monatsschrift 2 (1783), S. 271. Ebd., S. 272.
Bernd Auerochs
die praktische, fürs Menschenglük brauchbare Religion predigen; und ich würde heute einen andern Stand wählen, wenn ich nicht durch Thatsachen überzeugt wäre, daß nicht alles Predigen, und vornehmlich nicht der Unterricht der Jugend, vergeblich ist. Freilich ist indessen zu besorgen, daß durch beides in Zukunft noch immer weniger wird ausgerichtet werden; wenn man ferner so kräftige Maßregeln anwendet, die ersten Grundsätze der Moralität wankend zu machen, den Werth der Religion herabzusetzen, und unter dem Namen der Aufklärung die Köpfe und Herzen der Menschen zu verwirren.³
In dieser Passage trägt die Aufklärung einen sie schmückenden Asterisken, und der Asterisk führt den Leser zu einer entrüsteten Fußnote: »Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!«⁴ Die Klage Zöllners lässt ein ernsthaftes und unbefangenes Anliegen erkennen. Über die zentralen Begriffe, mit deren Hilfe wir uns verständigen, sollten wir uns doch wahrhaft einig sein, und wenn eine solche Einigung bislang nicht stattgefunden hat, dann müssen wir sie schleunigst nachholen; um so dringlicher wäre dies, wenn tatsächlich der Name der Aufklärung missbraucht würde und dazu angewandt, Köpfe und Herzen von Menschen zu verwirren. Zöllner wurde, wie man weiß, gründlich geholfen. Seine arglose Fußnote löste – mit einem Schwerpunkt in den Jahren 1784 und 1785 – eine lebhafte Debatte nicht nur auf den Seiten der Berlinischen Monatsschrift aus und brachte zwei klassische Texte aus der Feder von Mendelssohn und Kant hervor, die bis heute bekannt geblieben sind und gelesen werden. Danach hätte man eigentlich wissen können, was Aufklärung ist. Heute kann es jedes Kind mit Abitur nachsagen, »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«.⁵ Indes erschien, als die Debatte längst abgeebbt war, viel zu spät, um noch als Beitrag zu ihr gelten zu können, im Teutschen Merkur im April 1789 ein merkwürdiger Text mit dem Titel Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen, der auf frappierende Weise – gleich noch zu besprechende – Zweifel daran erweckt, ob es sich bei ihm wirklich um einen philosophischen Traktat handelt.⁶ Die Philosophiehistoriker, die sich mit der Geschichte der von Zöllner ausgelösten Debatte befasst haben, haben gegenüber diesem Text sowohl Arglosigkeit wie auch Misstrauen gezeigt. Ehrhard Bahr nahm ihn – vielleicht verleitet vom
Johann Friedrich Zöllner: »Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?« In: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), S. 508-517, hier: S. 516. Ebd. Herv. i. Orig. Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (S. Decemb. 1783, S. 516)«. In: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 481-494, hier: S. 481. Der Teutsche Merkur (im Text zitiert mit der Sigle TM), 2/1789, S. 94-105.
Was ist Wahrheit? oder Einsichten und Schreibweisen
Ansehen des Autors Wieland – 1974 in seine kleine Reclam-Anthologie zur Diskussion des Aufklärungsbegriffs im 18. Jahrhundert auf – nicht ohne freilich eigenmächtig den Titel des Textes zu verändern und die Rahmenerzählung, in die die sechs Antworten auf die sechs Fragen bei Wieland eingebettet sind, wegzulassen.⁷ In Bahrs Anthologie erscheint Wielands Text aufgrund dieser Verstümmelungen beinahe wie ein ungebrochen ernsthafter Versuch, die Frage, was Aufklärung sei, zu beantworten. Scharfsinniger war da Norbert Hinske, der die Diskussionen in der Berlinischen Monatsschrift in einer verdienstlichen Faksimile-Edition präsentierte. Er nannte Wielands Text, den er nur beiläufig erwähnte, »eine Art Persiflage auf die schier uferlose Literatur zu diesem Thema«, die im Gefolge von Zöllners Frage erschienen war.⁸ Auch die noch wichtigere Frage, die Zöllner benannte, die Frage: was ist Wahrheit? hat Wieland zu beantworten versucht, wenngleich bereits zu einer Zeit, die um ungefähr die gleiche Frist vor Zöllners Frage liegt wie die Goldkörner nach ihr. Liest man diesen – unter dem Titel Was ist Wahrheit? bekannt gewordenen – Text in der Göschen-Ausgabe,⁹ so dürfte man kaum auf den Gedanken kommen, dass es sich bei ihm um eine Persiflage handeln könnte. Für einen Text, der intentione recta ein philosophischer Traktat sein möchte, qualifiziert er sich deutlich besser als die Goldkörner. Sucht man indes auch für diesen Text den Erstdruck auf, so darf man mit Staunen bemerken, dass der Aufsatz an seinem ursprünglichen Erscheinungsort – dem Teutschen Merkur vom April 1778 – eine andere Gestalt hatte. Er war dort nur Teil eines größeren Textes. Ihm folgte eine zweite – unter dem leicht irreführenden Titel Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet ebenfalls in die Göschen-Ausgabe aufgenommene¹⁰ – Abhandlung. Vorangestellt aber war den beiden Texten wiederum eine Art Rahmenerzählung, die den Leser zunächst auf eine »Reise durch das Land der Philosophie«¹¹ mitnahm. Der Titel, den der Gesamttext trug, lautete Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen¹² – ein versprengter Fund also wie
Christoph Martin Wieland: Sechs Fragen zur Aufklärung. In: Ehrhard Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart 1974, S. 23-28. Norbert Hinske (Hg.): Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. Darmstadt ⁴1990, S. XLII (Anm. 63). Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier im Text zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl, hier VIII.24, S. 41-54. Ebd., S. 57-70. TM, 2/1778, S. 4. Ebd., S. 3-30.
Bernd Auerochs
die Goldkörner, ja sogar in – »Fragmente von Beyträgen« – doppelt vom Ganzen abgesprengter Gestalt.¹³ Wir haben es mithin in beiden Fällen – bei den Goldkörnern wie bei Was ist Wahrheit? – mit Texten zu tun, die einerseits eine wichtige philosophische Grundsatzfrage in sokratischer Was ist-Gestalt in den Blick nehmen oder zumindest so tun, als täten sie dies. Beide Texte aber inszenieren auch um diese Frage herum eine Art Ablenkung von ihr, über ihre Schreibweise, die die ernsthafte sokratische Frage zu unterlaufen scheint. Ich werde mich zunächst den literarischen Verfahren zuwenden, die Wieland für diese Ablenkung in Dienst nimmt, und sie dann der literarischen Tradition zuordnen, in die sie gehören. Schließlich möchte ich die Frage nach dem Sinn dieser Koppelung von philosophischer Grundsatzfrage und von ihr ablenkenden Schreibweisen stellen. Doch zunächst, wie gesagt, zu Wielands Schreibweisen. Besonders klaren Aufschluss versprechen hier diejenigen Teile seiner beiden Texte, die ich ihre Rahmenerzählungen genannt habe.
II. Hinfälligkeiten Die Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen beginnen mit einem Zitat: Als wir weiter vorrückten, entdeckten wir verschiedene feine Tempel von allerley Bauart, deren Baumeister und Priester uns entgegen kamen, um uns jeder in den seinigen, mit ernstlicher Verwarnung vor den übrigen Aftertempeln, einzuladen. Das Gedräng und die Mannichfaltigkeit des Schauspiels nahm zu, je näher wir kamen. Es gab Eyferer unter diesen Leuten, die nicht genug daran hatten, ihr Götzentempelchen für das einzige auszugeben; sie wollten auch, daß es würklich das einzige seyn sollte; stürmten also mit Mauerbrechern und Hebebäumen, Fackeln und Pechkränzen herbey, die übrigen anzuzünden und zu zerstören. Die Besatzung von innen wehrte sich mit Zähnen und Klauen; aber der Erfolg betrog ihre Hofnung! Da die Gebäude, hinter denen sie sich wehrten, meistens nur von Holz oder gar nur von Leimen und Stroh waren, so fiengen sie Feuer wie Zunder, und fielen auf den ersten Stoß zusammen.¹⁴
Die hier skizzierten Umbenennungen haben gelegentlich zu Verwirrung in der Wieland-Forschung geführt. Unglücklicherweise gibt es nämlich einen anderen Text, den Wieland unter dem Titel Was ist Wahrheit? im Teutschen Merkur publizierte. (Junius 1776, S. 231-237) Dabei handelt es sich um eine kurze fiktive Szene zwischen einer Lady Fancyful sowie einer französischen und einer englischen Kammerjungfer, an die sich eine knappe Reflexion Wielands anschließt. Mit der Abhandlung Was ist Wahrheit?, die ihren Titel, wie gesagt, erst in der Göschen-Ausgabe erhalten hat, hat diese Szene nichts zu tun. Die Quellenangabe bei John A. McCarthy: »›Die Zuchtrute der Kritik‹ und die wahre Bestimmung des Menschen – Politische Essays«. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 362-373, hier: S. 365 ist in diesem Sinne zu korrigieren. TM, 2/1778, S. 3 f.
Was ist Wahrheit? oder Einsichten und Schreibweisen
Usw. Die Reisenden gelangen noch zu den »prächtigen Ruinen morgenländischer und griechischer Tempel«, sehen Lückenflicker am Werk und müssen schließlich einsehen, dass selbst den »herrlichen Tempeln von Porphyr, Jaspis, Marmor, Gold und Elfenbein, von Trismegistus, Zoroaster, Plato und Aristoteles erbaut,« kein anderes Schicksal zuteil wurde, als endlich zusammenzustürzen.¹⁵ Die »Reise durch das Land der Philosophie« zeigt die Vergeblichkeit und den Wahnwitz des in imposanten Lehrgebäuden aufgerichteten Wissens. Wieland macht den Übergang zu seinem eigenen bescheideneren Beitrag zur Philosophie, der denn auch in dieser Merkur-Fassung die einfachen Überschriften »Wahrheit« und »Bescheidenheit« trägt,¹⁶ indem er darauf verweist, dass im 18. Jahrhundert die Freude an Systemen und Lehrgebäuden stark abgenommen und eine begrüßenswerte Tendenz zu Erfahrungsnähe und Eklektizismus in die Philosophie Einzug gehalten habe. Die Goldkörner beginnen nicht mit einem Tableau der Hinfälligkeit des philosophischen Wissens; sie weisen auf die Hinfälligkeit der materiellen Überlieferungsträger solchen Wissens hin. Der Herausgeber des Merkur gibt vor, zufällig auf jene sechs Fragen, die er mit sechs Antworten versieht, gestoßen zu sein, indem er einen Blick auf einen als Einwickelpapier einer Broschüre von der aktuellen Leipziger Messe dienenden Makulaturbogen warf. Er rettet die Fragen und bewahrt sie so vor dem üblichen Schicksal des Makulaturbogens. Was aber ist das übliche Schicksal eines Makulaturbogens? Ohne dass er auf das altehrwürdige deutsche, den Lesern des Merkur jedoch womöglich anstößige Wörtchen ›Arschwisch‹ zurückgreifen muss, gibt Wieland hinreichend deutlich zu verstehen, wohin sein Lebensweg den Makulaturbogen führt. »Jedermann weiß was Maculatur ist, wozu sie gebraucht wird, und was es gewöhnlich für ein Ende mit ihr nimmt, wenn sie auf gutes weiches ungeleimtes Papier gedruckt ist.«¹⁷ Der Leser, der weiß, welche Rolle in der öffentlichen Debatte über den Aufklärungsbegriff wenige Jahre zuvor die hehre sogenannte »Bestimmung des Menschen« spielte, darf schmunzeln, wenn er von der »Bestimmung« solchen Papiers liest: »Ich dachte wohl, als ich von ungefähr ein Blatt von dem mehrbesagten Maculaturbogen abriß, an nichts weniger, als daß ihn das Schicksal bestimmt habe zu einem so weit über seine eigentliche Bestimmung erhabenen Gebrauch veredelt zu werden.«¹⁸ Und er darf aufmerken, wenn er begreift, dass das Wörtchen »Maculatur« im Titel des Aufsatzes – platziert hinter einem die Aufmerksamkeit anstachelnden echt Wieland’schen Gedankenstrich – anstelle eines anderen Wörtchens
Ebd., S. 4. Ebd., S. 9; S. 17. TM, 2/1789, S. 94 f. Ebd., S. 95.
Bernd Auerochs
steht, das auch mit M beginnt und das man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als »Mist« identifizieren kann. Gold aus Mist – ein Motiv aus der Alchimie und, vermittelt über die Alchimie, auch aus der literarischen Tradition.¹⁹ Ist der Leser durch solch auffällige Konzentration auf den Verdauungstrakt, dessen Endprodukte und den entsorgenden Umgang mit ihnen hellhörig geworden, darf er gerne nochmals zu den Fragmenten von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen zurückkehren – und dort den Verdauungstrakt wiederfinden. Just am Ende seiner einleitenden Rahmenerzählung, also unmittelbar vor dem »Beytrag« zur »Wahrheit«, präsentiert Wieland das, was er als Philosophie vorzulegen gedenkt, in höchst zweideutiger Sprache als »Victualien«, die im Grunde für jedermann bekömmlich sein müssten: Daher trage dann auch ich hiermit meine kleine Gabe zur gemeinen Nothdurft bey, bestehend in allerley theils rohen, theils nur aus der ersten Hand verarbeiteten Materialien, so gut als sie auf meinem Grund und Boden gewachsen sind. Es soll mir lieb seyn, wenn sich hier und da jemand findet, der sie zu was brauchen kann. Wie man sehen wird, sind auch einige Victualien mit darunter, die sich, zum Theil nicht lange aufbewahren lassen möchten, und also frisch genossen werden müssen, wenn sie Jemanden zu gut kommen sollen. Ein Schelm giebts besser als ers hat. Wenigstens ists einfache gesunde Kost, woran sich niemand den Magen verderben wird – der ihn nicht schon vorher verdorben hat. Und für solche kann gelegenheitlich auch mit Digestiven und Abführungsmitteln gesorgt werden.²⁰
III. Ablenkungen Man könnte gut die Suche nach den Ablenkungen, die die philosophischen Grundsatzfragen »Was ist Aufklärung?« und »Was ist Wahrheit?« bei Wieland erfahren, über die Rahmenerzählungen hinaus in die mehr traktathaften Teile seiner Texte weitertreiben. Man würde dann z. B. in Was ist Wahrheit? feststellen, dass bereits der erste Satz der Abhandlung die offene Frage »Was ist Wahrheit?« in ein Zitat verwandelt, das nur noch der Form nach eine Frage ist, der Sache nach aber schon eine Form ihrer Beantwortung. »Was ist Wahrheit?« sagte Pilatus im wegwerfenden Duktus eines Skeptikers, und Wieland weist darauf hin.²¹ Man könnte auf die Hartnäckigkeit verweisen, mit der in den Goldkörnern der philosophische
»So wird sich der geneigte Leser nur des Adepten zu erinnern brauchen, der den Versuch machte (ob er ihm gelungen oder mißlungen ist, weiß ich nicht) aus einer gewissen unnennbaren Materie den Stein der Weisen zu ziehen, um die obige Aufschrift [die Überschrift seines eigenen Textes; B. A.] so deutlich zu finden als es die Sache nur immer gestatten will.« (Ebd.) TM, 2/1778, S. 8 f. Ebd., S. 9. – Vgl. das Neue Testament, Joh. 18, 38.
Was ist Wahrheit? oder Einsichten und Schreibweisen
Charakter der Frage »Was ist Aufklärung?« dadurch unterlaufen wird, dass Wieland sie wörtlich (und damit tautologisch) nimmt und sie streng im Bereich des sinnlichen Gegensatzes von Licht und Dunkel hält. »Was ist Aufklärung? Antwort: Das weiß jedermann der vermittelst eines Paars sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen hell und dunkel, Licht und Finsternis besteht.«²² Oder: »Ueber welche Gegenstände kann und muß sich die Aufklärung ausbreiten? Drolligte Frage! Worüber als über alle sichtbare Gegenstände? Das versteht sich doch wohl, dächte ich.«²³ Oder man würde, nun wiederum in Was ist Wahrheit?, auf die durchgehende Metapher der Wahrheitsdame stoßen, die von verschiedenen Rittern umworben wird. Und uns würde, als bedürfte es eines Hinweises, Wielands Bemerkung: »Ist dies Bild zu komisch?« auffallen, die er fallen lässt, nachdem er zuvor den Meister des ironischen Epos, Ariost, bemüht hat: Und sobald ihrer Zween sich über ihren ausschließenden Besitz [d. h. den Besitz der Wahrheit; B. A.] in die Haare gerathen, so darf man sicher rechnen, daß sie es ihnen macht, wie Angelika den beyden Rittern im Ariosto: während daß die tapfern Männer sich bey den Köpfen haben, geht die Dame davon, und mockiert sich über beyde.²⁴
Statt die Belege zu häufen, können wir uns jedoch auch die Frage stellen, ob es nicht eine literarische Tradition gibt, die die bislang angeführten Züge von Wielands philosophischer Prosa in einen gemeinsamen, kenntlichen Habitus versammelt. Der Blick für die Vergeblichkeit und Komik allen philosophischen (und vielleicht auch sonstigen menschlichen) Wissens; die (vor allem im Reichtum von Anekdoten und Zitaten sich bekundende) Gelehrsamkeit und der Spott über sie; die Vorliebe für das Materielle (und die mit ihr einhergehende Relativierung des Geistigen); das Reisemotiv und die ironische Behandlung der Initiation in Mysterien; die Neigung zum Verdauungstrakt und die Liebe zum literarischen Spiel mit den Tabuzonen des menschlichen Körpers; die Freude an der Vergänglichkeit; die Freude daran, das Unterste zuoberst kehren zu können und umgekehrt (z. B. in der menschlichen Sprache, wenn man am wörtlichen Verständnis festhält, wo die Metapher gefragt ist, und die Metapher hervorzieht, wenn ein Ausdruck nach dem wörtlichen Verständnis ruft); die lose Form, auf die bereits im Titel hingewiesen wird – gibt es eine gemeinsame literarische Tradition für diese Motive? Nun, diese Tradition gibt es in der Tat: es ist die Tradition der menippeischen Satire. In den beiden Beispielen philosophischer Prosa Wielands, die ich soeben vorgestellt habe, ist der Autor Menippeer.
TM, 2/1789, S. 97. Ebd. TM, 2/1778, S. 15 f.
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IV. Zeugungen Die Beziehung zwischen der Philosophie und der menippeischen Satire gehört zu den dunkelsten und unerforschtesten Gebieten der abendländischen Geistesgeschichte.²⁵ Auf der Oberfläche bietet sich zunächst das Verhältnis der Gegnerschaft dar: von Lukians Verkauf der philosophischen Secten bis hin zu Sternes Walter Shandy sind die Philosophie und das Wissen Stoff des Verlachens für die Menippeer und eine unerschöpfliche Quelle der Komik. Wäre dies alles, so bräuchte die Philosophie die menippeische Satire nicht ernst zu nehmen. Indem der Menippeer die Philosophie herabzieht, verkennt er sie; und wer den Philosophen misskennt, behält vielleicht einen Zipfel seines Mantels in Händen, die Philosophie selbst entgeht ihm. Die eigentliche Verstörung, die im Verhältnis von Philosophie und menippeischer Satire verborgen liegt, beginnt sich erst zu zeigen, wenn man ihre Verwandtschaft zu ahnen beginnt. Der Versuch, das Ewige und Unveränderliche in Reinheit zu erkennen, und die zügellose Bereitschaft, dem Vergänglichen zu huldigen und das undefinierbare Etwas zu kultivieren, sind engstens miteinander verschwistert. Eine solche Erkenntnis sollte man, wie eine Arznei, die ein Gift ist, nur vorsichtig in sich einsickern lassen. Sie hat etwas definitiv Unverträgliches an sich. Es ist, als stellte man seine Ohren im Dunkeln auf, um ein klares, erhellendes Wort zu hören; über eben dieses Ohr aber leckte, dumpf und betäubend, erschreckend nah, eine klebrige feuchte Schnauze. Ein Lecken als Antwort auf ein Lauschen. Aus dem philosophischen Dialog und aus der philosophischen Diatribe, speziell der Diatribe der kynischen Schule, geht die menippeische Satire hervor. Und damit der ehrwürdige Vater sich nicht schämen muss, ein so kindisches Kind gezeugt zu haben, ist das Umgekehrte ebenso wahr: das kindische Kind hat den ehrwürdigen Vater gezeugt. Die geistige Verwandtschaft der wechselseitigen Abkömmlinge zeigt sich in der gemeinsamen Feindschaft gegen die Doxa, die behäbige vorherrschende Interpretation der Wirklichkeit. Gegen sie werden Welten entworfen, die einmal wahr sein sollen und einmal ihren phantastischen Charakter offen
Daran haben auch zwei neuere wichtige Studien zur Satire in der frühen Neuzeit nichts geändert: Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994 (insbesondere: S. 87-167); Christoph Deupmann: ›Furor satiricus‹. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2002. Deupmann berücksichtigt in vorbildlicher Interdisziplinarität juristische, medizinische, pädagogische und theologische Kontexte der Diskussion um die Satire. Man wird ihm kaum vorwerfen können, dass er die Philosophie nicht auch noch in seine ohnehin sehr gründliche Studie miteinbezogen hat. Die Forschungsaufgabe wäre eine von den hergebrachten Methoden der Doxographie emanzipierte Untersuchung der Geschichte des philosophischen Dialogs im Lichte der menippeischen Satire.
Was ist Wahrheit? oder Einsichten und Schreibweisen
einbekennen. Und doch ist Platons Timaios nicht weniger phantastisch als Lukians Wahre Geschichten. Beide, die Philosophie wie die menippeische Satire beginnen das Derangement ihrer Wühlarbeit mit einer Gründungsgeste: sie schenken keinen Glauben. Und da das Herrschende und Bestehende rachsüchtig ist, rächt es sich mit derselben geizigen Geste an der menippeischen Satire wie an der Philosophie. Auch ihnen wird kein Glauben geschenkt. Welcher Hörer hätte je einer Lügengeschichte geglaubt, und welcher Philosoph einem anderen Philosophen? Indes müssen all diese Verwandtschaften solange als bloße Sophismen erscheinen, solange nicht der grundsätzliche Gegensatz zwischen dem Ernst des Philosophen und dem Unernst des Menippeers miteinander vermittelt sind. Einen wichtigen Hinweis für die Auflösung dieses Problems hat Michail Bachtin gegeben. In seiner bahnbrechenden Studie Probleme der Poetik Dostoevskijs hat er, anknüpfend an die antike Vorstellung des spoudogeloion, den sokratischen Dialog und die menippeische Satire die »zwei Gattungen aus dem Bereich des Ernsthaft-Komischen von ausschlaggebender Bedeutung« genannt.²⁶ Er hat eigens auf die beiden selbstironischen Selbstbilder des Sokrates verwiesen, die ihn mit dem Bereich des Sexuellen verknüpfen: den Kuppler und die Hebamme.²⁷ Und er hat als Kern des sokratischen Dialogs die »Provokation des Wortes durch das Wort« hervorgehoben²⁸ – so wie er umgekehrt den »philosophischen Universalismus« der Menippeer betonte.²⁹ Sokrates, der in sich den Frieden des Denkens gefunden hat und bereit ist, alles dem Denken zu unterwerfen, ist dennoch gezwungen, sich auf den Markt zu begeben, wo das Denken nicht herrscht. Die Philosophie muss die eingefriedete Schädelstätte des Kopfes verlassen und sich durch die Welt kämpfen. Und da sie jederzeit in der Unterzahl ist und immer in Gefahr, der Gewalt zu unterliegen, darf sie nicht wählerisch in ihren Mitteln sein. Sie darf den Spott und die Erfindung ebensowenig verschmähen wie die Verstellung und das Schweigen, und derjenige, der den Leuten auf der Straße vorwirft, sie könnten unmöglich meinen, was sie sagen, wird selbst oft nicht sagen dürfen, was er meint. Das Risiko des Unernstes muss eingehen, wer den Ernst nicht als bloßen Wahn für sich behalten will. Geradezu als Gleichnis dieser Beziehung zwischen dem Denken und seinem Austritt in die Welt kann jenes Bild gelten, das im platonischen Symposion Alkibiades von seinem verehrten Lehrer Sokrates entworfen hat: der fratzenhafte Satyr oder Silen, der dem Bildnis einer Gottheit zur verhüllenden Schale
Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 121. Zum Zusammenhang vgl. man insgesamt S. 119-133. Ebd., S. 122 f. Ebd., S. 123. Ebd., S. 129.
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dient, der von Lasteseln, Schmieden, Schustern und Gerbern spricht und dessen Reden inwendig trotzdem Vernunft enthalten.³⁰ Die Persiflage oder der Spott ist also nicht das einzige Wort, das die menippeische Satire über die Philosophie zu sagen hat; sie versteht sich auch als schamlos nach außen gekehrtes Organ des Denkens. In diesem Doppelverhältnis bildet sich aber auch eine sehr viel allgemeinere Beziehung ab: diejenige zwischen Denken und Schreiben. Die innere Unendlichkeit des Denkens bringt es mit sich, dass man durch die Denkbewegung allein niemals den Raum des Denkens verlassen kann. Das Schreiben hingegen präsentiert das Denken wie auf einer Bühne und rahmt und relativiert es damit – ein Akt der Frechheit wie der Kränkung gegenüber dem Denken, denn er impliziert, dass das Denken nicht schon selbst das Ganze ist, um das es der Philosophie geht. Zugleich artikuliert das Schreiben aber auch das Denken, nicht in jener Reinheit, an der dem Denken gelegen wäre, sondern in der Unreinheit, die ein untrügliches Kennzeichen der Aktion und des Kampfes ist, und an der der Menippeer seine Freude hätte. Natürlich: der Leser platonischer Dialoge folgt einem Denken, aber er folgt diesem Denken bis hin zum Zorn des Thrasymachos, den es hervorruft, oder bis hin zum Gelächter, das Sokrates manchmal erntet. Dem Denken ist es ganz ernst, aber das Schreiben kann nicht umhin, diesen Ernstfall durchzuspielen.
V. Selbstverständlichkeiten Die lebendige Interaktion zwischen Philosophie und menippeischer Satire, an deren historische Wurzeln ich soeben zu rühren versucht habe, wird entscheidend durch die Professionalisierung der Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert geschwächt. Der Dialog tritt als philosophische Hauptgattung gegenüber dem philosophischen Aufsatz zurück. Die Selbstverständlichkeit, dass der Philosoph auch ein Schriftsteller zu sein habe, gerät mehr und mehr in Vergessenheit; es sind einzelne Randgänger der Philosophie wie Kierkegaard, Wittgenstein oder Derrida, die darauf bestehen, ihren Lesern, die ein Denken fassen wollen, zunächst eine Schreibweise entgegenzuhalten. Für Wieland hingegen – um zu ihm zurückzukehren – müssen wir noch von anderen Verhältnissen ausgehen. Nicht nur waren ihm die wichtigsten Autoren der menippeischen Tradition vertraut; er hat sich auch einer der bedeutendsten Figuren am Ursprung der menippeischen Satire, Lukian von Samosata, in langwieriger und identifikatorischer Übersetzungsarbeit gewidmet und damit den (bis heute) maßgeblichen »deutschen Lukian« Vgl. Platon: Symposion 221 d – 222 a.
Was ist Wahrheit? oder Einsichten und Schreibweisen
geschaffen.³¹ Die im zeitlichen Umfeld dieser Übersetzungsleistung entstandenen Goldkörner, aber auch der ältere Text Was ist Wahrheit? sind lukianisierende Texte. Darüber hinaus hat Wieland an der schriftstellerischen Praxis eines seiner wichtigsten Vorbilder lernen können, wie man Philosophie und menippeische Satire miteinander verbinden kann: Lord Shaftesbury. In den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als Wieland seinen grundsätzlichen weltanschaulichen Orientierungsrahmen vom Christentum hin zur antiken Philosophie verschob, hat er Shaftesbury zum Führer bei diesem Abenteuer gewählt. Shaftesburys philosophisches Projekt bestand darin, das antike Denken unter den ihm wenig günstigen Bedingungen der Moderne zu wiederholen. Das implizierte, dass es nicht darauf ankam, im Denken Unerhörtes und Neues zu finden. Es wurde in der Vergangenheit genügend, ja eigentlich viel zu viel gedacht. Aber zu jeder Zeit muss neu geschrieben werden. Die Hindernisse, die sich vor demjenigen auftürmen, der Zugang zur Philosophie zu erlangen versucht, sind in jeder Generation formidabel. Sie müssen beiseitegeschafft werden. Um zu diesem Ziel zu gelangen, knüpft Shaftesbury direkt an die literarischen Formen der antiken philosophischen Überlieferung an. Das berühmte Soliloquy, or Advice to an Author übernimmt die Form der kynisch-stoischen Diatribe, speziell der Diatribe des Stoikers Epiktet, schließt also an jene Gattung an, in der die Philosophie und die menippeische Satire noch ungetrennt beieinander waren. Das explizite Thema des Soliloquy aber ist das Problem des Schreibens der Philosophie.³² Shaftesbury war ein Philosoph, der sich als Schriftsteller verstand. Wieland war ein Schriftsteller, der, wenn er gelegentlich als Philosoph dilettierte, dies jedenfalls als Schriftsteller zu tun wünschte. Er teilte mit Shaftesbury die Überzeugung, dass der Fundus der dem Menschen zuträglichen Wahrheit durch das Studium der antiken Philosophie, der »sokratischen Schule« in all ihren Verzweigungen, zu erschließen sei. Diese Wahrheit war jedem zugänglich, denn sie war im Grunde einfach und –
Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. Leipzig 1788 – 1789. Zur identifikatorischen Haltung Wielands vgl. seine von Böttiger überlieferte Äußerung: »Seine [Wielands; B. A.] dichterische Schwärmerei geht so weit, daß er, als er den Horaz übersetzte, oft im Ernste behauptete, die Seele des Horaz sei in ihm wohnhaft, und so auch beim Lucian.« (Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Hg. v. Klaus Gerlach u. René Sternke. Berlin 1998, S. 32 f.) Vgl. Bernd Auerochs: »›No more Mirrour-Writing‹. Shaftesbury und das Ungesellige an der modernen Geselligkeit«. In: Ungesellige Geselligkeit. Festschr. f. Klaus Manger. Hg. v. Andrea Heinz u. a. Heidelberg 2005, S. 45-71, insbesondere S. 49-53. – Zur generellen Korrektur des gerade innerhalb der deutschen Forschungstradition stark verzeichneten Shaftesbury-Bildes vgl. Mark-Georg Dehrmann: Das »Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008.
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bereits bekannt. Wie bei Shaftesbury resultierte aus solchen Überzeugungen eine gewisse Skepsis gegenüber der Moderne und ihrem Komplexität ausbildenden Zivilisationsprozess. Für eine solche »provozierend unterkomplexe«³³ Philosophie aber konnte man die menippeische Tradition in ausgezeichneter Weise in Dienst nehmen. Ihre philosophiekritischen Motive konnten dazu benutzt werden, die überflüssig komplexen Gestalten der Philosophie fragwürdig erscheinen zu lassen und den lachenden Philosophen (also z. B. und vorrangig den Kynikern, aber nicht nur ihnen) in die Hände zu arbeiten. In diesem Sinne sind auch die menippeischen Rahmungen und Motive in den Goldkörnern und in Was ist Wahrheit? zu verstehen. Der erste Eindruck, den die Lektüre dieser Texte hervorrufen kann, hier werde eine ernsthafte philosophische Fragestellung (was ist Aufklärung? was ist Wahrheit?) durch Unernst untergraben, muss demnach revidiert werden. Die beiden Texte sind eben Exempel des spoudogeloion, des ErnsthaftKomischen. Es verhält sich bei ihnen wie bei jeder traditionellen Satire, in der der Angriff auf das Falsche letztlich dazu dient, die Norm des Wahren, an der sich die Satire orientiert, zum Vorschein zu bringen. Was aber ist in diesem Fall die Norm? Das Selbstverständliche. Es ist ein auffälliges gemeinsames Merkmal sowohl der Goldkörner wie auch der Fragmente von Beyträgen, dass stets die Selbstverständlichkeit der für die Menschen wichtigsten Wahrheiten und ihre Einfachheit und leichte Einsehbarkeit hervorgehoben werden. Hier haben die enervierenden Tautologien in den Goldkörnern ihren Ursprung, die suggerieren, dass der Autor nur nochmals sagt, was ohnehin jedem Menschen, der bei Verstand und bei Gefühl ist, klar sein sollte. Auch vergleichsweise komplexe Positionen, wie diejenige, dass Wahrheit sich einem Ausgleich von »innerem Licht« und sensus communis verdanken müsse, werden so präsentiert, als wären sie jenseits jeder Diskussion. Die einfache und richtige Leitung durch die Natur, für die Wieland sich in den Fragmenten sogar auf die »Neu-Holländer« und »Neu-Wallißer«³⁴ und weitere Wilde dieser Welt beruft, übertrifft alles komplexe Nachdenken und alle philosophische Kunst. So lehrt die Natur alle Menschen leben, die der guten Mutter nicht aus der Lehre und Zucht gelauffen sind, und in all dem ist, wie Ihr seht, keine Kunst. Es ist die leibhafte Natur selbst. Das berühmte Quam multis non egeo jenes alten Weisen³⁵ ist die angebohrne Philosophie aller Samojeden, Lappen, Esquimaux, u. s. w. in der es meine guten Freunde, die Neu-Holländer, oder Neu-Wallißer Jutta Heinz: »Wieland und die Philosophie«. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 83-94, hier S. 92. – »Besser als die beste Philosophie ist das einfache, unreflektierte, naturgemäße Leben.« (Ebd.) TM, 2/1778, S. 24. »Wie Vieles ich nicht brauche« (Sokrates – nach den Apophthegmata des Erasmus von Rotterdam).
Was ist Wahrheit? oder Einsichten und Schreibweisen
(wie sich die ehrlichen Leute nach Willkühr der gebietenden Herren mit den Feuerröhren nennen lassen müssen) am weitesten gebracht zu haben scheinen. Man komme mir nicht und sage: ein solches Leben sey Austern-Leben. Nennt es, wenn ihr wollt, fortdaurende Kindheit: aber betet an zur Erde vor der Natur, die diese ihre Kinder auf dem kürzesten Weg zu jenem Glücklichleben (beate vivere) führt, wohin wir aufgeklärten Leute, vor lauter Menge der Wege die dahin führen, so selten oder gar nie gelangen können.³⁶
Wenn demnach die überkomplexe Philosophie und ihre Lehrgebäude im Grunde überflüssig sind, so wäre es verlorene Liebesmüh, sie umständlich widerlegen zu wollen. Besser ist es, die Verhexung der Welt durch die Philosophie rasch und geschwind beiseitezuschaffen, ihre Luftschlösser aufzulösen und sie dem Probierstein des Verlachens auszusetzen. Eben das leisten die menippeischen Stilzüge in Wielands philosophischer Prosa.
VI. Tiere »Man komme mir nicht und sage: ein solches Leben sey Austern-Leben.« Die Kyniker, deren Position sich Wieland an dieser Stelle annähert, tragen das Tier, wie ein ihren Stolz verkündendes Wappen, bereits in ihrem Namen. Es ist eine letzte philosophische Provokation der menippeischen Satire, dass sie die Grenze zwischen dem Tier und dem Menschen niemals anerkannt hat. Immer kann man hin und her verwandelt werden. Und der Erkenntnis ist durch die Imagination in das Tier hinein mehr gedient als durch jene Imagination, die verzweifelt jeden Rest der tierischen Hülle abzustreifen versucht. Unter den zahllosen Tieren, in die sich die Menippeer hineinimaginiert haben, ist eines ihr wahrer Liebling. Grau, störrisch, belastet, wundgeritten und nicht besonders intelligent kann es als das eigentliche Haustier der menschlichen Geistesgeschichte gelten, die es mit seinem treuherzigen Blick und mit seiner klagenden, durchdringenden Stimme durch die Jahrhunderte begleitet. Auch Wieland hatte es in sein Herz geschlossen, so sehr, dass er bereits den Schatten, den das Tier wirft, für aller Aufmerksamkeit wert erachtete. Und er wusste, dass die Erwähnung des Tiers ein Zeichen ist, an dem ein Menippeer den anderen unmissverständlich erkennt. So nimmt es nicht Wunder, wenn Wieland am Ende sowohl der Goldkörner wie auch von Was ist Wahrheit? seine Leser auf eben jenem Tier nach Hause reiten lässt. Einmal, in Was ist Wahrheit?, erhalten wir mittels dieses Tiers Auskunft über eine besondere Spielart der Wahrheit, die Offenbarungswahrheit. Es ist die Geschichte des guten alten Bileam, Besitzer und Reiter einer Eselin, an die wir erinnert werden: »Ein anders ist, wenn ein Esel, dem der HERR den Mund aufthut, mit Zuversichtlichkeit spricht; TM, 2/1778, S. 24.
Bernd Auerochs
dafür ist aller Respekt zu tragen; denn es ist nicht der Esel, sondern ein Gott (dem es gleichviel gelten kann durch welches Organ er sich hörbar macht) der durch den Esel spricht.«³⁷ Und in den Goldkörnern, eingedenk des menippeischen Prosimetrums, verabschiedet sich Wieland mit einem Verspaar: Sagt, hab ich recht? Was dünkt euch von der Sache Herr Nachbar mit dem langen Ohr?³⁸
Vielleicht wird man diesem glücklichen Zusammentreffen von Eseln nicht mehr entnehmen können, als dass Götter Esel und Menschen erwählen und Esel aufmerksam lauschen auf das, was Menschen ihnen zu sagen haben. Wer weiß – womöglich ist ein langes Ohr nützlicher für ein geduldiges und gründliches Verständnis, als Menschenwesen, die zum raschen Weghören neigen, es sich vorstellen können.
Ebd., S. 19 f. – Vgl. Num. 22-24, insbesondere Num. 22, S. 21-35. – Die ironische Einstellung zu jeglicher Art von Genialität, sei sie nun prophetisch oder poetisch, die sich in dieser Stelle andeutet, hat Wieland auch auf sich selbst bezogen: »Er pflege sich gern mit Bileams Esel zu vergleichen, der nur durch Göttlichen Antrieb gesprochen habe. Er müsse auch warten, bis ihn der Geist treibe, und dieser statte ihm jetzt weit seltnere Besuche ab.« (Überliefert durch Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Hg. v. Klaus Gerlach u. René Sternke. Berlin 1998, S. 33 [vom 8. Okt. 1791]) TM, 2/1789, S. 105.
Hannelore Schlaffer
Poesie und Prosa Wielands Verserzählungen
Während der Arbeit an Idris und Zenide schreibt Wieland seinem Dichterkollegen Geßner über die Stoffe, die alle er in seiner Erzählung zu versammeln beabsichtigt: Quintessenz aller Abentheuer der Amadise und Feen-Märchen […], unter diesem frivolen Ansehen Metaphysick, Moral, Entwicklung der geheimsten Federn des menschl. Herzens, Critick, Satyre, Charactere, Gemählde, Leidenschaften, Reflexionen, Sentiments – kurz alles was sie wollen, mit Zaubereyen, GeisterHistorien, Zweykämpfen, Centauren, Hydern, Gorgonen, Hyänen und Amphisbänen, so schön abgesezt und durch einander geworfen.¹
»Alles was Sie wollen« verspricht in diesem Brief der Gelehrte dem Gelehrten, ein Leser, der die gesamte Literatur von der Antike bis in seine Zeit studiert hat, seinem ebenso belesenen Kollegen. Wieland aber plant kein Lexikon aller Stoffe der Weltliteratur, sondern eine Verserzählung. Auch diese Gattung hat er als gelehrter Leser der englischen und französischen Literatur kennengelernt. Mit so viel Wissen, mit so viel Gedanken, mit so viel Belehrung und »Sentiment« aber, wie sie Wieland für seine Verserzählung vorsieht, waren weder Alexander Popes Lockenraub (1712) noch Justus Friedrich Wilhelm Zachariaes Renommist (1744) ausgestattet gewesen. Die lexikalische Mischung der Stoffe und Motive hat kein anderer unter seinen dichtenden Zeitgenossen so entschieden zum Ziel gewählt. Für die Zeitgenossen jedoch war die Verserzählung eine »poésie fugitive«, eine literarische Gattung, von der man wie Diderot hätte sagen können: »ceci n’est pas un conte«. Nicht einmal Erzählungen sollten diese Reimereien sein, die in den Salons der Damen vorgelesen und oft nicht einmal gedruckt wurden, sondern als »lettres en vers« von Hand zu Hand gingen. Wieland begriff den Charme des höfischen Spiels, gab sich aber nicht mit seiner Flüchtigkeit zufrieden. Auch kannte er, zumindest als er seine späten Verserzählungen schrieb, die Reserve, die mittlerweile seine Zeitgenossen gegen dieses Genre hegten. 1799 wertete Claude Bertin in einer
Wieland an Salomon Geßner, 21.7.1766. In: Wielands Briefwechsel. Hg. v. der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007, Bd. 3. Berlin 1975. S. 396.
Hannelore Schlaffer
Abhandlung über die Verserzählung (Contes en vers et quelque pièces fugitives) diese als »puériles« ab, in denen »trop de négligences« vorkomme. An der Wende zum 19. Jahrhundert ist Bertins Abwertung der Verserzählung nicht verwunderlich, und auch Wieland hatte inzwischen diese Gattung aufgegeben. Neben der Altertümlichkeit der Stoffe nahmen die bürgerlichen Leser Anstoß am schlüpfrigen Witz, der in den französischen Salons nicht im mindesten hatte schockieren können, gehörte er doch an diesem Ort der weiblichen Koketterie zum guten Ton. Die Frivolität war dieser Gesellschaft eine Möglichkeit gewesen, Götter und Helden in Verlegenheit zu sehen und durch Lachen zu entthronen. Wieland aber ist nicht an der Blamage von Göttern und Helden gelegen. Seine Überirdischen sind Menschen mit einem fühlenden Herzen. Nur durch ernste Gefühle geraten sie, und zwar auch schon in den frühen Komischen Erzählungen, manchmal in schlüpfrige Situationen. Meist aber sind, wie in Aurora und Cephalus, die Entgleisungen Anlass zu einer psychologischen Studie des Erzählers, und jegliches Lachen des Lesers müsste im Mitleid mit dem verirrten Gemüt untergehen. Kurz: Wieland ist bestrebt, die poésie fugitive der Franzosen als Medium der Menschenkenntnis zu nutzen und die Unglaubwürdigkeit der Mythen und Märchen als Metaphern der unerforschten Zonen der Seele vorzustellen. Mythen und Märchenstoffe behandelt Wieland als »Fallbeschreibungen« – wie die wenig später populär gewordene Erfahrungsseelenkunde die Lebensbeichten ihrer Zeitschriftenbeiträger nannte. Im höfischen Genre also siedelt Wieland erste Erkenntnisse der empirischen Psychologie an. Diese Tendenz der Wieland’schen Verserzählung erklärt sich aus der Stellung des Dichters zwischen den Kulturen und den zugehörigen literarischen Genres, seiner Bekanntschaft mit dem aristokratischen Publikum auf der einen Seite, seinem Schreiben für den bürgerlichen Leser andererseits. Er selbst steht auch als Dichter zwischen beiden Fronten, er bleibt der Gelehrte, der aber doch das tradierte Wissen dem neuen, vorwiegend weiblichen Publikum zugänglich zu machen sucht. Er ist aber gleichzeitig so sehr noch Gelehrter, dass er sich gegen die neueste Form der weiblichen Lektüre, den Roman, wehrt und versucht, Tendenzen, Stimmungen, Seelengemälde, die durch diese Gattung neu gewonnen worden sind, mit Gelehrsamkeit und Reflexion zu umgeben, das gelehrte Wissen also zu retten vor der Lesesucht. Dieser Wieland, Autor zwischen männlicher Gelehrsamkeit und weiblicher Bildungsgeneigtheit, sträubt sich denn auch durch die Poesie der Verserzählung gegen die Prosa des Romans. Er versucht die Motive der neuen Gattung Roman, alles das, was auch er auch Gessner in seinem Brief versprechen musste, »Metaphysick, Moral, Entwicklung der
Poesie und Prosa
geheimsten Federn des menschlichen Herzens, Kritik, Satire, Charaktere, Gemälde, Leidenschaften, Reflexionen, Sentiments«, durch den Charme des Verses zu verklären und der unmittelbaren Identifikation zu entziehen, gleichzeitig aber das tradierte Wissen im Glanz der Poesie dem erstaunten weiblichen Gemüt zugänglich zu machen. So versucht er, die Dichtung über die Alltäglichkeit des Mitgefühls hinaus und in die Sphäre der ästhetischen Distanz hinauf zu heben. Wielands Verserzählungen sind ein Aufbegehren gegen den Roman, eine Auseinandersetzung zwischen Poesie und Prosa, wobei sein gelehrter Ernst aber auch die Leselust eines ungelehrten Publikums ernst nimmt. Freilich wehrt sich Wieland nicht nur in den Verserzählungen, sondern auch in seinen Romanen gegen diese moderne Form und ihre Inhalte. Lieber greift er zur abgetanen Dramatik des Abenteuerromans und nimmt diese zum Anlass philosophischer Reflexion, als dass er seinen Leser dazu verführte, durch rührende Herzensangelegenheiten die Dichtung mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Wielands Leser bleibt immer Leser, nie wird er mitfühlendes Subjekt. Keiner seiner Verehrer wird je einen Agathon so bedauert haben wie er mit einem Werther mitlitt, keine Leserin wird sich je gewünscht haben, wie Danae oder gar wie Psyche geliebt zu sein. Wielands Romane, Agathon allen voran, sind übersät mit gelehrtem Wissen, Reflexionen, Aphorismen, Bonmots. Wieland hätte ebensogut in die Weltliteratur eingehen können als ein letzter La Bruyère wie als Begründer des so genannten »Bildungsromans«. Aus dem Agathon ließe sich eine Aphorismensammlung zusammenstellen, die an Umfang den Caractères des französischen Moralisten wenig nachstünde. Wieland gehört wie La Bruyère in die Epoche, da der gelehrte Mann seine Studierstube verlässt und sein Wissen im Salon der femme savante präsentiert. Eine femme savante allerdings gab es im Deutschland des 18. Jahrhunderts nicht, doch bestand Wieland auf der Rolle des poeta doctus. In seinem Werk spiegelt sich so deutlich wie sonst selten die Spaltung der Leserschaft in eine weibliche und eine männliche Partei, eine nie wieder behobene Aufteilung, deren Existenz bis heute das Lektüreangebot steuert. Die Männer lasen und lesen Agathon als philosophischen und Geschichtsroman, die Frauen lesen ihn, wenn überhaupt sie dem hohen Bildungsanspruch genügen, als Liebesgeschichte. Nun allerdings scheint Wieland in seinen Verserzählungen ganz in die weibliche Sphäre eingetreten zu sein. Die Stoffe, von denen auch der Brief an Geßner spricht, »Feenmärchen […], Zaubereien, Geisterhistorien, Zweikämpfe, Zentauren, Hydern, Gorgonen und Amphisbänen«, stammen aus der Kinderstube. Seit Perrault sind diese Nichtigkeiten in den Rang einer höfischen Unterhaltungsliteratur emporgehoben worden und hatten eine Nobilitierung erfahren, an der vor allem Frauen beteiligt
Hannelore Schlaffer
waren. Nun wünschte sich aber Wieland, wie er einmal sagte, als idealen Leser für seine Verserzählungen einen »dichterischen Jüngling«. Trotz des Stoffes, den er von den Ammen bezog, erhob er diese Forderung zu recht. Vers und Reim machen aus dem Märchen aus der Kinderstube eine Dichtung. Obgleich auch der Reim zuerst dem Leser durch das Kinderlied bekannt geworden ist, erheben Reime, zumal wenn sie den metrischen Vorbildern der Weltliteratur folgen, eine jede Kindergeschichte in den Rang der Poesie. Die Salondamen, die, wie Madame d’Aulnay oder Madame Leprince, so gerne Märchen schrieben, haben nie gereimt. Der conte en vers ist eine männliche Gattung. Deshalb kann es auch nicht verwundern, dass Wieland, vor allem in seinen späteren Jahren, die Verserzählung für das gegebene Genre hielt, in dem er Wissen unterbringen und gleichzeitig jene weiblichen Empfindungen reflektieren könne, die der empfindsame Roman des 18. Jahrhunderts nur allzu verführerisch vorstellte. Das Ausweichen Wielands vor dem empfindsamen Roman beginnt fast in allen Verserzählungen mitten in der Liebesgeschichte selbst. Musarion etwa ist keine Geliebte, sondern eine Pädagogin, die ihrem Verehrer Phanias ihre »reizende Philosophie« lehrt. Diese ist nicht einmal, wie bei Diotima, eine Liebeslehre. In Musarions Mund vielmehr formt sich die platonische, pythagoreische, kynische Philosophie zum Metrum und Reim des beweglichen Madrigalverses. Die erotisch-scherzhafte Situation, in der die griechische Hetäre ihre Weisheitslehre vorträgt, ist selbst schon Zitat, das der Kenner des Altertums in der antike Poesie vorgebildet fand. Noch aus den pikantesten Szenen gewinnt er eine metrisch organisierte Philosophie. Im Urteil des Paris etwa verwandelt der bis dahin unwiderstehliche Reiz der Venus den betrachtenden Paris in einen Platoniker, der, in Anschauen versunken, mehr über die Idee der Schönheit sinniert, als sich nach Liebe sehnt: Wie voll! Wie rund! Hier möcht ich gleich vom Zehen Bis an den Kopf ein einzigs Auge sein! Sie blenden mich, ich darf nicht länger sehen, Beim Element! Ich würde gar zum Stein. Doch nein! Ich will, ich will so lange sehen, Bis mir die Sinnen gar vergehen; Ein solcher Anblick ist es wert! So wahr ich Paris bin! Er nährt, Er labet Leib und Seel: ich wollt euch, ohne Essen, Sie hundert Jahre vor mir sehn; Und in Entzückung schwebend stehn, Und Speis und Trank und Schlaf dabei vergessen.²
Christoph Martin Wieland: Das Urteil des Paris. Vers 444-454. In: Ders.: Werke. Hg. v. Fritz Martini und Hans Werner Seiffert. 5. Bde. München 1964 – 1968. Bd. 4. München 1965. S. 88.
Poesie und Prosa
»Wie schmeichelnd«, befindet der Dichter solch gereimter Philosophie, »sind die Befehle der Weisheit, wenn ihnen die Poesie so schöne Farben leyht?«³ Zunächst ist es nur die Philosophie, die Wieland in den »schönen Farben« der Verserzählung dem Leser »schmeichelnd« nahebringt. Bald aber behandelt er darin alle literarischen Probleme seiner Zeit. Komplizierter als in den frühen Erzählungen verschränkt Wieland die Diskussion über das Verhältnis der Dichtung und ihrer Theorie in seinem späten Werk Oberon. Dort treffen die Fragen nach dem Verhältnis von Poesie und Prosa, Schwärmerei und Wirklichkeitssinn, Phantasie und Wahrscheinlichkeit aufeinander.⁴ Mit Absicht wählt Wieland zu diesem Zweck den Vers. In einer Prosaerzählung würden die Zauber dieses Märchens den Leser in eine andere Welt entführen. Gerade der Vers aber schafft eine bewusste Künstlichkeit, die eine hinreichende Distanz garantiert: zu den Ereignissen, den Philosophien und Theorien, die in der Verserzählung untergebracht worden sind. Oberon, das märchenhafte Ritterepos, beweist dem Leser, welche Vorzüge die reine Einbildungskraft besitzt und wie heilsam, im Unterschied zur identifikatorischen Lektüre der Lebens- und Liebesgeschichten im Roman, phantastische Geschichten sein können. Das Zauberspiel des Oberon beginnt, indem die traditionelle Position zwischen Sänger und Hörer hergestellt wird. Komm, laß Dich nieder zu uns auf diesen Kanapee, Und – statt zu rufen: »Ich seh’, ich seh’«, Was Niemand sieht als Du – erzähl uns fein gelassen, Wie Alles sich begab. Sieh, wie mit lauschendem Mund Und weit geöffnetem Auge die Hörer alle passen, Geneigt zum gegenseitigen Bund, Wenn Du sie täuschen kannst sich willig täuschen zu lassen. Wohlan! So höret denn die Sache aus dem Grund! (I, 8)⁵
Diese imaginierte Hörerschaft nimmt Literatur nicht so auf, wie sie Romane
Christoph Martin Wieland: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (später Preußische A. d. W.; Deutsche A. d. W.). Berlin 1909 – 1976 (im Text zitiert mit der Sigle WGS, römische Ziffer für Abteilung, arabische Ziffer für Band), Abt. 1. Berlin 1910. Bd. 3. S. 331. »Stoffliche Originalität war für Wieland«, so stellt Jan Philipp Reemtsma fest, »allenfalls ein Spielform für andersgeartete Experimente«. (In: »Die Kunst aufzuhören oder: Warum Wieland nach 1784 keine Verse mehr geschrieben hat«. In: Ders.: Der Liebe Maskentanz. Zürich 1999. S. 286 f.) – Wolfgang Preisendanz schätzt Wielands poetische Taktik ähnlich ein: »Wieland ist der erste deutsche Erzähler, dessen Erzählweise das Erzählte dergestalt zum ununterbrochen Reflektierten macht.« (In: Wolfgang Preisendanz: »Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands«. In: Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik 1). Hg. v. Hans-Robert Jauß. München ²1969. S. 93) Ich zitiere die Verse aus Oberon im Folgenden mit Gesang und Strophe nach der Ausgabe: Wieland: Werke (Anm. 2), Bd. 5. München 1985.
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liest, halb liegend und mit halb geschlossenen Lidern, sie hört vielmehr mit »lauschendem Mund«, mit »offenen Augen«. Die Wirkung mündlich vorgetragener Poesie ist körperlich und selbst ihr Leser bringt sich, von der körperlichen Wirkung des Rhythmus und vom Klang der Reime bewegt, imaginär in eine Rezeptionshaltung, als hörte er die gelesenen Verse: meistens wurden sie mündlich vorgetragen. Wieland wählt drei Ausgangstypen aus der literarischen Tradition, auf die er seine Verserzählung aufbaut: das heroische Epos, das Feenmärchen und das Lied. Das Epos der ottaverime erfordert ein hohes Personal, das Feenmärchen Geister und Zaubereien, das Lied den Reim. Diese paradoxe Verbindung nutzt Wieland, um eine Psychologie des literarischen Genusses zu entwickeln, und zwar dadurch, dass er die verschiedenen literarischen Gattungen gegeneinander ausspielt. Das Ritterepos wird zur Parodie, denn die Aufgabe, die Hüon, dem Helden gestellt wird, dem König von Babylon ein Barthaar zu rauben, ist höchst lächerlich. Hüon hätte, um dem Publikum des 18. Jahrhunderts Eindruck zu machen, ganz andere Ziele und Fähigkeiten haben müssen, als es zur Erledigung dieser Arbeit bedurfte – Wieland weiß dies und verlangt sie ihm am Ende der Verserzählung ab. Das Ritterepos löst sich schließlich ganz auf im Feenmärchen. Der scheinbare Heroismus Hüons ist nichts als Zauberei, die Unglaubwürdigkeit des heldischen Charakters wird ersetzt durch die Unglaubwürdigkeit des Wunders, mit dem Unterschied, dass Wieland das heroische Ideal der epischen Heldendichtung weder anerkennt, noch leugnet, dass er vielmehr versucht, den Zauber der Geister als eine Projektion des menschlichen Gemütes zu entlarven. Aus seinem Feenmärchen wird so ein Kapitel über die Einbildungskraft und das schöpferische Vermögen des menschlichen Kopfes. Die Geister schaffende Phantasie beschreibt Wieland in seinen theoretischen Schriften als den Ursprung der Poesie. 1753 verteidigt er als Adept Bodmers in der Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts ›Der Noah‹ die Geisterwelt als Quelle oder besser noch als Symptom schöpferischer Begabung: Diejenige, welche die Engel und Geister aus dem poetischen Reich vertreiben wollen, haben nicht den Schatten eines gesunden Begriffs von der Dichtkunst. Die Poesie des Wunderbaren berauben, das sie durch Einführung himmlischer Geister und Wesen anderer Art als die Menschen sind, erhält, das wäre ihr die Schwingen abschneiden.⁶
Mit solchen Schwingen nun bringt Oberon, ein neuer Pegasus, die Erzählung voran. An jedem Wendepunkt tritt er auf; er lenkt zugleich die Handlung und die Einbildungskraft des Dichters:
WGS I.3, S. 317.
Poesie und Prosa
Schnell, wie ein Blitz der Phantasie, Kam durch die Luft der schöne Zwerg geschwommen. (VI, 5)
Setzte dieser Oberon aber nur seine Zaubermittel ein, so bliebe Hüons Erfolg tatsächlich märchenhaft. Auch das wäre zwar menschlicher als eine Heldentat, die ihn über die Menschen hinaus und an die Seite der Götter höbe. Die Folie von Wielands Oberon aber ist nicht die Götterwelt, sondern die Welt der Geister wie eine animistische Religion sie glauben würde. Geister sind dem Menschen nah und ähnlich, leben mit ihm in ein und derselben Welt, wandern auf denselben Pfaden wie sie und lauern in den Büschen, vor denen sie lagern. Eigentlich sind sie ihre Freunde; von Oberon heißt es: Aus seinen Augen brach durch sanft bewölkten Gram Der Freundschaft mildes Licht. (VI, 6)
Geister herrschen nicht, wie Götter, durch Gesetze, sie folgen, wie die Menschen auch, dem Gebot des Augenblicks und seiner immanenten Logik und Moral. Mit Geisteskraft können sie viel bewirken, doch nicht ihr Schicksal bezwingen. Oberon und Titania streiten sich wie Mann und Frau und bangen wie jedes Paar um das Glück ihrer Liebe. Dieses aber liegt in Hüons, eines Menschen, Hand. Seine moralische Energie hat in der Erzählung dasselbe Gewicht wie die Gaben Oberons, das Horn, der Becher, der Ring. Wieland also verlangt seinem Hüon ebensoviel Anstrengung ab wie seinem Oberon. Geister und Menschen sind in Wielands Verserzählung gleichberechtigt, ja eigentlich sind sie eins: sie gehören zusammen wie Wunsch und Wille. Die Wohnung der Geister verlagert Wieland aus der Natur draußen in die Seele drin, in die Phantasie; dort begegnen sich Menschen- und Geisterwelt und stellen sich als Traumgestalten einander gegenüber. »Freund Oberon« bereitet deshalb im dritten Gesang dem erschöpften Ritter das Lager, lässt ihn einschlummern und unterhält sich mit ihm, um den Fortgang ihrer gemeinsamen Geschichte zu planen. Schon schlich, indes in Grau das Abendrot zerfloß, Der stille Mond herauf am Horizonte, Als Hüon, weil sein Gaul nicht länger laufen konnte, An einem schönen Platz zu ruhen sich entschloß. (III, 52) […] Ein reicher Teppich liegt, so weit es sich verbreitet, Auf seinem Boden ausgespreitet, Mit Polstern rings umher belegt, Die, wie beseelt von innerlichem Leben, Bei jedem Druck sanft blähend sich erheben. (III, 53)
Nun fragt sich der Leser, wer eigentlich es sei, der Leben in die Kissen bringt: die Phantasie des Ritters, der sich bei seiner Ankunft schon darauf niedersinken sieht? Oberon, der die Dinge verzaubert? Oder eine
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Wirklichkeit, in der ein Kissen ja auch einmal aus Zufall zusammengedrückt sein und sich wieder aufplustern kann? Allerdings setzt sich der freundliche und freundschaftliche Empfang fort: Ein Tisch von Jaspis, den ein goldner Dreifuß trägt, Steht mitten drin, und, was dem essenslust’gen Magen Zum Göttertisch ihn macht, das Mahl ist aufgetragen. (III, 53)
Scherasmin, der Mann aus dem Volke, fragt nicht nach der Ursache solcher Kochkünste, denn seine Phantasie kennt weder Nachdenken noch Misstrauen: »O, das ist leicht«, erwidert der, »zu sehn: Freund Oberon ist sichtlich in der Nähe. Wir hätten ohne ihn die Nacht, Anstatt uns nun in Schwanenflaum zu senken, Auf unsrer Mutter Schoß so sanft nicht zugebracht. Das nenn’ ich doch an seine Freunde denken!« (III, 54)
Der schwere Schlaf, in den Hüon bald sinkt, wäre durch die Mühe des Ritts schon gut genug erklärt, doch wird er durch einen Trunk aus Oberons Becher dreifach motiviert. Auch wird, beim Sang Gasconscher froher Lieder, Der Becher fleißig leer und füllt sich immer wieder. (III, 55)
Zur natürlichen ersten Motivation tritt eine weitere und noch dazu doppeldeutige hinzu: Die Wirkung könnte physisch oder zauberhaft erklärt werden, den nun folgenden leidenschaftlichen Traum, in den Hüon sinkt, verschafft ihm entweder die Weinestrunkenheit oder Oberon, aus dessen Becher er trank. Wieland allerdings lässt es sich nicht nehmen, auch einen Hinweis auf das medizinische Wissen seiner Zeit zu geben: Bald löset unvermerkt des Schlafes weiche Hand Der Nerven sanft erschlafftes Band. (III, 56)
Erst in dieser physiologischen Entspanntheit beginnt die Geisterwelt sich zu regen, die ihren Ort ganz offensichtlich doch nur in der Einbildungskraft des entschlummerten Helden hat. Es ist, als ließe Hüon die Zügel schießen, und nun erst triebe die ungebändigte Phantasie ihr poetisches Unwesen. Hüons Phantasie dichtet, wenngleich ganz in der antiken Tradition, in der die Musik aus den Sphären stammt, natürliche Geräusche in Geisterstimmen um: Indem erfüllt, wie aus der höchsten Sphäre, Die lieblichste Musik der Lüfte stillen Raum. Es tönt als ob ringsum auf jedem Baum Ein jedes Blatt zur Kehle worden wäre, Und Maras Engelston, der Zauber aller Seelen, Erschallte tausendfach aus allen diesen Kehlen. (III, 56) […] Der Ritter, zwischen Schlaf und Wachen, höret sie
Poesie und Prosa
Stets leiser wehn, bis unter ihrem Wiegen Die Sinne unvermerkt dem Schlummer unterliegen. (III, 57)
Nun setzt der recht menschliche Wunschtraum eines jungen Mannes von einer schönen Frau ein. Da die verlockende Traumgestalt, in vielfachem Wechsel, kommt und wieder schwindet, macht Hüon, der das Phantasiegebilde mit Händen greifen will, eine Erfahrung, die ebensogut zur Fallbeschreibung im allerdings erst zwei Jahre später begründeten Magazin für Erfahrungsseelenkunde getaugt hätte. Die Schöne entschwebt schon wieder und: Er hört ihr ängstlich Schrein, will nach – o Höllenpein! Und kann nicht! Steht, entseelt vor Schrecken, Starr wie ein Bild auf einem Leichenstein. Vergebens strebt er, keicht, und ficht mit Arm und Bein; Er glaubt in Eis bis an den Hals zu stecken, Sieht aus den Wellen sie die Arme bittend strecken, Und kann nicht schrein, nicht, wie der Liebe Wut Ihn spornt, ihr nach sich stürzen in die Flut. (III, 63)
Nicht einmal im Traum würde der Held eines Ritterepos solche Hemmungen haben, und auch in der Verserzählung ist der Alptraum ein neues Motiv. Die Begegnung mit Oberon hat den Helden zum psychologischen Fall gemacht, zum Helden mit Seele. Man könnte Oberon den Analytiker Hüons nennen, der unsagbare Wünsche und Ängste im Innern seines menschlichen Freundes für ihn zum besseren Selbstverständnis in poetische Bilder bringt. Sobald Wieland den Traum als Ursprung der Dichtung ausmacht – eine frühe Vorwegnahme der romantischen Dichtungstheorie – und den Märchenkönig als Herrscher im Unterbewussten, befindet er sich auf der Höhe der wichtigsten Erfahrungswissenschaft seiner Zeit, der empirischen Psychologie. Vor allem in der Szene, da »an Hymens statt« Amor den Liebesbund von Hüon und Amanda besiegelt, zeigt sich Wielands Interesse an der empirischen Psychologie seiner Zeit. Die Verführungsszene ist ein psychologische Studie voll scharfer Beobachtungen. Das »vorrei e non vorrei« der Frau bemerkt Wieland nun ebenso beim Mann – er »will fliehen, bleibt wieder stehen« (VII, 14) –, und umgekehrt macht Amandas Unbewusstes sie so entschlossen wie einen Mann, doch manövriert sie, ganz weiblich, mit Trotz und Tränen (VII, 15), so dass eher sie es ist, die zu ihrer Verführung anspornt, als dass ihr von Gewissensbissen geplagter Liebhaber sie zur Hingabe drängen müsste. Das Unbewusste aber, das Wieland diesmal nicht einmal in einem Märchenkönig verkörpert, äußert sich vom ersten Blick an und in jeder ihrer Gesten. Sie, die mit Lieb und Scham schon eine Stunde rang, Kann endlich länger nicht die Lindrung sich versagen, Zu forschen was ihn quält, und Trost ihm anzutragen. […] (VII, 12)
Hannelore Schlaffer
Im weißen Schlafgewand, dem schönsten Engel gleich, Tritt sie in sein Gemach, mit zärtlichem Erbarmen Im keuschen Blick, mit furchtsam offnen Armen. Ihm ist, als öffne sich vor ihm das Himmelreich. Sein Antlitz, kurz zuvor so welk, so todtenbleich, Wird feuerrot; sein Puls, der kaum so träge Und mutlos schlich, verdoppelt seine Schläge, Und hüpfet wie ein Fisch im spiegelhellen Teich. (VII, 13)
Bald aber kommt die Verserzählung wieder zu sich, und der Geist der Phantasie, Oberon, bemächtigt sich des Geschehens. Schon während der Verführung hatte Hüon heftige Gewissensbisse zu verdrängen, was Oberon zur Inszenierung eines furiosen Unwetter nutzt: Stracks schwärzt der Himmel sich, es löschen alle Sterne; Die Glücklichen! Sie werden’s nicht gewahr. Mit sturmbeladnem Flügel braust von ferne Der fessellosen Winde rohe Schar; Sie hören’s nicht. Umhüllt von finsterm Grimme Rauscht Oberon vorbei an ihrem Angesicht; Sie hören’s nicht. Schon rollt des Donners drohnde Stimme Zum dritten Mal, und ach! Sie hören’s nicht! (VII, 17)
Scherasmin, der Knappe, führt gegen die psychologische die volkstümliche Lesart von Hüons vielen Traum- und Schreckensvisionen ein. Für Scherasmin ist die poetische Energie des Traums nichts als eine schlechte Erfahrung, die nach dem Erwachen vergessen werden muss. Scherasmin ist Hüons Sancho Pansa. Wielands Verserzählung ist ein neuer »Don Quijote«, in dem Herr und Diener Phantasie und gesunden Menschenverstand vertreten. Deshalb haben Hüon und Scherasmin auch viel über Traum und Alptraum zu diskutieren. Scherasmin entfernt sich nicht von der psychologischen Lesart, die Wieland interessiert. Im Unglauben gegen Phantasiegebilde geht das Volk dem Gelehrten voran, in der Analyse solcher Unglaubwürdigkeiten aber steht es ihm nach – und in der Stilisierung der Phantasie zum Gedicht ist es nur Handlanger. Mit seiner Skepsis gegenüber der Geister schaffenden Phantasie vertritt Wieland selbst die Position der Prosa innerhalb der Verserzählung. Poesie und Prosa treten in einen Dialog ein. Wielands Verserzählung ist nicht nur Poesie, sie stellt den Kampf zwischen Poesie und Prosa dar. Mit Scherasmins tapferem Schulterklopfen findet Hüon in seine Rolle zurück, erobert die Geliebte, verliert sie wieder – gerade weil er den unpoetischen und vernünftigen Gesellen entfernt hat –, und gewinnt alles erneut zurück, wenngleich nicht ohne dessen Hilfe. Beide zusammen, Oberon und Scherasmin, leiten den Helden, und das meint: Wo Einbildungskraft mit praktischer Vernunft sich paart, wo das Unwahrscheinliche wahrscheinlich wird, da könnte die Poesie das Wunschbild einer versöhnten Welt erschaffen.
Poesie und Prosa
Das Gebot der Wahrscheinlichkeit, diese Maxime des neuen bürgerlich-aufgeklärten Romans, scheint Wieland aber durch das Wirken der Geister zu umgehen. Tatsächlich aber fragt auch er nach der Wahrscheinlichkeit, doch sucht er sie nicht in der Realität, nicht in der Kausalverbindung von Plan und Folge, Absicht und Erfolg. Was immer in der Verserzählung geschieht, es wird irrelevant vor der Frage, warum und wodurch es geschieht. Darauf aber können allein das Studium der Seele und die Psychologie eine Antwort geben. Die Glaubwürdigkeit des Gefühls hat Vorrang vor der Glaubwürdigkeit des Geschehens, die psychologische Studie ersetzt das Realitätspostulat, dem sich der Roman des 18. Jahrhunderts seit Defoe, Richardson und Fielding unterwirft. Immerhin führt Wieland ein Motiv in seine Verserzählung ein, das dort nicht hingehört, und so scheint er in diesem Falle doch dem Realitätspostulat des Romans zu gehorchen: das Kind als natürliche Folge der Liebe. Nachdem die von Hüon eroberte Tochter des Kalifen den christlichen Glauben angenommen und Name und Wesen gewechselt hat, beginnt ein erotisches Spiel des Paares, das auf die leidenschaftliche Erfüllung der Liebe zuläuft. Die Verführungsszene, die nicht – wie es im Text scherzhaft heißt – mit dem Sieg Amors, sondern, für die Verserzählung völlig unerwartet, mit der Zeugung eines Kindes endet, macht Wieland durch eine dreifache Motivation besonders spannend: Das Paar selbst fürchtet das christliche Gebot der Keuschheit zu verletzen, der Leser bangt mit Oberon und Titania, die ihr Glück von einem menschliches Paar abhängig machten, das unverbrüchliche Treue, Selbstlosigkeit und Keuschheit vereint, und Wieland beschäftigt und beunruhigt die Dramatik der Seelen, die zwischen Verlangen und Willensstärke, Trieb und Gebot schwanken. Seine eigentliche Funktion allerdings hat das uneheliche Kind im Kontext der impliziten Dichtungstheorie des Oberon: Zeugung und Geburt des Kindes zeigen, dass die Phantasie die Kraft hat, Wirklichkeiten zu schaffen. Als Konkretisierung eines sehnsüchtigen Traums rückt das Kind die eigentliche Absicht ins Licht, die Wieland mit seiner Verserzählung verfolgt, die Frage nach der Wirkung der Einbildungskraft. Wenn Oberon die Phantasie verkörpert, aus der die »Wirklichkeiten« der Verserzählung hervorgehen, so ist die leidenschaftliche Phantasie des Helden nicht minder mächtig. Das Kind ist ein handgreifliches Ergebnis seiner Phantasie – so wie auch alle Figuren und Bilder der Verserzählung aus dem Traum hervorgingen. Die schöpferische Energie der Liebe und die Zauberkraft der Geister drängen beide nach Vergegenständlichung und sinnlicher Erscheinung und schaffen Poesie. Das Kind, die sichtbare Folge der Leidenschaft, erklärt auch, warum Liebe, Erotik, Koketterie, Pikanterie die wichtigsten Motive nicht
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nur dieser, sondern fast aller Verserzählungen sind. Der Reiz der Verserzählung besteht im Ineinander von Innenwelt und Außenwelt. Feen und Geister hausen in den Dingen, und begeisternd wirken sie von da aus auf Gemüt und Herz des Helden, leiten und hemmen ihn, nehmen Teil an ihm und sind Teil von ihm. Durch nichts aber ist dies Hin- und Herwogen von Phantasie und Wirklichkeit besser und in der Tat auch realistischer zu motivieren als durch Liebe und Koketterie. Die Geliebte ist das Phantasma des Liebhabers. Er entwirft sie aus seinem Geist, es gibt sie aber auch wirklich. Er sieht sie und lässt, wie ein Feenkönig, alles an ihr, ihren Leib, ihr Kleid, ihre Gebaren, in zauberhaftem Licht erstrahlen. Er ist verzaubert und verzaubert sie. Seine Begeisterung sieht alles an ihr wie von Geistern belebt, und er selbst ist der Geisterkönig, der dies bewirkt. Die Liebe also ist Inbegriff der poetischen Energie der Verserzählung. Die Verserzählung, auf die sich alle Nachfolger berufen, Popes Lockenraub, macht dies Gewoge zwischen Innen und Außen, dieses Schwärmen des männlichen Herzens zwischen realer Wahrnehmung und begeisterter Bewunderung, zwischen erotischer Sehnsucht und poetischer Verklärung zum Ursprung des Geschehens. Auf der angebeteten Frau hat sich, um sie zu schützen, eine ganze Schar von Sylphen niedergelassen. Drum Geister eilt! Seid wachsam, gebet acht! Des losen Fächers Zephiretta wacht. Die Drops bekümmern dich, Brillante, nur, Und Momentilla, passe auf die Uhr. Crispina, warte du der Lieblingslock; Und Ariel selbst wird Wächter sein für Shock. [der Schoßhund; H. S.] An fünzig Sylphen höchster Distinktion Vertrauen wir das Schwerste, den Jupon. Oft war der siebenfache Zaun zu schwach, Fischbein und Reifen halfen nichts – er brach. Formt eine Kreis rings um den weiten Rand Als Wache um des Saumes Silberband.⁷
Sollten die Geister ihre Wachposten verlassen und aus der Geliebten Gehäuse »ausziehen«, so wäre zwar die Geliebte wieder ein alltäglicher Mensch, aber auch den Geistern bekäme die Veruntreuung schlecht; sie würden in reine Materie zurückverwandelt: Weh, Geister, euch, wenn ihr der Pflicht vergeßt Und einer gar die Schöne ganz verläßt! Ihr werdet sehn, wie er den Frevel büßt, In gläsernen Behältern aufgespießt, Getaucht in bittrer Schönheitswässer Laug,
Alexander Pope: Der Lockenraub. Ein komisches Heldengedicht. Übersetzt von Rudolf Alexander Schröder. Leipzig 1968, S. 27.
Poesie und Prosa
Allzeit gezwängt in ein Schnürnadelaug. Mit Gummi, mit Pomaden sind verklebt Die Flügel ihm, die er vergeblich hebt. Alaun und Essig ziehn mit Vehemenz Zusammen seine schrumpfende Essenz.⁸
Die Dinge selbst also werden durch die Liebe geistig und je mehr Dinge eine Verserzählung zeigt, desto dichter ist sie von Geistern bewohnt, umso sicherer wirkt ihr Zauber. In nichts anderem besteht Zauber als darin, dass die Dinge nicht mehr in der Hand der Menschen sind, sondern der Mensch in der Hand der Dinge ist. Die verzaubernde Kraft von Liebe und Phantasie nutzt nun auch Wieland, wenngleich seine Geister, anders als die Popes, nicht mehr alle Sinnesorgane erregen. In der »Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst« (1757) (WGS I.4, S. 334 f.) führt Wieland das »Ergötzen« an der Poesie darauf zurück, dass sie alle »charmes der Beredsamkeit, der Mahlerey und Musik« vereine. Damit beugt er sich den ästhetischen Maßstäben seiner Zeit. Die Kunst spricht nur die höheren Sinnesorgane an; nur Auge und Ohr sind daher am Entwurf der Feenwelt beteiligt, das Horn des Oberon etwa, das in verschiedenen Tonlagen ertönt und je nachdem verschiedene Wunder vollbringt. Wielands Geister sind vor allem Illuminationskünstler. Sie hausen nicht, wie Popes Sylphen, in den Dingen, sie strahlen sie an. Es ist, als ob in seiner Verserzählung unentwegt das Licht an- und ausginge. Die Animation der Dinge entsteht durch Strahlen, die auf sie gerichtet werden, oder durch das Dunkel, in das sie plötzlich getaucht sind, wenn der Lichtstrahl erlischt. So hat sich Almansaris, die Hüon verführen will, in ein wahres Lichtspiel verwandelt: Er steht betroffen und geblendet Von einer Pracht, die Alles, was er je Gesehn, beschämt; so sehr ist Gold und Lapis Lazuli, Und was Golkon’ und Siam reiches sendet Mit stolzer Ueppigkeit hier überall verschwendet. Doch unbefriedigt sucht sein liebend Auge – sie. (XI, 47)
Das Theater, das Almansaris inszeniert, kann nicht als höfisches Kunststück abgetan werden. Immerhin ist der erzürnte Oberon im Spiel, der in diesem leuchtenden Saal den Helden einer letzten Prüfung unterzieht, ihn auf die härteste Probe stellt und, da Mensch und Geist von einander abhängen, sein eigenes Dasein auf Spitze und Knopf gestellt sieht: Unwillig fühlt die überraschten Sinnen Der edle Mann in dieser Gluth zerrinnen. Er schließt zuletzt die Augen mit Gewalt Und ruft Amandens Bild zum mächt’gen Gegenhalt. (XI, 58)
Ebd.
Hannelore Schlaffer
Nicht nur die Sinnesorgane der Figuren in der Dichtung, auch ihr Leser ist solcher Inszenierung der Geister verfallen. Die Illumination erregt die Einbildungskraft des Helden und die des Lesers auch. Nicht nur die Geister und ihr Freund, der Held, auch der Held und sein Freund, der Hörer, begegnen sich im Reich der Phantasie. Der Leser gibt, falls er Prosa liest, jene Sprache, die er alltäglich gebraucht, die Kontrolle der Vernunft nie ganz auf. Dem Klang der Verse hingegen wird er erliegen. Was Verse zum Klingen bringen, und sei es noch so phantastisch, tritt über die Sinnesorgane unwiderstehlich ins Innere ein und wird dort anerkannt als ästhetischer Genuss. Die Verserzählung fordert deshalb keine Entscheidung für oder gegen eine Figur und ihr Verhalten. Sie macht vielmehr den Leser, indem sie nur seine Phantasie erregt, zum Teil der Erzählung und zum Freund der Figuren. Auch dem Leser oder Hörer des Oberon also gewähren Vers und Reim Eintritt in die Träume des Helden und in die Zauberwelt. Durch Klang und Rhythmus kommen beide Welten einander näher, Klang, Rhythmus und Reim gehören der Körperwelt des Hörers wie der der Figur an. Feinsinnige psychologische Beobachtungen fände der Leser wohl auch im Agathon; er könnte über sie nachdenken, doch läge dabei sein Körper im Schlaf, nur sein Intellekt bliebe wach. Die Verse des Oberon hingegen, die laut gelesen werden sollten und die deshalb der Leser zumindest im Innern sich leise vorspricht, setzen ihn in Bewegung – nicht selten schlägt er den Takt dazu mit Hand, Fuß oder Kopf. Solche Versgymnastik macht den Leser oder Hörer zum Mitspieler und Mitdichter. Die Bilder, die Oberon schafft, und die Träume, die Hüon träumt, nehmen Leser oder Hörer gestisch wahr und in sich auf als Bilder der eigenen Phantasie. Diese Übertragung gelingt durch den Vers leichter als durch den Prosasatz. Bei der Lektüre von Prosa, in der sich Wohlbekanntes und Alltägliches schnell aufzeichnen lassen, können Worte übersprungen werden und sind dann wie nie gewesen. Der Vers hingegen isoliert und betont jedes einzelne Wort. Der Rhythmus zersetzt die Grammatik der Sprache und der Wirklichkeiten. Jeder Akzent auf dem Wort ist ein Meißel, der es ins Gedächtnis eingräbt. Die Welt ist größer im Roman, an Dingen reicher aber ist die Verserzählung. Der Rhythmus ist zudem eine Art Zauber und Zwang: obgleich Ding und Wortsymbol jedes für sich gelten, zieht und lockt der Vers unaufhaltsam von einem Gegenstand zum nächsten. Dadurch erliegt der Rezipient einem Taumel, einem Bilderrausch, wie ja auch die Figuren im Werk vom Zauber der Dinge fortgezogen werden. In diesem Dahingleiten gehen Raum und Zeit, die Koordinaten der gewohnten Wahrnehmung, verloren. An die Stelle des Raums tritt eine lineare Aufreihung von Sachen. Der Leser von Verserzählungen bewegt sich von Bild zu Bild und fragt nicht, wo er sich befinde. Er lässt sich
Poesie und Prosa
durch die Geister von einer Blendung zur andern leiten, von einem schönen Ding zum nächsten, von einer Schreckensvision ins Glück. Auch kennt die Verserzählung keine Zeit. Das zeigt sich etwa am dauernden Wechsel von epischem Präteritum und lyrischem Präsens: Aus Eisen schien das ganze Werk gegossen, Und ringsum war’s so fest verschlossen, Daß nur ein Pförtchen, kaum zwei Fuß breit, offen stand; Und vor dem Pförtchen stehn, mit Flegeln in der Hand, Zwei hochgewaltige, metallene Kolossen. (III, 15) […] Doch Hüon hielt getreu an seiner Ordensregel, Dem Satan selber nicht den Rücken zuzudrehn. »Hier«, denkt er, »ist kein Rath, als mitten durch die Flegel Geradezu aufs Pförtchen loszugehn.« (III, 17)
Die Strophen der Verserzählung sind wie Schatzkammern, in denen Sammelstücke aus allen Zeiten und Zonen der Erde nebeneinander liegen. Solche Unordnung und Dingverliebtheit, solche Reisen ins Land der Phantasie konnten aber die Leser des späten 18. Jahrhunderts nicht mehr schätzen. Der Roman, so sehr er auch von Leidenschaften erzählt, fragt stets nach ihrem Zusammenhang und nach ihrer Bedeutung im Kontext einer bekannten Wirklichkeit. Sie fehlt in der Verserzählung, die in jedem Ding den Augenblick feiert und Liebe, Lust, Trauer, Schrecken erlebbar macht. Wenn die Leser seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts sich auf einmal prüde gaben, reagierten sie gar nicht moralisch, sondern ästhetisch. Sie lehnten eine Phantasie ab, die die Welt und die Frau darin in tausenderlei betörende Schönheiten auflöste. Das Jahrhundert drängte aus der poetischen Unordnung in die geordnete Welt, aus der Schönheitsgalerie in die Wirklichkeit. Die moralischen Einwände gegen Wielands Verserzählung richteten sich vor allem gegen die poetische Freiheit, die sich in der erotischen Freizügigkeit verkörperte. Mit der Pikanterie lehnte das Publikum die Poesie ab. Wieland versuchte durch die hochmoralische Liebe seines Hüon, der sich sogar um ein Kind zu sorgen hat, die Verserzählung gegen das Diktat des Romans zu retten. Gerade der Reiz, die Unzahl von ungeordneten Schönheiten, bereitete der Verserzählung in einer Welt der Logik und Vernunft den Untergang.
Alexandra Kleihues
Rückkehr aus dem Elysium Wielands Umgang mit der Tradition des literarischen Dialogs
Für das Werk Wielands ist die Bedeutung des Dialogischen sowohl im engeren, gattungstheoretischen Verständnis als auch im weiteren Sinne von Dialogizität und Polyphonie immer wieder hervorgehoben worden. Bereits im Jahre 1939 hat Marga Barthel eine Dissertation zu diesem Thema vorgelegt, in der sie das »immanent gesprächshafte Stilprinzip« von »Gesprächen in Dichtungen« einerseits und von der »selbständigen literarischen Gattung« andererseits unterschied.¹ Der Stellenwert dieser kleinen, kaum 120 Seiten umfassenden Studie, zeigt sich nicht allein daran, dass sie im Jahr 1973 noch einmal nachgedruckt wurde. Noch 1990 vermisste Herbert Jaumann weitere größere Arbeiten zu Wielands dialogischem Schreiben.² Auf der anderen Seite führt die Allgegenwärtigkeit dialogischer Darstellungsformen in Wielands Werk dazu, dass kaum eine Monographie ohne eine Würdigung dieses Aspekts auskommen dürfte. Mein Eindruck ist, dass zwar das Dialogische allenthalben zur Sprache kommt, der Dialog als eigenständige Gattung im Werk Wielands jedoch nur wenig erforscht worden ist. Dies gilt in besonderer Weise für das Spätwerk, auf das ich mich im zweiten Teil meines Beitrags konzentrieren werde. Beginnen möchte ich mit einem Überblick, der die Relevanz des Dialog-Themas veranschaulichen soll. Zum einen gibt es die immanent dialogische Schreibweise, die für die Romane, Essays und Übersetzungen gleichermaßen charakteristisch ist. In den Romanen fällt die häufige und betonte rhetorische Einbeziehung des Lesers auf, der Herausgeber
Vgl. Marga Barthel: Das »Gespräch« bei Wieland: Untersuchungen über Wesen und Form seiner Dichtung. Frankfurt/M. 1939 (Nachdruck: Hildesheim 1973). Herbert Jaumann: »Der deutsche Lukian. Kontinuitätsbruch und Dialogizität, am Beispiel von Wielands ›Neuen Göttergesprächen‹ (1791)«. In: Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Hg. v. Harro Zimmermann. Heidelberg 1990, S. 61-90, hier S. 67, Anm. 16. Die Studie von Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000 schließt diese Lücke auch deshalb nicht, weil sie sich ganz auf die Romane konzentriert. Das Wieland-Handbuch. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, enthält keinen eigenen Eintrag zum Dialogischen, die Beiträge über »Schreibweisen« und »Essayistik« behandeln die Dialogform nur marginal.
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des Teutschen Merkur führt in Fußnoten und »kleinen Avis au Lecteur«³ ein öffentliches Gespräch mit Beiträgern und Adressaten, und auch seine Übersetzungen stattet Wieland mit kommentierenden Anmerkungen aus. Intertextuelle Phänomene wie Anspielungen, Adaptionen, Travestien, Zitate oder Selbstreferenzen sind ein hervorstechendes Merkmal seiner Prosa. Wie Jan-Dirk Müller ausgeführt hat, schöpft Wieland überdies aus dem Fundus von Mythos, Geschichtsschreibung und Weltliteratur, um exemplarische Wirklichkeiten zu modellieren, aus welchen seine Figuren erst als Individuen hervortreten.⁴ Die inneren Seelenvorgänge, die im Fokus seiner Darstellung stehen, werden ihrerseits häufig im Modus des Gesprächs oder des Selbstgesprächs gestaltet. Das Vertrauen in die Funktionalität des normativen Sprachgebrauchs bildet dabei die Grundlage für einen fruchtbaren Austausch der Seelen. Dem relationalen Wahrheitsbegriff setzt das urbane Gespräch eine Grenze, indem es in der gemeinsamen Verständigungsbemühung an der Idee einer »intersubjektiv gültigen Wahrheit«⁵ festhält. Die Erzählebenen von außen nach innen abschreitend, findet man in Wielands Romanen: 1. den Dialog mit dem Leser, 2. Rahmengespräche, 3. Figurendialoge und 4. Selbstgespräche. Die späten Romane schließlich stellen Alternativen einer Erhebung des Dialogischen zum Formprinzip dar: So verselbständigen sich in der Geheimen Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus und in Agathodämon mimetischer und diegetischer Dialog zur je eigenen Romanform, während der multiperspektivische Briefroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen nicht nur formal, sondern auch inhaltlich zur Universal- oder Metaform gerät, denn hier wird auch die poetologische Reflexion über die Gattung in die literarische Fiktion hineingenommen.⁶ Im Hinblick auf die Integrations- und Emanzipationsprozesse der dialogischen Gattung im Werk Wielands möchte ich zwei Tendenzen unterscheiden: Zum einen gibt es die Tendenz, den philosophischen Dialog zusehends in die Romanform zu integrieren und somit zum Verschwinden zu bringen. Als Bestandteil moderner Romanpoetik öffnet sich die
Eine der kontroversesten Fußnoten dieser Art findet sich im Teutschen Merkur (im Text zitiert mit der Sigle TM) 3/1777, S. 266. Vgl. dazu Herbert Jaumann: »Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Zu Wielands Kritik des Politischen« In: Modern Language Notes 99.3 (1984), S. 461-478. Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit. München 1971, S. 96 ff. Vgl. ebd., S. 45. Zum Funktionswandel des Dialogs bei Wieland vgl. auch Anja Oesterhelt: »Poetik des Dialogs als Projekt der Aufklärung: Funktionen des Dialogs in theoretischen Schriften Christoph Martin Wielands und Johann Jakob Engels.« In: Funktionen von Literatur: theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Hg. v. Marion Gymmich u. a. Trier 2005, S. 157-169.
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dialogische Erzählform der Vergegenwärtigung von Handlungselementen und inneren Seelenvorgängen, von welchen das philosophische Gespräch traditionsgemäß abstrahiert.⁷ Als eigenständige Gattung erhält sich der Dialog andererseits im Bereich essayistischen und politischen Schreibens. Herbert Jaumann spricht in diesem Zusammenhang von der Fiktionalisierung literarischer Zweckformen.⁸ Am augenfälligsten zeigt sich dies an den Revolutionsgesprächen im Kleid der lukianesken Göttergespräche. Aber auch die ebenfalls tagesaktuellen Gespräche unter vier Augen gehören hierher. Mit dem Gespräch zwischen Agathon und Hippias im Elysium, das Wieland im Jahr 1800 gleichsam als Epilog auf seinen mehrfach umgearbeiteten Roman verfasste, bietet sich ein möglicher Schnittpunkt der genannten Tendenzen an. Ich werde daher im Folgenden zunächst auf die Stellung des Dialogs im Agathon-Roman eingehen und von dort aus einen Blick auf die Gattungsexperimente des Spätwerks werfen.
. Erste Tendenz: Der philosophische Dialog wird in den Roman integriert Die Toten- und Göttergespräche Lukians nimmt Wieland sich offenbar erst in den 1780er Jahren zum Vorbild.⁹ Eine Präferenz für dialogische Schreibweisen antiker Prägung zeigt aber bereits das Frühwerk. Ein Gespräch zwischen Sokrates und Thimoklea (1754), die dramatische Erzählung Araspes und Panthea (1756 – 60) und der als Brief angelegte Theages (vor 1758) referieren nicht nur auf Platon, Xenophon und Cicero, sondern auch auf den englischen Antiken-Vermittler Shaftesbury, in dem Goethe postum Wielands älteren »Zwillingsbruder im Geiste«¹⁰ erkannte.¹¹ Mark-Georg Dehrmann hat im Detail herausgearbeitet, wie Wieland
Zum »Zusammenhang von anthropologischer Problematik und dialogischen Erzählformen« bei Wieland, vgl. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum Anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996, S. 172. Vgl. Jaumann: Der deutsche Lukian (Anm. 2), S. 79. Zu Wielands Lukian-Rezeption und -Übersetzung vgl. Manuel Baumbach: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. München 2002, S. 89-93 sowie Ders.: »Lukian«. In: Heinz: WielandHandbuch (Anm. 2), S. 411-419. Johann Wolfgang von Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813). In: Ders.: Weimarer Ausgabe, I. Abtheilung, 36. Band, Weimar 1893, S. 311-346, hier, S. 323. Mark-Georg Dehrmann zufolge ist Shaftesbury als Vorbild für die Griechen-Begeisterung Wielands fragwürdig, da dieser schon zuvor mit den antiken Autoren vertraut war. Gleichwohl galt Wieland der Engländer später als »Statthalter der Antike in der Moderne«. Vgl. Mark-Georg Dehrmann: »Das Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 301 u. 314.
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eine »verschlagwortende« Rezeption Shaftesburys eingeleitet hat, die bis heute in der Germanistik fortwirkt. Während der Dichter aus einer eher eklektischen Shaftesbury-Lektüre eigene Konzepte von »Moral Grace«, »kalokagathía« und »Virtuoso« erstellt habe,¹² gebühre ihm andererseits das Verdienst, als erster die topisch gewordene Spottprobe des Engländers richtig verstanden zu haben.¹³ Sie begegnet als sogenannte »Schwärmerkur« sowohl im Don Sylvio als auch im Peregrinus Proteus wieder.¹⁴ Auch im Hinblick auf den »Test of Ridicule« fällt allerdings die produktive Vermischung disparater Elemente aus der Philosophie des Engländers auf. So bringt Wieland im Agathon-Roman die Spottprobe in eine eigentümliche Konstellation mit den von Shaftesbury empfohlenen Praktiken des Selbstgesprächs und des Dialogs.¹⁵ .. Dialog und Selbstgespräch in der Geschichte des Agathon Die Geschichte des Agathon exponiert die gefährliche Seite des »Komischen Geistes« und macht dadurch deutlich, dass der Spott, um seine heilende Wirkung zu entfalten, des Gesprächs als begleitender therapeutischer Maßnahme bedarf. Während Don Sylvio und Peregrinus sich dank der Herausforderung durch ihre Gesprächspartner der lächerlichen Seite der
Vgl. ebd., S. 288 ff. Vgl. ebd., S. 318. Der »Test of Ridicule« bietet Spott als Heilmittel gegen falschen Ernst und Fanatismus an. Erstmals erwähnt in A Letter concerning Enthusiasm (1708) und näher ausgeführt und verteidigt in Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour (1709), stellt er »einen der zentralen Topoi der Shaftesbury-Rezeption« dar (ebd., S. 49). Ihm liegt die Idee eines natürlichen Widerstands der Wahrheit gegen ungerechtfertigten Spott zugrunde: »Truth, ’tis supposed, may bear all Lights: and one of those principal Lights or natural Mediums, by which Things are to be view’d, in order to a thorow Recognition, is Ridicule itself, or that Manner of Proof, by which we discern whatever is liable to just Raillery in any Subject.« Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour. In a Letter to a Friend. In: Ders.: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgew. Briefe u. nachgel. Schriften. In engl. Sprache mit dt. Übers. Hg., übers. u. komm. v. Wolfram Benda u. a. Stuttgart – Bad Cannstatt 1981 ff. Bd. I.3, S. 14-128, hier S. 18 (Hervorh. i. Orig.). Erst im Dialogroman, so die These von Jutta Heinz, findet Wieland die »angemessene Form für die problematische innere Geschichte des Schwärmers«: Die »Gesprächsutopie« wird zur »Gesprächstherapie«. Vgl. Jutta Heinz: »Von der Schwärmerkur zur Gesprächstherapie. Symptomatik und Darstellung des Schwärmers in Wielands ›Don Sylvio‹ und ›Peregrinus Proteus‹«. In: Wieland-Studien 2 (1994), S. 33-53, hier S. 51 f. Im Spätwerk Wielands wird Walter Erhart zufolge nur noch »Trauerarbeit« über den Verlust aufklärerischer Ideale geleistet und der konsensuelle Wahrheitbegriff verabschiedet. Vgl. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt. Tübingen 1991, S. 333-350. Zur Bedeutung Shaftesburys für die Dialogtradition des 18. Jahrhunderts vgl. Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Studien zu Shaftesbury, Diderot, Madame d’Épinay und Voltaire. Würzburg 2002.
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Schwärmerei bewusst werden und so eine relativierende Außensicht auf ihren Charakter erhalten, gerät der zur »natürlichen Heiterkeit«¹⁶ veranlagte Agathon am Ende des Romans in der ersten Fassung, auf sich allein gestellt, in den Strudel der Selbstverachtung.¹⁷ Die Einsetzung des Archytas, der gleichsam als deus ex machina auftritt und den Helden im letzten Augenblick davor bewahrt, als »misanthropischer Einsiedler« zu enden, kommentiert der Erzähler selbst als »Sprung aus dem Fenster« (GA, S. 515 f.) und gesteht damit den unbefriedigenden Schluss seines Werks ein. Ob der »neu hinzugekommene[ ] Dialog zwischen Agathon und Archytas«, der gemäß Vorrede zur Ausgabe letzter Hand dazu bestimmt ist, dem Roman »die Krone aufzusetzen« (GA, S. 591), die angestrebte Vollendung tatsächlich zu leisten vermag, kann durchaus bezweifelt werden.¹⁸ Von den offenbar zahlreichen »Unterredungen« (vgl. GA, S. 740 u. 771), in welchen der »ehrwürdige Greis« den »jungen Freund[ ]« (GA, S. 771) von seiner Philosophie überzeugt, werden nur die Präliminarien präsentiert (GA, S. 741-752). Sie etablieren das Kommunikationsverhältnis, indem sie zwei Lebensberichte miteinander verknüpfen. Erst der monologische Rückblick des Alten (GA, S. 752-771), zu dem das Gespräch überleitet, präsentiert die moralische Lehre, die geeignet sein soll, Agathon mit sich selbst »in bessere Übereinstimmung zu bringen« (GA, S. 749). Einen befriedigenden Abschluss findet das Erzählprojekt durch die Rekapitulation des Archytas allerdings insofern, als mit ihr das Soliloquium als Methode der Selbsterkenntnis und -erziehung rehabilitiert wird. Das Problem des jungen Agathon erweist sich damit retrospektiv als falsche oder ungenügende Praxis der Selbstinspektion. Zu Beginn des Romans nämlich wird das Motiv der Spottprobe als ein durchaus ambivalentes Verbindungsglied zwischen Dialog und Selbstgespräch eingeführt. So bricht Agathon im Anschluss an die erste große Auseinandersetzung mit Hippias, die in eine monologische Selbstdarstellung des »skeptischen Atheisten« gemündet hatte, in ein Lachen aus, das »immer wieder anfing, so oft er sich die Miene, den Ton und die Gebärden vorstellte, womit der weise Hippias die nachdrücklichsten Stellen seiner Rede von sich gegeben hatte.« (GA, S. 66)
Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 11), im Text zitiert mit der Sigle GA, hier S. 506. Hans-Jürgen Schings hat bereits darauf hingewiesen, dass der »anti-enthusiastische, komische Geist, der den Erzähler durchweg inspiriert, […] das Erbe des ›test of ridicule‹ an[tritt], mit nicht geringem Erfolg bei Agathon selbst«. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 201. Zur unheilvollen Verknüpfung von »Komische[m]« und »Enthusisastische[m]« Geist vgl. die Rekapitulation über den »moralischen Zustand« des Helden, GA, S. 494-511, hier 506 f. Vgl. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (Anm. 14) sowie: Ders.: »Geschichte des Agathon«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 2), S. 259-274.
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In den Händen des Schwärmers dient der Spott nicht einer gemeinsamen Verständigungsbemühung, sondern allein dem Selbstschutz. In der sich anschließenden, ernsthaften Auseinandersetzung bleibt Agathon, auch wenn er sich rhetorisch an den abwesenden Hippias wendet, mit sich allein. Als philosophische Praxis, wie sie Shaftesbury empfiehlt,¹⁹ wird das Soliloquium durch Wielands Helden zunehmend desavouiert, fördert es doch nicht die Selbsterkenntnis, sondern die Selbsttäuschung. Immer wieder entzieht sich Agathon dem Gespräch mit Hippias, um sich im Stillen von der Überlegenheit der eigenen Position zu überzeugen (vgl. GA, S. 188 ff., 344 ff., 498 ff.). Diese scheinbar bequeme Ausflucht wendet sich letztlich gegen ihn selbst, denn angesichts eines Übermaßes an negativen Erfahrungen vermag er den imaginierten Zweikampf nicht mehr für sich zu entscheiden: Der zuvor als Schutz eingesetzte Spott entfaltet nun seine volle autodestruktive Kraft. Der Kerker, in den Agathon schließlich geworfen wird, stellt insofern nicht erst Ursache (vgl. GA, S. 501) der Menschenverachtung dar, sondern führt im Bild die negative Konsequenz eines sich selbst genügenden idealischen Denkens vor.²⁰ Tatsächlich, so zeigt die spätere Fassung des Romans, stellt der abwesende Hippias die größere Gefahr dar als der anwesende. Zwar ist Agathon in der später hinzugefügten Begegnung mit Hippias im Kerker (vgl. GA, S. 600-621) noch nicht bereit, in einen echten Dialog zu treten, sondern bannt das gefürchtete Gegenüber mit einer monologischen Rede, die keinen Widerspruch zulässt – doch führt diese überfällige Konfrontation bereits eine ›therapeutische‹ Wirkung vor, indem sie den Helden vor der drohenden Misanthropie bewahrt. Das befreiende ›Schutzlachen‹, das die Präsenz des Gegenübers noch entbehren konnte, ist hier in eine »Schutzrede« (GA, S. 611) transformiert, die des Adressaten bedarf. Therapie setzt also – hier stimme ich Walter Erhart zu – Konsens nicht voraus.²¹ In der mimetischen, auf die direkten Redebeiträge konzentrierten Darstellungsform, die Wieland für die erste Auseinandersetzung zwischen Hippias und Agathon wählt, wird im Verlauf des Romans nur noch ein weiteres Gespräch exponiert (vgl. GA, S. 106-110).²² Dramatische Vgl. Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: Soliloquy: or, Advice to an Author (1710). In: Ders.: Standard Edition (Anm. 13), Bd. I.1, S. 34-300. Die Festsetzung Agathons in Syracus erscheint als unmittelbare Folge einer fehlgeleiteten Selbstberatung, die der Held wählt, anstatt dem Rat Aristipps zu folgen, vgl. GA, S. 479 ff. Vgl. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (Anm. 14). In der ersten Fassung des Romans wird das erste Gespräch zwischen Agathon und Hippias durch die Voranstellung der Sprechernamen noch deutlicher nach dem typografischen Vorbild des platonischen Dialogs notiert und somit in seiner formalen Sonderstellung hervorhoben. In der Ausgabe letzter Hand werden die philosophischen Wechselreden nicht anders als andere Figurendialoge durch die Verwendung von Absätzen und Anführungsstrichen kenntlich gemacht, vgl. Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke.
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Figurenrede und erklärende, das Innenleben der Redner analysierende und kommentierende Erzählerrede wird fortan nicht mehr nacheinander, sondern gleichzeitig, ineinander verwoben, präsentiert. Verantwortlich für dieses Verschwinden des philosophischen Dialogs in der Narration scheint mir nicht allein der erzählerische Fokus auf dem Innenleben des Helden zu sein, sondern mehr noch dessen schwärmerisches Privileg für das Selbstgespräch.²³ Wenn Wieland im Jahre 1800 mit dem Entwurf eines Gesprächs zwischen Agathon und Hippias im Elysium noch einmal auf die aus dem Roman verdrängte Gattung des philosophischen Dialogs zurückkommt, so betont diese in der Tradition des Totengesprächs stehende Fiktion zwar einerseits die Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit gegenüber dem Roman, löst aber andererseits auch einen Anspruch an den Protagonisten ein, sich zur Dialogfähigkeit hin zu entwickeln. Diese erst eröffnet dem Autor den Spielraum, seinen Romanhelden als Teilnehmer eines urbanen Gesprächs zu imaginieren, dessen Darstellungsform ganz anderen Prinzipien folgt als die epische Erzählung.²⁴ Gerade weil die Performanz der Rede hier scheinbar hinter den sachlichen Gehalt zurücktritt, ist es meines Erachtens notwendig, die reduzierten Hinweise auf personale Eigenheiten und die Situationsbedingtheit der Aussagen besonders ernst zu nehmen. Angesichts des eingelösten Gesprächsideals eines gleichberechtigten Austauschs einander freundlich gesinnter Geister, verwundert es nicht, dass in der Forschung weithin Einigkeit darüber besteht, dass die Position des Hippias im Elysiumsgespräch gegenüber dem Roman aufgewertet wird.²⁵
Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. (Im Text zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl.) SW I.1, S. 83-97 u. 165-173. Vgl. dazu auch den Erzählerkommentar, GA, S. 68. Einen Zusammenhang zwischen Schwärmertum und Selbstgespräch stellt auch der Roman Peregrinus Proteus her. Vgl. dazu Anm. 32. Wielands Produktion von eigenständigen Dialogen hängt offenbar mit seiner Übersetzung von Lukians Werken zusammen, die 1788/89 in sechs Bänden erscheint (vgl. Anm. 9). Neben dialogisch verfassten Kommentaren zur Französischen Revolution erscheinen im Neuen Teutschen Merkur auch einige der insgesamt zwölf Neuen Göttergespräche, die 1791 in einem Band herauskommen. 1798/99 folgen zwölf Gespräche unter vier Augen. Das Modell des Totengesprächs, das Wieland in seinem späten Epilog zum Agathon noch einmal aufnimmt, lässt er 1780 und 1787 nach je zwei Folgen im Teutschen Merkur wieder fallen. Zum Roman ausgearbeitet, präsentiert er es dafür wenig später (1788) in der Geheimen Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus. Dieser Dialogroman hat weder mit der auf Pointe zielenden Gesprächstradition Lukians noch mit dem platonischen Dialog Ähnlichkeit, sondern stellt eine Alternative zur fiktiv herausgegebenen Ich-Erzählung dar; vgl. Müller: Wielands späte Romane (Anm. 4), S. 17 u. 43. Jan-Dirk Müller liest die Auseinandersetzung um die »innere Form« des Menschen als Bindeglied zum Spätwerk (Müller: Wielands späte Romane, Anm. 4, S. 93), Klaus Manger zufolge nimmt Hippias die »Position eines Weisen« (GA, S. 956) ein, gemäß Walter Erhart
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Dieser Befund verweist aber zugleich auf eine paradoxale Struktur, die sichtbar wird, wenn man die Situation, in der sich die beiden Interlokutoren befinden, einbezieht. Wenn Hippias sich lachend gegen Agathons idealischen Begriff der Vollkommenheit wendet und dagegen das wirkliche Individuum setzt, dann fordert er dort ›Welt‹ ein, wo diese nicht mehr zu haben ist.²⁶ Der extramundane Standpunkt, der das Gespräch von Kontingenz und Interesse befreien sollte, erweist sich somit auch für dieses selbst als unerreichbares Ideal. Anders formuliert: Die gestärkte Position des Hippias in der Unterwelt ist deshalb so prekär, weil sie gegen die Gesprächsfiktion selbst Einspruch erhebt. Die Imagination einer von allen individuell-menschlichen Trieben abstrahierten Menschheit und die Auseinandersetzung über deren Perfektibilitätspotential wird damit prinzipiell fragwürdig.
. Zwischen Roman und Dialog: Elysiumsfiktionen .. Gespräche im Elysium Die Produktivität der Elysiumsfiktion liegt für Wieland mithin nicht in der Einlösung dieses Abstraktionsanspruchs, sondern – im Gegenteil – in dessen Herausforderung. Wie bewusst die Logik des Orts als Widerstand in die Argumentation eingelassen ist, zeigt sich in den diskursiven Wiederholungs- und Übertragungsprozessen, welchen das Wort »Abschälung« unterworfen wird (vgl. GA, S. 779 ff.). Um diese recht zu beurteilen, empfiehlt sich ein Blick auf Wielands erste Elysiumsgespräche von 1780. Bereits dort wird das Motiv der Abschälung von Lukians zehntem Totengespräch²⁷ übernommen und im Sinne einer einführenden Charakteristik des Gesprächsortes ausgestaltet. In den Gespräche[n] im Elysium ²⁸ verengt
richtet Agathon sich in der Wahrnehmung seiner Selbsttäuschung zwar »nach der therapeutischen Anweisung des Hippias«, tritt aber nicht in einen Konsens mit ihm (Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, Anm. 14, S. 350), und auch Bernhard Budde beurteilt die Gültigkeit des zuletzt geschlossenen Kompromisses skeptisch (Budde: Aufklärung als Dialog, Anm. 2, S. 119). Hans-Jürgen Schings zufolge begünstigt bereits die »Versuchsanordnung« der ersten Romanfassung Hippias, »indem sie ihm alle Trümpfe von Aufklärung und Vernunft in die Hand gibt« (Schings: Melancholie und Aufklärung, Anm. 17, S. 98). Vgl. Christoph Martin Wieland: Agathon und Hippias. Ein Gespräch im Elysium. In: Attisches Museum, 1800, III.2, nachfolgend zit. n. GA, S. 779-795. Vgl. Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erklärungen versehen von C. M. Wieland. Bd. 2. Leipzig 1788, S. 222-230. Christoph Martin Wieland: Gespräche im Elysium. In: TM 4/1780, S. 67-55; 122-138. Im Folgenden zit. nach: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (später Preußische A. d. W.; Deutsche A. d. W.). Berlin 1909 – 1976. Hier im Band zitiert mit der Sigle WGS, römischer Ziffer für Abteilung, arabische Ziffer für Band sowie Seitenzahl, hier I.14, S. 281-300.
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sich das Panorama von Lukians unterirdischem Welttheater auf den Typus des Dichters. An die Stelle Charons tritt mit »Lucian« der antike Autor selbst, der den Neuankömmling Diokles mit dem Brauch der Reinigung bekannt macht. Das groteske Bild des »Lappen«- oder »Schuppen«Abwerfens bekommt hier durchaus existentielle Züge, denn mit jeder Täuschung, derer sich der Tote nun entledigt, fühlt er sich nicht etwa »leichter« und »freyer« (WGS I.14, S. 282), sondern fürchtet vielmehr, sich ganz in »Dunst und Schlacken« aufzulösen (WGS I.14, S. 283). Ausgedünstet werden im Reich der Seligen aber nicht etwa Laster, sondern eingebildete Tugenden wie Mitleid oder Wahrheitsliebe. »Ach! was wird aus allen den Tugenden werden, in deren Bewußtseyn ich mir oft so gütlich that!« klagt Diokles (WGS I.14, S. 284). Wielands Lucian treibt in seiner Antwort den antiklerikalen Akzent hervor: »Du büßest hier für – Deine Tugenden« (WGS I.14, S. 285). Gegen das religiöse Heuchlertum setzt Wieland die platonische Philosophie. So scheint Diokles recht eigentlich im platonischen Ideenhimmel angekommen zu sein, wenn Lucian ihn mit den Worten tröstet: »Deine Augen sind noch dunkel, deine Ohren noch schlaff; du bist unsrer Luft, unsers Lichts noch ungewohnt« (WGS I.14, S. 282) – und kurz darauf bekräftigt: »bey uns ist alles wahr, und eben darum sind wir glücklich« (WGS I.14, S. 284). Nachdem Diokles in einem idyllischen Platanen-Hain ein reinigendes Bad genommen hat, wird er schließlich über den Unterschied zwischen platonischer Liebe und Schwärmerei aufgeklärt. Denn nur von letzterer gilt es sich zu befreien. Die Nähe zu Shaftesburys Differenzierung zwischen einem ›guten‹ philosophischen Enthusiasmus und ›schlechter‹, mit Fanatismus assoziierter Schwärmerei, wird im Hinweis auf den Künstler explizit gemacht, der bereits im Diesseits fähig sei, das »Gefühl des Göttlichen« zu empfinden. »Dies ist der Karakter des Dichters, des wahren Machers« (WGS I.14, S. 294), resümiert Lucian in fast wörtlicher Übernahme von Shaftesbury.²⁹ Anders als in der Geschichte des Agathon wird hier also der Platonismus nicht negativ mit Schwärmerei assoziiert,³⁰ sondern als positiver Gegensatz zur christlich-klerikal konnotierten Tugendlehre hervorgehoben. Auch wenn Diokles an einer Stelle belustigt feststellt, dass Lucian und Panthea, des idealischen Ortes, an dem sie sich befinden, zum Trotz »noch nicht ganz von der Schwachheit frey [sind], einander Schmeicheleyen zu sagen« (WGS I.14, S. 289), wird der positiven, reinigenden Bestimmung der »Abschälungen« in Wielands ersten Elysiumsgesprächen noch kein nennenswerter Widerstand entgegengehalten. Auffällig ist hingegen die Vgl. Shaftesbury: Soliloquy (Anm. 19), S. 110: »Such a Poet ist indeed a second Maker: a just Prometheus, under Jove« (Hervorh. i. Orig.). Das Bekenntnis zu Platon unterscheidet Shaftesbury von den deutschen Anti-Enthusiasten. Vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung (Anm. 17), S. 184.
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eklektische Vermischung philosophischer und sozialpolitischer Diskurse. So wird das Totenreich schließlich auch noch mit den Attributen eines geheimen Ordens ausgestattet: Vorgeführt wird die Initiation des Diokles in das »Geheimniß« eines wunderbaren Ortes, an dem jeder »Ein Mensch wie ein anderer« ist (WGS I.14, S. 286), in dem sich die »heiligsten Augenblicke der Freundschaft« ereignen und deren »Heiligthum« auszuplaudern mit Ausschluss geahndet wird (WGS I.14, S. 293). Metaphysik, Künstlerapotheose und Esoterik laufen in diesem Elysium ineinander. .. Agathon und Hippias. Ein Gespräch im Elysium Ich komme nun noch einmal zurück auf das 20 Jahre später entstandene Gespräch zwischen Agathon und Hippias im Elysium. Das Motiv der »Abschälungen« wird hier gleich zu Anfang aufgenommen und von Agathon usurpiert: In seinen Augen ist es Hippias, der die Befreiung von der Selbsttäuschung als Verlust seiner Individualität fürchtet. Als Gegner Agathons muss Hippias somit auch gegen das Prinzip des Ortes argumentieren, an dem sich beide befinden. »Wenn sich jeder zu seines gleichen hält, bedarf es keiner Abschälungen« (GA, S. 779), wendet er ein. Andererseits macht er sich den Brauch auch zunutze, wenn er Agathon sein Schwärmertum mit der Vermutung verdeutlicht, auch er habe »noch einiger Abschälungen vonnöten« (GA, S. 780). Erst in der dritten Wiederaufnahme des Motivs aber findet Hippias zu seinem eigentlichen Einwand, der jetzt a posteriori auch die Grundlagen der früheren Elysiumsfiktion erschüttert: Der Begriff vom Menschen, für den Agathon eintritt, ist Hippias zufolge ein »rein abgeschälter mit Vollkommenheiten um und um behangener Begriff, womit eine Worthülse ausgefüttert wird, deren die Sprache aus Notdurft sich bedient, weil sie sich nicht anders helfen kann.« (GA, S. 781) Hatte Lukian in seiner Begründung der Metapher einen moralisch-geistigen Vorgang in die Bildsprache des Leibes übersetzt, so wird hier nun die Abschälung aus dem Bildfeld des Leibes wieder zurück in das der Sprache verschoben: Nicht die Körper der Toten werden nun abgeschält, sondern die Begriffe werden ihres Wirklichkeitsbezugs enthoben. Abschälen ist jetzt negativ konnotiert, indem es als Substitut für »abziehen«, »abstrahieren« eingesetzt wird.³¹ Unterstrichen wird diese rhetorische Strategie des Hippias durch ihre doppelte Anwendung, denn auch der Begriff der
Unter »Abziehen« notiert das Grimm’sche Wörterbuch: »Sehr häufig, doch erst seit LEIBNITZ, urtheile, begriffe, folgerungen, regeln, gedanken abziehen, ableiten, entnehmen, abstrahieren.« Jacob u. Wilhem Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854 (Nachdruck: München 1984), Sp. 159. Unter »Abschälen« wird zwar der figürliche Gebrauch für »absondern, lösen, frei machen« vermerkt, nicht aber in Bezug auf Begriffe o. ä. für ›abstrahieren‹ (ebd., Sp. 95). Das Wort vom »abgezogenen Menschen« fällt in der Rede des Hippias wenige Zeilen später (GA, S. 781).
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»Notdurft« wird, entgegen der Konvention, auf Sprachhandlungen übertragen. An der tendenziellen Überanstrengung der metaphorischen Kraft der Sprache wird überdies das Problem der semantischen Abstraktion anschaulich. Hippias’ Wortwahl führt damit zugleich vor, was bewiesen werden soll, denn »Abschälung« und »Notdurft« lassen sich nicht vollständig aus ihrem ursprünglichen leiblichen Kontext entfernen. Die Anwendung dieser Begriffe auf Sprachhandlungen wirkt grotesk.³² Als platonische ist die Welt des Elysiums Wieland um 1800 gründlich suspekt geworden. Hiervon zeugt auch das vierte Buch des Aristipp, in dem Platons Staat – d. h. eben jener Text, auf dessen Höhlengleichnis sich die frühere Elysiumsfiktion noch affirmativ zu beziehen schien – einer ausführlichen Kritik unterzogen wird.³³ Wenn Hippias konstatiert, dass Agathon einen »willkürlich gebildeten Begriff[ ]« vom Menschen »für etwas wirkliches gelten« (GA, S. 789) lässt, so entspricht er Aristipps Platon-Kritik,³⁴ die besagt, dass der ›Abschälungsvorgang‹ auch nicht einfach rückgängig zu machen ist. Der abgezogene Begriff ist der Veranschaulichung nicht mehr fähig. – Aus dieser Sicht erscheint es konsequent, dass sich Agathon und Hippias nur auf der Durchreise befinden. Als diejenige Welt erkannt, die die ›wirkliche Welt‹ aus ihrem Prinzip heraus negieren muss, eignet sich das Totenreich nicht für Unterhaltungen, welche Relevanz für die Lebenden beanspruchen. Gleichsam zur Rettung dieses Anspruchs wenden sich die beiden elysischen Gesprächspartner abschließend ihren »Geschäften« zu. Während Hippias sich um den kulturellen Wiederaufbau eines von »fürchterlicher Umwälzung« (GA, S. 794) erschütterten Landes kümmern wird, will sich Agathon als Genius eines jungen Königs verdient machen. Wie ich abschließend zeigen möchte, knüpft Wieland mit diesen Anspielungen auf die aktuelle politische Situation³⁵ nicht nur Auch im Peregrinus Proteus wird das Motiv der Abschälung aufgenommen (vgl. SW IX.27, S. 39), aber die Verknüpfung mit der platonischen Ideenschau bereits ironisch kommentiert. So erinnert Peregrinus die Wirkung seiner Platon-Lektüre in schwärmerischem Ton: »mir war, da diese Flamme in mir hervorbrach, als ob eine dunkle dichte Rinde, die mein Wesen bisher umschlossen hätte, plötzlich von mir abfiele« (SW X.27, S. 67) Daraufhin erklärt der Gesprächspartner Lucian pragmatisch, »seine alten Schalen und Rinden noch nicht alle durchbrochen [zu] haben« (ebd., 68) und bittet Peregrinus, »dich so nahe als dir immer möglich ist an meine Rinde zu halten, und eine Sprache mit mir zu reden die ich verstehe, wenn du willst daß es nicht eben so viel sey, als ob du bloß mit dir selber sprächest« (ebd., 70). Zur impliziten Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie in Aristipps Platon-Kritik vgl. die Studie von Jan Cölln: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im »Aristipp«. Göttingen 1998, bes. S. 135-205. Vgl. Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 28), im Text zitiert mit der Sigle AZ, S. 820. Angespielt wird hier auf Frankreich und den preußischen König Friedrich Wilhelm III. Vgl. Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart 1949, S. 452.
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thematisch, sondern auch poetologisch an seine Revolutionsgespräche der 1790er Jahre an.
. Zweite Tendenz: Literarisierung des politischen Dialogs .. Eine Lustreise ins Elysium Wielands Adaption der lukianesken Gesprächstradition steht frühzeitig im Zeichen einer politischen Funktionalisierung. Nicht erst die Neuen Göttergespräche, sondern bereits die zweite Staffel von Gesprächen in der Unterwelt von 1787, die unter dem Titel Eine Lustreise ins Elysium in die Sämmtlichen Werke aufgenommen werden, diskutieren die hochaktuelle Frage nach den rechtlichen Grundlagen der Monarchie.³⁶ Auffällig an dieser zweiten Elysiumsfiktion ist der lange Prolog, mit dem das Geschehen als Katabase vorgestellt wird. Hierfür werden zunächst einige zeitgenössisch vieldiskutierte Möglichkeiten eines Überschreitens der Grenze zum Totenreich zurückgewiesen: Weder Mesmer noch Cagliostro, aber auch nicht Swedenborg, so der Erzähler, haben ihre Hände im Spiel, wenn er zwecks Überprüfung der Lukian’ischen Totengespräche seine Reise ins Jenseits antritt. Doch steht die satirisch formulierte Zurückweisung magischer Praktiken nicht im Zeichen vollständig aufgeklärter Vernünftigkeit, denn auch der Vergleich mit dem Traum wird als unzulänglich erkannt. Als vermittelnde Theorie zwischen Aufklärung und Esoterik setzt Wieland hier die der Seelenwanderung ein. Deren Nähe zu den Geheimgesellschaften stellt die untergründige Verknüpfung zu den ersten Elysiumsgesprächen her, die sich ansonsten in Personal und Themenwahl deutlich unterscheiden.³⁷ Denn mit dem Erzähler-Ich betritt dieses Mal ein Gast die Unterwelt – der allerdings in »Menippus« einem nahen Verwandten des zuvor eingesetzten »Lucian« begegnet. Die Auseinandersetzung über Recht und Gewalt nimmt bald den Charakter einer akademischen Disputation an, in der der als Richter hinzugezogene »Xenofon« die Verteidigung des Erzähler-Ichs übernimmt.³⁸ Der Sieg über Menippus wird schließlich durch die willkürliche Beendigung der Fiktion erzwungen – Vgl. Christoph Martin Wieland: Eine Lustreise ins Elysium. Zuerst u. d. T. Eine Lustreise in die Unterwelt in: TM 3/1787, S. 108-141 u. 4/1787, S. 3-28, im Folgenden zit. n. WGS I.15, S. 74-110 sowie Göttergespräche, teilw. zuerst in: NTM 3/1790, u. 1/1793, vollständig in: SW VIII.25, S. 5-276. Zur Publikationsgeschichte der Göttergespräche vgl. auch Jaumann: Der deutsche Lukian (Anm. 2), S. 61 ff. Auch dem Peregrinus Proteus ist eine Katabase-Fiktion vorangestellt, die allerdings affirmativ auf Swedenborg Bezug nimmt. Zum ritualisierten Ablauf einer akademischen Disputation, in der der Präses wenn nötig dem Respondenten Hilfe leisten kann, vgl. Ursula Kundert: Konfliktverläufe. Normen der Geschlechterbeziehungen in Texten des 17. Jahrhunderts. Berlin, New York 2004, S. 108 f.
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welche (dem eingangs betonten Unterschied zum Trotz) in der Art eines Aufwachens aus einem Traum geschildert wird. Aus der Sicht des fast 20 Jahre später entworfenen Aristipp dürfte dieses Gespräch kaum besser beurteilt werden als Platons Staat. Gegenüber dem zusehends monologisierenden Xenofon bleibt Menippus nicht viel mehr, als dessen Schlussfolgerungen »abzunicken« (vgl. AZ, S. 732). Die Absetzung vom »Platonischen After-Sokrates«³⁹, die Wieland später unter ausdrücklicher Berufung auf den historischen Xenophon vornimmt, scheint hier noch nicht vollzogen zu sein.⁴⁰ Wielands nächstes Projekt einer lukianesken Schreibweise, die Neuen Göttergespräche, steht zunächst im Zeichen einer aufgeklärten Religionskritik und nimmt erst im letzten Drittel das aktuelle politische Thema, die Französische Revolution, auf. Vergleicht man sie mit anderen, ebenfalls in Dialogform verfassten Kommentaren zur Revolution, so nutzt Wieland hier den betont fiktionalen Rahmen für einen größeren Aussagespielraum. Schon durch die höhere Zahl an Gesprächspartnern wird eine breitere Vielfalt von Positionen vermittelt. Vor allem aber die gelassene Haltung Jupiters, selbst anlässlich der Hinrichtung des französischen Königs, verleiht den Gesprächen insgesamt einen deutlich pro-revolutionären Akzent.⁴¹ Die Erweiterung des Personals um »einige tote: sprich: Christoph Martin Wieland: Versuch über das Xenofontische Gastmahl, zit. n. AZ, S. 1014. Zu Wielands Auseinandersetzung mit den Schriften Xenophons vgl. Manuel Baumbach: »Xenophon«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 2), S. 425-430. Auch Jan Philipp Reemtsma kommt in seiner Analyse der Lustreise ins Elysium zu dem Schluss, dass hier »eines der wesentlichen Ziele der Wielandischen Dialoge, nämlich Argumentationsstrukturen aufzudecken, verfehlt wird«. Jan Philipp Reemtsma: »Der politische Schriftsteller Christoph Martin Wieland«. In: Christoph Martin Wieland: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler. 3 Bde. Nördlingen 1988, im Text zitiert mit der Sigle PS und römischer Zahl für Band, hier PS I, S. XII-LXXV, hier S. XXXII. Über Wielands Haltung zur Französischen Revolution ist viel gestritten worden. GonthierLouis Fink bezweifelt, dass Wieland bis 1793 der Französischen Revolution freundlich gesonnen gewesen sei, und verweist auf die Unterredung zwischen Walther und Adelstan (TM 3/1789, S. 225-262); vgl. Gonthier-Louis Fink: »Wieland und die Französische Revolution (1974)«, in: Christoph Martin Wieland. Hg. v. Hansjörg Schelle. Darmstadt 1981, S. 407-443, hier S. 412. Eine andere Auffassung vertritt Reemtsma, der die dem Gespräch folgende Kosmopolitische Adresse an die Französische Nationalversammlung (TM 4/1789, S. 24-60) ebenfalls Walther zuordnet. Den erstaunlichen Umstand […], dass Wieland »als wuchtigste Argumente gegen den jeweiligen Zustand der Revolution anführt (nachdem er beklagt hat, sie sei zu weit gegangen), sie gehe nicht weit genug«, deutet Reemtsma nicht als Meinungsäußerung, sondern als einen Ausdruck konsequenten politischen Denkens: »er ›las‹ gleichsam die Französische Revolution wie einen argumentierenden Text, und so merkte er an, wenn die Handlungsträger aus ihren Prämissen nicht die folgerechten Schlüsse zogen.« In dieser Manier kritisiere auch Jupiter das revolutionäre Geschehen in Frankreich gleichsam »von ›links‹« (PS I, S. XXXVIII f. u. XLVII). Daniel Wilson zufolge stand Wieland bis 1792 im Ruf einer liberalen Position zur Revolution. In dieser Meinung seien sich die gegensätzlichen Zeitschriften Moniteur Universel und die Wiener Zeitschrift
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vergöttlichte«⁴² Herrscher / innen hybridisiert die Gattung des Göttergesprächs und unterstützt die Verhandlung historisch-politischer Themen.⁴³ An die Stelle poetologischer Allegorien, als welche die fiktiven Gesprächspartner Lucian, Menippus und Xenofon lesbar sind, treten nun historische Allegorien gerechter Machtausübung. .. Gespräche unter vier Augen In seinen Elysiumsfiktionen aktualisiert Wieland die antike Gattung, indem er sie mit dem Freimaurerdiskurs verknüpft. Anders als der Roman Peregrinus Proteus stellt der Komplex Ordensgründung und Arkangesellschaft nicht einen Gegenstand der Unterhaltung dar, sondern bietet diskursive Versatzstücke für die Konstitution einer »experimentellen Gesprächssituation« an, die für sich beanspruchen kann, »unter den Bedingungen von ›Wahrheit‹ und ›Objektivität‹«⁴⁴, d. h. frei von partikularen oder gesellschaftlichen Interessen stattzufinden. Mehr als bloß Versatzstücke, die z.T. auch in satirischer Absicht eingeflochten sein mögen, bietet Wieland allerdings nicht an. Dabei hätte das Totengespräch durchaus das Potential gehabt, das Freimaurergespräch aus den Netzen der Vorverurteilungen zu befreien. Der extramundane Schauplatz des Totenreichs hätte den geheimen Zirkel naturalisiert und auf diese Weise vom Verdacht auf staatsgefährdende Tätigkeiten losgesprochen.⁴⁵ Gerade die Abstraktion und Entlegenheit der Unterweltfiktion aber mag Wieland bewogen haben, seine politischen Dialoge deutlicher im »wirklichen« Leben und der historischen Situation nach 1789 zu situieren. Wenn er für die Gespräche unter vier Augen wieder ins Reich der Lebenden zurückkehrt und Unterhaltungen auf einem Landsitz imaginiert, so verabschiedet er die lukianeske Gesprächstradition zugunsten eines eher ernsthaft-philosophischen, vielleicht auch einmal humorvoll-spöttischen, aber selten satirischen Dialogs unter in ihrer Rezeption von Wielands Cagliostro-Bericht (TM 2/1791, S. 377-385) einig gewesen; vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars. Stuttgart 1991, S. 177. Mit dieser Charakterisierung kommentiert Reemtsma Wielands Vermischung von Götter- und Totengespräch, vgl. PS I, S. LVI. Vgl. dazu ausführlicher Jaumann: Der deutsche Lukian (Anm. 2) sowie Hans-Dietrich Dahnke: »Die Götter im Negligé. Die Erneuerung der lukianischen Gesprächstradition in Wielands ›Göttergesprächen‹«. In: Impulse: Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Hg. v. Walter Dietze u. Werner Schubert. Folge 9. Berlin, Weimar 1986, S. 187-224. Herbert Jaumann: Artikel »Totengespräch«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 652-655, hier S. 652 f. Der Zusammenhang von Freimaurerei und Elysiumsfiktion wäre u. U. eine nähere literaturhistorische Untersuchung wert. So publizierte z. B. bereits 1739 der englische Freimaurer James Anderson Totengespräche unter dem Titel News from Elysium.
Rückkehr aus dem Elysium
Freunden, für den ihm insbesondere Xenophon ein Vorbild war. »[N]ur in einer bürgerlich freien Gesellschaft«, so der Kommentar zu Xenophons Gastmahl, findet »freie Mitteilung und wechselseitiger Umtausch unserer Gedanken und Gesinnungen, […] verbunden mit der schuldigen Achtung für unsre gleiches Recht besitzenden Gesellschafter« (AZ, S. 1005) statt. Die Rahmenkonstellation der Gespräche unter vier Augen, mit welchen sich Wieland nach mehrjähriger Kommentarpause wieder zu Wort meldet, setzt somit fiktional die Freiheit bereits voraus, auf welche die Dialogpartner inhaltlich zielen. Doch auch die Landsitz-Gespräche verknüpfen, so meine These, auf subtile Weise das Aufklärungs- mit dem Arkan-Gespräch und unterhalten so über das Motiv der Geheimgesellschaft eine enge Verbindung mit den Totengesprächen.⁴⁶ Dabei liegt es mir fern, dem Autor des St. James Chronicle vom Januar 1800 nachträglich Recht zu geben, der Wieland verdächtigte, ein aktives Mitglied der Illuminaten zu sein.⁴⁷ Nicht Wielands vermeintliche Nähe zu den Geheimgesellschaften interessiert mich hier, sondern die Rhetorik des Geheimnisses, das den freien Austausch unabhängiger Geister garantieren soll. Als Vorbild fungiert hier nicht nur Lessing mit seinen Gespräche[n] für Freymäurer (1778 – 81), sondern auch Wieland selbst, der als Begründer und Verteidiger des fiktiven Kosmopolitenordens an der diskursiven Entfaltung einer spezifischen, anti-institutionalistischen Geheimbundrhetorik Teil hatte.⁴⁸ Ich möchte dies an zwei Wieland selbst mag dieser Zusammenhang bewusst gewesen sein, als er das Landgut Oßmannstedt in einem Brief an Göschen, in dem er vom Tod seiner Tochter Willhelmine berichtet, als sein »kleines Elysium« bezeichnete (Brief vom 4. Mai 1798) Vgl. Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007, Bd. 14.1, nachfolgend zitiert mit der Sigle WBr, hier S. 273. In seiner Reaktion auf den englischen Artikel distanziert sich Wieland ausdrücklich von den Illuminaten. Gleichwohl wurde er auf einer »Geheimliste« als Mitglied geführt und noch 1801 kursierte in bayerischen Ministerialkreisen die Behauptung, Der Neue Teutsche Merkur sei ein »heimliches Publikationsorgan« für den trotz Verbot noch immer agierenden Orden. Vgl. Fritz Martini: »Wieland, Napoleon und die Illuminaten. Zu einem bisher unbekannten Briefe«. In: Un Dialogue des Nations. München, Paris 1967, S. 65-95, hier: S. 80. Wieland selbst zweifelt in seiner Entgegnung die Existenz des Ordens grundsätzlich an. Vgl. Christoph Martin Wieland: »Meine Erklärung über einen im St. James Chronicle, January 25, 1800 abgedruckten Artikel, der zur Überschrift hat: Prediction concerning Buonaparte«. In: NTM 1/1800, S. 243-276, hier: S. 272 f. In die Weimarer Loge »Amalia« ist Wieland erst 1809 und wohl auf Vermittlung Reinholds eingetreten. Vgl. Klaus Schaefer: Christoph Martin Wieland. Stuttgart 1996, S. 37. Zur Verwandtschaft zwischen Lessings Freimaurergesprächen und den Gesprächen unter vier Augen vgl. auch den Beitrag von Klaus Manger im vorliegenden Band. Zur Unterscheidung von Geheimnis und Heimlichkeit bei Lessing sowie Herders Fortsetzung der Freimaurergespräche unter dem Titel Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft (1793) vgl. Alexandra Kleihues: »Im Dialog mit den Toten. Herders Auseinandersetzung mit Shaftesbury und Lessing in der literarischen Form des Gesprächs«. In: Euphorion 100.1 (2006), S. 131-160.
Alexandra Kleihues
Elementen ausführen, die für die Poetik des Dialogs im 18. Jahrhundert und für die Bestimmung eines ›Ordens ohne Loge‹ gleichermaßen zentral sind. Es handelt sich dabei zum einen um das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit und zum anderen um die Spannung zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Die beiden Komplexe überschneiden sich, insofern das Problem der Schriftlichkeit das der Veröffentlichung mit sich bringt, während die Idee des Geheimnisses mit Mündlichkeit zu harmonisieren scheint. Wielands Artikel Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens erscheint 1788 im Teutschen Merkur ⁴⁹ und dürfte unter dem Druck der verschärften Illuminatenjagd entstanden sein, die nach dem bayerischen Verbot des Ordens auch Weimar erfasste.⁵⁰ Die kaum verschlüsselte Distanzierung gegenüber der in Verruf geratenen Geheimgesellschaft tritt im Verlauf der kleinen Abhandlung jedoch deutlich hinter den Versuch einer positiven Bestimmung des Kosmopolitismus zurück. Das Schlüsselwort für die Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Enthüllung und Verbergung, Handeln und Wirken ist, wie bereits bei Lessing, das im Titel exponierte »Geheimniß«. Während Lessing dessen Wahrheitsgrund, die stillschweigende Übereinkunft aufgeklärter Geister, im Dialog vorführt und damit performativ beweist, wählt Wieland eine andere Beglaubigungsstrategie. Er nutzt, um im Austin’schen Paradigma zu bleiben, den »parasitären«, d. h. den fiktionalen Diskurs auch für konstative Äußerungen.⁵¹ Die »natürliche Anlage« zum Kosmopolitismus, welche die Grundlage seines unsichtbaren Ordens darstellt, gibt es, weil es eine Instanz (»wir«) gibt, die sie bezeugt. Entsprechend seiner Herkunft aus der Geschichte der Abderiten ⁵² bleibt der Status des Komopoliten-Ordens fiktional, die Beglaubigung findet im Stil der für Wieland typischen Herausgeberfiktion statt.⁵³
Christoph Martin Wieland: Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens. In: TM 3/1788, S. 97-115 u. 4/1788, S. 121-143. Nachfolgend zit. n. WGS I.15, S. 207-229. Vgl. Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde (Anm. 41), S. 163-188. Austin betrachtet performative Äußerungen in »parasitären« Kontexten als nichtig. Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972, S. 43 f. Gegen diese Ausgrenzung des fiktionalen Diskurses aus dem Bereich der gesellschaftlichen Relevanz hat Jacques Derrida folgenreich Einspruch erhoben. Vgl. Jacques Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. In: Randgänge der Philosophie. Frankfurt/M. u. a. 1976, S. 124-155. Die folgende Gegenüberstellung von Lessings und Wielands Schreibstrategie, soll vorführen, wie sowohl performative als auch konstative Äußerungen »parasitär« strukturiert sein und dennoch Wirklichkeitscharakter beanspruchen können. Vgl. I. Teil, 4. Buch. Die Geschichte der Abderiten erschien unter dem Titel Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte in 13 Folgen des Teutschen Merkur 1774 u. 1778 – 1780. Vgl. dazu die These von der für Wieland typischen »Metakritik politisch-moralischer Konzepte im Medium des ästhetischen Diskurses«, die Jaumann unter anderem am Beispiel des Geheimniß-Artikels entwickelt; vgl. Jaumann: Politische Vernunft (Anm. 3), S. 476. Michael Voges verweist drauf, dass der »besondere Wirklichkeitscharakter der
Rückkehr aus dem Elysium
Als »Geschichtsschreiber« (WGS I.15, S. 207) der Abderiten stellt sich der Autor vor, und in dieser Rolle beschließt er auch, das Geheimnis des Ordens »ohne alle Zurückhaltung so aufrichtig und deutlich bekannt zu machen, daß es auch dem einfältigsten Menschenkinde in Zukunft unmöglich sein soll, echte und unechte Kosmopoliten jemahls mit einander zu verwechseln« (WGS I.15, S. 209). Auch die Leitdifferenz echt/unecht kann als Zeichen für das Bestreben Wielands gelesen werden, die pragmatische Diskussion um den Orden in das Spielfeld der romantypischen Fiktionalitätsdebatten zu verschieben.⁵⁴ Dennoch bewegt sich auch Wieland mit der Bestimmung des Geheimnisses an den Rändern der Sprache. So stellt er entschuldigend voran, dass der »große Haufe« das Geheimnis auch nach seiner Bekanntmachung möglicherweise nicht begriffen haben wird (WGS I.15, S. 210). Als zentrales Paradox bleibt bestehen, dass die Kosmopoliten, »im Verborgenen, wiewohl von jedermann gesehen« (WGS I.15, S. 216), an ihrem Projekt der Weltverbesserung arbeiten und dass sie angewiesen sind auf die Freiheit der Presse, obgleich sie als idealische Gesellschaft, die sich auf ein unausgesprochen wirkendes gemeinschaftliches Gefühl beruft, niemals Anlass haben, sich über ihre Meinungen und Zwecke auszutauschen. Letztlich umkreist Wieland dieselbe Utopie einer Stände, Religionen und Nationen übergreifenden Gemeinschaft gleichgesinnter und gleichberechtigter Menschen wie Lessing in seinen Freimaurergesprächen. Anders als sein Vorgänger aber – und damit erklärt sich die Betonung der Pressefreiheit – verbürgt er die Existenz der unsichtbaren Kosmopolitengemeinschaft nicht durch eine herausragende Schrift, deren halb öffentliche, halb private Verteilung und Verbreitung die dargestellte Dialektik wiederholt, sondern besteht konstatierend auf deren Wirklichkeitscharakter – im Medium der Fiktion. geheimen Gesellschaften […] gleitende Übergänge zwischen einer literarisch fiktionalen und einer nichtliterarischen Behandlung dieses Themenbereichs« schuf, geht aber auf den Aspekt der Rollenprosa im Geheimniß-Beitrag nicht ein. Vgl. Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneingnung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987, S. 124 u. 401-409. Zum weiteren Kontext des Kosmopoliten-Themas im Werk Wielands vgl. auch John A. McCarthy: »Essayistik und Literaturkritik«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 2), S. 350-373, hier S. 368-371. Der zunehmend journalistisch-pragmatische Charakter der Stellungnahme kontrastiert mit diesem Bestreben – verrät es jedoch nie ganz. So steht mindestens eine der beiden Ausnahmen, die als Beispiele für eine unvermeidbare Parteinahme der ansonsten um Neutralität bemühten Kosmopoliten angeführt werden, in einem literarischen Bezugsfeld, denn Wieland spielt mit dem Hinweis auf den spanisch-niederländischen Konflikt auf Schillers Don Karlos an (vgl. WGS I.15, S. 221). Vgl. auch Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996, S. 184, Anm. 112. Die Briefe über Don Karlos, in welchen Schiller sich insbesondere mit den Illuminaten auseinandersetzt, erschienen in denselben beiden Bänden des Teutschen Merkur (3/ und 4/1788) wie Wielands Stellungnahme zum Kosmopoliten-Orden.
Alexandra Kleihues
Diese ebenso unverhüllte wie geschützte Präsentation hatte offenbar die erhoffte Wirkung. Denn dass die Teilnehmer der Gespräche unter vier Augen ⁵⁵ sich als Mitglieder einer unsichtbaren Gesellschaft⁵⁶ und Brüder eines Ordens⁵⁷ ansprechen, schien – soweit ich das übersehen kann – weder in der zeitgenössischen Rezeption noch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der Erwähnung wert.⁵⁸ Möglicherweise hat das damit zu tun, dass der »Vorbericht« die Koordinaten Schriftlichkeit, Mündlichkeit, Geheimnis und Öffentlichkeit nicht mit dem Geheimbundthema verbindet. Ohne besonderen Originalitätsanspruch versammelt Wieland hier die zu diesem Zeitpunkt längst topisch gewordenen Elemente einer aufklärerisch-antikisierenden Gesprächsfiktion: Situiert in räumlicher Distanz von der zensurierend wirkenden Gesellschaft, »auf dem Landsitze eines der Interlokutoren« (SW X.31, S. 9), garantiert die Beschränkung auf den Freundeskreis die »Gedankenfreyheit« (SW X.31, S. 7) und Freimütigkeit der Teilnehmer. Der zur Authentifizierung unerlässliche »Lauscher an der Wand« (SW X.31, S. 8) bleibt, entsprechend seiner Funktion als bloßem Aufzeichnungsmedium, anonym. Verantwortlich für die Veröffentlichung, d. h. für die Überschreitung des impliziten Geheimhaltungsgebots zeichnet schließlich der fiktive Herausgeber. Dieser »Vorbericht« erschien nicht im Neuen Teutschen Merkur, sondern erst in der Buchausgabe. Er wurde also nachträglich hinzugefügt, vielleicht, um der losen Folge von Zwiegesprächen ein Minimum an Einheit zu verleihen. Weder die Szenerie noch das Verhältnis der Sprecher zueinander werden in den Unterhaltungen selbst thematisiert. Diesem hohen Grad an Abstraktion wirkt die Lebendigkeit und z.T. auch
Christoph Martin Wieland: Gespräche unter vier Augen. Leipzig 1799. Nachfolgend zit. n. SW X.31. Das erste, zweite, vierte, fünfte, achte und das letzte Gespräch erschienen in leichter Varianz zuerst im NTM 1798, 1, 2 u. 3. Eine detaillierte Übersicht findet sich in PS I, XCVIII ff. Vgl. das 1. Gespräch, SW X.31, S. 14 f.: »Geron: […] Ich kenne dermahlen nur Eine Republik, die gerade das ist, was sie seyn soll – / Sinibald: Und die wäre – ? / Geron: Die, von welcher du und ich Mitglieder sind, und die, Dank ihrer Unsichtbarkeit! in, mit und unter allen Monarchien […] ihren stillen Gang fortgeht […].« Vgl. das letzte Gespräch, SW X.31, S. 418: »Der Fremde: Wir sprechen unter vier Augen; und überdies hoffe ich, Sie müssen, wie kurz auch unsre Bekanntschaft ist, bereits gemerkt haben, daß Sie nichts bey mir wagen. Mein höchstes Bestreben ist, als ein echter Weltbürger zu leben, und, dem Willen nach, bin ich es bereits, wiewohl ich, den Jahren nach, vielleicht noch unter die Novizen des Ordens gehöre.« Eigentümlicherweise ist dieser Umstand im Zusammenhang mit dem aus England kommenden Vorwurf, Wieland habe mit den Gesprächen unter vier Augen im Auftrag der Illuminaten die Position Napoleons gestärkt, auch in der Forschung nicht diskutiert worden. Vgl. Martini: Wieland, Napoleon (Anm. 47); Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde (Anm. 41), S. 163-188. Voges rahmt die detaillierte Untersuchung zur Geheimbundproblematik in Peregrinus Proteus und Agathodämon mit Hinweisen auf die Gespräche unter vier Augen, ohne diesen Bezug zu kommentieren. Vgl. Voges: Aufklärung und Geheimnis (Anm. 53), S. 398-472.
Rückkehr aus dem Elysium
Widersprüchlichkeit der Figurenrede entgegen. Obgleich nur schemenhaft als gleichbleibende Charaktere erkennbar, stellen Geron, Wilibald, Sinibald, Heribert, Gismund, Ottobert, Frankgall, Holger, Raymund, Walther, Diethelm und Egbert keine leblosen Verkünder konträrer ideologischer Positionen dar, sondern reagieren durchaus individuell auf veränderte Konstellationen – in der Politik oder in der jeweiligen Gesprächssituation: Geron z. B., den Wieland einer Selbstaussage zufolge mindestens in einem Fall als alter ego entwarf,⁵⁹ tritt in drei verschiedenen Konstellationen auf. Im ersten Gespräch lässt er sich von dem jüngeren Sinibald davon überzeugen, dass seine »Apologie der Vorurteile« (SW X.31, S. 18) höchstens noch als Märchen vertretbar wäre. In der vierten Unterhaltung stellt er einen resignierten Monarchisten dar, der über den drohenden Untergang Germaniens verzweifelt, und im letzten, »Fragment« genannten Gespräch mit einer »ungenannten Königlichen Majestät«⁶⁰, wird er zum philosophischen Berater.⁶¹ Auffällig sind auch die Positionswechsel der Sprecher innerhalb einer Auseinandersetzung. So findet der als republikanischer Enthusiast eingeführte Raymund in der Unterhaltung mit dem sich ereifernden Monarchisten Wilibald zu einem kosmopolitischen Standpunkt, dem schließlich auch sein Gegenüber beipflichtet (vgl. 7. Gespräch), während Frankgall seine Begeisterung über die militärische Stärke Frankreichs und die Aussicht auf eine europäische Universal-Demokratie zur Überraschung seines schon resignierten Gesprächspartners widerruft und ein Arkan-Wissen zur Konfliktlösung anbietet (vgl. 6. Gespräch). In seinen theoretischen Äußerungen zum Dialog am Beispiel von Platon und Xenophon stellt Wieland eine doppelte Forderung: Einerseits sei der Dialog der historischen Wirklichkeit verpflichtet, d. h. er muss eine natürliche Gesprächssituation abbilden. Mit dem Einbau unerwarteter argumentativer Kehrtwendungen und dem freundschaftlich-kompromissbereiten Diskussionsverhalten seiner Figuren kommt er selbst diesem Anspruch nach. Andererseits verleugnet Wieland seine Bindungen an Konzepte von imitatio und aemulatio nicht.⁶² Und so setzt er hinzu, dass ein ideales Vorbild ebenso statthaft sei wie ein wirkliches. Auch diese Maxime befolgt er selbst. Mit der szenischen Kargheit lehnt er sich an Platon an – von dessen umbarmherzig schleppender Mäeutik er sich an anderer
Brief an Göschen, 7. Nov. 1798, WBr 14.1, S. 387. Ebd. Der Umstand, dass Wieland im vierten (ehemals dritten) Gespräch den Namen Wilibald durch Geron ersetzte, kann ebenfalls als Zeichen für die Absicht, neue Kontinuitäten zwischen den Dialogen herzustellen, gelesen werden. Vgl. NTM 1/1798, S. 355-383 u. SW X.31, S. 125-159. Vgl. Bernd Auerochs: »Wielands Schreibweisen«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 2), S. 141-149, hier: S. 148.
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Stelle ironisch distanziert (vgl. 1. Gespräch, SW X.31, S. 36).⁶³ Die argumentative Widersprüchlichkeit und Leidenschaft des lebendigen Gesprächs übernimmt er von Xenophon. An Lessings Freimaurergespräche schließlich gemahnen die Unterhaltungen zwischen Egbert und Sinibald (9. und 10. Gespräch) – in welchen die Anspielungen auf Orden und Kosmopolitismus gerade nicht vorkommen. Lessings induktive Beweisführung adaptierend, führt Wieland hier eine neue, stillschweigend und unaufhaltsam wirkende Kraft ein, deren Name Gegensatz wie Nähe zum Geheimnis der Orden verrät: die öffentliche Meinung. Mit ihr hat Wieland ein Substitut gefunden, das als bürgerliches Selbstbewusstsein seine Erfolge feiern wird. In der dialogischen Umkreisung dieses sozialen Phänomens überwindet er die Aporie, in welche Lessings Denken, solange es noch an den Institutionen festhielt, geraten musste. Die öffentliche Meinung beansprucht Wirksamkeit und Wirklichkeitscharakter, ohne gesellschaftlich organisiert zu sein. Das neunte Gespräch, in dem diese unsichtbare Macht diskursiv sichtbar gemacht wird, stellt insofern das geheime Zentrum, das Postulat einer tatsächlich bürgerlich freien Gesellschaft dar, die Wieland als Voraussetzung der künstlerischen Darstellung eines freien Meinungsaustauschs begreift. Der im folgenden Gespräch so zögerlich wie schwärmerisch entwickelte Tagtraum von einer neuen deutschen Verfassung macht noch einmal den Unterschied zum »wachend träumen[den]« Agathon (GA, S. 59) deutlich: In Gegenwart eines ebenso freundschaftlich gesinnten wie kritisch kontrollierenden Gesprächspartners sind »Träume mit offenen Augen« (so der Titel des 10. Gesprächs) durchaus erwünscht.
Auch Aristipp kritisiert u. a., dass Sokrates bei Platon in einer »weit kreisenden Schneckenlinie« (AZ, S. 705) und in der »umbarmherzigsten Ausführlichkeit« (AZ, S. 710) sein Argument entwickelt.
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Erzählen, Lust und Langeweile in Wielands späten Romanen Agathodämon und Aristipp und einige seiner Zeitgenossen Die beiden großen Altersromane Wielands lassen sich unter einer Vielzahl von Fragestellungen betrachten. Klaus Manger hat alleine im Aristipp einen erotischen, einen philosophischen, einen humoristischen, einen politischen und einen historischen Roman unterschieden.¹ Im Folgenden soll nur eine bestimmte Konstellation von Motiven in Betracht gezogen werden, deren Spuren sich jedoch im gesamten Werk Wielands verfolgen lassen und die stets auch ein poetologisch selbstreflexives Moment enthalten. Bereits Wielands erste Romane Don Sylvio von Rosalva und die Geschichte des Agathon sowie seine Verserzählungen der 1760er Jahre sind durchsetzt mit erotischen Szenen, die seinen Ruf als frivoler Dichter begründeten. Bei genauer Betrachtung entfaltet sich in den Texten ein elaboriertes Spiel mit diesen Motiven. Sie werden verwendet, um die Aufmerksamkeit der Lesenden zu erregen und zu binden. Über diese relativ simple Tatsache hinaus werden die erotisch aufgeladenen Szenen jedoch auch genutzt, um auf der Ebene der Fiktion in den erotischen Attraktionsverhältnissen der Figuren das Verhältnis der realen Lesenden zum literarischen Text zu spiegeln. Das Motiv der Verführung lässt sich dabei stets auch wenden auf die Wirkung von Dichtung und Kunst auf ihre Rezipienten.² Die Analogisierung von ästhetischer und erotischer Verführung vollzieht sich in einem Motivkomplex, der die Elemente Spannung / Langeweile, Neugier und erotisches Begehren sowie die Faszination der Einbildungskraft durch fiktionale und erotische Reize umfasst. Mit dem Kurzschluss von Lektüre und Sexualität greift Wieland ein Kernstück der Lesekritik des 18. Jahrhunderts auf, in dem man sich insbesondere um die Verführbarkeit und den sittlichen Verfall der weiblichen Leserinnen besorgte. Allerdings kritisiert Wieland dieses Verhältnis nicht, sondern macht es für die eigene Textgestaltung produktiv.
Vgl.: Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland. Frankfurt/M. 1991, S. 106-241. Vgl.: Claire Baldwin: The Emergence of the Modern German Novel. C. M. Wieland, S. v. La Roche, M. A. Sagar. Woodbridge, Rochester 2002, S. 76 f. Und Andreas Seidler: Der Reiz der Lektüre. Wielands ›Don Sylvio‹ und die Autonomisierung der Literatur. Heidelberg 2008, S. 176-202.
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Auch die beiden letzten Romane Wielands Agathodämon und Aristipp enthalten Passagen, die sich explizit mit den Themen Fiktion und Verführung beschäftigen. Beide Romane unterscheiden sich jedoch grundlegend nicht nur in ihrer ästhetischen Gestaltung, sondern auch in der Einstellung ihrer Hauptfiguren zu Sinnlichkeit und Kunst. Der Roman Agathodämon wird hier nicht wie zumeist im Hinblick auf religionsgeschichtliche und -philosophische Aspekte gelesen, sondern im Hinblick auf Motive, in denen sich die Funktionen des Erzählens, der Literatur und der Kunst reflektieren. Der Roman besteht aus den Briefen eines Hegesias von Cydonia an seinen Freund Timagenes, in denen er von seiner Begegnung mit dem greisen Apollonius von Tyana berichtet. Das Thema der Neugierbefriedigung durch Erzählen wird bereits in den ersten Zeilen von Hegesias’ Bericht aufgerufen. Denn er verweist auf ein vorangegangenes Gespräch, in dem er bereits Andeutungen über seine Erlebnisse gemacht hat, die die »Neugier« des Freundes »um so viel höher spannen«³ mussten. Im ersten Wortwechsel zwischen Hegesias und Apollonius, der geschildert wird, spielt dieses Motiv ebenfalls eine Rolle. Apollonius wünscht von dem Fremden zu erfahren, in welcher Absicht dieser ihn aufsucht, schiebt dann jedoch selbst nach: »Wenn es auch bloße Neugier wäre, was dich hierher geführt hat, […] du bist willkommen, Hegesias.« (Ag, S. 11) Neugier wird damit nicht nur zum legitimen Grund für Hegesias’ Eindringen in den versteckten Alterssitz des Apollonius erklärt, sondern gleichzeitig zum Initial für die folgende Erzählung der Lebensgeschichte des Apollonius. Das Gespräch zwischen Apollonius und Hegesias berührt auch die Frage, inwiefern der Gebrauch von Fiktionen erlaubt sei, um die Menschen zu belehren und zu bessern. Apollonius, der das gesamte Gespräch eindeutig beherrscht, referiert dabei die Auffassung: »So lange sinnliche Triebe und Leidenschaften, oder, mit einem Worte, so lange die Thierheit bei dem größten Haufen die Vernunft noch gefangen halte, sey Täuschung ihrer Sinne und Einbildungskraft eine unentbehrliche Hilfsquelle.« (Ag, S. 50) Fiktion ist erlaubt, um unverständige Menschen zu ihrem eigenen Glück zur Vernunft zu überlisten. Fiktionales ist danach also legitim, sofern es als didaktisches Mittel verwendet wird. Der greise Apollonius weiß denn auch ein einschlägiges Beispiel aus seinem eigenen Wirken zu berichten. Als junger Mann kam er auf Reisen durch einen verarmten Landstrich mit vernachlässigten Feldern und Viehherden. Im Gespräch mit den Einheimischen bemerkt er schnell, dass es
Christoph Martin Wieland: Agathodämon. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler. Frankfurt/M., Leipzig 2008, im Text weiterhin zitiert mit der Sigle Ag, hier S. 3.
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deren Trägheit ist, die sie darben lässt. Sie selbst erklären sich ihr Elend abergläubig dadurch, dass ihr reicher Nachbar ein Magier sei, der von Jahr zu Jahr das Getreide von ihren Feldern auf die seinigen zaubere. Apollonius ist sich sicher, dass sich die Leute durch die vernünftige Erklärung, dass ihr schlechter Zustand von der schlechten Bewirtschaftung ihres Landes herrühre, nicht überzeugen lassen würden. Er wendet daher eine List an. Er gibt vor, nach einem Orakel zu reisen und dort um Rat zur Besserung der Lage der armen Bevölkerung zu bitten. Als er nach einigen Tagen wiederkehrt, erzählt er den Leuten, dass er auf Geheiß des Orakels einen weißen Stein auf ihren Feldern vergraben habe. Wenn dieser Stein nicht durch die Anwesenheit anderer Steine gestört werde, würden seine Kräfte die Felder bald fruchtbar machen. Daher müssten die Bewohner alle anderen Steine von den Feldern einsammeln. Außerdem seien ihre Wiesen von Nymphen bewohnt, die sich über deren Zustand beklagten, daher sollten die Menschen die dortigen Sümpfe durch Entwässerungsgräben trockenlegen. Der Plan des Apollonius geht auf und aus dem Glauben an die Wahrheit des erfundenen Orakelspruches beginnen die Leute nun mit durchschlagendem Erfolg, ihre Landwirtschaft besser zu treiben und ihre Ländereien zu kultivieren. Apollonius ist im Allgemeinen davon überzeugt, dass es die Pflicht eines Weisen sei, der auf seine Mitmenschen wirken wolle, »anstatt den großen Haufen voreiliger Weise aufklären zu wollen, die Wahnbegriffe desselben und seine Liebe zum Wunderbaren zum Vortheil der guten Sache zu benutzen.« (Ag, S. 81) Die Neigung der Menschen, an Erfundenes und Wunderbares zu glauben, soll zu didaktischen Zwecken genutzt werden. Daher inszeniert sich Apollonius gelegentlich auch selbst als Magier, um somit Einfluss auf das einfache Volk zu gewinnen. So berichtet er, wie er die Wiederbelebung einer Scheintoten als wirkliche Totenerweckung zelebriert und sich damit in den Ruf eines Zauberers gesetzt habe. Er vergleicht dabei die Rolle des Zauberers ausdrücklich mit der eines Künstlers. Das Volk bezweifelte nicht, »daß er das junge Mädchen wirklich durch seine magische Kunst ins Leben zurück gerufen habe, […] schien es ihnen doch etwas eben so natürliches, daß ein großer Zauberer Wunder wirke, als daß ein Bildhauer eine Menschen- oder Göttergestalt aus Marmor hervorbringe.« (Ag, S. 86) Auch wenn Apollonius den Wunderglauben als erzieherisches Mittel nutzbar macht, weist er ihn in Bezug auf sich selbst doch entschieden zurück. Er ist der Auffassung, »daß der Hang zum Glauben eine allgemeine Schwachheit der Menschen« (Ag, S. 27) sei, und sieht darin die Wurzel zahlreicher Übel der Menschheit, da er Vernunft und Sittlichkeit verdunkle. Hierin gleiche der Hang zum Glauben dem Hang zur Wollust und bereits der junge Apollonius macht es sich daher zum Vorsatz,
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dem einen wie dem andren zu widerstehen. Denn beide, der Glaube an rational nicht Erklärbares ebenso wie die Wollust, beeinträchtigen die menschliche Freiheit. Apollonius aber strebt nach Unabhängigkeit und das heißt für ihn auch Unabhängigkeit »von den Trieben und Forderungen der Sinnlichkeit« (Ag, S. 42). »Ich betrachtete meine geistige Natur als mein eigentliches Ich; und, meiner Natur gemäß leben, hieß mir, das thierische Leben dem geistigen dergestalt unterordnen, daß dieses so wenig als möglich durch jenes gestört und eingeschränkt werde.« (Ag, S. 43) Bei diesem asketischen Projekt im Namen der Unabhängigkeit von allen körperlichen Begierden soll »die Sinnlichkeit zur bloßen Sklavin des Geistes gemacht« (Ebd.) werden. Apollonius betont auch, »daß die strengste Enthaltung von den Afrodisischen Mysterien eines der Gesetze war,« (Ag, S. 44) die er sich dabei selbst auferlegte. Diese Bemerkung ist jedoch zuviel für das, was sein junger Zuhörer Hegesias an Askese für akzeptabel hält und er unterbricht die Ausführungen des Agathodämon aufgebracht. Der junge Grieche gesteht, dass ihm diese Form der Enthaltsamkeit als unnatürlich erscheine, worauf Apollonius einräumt, dass er im Laufe seines Lebens durchaus mit Anfechtungen zu kämpfen hatte, die das Aufbieten seiner gesamten Willenskraft erforderten, um seiner erotischen Enthaltsamkeit treu zu bleiben. Er erwähnt jedoch einen besonderen Umstand, der ihm dabei zugute kam. Apollonius verweist darauf, dass er »von Jugend an der Einbildungskraft wenig Nahrung gegeben, und ihr nie erlaubt hatte, sich durch reitzende Bilder der Schönheit und Liebe zu erhitzen.« (Ag, S. 45) An dieser Stelle wird ein Motiv aufgegriffen, das aus Wielands frühen Werken bereits bekannt ist. Die Empfänglichkeit für die Reize der Fantasie werden in Verbindung gebracht mit sexueller Verführbarkeit. Apollonius figuriert hier werkgeschichtlich als genaues Gegenbild Don Sylvios, auf den zutraf, dass er sowohl erotisch als auch durch Fiktionen verführbar war. Eine andere Episode aus der Lebensgeschichte des Agathodämon illustriert die Verbindung von erotischer Verführung und der kunstvollen Manipulation der Einbildungskraft ebenfalls. Als junger Mann machte Apollonius auf einer Reise durch Thessalien die Bekanntschaft von Chrysanthis, einer jungen Frau, der die Einheimischen Zauberkräfte wie »einer zweyten Circe« (Ag, S. 55) zusprechen, die den thessalischen Jünglingen ebenso mitspiele wie ihre homerische Vorgängerin der Gefolgschaft des Odysseus. Bekanntlich war Circe laut Homer dazu in der Lage, Männer in Tiere zu verwandeln. Apollonius erkennt jedoch beim ersten Zusammentreffen mit Chrysanthis, dass diese Fähigkeit bei ihr nicht von Zauberkräften herrührt, sondern alleine von den Reizen ihrer körperlichen Schönheit. Apollonius kritisiert im Allgemeinen die moralischen Zustände in seinem Gastland:
Erzählen, Lust und Langeweile in Wielands späten Romanen
Lebensart und Sitten sind bekannter Maßen in der ganzen Hellas nirgends freyer als in Thessalien. Das überhaupt zu sehr vernachlässigte weibliche Geschlecht wird vielleicht nirgends schlechter erzogen; und es ist daher kein Wunder, wenn die Bewohnerinnen dieses schönen Landes kein höheres Glück, als die Befriedigung ihrer sinnlichen Triebe, kennen, und sich ihnen mit der ganzen Lebhaftigkeit des feurigen Temperaments, womit die Natur sie begabt hat, ohne Bedenken überlassen. (Ag, S. 55)
Zu dieser Art von Frauen mit einem ungehemmten Hang zu sinnlicher Lustbefriedigung zählt auch die schöne Chrysanthis. Sie richtet ihre Verführungskünste daher auch auf den attraktiven jungen Apollonius. Dieser gibt sich seinem asketischen Ethos entsprechend jedoch uninteressiert, was den Ehrgeiz der Verführerin nur noch steigert. Chrysanthis wendet sich schließlich an eine alte Zauberin, die ihr mit magischen Mitteln bei der Verführung des jungen Reisenden behilflich sein soll. Diese lockt Apollonius unter einem falschen Vorwand des Nachts in ihr Gartenhaus, wo er die schöne Chrysanthis »in einem leichten Anzug auf ein wollüstiges Kanapee hingegossen« (Ag, S. 58) vorfindet. Apollonius zeigt sich jedoch auch in dieser Situation kühl und betrachtet das Geschehen wie der Zuschauer eines Theaterstückes oder der Leser eines Buches, der gerade nicht dazu bereit ist, sich auf die Fiktion und das heißt in diesem Falle auch auf die Verführung einzulassen. Er achtet lediglich auf die Kunstfertigkeit der Inszenierung anstatt auf ihren Gehalt. Er beobachtet die Verführungsversuche der Chrysanthis, »als ob sie mir diese Rolle auf dem Schauplatz darstelle, nicht ohne eine Beymischung von Vergnügen […] mit ziemlich ruhiger Neugier« (Ag, S. 59). Da Apollonius sich so zurückhaltend verhält, greift die Schöne zum letzten Mittel, das ihr die Zauberin aufgetragen hat. Sie ruft die Göttin Hekate an, die auch sogleich aus dem Fußboden hervorbricht und versucht, den widerspenstigen Jüngling in die Arme der Liebhaberin zu treiben. Aber auch dieses Spektakel erkennt Apollonius sofort als Inszenierung und der Text stellt auch hier die Assoziation zur Rezeption künstlerischer Fiktion her, indem erwähnt wird, dass Hekate ebenso aussah, »wie sie von den Dichtern geschildert wird« (Ag, S. 59). Aber auch jetzt ist Apollonius nicht bereit, sich auf die Illusion und damit auf die Verführung einzulassen. Er reißt der Göttin die Maske ab und zum Vorschein kommt die alte Kupplerin, auf deren vermeintliche Zauberkräfte sich Chrysanthis verlassen hatte. Damit wird auch die junge Frau, die tatsächlich an das Erscheinen der Göttin geglaubt hatte, desillusioniert. Der Romantext vollzieht auch in dieser Episode eine Engführung des Sich-Einlassens auf fiktionale Darbietungen und sinnlicher Verführbarkeit. Dieser Zusammenhang lässt sich am weiteren Verhalten des Apollonius auch ex negativo beobachten. Durch Vorgespieltes, Fiktionales, Künstliches ist der Agathodämon nicht zu verführen. Aber gerade die
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Abwesenheit dieser Kunstmittel ist es, die ihn anzieht, denn wo keine Kunstfertigkeit am Werke ist, vermutet er auch keine Verführungsabsicht. Chrysanthis’ Verhalten ihm gegenüber ändert sich nach dem missglückten Verführungsversuch grundlegend und »nichts konnte einfacher und kunstloser seyn als die Art, wie sie sich in allem gegen mich benahm.« (Ag, S. 62) Anstatt ihn zu verführen, möchte sie nun von ihm als Schülerin belehrt werden. Dieser Strategiewechsel von Kunst und Verführung hin zur Belehrung beeindruckt Apollonius tatsächlich mehr als alles Vorangegangene. Apollonius gesteht, dass ihm die gelehrige Chrysanthis »immer liebenswürdiger vorkam« (Ag, S. 63). Vor der zunehmenden auch körperlichen Annäherung der beiden, die ihren Höhepunkt in einem tränenreichen Abschiedskuss hat, nimmt er jedoch schließlich in der Überzeugung Reißaus, für seine Tugend »einer großen Gefahr entgangen« (Ag, S. 64) zu sein. Die Erzählung der Lebensgeschichte des Apollonius, die Wielands Roman ausmacht, kann im Ganzen als Korrektur einer zu ausschweifenden Einbildungskraft gelesen werden. Denn Apollonius erzählt Hegesias deshalb sein Leben, weil dessen Bericht eine im Umlauf befindliche Biografie korrigieren soll, die der ehemalige Apollonius-Anhänger Damis verfasst hat.⁴ Dessen zahlreiche Falschberichte, Übertreibungen und Schilderungen magischer Kräfte rühren von der Leichtgläubigkeit und überhitzten Vorstellungskraft des Autors her, wie mehrfach erörtert wird. Die Qualität, die Damis jedoch zugestanden wird, ist die, ein »sehr kurzweilige[r] Gesellschafter« (Ag, S. 101) zu sein, was auch an den unzähligen Märchen und Geschichten liegt, die er zu erzählen weiß. Diese Absicht, erzählerisch zu unterhalten, wird auch als Antrieb vieler der Schilderungen in seiner Apollonius-Biografie identifiziert. So heißt es, er erfand vieles hinzu, um die »gereitzte Neugier seiner Leser« (Ag, S. 128) zu befriedigen. Das Wecken der Neugier des Publikums wird zwar von Apollonius nicht grundlegend abgelehnt, gewarnt wird aber davor, Erfundenes wie Wirkliches zu erzählen aus dem bloßen Wunsch zu unterhalten. Die Kunst der Musik spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in Hegesias’ Bericht über sein Zusammentreffen mit dem Agathodämon. Jutta Heinz hat die Musik sogar als »untergründige[s] Strukturprinzip des Romans«⁵ identifiziert. Der Text enthält unter anderem Reflexionen zur Bedeutung der Einführung der Polyphonie in die Musik.⁶ Musikalische Darbietungen
Über das Leben des historischen Apollonius von Tyana im 1. Jahrhundert berichtet eine um 240 von Philostrat verfasste Biografie. Diese beruft sich dabei auf Berichte eines Damis, die jedoch entweder von Philostrat als Quellen erfunden wurden oder verschollen sind. Jutta Heinz: »Agathodämon«. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 314-322, S. 319. Vgl. Ag, S. 211 ff.
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der Wahlfamilie des Apollonius werden mehrfach geschildert. Interessant ist es, dabei auf die geschilderte Funktion und Wirkung der musikalischen Darbietungen zu achten. Mehrfach wird Musik im Zusammenhang mit dem Einschlafen dargeboten. Apollonius erhebt dies unter Berufung auf Pythagoras sogar zum Prinzip. Von allen Lebensregeln des Pythagoras ist mir diese die heiligste, welche seinen Jüngern befiehlt, sich wo möglich nie zur Ruhe niederzulegen, ohne durch eine sanfte, herzerhebende Musik die Seele zu reinigen, und den Leib zu einem leichten und ruhigen Schlummer vorzubereiten. (Ag, S. 125)
Diese entspannende Wirkung hat die Musik auch auf Hegesias, als er dem Gesang der Familie Kymons lauscht. Er verspürt, was vermutlich die Absicht der freundlichen Sänger war: eine süße Ermattung spannte allmählich meine Nerven ab, ich verlor mich in einem luftigen Gedränge lieblicher Träume, die um mich her zu tanzen schienen, und schlummerte endlich unvermerkt in – die unsichtbare Welt hinüber. (Ag, S. 218)
In Wielands früheren Romanen kam Musik zumeist als Mittel der erotischen Verführung vor.⁷ Sie diente als sinnlicher Reiz, der den Aufbau erotischer Spannungen verstärken sollte. Davon unterscheidet sich das Konzept im Agathodämon deutlich. Musik dient hier zur Reinigung und Entspannung. Dies entspricht der allgemeinen Haltung der Titelfigur gegenüber allen ästhetischen und erotischen Attraktionen. Agathodämon übt sich sowohl gegenüber sinnlicher Verführung als auch künstlerischfiktionalen Darbietungen in einer Haltung der Distanz, der Reflexion und der Nicht-Immersion. Seine Resistenz gegenüber Fiktionen korreliert dabei mit seiner Resistenz gegenüber erotischen Reizungen. Er geht davon aus, dass der Mensch nur in einem niedrigen Entwicklungszustand der Fiktionen bedarf und dem körperlichen Begehren unterworfen ist. Der Weise braucht, um zu Erkenntnis und Glück zu gelangen, weder Fiktionen noch Erotik. Diese Philosophie teilt die Titelfigur von Wielands folgendem Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen nicht. Wieland lässt den Briefroman mit einem Schreiben der Titelfigur an seinen Dichterfreund Kleonidas beginnen. Er beschreibt darin die Überfahrt von seiner Heimatstadt Kyrene nach Kreta und erwähnt das gute Wetter und die günstigen Winde, die die Fahrt befördert haben. Diese Einleitung wird genutzt, um bereits auf der ersten Seite des Romans das Motiv der Langeweile anklingen zu lassen: »Gleichwohl – darf ich dirs gestehen, Kleonidas? – deuchte mich schon am Abend des zweiten Tages, als ob mir das majestätische, unendliche Einerlei unvermerkt – lange Weile zu machen anfange.«⁸ Aristipp
Vgl. Heinz: »Agathodämon« (Anm. 5), S. 319. Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1988 (Bibliothek dt. Klassiker 28), im Text zitiert mit der Sigle AZ, hier S. 13.
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gesteht, dass er sich zur Abwechslung sogar einen Sturm gewünscht hätte und klagt gegenüber dem Freund, dass während der gesamten Überfahrt »auch nicht ein einziges rosenarmiges Meermädchen mit grünen Locken und milchweißem Busen auftauchen wollte, um meine des Herumschwebens zwischen Luft und Wasser müden Blicke auf ihrer reizenden Gestalt ausruhen zu lassen« (AZ, S. 14). Er stellt aber fest, dass es wohl ein Vorrecht der Dichter sei, derlei reizende Visionen zu haben, bei denen es ihm sogar gleichgültig sei, »ob ich das alles unmittelbar mit meinen eigenen Augen, oder im Zauberspiegel« (AZ, S. 14) des Dichters sehe. Bereits am Anfang des Romans wird mit einem erotischen Motiv gespielt und dieses in Verbindung gebracht mit der Rezeption von Literatur. Dieser Einstieg ist daher »ästhetisch programmatisch«⁹ auch im Hinblick auf den Motivkomplex Kunst-Spannung-Erotik, der hier interessieren soll. Im zweiten Buch schreibt Aristipp in einem Brief an seinen Freund, den Sophisten Hippias: »Findest du nicht auch, Hippias, daß man der Filosofie zu viel Ehre erweist, wenn man ihr die Macht zuschreibt, dem Gefühle, der Einbildungskraft, und den Leidenschaften immer unumschränkt zu gebieten?« (AZ, S. 248) Er bezieht damit eine deutliche Gegenposition zum Titelhelden des Vorgängerromans Agathodämon. Dabei werden auch hier Einbildungskraft und Leidenschaft in einem Atemzug genannt, aber für beide wird eine gewisse Autonomie gegenüber dem vernünftigen Räsonieren gefordert. Dem enthusiastischen Sokrates-Schüler Kleombrot gibt Aristipp sogar zu bedenken, dass zu viel des Philosophierens für »Magen und Unterleib« (AZ, S. 121) schädlich sein können. »Sinnlichkeit ist nun einmal die Grundlage der menschlichen Natur« (AZ, S. 325), ist Aristipps feste Überzeugung und er kritisiert Platon, der den Menschen empfehle, ihren »tierischen Teil geradezu abzuwürgen, und den geistigen allein leben zu lassen.« (AZ, S. 326) Aristipp zieht die platonische Lehre an anderer Stelle ins Lächerliche und frivolisiert sie bemerkenswerterweise auch mit Bezug auf das Problem der Langeweile. Er malt aus, dass das ideelle »Urweib« Platons, das nichts anderes zu tun habe als ihren Schatten in die irdische Welt zu werfen, »doch ziemlich lange Weile haben dürfte« (AZ, S. 822), wenn der ideelle »Urmann […] nicht noch Mittel und Wege findet, ihr auf eine uns Sterblichen unbegreifliche Weise die Zeit zu kürzen.« (AZ, S. 822) Das Problem der Langeweile wird im Laufe des Romans immer wieder in verschiedenen Kontexten angesprochen. So erklärt beispielsweise Aristipp auch seine geistige Emanzipation von Sokrates durch dieses Motiv. »Sokrates ist für mich ein Buch, das ich schon lange auswendig weiß, eine Musik, die ich tausendmal gehört, eine Bildsäule, die ich tausendmal von
Jan Philipp Reemtsma: »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. In: Heinz: WielandHandbuch (Anm. 5), S. 322-333, hier S. 331
Erzählen, Lust und Langeweile in Wielands späten Romanen
allen Seiten betrachtet habe.« (AZ, S. 177) Aristipp langweilt sich dabei, »Tag vor Tag zu hören, an jedem Abend sich mit der Erinnerung, nichts anders den ganzen Tag über gehört zu haben, niederzulegen, und am folgenden Morgen mit der Gewissheit aufzustehen, daß er auch heute nichts anders hören werde, als ›daß ein braver Mann seinem Vaterlande, seinen Freunden und seinem Hauswesen nützlich sein, den Feinden hingegen allen möglichen Schaden zufügen, und um dieses und jenes besser zu können, immer mäßig, nüchtern und enthaltsam sein, die Wollust fliehen, Hunger und Durst, Frost und Hitze leicht ertragen, keine Arbeit scheuen, keinen Schmerz achten, und aller Afrodisischen Anfechtungen, damit sie sich ja nicht etwa auf einen einzigen liebreizenden Gegenstand werfen möchten, durch den ersten besten Ableiter aufs schleunigste loszuwerden suchen müssen.‹« (AZ, S. 178)
Auch in dieser Erklärung des Aristipp, warum er des ausschließlichen Umgangs mit den Lehren des Sokrates überdrüssig geworden sei, koinzidieren die Motive der Langeweile und der Vermeidung des erotischen Spannungsaufbaus und beide werden von Aristipp negativ gewertet. Langeweile und Mangel an erotischer Spannung werden miteinander identifiziert. Ebenso verbindet der Romantext die entsprechenden positiven Sachverhalte miteinander. Erotische Attraktivität und narrative Spannungserzeugung werden in einer Romanfigur vereint. Im dritten Brief des ersten Buches berichtet Aristipp von seiner ersten Begegnung mit der schönen Lais. Während eines Aufenthalts in Korinth nahm er versehentlich die Eingangstür zum Frauenbad und dies gerade zu dem »Augenblick, da eine junge Frauensperson, die sich ganz alleine darin befand, im Begriff war aus dem Bade zu steigen.« (AZ, S. 18) Anstatt sich sofort wieder zurückzuziehen, nimmt sich Aristipp die Freiheit, im Bade zu bleiben. Es entfaltet sich ein anspielungsreicher Wortwechsel zwischen ihm und der Schönen und er erhält schließlich die Erlaubnis, bei der Abtrocknung der Dame durch ihre Sklavinnen anwesend bleiben zu dürfen. Erst als er selbst mit Hand anlegen möchte, wird er entschieden zurückgewiesen. Wieland parodiert hier die mythologische Szene der aus dem Meer auftauchenden Aphrodite. Er selbst hat das Motiv der Beobachtung beim Bade bereits in seinen Verserzählungen der 1760er Jahre mehrfach variiert.¹⁰ Dort wurde es jedoch stets verwendet, um die Fesselung des Betrachters oder der Betrachterin durch den Anblick der Schönheit des oder der Badenden auszumalen. Hiervon hebt sich Aristipps Reaktion jedoch deutlich ab. Er wird durch die Reize nicht von einer leidenschaftlichen Liebe gefangen genommen, sondern nutzt die Erfahrung, um sich seiner eigenen Souveränität im lustvollen Umgang mit den zwischengeschlechtlichen Begehrensverhältnissen zu versichern. Er meidet die erotischen Reize keineswegs, gefällt sich aber in der Feststellung, »daß ich weder meinen
Vgl. Seidler: Der Reiz der Lektüre (Anm. 2), S. 178-182.
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Verstand noch meine Freiheit jemals durch ein schönes Weib verlieren werde.« (AZ, S. 22) Aristipp berichtet in dem Brief weiter, dass ihm die Badende schließlich entschwand und es ihm trotz entsprechender Bemühungen nicht gelungen ist, in seiner verbleibenden Zeit zu Korinth deren Identität auszukundschaften. Der Gegenstand erotischer Attraktion wird damit zugleich zum Ausgangspunkt für einen erzählerischen Spannungsbogen, der sich sowohl für die Figur des Aristipp innerhalb der Fiktion als auch für die realen Lesenden des Romans eröffnet. Für die Romanfigur dauert es schließlich drei Jahre und für die Lesenden 69 Buchseiten bis zum Wiedersehen und der Aufdeckung der Identität der schönen Lais. Zu dieser Zeit stattet Aristipp seinem Freund Eurybates einen Besuch auf der Insel Ägina ab. Dieser kündigt ihm ein abendliches Gastmahl bei seiner schönen Nachbarin an. Laut Eurybates Beschreibung »ist schwerlich ein Weib im ganzen Griechenlande, das ihr den Preis der Schönheit streitig machen kann.« (AZ, S. 89) Die Ankündigung hat ihre gewünschte Wirkung auf Aristipp und er gesteht: »Dieser Vorbericht spannte meine Neugier und Erwartung so stark, daß mir der Weg, der uns nach dem Hause der schönen Korintherin führte, dreimal länger vorkam als er in der Tat war.« (AZ, S. 90) Auch in dieser Passage entstehen Neugier und Spannung aus der angekündigten erotischen Attraktivität. Tatsächlich erkennt Aristipp in der Nachbarin dann die geheimnisvolle Badende aus Korinth wieder. Lais zieht das Leben einer Hetäre dem Dasein als Haus- und Ehefrau vor, denn nur dieses ermöglicht ihr den abwechslungsreichen Umgang mit gebildeten Personen, die nun einmal aufgrund der griechischen Erziehung nur Männer sein können. Der Status einer Hetäre ist für sie daher der »Weg, dem gemeinen Schicksal der frommen und tugendhaften Frauen – und der tödlichen Langeweile ihres Umgangs zu entgehen« (AZ, S. 103). Jan Philipp Reemtsma sieht in der Frage: »Haben sie oder haben sie nicht?« ein »Leitmotiv«¹¹ der erzählten Geschichte der Lais und ihrer wechselnden Liebhaber. Ihr Verschwinden aus dem Roman hinterlässt nicht nur »eine fast unheimlich wirkende erotische Öde«¹², sondern auch den Ausklang der narrativen Spannung in den philosophischen Abhandlungen des 4. Buches. Dass die Figur der Lais auf die Erzeugung von Neugier und Spannung hin angelegt ist, zeigt sich somit auf mehreren Ebenen. Zum einen werden wie bereits beschrieben sowohl Leser als auch die Hauptfigur des Romans zunächst über ihre Identität im Unklaren gelassen. Aber auch in
Jan Philipp Reemtsma: Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hamburg 1992. S. 160. Ebd. S. 148.
Erzählen, Lust und Langeweile in Wielands späten Romanen
ihrer eigenen Funktion als Briefschreiberin macht sie, die Verkörperung erotischer Attraktivität, auch als einzige von einschlägigen Formen der erzählerischen Spannungserzeugung Gebrauch. Ihr erster Brief an Aristipp endet nach dem Hinweis auf eine »Eroberung«, die sie in Athen gemacht hat, mit der Aufforderung: »und nun rate!« (AZ, S. 140) Den darauf folgenden Brief eröffnet sie dann mit dem erotisch anspielenden Hinweis: »Wenn eine Frau die Neugier eines Mannes geflissentlich erregt, so macht sie sich dadurch anheischig, sie zu befriedigen.« (AZ, S. 141) Wie sie nun berichtet, handelt es sich bei der »Eroberung«, die sie in Athen gemacht hat, um Sokrates. Auch diesen lässt sie zunächst im Unklaren über ihre Identität. Aristipp, dem sie schriftlich von ihrem ersten Zusammentreffen mit dem Weisen von Athen berichtet, macht sie zunächst durch Andeutungen neugierig auf die weitere Entwicklung der Beziehung: Wie gefällt dir dieser Anfang, Aristipp? Er ist, wie du nicht zweifeln wirst, mit großen Begebenheiten schwanger, und wenn du mich recht schön bittest – oder auch nicht bittest, so habe ich große Lust, dich mit der ganzen Geschichte meiner philosophischen Mystificierung in Athen zu beschenken. (AZ, S. 145)
Auf die Einlösung dieser Ankündigung muss Aristipp jedoch erneut bis zum nächsten Brief von Lais warten. Dieser Kunstgriff der fiktiven Briefschreiberin, durch Vorausdeutung auf künftige Erzählungen Spannung zu erzeugen, könnte als Hinweis auf eine Publikation des realen Romans in Fortsetzungen in einer Zeitschrift missgedeutet werden. Diese Publikationsform wählte Wieland für Aristipp und einige seiner Zeitgenossen jedoch nicht. Umso bemerkenswerter ist es, dass Wieland diese Kunstfertigkeit der erzählerischen Spannungserzeugung gerade und ausschließlich der Figur verleiht, deren Virtuosität als erotische Verführerin im Mittelpunkt steht. So wie Spannung und Verführung sind auch Langeweile und Abkühlung der Leidenschaft im Text miteinander verbunden. Lais lebt über längere Zeit mit dem reichen persischen Prinzen Arasambes zusammen, der sie mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten verwöhnt. Trotzdem wird sie auch dieses Luxus zuletzt überdrüssig. Aristipp hat dafür eine Erklärung bereit. »Der magische Taumel ist vorüber; das alltäglich Gewordene rührt sie nicht mehr; […] ihr unbefriedigter Geist verlangt neue unbekannte Gegenstände« (AZ, S. 352). Aristipp rät Lais zu einer »vorsätzlichen Langweiligkeit« (AZ, S. 357), um die Leidenschaft ihres Liebhabers abzukühlen und so die Verbindung ohne großes Aufsehen beenden zu können. Der Freund empfiehlt ihr: »du tust alles, was ein Mann nach einer zwanzigjährigen Ehe von der gutartigsten Hausfrau nur immer erwarten kann.« (AZ, S. 357) Dies scheint Aristipp das sicherste Mittel, um das Interesse des lästigen Liebhabers bald schwinden zu lassen.
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Der Untergang der Lais ist nur mittelbar durch das Scheitern ihres feministischen Lebensentwurfs¹³ an den patriarchalen Strukturen der griechischen Gesellschaft oder durch die Selbstbezogenheit ihres Charakters erklärbar. Unmittelbar ausschlaggebend ist vielmehr der Wechsel im Konzept ihrer Intimbeziehungen vom Modell der Freundschaft zum Modell der passionierten Liebe. In ihrer Verfallenheit an Pausanias verrät sie nicht nur ihr »Ideal […] absoluter weiblicher Autonomie«¹⁴ zugunsten der exklusiven Anhänglichkeit an einen einzigen Partner, der sich in diesem Falle auch noch als unzuverlässig erweist. Sie tauscht damit das Konzept der Freundschaft als einem »Verhältnis zweier Individuen, das zwar starke Bindungskräfte ausübt, aber trotzdem die individuelle Freiheit erhöht«¹⁵ gegen die fesselnde Liebe aus rational nicht erklärbarer Leidenschaft. Damit wendet sich Wielands Roman auch gegen das Modell passionierter Liebe, wie es seit dem 18. Jahrhundert gerade durch die Literatur gesellschaftliche Verbreitung gefunden hat. Auf die Gefahren für die persönliche Freiheit, die durch irrationalen Kunst- und Liebesgenuss entstehen können, weist auch die Episode des Romans hin, die von der Liebe des jungen Chariton zu einer Venusstatue berichtet, die nach dem Modell der Lais gefertigt wurde.¹⁶ Auch in diesem Motiv verschmelzen erotische und ästhetische Faszination. »Veränderung ist die Seele des Lebens« (AZ, S. 564), lautete das Motto der »gesunden« Lais. Und dieses Motiv findet sich wieder in den kunsttheoretischen Überlegungen ihres Freundes Aristipp. In einem Brief an Lais beschreibt er seinen »Begriff der Schönheit«, in dem ebenfalls das Moment der Veränderung von zentraler Bedeutung ist: Denn wie lebhaft auch die angenehme Empfindung sein mag, die z. B. durch eine gewisse Farbe oder einen gewissen einzelnen Ton in uns erregt wird; so würde doch eine lange Dauer derselben unser Auge oder Ohr ermüden, und uns erst gleichgültig, dann langweilig, endlich widrig und unerträglich werden. Verschiedenheit und öftere Abwechslung der angenehmen Eindrücke sind sowohl zum Vergnügen als zur Erhaltung der Organe gleich notwendig. (AZ, S. 402)
Dies kann nicht nur als ästhetisches bzw. erotisches Programm der beiden Hauptfiguren des Romans verstanden werden, sondern als Selbstreflexion des Briefromans Aristipp und einige seiner Zeitgenossen in seiner »programmatisch multiperspektivischen Form«¹⁷. Klaus Manger hebt hervor, dass
Vgl. Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000, S. 495-511. Ebd. S. 538. Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte. Wielands ›Aristipp‹ und Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Heidelberg 2006, S. 221. Vgl. AZ, S. 508-521. Jan Cölln: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im »Aristipp«. Göttingen 1998. S. 24.
Erzählen, Lust und Langeweile in Wielands späten Romanen
»Wielands Kunst des Mischens«, die die Form des Romans bestimmt, im Aristipp, »ein Kaleidoskop der poetischen Ausdrucksmöglichkeiten in Prosa«¹⁸ liefert. Im Agathodämon war es zumeist ein einziger Sprecher, der seine Weisheit gegenüber einem willig folgenden Zuhörer entfaltet. Im Aristipp sind es verschiedene Erzähler und Perspektiven, die der Romantext vereinigt, ohne die Wahrheit einer einzelnen Anschauung festschreiben zu wollen. Gezeigt wird vielmehr »eine Gesprächskultur, in der es nicht in erster Linie darum geht, recht zu bekommen oder zu behalten, sondern ein Thema von vielen unterschiedlichen Seiten zu betrachten, um zu einer möglichst differenzierten Darstellung zu gelangen.«¹⁹ Reemtsma bemerkt, dass auch die Philosophie in den Briefen des Romans »fast wie ein Zeitvertreib betrieben« wird, d. h. nicht zur Auffindung letzter Wahrheiten, sondern zur Vermeidung von Langeweile. Der Sophist Hippias, der ebenfalls in freundschaftlichem Briefkontakt mit Aristipp steht, spricht dann auch eine Warnung an alle zu philosophischen Dichter aus: »Denn nichts kann einem Schriftsteller leichter begegnen, als vor lauter Begierde wahr zu sein, langweilig zu werden.« (AZ, S. 344) In Aristipps eigener Einstellung zum Umgang mit Philosophie und Kunst wird letztlich sogar die Identität der Lust an Ästhetik und Erotik explizit gemacht. Sein kyrenischer Landsmann Antipater fasst in einem der letzten Briefe des vierten Bandes die Position Aristipps zusammen, der behaupte, »auch das geistige Vergnügen sei im Grunde sinnlich, und teile den Organen des Gefühles eine Art angenehmer Bewegung mit, deren Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit anderen körperlichen Wollüsten von jedem sich selbst genau beobachtenden nicht verkannt werden könne.« (AZ, S. 853) Die Bezüge von Erotik und Kunst, fiktionaler und körperlicher Verführung finden sich in den beiden letzten großen Romanen Wielands auf unterschiedliche Weise gestaltet. Beim Agathodämon geht mit der sinnesfeindlichen Einstellung und der erotischen Enthaltsamkeit der Hauptfigur eine poetologische Gestaltung der Romanerzählung einher, die auf Belehrung und Entspannung statt auf Illusionierung und Unterhaltung durch Kunst setzt. In Aristipp und einige seiner Zeitgenossen steht ein lustspendender Umgang sowohl mit Werken der Kunst als auch mit anderen Menschen im Vordergrund. Die Titelfigur pflegt einen auf Autonomie setzenden Hedonismus. Langeweile soll sowohl im Kunstgenuss als auch bei sozialen Kontakten vermieden werden. Abwechslung lautet daher die
Manger: Klassizismus und Aufklärung (Anm. 1), S. 104. Jan Philipp Reemtsma: »Christoph Martin Wieland: ›Aristipp und einige seiner Zeitgenossen‹«. In: Interpretationen. Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. (Ohne Hg.) Stuttgart 1996, S. 302-322, hier S. 305.
Andreas Seidler
Maxime in Fragen der Ästhetik, des Gesprächs und der Erotik gleichermaßen. Diesen Idealen der Hauptfiguren entspricht auch die polyphone Gestaltung des Briefromans. An die Stelle eines belehrenden Erzählers wird die Unterhaltung verschiedener Briefpartner gesetzt, die nicht nur die Geschehnisse aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, sondern durchaus auch in der Lage sind, ihre eigenen Einstellungen im Laufe des Romans zu wandeln. So kommt es ihnen nicht auf das Festhalten einer Wahrheit an, sondern vielmehr auf die Fortsetzung des lustvollen Austauschs.
III. Spätwerke
Klaus Manger
Wielands moderner Klassizismus Unsere Augenblicksfixierung erschwert immer von neuem die tieferliegende Erkenntnis, welche Vorteile es hat, in Zusammenhängen zu denken. Ohne Urteilskraft richtet man da freilich nichts aus. Das Schwammwort ›modern‹ bleibt vielfach auf Moden bezogen, und diese wiederum sind, aus welchen Gründen auch immer, auf Augenblicke fixiert. Dagegen steht ein Bildungskonzept, das mitbedenkt, wie wir wurden, was wir sind. Das allerdings verlangt im Kontext der Individualentwicklung, die soziale und historische Herkunft mitzuberücksichtigen. Wenn Lessing in der Erziehung des Menschengeschlechts (1780) von der Kindheit, Jugend und den Mannesjahren der menschheitlichen Entwicklung spricht, die vom Kindheitsstadium des Judentums im Alten Testament über die Jugend des Christentums im Neuen Testament in die gegenwärtige Erwachsenenwelt der Aufklärungsepoche geführt habe, in der das neue ewige Evangelium der Vernunft herrschen werde,¹ so lässt sich darin die anthropomorphe Entwicklung bis in ein Stadium der Reife erkennen, die frühere Epochen mitführt und weiterführt in die Gegenwart. Von diesem Kontinuitätsmodell gibt es freilich Abweichungen. Was sollte in solchen auf die Menschheitsgeschichte bezogenen Relationen, die sich in Jahrtausenden bewegen, antik und modern sein? Wielands Kenntnis der Traditionen – darin dürfte er sich mit Lessing, mit Goethe, vor allem auch mit Herder einig sein – bezieht auf der Höhe seiner Zeit die Schichten der Historie ein. Diese liegen aus seiner Sicht nicht völlig ungeordnet nebeneinander; vielmehr überlagern sich darin insbesondere strukturverwandte Konstellationen. Darin lassen sich vergleichsweise rasch die Anfänge der Schriftlichkeit im vorsokratischen Griechenland, seine perikleische und nachperikleische Zeit, die Zeit Horaz’ und Ciceros in Rom, die frühe nachchristliche Zeit Lukians und schließlich die Renaissance und ihre in den Klassizismus des 18. Jahrhunderts mündenden Entwicklungen verfolgen, die bereits die frühneuzeitlichen Nationalliteraturen, vornehmlich in Italien, Spanien, Frankreich, England
Gotthold Ephraim Lessing: »Die Erziehung des Menschengeschlechts«. In: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in fünfundzwanzig Teilen. Hg. v. Julius Petersen und Waldemar v. Olshausen. Berlin u. a. [1925], Sechster Teil, S. 61-83, hier S. 81 (§ 86). Vgl. Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Engl. übers. v. Karl S. Guthke. München 2008, S. 745-763.
Klaus Manger
mitbedenken und in neue Gattungen, Formen und Werke umgestalten. Allerdings lässt sich aus dieser attizistisch-klassizistisch verfolgten Linie kein strenges Alternationsmodell ableiten. Solche angedeuteten Umgestaltungen, zu denen Wielands große Übersetzungen zu zählen sind, bedeuten vorrangig keine oder eine nachgeordnete philologische Aufbereitung der fremdsprachigen Vorlagen, obwohl Wieland einen hervorragenden Überblick hat, aber eine deutliche Anverwandlung des fremdsprachigen Textes verfolgt. Seine Übertragungen, vor allem mit ihren reichen Kommentierungen, sind, wie die eigenen Originalwerke auch, Aktualisierungen und Verlebendigungen. Sie gehen mit keiner Mode und führen auf die Höhe ihrer Zeit. In diesem Sinn bilden Wielands Werke ein Widerlager zu den neuzeitlichen Avantgardismen, die vornehmlich gegen Strömungen vorgehen. Provokant gesagt sind sie vorantik und nachmodern. Es lässt sich bemerken, wie seine Werke den später gebildeten literarhistorischen Schubladen immer ein wenig vorausliegen und schon deshalb oft gar nicht so viel mit ihnen zu tun haben. Das sei im folgenden mit Anknüpfung an seine modernen, weil auf die Höhe der Zeit geführten Antikebezüge verdeutlicht. Es ist keine geringe Leistung der Literatur darin zu sehen, der schwärmerischen Lesewut derer, die dafür empfänglich sind, gegenzusteuern. Nachdem Wielands Don Sylvio die Geschichte vom Prinzen Biribinker gehört hat, bringt er einen guten Teil der Nacht mit Betrachtungen zu, die den von ihm zuvor so geliebten Feen nicht sehr günstig sind. »Die Wahrheit zu sagen, seit dem kleinen Betruge, den ihm Don Gabriel mit dem Märchen vom Prinzen Biribinker spielte, hatte sein Glaube an diese Damen und ihre Geschichtschreiber keine geringe Erschütterung erlitten.«² Der Erzähler führt die Geschichte seines Helden bis zu einem Zeitpunkt, da sie aufhört, wunderbar zu sein. Don Sylvio, der nunmehr keine andere Fee erkennt als seine angebetete Felicia, und keine andere Bezauberung, als die aus ihren Augen entspringt, ist auf dem Wege, glücklich, seines Glückes würdig, und wenn er anders (wie wir hoffen) lange genug lebt, mit der Zeit auch sogar weise zu werden.³
Die Schwärmerkur ⁴ hat so vorzüglich angeschlagen, dass der Held – vielleicht auch sein Leser, wenn er das Buch aus der Hand legt, – sich auf dem besten Wege befindet, ein Weiser zu werden. Der fiktionalen Literatur wird immer ein großer Anteil an den Bildungsprozessen und der Selbstbildung von Menschen zukommen. Aber
Christoph Martin Wieland: Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva VII/1. Wieland’s Werke. [Hg. v. Heinrich Düntzer]. 40 Thle. Berlin [1879/80]. Thl. 15, S. 154. Wieland: Don Sylvio VII/4 (Anm 2), S. 170. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 197-203.
Wielands moderner Klassizismus
vergleichsweise selten wird es wie in Wielands Roman der Fall sein, dass in einem Medium sein eigener süchtig machender Charakter reflektiert wird. Darüber hinaus bietet der Don Sylvio sogar eine Möglichkeit an, sich selbst, wie die Geschichte in der Geschichte zeigt, entbehrlich zu machen. Allerdings kann der Titelheld die Erfahrung seines illusionären Wahns nur vermittels seiner Lektüre machen. Das wiederum schränkt die Entbehrlichkeit von Lektüre erheblich ein, veranschaulicht aber insofern eine gehörige Portion aufklärerischer Skepsis, als sich wahrnehmen lässt, wie beschränkt therapeutische Möglichkeiten sind. Zweifellos ist das bedeutendste Vorbild für Wielands ersten Roman Don Sylvio von Rosalva (1764) Cervantes’ 150 Jahre früher erschienener Roman Don Quijote, in dessen deutscher Rezeption Wieland, seit er 1749 / 50 in Erfurt ein Privatissimum darüber gehört hat,⁵ eine Schlüsselstellung einnimmt. Abseits von Reduktionen auf Narrenfigur und satirische Gattung wird der spanische Roman ihm eine reiche Quelle der Menschenund Weltkenntnis sowie »das wichtigste und in mancherlei Hinsicht prägende Beispiel für alle schwärmerischen Verirrungen der Menschheit«.⁶ Gegen Heiligenlegenden helfe die Plutarch-Lektüre, schreibt Wieland am 5. Dezember 1758 an Zimmermann, und auch der Don Quijote sei ein gutes Specifique gegen Seelenfieber.⁷ Der Sonderling Don Quijote, der sich in Ritterromanen zuhause glaubt und die Fahne des Rittertums hochzuhalten beabsichtigt, wird wie Don Sylvio, der für Feenmärchen schwärmt, ein Opfer seiner Empfänglichkeit für Fiktionen. Daraus zieht der Hidalgo am Ende die Konsequenz. Er nimmt nicht nur seinen alten Namen wieder an, der sich für den Ritterroman nicht geschickt hätte, sondern er macht auch seiner Nichte und Erbin ein bemerkenswertes Testament. Darin bestimmt er, dass man für den Fall, sie wolle sich verheiraten, erkunden solle, ob ihr Mann Kenntnis von Ritterbüchern habe. Sollte das zutreffen und sie ihn trotzdem heiraten wollen, so solle sie der Erbschaft verlustig gehen. Nachdem er die Ritterbücher verwünscht hat, stirbt er, »el Bueno«⁸, wie er zum Schluss genannt wird, der Gute. In Entsprechung dazu ist Don Sylvio auf dem besten Wege zum Weisen. Kenner von Wielands nachfolgendem Roman kann es nur wenig überraschen, wie bei aller Verschiedenartigkeit
Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. 3 Bde. Sigmaringen 1987: Bd. 1, S. 8, sowie Bd. 3, S. 139: Böttigers Aufzeichnung unter dem 11. April 1803. Jürgen Jacobs: Don Quijote in der Aufklärung. Bielefeld 1992, S. 37. Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007, im Text weiterhin zitiert mit der Sigle WBr, hier Bd. 1, S. 390. Wie oft schreibt Wieland hier »Don Quixote«. Miguel de Cervantes: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha. Madrid ³³1985, Cap. 74, S. 670 und 672.
Klaus Manger
dann doch vergleichsweise eng der Gute und der Weise an Agathon heranrücken, dessen Name in Verbindung mit dem von Hippias ihm gegebenen Namen Callias⁹ einerseits wie ein Programm der Kalokagathie¹⁰ aussieht, anderseits ihn zum Bruder des Don Quijote macht, mit dem ihn »seine allzuidealische Denk-Art«¹¹ verbindet. Es geht weniger darum, das Namenprogramm weiterzuverfolgen, um die Veranstalter von Platons und Xenophons Symposion oder die Kalokagathie dahinter zu erkennen. Das ist mehr Sache der Kommentare. Sondern es geht um die erzählerische Selbstreflexion, die in der Geschichte des Agathon (1766/67) vor den Augen des Lesers stattfindet. Der auktoriale Erzähler bedenkt den neuen Schwung, den Agathon zu Syrakus bekommt¹² und der ihn weniger aufgelegt sein lassen könne für Glückseligkeit und Freundschaft, wenn man diese Ziele nicht als bloße »Don-Quischotterie« oder wie die Anti-Platonisten als »Schimäre« abtun wolle.¹³ Die klassizistische Suche nach Maß und Mitte wird wenigstens erahnbar. Wieland sei der erste deutsche Erzähler, »dessen Erzählweise das Erzählte dergestalt zum ununterbrochen Reflektierten macht«, sagt Wolfgang Preisendanz.¹⁴ In Fortführung von Lessings zeitgenössischer Charakterisierung als »Roman«¹⁵ fügt er hinzu, Wieland habe »tatsächlich die ersten modernen Romane in deutscher Sprache geschrieben«.¹⁶ Auf der einen Seite werden wir zu Zeugen, wie Wieland in Auseinandersetzung mit den europäischen Erzähltraditionen den modernen deutschen Roman gestaltet, in den neben den antiken Epen, neben der spanischen und französischen Romangattung insbesondere auch die englische einmündet, wie beispielsweise an Fielding und Sterne nachzuvollziehen ist.¹⁷ Dabei kommt gelegentlich zu kurz, dass Fielding nicht nur im Joseph Andrews (1742) schon den Don Quijote rezipiert, sondern auch eine Komödie Don Quixote in England (1733) in Wielands Geburtsjahr
Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 11), im Text zitiert mit der Sigle GA, hier S. 51. Vgl. ebd. S. 803 sowie 980. GA, S. 514. GA, S. 508. Ebd. Wolfgang Preisendanz: »Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon)«. In: Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik 1). Hg. v. Hans Robert Jauß. München ²1969, S. 72-95, zit. S. 93. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 69. Stück v. 29. Dezember 1767. In: Lessings Werke (Anm. 1), Fünfter Teil, S. 293 f. Preisendanz: »Die Auseinandersetzung« (Anm. 14), S. 93. Vgl. Lawrence Marsden Price: Die Aufnahme englischer Literatur in Deutschland 1500 – 1960. München, Bern 1961; Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts. Göttingen ²1972, S. 177-224.
Wielands moderner Klassizismus
veröffentlicht hat.¹⁸ Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, was Wieland in seinem gelegentlich als »Anti-Parnaß«¹⁹ empfundenen Biberacher Jahrzehnt neben seinen aufwendigen Amtsgeschäften literarisch außerdem hervorbringt. Zu übergehen sind dabei die Liebeswirren, die schließlich zu einer standesgemäßen Heirat führen.²⁰ Und zu übergehen sind die Konfessionsstreitigkeiten in der paritätisch organisierten Reichsstadt.²¹ Was wir aber nicht übergehen können, sind die deutsche Uraufführung von Shakespeares The Tempest (1761) in Biberach,²² der ganze deutsche Shakespeare in acht Bänden (1762 – 66),²³ die in der deutschsprachigen Literatur neuartigen Verserzählungen, die Comischen Erzählungen (1765),²⁴ der Idris (1768),²⁵ Musarion (1768)²⁶ sowie die in Biberach noch begonnenen und in Erfurt fertiggestellten Grazien (1770),²⁷ und daneben, wie gesagt, die beiden Romane. Als Wieland die Widmung in der zweiten Auflage seiner Musarion auf »Warthausen, den 15. März 1769«²⁸ datiert, die an den Kreissteuereinnehmer Weiße in Leipzig als Dank für die Verlagsvermittlung gerichtet ist, ist die Anstellungsurkunde für Erfurt in Mainz schon unterzeichnet.²⁹ Mit dem modernen Roman ist das Epitheton des vielleicht etwas seelenlos erscheinenden Titels berührt, moderner Klassizismus, wenn man ihn nicht als Oxymoron versteht. Mit Shakespeare, den Verserzählungen und den Romanen bietet Wieland neben dem Dramatiker Lessing und dem Lyriker Klopstock das Modernste auf, was man in der deutschen Literatur zu dieser Zeit haben konnte. Aber was hat es mit dem ›modernen Klassizismus‹ auf sich? Wer so wie Wieland durch die Geschichte hindurchgreift und nicht eklektizistisch verfährt, sondern Mustergültiges zusammenzieht und, es überbietend, in seine eigenen Werke überführt, der hat keine normative Absicht, sondern er aktualisiert. Wielands Antike
Vgl. Jacobs: Don Quijote (Anm. 6), S. 24. Vgl. beispielsweise Wielands Brief vom 11. Februar 1763 an Zimmermann: WBr 3, S. 152. Vgl. Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart 1949, S. 127-141. Ebd., S. 122-127. Starnes: Wieland (Anm. 5), Bd. 1, S. 165-268. September 1761: Starnes: Wieland (Anm. 5), Bd. 1, S. 198 f. Zu Wielands Kenntnis von Shakespeare bereits 1755 in der Schweiz vgl. ebd. S. 93. Gottfried Günther, Heidi Zeilinger: Wieland-Bibliographie. Berlin, Weimar 1983, im Text zitiert mit der Sigle WBibl, hier 1475. WBibl. 425. WBibl. 421. WBibl. 428. WBibl. 417. Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. (Oßmannstedter Ausgabe) Bd. 8.1: April 1766 – Dezember 1769. Geschichte des Agathon. Endymions Traum. Musarion, oder die Philosophie der Grazien. Idris. Nadine. Chloe. Vorberichte und Zusätze. Bearb. v. Klaus Manger. Berlin u. a. 2008, im Text zitiert mit der Sigle WOA und Band, hier WOA 8.1, S. 685-692, zit. S. 692. Am 11. März 1769, erhalten am 13. März 1769. Starnes: Wieland (Anm. 5), Bd. 1, S. 338.
Klaus Manger
funktioniert nicht als Kontrast zur Gegenwart,³⁰ sondern ist im Agathon, in den Abderiten, im Agathodämon oder im Aristipp selbst Gegenwart, wird aber vielschichtig. Im Reallexikon wird Klassizismus als an klassischen, insbesondere antiken Vorbildern ausgerichtete Kunstgesinnung und Kunstpraxis aufgefasst.³¹ Sicher lässt sich im Gefolge Winckelmanns bei Wieland eine gewisse Dominanz vor allem der griechischen noch vor der römischen Antike ausmachen. Aber selbst wenn wir uns diese näher ansehen, bemerken wir keinen normierenden, sondern einen aktualisierenden Zugriff. Denn an keiner Stelle wird irgendeiner der Autoren verabsolutiert oder eines der Werke zur Norm erhoben, nicht einmal Xenophons Symposion.³² Im Gegenteil erleben wir die Werke der griechischen Antike zwischen den Fronten der aus der sokratischen Schule hervorgegangenen Philosophien, also Kyniker, Stoiker oder Hedoniker, auf dem Prüfstand erneuter Musterung.³³ Deshalb beschäftigt sich der Sokratesschüler Aristippos von Kyrene so ausgiebig mit Platons Phaidon, Symposion oder Politeia.³⁴ Oder Sokrates, den man zuweilen zum Patron des 18. Jahrhunderts als eines sokratischen Zeitalters erhoben hat,³⁵ wird durch die Brille der aristophanischen Wolken gemustert, die im Kontext von Wielands AristophanesÜbertragungen³⁶ erscheinen, wofür er u. a. seine zweite Zeitschrift, das Attische Museum (1796 ff.), gegründet hat.³⁷ Um einer Verklärung des mit weißen Säulen vor griechisch blauem Himmel stilisierten Klassizismus Vgl. Horst Thomé: Artikel »Klassik 1«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. II. Hg. v. Harald Fricke u. a. Berlin, New York 2000, S. 266-270, hier S. 268. Vgl. Zur Querelle des Anciens et des Modernes (17./18. Jh.) Herbert Jaumann: Artikel »Querelle«. In: Ebd., Bd. III. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. a. 2003, S. 205-208. Vgl. Horst Thomé: Artikel »Klassizismus«. In: Reallexikon (Anm. 30). Bd. II, S. 276-278; Vgl. René Wellek: »Das Wort und der Begriff ›Klassizismus‹ in der Literaturgeschichte«. In: Ders.: Grenzziehungen. Beiträge zur Literaturkritik. Stuttgart u. a. 1972, S. 44-63 und 170-175. Vgl. Wielands Aufsatz: »Versuch über das Xenofontische Gastmahl als Muster einer dialogisierten dramatischen Erzählung betrachtet« (1802). In: Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 28), im Text zitiert mit der Sigle AZ, S. 1001-1018. Einen vorzüglichen Zugang dazu bahnen Wielands Kommentare zu seiner Horaz-Übertragung: Christoph Martin Wieland: Übersetzung des Horaz. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 10, im Text zitiert mit der Sigle ÜH), etwa in den Erläuterungen zum Ersten Brief, S. 50-64 u. ö. Vgl. Arnd Kerkhecker: »Horaz«. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 403-411; Wolfgang Monecke: Wieland und Horaz. Köln, Graz 1964. Vgl. AZ, Briefe II/10-13, III/12 und IV/4-8. Vgl. Benno Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegange des modernen Persönlichkeits-Bewußtseins. Leipzig 1929. WBibl. 1400-1405. WBibl. 1360.
Wielands moderner Klassizismus
oder einer »kalte[n] Marmorweiße des Arms«³⁸ entgegenzuwirken, sagt Wieland mit Hinweis auf die stark naturalistische Genremalerei vertrauter Wohnstuben, Die Griechen hatten auch ihre Teniers und Ostaden (1777).³⁹ Besonders der Spötter Lukian hat es Wieland angetan, mit dem ihn, wie seine bereits früh in der Schweiz geplante, dann sechsbändige Übertragung (1788/89) zeigt, Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung verbinden.⁴⁰ Was Lukians Zeit ganz besonders charakterisiere, sagt Wieland, sei ein gewisser schwindlichter Hang zur Schwärmerey, zu wunderbaren und unglaublichen Dingen, sonderlich wenn sie vom Morgen herkamen, zu neuen Gottesdiensten, Mysterien, religiosen Brüderschaften u. dergl., kurz, eine Art von epidemischer Krankheit des Menschenverstandes.⁴¹
Dieser Diagnose fügt er hinzu: Schwärmerey und Aberglaube vertragen sich nicht nur sehr gut mit jedem Grade der Verderbniß des Herzens und der Sitten, von welcher sie nicht selten die Folgen sind, sondern werden auch, vermöge der Natur der Sache, hinwieder zu reichen Quellen und kräftigen Beförderungsmitteln derselben.⁴²
Wenn wir auch bei Lukian nach der Aktualität fragen und diese noch nicht ahnen, so erfahren wir aus der Einleitung zur Übersetzung: »Niemahls war der Hang zu übernatürlichen Wunderdingen und die Begierde, sie sich wahr zu machen, stärker gewesen, als in diesem gleichwohl sehr aufgeklärten Jahrhunderte.«⁴³ Solche Parallelen verbinden Wielands Geistesverwandte, mit denen er sich von klein auf in einem dauernden Gespräch befindet: Das sokratische bzw. nachperikleische Zeitalter, das Jahrhundert Lukians im griechischen Kontext, die Zeit von Horaz und Cicero im römischen sowie, da wir die Mönchsbarbarei des Mittelalters ausgeblendet wissen,⁴⁴ die nationalliterarisch hohen Zeiten der italienischen
AZ, S. 837. Zuerst in: Der Teutsche Merkur. 2/1777, S. 48-57. WBibl. 678; Thomas C. Starnes: Der Teutsche Merkur. Ein Repertorium. Sigmaringen 1994, S. 209, Nr. 990. Christoph Martin Wieland: »Über Lucians Lebensumstände, Charakter und Schriften«. In: Lucians von Samosata sämmtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. Erster bis Sechster Theil. Wien 1813 (Wieland’s Übersetzungen 1-6), Thl. 1, S. 5-50, hier S. 26 f. WBibl. 1438-1463. Vgl. Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 33), S. 3 und 411-419. Sowie Manuel Baumbach: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. München 2002. Wieland: »Über Lucians Lebensumstände« (Anm. 40), S. 34. Ebd., S. 36 f. Ebd., S. 35. Die große Ausnahme bildet Wielands Bemühung um die mittelalterliche Sequenz des Stabat Mater. Vgl. Klaus Manger: »Schmerz in lateinischen und deutschen Versen: Christoph Martin Wielands Übertragung des Stabat Mater.« In: Symbiosen – Wissenschaftliche Wechselwirkungen zu gegenseitigem Vorteil. Festschrift für Werner Köhler. Hg. v. Klaus Manger u. Hans-Peter Klöcking. Erfurt 2009, S. 313-323.
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Renaissance und des Erasmus, des spanischen Siglo de oro, des Frankreich Voltaires und der Enzyklopädisten sowie Englands von Shakespeare, Shaftesbury bis zum Zeitgenossen Laurence Sterne. In diesen Epochen und Autoren ist Wieland zuhause. Das macht den Klassizismus-Begriff so problematisch, der womöglich als Notbehelf erscheint, aber den Klassizisten Wieland doch charakterisiert, weil die griechische Antike als eine Epoche wohl die uns über schriftliche Zeugnisse zugängliche Kultur begründet, aber keineswegs zur Norm erhebt, schon gar nicht in einem als ›perennierend‹ zu verstehenden Klassizismus, der sich auf Nietzsche beruft.⁴⁵ Im neuen Wieland-Handbuch, das voraussichtlich nicht nur die WielandForschung auf eine neue Stufe heben wird, macht seine Herausgeberin Jutta Heinz den Vorschlag der »Wielandizität« dafür.⁴⁶ Das wird man diskutieren müssen. Jedenfalls macht ein solcher Vorschlag deutlich, dass Wielands auf Originalität und Lebendigkeit setzender Klassizismus zugleich eine auf Aufklärung zielende, nicht veraltende Aktualität verfolgt. Wielands Verständnis liegt eine Auffassung zugrunde, die dynamische Prozesse von Geschichte, in denen sich große Divergenzen und Spannungen aufgetan haben, miteinander verbindet bzw. ineinander blendet. Es sind Epochen, die besonders skeptische Autoren auf den Plan gerufen haben, die menschliches Maß vertreten, gegebenenfalls verteidigen und mit ihrer Verankerung in der Erfahrungswelt den Phantomwelten und Wolkenkuckucksheimen⁴⁷ Paroli bieten. Vielleicht ist ihre stärkste Waffe die unsichtbare Balance, die sie in einem Dauerkonflikt von Außen- und Innenwelt, von Erfahrung und Phantasie, von Werterkenntnis und Schimäre Maß zu halten versuchen. Solche Äquilibristik könnte ein Kennzeichen des Klassizismus sein, von dem sich der moderne Klassizismus dadurch unterscheidet, dass er obendrein vergleichbare Epochenkonstellationen der Tradition mitreflektiert. Nur, wie voraussetzungsvoll ist das? Klassizismus als Stiläquivalent der Aufklärung vollzieht die Drehung von theozentrischen Entwürfen auf die anthropologische Zentrierung mit. Auch Göttergeschichten, sprich Mythen, werden zu einer »Sprache
Vgl. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I (Nr. 221). In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 2, S. 180-184; Vgl. Thomé: »Klassizismus« (Anm. 31), S. 277. Jutta Heinz: »›Wielandizität‹. Versuch einer Charakteristik«. In: Dies.: Wieland-Handbuch (Anm. 33), S. 457-466. Entgegen Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Berlin ³²1972, S. 508 f., stammt das Wort nicht von Schopenhauer, sondern findet sich schon in Wielands Übertragung der Vögel (2. Akt) des Aristophanes (zuerst 1805) in der Schreibweise »Wolkenguckgucksheim« als Reimwort des Poeten auf »Honigseim«. Vgl. Die Ritter, oder die Demagogen. Die Vögel. Aus dem Griechischen des Aristofanes übersetzt und erläutert von C. M. Wieland. Wien 1813 (Wieland’s Übersetzungen, 18), S. 233. Zu Wielands frühester Verwendung 1800/01 vgl. AZ, S. 886 und 1346.
Wielands moderner Klassizismus
der Phantasie«.⁴⁸ Dass es in der Welt des Handelns nicht nur um anthropomorphe Gestaltung geht, sondern Menschen in ihr Zentrum rücken, verkörpern in der Sprache der Phantasie kaum zwei Werke besser als Oberon (1780)⁴⁹ und die mit Wielands Dschinnistan (1786 – 89) verbundene Zauberflöte (1791),⁵⁰ in denen jeweils das auch in schweren Prüfungen ihre Liebe erhaltende Menschenpaar ausersehen ist, die Götter zu erlösen. Der dogmatische Elfenkönig Oberon muss genauso von seinem gegenüber Titania ausgestoßenen Trennungsfluch befreit werden wie beispielsweise das Lichtreich Sarastros von den Mordplänen der Königin der Nacht. Als Goethes späterer Schwager Vulpius, der auch den Oberon für die Weimarer Bühne bearbeitet hat, neben anderen Eingriffen in Schikaneders Libretto zur Zauberflöte den Vers: »Besieget hast du die Gefahr« für Weimar umakzentuiert in: »Besiegt hast dú jetzt die Gefahr«, hat man das als »schwächliche Verballhornung eines stümpernden Reimschmiedes«⁵¹ verunglimpft. Dabei hat Vulpius nur Wort- und Versakzent zur Deckung gebracht und damit jene Zentrierung markiert, die Wielands klassizistisches Programm vorgegeben hat: nicht »Besieget hást du«, sondern: »Besiegt hast dú«.⁵² Diese Handlungsmitte ist seit Wielands Erfindung Weimars⁵³ im Ereignisraum von Weimar und Jena fest implantiert. Ob Goethe sagt: »Mach’ ein Organ aus dir«!⁵⁴ Ob Herder sein Humanitätsprogramm entwickelt.⁵⁵ Oder ob Schiller im Drama sein Heldenprogramm inszeniert oder universalhistorisch das handelnde Subjekt als Zentrum in der »ganze[n] moralischen Welt«⁵⁶ verankert: Die Impulse gehen von einem sinnlich-sittlichen Individuum aus, von dem schon die griechische Tragödie weiß: Nichts Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten (1791). Leipzig ²1972, S. 5 und 7; Vgl. Hans Joachim Schrimpf: »Die Sprache der Phantasie: K. Ph. Moritz’ Götterlehre«. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. v. Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln, Graz 1967, S. 165-192. WBibl. 444-446. Vgl. Wolfgang Amadé Mozart: Die Zauberflöte. KV 620. Eine große Oper in zwei Aufzügen. Libretto von Emanuel Schikaneder. Hg. v. Hans-Albrecht Koch. Stuttgart 2005. Zu Dschinnistan: WBibl. 540. Hans Löwenfeld in: Die Zauberflöte. Eine Oper in drei Aufzügen, neubearbeitet von C[hristian] A[ugust] Vulpius. Die Musik ist von Mozart. Leipzig bei Johann Samuel Heinsius 1794. Als Faks. neu hg. v. Hans Löwenfeld. Leipzig 1911, S. 121. Vulpius: Zauberflöte III/13 (Anm. 51), S. 96. Vgl. Klaus Manger: »Weimar um 1800 in der Gewalt des Mozartischen Genius«. In: Mozarts Lebenswelten. Eine Zürcher Ringvorlesung 2006. Hg. v. Laurenz Lütteken u. Hans-Joachim Hinrichsen. Kassel 2008, S. 252-273. Vgl. Klaus Manger: Wielands Erfindung Weimars. Jena 2006 (Oßmannstedter Blätter 1). Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Erstes Buch. Viertes Capitel. In: Ders.: Weimarer Ausgabe I.24, S. 51. Johann Gottfried Herder: »Briefe zu Beförderung der Humanität«. 1.-10. Slg. (1793 – 97). In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 17/18. Berlin 1881/1883. Friedrich Schiller: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« (1789). In: Ders.: Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen. Hg. v. Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Bd. 17, S. 359-376, zit. S. 359.
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sei ungeheuerer als der Mensch.⁵⁷ Um diese Ungeheuerlichkeit einzudämmen, wenigstens zu dämpfen, bedarf es einigen Aufwandes, wie er beispielhaft philosophisch in Musarion (1768), theologisch im Agathodämon (1799) oder politisch im Goldnen Spiegel (1772) getrieben wird. Natürlich lässt sich sagen, die individuell repräsentative Geschichte des Agathon, der Gesellschaftsroman von der Geschichte der Abderiten (1781) oder das Kulturpanorama von Aristipp und einigen seiner Zeitgenossen (1800/01) versammeln die disziplinären Aspekte geradezu holistisch. Die strukturell mitreflektierten Epochenkonstellationen bedingen gleichfalls, vielschichtig wie sie sind, die Aktualisierung. Beispielsweise ist Wielands Übertragung von Ciceros Briefen viel zu wenig bekannt, die er für seinen Zweck dergestalt chronologisch ordnet, dass er die überlieferten Briefcorpora auflöst und ineinander gliedert.⁵⁸ So erhält er ein Kulturpanorama von Cicero und einigen seiner Zeitgenossen. Noch weniger aber ist bekannt, wie Wieland zum Entschluss dieser Übertragung kam. Da erkennen wir erneut den Zeitgenossen, der sich in dauerndem Abgleich mit anderen Autoren, anderen Zeiten, Situationen, Konstellationen befindet. Dabei geht es weniger um Aemulatio als vielmehr um die aktualisierende Richtung. Der Dichter und Schriftsteller als kritische Instanz und öffentliches Gewissen wird gewissermaßen zum Kompass. Voraussetzung dafür ist eine stupende Weltkenntnis, die der Weltbürger⁵⁹ inmitten der Weltkultur⁶⁰ aufweist. Aus dem Prozess der Autonomisierung der Künste gehen die Autoren als Letztinstanzen hervor, die weltbürgerlich, also überkonfessionell und international, für Gerechtigkeit und Gesetz sowie für Pressefreiheit,⁶¹ die Voraussetzung dafür, dass sie sich äußern und auch gelesen werden können, eintreten. Wir erkennen, welcher Anspruch dem Dichter und Schriftsteller hieraus zuwächst. Dieser Anspruch wird hinter Wielands Entschluss sichtbar, Ciceros Briefe zu übersetzen, deren Zeitpunkt auf der einen und der geschichtliche und weltbürgerliche Gesichtspunkt auf der anderen Seite für ihn nichts Vgl. den Eingangschor in der Antigone des Sophokles zum Zweiten Akt in Hölderlins Übertragung: Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Hg. v. Friedrich Beißner. Bd. 5. Stuttgart 1952, S. 219. WBibl. 1412. Arnd Kerkhecker: »Cicero«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 33), S. 433-445. Vgl. Wieland im Zweiten Buch, Sechstes Capitel, der Geschichte der Abderiten (1781) sowie im Aufsatz: »Das Geheimniß des Kosmopolitenordens« (1788). In: Wieland’s Werke (Anm. 2), Tl. 7, S. 104-108 und Tl. 33, S. 123-151; Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 33), S. 368-371. Zum Begriff siehe Johann Wolfgang Goethe: »Neueste deutsche Poesie«. Aus: Über Kunst und Alterthum. In: Ders.: Weimarer Ausgabe I, 41.2, S. 280. Vgl. Wielands Aufsätze: »Das Geheimniß des Kosmopolitenordens« (1788) sowie: »Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller in Absicht ihrer Nachrichten, Bemerkungen und Urtheile über Nationen, Regierungen und andere politische Gegenstände« (1785). In: Wieland’s Werke (Anm. 2), Tl. 33, S. 123-151 und S. 169-180.
Wielands moderner Klassizismus
an Aktualität verloren haben. Implizit antwortet Wieland in der Vorrede auf Popes modernes Postulat nach dem Studium des Menschen, wenn er klassizistisch Terenz zitiert: »Ich bin ein Mensch, nichts Menschlichs ist mir fremd«;⁶² das könne man täglich auf sich selbst anwenden. Alles Vergangene kommt, wie es scheint, in einer Art von Kreislauf der Zeiten, in mehr oder minder veränderter Gestalt wieder. Die alte Geschichte ist eine Art von Orakel zur Belehrung und Warnung Derjenigen, deren Geschichte in tausend Jahren die alte seyn wird; nur Schade, daß diese profetische Stimme das Schicksal der Weissagungen der trojanischen Cassandra hat: man versteht sie nicht, weil man sie nicht verstehen will; man glaubt ihr nicht, weil man keine Lust hat ihr zu gehorchen.⁶³
Dieser Kassandraruf ist auf Weimar, den 26. März 1808, datiert. Wie der Verfasser der Abderiten erkennen muss, dass er keine Phantasien geliefert, sondern nur Abbildungen gemacht hat,⁶⁴ so vergleicht er jetzt die von Cicero als Bürger, Staatsmann, Redner und vornehmlich als Mensch geschriebenen Briefe »nicht so wohl mit Handzeichnungen oder Abbildungen, als mit unmittelbar auf das lebendige Urbild gemachten Abgüssen«.⁶⁵ Plastizität ist bis in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik (1804) hinein ein Merkmal des Klassizismus.⁶⁶ Cicero lasse »uns in die innersten Falten seines Herzens sehen«;⁶⁷ die Genialität seiner Laune und seines Witzes, seinen »feinen Atticismus in leicht scherzender Einkleidung seines Tadels oder Spottes«, seine ihm so geläufige sokratische Ironie hebt er hervor; Leichtigkeit und Grazie kennzeichnen in Cicero einen Geistesverwandten. Mitten im Lauf und Andrang einer verhängnisvollen Zeit seien die Briefe von einem scharfsinnigen Beteiligten geschrieben: »so ist natürlich, daß sie als urkundliche Beyträge zur Geschichte des Unterganges der römischen Republik, von nicht geringer Wichtigkeit sind«.⁶⁸ Von einem guten Genius eingehaucht, habe er, Wieland, am 1. November 1806 den Anfang mit der Übersetzung der Briefe Ciceros gemacht. Die ersten, die davon hören, sind Knebel am 5. November 1806
Vgl. Alexander Pope: »Versuch über den Menschen«. In: Ders.: Sämmtliche Werke mit Wilh. Warburtons Commentar und Anmerkungen. Bd. 3. Strasburg 1778, 2. Brief, S. 107. Vgl. Wieland: »Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller« (Anm. 61), S. 172. Sowie M. T. Cicero’s sämmtliche Briefe. Aus dem Lat. übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. Tl. 1. Wien 1813 (Wieland’s Übersetzungen, 7), Vorrede S. 5-22, zit. S. 10. Wieland: Cicero (Anm. 62), Tl. 1, S. 10. Wieland: »Der Schlüssel zur Abderitengeschichte«. In: Wieland’s Werke (Anm. 2), Tl. 8, S. 145. Wieland: Cicero (Anm. 62), Tl. 1, S. 13. Vgl. Jean Paul: »Vorschule der Ästhetik: Über die griechische oder plastische Dichtkunst (§ 16-20) gegenüber der romantischen Poesie (§ 21-25)«. In: Ders.: Werke. Hg. v. Norbert Miller. Bd. 5. München 1963, S. 67-101. Wieland: Cicero (Anm. 62), Tl. 1, S. 13. Ebd., S. 15 und 12.
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und Böttiger wenige Tage darauf.⁶⁹ Wieland erschrickt darüber, weil er bereits ein Vierundsiebziger sei, aber genau das reizt ihn an der immensen Arbeit auch.⁷⁰ Allerdings hat er Böttiger schon Mitte September (?), also bevor Napoleon in Jena auftauchte, wissen lassen, dass die »politischmoralische Misere« des Vaterlandes schwer auf ihm lastet und er sie als Schmach empfindet.⁷¹ Es geht um den Untergang des Alten Reiches im August 1806, der sich in Wielands Gedächtnis offensichtlich schon vor Napoleons Sieg über Preußen mit dem Untergang des Römischen Reiches überlagert und nun nach der Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 von den Kassandrarufen der ciceronischen Briefe begleitet und reflektiert wird. Fünfzehn Jahre vorher steuert Wieland einen Beitrag zu Schillers Historischem Calender für Damen für das Jahr 1792 bei; darin sieht Wieland, wie großen Mächten in Europa daran gelegen sei, »keine andere auf Kosten des deutschen Reichskörpers größer werden zu lassen«.⁷² Zur Erhaltung des Gleichgewichts bedürfe es des Gemeinsinnes und Nationalgeistes, deren Abwesenheit er beklagt. In der Nationalgeistdebatte des 18. Jahrhunderts⁷³ kommt Wieland insofern eine Sonderstellung zu, die ihn zugleich als politischen Schriftsteller⁷⁴ charakterisiert, als er angesichts des vermissten allgemeinen Nationalinteresses ein Mittel angibt, dem entgegenzusteuern. Der spätere Kassandrarufer benennt dieses Mittel mit dem »Einfluß der Schriftsteller«, jener nämlich, »die durch Genie, Energie der Seele, Imagination, Beredsamkeit und Darstellungskunst auf die Gemüther der Menschen lebhafte Eindrücke zu machen geschickt sind«.⁷⁵ Es ist Wielands Wirkungskonzept. Die Schriftsteller seien die eigentlichen Männer der Nation; ihr unmittelbarer Wirkungskreis sei ganz Deutschland. Wielands Hoffnung richtet sich auf »einen lebendigen Staatskörper«, den es zu vereinigen gelte; zudem sollten diesen gewaltigen Leib Gesinnungen
Vgl. Kerkhecker: »Cicero« (Anm. 58), S. 433. WBr 17.1, S. 148 und S. 150. WBr 17.1, S. 148. WBr 17.1, S. 130. Christoph Martin Wieland: »Der allgemeine Mangel deutschen Gemeinsinnes und Nationalgeistes und Mittel zu deren Erweckung und Belebung« (1791). In: Wieland’s Werke (Anm. 2), Tl. 35, S. 246-257, zit. S. 254. Vgl. Wolfgang Burgdorf: Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806. Mainz 1998. Vgl. Jan Philipp Reemtsma: »Der politische Schriftsteller Christoph Martin Wieland«. In: Ders.: Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk Christoph Martin Wielands. Zürich 1999, S. 95-160; zuerst als Einführung zu Christoph Martin Wieland: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. 3 Bde. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler. Nördlingen 1988, Bd. 1, S. XII-LXXV; Irmtraut Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum. Tübingen 1990. Wieland: »Der allgemeine Mangel deutschen Gemeinsinnes« (Anm. 72), S. 255.
Wielands moderner Klassizismus
beseelen, »die eines großen, edeln, tapfern und aufgeklärten Volkes würdig sind«.⁷⁶ Besonders überraschend gibt Wieland an dieser Stelle unter dem 10. Oktober 1791 die Anregung, da er doch den Kalender einleitet, der Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges abdruckt, vielleicht sei die dramatische Dichtkunst, wörtlich sagt er: »Behandlungsart«, eine der schicklichsten Formen für solche historische Gemälde, womit er die Literatur bereichert zu sehen wünscht – ganz ähnlich übrigens, wie man aus Shakespeares Schauspielen die Kenntnis der britischen Geschichte schöpfen könne.⁷⁷ Bekanntlich schreibt der Historiker des Dreißigjährigen Krieges rund ein halbes Jahr später, am 25. Mai 1792, an seinen Freund Körner: »Ich bin jetzt voll Ungeduld, etwas poetisches vor die Hand zu nehmen, besonders jückt mir die Feder nach dem Wallenstein.«⁷⁸ Es ist die erste konkrete Benennung des neuen, aus der universalhistorischen Arbeit in Jena hervorgehenden Dramenkomplexes, der dann noch gut sieben Jahre bis zu seiner Fertigstellung braucht. Offensichtlich hat seine Entstehung Wielands Eintreten für die dramatische Behandlung begünstigt. Der politische Schriftsteller, der das Ende des Alten Reiches mit dem Untergang des Römischen Reiches in Beziehung setzt, wirbt, als er den Nationalgeist befördern möchte, für historische Gemälde in Dramenform, die gleichfalls sein Anliegen unterstützen und dichterisch reflektieren. Aber er wirbt nicht nur unter seinesgleichen, sondern er wirbt auch beim Volk, seinem Publikum, ohnehin seinem wichtigsten Adressaten, den es im 18. Jahrhundert noch mitzuerschaffen galt. Schon deshalb ist Wieland in Riedels Briefen Über das Publicum (Jena 1768)⁷⁹ Protagonist. Im ersten der Gespräche unter vier Augen (1798), in denen jeder spricht, wie er denkt, und ihm Gedankenfreiheit zugestanden wird,⁸⁰ wird die Frage aufgeworfen, wer darüber entscheiden soll, »wie viel Licht dem Volke gut und heilsam ist«,⁸¹ die Oberen oder die Aufklärer? In einer typisch Wieland’ischen Exposition kommen zunächst die Extrempositionen in den Blick, die dann mit einer pragmatischen, auf Maß setzenden Lösung konfrontiert werden. Die Aufklärer werden nämlich entweder über das Ziel hinausschießen, indem sie sich keine Grenzen setzen, oder sie werden mit den Oberen gemeinsame Sache machen, »das arme Volk in Dummheit und Unwissenheit zu erhalten, weil man doch nun einmal in dem
Ebd., S. 256. Ebd. Friedrich Schiller: Nationalausgabe, Begr. v. Julius Petersen. Hg. v. Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Bd. 8, S. 399. Zit. nach Nationalausgabe Bd. 26, S. 141. Vgl. Starnes: Wieland (Anm. 5) Bd. 1, S. 326-333. WBr 3, S. 549-554: 26. Oktober 1768. Wieland’s Werke (wie Anm. 2), Tl. 33, S. 275: »Vorbericht«. Ebd., S. 284.
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Wahne steht, daß ein unwissendes Volk leichter zu regieren sei als ein aufgeklärtes«.⁸² Der explizite Hinweis auf diesen »Wahn« gibt schon einen beredten Fingerzeig darauf, dass hier keine schematische, sondern eine vernünftige Lösung gefragt ist. Die sieht so aus, weil die Zeit nahe sei, da man von dem armseligen Wahn auf ewig zurückkommen werde: Der erste große Fürst, der Verstand und Kenntniß der menschlichen Natur und der menschlichen Dinge genug haben wird, um überzeugt zu sein, ›daß gesunder Verstand allen Menschen, den niedrigsten wie den höchsten, unentbehrlich ist, um – Menschen zu sein‹, und der dieser Grundmaxime in Allem ohne Ausnahme gemäß handeln wird, wird durch sie allein, ohne die geringste Erschütterung, still und unvermerkt, wie die Natur in ihren wohlthätigsten Wirkungen zu verfahren pflegt, eine große, in ihren Folgen unendlich nützliche Verbesserung in seinem Staate bewirken und dann aus eigener Erfahrung bezeugen können, daß keine Regierung sicherer, fester und weniger Reibungen und Stockungen unterworfen ist als die Regierung über ein zum gesunden Verstand reif gewordenes Volk.⁸³
Wie die Natur – gesunder Verstand – reifes Volk: Es sieht aus, als werde hier ein Naturgesetz für gute Regierung entworfen. Die hypotaktisch elegante Periode verfolgt einen genauen Gedankengang. Voraussetzung bildet gesunder Menschenverstand. Wenn ihm die Regierung und das reifende Volk folgen, so führt das naturgemäß nicht nur zu einem »leidliche[n] Zustand«,⁸⁴ dem höchsten, was sich Sterbliche wünschen können, sondern es führt zu einer vergleichsweise dauerhaften Staatsform. Dahinter steckt nicht eine utopische Sehnsucht nach dem besten Staat, sondern der pragmatische Wunsch nach dem leidlichen Auskommen, wenn nur die Aufklärung, so Wieland in der Vorrede zu Schillers Calender, »von oben herab zu wirken« anfange.⁸⁵ Das ist freilich nur bedingt ein Konzept für die Massengesellschaft. Dieser moderne Klassizismus mustert nicht nur die Formen, Gattungen, Stoffe, Motive der einzelnen Nationalliteraturen und führt über ein reflektierendes, vernünftiges, auswählendes Lesen zu einem vernünftigen Denken. Nein, dieser moderne Klassizismus tut sich geradezu holistisch auch im historischen, sozialen und politischen Feld um, woran er seinen Leser bis in die Dialog- und Briefform hinein beteiligt, um diesen Leser auf dem Wege der Bildung und Selbstbildung zu einem mündigen Bürger werden zu lassen. Genau das ist die Absicht der Gespräche unter vier Augen, die unter Ausschluss von Öffentlichkeit, wohl auch nach dem Vorbild
Ebd., S. 284f. Vgl. Christoph Martin Wieland: »Betrachtung über einen bekannten politischen Satz« (1798). In: Ders.: Politische Schriften (Anm. 74), Bd. 3, S. 577-582. Ebd., S. 285. Wieland: »Der allgemeine Mangel deutschen Gemeinsinnes« (Anm. 72), S. 251. Ebd., S. 250.
Wielands moderner Klassizismus
von Lessings Gesprächen zwischen Ernst und Falk,⁸⁶ die Interaktion mit dem Leser als einem Gesprächsteilnehmer suchen. Wir finden uns im Gespräch. Wieland wird nicht müde, vom Don Sylvio über den Agathon bis hin zum Aristipp und der Cicero-Übertragung den Gesprächskörper zu beseelen. Dieses pygmaliontische Prinzip verlangt zugleich nach der komplementären Gestaltung, den Geist zu verkörpern, etwa im »bindende[n] Geist« des Sokrates.⁸⁷ Die in diesem Verständnis vollkommenste Form begegnet uns im Briefwechselgespräch von Aristipp und einige[n] seiner Zeitgenossen (1800/01). Gegen Ende der in diesem Roman unternommenen Reisen mehren sich die Erinnerungen, mehrt sich zugleich der Schatz an Erfahrungen. Beispielsweise erinnert sich Aristipp seiner Bekanntschaft mit Filistus vor 25 Jahren zu Syrakus, wohin er seinerzeit den Sophisten Hippias begleitet hat.⁸⁸ Oder Antipater erinnert sich in seinem Brief an Diogenes, dass er nun schon zehn Jahre das Glück hat, mit Aristipp bekannt zu sein und seines Umgangs zu genießen.⁸⁹ Antipater ist voller Achtung für Aristipp. Deshalb tritt er zu seinem Schutz auf den Plan und widerlegt das vor allem von Platons Akademie in Umlauf gebrachte Vorurteil, Aristipp predige die Wollust. Der drittletzte Brief des Romans wird so aus Sicht der jüngeren Generation⁹⁰ zu einer Verteidigung des Aristipp, die anders als die Apologie des Sokrates von Platon oder Xenophon, die beim Prozess gar nicht zugegen waren, aus eigener Erfahrung Zeugnis gibt. Das führt zu einer Strukturanalogie von Sokrates und den sokratischen Schulen sowie diesen untereinander. Antipater argumentiert so: Aristipp ist nicht zum »Nachtreter und Widerhall«⁹¹ des Sokrates geboren, sondern tendiert vielmehr über das Bedürfnis eines attischen Bürgers hinaus, auf das es Sokrates abgesehen habe, zum Kosmopoliten. Entgegen der propagierten Bedürfnislosigkeit der Sokratiker, die übrigens jedem Mönchsgelübde alle Ehre machte, wie das Beispiel des Antisthenes zeigt,⁹² entgegen auch den Ansichten, den Leib für den Kerker der Seele zu halten, die Sinnlichkeit zu ertöten und die Seele aus der Traumwelt wesenloser Erscheinungen zum unmittelbaren Anschauen des Wahren und der ewigen Ideen zu erheben,⁹³ nimmt Aristipp Gotthold Ephraim Lessing: »Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer.« In: Lessings Werke (Anm. 1), Tl. 6, S. 21-60. Vgl. Peter Michelsen: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des 18. Jahrhunderts. Würzburg 1990, S. 137-159. Vgl. Wielands Aufsatz: »Über Xenofons Gastmahl« (Anm. 32), S. 1016 f. AZ, S. 838. AZ, S. 850. AZ, S. 850-858. Zu Antipater als Schüler Aristipps vgl. Wielands Anmerkung 2 zu III/4, ebd., S. 652. AZ, S. 851. AZ, S. 852-854 sowie S. 881 zu Antisthenes als Stifter der »Cynischen Sekte«. AZ, S. 852 f.
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das »über die Proporzionen der menschlichen Natur Hinausschwellende« zum Anlaß von Scherzen. Nicht anders würde er sich gegenüber Don Sylvio oder Don Quijote verhalten. Deswegen werde er angefeindet und zum »Wollüstler (Hedoniker)« erklärt. Weil Aristipp sich nicht in diesen Streit um Begriffe verwickeln lässt, hat er das »allgemeine Wahrheitsgefühl der Zuhörer« auf seiner Seite.⁹⁴ Die Positionen stehen deshalb so unversöhnlich gegeneinander, weil sich Aristipp damit begnügt, menschliche Tiere zu Menschen zu bilden, wohingegen Platon und Antisthenes Menschen zu Göttern umzuschaffen wünschen, womit wiederum die Ideenwelt ins Spiel kommt. Ihre Basis ist eine Idee, die seine hingegen die Erfahrung.⁹⁵ Antipater stört sich nicht einmal daran, dass sie Aristipps System verhöhnen. »Nur verfälschen sollen sie es nicht.«⁹⁶ En passant erklärt das, weshalb Aristipp seine Lebensweisheit niemals »schulmäßig« gelehrt hat.⁹⁷ Dahinter wird sein Ansatz sichtbar, seine Philosophie weniger in mündlichen oder schriftlichen Unterweisungen als vielmehr in seinem Leben darzustellen. Philosophie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet Wieland bereits 1778,⁹⁸ lange vor dem Roman. Genausowenig wie Aristipp neigt sein Autor dazu, wie es im Roman heißt, »Sektenstifter« zu werden.⁹⁹ Proselytenmacherei ist ihre Sache nicht. Im Laboratorium Aufklärung geht es um selbstdenkende, mündige Individuen. Über allen Erläuterungen hat Antipater sein Ziel nicht aus dem Blick verloren, die Hedone des Aristipp zu charakterisieren. In seinem Verständnis ist sie kein Augenblicksgenuss, für den beispielsweise Faust zu nennen wäre. Sondern sie ist ein »dauernder Zustand eines angenehmen Selbstgefühls, worin Zufriedenheit und Wohlgefallen am Gegenwärtigen mit angenehmer Erinnerung des Vergangenen und heiterer Aussicht in die Zukunft ein […] harmonisches Ganzes ausmacht«.¹⁰⁰ Ist schon der erneut sichtbare gesamtheitliche Ansatz zu begrüßen, so überzeugt vollends das der menschlichen Erfahrung entgegenkommende Programm, das Aristipp mehr noch durch sein Beispiel als durch seine Lehre verkörpert: »Seine Filosofie ist eine Kunst des Lebens unter allen Umständen froh zu werden«,¹⁰¹ die gemäß dem von Horaz bezogenen Motto Sibi res non se AZ, S. 853 f. Vgl. zu dieser Opposition, die Schiller und Goethe im Jahr 1794 nahebringt, die von Wieland in den Abderiten gestaltete Auseinandersetzung des Narrenvolkes mit Demokrit. Dazu Klaus Manger: »Naturforschung bei Wieland«. In: Von Schillers ›Räubern‹ zu Shelleys ›Frankenstein‹. Wissenschaft und Literatur im Dialog um 1800. Hg. v. Dietrich von Engelhardt u. Hans Wißkirchen. Stuttgart 2006, S. 1-17. AZ, S. 854. AZ, S. 855. Vgl. Wieland’s Werke (Anm. 2), Tl. 32, S. 25-32 und S. 16. AZ, S. 856. Ebd. AZ, S. 857.
Wielands moderner Klassizismus
rebus submittere¹⁰² sich von fremden, insbesondere bevormundenden Einwirkungen unabhängig erhält. Wie das zu meistern ist, veranschaulicht in der Apologie die auch durch das Todesurteil unbeeinträchtigte Heiterkeit des Sokrates. Man bedenke, welche Implikationen in Antipaters dem Aristipp abgelernter Weisheit stecken, da er schreibt: »Nicht wer Alles entbehren, sondern wer Alles genießen könnte, wär’ ein Gott«.¹⁰³ Klarer und provokanter ist, was sich mit Aristipps Philosophie und mit Wielands modernem Klassizismus verbindet, niemals ausgesprochen worden. Gefragt ist mit dieser Natur- und Lebenszugewandtheit das sinnlichsittliche, im Vollbesitz seiner Kräfte zuverlässige und auch mündige Individuum, das Wieland als wenn auch schweres, so doch erstrebenswertes Ziel vor Augen stellt. Diese personale Einheit, in der Natur und Geist verbunden sind, lässt sich, wie der Anthropologe Wieland weiß, nur von innen heraus formen. Literatur und Kunst können dafür, wie aus der Wandlung von Don Quijote und Don Sylvio zu ersehen ist, immerhin Impulse geben. Aber anders als der mögliche Bräutigam von Don Quijotes Nichte müssen wir, wenn auch nicht nur Ritterbücher, so doch die Literatur kennen. Und das sind keine »Klassiker light«. Die komplexeste ästhetische Erziehung erfolgt durch Dichter und Künstler, sogar durch Architekten, wie zum Schluss aus dem 18.Jahrhundert heraus perennierend klassizistisch angedeutet sei. Als Walter Gropius 1956 den Hansischen Goethepreis in Hamburg entgegennimmt, dankt er mit der Ansprache Apollo in der Demokratie.¹⁰⁴ Entgegen der aristokratischen, fürstlichen, privilegierten Dimension der Antike ist, wie er sagt, sein neues, modernes Publikum der Mensch. Der architektonische Welterneuerer weiß, dass der Mensch zwar mit Augen auf die Welt kommt, aber erst in langsamer Schulung sehen lernt.¹⁰⁵ Doch hofft der Neuamerikaner, dass das deutsche Volk auch zu neuer kultureller Höhe emporsteigen werde. Das verlange nach einer schon von Tolstoi – Gropius hätte hier auch Wieland anführen können – angemahnten »kulturellen Wertordnung«.¹⁰⁶ Die Moderne verfüge über vollendete Werkzeuge, habe aber verworrene Ziele, die, so Gropius, als sei er bei den Aufklärern in die Schule gegangen, mangels einer Sprache des Herzens, den Einzelnen in hundert verschiedene Richtungen in Stücke rissen. Der menschliche Wille sei darauf aus, Zusammenhänge zu sehen. Das Denken in Relationen verlange mit einem Wort von Piet Mondrian die »Kultur bewußter Beziehungssetzung«.¹⁰⁷ Der Künstler stehe jenseits logischer
AZ, S. 9 und Kommentar, S. 1208. Vgl. Horaz: Epistulae 1,1,19. AZ, S. 857. Walter Gropius: Apollo in der Demokratie. Mainz, Berlin 1967, S. 11-16. Ebd., S. 11. Ebd., S. 16 und 11. Ebd., S. 11 und 13.
Klaus Manger
Zweckmäßigkeit. In der Moderne seien Poet und Prophet zu Stiefkindern des überpraktischen Zweckmenschen geworden. Einerseits wird daraus im Rückblick ersichtlich, wie infam der Vorwurf der Nützlichkeit aus Richtung der Romantiker gegen Wieland war. Anderseits aber stoßen wir auf die bestürzende Aktualität Wielands, dessen moderner Klassizismus gerade in einer »Welt unaufhörlicher Wandlung« und der »Relativität aller Phänomene«¹⁰⁸ die Einheit der in der Natur verwurzelten Person in all ihrer Komplexität zentral hält – als Mitte und Maß. Das Aggregat der griechischen Stadtstaaten hat Wieland schon in seiner Analogie zu den Fürstentümern des Alten Reiches betrachtet.¹⁰⁹ In den föderalen Strukturen der Moderne ist es gleichfalls wiederzuerkennen. Die »disorientierte Gesellschaft« bedarf nach Gropius des Künstlers, der die tieferen Saiten im Individuum zum Klingen bringe.¹¹⁰ Beziehung und Wechselwirkung zwischen verschiedenen Individuen zur Einheit aber resultieren nur aus dem Inneren, nie aus autoritärer Gleichschaltung, um zu einer »Kettenreaktion« zu kommen.¹¹¹ Auf dieses Innere zielt die ästhetische Erziehung der Aufklärer, unter denen Wieland mit seinem modernen Klassizismus Protagonistenfunktion zukommt. Nachdem der Namenspatron des Halberstädter Gleimhauses bei Wieland gewesen ist, hält er fest, »Weimar ist Athen!«¹¹² Von hier aus bleibt bedenkenswert, wie Wielands auf Maß, Mitte und Perspektivierung setzende literarische Innovationen auch in den Demokratien des 21. Jahrhunderts aktuell bleiben, solange sie in welcher Reflexion auch immer die mündige bzw. mündig werdende Person zentrieren.
Ebd., S. 12. Vgl. Wielands Aufsatz: »Der allgemeine Mangel deutschen Gemeinsinnes« (Anm. 72), bes. S. 251-254. Gropius: Apollo in der Demokratie (Anm. 104), S. 14. Ebd. Vgl. Gleims Gedicht »Als ich zu Weimar war«, gedruckt 1792. In: Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Hg. v. Walter Hettche. Göttingen 2003, S. 173 und 665.
Kai Kauffmann
Wielands Peregrinus Proteus – ein Transzendentalroman der Goethezeit? Mit der im Titel genannten Frage, die heuristisch gemeint ist, wird an die gattungsgeschichtliche Thematik und Terminologie von Manfred Engels Habilitationsschrift Der Roman der Goethezeit angeknüpft. In dieser weit ausgreifenden Studie, die leider nach dem ersten, 1993 erschienenen Teil abgebrochen worden ist, versucht Engel, den von ihm umrissenen Typus des Transzendentalromans der Goethezeit gegenüber dem philosophischen, dem pragmatischen und dem anthropologischen Roman der Aufklärung abzugrenzen. In der von Engel beschriebenen Entwicklungsreihe des 18. Jahrhunderts erscheint Wielands Agathon als eine problematische und letztlich scheiternde »Verschmelzung von philosophischem, pragmatischem und anthropologischem Roman«.¹ Mithin sieht Engel im Agathon die Summe von aufklärerischen Traditionen und Problemen, nicht aber einen Ansatz zu den Innovationen des Tranzendentalromans der Goethezeit. Gegen seine Einschätzung könnte man einwenden, dass die von ihm in der Erzählkonzeption des Agathon herausgearbeiteten Aporien zwischen dem »Standpunkt theoretischer Erkenntnis« (materialistische Erklärung der Natur) und dem »Standpunkt praktischer Vernunft« (idealistische Begründung der Moralität)² in Analogie zur kritischen Philosophie Immanuel Kants gerade als »transzendental« zu bezeichnen wären.³ Die narrative Gestaltung dieser Widersprüche ließe sich durchaus als eine Vorbereitung von frühromantischen Romanen oder des Hölderlin’schen Hyperion begreifen. Mindestens ebenso interessant ist aber die von Engel nicht behandelte Frage, wo die späteren Romane Wielands, angefangen mit dem Peregrinus Proteus (1791), in der werkgeschichtlichen und gattungsgeschichtlichen Entwicklung zu verorten wären, wenn man sie unter transzendentalphilosophischen und transzendentalpoetischen Gesichtspunkten betrachtet. Die alte Kontroverse darüber, ob der späte Wieland auf dem im Agathon erreichten Entwicklungstand stehengeblieben
Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993, S. VII. Ebd., S. 145. Ebenda spricht Engel in einer Anmerkung von Wielands »Nähe zu Kants praktischer Philosophie«.
Kai Kauffmann
ist oder einen zeitgemäßeren Beitrag zur Romanpoetik der Goethezeit geliefert hat, könnte unter solchen Gesichtspunkten möglicherweise wieder fruchtbar gemacht werden. Mit der gebotenen Kürze sei zusammengefasst, welche Grundzüge den Typus des Transzendentalromans charakterisiert sollen. Engel schreibt: »Mit dem Genrenamen ›Transzendentalroman‹ ist als inhaltliche Vorgabe impliziert, daß der Gegenstand solcher Romane nicht Geschichten empirisch verorteter und geprägte[r] Individuen sind, sondern ›Geschichten des Bewußtseins‹ und seines ›transzendentalen Ganges‹ (E. Behler)«. In den Romanen gehe es also um die »narrative Exposition von Strukturen des Bewußtseins und / oder des (in der zweiten Hälfte der Goethezeit zunehmend ontologisch gefaßten) ›Absoluten‹«.⁴ Die entscheidende Bestimmung des Transzendentalromans liegt in der Analogie- und Differenzbeziehung zur idealistischen Transzendentalphilosophie von Kant, Fichte, Schelling und Hegel: Die gleichen Inhalte werden in anderen Formen dargestellt, denn der Transzendentalroman bedient sich nicht (zumindest nicht ausschließlich) des diskursiven Modus der philosophischen Reflexion, sondern entwickelt spezifische, narrative Verfahren, um die Strukturen des Bewusstseins mit dem Ausgriff des Subjekts auf das Absolute anschaulich zu machen. An Möglichkeiten nennt Engel vor allem das Erzählen einer ›zweiten Geschichte‹ auf der Ebene des Wunderbaren; die Potenzierung der Hauptgeschichte durch Parallelgeschichten oder Binnentexte (besonders Gedichte, Träume, Märchen); die Stärkung des poetischen Nexus durch ein System von Motiven, Metaphern und Symbolen; die Thematisierung und Reflexion des Erzählens selbst als Tätigkeit eines in die Geschichte involvierten Subjekts; und schließlich die »direkte (›transzendentalpoetische‹) Thematisierung der ›symbolischen Form‹ des Textes«, womit in der Goethezeit gemeint sei, dass »das Werk gerade durch seine epische Organisation transzendentales Weltmodell sein soll«.⁵ Die von Engel gewählten Formulierungen lassen erkennen, dass seine Vorstellungen vom Transzendentalroman der Goethezeit hauptsächlich auf die radikalen Konzepte der Romantik zielen. Meiner Ansicht nach wird auf diese Weise die Ausgangsbestimmung – der Transzendentalroman sei die narrative Exposition der Strukturen des Bewusstseins mit (wachsendem) Bezug auf das Absolute – derart zugespitzt, dass die an sich mögliche und sinnvolle Anwendung des Begriffs auf gewisse Romane des 18. Jahrhunderts verhindert wird. So entsteht der Eindruck eines epistemologischen und narratologischen Paradigmenwechsels zwischen Aufklärungsepoche und Goethezeit, eines Paradigmenwechsels, der unter anderem die Romane Wielands von der Entwicklung um 1800 abschneidet.
Ebd., S. 9. Ebd., S. 13.
Wielands Perigrinus Proteus
Stattdessen soll im Folgenden dargelegt werden, dass die Romane Wielands durchaus transzendental zu nennende Strukturen und Tendenzen aufweisen. Bereits der Agathon ist nicht bloß die quasi empirisch beschriebene und psychologisch erklärte Geschichte eines Individuums, sondern damit verbunden die gleichsam transzendental reflektierte »Geschichte eines Bewußtseins«, dessen Subjektivität sich nicht mit den Grenzen der Erfahrung der Natur bescheidet, vielmehr nach der Anschauung und der Verwirklichung von Ideen des Schönen und Vollkommenen strebt. Bekanntlich hat Wieland diesen Problemkomplex immer wieder unter dem Begriff der »Schwärmerei« verhandelt, und zwar sowohl in seinen dichterischen Werken als auch in seinen popularphilosophischen Schriften. Ähnlich wie zuvor im Don Sylvio wird im Agathon die Schwärmerei erkenntnistheoretisch als das subjektivistische Produkt einer hypertrophen Einbildungskraft kritisiert, die den Bereich der objektiven Erfahrung (Natur) verlässt und die Grenzziehungen des Verstandes missachtet, um in platonischen Ideen zu schwelgen. Dass diese Einwände gegen die Schwärmerei der kritischen Philosophie Kants – wie sie wenig später in der Kritik der reinen Vernunft ausgearbeitet werden sollte – nahestehen, ist offensichtlich. Doch spielt bei Wieland, anders als bei Kants Kritik der Vernunft, das Vermögen der Einbildungskraft die entscheidende, verhängnisvolle Rolle. Sie ist es nämlich, die dem Subjekt der Schwärmerei eine sinnliche Anschauung vom Ideellen vorgaukelt. Sie erzeugt durch Bilder und Worte den Schein, als ob Ideen zur Realität werden könnten, und verführt dadurch Menschen wie z. B. Agathon zu einer falschen Lebensführung. Ich möchte hier auf Wielands Auseinandersetzung mit dem Platonismus, der stark durch Plotin gefärbt ist, nicht näher eingehen. Betonen möchte ich aber, dass die Kritik an der Einbildungskraft immer auch eine Kritik an solchen Spielarten der Dichtung ist, die durch ein Übermaß an Bildhaftigkeit und Beredsamkeit ein Scheinreich des Ideellen aufbauen. Mithin handelt es sich zugleich um eine Kritik an poetischen und rhetorischen Verfahren, die eine starke illusionsstiftende und mystifizierende Wirkung haben. Selbstverständlich weiß jeder gründliche Leser von Wielands Dichtungen auch, dass in ihnen die Schwärmerei für das Ideale nicht einfach im Namen eines Empirismus oder Materialismus verdammt wird, so wie auch die Einbildungskraft der Poesie nicht einfach der Erkenntniskraft der Ratio weichen soll. Sonst müsste man ja auch Wielands Sympathie für Schwärmerfiguren nach Art des Agathon oder seine Vorliebe für das Erzählen von Feenmärchen als einen performativen Selbstwiderspruch bezeichnen. Tatsächlich zielen die argumentativen Diskurse und die poetischen Techniken von Wielands Dichtungen auf ein »Gleichgewicht zwischen
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Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit«,⁶ wie es in der Vorrede zum Musarion über Wielands »Philosophie der Grazien« heißt, eine Balance, bei der sich Phantasie und Verstand wechselseitig kontrollieren und korrigieren. Doch mit der Verlautbarung dieses Prinzips, an dem Wieland immer festgehalten hat, ist noch nicht gesagt, was in seinen jeweiligen Dichtungen als Gleichgewicht gilt und wie diese Balance durch narrative Verfahren hergestellt wird. Wenn man nun unter diesen Gesichtspunkten die früheren und die späteren Romane Wielands untersucht und sie anschließend miteinander vergleicht, so fallen einem, bei aller Kontinuität in der Grundthematik und Grundpoetik, doch signifikante Unterschiede auf. Die These, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, lautet: Während im Agathon (wenigstens in der Erstfassung von 1766/67) die Einbildungskraft an ihrer poetischen und rhetorischen Entfaltung durch den überwiegend diskursiven Modus des Erzählens immer wieder gehindert wird, gewinnt sie im Peregrinus Proteus die Oberhand. Konkreter gesagt: Die phantasmagorischen Bilder und Szenen in den autobiographischen Erzählungen des Peregrinus drängen die kritischen Reflexionen und Kommentare im Rahmengespräch mit Lukian zurück. Das könnte mit einer im Vergleich zum Agathon weniger kritischen Beurteilung der Schwärmerei zusammenhängen. Zumindest Friedrich Sengle hat betont, dass sich gegenüber dem Agathon die Deutung der Schwärmerei im Peregrinus Proteus entschieden gewandelt habe: Jetzt geht es nicht mehr darum, einen Jüngling wegen seiner jugendlichen Wirrnisse zu verspotten oder zu belehren, sondern mit dem Phänomen eines Menschen fertig zu werden, der sein ganzes Leben hindurch ein ›ehrlicher Schwärmer‹ gewesen ist. Die ›Schwärmerei‹ – das hat Wieland im Lauf seines Lebens erkannt – ist ein Urphänomen, ein Stück der Menschennatur. […] Vielleicht – das beginnt der alte Dichter zu ahnen – fehlt dem Menschen, der keinen Anteil an ihr hat, etwas zum Menschsein, jedenfalls aber zur Größe.⁷
Sengle hat sogar gewagt, die späten Romane Peregrinus Proteus und Agathodämon »im Sinne der Glaubenssehnsucht religiös zu nennen« und sie als »echte Dokumente der Vorromantik« zu bezeichnen.⁸ Diese Interpretation (die noch etwas nach der germanistischen Ideologie einer ›Deutschen Bewegung‹ zum Irrationalen schmeckt) geht zu weit. Sie lässt zum einen die polyperspektivische Erzählkonstruktion des Peregrinus Proteus außer Acht, in der die von Sengle aufgegriffene Behauptung, die Schwärmerei sei ein Stück der Menschennatur, zur autobiographischen Selbstrechtfertigung des Protagonisten gehört. Zum anderen blendet Sengle
Christoph Martin Wieland: Musarion oder die Philosophie der Grazien. Hg. v. Alfred Anger. Stuttgart 1979, S. 6. Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart 1949, S. 481. Ebd., S. 479.
Wielands Perigrinus Proteus
die äußerst kritischen Zeitschriftenartikel aus, die Wieland zur Entstehungszeit des Romans gegen aktuelle Formen der religiösen Schwärmerei veröffentlicht hat. Man denke besonders an seine polemischen Äußerungen über Swedenborg und dessen Sonnambulismus.⁹ Allgemein war die Auseinandersetzung mit der Schwärmerei ein zentraler Themenkomplex in den Bänden des Teutschen Merkur der Jahre 1787 – 89, und genau in diesem Kontext erschienen die beiden ersten Teile des Peregrinus Proteus. Von daher ist Sengles Interpretation des Romans als Hinwendung zum Religiösen zu einseitig, wie auch die Rubrizierung als Vorromantik allzu forciert erscheint. Ich werde jetzt die Kontroverse, die im Roman über die Rolle der Einbildungskraft und das Recht der Schwärmerei geführt wird, genauer analysieren, um anschließend die von Wieland angewendeten Erzählverfahren der Illusionsstiftung und der Illusionszerstörung zu untersuchen. Vorangeschickt seien einige Bemerkungen zum Stoff und zur Anlage des Romans. Die Geschichte gründet auf einer von Wieland übersetzten Schrift seines Lieblingsautors Lukian.¹⁰ Dort wird in polemischem Ton über das Leben des griechischen Philosophen Peregrinus Proteus berichtet. Dieser unverbesserliche Schwärmer sei (nach anderen Verwicklungen) als Prophet einer christlichen Sekte aufgetreten, dann in die Rolle eines zynischen Moralisten geschlüpft und habe sich schließlich, wie Jahre zuvor angekündigt, während der Olympischen Spiele auf einem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt. Wieland hat in einem Anhang zu seiner Übersetzung nicht nur die historische Glaubwürdigkeit dieses Berichts bestätigt, sondern auch den polemischen Ton der Schwärmerkritik gerechtfertigt. Als er 1788 seinen Roman konzipierte, gestaltete er jedoch das ganze ›Setting‹ der Erzählung so um, dass das Urteil über den Schwärmer Peregrinus letztlich dem Leser überlassen wird. Wieland fingiert als Rahmenhandlung ein im Elysium stattfindendes Totengespräch zwischen Peregrinus und Lukian, in dem die beiden ihre ehemaligen Lebensphilosophien darstellen,
Vgl. v.a. Wielands Vor- und Randbemerkungen zum »Sendschreiben an die Gesellschaft der vereinigten Freunde zu Straßburg, über die einzige genügliche Erklärung der Phänomene der thierischen Magnetismus und Sonnambulismus« (In: Der Teutsche Merkur 4/1787, S. 153-192). Zu Wielands Auseinandersetzung mit verschiedenen Phänomenen der Schwärmerei im direkten Kontext des Peregrinus Proteus vgl. Brigitte Thorand: »Zwischen Ideal und Wirklichkeit – Zum Problem des Schwärmertums im ›Peregrinus Proteus‹«. In: Das Spätwerk Christoph Martin Wielands und seine Bedeutung für die deutsche Aufklärung. Hg. v. Thomas Höhle. Halle / Saale 1988, S. 91-100. Vgl. auch Geun-Ho Lee: Vernunft, Antike und Schwärmerei. Interpretationsannäherungen an Wielands ›Peregrinus Proteus‹. Frankfurt/M. u. a. 1998, bes. S. 43-63. Vgl. ferner Pascal Frey: Erkenntnis Esoterik und das Seelenheil des Schwärmers. Religion und Aufklärung im Spätwerk Christoph Martin Wielands. Solothurn 2001, bes. S. 94-110. Vgl., auch im Zusammenhang der Schwärmerthematik Gerhard Braunsperger: Aufklärung aus der Antike: Wielands Lukianrezeption in seinem Roman ›Die geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus‹. Frankfurt/M. u. a. 1993.
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aber auch die Einseitigkeit ihres eigenen Standpunkts einräumen. Lukian bekennt an einer Stelle: »Wir waren beiden zu ganz das was wir waren, ich zu kalt, du zu warm, du zu sehr Enthusiast, ich ein zu überzeugter Anhänger Epikurs, um einander in dem vortheilhaftesten Lichte zu sehen.«¹¹ Im Rahmen des Totengesprächs erhält Peregrinus die Gelegenheit, aus der eigenen Sicht seine Lebensgeschichte zu erzählen, womit ein Gegengewicht zum vorliegenden Bericht des Lukian geschaffen wird. Dass die autobiographischen Schilderungen, in denen Peregrinus seine schwärmerischen Erlebnisse und Enttäuschungen beschreibt, den größten Teil des Romans ausmachen, ist für die vom Agathon unterschiedene Erzählpoetik von großer Bedeutung. Dazu später mehr. Im einleitenden Gespräch beruft sich Peregrinus auf Platons Theorie von der dämonischen Doppelnatur des Menschen, der sich zwischen der tierischen Sphäre des Materiellen und der göttlichen Sphäre des Ideellen bewegen könne. Damit begründet er anthropologisch sein eigenes Streben nach dem Höheren. Interessant ist die mit dieser Theorie verknüpfte Erkenntnislehre. Während der Verstand, den Lukian als wichtigstes Vermögen des Menschen beschwört, für Peregrinus auf die Erkenntnis des Materiellen beschränkt bleibt, wird der Einbildungskraft zugesprochen, dass sie wenigstens eine Ahnung des Ideellen vermitteln könne. Tatsächlich sei durch höher veranlagte Menschen, die ihre Einbildungskraft nicht nur (wie Lukian unterstellt wird) »zum Scherz, zum Erfinden und Ausmahlen abenteuerlicher Bilder, und zur Belustigung« der Zuhörer oder Leser gebraucht hätten, bewiesen worden, »daß eine gewisse Divinazionskraft in unsrer Seele schlummert, die vielleicht (wie so viele andere Fähigkeiten) in den meisten Menschen nie erweckt wird, aber denen, in welchen sie erwacht und zu einem gewissen Grade von Lebhaftigkeit gelangt, ein Vorgefühl des Unsichtbaren und Zukünftigen giebt«.¹²
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier im Text zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl. Alle Hervorhebungen finden sich so im Text. hier: SW IX. 27, S. 48. Ebd., S. 33; Pascal Frey: Erkenntnis Esoterik und Seelenheil des Schwärmers (Anm. 9) S. 98 f., bemerkt dazu: »Wieland demonstriert […] in seinem Spätwerk die Genese des religiösen Gefühls aus einer epistemologischen Veranlagung des Menschen: Menschen denken und fühlen, hoffen und streben. Dieses Hoffen und Streben ist nicht nur auf das Diesseits beschränkt, sondern neigt zum Übersinnlichen, zum (noch) Unerklärlichen.« Und Frey fügt, ebd., S. 100, an: »Mit einer solchen Problemstellung wurden weite Teile der Schwärmerdiskussion der siebziger und achtziger Jahre bedeutungslos. Das Schwärmerproblem verlagerte sich weg von der Gegenüberstellung von Vernunftmensch und Schwärmer hin zur Gegenüberstellung von (legitimem) religiösem Glaubenwollen und Schwärmerei.«
Wielands Perigrinus Proteus
Als Vertreter einer rationalistischen und empiristischen Philosophie wendet Lukian ein, die von der Einbildungskraft gelieferten Vorstellungen und Empfindungen des Ideellen seien keine objektiven Erfahrungen. Doch Peregrinus nimmt auch für die Einbildungskraft den Begriff der Erfahrung in Anspruch. In seiner Argumentation benutzt er explizit oder implizit zwei Kriterien der Erkenntnistheorie: Erstens verweist er auf die Sinnlichkeit der von der Imagination gelieferten Bilder, die mit äußeren Wahrnehmungen der Realität übereinstimmt und deswegen für das vorstellende Subjekt auch gar nicht vom richtigen Sehen zu unterscheiden ist.¹³ Und zweitens führt er die Lebhaftigkeit der mit diesen Bildern verbundenen inneren Empfindungen an, die sogar alle anderen Vorstellungen an Intensität übertreffen. Aus der Sicht von Lukian reichen diese beiden Kriterien nicht aus, um von wirklicher Erfahrung und wahrer Erkenntnis zu sprechen, sind sie doch auch bei Träumen erfüllt. Peregrinus ist bereit, dies zuzugeben, kontert aber mit einem Argument, das im Rahmen einer rationalistischen und empiristischen Erkenntnislehre gar nicht diskutiert werden kann: dem Argument der Eudämonie: Es scheint, lieber Lucian, man müsse aus eigener Erfahrung wissen, was es ist, seine Seele mit lauter Idealen von Schönheit und Vollkommenheit angefüllt zu haben […]. Aber solltest du nicht wenigstens dieß erfahren haben: dass es Träume giebt, die uns glücklicher machen, als wir wachend je gewesen sind, und deren wir uns, selbst nach dem Erwachen, noch immer mit Vergnügen erinnern?¹⁴
Auch wenn die Einbildungskraft lauter Phantasmagorien schaffen sollte, ist ihr Wirken doch gerechtfertigt, sofern sie den Menschen an die Möglichkeit des Schönen und Vollkommenen glauben macht und so zu seiner Glückseligkeit beiträgt. Das ist das letzte und wichtigste Argument, das Peregrinus zugunsten der Einbildungskraft ins Felde führt. Zweifellos liegt es nicht an diesen theoretischen Argumenten, dass Lukian die Schwärmereien des Peregrinus gegen Ende des Romans immer nachsichtiger, ja verständnisvoller beurteilt. Vielmehr lässt er sich durch den suggestiven Bild- und Wortzauber der Erzählungen so bannen, dass er ihren Fortgang kaum abwarten kann. Die Einbildungskraft beweist ihre Wirkung nicht im Dialog, sondern in der Narration. Zu ihrer Suggestion trägt bei, dass die Schilderungen der Lebensgeschichte des Peregrinus durchgängig in der homodiegetischen Ich-Form gestaltet sind. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zum Agathon, wo der heterodiegetische Modus der Er-Erzählung umgekehrt den distanzierten und reflektierten Charakter der um Objektivität bemühten Darstellung verstärkt. Freilich gibt es im Agathon einen Abschnitt, in dem der Protagonist seine eigene
Vgl. den Dialog, der sich im Anschluss an die von Peregrinus geschilderte Erscheinung der Göttin im Venustempel zu Smyrna entspinnt, zitiert auf S. 230 dieses Aufsatzes. SW X.27, S. 114.
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Jugendgeschichte vorträgt.¹⁵ Doch überwiegt dort die innere Distanz des gereiften Ich-Erzählers. Dagegen wird im Peregrinus Proteus eine Nähe zu den jugendlichen Ich-Erlebnissen hergestellt. Anders als im Agathon verhindern die mitlaufenden Reflexionen und Kommentare des Ich-Erzählers nicht, dass sich über längere Passagen eine imaginäre Idealwelt aufbaut; und auch die eingeschalteten Dialoge zwischen Peregrinus und Lukian stören diese Phantasmagorien der Einbildungskraft vergleichsweise wenig. Das lässt sich an dem großen Erzählabschnitt zeigen, der die vermeintlichen Mysterien und Theophanien in der Villa Mamilia zum Gegenstand hat. Der Abschnitt, der in der Göschen-Ausgabe der Sämmtlichen Werke etwa einhundertfünfzig Seiten umfasst, lässt sich in drei Phasen unterteilen, die man mit ›Initiation‹, ›Theophanie‹ und ›Desillusionierung‹ überschreiben könnte. Zu Beginn wird die Seele des jugendlichen Schwärmers zum einen durch die Szenerie eines Tempels, zum anderen durch die Reden der Priesterin Dioklea auf das Mysterium eingestimmt. Auf die – ihrerseits durch eine längere Zeremonie eingeleitete – Begegnung mit dem Marmorbild einer Venus Urania im Heiligsten des Tempels folgt die Erscheinung der Göttin selbst, die folgendermaßen beschrieben wird: [U]nversehens erfüllte den Tempel eine hell leuchtende Klarheit und ein leises Weben der lieblichsten Rosendüfte; und statt der Bildsäule erblickte ich in einer helldunkeln Wolke, welche eine ganze Vertiefung erfüllt, die Göttin selbst in lebendiger unaussprechlicher Schönheit und Glorie, zwischen ihren ewig jugendlichen Grazien, welche, Hand in Hand wie in einem leicht schwebenden Tanze sich um sie her bewegend, von Augenblick zu Augenblick ihre himmlischen Reitze bald umschleyerten bald wieder sichtbar machten. Ich stand in Entzückung und Anbetung verloren, als die Göttin, mit einem Lächeln das den ganzen Tempel zu erheitern schien, einen Blick voll Huld und Majestät auf mich warf, und plötzlich wieder aus meinen Augen verschwand.¹⁶
An diese – wunderbare – Beschreibung des Ich-Erzählers schließt ein Dialog zwischen Peregrinus und Lukian an: Lucian. Freund Peregrin! – was willst du daß ich glauben soll? Peregrin. Daß ich dir nichts sage als was ich gesehen habe. Lucian. Gesehen nennst du es? Geträumt willst du sagen – Peregrin. Ich versichere dich, daß ich in diesem Augenblicke nicht mehr träume als damahls. Lucian. So war es doch wenigstens einer von den wachenden Träumen, wovon du vorhin sprachest, wo man in vorbey blitzenden Augenblicken sieht, was kein besonnener Mensch, dessen Vernunft und Einbildung im gehörigen Gleichgewichte stehen, je mit gesunden Augen gesehen hat.¹⁷
Vgl. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 11), im Text zitiert mit der Sigle GA, S. 203-289. SW IX.27, S. 162 f. SW IX.27, S. 163 f.
Wielands Perigrinus Proteus
Danach setzt Peregrinus die Erzählung seines, wie er selbst sagt, ›langen Traumes‹¹⁸ fort. Zwar schwächt sich die mysteriöse Aura der Theophanie in einer Reihe von libidinösen Begegnungen mit der vermeintlichen Göttin und deren Priesterin ab, zu einer kompletten Desillusionierung des Protagonisten – und damit auch des in Bann gezogenen Lesers – kommt es aber erst nach geraumer Zeit. Erst nach vielen Seiten wird der mysteriöse Zauber als die theatralische Inszenierung der wollüstigen Römerin Mamilia entlarvt. Im Agathon, wo es durchaus ähnliche Erscheinungen von Venus- und Apollon-Figuren gibt, beschränkt sich die Illusionswirkung auf den Augenblick, wenn sie nicht schon in diesem Moment durch gegenläufige Signale des heterodiegetischen Erzählers konterkariert wird – etwa dadurch, dass der Erzähler die Erscheinungen von Beginn an als die Veranstaltung eines Regisseurs kenntlich macht und über deren Intentionen und Mechanismen reflektiert.¹⁹ Die gleiche Entwicklung wie im ersten ist im zweiten großen Erzählkomplex des Peregrinus Proteus zu beobachten, der die Mysterien der so genannten Christianer behandelt. Hier ist es vor allem eine Rede des Sektenführers Kerinthus, durch die Peregrinus auf das kommende Reich Gottes eingestimmt wird. Über den Redner heißt es: »Er breitete sich mit hinreißender Beredsamkeit über diesen Zeitpunkt aus, dessen Glorien zu beschreiben ihm (wie er sagte) Bilder und Worte fehlten; wiewohl er den ganzen Reichthum der Sprache erschöpfte, nur einen matten Schattenriß davon zu entwerfen.«²⁰ Wohlgemerkt, diese Rede wird vom Ich-Erzähler
Vgl. SW IX.27, S. 165. Vgl. GA, S. 155 f.: »Unser Liebhaber, den dieser Anfang in ein stilles Entzücken setzte, wurde, ungeachtet er zu diesem Spiele vorbereitet war, zu glauben versucht, daß er die Harmonie der Sphären höre, von deren Wesen Würklichkeit ihn die Pythagorischen Weisen beredet hatten; allein, während daß sie immer näher kam und deutlicher wurde, sah er zu gleicher Zeit die Musen aus dem kleinen Lorbeerwäldchen und die Sirenen aus ihren Grotten hervorkommen. Danae hatte die jüngsten und schönsten aus ihren Aufwärterinnen ausgelesen, diese Meernymphen vorzustellen, die, nur von einem wallenden Streif von himmelblauem Byssus umflattert, mit Cithern und Flöten in der Hand sich über die Wellen erhuben, und mit jugendlichem Stolz untadeliche Schönheiten vor den Augen ihrer eifersüchtigen Gespielen entdeckten. Allein kleine Tritonen, bliesen, um sie her schwimmend, aus krummen Hörnern, und neckten sich durch mutwillige Spiele; indes daß Danae mitten unter den Musen, an den Rand der kleinen Halbinsel herabstieg, und, wie Venus unter den Grazien, oder Diana unter ihren Nymphen herabglänzend, dem Auge keine Freiheit ließ, auf einem andern Gegenstande zu verweilen. […] Man muß ohne Zweifel gestehen, daß das Gemälde, welches sich in diesem Augenblick unserm Helden darstellte, nicht sehr geschickt war, weder sein Herz noch seine Sinne in Ruhe zu lassen; allein die Absicht der Danae war nur, ihn durch die Augen zu den Vergnügungen eines andern Sinnes vorzubereiten, und ihr Stolz verlangte keinen geringern Triumph, als ein so reizendes Gemälde durch die Zaubergewalt ihrer Stimme und ihrer Saiten in seiner Seele auszulöschen.« Vgl. auch ähnliche Beschreibungen ebd, S. 183 f. und S. 213 f. SW IX.27, S. 282.
Kai Kauffmann
über mehrere Seiten wörtlich wiedergegeben, so dass sie ihre Suggestionskraft auch auf den Leser des Romans voll entfalten kann. Im Anschluss schildert er zwar nicht die Theophanie einer Göttin der Liebe, aber doch die Erscheinung einer Frau im Kreise ihrer Kinder, deren Bild für ihn stellvertretend auf die Mutter Gottes verweist: Ohne daß sie vermuthlich jemahls eine Schönheit gewesen war, gab ihr die Mischung von Würde und Demuth, von Ernst und Güte, Weisheit und Einfalt, Betriebsamkeit und Ruhe, die den Karakter ihrer Gesichtsbildung und Züge ausmachte, eine so eigene Art von Würde und Anmuth, und zu aller der Mütterlichkeit, wenn ich so sagen kann, […], daß ihr Anschauen auf einmahl alle Bilder von Schönheit und Grazie auslöschte, die aus der Villa Mamilia in meiner Seele zurück geblieben waren. Damahls kannte ich nichts, womit ich die Frau, und das was ich bey ihrem Anblick empfand, hätte vergleichen können: aber lange nachher, als ich in allen Mysterien der Christianer eingeweiht war, dachte ich, so oft ich mich ihrer erinnerte, ein Mahler oder Bildner hätte, um die Mutter des Gottgesandten darzustellen, kein vollkommneres Modell finden können als diese Frau.²¹
Dieses Bild wird dem Erzähler als Symbol einer vergeistigten Religiosität noch vor Augen stehen, nachdem die von Kerinthus inszenierten Mysterien der Christianer als Mittel einer politischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft enttarnt worden sind.²² Seine Wirkung wird also selbst durch den Vorgang der Desillusionierung nicht völlig ausgelöscht. Der Befund lässt sich für den Roman verallgemeinern. Die Ich-Erzählungen des Peregrinus beschreiben religiöse Mysterien, in denen – vermeintlich – das Göttliche zur leibhaften Erscheinung gelangt oder zur symbolischen Anschauung gebracht wird. An einer späteren Stelle fasst Peregrinus diesen Vorgang der Versinnlichung, der ein Werk der Einbildungskraft ist, in Begriffen der gnostischen Theosophie: Immerhin mögen also die Bestrebungen der wärmsten Einbildungskraft, sich zum wirklichen Anschauen dieser unerreichbaren Gegenstände zu erheben, vergeblich seyn: so sind doch diese Gegenstände selbst wirklich; so besitzt doch die menschliche Seele das Vermögen sich eine Art von Schattenbildern von ihnen zu machen; und so ist es begreiflich, wie jenes bloße Bestreben in den innern Sinnen begeisterter Menschen Gefühle und Erscheinungen hervorbringen kann, die bey aller Täuschung noch immer Realität genug haben, um das Subjekt derselben, wenigstens seiner eigenen Schätzung nach, unbeschreiblich glücklich zu machen.²³
Über das Medium der Ich-Erzählungen baut der Roman über lange Strecken eine imaginäre Traumwelt auf, deren Bilder durch den anschließenden Prozess der Desillusionierung nicht restlos um ihre idealische Wirkung gebracht werden.
SW IX.27, S. 297 f. SW IX.28, S. 103 f. SW IX.28, S. 15.
Wielands Perigrinus Proteus
Wenn man die beiden wichtigsten Erzählkomplexe des Romans (über die die erste Fassung im Teutschen Merkur noch nicht hinausging) betrachtet, so erkennt man, dass der Protagonist eine Entwicklung durchläuft, die von der sinnlich-erotischen Theophanie der antiken Liebesgöttin Venus zur stärker vergeistigten Symbolik der christlichen Mutter Gottes, Maria, führt. Das heißt in Bezug auf die Poetologie des Romans selbst: Die Bilder der antiken Mythologie und der christlichen Ikonographie werden im Rahmen der Ich-Erzählung zunächst wieder in Kraft gesetzt, bevor sie dann als Produkt einer künstlichen Inszenierung, die sich die Imaginationskraft zunutze macht, in Frage gestellt werden. Zugespitzt formuliert: Der Roman, der historisch genau am Übergang von der Antike zum Christentum angesiedelt ist, spielt antike Mythen und christliche Mysterien durch, um zu prüfen, über welches Potential der Idealisierung und, zugleich, über welches Potential der Täuschung diese Bildinszenierungen noch zur heutigen Zeit (der Moderne) verfügen. Man kann darin vielleicht den Versuch einer kritisch reflektierten und kontrollierten Mythopoetik sehen. Auf jeden Fall werden im Peregrinus Proteus die Möglichkeiten und Gefahren der Dichtung kritisch mitreflektiert. Denn deutlich genug wird auf die Analogie zwischen religiösen Mysterien und poetischer Symbolik hingewiesen.²⁴ Solche Stellen lassen sich auch als Anweisung an den Leser interpretieren, über die spezielle Art der Inszenierung von mythopoetischen Bildern in Wielands Roman selbst nachzudenken. Nach diesem Argumentationsgang kann ich auf die Ausgangsfrage zurückkommen, ob der Peregrinus Proteus ein transzendentaler Roman der Goethezeit ist oder nicht. Eine Reihe von Indizien spricht dafür. Transzendentalphilosophisch, fast im Sinne Kants, ist die konsequent vom Subjekt der Erkenntnis her gedachte Scheidung zwischen den menschlichen Vermögen des Verstandes und der Einbildungskraft. Transzendentalpoetisch können, mit Blick auf die Frühromantik, alle diejenigen Verfahren des Erzählens genannt werden, die zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen hin- und herspielen und so einen Bezug zum Absoluten herzustellen suchen. Dazu gehören:
So sagt die als Schauspielerin entlarvte, aber Peregrinus noch immer bezaubernde ExPriesterin Dioklea, SW IX.28, S. 78 f.: »Die erhabnen Offenbarungen der unsichtbaren Welt, zum Beyspiel, die du (sagte sie lächelnd) mit einer in der That allzu kindlichen Einfalt im buchstäblichen Verstande genommen hast, scheinen mir weder mehr noch weniger als die unschuldigste Poesie; entweder bildliche Einkleidungen großer Wahrheiten, um sie, die in ihrer reinsten Form den meisten Menschen unverständlich seyn würden, anschaulich und eben dadurch geschickt zu machen auf das Gemüth dieser Menschen zu wirken – oder Versinnlichung edler Zwecke, welche, ohne diese unschuldige Mittel, die eigennützige Trägheit sinnlicher Menschen kalt lassen würden, hingegen, so bald sie ihnen als Befriedigungen ihrer liebsten Wünsche gezeigt werden, ihre ganze Seele erhitzen und alle ihre Kräfte in Bewegung setzen.«
Kai Kauffmann
– die Diskussionen über die Rolle der Einbildungskraft in den Rahmengesprächen zwischen Peregrinus und Lukian; – der Aufbau von imaginären Idealwelten in den Ich-Erzählungen des Peregrinus; – der Gebrauch von mythopoetischen Bildern aus der antiken Mythologie und der christlichen Symbolik. Es gehört dazu aber auch der Wechsel von Erzählphasen der Illusionsstiftung und der Illusionszerstörung innerhalb der Romanentwicklung (Friedrich Schlegel nannte so etwas in den Athenäums-Fragmenten »Selbstschöpfung« und »Selbstvernichtung« des Poetischen), genauso wie die Reflexion auf die eigenen Verfahren der Dichtung. So betrachtet, rückt der Pergrinus Proteus in die Nähe der frühromantischen Poetik. Eine wichtige Differenz darf allerdings nicht nivelliert werden. Es gibt in Wielands Roman – und das gilt wohl auch für den Agathodämon – keine ›unendliche Progression‹ und Potenzierung der Dichtung in Richtung auf das Übersinnliche. Ja, die Gegenfrage ist erlaubt, ob es überhaupt zu einer Idealisierung kommt. Zumindest die Randkommentare des Lukian, der gleichsam als Probeleser und -kritiker der Erzählungen dient, geben zu bedenken, dass der von ihm durchaus eingestandene ›Zauber‹ dieser Erzählungen letztlich doch nur aus einer gekonnten Inszenierung resultiert, die die Neugierde des Rezipienten erregt und befriedigt. Für Lukian ist die Geschichte der Diokleia der Beleg, dass sich das Interesse am Übersinnlichen dann doch wieder auf die Affizierung durch das Sinnliche, besonders das Erotische, zurückführen lässt: »ja welcher Weise in der Welt hätte sich nicht um diesen Preis täuschen lassen wollen«.²⁵ Andererseits gibt der Roman Peregrinus Proteus der Einbildungskraft des Lesers genügend Spielraum, um an Epiphanien oder an Symbole des Ideellen zu glauben. Wielands Poetik schafft in diesem Spätwerk eine Balance zwischen beiden Leserichtungen, die dem Interesse am Übersinnlichen deutlich mehr Raum und Recht als im Agathon zugesteht.
SW IX.27, S. 239.
Laura Auteri
Erkenntnisstreben und Humanität Zu Wielands Versuch einer Zusammenlegung verschiedener Begriffe der Religion im Agathodämon
In Wielands Agathodämon (1799) geht es um weit mehr als um die Richtigstellung der falschen Biographie des Apollonius von Tyana des Philostratus (165 / 170 – 244 / 269), in der die vielen ›Wundertaten‹ des berühmten Magiers der Antike erzählt werden.¹ Wieland selbst denkt zwar in früheren Jahren an eine solche Richtigstellung,² Kritik an Apollonius’ Biographie des Philostratus war aber schon genug geübt worden – anders z. B. als im Fall von Lukians Peregrinus –, sowohl in der Antike³ als zu Wielands Zeit.⁴ Vielleicht auch aus diesem Grund lässt Wieland zunächst
Philostrat aus Lemno: Das Leben des Apollonius von Tyana. Hg. v. Vroni Mumprecht. München und Zürich 1983. Unklar ist es, ob Philostrat (165/170 – 244/269), wie er behauptete, einen Auftrag von Julia Domna, der Gattin des Septimus Severus, erhielt, um die Vorlage des Tagebuchs des Jüngers und Augenzeugen des Apollonius, Damis von Ninive, zu erarbeiten, oder ob er die Biographie auf eigene Initiative schrieb. Dazu Eduard Meyer: »Apollonius von Tyana und die Biographie des Philostratos«. In: Hermes 52 (1917), S. 371-424; Ewen Lyall Bowie: »Apollonius of Tyana: Tradition and Reality«. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II, Bd. 16.2 (1978), S. 1652-1699. Wieland nennt allerdings nie den Philostrat, nur den Damis. Schon 1774 plant Wieland einen Aufsatz zur Biographie des Philostratus und macht sich dazu Notizen, die Friedrich Beißner herausgegeben hat: »Betrachtungen über Apollonius von Tyana, mit einem Auszug seiner Geschichte«. In: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (später Preußische A. d. W.; Deutsche A. d. W.). Berlin 1909 – 1976 (im Text zitiert mit der Sigle WGS, römische Ziffer für Abteilung, arabische Ziffer für Band), hier WGS I.13, S. 245-251. Dazu Ingo Elsner: Inkohärenz in den späten Romanen Christoph Martin Wielands. Diss. Hamburg 1990, S. 185. Kritik übt schon Lukian von Samosta in Alexander oder Der Lügenprophet, in dem Apollonius als falscher Thaumaturg erscheint. Immer wieder wurde auch eine Parallele zwischen Apollonius und Christus gezogen. Dazu Ferdinand Christian Baur: »Apollonius von Tyana und Christus«. In: Tübinger Zeitschrift für Theologie 1832. Neudruck: Drei Abhandlungen zur Geschichte der alten Philosophie und ihres Vethältnisses zum Christentum. Hg. v. Eduard Zeller. Leipzig 1876, S. 1-227; Ders.: Apollonius von Tyana und Christus: Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der ersten Jahrhunderte nach Christi. Neudruck Hildesheim u. a. 2000; Johannes Hahn: »Weiser, göttlicher oder Scharlatan? Das Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen«. In: Identifikationsfiguren und ihre literarische Konstituierung. Hg. v. Barbara Aland, Johannes Hahn und Christian Ronning. Tübingen 2003, S. 91-114. Zu verzeichnen ist vor allem die 1680 erschienene englische Übersetzung der ersten zwei Bücher Philostratus’ Werk durch den rationalistisch und materialistisch gesinnten
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das Projekt fallen. Fast zwei Jahrzehnte später erscheint dennoch Agathodämon, der vielmehr einem Initiationsroman gleicht,⁵ denn er handelt von dem erfolgreichen Erkenntnistreben zweier Menschen, des Hegesias und des Apollonius. Der Naturforscher und Arzt Hegesias ringt im Romangeschehen um die Wahrheit und vermittelt sie, soweit er kann, dem Freund Timagenes durch die Briefe, aus denen der Roman besteht. Da er durch einfältige Hirten auf Kreta von der Existenz eines guten Dämons, Agathodämon eben, hört, macht er sich gleich auf den Weg zum Inselinneren, um über diese unwahrscheinliche Erzählung Gewissheit zu erlangen. Dies gelingt ihm auch nach einem mühsamen symbolhaften Erklimmen der felsigen Berge,⁶ denn an einem idyllischen Platz findet er einen ehrwürdigen Greis, den vermeintlichen Agathodämon, der sich als Apollonius von Tyana enthüllt. Dieser berichtet dann drei Tage lang von dem eigenen Erkenntnisstreben, von den eigenen ehemaligen Bemühungen um Wahrheit und Erkenntnis und wie es bis zu einem gewissen Punkt um ihn her immer dunkler wurde, bis er endlich weiterkam und zum Licht gelangte. Der Leser, der sich in die Rolle des fernen und nicht weiter identifizierbaren Timagenes hineindenken kann, soll auch in diesen Prozess der Wahrheitsfindung mit einbezogen werden und so Wielands Meinungen durchschauen, was nicht immer leicht ist. Denn Agathodämon ist auch eine Summa, nicht von Wielands Gedanken im Alter,⁷ sondern von verschiedenen philosophisch-theologischen Diskursen der Antike in den ersten Büchern sowie in den letzten, dem 6. und dem 7. und von den Diskursen der Aufklärung in Bezug auf Religion.⁸ Indem Wieland auf die vielfältigen philosophischen Strömungen der
Charles Blount (1654 – 1693), denn diese Übersetzung leitet die ›Wiederentdeckung‹ des Apollonius ein: The two first books of Philostratus, concerning the life of Apollonius Tyanesus: Written originally in Greek and now published in English: together with philological notes upon each Chapter. London, 1680. Apollonius wird zur literarischen Figur z. B. bei: Jan Potocki: Die Handschrift von Saragossa oder die Abenteuer in der Sierra Morena; John Keats: Lamia; Gustave Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius. So auch Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. München 1971, S. 147 und Horst Thomé: »Religion und Aufklärung in Wielands Agathodämon. Zu Problemen der ›kulturellen Semantik‹ um 1800«. In: IASL 15.1 (1990), S. 93-122. Über den Symbolismus der Landschaftsdarstellung vgl. Müller: Wielands späte Romane (Anm. 5), S. 174 und Thomé: »Religion« (Anm. 5), S. 122. So Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart 1949, S. 487-493. Zur Komplexität der aufklärerischen Einstellungen zur Religion vgl. z. B. Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung. München ³2004; Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Der philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt/M. 1988; Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999. Darin besonders Martin Mulsow: »Vernünftige Metempsychosis. Über Monadenlehre, Esoterik und geheime Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert«, S. 211-273. Auf S. 242 spricht Muslow von einer »keineswegs unfruchtbare[n] Pluralität von philosophischen Strömungen«. Schon um die Mitte des Jahrhunderts sei im Milieu des deutschen Wolffianismus eine eklektische Bewegung entstanden, in der Aufklärung, Esoterik, geheime Gesellschaften
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zweiten Hälfte seines Jahrhunderts zurückgreift, präsentiert er allerdings keine einfache Summa verschiedener Diskurse. An der Wende zwischen den Jahrhunderten geht es ihm zunächst einmal darum, einerseits auf die Grenzen der zu Ende gehenden Aufklärung hinzuweisen, andererseits die Aufklärung als solche dennoch zu würdigen. Und dies geschieht vor allem dadurch, dass Wieland selbst eindeutig bestimmte aufklärerischen Positionen bezieht, die er mit Kohärenz, aber auch mit Vorsicht, um Missverständnissen vorzubeugen, dem Leser ›neu positioniert‹ vorlegt.⁹ Wielands Einstellung findet u. a. in einzelnen Merkmalen der Romanstruktur Ausdruck, wie dem wiederholten Perspektivenwechsel bzw. der Inkaufnahme von Widersprüchen seitens des Apollonius von Tyana, dessen ›Religion‹ kein fertiges System ist. Diesem religiösen Denkgebäude sind vielmehr Widersprüche eigen, deren sich der alte Mann bewusst zu sein erklärt und auf die er nachgerade baut, indem er während des Gesprächs mit Hegesias seinen Standort in der Beurteilung einzelner Aspekte immer wieder ändert.¹⁰ Wieland hatte schon oft auf die Bedeutung des Standortes beim Fällen irgendeines Urteils hingewiesen¹¹ und in dieser
verbunden wurden. Hermetik wurde dabei »kraft des Wollfschen Systemdenkens zu einem Teil der reformerischen und naturwissenschaftlichen Avantgarde«, ebd. S. 220. Hier möchte ich entschieden der Meinung widersprechen, dass Wieland ab den Biberacher Jahren sein Interesse an Religion und Transzendenz verloren bzw. sich nur mit dem Agathodämon dem Thema wieder zugewandt habe. So Sengle: Wieland (Anm. 7), und Thomé: »Religion« (Anm. 5), S. 99 und S. 110. Zu Übereinstimmungen in Wielands Gesinnungen vor und nach der jugendlichen ›seraphischen Phase‹ vgl. hingegen Uwe Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland. Frankfurt/M. u. a. 1990, S. 20 f.; und Sven-Aage Jørgensen: »Der fromme Wieland«. In: Zwischen Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Gerhard Hahn u. Ernst Weber. Bernhard Gajek zum 65. Geburtstag. Regensburg 1994, S. 265-272, hier S. 270. Solche ›Widersprüche‹ bzw. solche Perspektivenwechsel haben nichts mit den ›Inkohärenzen‹, die Elsner: Inkohärenz (Anm. 2) festzustellen glaubt, gemein. Elsner nimmt hingegen nur einen ›Widerspruch‹ wahr, und zwar den zwischen Apollonius’ positiver Einschätzung des eigenen Tuns in der Welt am Anfang des Romans und der Selbstkritik am Ende (vgl. z. B. S. 194). Ähnlich auch Karl Heinz Ihlenburg: Wielands Agathodämon. Greisfwald 1957, S. 15 ff., der Apollonius’ Selbstkritik als Vorbereitung zum darauffolgenden Lob Christi interpretiert. Einen Perspektivenwechsel sehen beide Autoren nur darin, dass drei Gesprächspartner, Apollonius, Kymon und Hegesias, an der Unterredung teilnehmen. Anders Thomé: »Religion« (Anm. 5), S. 98 f., der die Position des Apollonius zurecht nicht durch andere relativiert sieht. Thomé erkennt jedoch den wiederholten Standpunktwechsel des Protagonisten nicht. So z. B. während der 1790er Jahre auch in den Göttergesprächen (»Göttergespräche«. In: Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl. Alle Hervorhebungen finden sich so im Text. SW VIII.25, S. 1-276, hier S. 122). Im Agathodämon belehrt Apollonius oft den Hegesias: »Die menschlichen Dinge können und sollen von mehr als Einer Seite betrachtet werden« (Agathodämon. In: SW X.32, S. 438).
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Meinung steht er zu seiner Zeit nicht allein.¹² Der Perspektivenwechsel ist auch eine Konstante des Wieland’schen Stils, wir kennen ihn aus anderen Werken, in denen die Protagonisten unterschiedliche Positionen in der Durchführung langer Dialoge beziehen. So vertreten Agathon und Hegesias oder Peregrinus und Lukian fast immer gegensätzliche Ansichten. Das Besondere im Agathodämon ist aber, dass die verschiedenen Perspektiven nicht auf unterschiedliche Figuren verteilt werden. Apollonius, Hegesias und Kymon, die sich im Roman miteinander unterhalten, vertreten nie gegensätzliche Meinungen, es geht dabei nur um Ergänzungen. Es ist hingegen Apollonius selbst, der das Gespräch offensichtlich führt, der oft die Perspektive grundlegend ändert, indem er über Sinn und Erscheinungsformen der Religion spricht. Diese Tatsache ist nicht nur damit zu erklären, dass die verschiedenen Diskurse der Aufklärung zur Religion sich in den aufeinanderfolgenden Positionen des den Hegesias ›aufklärenden‹ Apollonius widerspiegeln. Dem Perspektivenwechsel ist eine weitere Funktion zugeschrieben, die sich auf drei im Agathodämon und zu Wielands Zeit intensiv erörterte Aspekte der gesamten Fragestellung bezieht. Es geht zuerst um die allgemeine Frage, ob sich dem Menschen überhaupt Wahrheit bzw. Wahrheit im Bereich der Transzendenz erschließt und, wenn ja, in welchem Maß das gelingt; des Weiteren um die Funktion der Religion für die Masse und schließlich um das Verhältnis des Einzelnen zur Religion. Zum Schluss führt Wieland die einzelnen Fäden wieder zusammen.
. Erkenntnisstreben und Wahrheit Wieland hatte bereits 1778 im Aufsatz Was ist Wahrheit? behauptet, dass der Mensch als Wahrheit nur das, was er gefühlt hat, nehme: wessen man sich »innigst bewusst ist«, daran glaube man.¹³ Die Einstellung ist nicht neu. Schon manche Pietisten hatten sie vertreten, wie manche vom Pietismus geprägten Frühaufklärer, z. B. Christoph Matthäus Pfaff¹⁴ oder Neologen wie Johann Joachim Spalding.¹⁵
So ist es z. B. für Adam Weishaupt (1748 – 1830), den Führer des Illuminatenordens, alles immer noch eine Frage des Standortes. Dazu Muslow: »Vernünftige Metempsychosis« (Anm. 8), S. 253, der weiter anmerkt, dass es Weishaupt darum geht, »eine Perspektive zu erreichen, in der die ganzen Einzelbeurteilungen, die ›gut‹ und ›böse‹ immer nach gegebenen Zwecken werteten, in ihren jeweiligen Abhängigkeiten überschaut werden könnten«. Christoph Martin Wieland: »Was ist Wahrheit?« In: SW VIII.24, S. 39-54, hier S. 45. In Dissertatio historica theologica de Formula Consensus Helvetica. Tübingen 1722. Dazu Friederike Nüssel: »Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums«. In: Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen ›Umformung des Christlichen‹. Hg. v. Albrecht Beutel u. Volker Leppin. Leipzig 2004, S. 15-32, hier S. 19. Noch 1797 erscheint ein wichtiger Aufsatz von Spalding: »Religion, eine Angelegenheit des Menschen«. Vgl. dazu Nüssel: »Die Umformung« (Anm. 14).
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Wieland warnt aber bereits 1778 davor, dass das Gefühl oft täusche. Es lasse uns manchmal an Nichtexistierendes glauben. Es geht also nicht darum, sich ›spontan‹ den Eindrücken zu überlassen, die sich in dem Menschen regen, sobald er sich in göttliche Wahrheiten vertieft.¹⁶ Wieland beteuert 1778 seine Ablehnung einer ›empfindsamen‹ oder ›stürmerischen‹ Anbetung des Gefühls und daran ändert sich auch später nichts.¹⁷ Ende der 1790er Jahre sind Einbildungskraft und Gefühl einerseits hilfreiche Mittel zur Wahrheitsfindung bzw. zur Wahrheitsannährung, andererseits nur Ausgangspunkte, bei denen der Mensch nicht allzu lange verweilen darf. Auch jene simple Vermittlung zwischen Gefühl und Vernunft im Bereich des religiösen Diskurses, für die Wieland sich mit Lessing und Herder in den 1770er Jahren einsetzt, ist z.T. überholt. Vernunft spielt zwar immer noch eine wesentliche Rolle, sie dient als »Gegengewicht« zum »Sinnengefühl« und bewahrt vor Täuschungen der Einbildungskraft, aber nur bis zu einem gewissen Grad.¹⁸ Denn auch sie unterliegt den Leidenschaften, wenigstens wie Lessing (Erziehung des Menschengeschlechts, 1780) lehrt, in jener Entwicklungsstufe der Völker, die derjenigen eines Kindes entspricht.¹⁹ Apollonius, der hier ganz im Sinne Wielands spricht, wirft aber seinen eigentlich schon ziemlich ›erwachsenen‹ Zeitgenossen in erster Linie »eine fast allgemeine Erschlaffung und Stumpfheit des Geistes« vor.²⁰ Als ›Geist‹ wird im Roman jenes Seeelenvermögen verstanden, das in allen Menschen, wenn auch unterschiedlich entwickelt, vorhanden ist. Ihm haben Körper (Sinne) und Intellekt (Vernunft) zu dienen. Er ist im Menschen der ›Gott in uns‹ des Ovid’ischen, dem Roman vorangestellten Mottos (»Est deus in nobis, agitante calescimus illo«), er ist der direkte Ausdruck des göttlichen Prinzips, das sich in der sichtbaren Welt manifestiert, und mit der
So geschah es noch in den »Empfindungen eines Christen« (1757). In: WGS I.2, S. 344. Dazu Jørgensen: »Der fromme Wieland« (Anm. 9), S. 271. Anderer Auffassung ist John McCarthy: Fantasy and Reality. An Epistemological Approach to Wieland. Frankfurt/M. 1974, S. 141-151, der aus der Betonung des Gefühls und der Imagination im Agathodämon auf eine ›protoromantische‹ Stimmung schließt. Zum Verhältnis Wielands zu Schleiermachers Konzept des Gefühls vgl. Bernd Auerochs: »Platon um 1800. Zu seinem Bild bei Stolberg, Wieland, Schlegel und Schleiermacher«. In: Wieland-Studien 3 (1996), S. 161-193, und Volker Leppin: »Für ›junge Lehrer der Religion‹. Theologische und religionsphilosophische Klarstellungen in Herders Schrift ›Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen‹ (1798)«. In: Beutel u. Leppin: Religion und Aufklärung (Anm. 12), S. 123-130, hier S. 126. SW X.32, S. 52. Vernunft ist in Agathodämon auch »nichts weiter als ein vernunftähnlicher Instinkt«, der von den Leidenschaften betrübt wird. Allerdings daher auch die Überzeugung: »Das menschliche Geschlecht müsse, eben so wohl wie der einzelne Mensch, zur Vernunft erzogen werden«. SW X.32, S. 87. SW X.32, S. 240.
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intimsten Identität des Menschen zusammenfällt.²¹ Er ist eine Kraft, die jede Rationalität zwar hinter sich läßt – 1775 bezeichnet Wieland auch den Enthusiasmus als den »Gott in uns« –,²² sich aber dem Verstand nicht entzieht und uns weiterführt, sobald wir ihrer gewahr werden. Erkennt der Mensch die Stimme seines Geistes – ›Gottesstimme‹ bzw. die Stimme seines Selbst –, die oft mit der Intuition gleichzusetzen ist, erkennt er auch das Höchste, das er in sich hat, und mag sich so der Wahrheit nähern. Dies tun im Agathodämon Apollonius, Apollonius’ ehemaliger Sklave Kymon und Hegesias. Innere Fortentwicklung ist ihnen in diesem Leben gewährt. Ihr Weg weist jedoch elitäre und z.T. mit Initiationsriten vergleichbare Züge auf,²³ und was elitäre Züge hat, ist nicht für die Masse bestimmt. So unterscheidet Wieland an erster Stelle zwischen Religion der Masse und Religion bzw. Religiosität des Einzelnen.
. Religion und die Humanisierung der Masse Die Masse, durch die Hirten vertreten, bleibt im Agathodämon in ihren physischen Bedürfnissen befangen, sie strebt keine Wahrheit, keine echte Transzendenz an, sie neigt zum Aberglauben. Sie hat kein Wahrnehmungsorgan entwickelt für die Stimme des Geistes, die zur Selbststeuerung und -entwicklung anregt, und lebt nur von Emotionen. Deswegen wird sie aber nicht verachtet. Apollonius stellt sich vielmehr die Frage, wie man ihr helfen, ihr Trost in schwachen Stunden spenden, ihre Sitten verbessern, sie ›humanisieren‹, kann. Eine aufklärerische Position, die in der spätzeitlichen Stimmung der 1790er Jahre nur einen – und auch begrenzten – Ausweg anvisiert: auf ihr Herz und ihre Gefühle einzuwirken. Dessen sei auch nach Apollonius, der hier Herder besonders nahe steht, nur eine Volksreligion fähig: das Christentum.
Apollonius beteuert: »Ich betrachte meine geistige Natur als mein eigenthliches Ich«. SW X.32, S. 75 f. In »Über Enthusiasmus und Schwärmerei« (Der Teutsche Merkur, 4/1775, S. 152 f., S. 155.) verteidigt Wieland den Enthusiasmus als das Mittel, das das »unmittelbare Anschauen des Schönen und Guten, Vollkommenenen und Göttlichen in der Natur, und unserm Innersten« gewährleistet, und nennt den Enthusiasmus eben den »Gott in uns«. Dazu Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Bd. 1: Die Spinoza-Renaissance. Frankfurt/M. 1974, S. 57. So erkennt Hegesias, beim ›Agathodämon‹ angelangt, gleich, dass dieser kein Dämon ist, seine wahre Identität bleibt ihm aber zunächst verborgen. Während sein Gastgeber ihm den tatsächlichen Verlauf eines angeblich von ihm gewirkten ›Wunders‹ erzählt, erinnert er sich dennoch plötzlich an eine ähnliche Begebenheit, die er in der Biographie des Apollonius, die er gerade bei sich trägt, gelesen hat. Nun fragt er sich – nach so viel Mühe wie vom Donner gerührt –, ob der Alte nicht Apollonius selbst sei. Der Funke einer Erinnerung, der an die Gedächtnisfunktion bei Augustinus denken läßt, geht der Enthüllung voraus.
Erkenntnisstreben und Humanität
Denn das Christentum, das wie andere philosophische oder religiöse Lehren nicht in der Lage ist, eine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Göttlichen und nach dem Sinn des Lebens zu geben, habe, so Apollonius, den nie hoch genug zu schätzenden Verdienst, durch seinen Stifter den Weg vorgezeichnet zu haben, eine bessere Welt aufzubauen und somit der Masse helfen zu können. Apollonius’ Schilderung von Christus im Roman ist der Diskussion Anfang der 1790er Jahre verpflichtet. Es wird nämlich zu dieser Zeit intensiver als früher der Versuch unternommen, an dem sich auch viele Kantianer beteiligen, die ›Wahrheit der Offenbarung‹ von der historischen ›Betrugsthese‹ abzugrenzen. 1791 verteidigt Immanuel Carl Diez Jesus mit dem Argument, dass er ein Phantast, ein Mystiker gewesen sei.²⁴ Das heißt, wie Carl Christian Erhard Schmid 1790 präzisiert: Einer, der im guten Gewissen davon überzeugt ist, mit dem überirdischen Leben kommunizieren zu können.²⁵ Apollonius lobt Christus eben als einen ehrlichen Schwärmer, einen Enthusiasten, der an das glaubte, was er sagte, und niemanden täuschen wollte und daher auch richtig und nachhaltig etwas bewirken konnte.²⁶ Durch die Wirkung jenes Mannes oder Gottessohns – die Frage bleibt unbeantwortet, sie ist auch letztlich unbedeutend, denn jeder Mensch sei Gottessohn – entstand eine Religion, die sich an alle wendete und tatsächlich potenziell alle erreichte. Wieland baut auf jene Universalität des Christentums, auf die schon in die Aufklärungstheologie eingegangen worden war, die jedoch erst nach 1770 im Kontext einer breiten Diskussion über das Wesen des Christentums in Deutschland populär wird.²⁷ Er insistiert – wie auch im Peregrinus Proteus –²⁸ auf der Tatsache, dass der Gott der Christen ein Gott der Liebe ist, der nicht trennen will, sondern einigen und verbinden.
So Muslow: »Vernünftige Metempsychosis« (Anm. 8), S. 266 f. Im Versuch einer Moralphilosophie. Zitiert aus Muslow: »Vernünftige Metempsychosis« (Anm. 8), S. 268. Dort erhalten wir auch die Information, dass 1791 ein bedeutender geheimer und sofort verbotener Aufsatz von Schmid erscheint, De tribus impostoribus, in dem die These vertreten wird, dass Moses, Jesus, Mohammed alle drei Betrüger waren. Allerdings unterscheidet der Autor zwischen einem ›phantasierenden Mystiker‹, der an das glaubt, was er sagt, und dem ›superstitiösen Mystiker‹, der keine innere Stimme verarbeitet, sondern die Reden von anderen Menschen einfach wiederholt und sie als ›Wahrheit‹ nimmt und ausgibt. Schmid untersucht auch die historische Glaubwürdigkeit von Freunden und Feinden, die als Augenzeugen die Theorien des ›Phantasten‹ verbreiten. Ähnlich verfährt Wieland im Agathodämon in Bezug auf Christus und Apollonius. SW X.32, S. 386. Nüssel: »Die Umformung« (Anm. 14), S. 19. Zur Unfähigkeit auch der Urchristen zur wahren Liebe vgl. Arianna Di Bella: La questione religiosa nel tardo 700 tedesco. Il Peregrinus Proteus (1791) e l’Agathodämon (1799) di Christoph Martin Wieland. Udine 2007, S. 43-46.
Laura Auteri
Dieses Verbindende ist das entscheidendste Merkmal in Wielands Auffassung von Christentum und von Christus. Der Kontrast zu manchen Einstellungen anderer Autoren der 90er Jahre ist nicht gering. Man denke an Schleiermachers im selben Jahr wie der Agathodämon, 1799, erschienenen Reden über die Religion.²⁹ In der ersten seiner Reden behauptet Schleiermacher, sich nur an Gebildete bzw. an deutsche Gebildete wenden zu wollen. Er schreibe weder für Engländer, jene »stolzen Insulaner[ ]«, die »keine andere Losung als gewinnen und genießen […]« kennen, noch für Franzosen: »Aus anderen Ursachen wende ich mich weg von den Franken, deren Anblick ein Verehrer der Religion kaum erträgt […]«.³⁰ Eine undenkbare Vorstellung für den sich immer über jeden Unterschied von Stand und Nationalität hinwegsetzenden Wieland, und wohl nicht nur für ihn. Doch: Was bleibt vom alten Kern des Christentums angesicht seiner ›Entartung‹ erhalten, spielt die ›praktische Theosophie‹ des Gründers trotz des ›Priesterbetrugs‹ noch eine Rolle? Auf diese im 18. Jahrhundert immer wieder gestellte Frage fällt die Antwort im Agathodämon (anders als im Peregrinus Proteus) eher positiv aus. Wielands bzw. Apollonius’ Position läßt sich auch mit Herders geschichtlicher »Relativität jeder Wesensbestimmung des Christentums«³¹ in Verbindung bringen bzw. mit der Geschichtsphilosophie des Illuminatenordens – Herder war auch 1783 zum Dekan des Ordens in Weimar ernannt worden.³² Die Greuel, von denen Apollonius dem wissbegierigen Hegesias erzählt und die er prophezeit, schaden in historischer Perspektive der Lehre des Stifters nicht. Nicht die Teilung der Christen in Sekten, nicht die widerspruchsvollen und ungebildeten Biographen des Jesus, die Apollonius’ Biographen so sehr gleichen, nicht die vielen Verbrechen.³³ Wieland scheint sogar – im Gegensatz zu eigenen Positionen, die er in den 90er Jahren im Peregrinus Proteus oder in den Götterdialogen einnimmt, als er sich deutlicher denn je von der Apokatastasislehre seiner Jugend entfernt³⁴ – wieder zum Geschichtsprogramm der Theodizee Dazu auch Leppin: »Für junge Lehrer« (Anm. 17), S. 126. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hg. v. Carl Heinz Ratschow. Stuttgart 1969, S. 12 f. Hervorh. i. Orig. Nüssel: »Die Umformung« (Anm. 14), S. 23 ff.; So Thomé: »Religion« (Anm. 5), S. 115 und davor auch Sengle: Wieland (Anm. 7), S. 486. Reinhart Koselleck: »Adam Weishaupt und die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Deutschland«. In: Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting 4 (1976), S. 317-327. SW X.32, S. 383 ff. Denn geht es im Peregrinus um den »lächerliche[n] Missbrauch« des menschlichen Hangs zum Wunderbaren (so Wieland in »Über den Hang der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben«, 1781. In: SW VIII.24, S. 71-92, hier S. 90) sowie um den ›Priesterbetrug‹ und dessen negative Wirkung auf den schwärmerischen
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zurückzukehren. Dieses nimmt die Übel des gegenwärtigen Geschehens als notwendige Zwischenphasen für die Realisierung künftiger Ziele billigend in Kauf.³⁵ So erklärt sich Apollonius z. B. davon überzeugt, dass sogar das allerschlimmste Übel der Christenheit, die Hierarchie (der übermächtige Papst, die »Christliche Theokratie – die gewiss das Reich Gottes nicht ist […]«)³⁶ einen Sinn hat. Denn letztlich ist es gerade die verhasste Hierarchie, die sich als unentbehrlich erweist, um das Christentum zu jener universellen Volksreligion werden zu lassen, an der der »geistliche Teil« des Menschen, wie Apollonius ausdrücklich präzisiert, genesen mag. In wieweit Apollonius’ Äußerungen sich hier aber tatsächlich mit Wielands Position decken, scheint mir eher ungewiss. Denn Wieland beginnt nun mit jenem raschen Perspektivenwechsel, von dem am Anfang die Rede war. So lässt er Apollonius dem Hegesias gegenüber ungefragt eingestehen, er sei sich der Widerspüchlichkeit mancher seiner Stellungnahmen durchaus bewusst. Vor allem, wenn er einerseits den Hang zum Glauben als eine Schwäche der menschlichen Natur verurteilt, andererseits das zu Unrecht verachtete »Institut der Christianer« als eine Anstalt zum Heil der Welt und seinen Stifter als einen Wohltäter der Menschheit proklamiere. Apollonius plädiert aber für die Akzeptanz des Widerspruchs. Er könne sowieso keine Lösung dafür anbieten, mit dem Widerspruch müsse man leben. So setzt er, ohne auf Ungereimtheiten zu achten, seine Rede fort. Er sei sich gewiss, dass die Zeit kommen wird, in der die Religion, früher »Stifterin der Humanität«, nun auch ihre »Retterin« sein wird.³⁷ Aber auch die Zeit, in der: »sie […] wieder ein Ende nehmen« wird, sieht er voraus; dieses Ende macht er zunächst einmal nicht unweit von seiner eigenen Epoche aus: Er spricht von Entdeckungen und Aufklärung, die sich »wahrscheinlich« auch »über den Christianism verbreiten«.³⁸ Dann relativert er wieder: »der Zeitpunkt, wo sie [die Religion] ihre ganze Wirkung gethan haben wird, gleicht vielleicht dem Protagonisten, sind im Roman sogar die Urchristen der herzlichen Milde ihres Stifters unfähig, und während Christus das Göttliche abgesprochen wird, wird dem leidenden Peregrinus eine Teilhabe an dem Göttlichen gewährt, die aber keine unmittelbare erlösende Funktion hat: SW IX.27, S. 301-302. Auch in den Göttergesprächen ist die Zukunft äusserst unsicher. So sagt im 8. Gespräch Jupiter ironisch zu Numa: »Das beste ist, dass wir unsterblich sind, und also Hoffnung haben, die Entwicklung endlich doch noch zu erleben, wie viele Platonische Jahre sie auch auf sich warten lassen mag« (Anm. 11), S. 136. Die Absage ist zwar keine radikale, nicht zu überhören ist aber die Desorientierung, wenn Jupiter dem weiter fragenden Numa die Antwort verweigert: »Frage mich in fünfzehn hundert Jahren wieder« (S. 137). Schmidt-Biggemann: Theodizee (Anm. 8), S. 7. SW X.32, S. 451. SW X.32, S. 462. SW X.32, S. 465.
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Mittelpunkt im unendlichen Zirkel des Hermes, und rückt immer weiter zurück, je mehr wir uns ihm nähern«.³⁹ Auch dem Leser bleibt nichts übrig, als die vermeintlichen Widersprüche zu akzeptieren, zumal sie deutlich zunehmen, als Apollonius abschließend auf die Religion des Einzelnen bzw. auf seine eigene Religion zu sprechen kommt.
. Die Religion des Einzelnen: die Selbsterlösung Private Formen der Religion werden in den 1790er Jahren immer selbstverständlicher. 1792 wird postum ein erfolgreicher Aufsatz von Johann Salomo Semler (1725 – 1791) publiziert, Letztes Glaubensbekenntniß über natürliche und christliche Religion, in dem Semler zwischen öffentlicher und privater Religion unterscheidet. Seine Verteidigung einer individuellen Form der Religion entsteht nicht zuletzt aus der Kritik der kirchlichen Glaubenslehre, wie sie auch von Pfaff und Spalding ausgeübt worden war.⁴⁰ Nach Apollonius gibt es für Menschen wie ihn oder Hegesias nur individuelle Urteile und individuelle Lösungen. Ihre Individualität ist zu stark, ihr ›Geist‹ – der Gott in ihnen – ist zu mächtig, als dass sie sich mit den Argumenten, die für die Masse bestimmt sind, zufrieden geben könnten. Hierbei handelt es sich aber nicht um die Selbstfabrikation einer Religion – in dem Sinne wie sie sich Goethe in Dichtung und Wahrheit in seiner Jugend gebastelt haben will, d. h. von Allem etwas nehmend –,⁴¹ sondern um die Hervorhebung jenes Subjektivitätsprinzips, das als ein Prozess von Selbstbildung und Selbsterlösung sowohl in der Spätaufklärung als auch im radikalen Pietismus oder in manchen esoterischen Lehren zum Tragen kommt. Es geht um die Bildung eines autonomen Menschen, der sein Selbst in die eigenen Hände nimmt.⁴² Die nicht selten vollzogene SW X.32, S. 467. Dazu Nüssel: »Die Umformung« (Anm. 14), S. 23 f.; Muslow: »Vernünftige Metempsychosis« (Anm. 8), S. 251 weist auf die Verbreitung solcher Positionen unter den Intellektuellen der Zeit hin (z. B. bei Adam Weishaupt und Charles Bonnet). Goethe schreibt im achten Buch von Dichtung und Wahrheit: »[…] da ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden könne, und dieses tat ich mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah«. In: Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Werke – Hamburger Ausgabe. 14 Bde. Hg. v. Erich Trunz. München ¹⁰1981, Bde. 9-10, hier Bd. 9, S. 380. Dazu Monika Neugebauer-Wölk: »›Höhere Vernunft‹ und ›höheres Wissen‹ als Leitbegriffe in der esoterischen Gesellschaftsbewegung. Vom Nachleben eines Renaissancekonzepts
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Trennung »zwischen der exoterischen Religion des Pöbels und einer esoterischen der Weisen«⁴³ wird auch von Männern vertreten wie dem Philosophen und Göttinger Professor Christoph Meiners (1747 – 1810),⁴⁴ dessen Schriften der 1770er Jahre die größte Faszination ausüben, so auch z. B. auf Friedrich Schiller (man denke an Die Sendung Moses, 1790, oder an Das verschleierte Bild zu Sais, 1795). Zu der Zeit ist Schiller auch Kollege des Jenaer Professors Karl Leonhard Reinhold (1757 – 1823), des Schwiegersohns von Wieland, der ähnliche Positionen einnimmt und im Versuch, eine esoterische Religion der Weisen zu verteidigen, sich auch für eine »Funktionalisierung der Mysterien gegen die okkultistischen Strömungen der Freimaurerei […]«⁴⁵ einsetzt. Schaut man auf Wielands frühere Werke, findet man nichts Dergleichen, doch man stößt auf manche Parallelen und auf eine deutliche Billigung privater Formen der Religion. Selbst in Aufsätzen wie dem 1788 erschienenen Nikolas Flamel, Paul Lukas und der Derwisch von Brussa. Historische Nachrichten, Untersuchungen und Vermuthungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Unsichtbaren. Hier setzt sich Wieland zwar in erster Linie mit der rosenkreuzerischen Bewegung, die Mitte der 60er Jahre bis in die frühen 1780er Jahre in Deutschland erneut aufkam,⁴⁶ auseinander,
im Jahrhundert der Aufklärung«. In: Neugebauer-Wölk: Aufklärung und Esoterik (Anm. 8), S. 170-210, hier S. 201. So Markus Meumann: »Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten: Ignaz von Born, Karl Leonhard Reinhold und die Wiener Freimaurerloge »Zur wahren Eintracht««. In: Neugebauer-Wölk: Aufklärung und Esoterik (Anm. 8), S. 288304, hier S. 301. Christoph Meiners: »Über die Mysterien der Alten, besonders über die Eleusinischen Geheimnisse«. In: Ders.: Vermischte Philosophische Schriften. Bd. 3, Leipzig 1776, S. 164342. Drei Werke von Meiners sind auch im Besitz von Wieland. Vgl. Klaus-P. Bauch u. Maria-B. Schröder: Alphabetisches Verzeichnis der Wieland-Bibliothek. Hannover 1993, Nr. 559. So Meumann: »Zur Rezeption« (Anm. 44), S. 303; Reinhold (Die hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freimaurerey (1788). Neudruck hg. v. Jan Assmann. Neckargemünd 2001) wurde 1783 zum Illuminat und 1787 ›Präfekten‹ des Ordens in Jena. Vgl. Rudolf Schlögl: »Von der Weisheit zur Esoterik. Themen und Paradoxien im frühen Rosenkreuzerdiskurs«. In: Neugebauer-Wölk: Aufklärung und Esoterik (Anm. 8), S. 53-86, hier S. 79. Schlögl schreibt: »hatte Luther die Kirche als Verwalterin der Gnadenmittel aus dem Prozeß der Rechtfertigung verdrängt, so schob die radikal-gnostische Variante des Rosenkreuzerdiskurses auch Gott beiseite«. Es reichte die eigenen göttlichen Qualitäten zu reaktivieren, wobei wir wieder bei dem fortentwickelten, autonomen Menschen der Aufklärung wären. Der Pietismus beschnitt die Radikalität dieses Gedankens, »aber er führte das Programm einer als Gottsuche gestalteten Selbsterkenntnis weiter«. Zum Thema Rosenkreuzer vgl. auch Claus Priesner: »Alchemie und Vernunft. Die rosenkreuzerische und hermetische Bewegung in der Zeit der Spätaufklärung«. In: NeugebauerWölk: Aufklärung und Esoterik (Anm. 8), S. 305-334 . Zu der Rolle der Rosenkreuzer in der Aufklärung eine andere Meinung vertritt Thomé: »Religion« (Anm. 5), S. 101, Anm. 28.
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gleichzeitig billigt er aber mit den letzten Zeilen des Textes einem jeden das Recht auf Selbstsuche nach dem ›Licht‹ zu.⁴⁷ So wundern wir uns kaum, wenn sich Apollonius wörtlich, um von seiner Gotteserfahrung zu berichten, des Bildes des Hermes Trismegistus bedient, der das Unendliche »einen Zirkel nannte, dessen Mittelpunkt allenthalben und dessen Umkreis nirgends ist«.⁴⁸ Man denkt heute, dass es einen Hermes Trismegistus nicht gegeben hat, dass der Ursprung jener Metapher anderswo zu suchen ist,⁴⁹ wichtig ist es dennoch für uns, dass Wieland die Metapher benutzt und würdigt, denn dies beweist sein Interesse für die hermetischen Lehren, die Ausdruck des Erkenntnistrebens der Aufklärung und daher durchaus mit der Aufklärung selbst kompatibel sind. So berichtet Apollonius auch von seinem persönlichen beharrlichen, oft verzweifelten Streben nach Licht, nach Gott und sagt, er sei sich des unergründlichen Ganzen ausserhalb seiner bewusst, sowie dessen, was in ihm das Ich ausmacht und bestrebt ist, sich mit dem Ganzen wieder zu verbinden. Er wisse, dass beide Bereiche, das ›in ihm‹ und das ›außer ihm‹, manchmal und plötzlich zusammenfallen und dass dann »das unendliche Eins […] Raum und Zeit […]« verschlingt.⁵⁰ Wir wähnen uns hier nah am spinozischen »en kai pan« – an jenem »Kosmotheismus«, an jener »Welt-Vergötzung«, von der Jacobi als dem gemeinsamen Nenner von Hermetismus, Neoplatonismus, Stoizismus, Spinozismus etc. spricht.⁵¹
Wieland schreibt: »Ich […] unterwerfe […] diesen ganzen Aufsatz, dem Urtheil der Leser, allenfalls auch der Berichtigung oder weitern Aufklärung derjenigen, die mehr als ich von solchen Dingen wissen, und begnüge mich zum Schlusse mit Oberon zu sagen: ›Nur wer das Licht nicht scheut, der ist mit mir verbrüdert!‹« In: »Nikolas Flamel, Paul Lukas und der Derwisch von Brussa. Historische Nachrichten, Untersuchungen und Vermuthungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Unsichtbaren.« In: SW X.30, S. 204-273, hier S. 273. SW X.32, S. 329-330. So Kymon: »Wenn ich auf der Spitze des Ida stehe, übersehe ich einen grossen Raum, aber er ist vom Horizont umgrenzt; ich umfliege in Gedanken die ganze Erde, schwinge mich von ihr in den Mond auf, erhebe mich vom Mond bis zur Sonne; der Raum um mich her wird immer ungeheurer, und doch hat er immer noch einen Umkreis. Nun ergreift mich der göttliche Hermes, und stürzt sich mit mir ins Unendliche. Mit der Geschwindigkeit des Blitzes eile ich ohne Stillstand von einem Stern, von einem Himmel zum andern, und sehe keinen Umkreis; der täuschende Horizont, in dem ich vorher mich eingeschlossen wähnte, ist verschwunden; in jedem Punkte meines rastlosen Flugs bin ich im Mittelpunkt eines Kreises, der sich mit jedem Augenblick erweitert; vergebens suche ich einen letzten Umkreis, der diese ungeheuern Räume einschliesse […]. Endlich ermattet meine Fantasie; der vergebliche Flug hat ihre Kraft erschöpft, ich versinke und verliere mich im Unendlichen wie ein Wassertropfen im Ocean.« Ebd. S. 330 f. Vgl. den Aufsatz von Jan Cölln in diesem Band. SW X.32, S. 472. Dies erklärt er sogar als die einzige Art für »Wesen unserer Gattung – nicht zum Begriff, aber zu einem dunkeln, die ganze Seele ausfüllenden Gefühl« der Gottheit kommen zu können, »einem Gefühl, das mehr werth ist, als die subtilste Worterklärung des trocknen Dialektikers […]«, SW X.32, S. 331 f. Friedrich H. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelsohn, 1785. Zitiert aus Jan Assman: »›Hen kai pan‹. Ralph Cudworth und die Rehabilitierung
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Dann aber kommt abrupt der Standpunktwechsel. Der um das Wohl der Menschen besorgte Wieland mag nicht allzulange bei jenen elitären Gedanken verweilen. So lässt er Apollonius weiterreden: »Zum Glück erwache ich bald wieder und ich bin wieder ein einfacher Mensch, der nicht verlangt, mehr zu seyn als [er] seyn kann und soll«.⁵² Apollonius schiebt also die Phantasie (den Erkenntnisdrang) beiseite, um zur Realität (zum Dienst im Namen der Menschheit) zurückzufinden. Hier spricht der ›Aufklärer‹ bzw. jene Stimme der Aufklärung, die den Menschen ins Zentrum der Perspektive in der Immanenz setzt.⁵³ Es spricht aber auch der Mann, der es nicht aus Desinteresse vermeidet, weiter über die Transzendenz zu spekulieren,⁵⁴ sondern, weil er befürchtet, dass jede Art von Spekulation die Masse zum Aberglauben, den Einzelnen zum elitären Verhalten verführen und den neuen Konservativismus der Zeit indirekt verstärken könnte. Schon im Aufsatz Über den Hang der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben (1781) hatte Wieland zwar die Neigung der Menschen, sich mit ›tröstenden‹ Lösungen, mit Magie und magischen Kräften abzufinden, getadelt, er hatte aber auch deutlich darauf hingewiesen, dass er nicht die esoterisch-hermetischen Lehren als solche diskreditieren wollte, sondern lediglich den »lächerlich[en] Missbrauch[e], der in unsern Tagen von dem Hang der Menschen zum Wunderbaren und Übernatürlichen gemacht wird […]«.⁵⁵
. Humanisierung und Selbsterlösung. Die Rolle des Geistes Apollonius’ erneuerter Wandel folgt einer Reihe von Standpunktwechseln auf den letzten Seiten des Romans: von den Umständen der Masse zu denen des Einzelnen, von einem bildhaften, durch die Intuition vermittelten Schein der Transzendenz zur Notwendigkeit der Immanenz. Der Leser sieht sich, kaum hat er eine Äußerung nachvollzogen, gleich mit einer anderen oft entgegengesetzten konfrontiert. Der Eindruck mag entstehen, dass das zuerst Gegenübergestellte durch den wiederholten der hermetischen Tradition«. In: Neugebauer-Wölk: Aufklärung und Esoterik (Anm. 8), S. 38-52, hier S. 51. SW X.32, S. 473. Etwas Ähnliches wünscht sich der vor dem Tod stehende Faust: »Stünd ich, Natur, vor dir ein Mann allein, / Da wärs der Mühe wert, ein Mensch zu sein!« Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. (Anm. 41), Bd. 3, S. 343 Dazu Wolfgang Albrecht: »Wielands Agathodämon: Wege der Aufklärung im Glauben an Humanität und Fortschritt«. In: Weimarer Beiträge, 33.4 (1987), S. 599-615; eine erweiterte Fassung: »›Agathodämon‹ – Bilanz und Credo eines Aufklärers«, erschien in: Thomas Höhle (Hg.): Das Spätwerk Christoph Martin Wielands und seine Bedeutung für die deutsche Aufklärung. Halle 1988, S. 101-124. Anders z. B. Thomé: »Religion« (Anm. 6), S. 122, oder Auerochs: »Platon« (Anm. 17), S. 192. Wieland: »Über den Hang« (Anm. 34), S. 90.
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Wechsel im Endeffekt eben wieder eins werden soll. Es sind zuerst die alternierenden schnell aufeinander folgenden Phasen des Bewusstseins des Apollonius, die sowieso allein auf das Ich des Sprechenden zurückzuführen sind. Dann geht es aber auch um die Annullierung des anfänglich geschilderten Abstands zwischen der Masse und dem Einzelnen. So oft schwenkt Apollonius im Roman von dem einen zu der anderen und umgekehrt, dass ihre Zusammengehörigkeit am Ende fast fühlbar wird. Es ist auch eine alte und nicht nur aufklärerische Grundeinstellung, dass das Los eines jeden Menschen, so begabt und entwicklungsfähig er in seinem Inneren auch sein mag, mit demjenigen des ganzen Menschengeschlechts aufs Engste verbunden ist. Wieland teilt diese Meinung. Ein solches ›Eins werden‹ würde sich allerdings nur im Bewusstsein des Lesers vollziehen, bzw. es vollzieht sich im Bewusstsein des Apollonius, in dessen ›Religion‹ die Spannung zwischen Erkenntnis und Humanität, Transzendenz und Immanenz keine Spannung zwischen zwei gegensätzlichen, sondern zwischen sich ergänzenden Polen ist, die sich am Ende überlagern. Eine solche utopische Überlagerung dessen, was der Mensch gemeinhin als Gegensätze empfindet (so Transzendenz und Immanenz), ist im 18. Jahrhundert auch kein seltener Gedanke. Sie wird u. a. von Bewunderern Spinozas wie von Esoterikern angestrebt.⁵⁶ Auf diese ›Ganzheit‹ zielt Wieland offensichtlich auch, zumindest teilweise. Denn es ist eindeutig, dass es ihm im Agathodämon bis zuletzt in erster Linie um den dritten Aspekt der gesamten Fragestellung geht, um das Verhältnis des Einzelnen zur Religion, wie auch um den Vorrang des Geistes über die Materie. Letzteres beweisen manche Beteuerungen des Apollonius, wie z. B., als der alte Mann Hegesias belehrt, dass die dichotomischen Bestandteile des Menschen, Materie und Geist, nicht den gleichen Wert haben: »[…] irrig ist es, wenn man sich diese so ungleichartigen Naturen im Menschen als in Ein Ganzes zusammen geschmelzt vorstellt […]».⁵⁷ Dies beweist aber auch ein Aspekt der Textstruktur, durch den Wieland den Geist als Alpha und Omega seines Diskurses deutlich pointiert. Denn der Geist, der als ›Gott in uns‹ schon in dem dem Agathodämon vorangestellten Motto zelebriert wird, wird auch an den folgenden zwei Stellen am Ende des Romans als höchste menschliche Instanz indirekt gepriesen. Apollonius hat soeben das Gespräch mit dem Geständnis seines Glaubens als beendet erklärt, als er, angeblich um den wegen des Abschieds trauernden Hegesias abzulenken, eine für den Gast neue, faszinierende Diskussion einleitet über den »Einfluss des Gemüths und sogar des Willens
Vgl. Timm: Gott und die Freiheit (Anm. 22), S. 5, und Neugebauer-Wölk: »Höhere Vernunft« (Anm. 43). SW X.32, S. 75.
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auf den Gang und die Besserung oder Verschlimmerung vieler, wo nicht der meisten, Krankheiten […]«.⁵⁸ Das Thema wird nicht weiterentwickelt, der Leser wird aber dadurch genötigt, noch einmal über die Funktion des Geistes nachzudenken. Denn woher kommt jene außerordentliche Kraft, die den Menschen heilt? Wirken solche plötzlichen Genesungen nicht wie jene Wunder, die im Roman als Täuschung denunziert werden?⁵⁹ Wohl nicht für Wieland, denn für ihn ist die Heilung nur eine ›natürliche‹ Konsequenz einer neuen Geisteshaltung. Doch was heißen ›Natur‹ und ›natürlich‹? Apollonius spricht von einem »Geheimnis der Natur«, in das »einzudringen« uns verwehrt sei,⁶⁰ Gott selbst falle vielmehr mit dem »Gehemnis der Natur« zusammen. Dadurch, dass »[…] alles Wunderbare in der Welt natürlich«⁶¹ zugeht, gewinnt der Mensch also kaum mehr Einsicht in den jeweiligen Sachverhalt. Das ›Geheimnis‹ der Natur erweitert sich am Ende des Romans vielmehr auch um den Menschen, der gar nicht so ›einfach‹ ist, wie Apollonius in einer schon zitierten Stelle seine Rede abschließend behauptet hatte (»Zum Glück erwache ich bald wieder […] und ich bin wieder ein einfacher Mensch […]«). Der Mensch scheint vielmehr ein genauso wie Gott unergründbares Wesen zu sein, in dem die geistige Natur, die allerdings nicht alle wahrnehmen, der ›thierischen‹ so überlegen ist, dass sie die Krankheit des Körpers besiegen kann. Der ›Geist‹ ist weiter Protagonist der letzten Zeilen des Romans, als Apollonius und Hegesias voneinander Abschied nehmen. Hegesias ist so ergriffen, dass er es nicht bemerkt, als sich Apollonius entfernt. Der alte Mann ist in seiner körperlichen Gestalt plötzlich aus Hegesias Augen für immer verschwunden. Selbstverständlich wird Apollonius’ ›Geist‹ fortdauernd präsent bleiben. Es geht aber um mehr: Als Apollonius sein »Lebe wohl, Hegesias« ausspricht, wird es diesem so, »als ob […] eine Kraft in mich dränge, die mich nie wieder verlassen würde«.⁶² Der Leser mag hier an die Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Jünger Jesu erinnert werden.⁶³ Apollonius wird aber vielmehr zum Überträger einer ›natürlichen‹ Energie, deren Vorbilder auch in philosophischen, hermetischen Diskursen der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts zu suchen wären. Freilich wäre es müßig zu fragen, aus welchen Quellen genau Wieland
SW X.32, S. 474. Wieland entlarvt im Roman Apollonius’ Wunder als bloße Täuschungen der Augenzeugen und nimmt somit zur regen damaligen Debatte über die Wunder Stellung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehen die Positionen von dem Radikalismus eines Reimarus, der die Möglichkeit eines jeden Wunders bestreitet, zur Kompromissbereitschaft eines Semler, der wenigstens das Wunder von Christi Auferstehung gerettet sehen will (Johann Salomo Semler, 1779). Dazu Thomé: »Religion« (Anm. 6), S. 104 f. SW X.32, S. 471. So in Wieland: »Nicolas Flamel« (Anm. 47), S. 238. SW X.32, S. 475. Auf allegorische Motive verweist schon Müller: Wielands späte Romane (Anm. 6), S. 177 ff.
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hier schöpft. Wie Apollonius entnimmt er aus verschiedenen Quellen den Stoff, den er braucht, und verarbeitet ihn auf persönliche Weise, übrigens ohne Religion und Religiosität gegen Säkularisierung auszuspielen,⁶⁴ da sich beide vielmehr überlagern, wie auch aus der gesamten geführten Untersuchung klar hervorgegangen sein sollte.⁶⁵ Wieland hat also zwei parallele Abschlüsse für seine philosophischen Überlegungen parat, die er aber nicht voneinander trennt. Er beendet einerseits das Gespräch über Religion mit Apollonius’ Rückwendung zur Immanenz, andererseits den ganzen Roman mit indirekten und dennoch deutlichen Hinweisen auf die Überlegenheit des Geistes. Ein Grund für ein solches Verfahren ist in der alten Wieland’schen Einstellung, auf die hier schon hingewiesen wurde, zu suchen: Wieland nimmt ab den 70er Jahren in einer Reihe von Aufsätzen vor allem von manchem Pietismus, vom Spiritismus und von einigen esoterischen-hermetischen Lehren, die alle den aufklärerischen Diskursen zuzurechnen sind, konsequent Abstand, besorgt um ihre Auswirkung auf die Menschen.⁶⁶ Die Idee eines göttlichen, dem Menschen und der Natur innewohnenden Prinzips, die Idee eines alles belebenden Geistes verwirft er aber nie, nur warnt er vor der Gefahr, dass sie gerade wegen der Verbreitung esoterischer und spiritualistischer Lehren missverstanden werden könnte. Daher die zwei Abschlüsse, der eine gilt jedem, der andere nur dem gleichgesinnten und aufmerksameren Leser. Denn Wielands alte Sorge wird Ende der 90er Jahre um so größer, als die Romantik jenes göttliche Prinzip zum Hauptgedanken der eigenen sich agressiv durchsetzenden Weltanschauung erhebt – es sind die Jahre, in denen Wieland auch besonders zu Fichte auf Distanz geht.⁶⁷ Er sieht nur zu gut die Gefahr, nicht nur einer Missachtung, sondern auch einer uneingeschränkten Verherrlichung so wie einer ›Popularisierung‹ von Begriffen wie ›Geist‹ und ›göttlichem Prinzip‹, und Religion und Religiosität werden in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nicht oft gegen Säkularisierung ausgespielt. Vgl. dazu Neugebauer-Wölk: »Höhere Vernunft« (Anm. 43). Anne Conrad: »›Umschwebende Geister‹ und aufgeklärter Alltag. Esoterik als Religiosität der Spätaufklärung«. In: Neugebauer-Wölk: Esoterik und Aufklärung (Anm. 8), S. 397-415, hier S. 400. So dürfen wir an dem aufklärerischen Vertrauen in die grenzenlose Perfektibilität des Menschen nicht festhalten, so hingegen Wolfgang Albrecht (Wielands Agathodämon, Anm. 54). Vgl. z. B. Wieland: »Über den Hang« (Anm. 34). Laut Böttiger soll Wieland 1799 gesagt haben, dass es sich »sonderbar« treffe, »daß sein Agathodämon in seinen Geständnissen über seine eigene Religion fast ganz mit Fichte übereinkomme«. In Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Sigmaringen 1987. Band 2: Der berühmteste Mann in Deutschland. 1784 – 1799, S. 707. Dazu auch Thomé: »Religion« (Anm. 6), S. 112. In Das Hexameron von Rosenhain (1805) verpönt Wieland weiter die ›neueste‹ Philosophie, die von Fichte nämlich, als »eine erklärte Gönnerin des Wunderbaren«, für die »[…] die ganze Körperwelt« nichts weiter »als eine blosse Geistererscheinung […]« ist. SW XII.38, S. 15 f.
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dagegen versucht er von der meinungsbildenden Funktion der Literatur überzeugt, mit seinem Roman zu wirken. Gleichwohl nimmt er aber dort die Begriffe an sich in Schutz. Wielands wichtigste Mitteilung an den Leser des Agathodämon wird jedoch Apollonius’ letzter Lehre an Hegesias anvertraut. Der alte Mann unterbreitet zwar seinem Gast eine Reihe von begründeten Urteilen und Vermutungen, am Ende weigert er sich aber weitere Fragen zu beantworten: »[…] die Sache ist jetzt in deinen Händen«,⁶⁸ erklärt er entschieden, denn nur das, was er sich selbst erarbeitet, zählt für den Menschen. Was diese Hände, ob die von Hegesias oder einem jeden Leser, tatsächlich taugen, mag dahingestellt sein. Wahrscheinlich wird jeder – und zwar in jedem Bereich, nicht nur in Bezug auf Religion –, nur »gerade so viel […] auffassen […], als er zu seiner eignen Nothdurft braucht«.⁶⁹ Dies wird des öfteren recht wenig sein, es steht uns aber nicht zu, darüber zu urteilen, denn schließlich habe »Jeder selbstständige [sic] Mensch […] seine eigene individuelle Geistesform«.⁷⁰ Gerade deswegen wird jeder aber auch Nachsicht und Verständnis für die Mitmenschen aufbringen müssen.
SW X.32, S. 471. So Wieland in »Was ist Wahrheit« (Anm. 13), S. 41. SW X.32, S. 471.
Jutta Heinz
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«? – Das Hexameron von Rosenhain zwischen poetologischer Tradition und Innovation 1801 war kein gutes Jahr für den alternden Wieland. Mit seinem geliebten Osmantinum war er zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten geraten; am 8. November verstirbt dem 68-Jährigen die Ehefrau. Wieland fällt in eine tiefe Depression. An Luise von Göchhausen schreibt er zu Beginn des folgenden Jahres: Ich bin wie einer, der sich im Schiffbruch zu retten sucht: ich strenge im Kampf mit den Wogen alle meine Kräfte an; aber sie ermatten nach und nach, und ich werde zuletzt doch noch untersinken. Ununterbrochenes Arbeiten hat mich bisher bey einer Art von Existenz erhalten.¹
Neben der Euripides-Übersetzung beschäftigt er sich in dieser Zeit damit, wie er an Böttiger schreibt, »etliche Mährchen oder Erzählungen, in eine Art von cadre verbunden, unter dem Titel Pentameron von Rosenhain zu verfertigen«.² Er reagiert damit auch auf die vermehrten Anfragen von Verlegern, die ihn um Beiträge zu ihren Almanachen und Taschenbüchern bitten; immerhin eine finanziell lukrative Angelegenheit, verkaufen sich die Sammelwerke unterhaltender Kleinkunst doch gut und sind beliebt beim Lesepublikum.³ Mitte August 1802 schickt Wieland die ersten beiden Kurztexte, Narcissus und Narcissa und Dafnidion, an den Verleger Vieweg.⁴ Im November arbeitet er an weiteren Texten für das geplante Pentameron, die er dem Verleger Wilmans für dessen Taschenbuch für 1804 verspricht: Die Entzauberung und Die Novelle ohne Titel. Im Dezember übersendet er dem
Brief an Luise von Göchhausen, 28.01.1802. In: Wielands Briefwechsel. Hg. v. der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007. Im Text weiterhin zitiert mit der Sigle WBr, hier Bd. 15.1, S. 528. Brief an Böttiger, 15.11.1802; WBr 16.1, S. 64. Auch von Goethe und Schiller erschienen mehrere Werke zuerst in Almanachen. Vgl. dazu auch John A. McCarthy: »Die gesellige Klassik: ›Das Taschenbuch auf das Jahr 1804‹«. In: Goethe Yearbook 4 (1988), S. 99-121. Die erste von ihnen erscheint in dessen Taschenbuch für 1803. Wegen des für 1804 vorgesehenen Abdrucks von Dafnidion gibt es einige Verwicklungen, er unterbleibt schließlich ganz.
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Verleger Cotta Freundschaft und Liebe und Die Liebe ohne Leidenschaft.⁵ Sie erscheinen zusammen mit Goethes Geselligen Liedern aus der Mittwochsgesellschaft in Cottas Taschenbuch auf das Jahr 1804.⁶ An Göschen schreibt er am 8. Januar 1803 resümierend, er habe »5 kleine Erzählungen nebst einer sechsten als Zugabe« geschrieben, die er »unter dem Nahmen des Pentameron von Rosenhain, in eine Art von Verbindung brachte«.⁷ Unter dem geänderten Titel des Hexameron von Rosenhain werden alle sechs Erzählungen schließlich in Bd. 38 der Sämmtlichen Werke ⁸ gedruckt; Wieland hatte zuvor sogar geplant, den Zyklus noch zu einer »Art von kleinem Romänchen«⁹ zu erweitern, kann diesen Plan jedoch aus gesundheitlichen Gründen,¹⁰ wie er Göschen mitteilt, nicht mehr verwirklichen.¹¹ Er selbst sieht das Hexameron explizit als Alterswerk; in einem Brief an Knebel bezeichnet er die Texte als »späte Blümchen, die sich an einem warmen Novembertage, schüchtern hervorwagen, und eben dadurch, der matten Farben und des schwachen Geruchs ungeachtet, eine Art von Anmuthung erregen«.¹² Die frühere Wieland-Forschung ist ihm über weite Strecken in dieser Bewertung gefolgt.¹³ Erst neuerdings ist dem Zyklus, und interessanterweise gerade unter dem Aspekt seiner Modernität, einige Beachtung zuteil geworden.¹⁴
Dabei äußert er den Wunsch, dass beide Erzählungen zusammen erscheinen sollten, stellt also gezielt einen Zusammenhang her. Der Untertitel des Taschenbuchs benennt das Thema: »Der Freundschaft und Liebe gewidmet. Hg. von Wieland und Goethe«. Brief an Göschen, 08.01.1803; WBr 16.1, S. 88. Zu den Problemen der »Wiederverwertung« der bei anderen Verlegern erschienenen Texte in den Sämmtlichen Werken vgl. Wielands Briefwechsel mit Göschen. Brief an Göschen, 30.12.1804; WBr 16.1, S. 369. Vgl. Brief an Göschen, 31.01.1805; WBr 16.1, S. 384. Es existiert allerdings noch das Fragment einer weiteren Erzählung, die mit einer ungewöhnlichen Erzählform experimentiert, dem kollektiven Erzählen: Die Erzähler lösen sich beim Erzählen der Geschichte ab und verfassen so gemeinsam einen Text. Das Fragment ist abgedruckt im Nachwort der Hexameron-Ausgabe von Meier u. Proß (Anm. 14). Die Herausgeber vermuten, dass Wieland dann doch den Versuch abgebrochen hat, weil »die romantisierende Behandlung […] den intendierten Gehalt der Aussage zu sehr abschwächen […], den ethischen Gehalt absorbieren« (S. 146) würde. Auch hier zeichnet sich damit der Umbruch zwischen Tradition und Innovation als Differenz von romantischer Form und aufklärerischer Idee ab. Brief an Knebel, 18./19.09.1803; WBr 16.1, S. 180. Am bekanntesten ist das Verdikt von Sengle (Anm. 14): Von einem »flüchtigen« (S. 536) oder »matten« (ebd.) Werk ist da die Rede. Vgl. auch Mergenthaler: »Liebe, die aus dem Rahmen fällt« (Anm. 14), S. 37. Zur Forschungsliteratur vgl. den Artikel im Wieland-Handbuch: Peter Haischer: »Das Hexameron von Rosenhain«. In: Wieland-Handbuch. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2007, S. 333-344. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf folgende Beiträge: Albert Meier u. Wolfgang Proß: »Nachwort«. In: Christoph Martin Wieland: Das Hexameron von Rosenhain. Hg. v. Friedrich Beißner. München 1983, S. 139-158; Volker Mergenthaler: »Liebe, die aus dem Rahmen fällt: Wielands ›Hexameron von Rosenhain‹«.
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«?
Soweit die bekannten Fakten zu Entstehung, Publikation und Selbsteinschätzung. Sie wären der Erwähnung kaum wert, lieferten sie nicht erste Aufschlüsse über die Schlüsselposition dieses Alterswerks an einer Umbruchsstelle zwischen Tradition und Innovation, Anlehnung an die Überlieferung und Ausrichtung auf die Zukunft im Werk Wielands.¹⁵ So war mit den Taschenbüchern und Almanachen gerade ein neues Format der Unterhaltungsliteratur für das breite Publikum entstanden, dessen Potential auch Wieland erkannt hatte.¹⁶ Dem leichten Unterhaltungscharakter für die Rezeption entspricht die Produktionsweise: Ebenso, wie sich Wieland bei seinen »Märchen oder Erzählungen« von dem ernsthaften Übersetzungsgeschäft erholte, verfasste auch Goethe seine Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten¹⁷ parallel zur Arbeit an seinem Großroman, dem Wilhelm Meister.¹⁸ Zu dieser Leichtigkeit gehört schließlich textimmanent der gesellige Rahmen, den beide Zyklen um die Novellen legen. Goethe und Wieland folgen damit zum einen der Tradition des Gattungsarchetyps, des Decamerone von Boccaccio, sowie vieler folgender Hexamerone und Pentamerone;¹⁹ beide erproben zum anderen jedoch auch neue
In: Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Hg. v. Werner Frick u. a. Tübingen 2003, S. 37-52; Hansjörg Schelle: »Zu Entstehung und Gestalt von C. M. Wielands Erzählzyklus ›Das Hexameron von Rosenhain‹«. In: Neophilologus 60 (1976), S. 107-123; Wulf Segebrecht: »Wielands ›Das Hexameron von Rosenhain‹ (1805) oder: Der Traum von einer republikanischen Gesellschaft in Oßmannstedt: Ein Beitrag zur Geschichte des Erzählens im geselligen Rahmen«. In: Buchpersonen, Büchermenschen. Hg. von Gudrun Schury u. Martin Götze. Würzburg 2001, S. 91-104. Ähnlich auch Schelle: »Zur Entstehung und Gestalt« (Anm. 14), S. 115: »Die zeitlose Idylle, die Wieland schafft, weist ins Rokoko des 18. Jahrhunderts und weiter in die Antike zurück, um zugleich das Biedermeier vorwegzunehmen«. Seine Veröffentlichung der Abderiten als Fortsetzungsroman im Teutschen Merkur kann in gewissem Sinne auch als Vorläufer für diese Publikationsform gesehen werden. Die Unterhaltungen weisen sowohl inhaltlich als auch von der Erzählform her vielfache Bezüge zum Hexameron auf, auf die im Folgenden nur kurz verwiesen werden kann. Vgl. zur Entstehung der Unterhaltungen als »eine zusammenhängende Suite von Erzählungen im Geschmack des Decameron von Boccaccio« Lothar Bluhm: »›In jenen unglücklichen Tagen…‹. Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ oder: Die Ambivalenz von Kunst und Gesellschaft«. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Hg. v. Rüdiger Zymner u. a. Köln 2000, S. 27-45, hier: S. 28. Eine weitere Parallele bildet der Publikationskontext: So erschienen die Unterhaltungen in Schillers neuer Zeitschrift, den Horen (vgl. dazu ebenfalls Bluhm; zum Zusammenhang mit Schillers Konzepten siehe Hartmut Reinhardt: »Ästhetische Geselligkeit. Goethes literarischer Dialog mit Schiller in den ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹«. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur und Klassik. Hg. v. Peter André Alt u. a. Würzburg 2002, S. 311-341). Wieland erwägt zur Entstehungszeit des Hexameron auch eine Publikation namens »Oßmannstättische Unterhaltungen« (vgl. Schelle: »Zur Entstehung und Gestalt« Anm. 14, S. 112). Im Vorbericht werden explizit als Vorbilder das »Beyspiel des berühmten Dekamerone, oder des Heptamerons der Königin von Navarra« (S. 4 f.) genannt. Für das Pentamerone ist vor allem auf Giambattista Basile (1575 – 1632) zu verweisen, dessen Il Pentamerone fünfzig Märchen enthält, wobei auch die Rahmenhandlung selbst ein Märchen ist. Zehn
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Erzählweisen und stiften damit einen deutschen Novellentypus, der im 19. Jahrhundert weite Verbreitung finden wird.²⁰ Ich will im Folgenden den Text bezüglich dieser Schlüssel- und Übergangsstellung in dreierlei Hinsicht untersuchen. Zum Ersten wird es, auf der inhaltlichen Ebene, um die Behandlung der Themen Liebe, Ehe und Freundschaft gehen. Die thematische Konzentration der Erzählungen des Hexameron auf die verschiedenen Formen der Geschlechterbeziehungen ergibt sich im Wesentlichen bereits aus der kommunikativen Situation, die dem Erzählspiel zugrunde liegt: Eine Gesellschaft »liebenswürdiger und gebildeter Personen beiderley Geschlechts« (Vorbericht, S. 1)²¹ hat sich auf einem idyllischen Landsitz versammelt, mit dem ausdrücklichen Vorsatz, »ältere Verhältnisse enger zusammenzuziehen«, aber auch, falls es sich ergeben sollte, »neue anzuknüpfen« (S. 1f.), sprich: Heiraten zu stiften. Das Thema hat also, unabhängig von der Gattungstradition, eine sehr pragmatische lebensweltliche Basis. Interessant ist darüber hinaus seine Verknüpfung mit dem Bildungsthema – die Gesellschaft besteht nicht nur aus »liebenswürdigen«, sondern auch aus »gebildeten« Personen –, das ebenfalls in den Erzählungen selbst eine wichtige Rolle spielen wird. Die einzelnen Erzählungen zeigen also Varianten verschiedener Beziehungsmodelle und -verläufe; sie tun dies zudem auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise. Daraus ergeben sich gattungs- und erzähltheoretische Fragen, die im Text selbst immer wieder thematisiert werden, und die deshalb in einem zweiten Schritt untersucht werden sollen. Zum Dritten schließlich werde ich auf die Stellung des Hexameron innerhalb der Diskussion um das Wunderbare und das Natürliche in der Dichtung eingehen – eine aus dem 18. Jahrhundert übernommene poetologische Debatte, die hier jedoch, so meine These, eine neue Wendung erhält, die vor allem anderen die Modernität des Textes trotz all seiner offensichtlichen traditionellen Elemente begründet.
Frauen erzählen an fünf Tagen fünfzig Märchen, darunter heute noch so bekannte Märchen wie Aschenbrödel oder Der gestiefelte Kater. Von einer »Pionierleistung« für die Entstehung und Einbürgerung der Novelle in Deutschland sprechen beispielsweise Meier u. Proß: »Nachwort« (Anm. 14) S. 139. Schelle: »Zur Entstehung und Gestalt« (Anm. 14), S. 120 sieht Wieland als »Mitbegründer der für die kommende deutsche Dichtung so charakteristischen Prosaerzählung«. Das Hexameron wird zitiert nach: Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier Bd. 12, Originalband 38, hier fortlaufend lediglich mit Seitenangabe zitiert. Weitere Titel dieser Ausgabe werden zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl. Alle Hervorhebungen finden sich so in den Texten.
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«?
Narcissus und Narcissa – »natürlicher Ton« und »gute Prose« Die erste Erzählung, Narcissus und Narcissa, zeigt die Verwandlung von Eigenliebe in gegenseitige Liebe. Die beiden Protagonisten werden von ihrer »Krankheit, nichts als sich selbst zu lieben« (S. 54) geheilt,²² indem ein ideales Paar – die Geschwister Sofranor und Eufrasia – eine ideale Beziehung vorführt – nämlich eine solche, die geprägt ist durch Leidenschaftslosigkeit und Mäßigkeit (S. 84) bei »inniger Sympathie« (S. 85) und »gegenseitiger Hochschätzung« (S. 54). Gleichzeitig werden die beiden Selbstliebhaber Narcissus und Narcissa durch den kultivierenden Umgang mit dem hoch gebildeten Geschwisterpaar von den »Fehlern einer verkehrten Erziehung gereinigt« (S. 79). Etwas unklar bleibt, welche Rolle die beiden Schutzengel Mahadufa und Zelolo dabei spielen; ebensowenig aufgelöst wird das mysteriöse Verschwinden von Sofranor und Eufrasia als Lichtgestalten durch die Decke des »Sahls der wahren Liebenden« (S. 91) am Ende der Erzählung. Dort finden sich nun Narcissus und Narcissa allein vor dem »Talismanischen Spiegel« (S. 88) vereinigt: Er zeigt ihnen, dass sie nicht mehr »im Andern nur sich Selbst«, sondern »sich Selbst nur im Andern« (ebd.) lieben. Die Erzählung fungiert auch als thematische Exposition: Sowohl ein Extrembeispiel falscher, ›kranker‹ Selbstliebe wie auch ein Extrembeispiel richtiger, idealer Liebe werden vorgeführt; alle weiteren Varianten werden sich zwischen diesen beiden Polen bewegen. Den Übergang ermöglichen hier zum einen das gelungene Erziehungsprojekt, zum anderen die quasinatürliche Entwicklung eines »lebenskräftigen« »Keims der Liebe« (S. 79). Gelöst wird der Handlungsknoten also letztlich, Schutzgeister und Zauberspiegel hin oder her, durch natürliche Prinzipien und Wirkungsmechanismen: den nicht unterdrückbaren jugendlichen Liebestrieb und den gezielten pädagogischen Bildungseinfluss guter Vorbilder und kultivierten Umgangs.²³ Diese erste Geschichte war von der Erzählerin Rosalinde als orientalisches Märchen nach dem Muster von Tausendundeine Nacht eingeführt worden und beginnt getreu des Gattungsmusters in idyllisch-märchenhafter Kulisse. Dazu kontrastiert freilich der abrupte Abschluss: Nach der Auflösung des Knotens hat die Geschichte, so die Erzählerin, »auf einmahl ein Ende« (S. 92). Auch zwischendurch wurde der Text mehrmals durch Nachfragen und poetologische Reflexionen unterbrochen: So wird
Die Krankheits- und Heilungsmetaphorik verweist auf die Verwandtschaft zur Schwärmerei im Allgemeinen; so werden die Leidenschaften hier ganz allgemein als »Fieber der Seele« (S. 55) bezeichnet. Meier u. Proß: »Nachwort« (Anm. 14), S. 148 weisen darüber hinaus zu Recht darauf hin, dass sich die Schutzgeister, Zauberer und Feen in den ersten drei Erzählungen eigentlich wie »durchschnittliche Menschen« benehmen.
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nach dem Gespräch der Schutzengel der Übergang von der Feenwelt in die ›reale‹ Welt und zur eigentlichen Handlung mit dem Hinweis auf die schriftlich nicht darstellbaren Qualitäten graziösen mündlichen Erzählens markiert. An einer anderen Stelle reflektiert die Erzählerin sogar ihre Sprachverwendung: Nachdem sie den natürlichen Liebestrieb anfangs in organischer Metaphorik als »Keim der Liebe« bezeichnet hatte, der sich zu »einer der schönsten Blumen […], die jemahls in den Gärten der Grazien blühten« (S. 80) entwickelte, klagt sie selbst, sie habe »eine arme unschuldige Metafer zu einer vollständigen zierlichen Allegorie« »aufgeblasen« – und verspricht postwendend, in »natürlichen Ton« und »gute Prose« zurückzukehren (ebd.). Im Märchen selbst wird also über Erzählvortrag, Formulierungsweisen, Gattungslizenzen und ähnliches diskutiert. Das erinnert zwar an romantische Ironie, aber auch an aufklärerische Digression und ist gleichzeitig im Rahmen der expositionellen Funktion der ersten Erzählung zu sehen: Der Leser bekommt hier erste Lese- und Verständnisanleitungen zum richtigen Umgang mit fiktionalen Erzähltexten. Dazu gehört nicht zuletzt das im Text von Sofranor und Eufrasia vertretene Gesprächs- und Geselligkeitsideal: »Ihre Gespräche waren zwangfrey, lebhaft und geistreich« (S. 81).²⁴ Schließlich wird auch das Verhältnis von Natürlichem und Wunderbarem explizit thematisiert. Die Schutzgeister beklagen nämlich anfangs ihren nach der Zerstörung des alten Feenreiches reduzierten Einflussbereich: Sie dürfen nicht mehr als »mithandelnde Personen im Spiel auftreten« (S. 30), ja nicht einmal mehr die Träume der Menschen beeinflussen; es ist ihnen durch ein »unverbrüchliches Gesetz verboten«, der »Freyheit« der Menschen zu nahe zu treten (S. 56). In einem Feenmärchen werden also, unter Berufung auf die menschliche Handlungsfreiheit, die Erzählprinzipien des Feenmärchens verabschiedet.²⁵ Unter dieser Prämisse betrachtet, ist es letztendlich gleichgültig, ob die Auflösung des Knotens als Werk zauberischer Schutzgeister oder als Werk psychologischer Gesetzmäßigkeiten gelesen wird: Der Text erlaubt eine doppelte Deutung, und die Elemente beider Welten lassen sich ineinander übersetzen wie die blumenreiche Allegorie Rosalindes in »gute Prose«.
Ähnliche Kommunikationsideale finden sich vielfach im Spätwerk Wielands, vor allem im Aristipp und der Xenophon-Übersetzung. Vgl. Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte. Wielands ›Aristipp‹ und Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Heidelberg 2006, bes. Kap. 5.4. Und das sogar im Traum; zur zentralen Rolle des Traums für die Fiktionstheorie siehe weiter im Text.
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«?
Dafnidion – ein milesisches Märchen als psychologisches Lehrstück Dafnidion ist wohl die am meisten aus dem Rahmen fallende Erzählung des Zyklus. Vom Erzähler Wunibald von P. als »Milesisches Mährchen« (S. 95)²⁶ angekündigt, zeigt sie in Anlehnung an den von Ovid gestalteten Mythos von Daphne und Apollo das Schicksal des jungen und verwöhnten Föbidas, der mit Zaubermitteln versucht, die Liebe der schönen Dafnidion zu gewinnen, dabei jedoch einer Verwechslungskomödie zum Opfer fällt und schließlich gerade noch »mit allen seinen Gliedmaßen davon kam, von welchen einige der edelsten in großer Gefahr gewesen waren« (S. 126). Seine Geschichte wird in der jährlich wiederkehrenden kultischen Verbrennung eines »mit gehacktem Stroh ausgestopften Popanz, der Föbidas genannt« (S. 128) zur Mahnung verewigt. Föbidas selbst, so lässt uns der Erzähler abschließend wissen, wird jedoch davon kaum gebessert worden sein. Die Liebe erscheint hier als gewaltsame, für den unerzogenen und egoistischen Prinzen völlig unbeherrschbare sinnliche Leidenschaft; umsonst hatte die Beschützerin der Dafnidion an seine menschliche Freiheit in einem geradezu kantischen Sinne appelliert: »Es giebt keine unwiderstehliche Gewalt, junger Mensch. Bloß deine Schwäche macht dich zu unserm Sklaven. Gebiete dir Selbst, so bist du frey!« (S. 106) Auch diese Geschichte kann auf zwei Ebenen gelesen werden: Als Märchen, das unter Einsatz von Zaubermitteln die Handlung vorantreibt – oder als psychologisches Lehrstück über den Kampf der menschlichen Vernunft mit den Leidenschaften, bei dem sich Dafnidions Beschützerin Dämonessa »zweyer angeborener Talismane« bedient, ihres Scharfsinns und ihrer Besonnenheit (S. 114). Dem entsprechen auch die dominanten Kommunikationsformen: An die Stelle vernünftiger Gespräche sind magische Zauberformeln und unverständliche Aussprüche getreten; die Erziehung des verwöhnten Prinzen schlägt fehl. Der am Schluss gestiftete neue Mythos kann wiederum mit Blick auf die Romantik gelesen werden; anderseits aber auch als ein Exempel spätaufklärerischer Aberglaubenskritik, wie es Wieland ähnlich im Agathodämon mit dem Mythos des weißen Steins geschildert hatte;²⁷ textintern schließlich als abschreckendes Negativbeispiel einseitig sinnlicher Beziehungsformen.
Vgl. zu Wielands Verständnis des Genres den Brief an Rochlitz vom 19./20.10.1805 (WBr 16.1, S. 489-496), s. u. Vgl. Christoph Martin Wieland: Agathodämon, 2. Buch, Kap. IX.
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Die Entzauberung – »Feereyen« als Träume Die dritte Erzählung Die Entzauberung schildert die Geschichte eines weiblichen Don Quijote. Rosalie, deren Erziehung ausschließlich mit Hilfe von Ritterbüchern und Feenmärchen erfolgte, sieht sich mit zwei Bewerbern um ihre Gunst konfrontiert: dem schönen und mehr an ihrem Reichtum als an ihrer Person interessierten Alberich und dem unauffälligen, sie aber wahrhaft liebenden Hulderich. Als eine Fee aus heiterem Himmel heraus Rosalie sowohl ihrer Schönheit als auch ihres Reichtums beraubt, flieht Alberich spornstreichs, während sich Hulderichs Neigung noch vertieft. Die gleiche Fee macht daraufhin das Unheil, das sie angerichtet hat, ebenso schnell wieder rückgängig; auf Wunsch Hulderichs bleibt der schönen Rosalie nur eine einzige Pockennarbe zurück (aber eine immerhin! eine deutliche Absage an jeglichen absoluten Perfektionismus). Die Fee weist in ihrem Auflösungsmonolog darauf hin, dass sie ja eigentlich nur die »Herzens Gedanken« (S. 165) aller Beteiligten ausspreche. Aber um den von ihr angerichteten Schaden wieder aufzuwiegen, versieht sie Hulderich zudem mit einer adligen Abstammung, so dass einer Heirat nun auch gar nichts mehr im Wege steht – wohingegen »die Sorge einander glücklich zu machen und es selbst dadurch zu seyn« »nun künftig« das Werk der Beteiligten selbst sei (S. 166).²⁸ Die hier geschilderte Liebe ist keine unbeherrschbare Leidenschaft oder verkappte Selbstliebe, sondern eine Seelenliebe, die auf erwiesenem Verdienst und inneren Vorzügen beruht und deren zukünftige Gestaltung in die Verantwortung der Partner gelegt wird. Dazu musste wiederum ein Erziehungsfehler korrigiert werden – Rosalie musste »entzaubert« werden, auch wenn dies durch die Fee selbst geschah, die sie zunächst verzauberte. Ein wichtiger Hinweis auf die fatalen Folgen einer solchen ständigen Verzauberung durch Literatur ist die Erfahrung, die Rosalie sofort nach ihrer Versetzung ins Feenreich macht: »Ihr war als ob sie nicht ganz dieselbe sey, die sie immer gewesen« (S. 146) – die Übereignung ans Wunderbare hat den Preis eines realen Identitätsverlusts. Die »Entzauberung« wird durch das sich anschließende Gespräch in der geselligen Runde vollendet, in dem es einmal mehr um das Verhältnis von Wunderbarem und Natürlichem geht; die Erzählerin Rosalinde²⁹ gibt nämlich zu: Aber Alles, was in dieser Feerey ist, schöpfte ich aus meinem Traume, und setzte das Übrige bloß hinzu, um ihm die Gestalt einer Sache zu geben, die sich auch
Die Formel erinnert an die Verwandlung der Selbstliebe, die ja erhalten bleibt, wenn man »sich selbst im andern« liebt; ebenso ist das Streben nach dem eigenen Glück keinesfalls an sich verwerflich, sondern darf nur nicht übertrieben werden. Bereits die Namensähnlichkeit von Erzählerin – Rosalinde – und Heldin – Rosalie – gibt einen ersten Hinweis auf die biografische Quelle des Erzählten.
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«?
außerhalb der Feenwelt hätte zutragen können, in so fern als etwas ausgemachtes angenommen wird, daß höhere Mächte sich in die Leitung der menschlichen Angelegenheiten mischen (S. 168).
Der Traum – bereits in der ersten Erzählung ausdrücklich dem Einflussbereich der Feen entzogen! – wird hier zu einer legitimen Quelle poetischen Schaffens erklärt; wiederum erhält der Text dadurch eine doppelte Lesbarkeit, sowohl als magisches Geschehen wie als psychisches. Diesen Zusammenhang weitet der »Filosof« (S. 169) der Runde, Herr M., auf die gesamte Literatur aus, die notwendig von der Parallele zwischen Traum und Poesie zehre. Dabei gibt er schließlich eine Definition des Märchens, die nicht zufällig am Ende der dritten Erzählung – und damit am Übergang zu den ›realistischen‹ Texten des Zyklus – steht: Das Mährchen ist eine Begebenheit aus dem Reich der Fantasie, der Traumwelt, dem Feenland, mit Menschen und Ereignissen aus der wirklichen verwebt […]. Je mehr ein Mährchen von der Art und dem Gang eines lebhaften, gaukelnden, sich in sich selbst verschlingenden, räthselhaften, aber immer die leise Ahnung eines geheimen Sinnes erweckenden Traumes in sich hat […], desto vollkommener ist, in meinen Augen wenigstens, das Mährchen. (S. 169)
Erneut kann man von hier aus auf das romantische Märchen – oder auch auf das von den Romantikern sehr geschätzte Märchen Goethes am Ende der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten – schauen. Man kann aber auch mit der eher handfest gesinnten Nadine geltend machen, die »leise Ahnung eines geheimen Sinnes erweckenden Traumes« (ebd.) müsse gleichzeitig »so viel Wahrheit […] als nöthig« (S. 169f.) aufweisen, um die intendierte Rezeption zu erreichen. Was unter dieser »Wahrheit« zu verstehen ist, wird erst im zweiten Teil des Zyklus deutlicher werden, in dem nun anstelle von Märchen Novellen erzählt werden.
Die Novelle ohne Titel – Alltägliche Ereignisse der wirklichen Welt Der Erzähler der Novelle ohne Titel, der eben erwähnte »Filosof«, weist eingangs deutlich auf den Realitätsanspruch hin, der mit der neuen Gattung nun verbunden wird: Eine Novelle müsse sich »in unserer wirklichen Welt begeben haben, wo alles natürlich und begreiflich zugeht, und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber sich doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthalben zutragen könnten« (S. 173). Diese Bestimmung kann man offenbar mit dem Wahrheitsvorbehalt von Nadine und der klassischen Novellendefinition bei Goethe in Beziehung setzen:³⁰ Eine frühere Novellendefinition hatte Wieland bereits im Don Sylvio gegeben. Dort heißt es: »Novellen werden vorzüglich eine Art von Erzählungen genannt, welche sich von den großen Romanen durch die Simplicität des Plans und den kleinen Umfang der
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Es soll sich um ein »unerhörtes Ereignis«³¹ handeln, also um eine Begebenheit, die zwar unglaublich scheint, aber tatsächlich passiert ist oder passieren könnte – wie die Geschichte der Galora, die aufgrund einer unglücklichen Testamentsbedingung als Mann erzogen wird, sich dann aber in genau denjenigen unsterblich verliebt, der anstelle ihrer selbst der Begünstigte sein würde, wenn ihre wahre Geschlechtsidentität entlarvt würde. Der Knoten scheint unentwirrbar, bis ihn Galora selbst mit einem entschiedenen Hieb und ohne jede zauberische Beihilfe durchhaut: Nachdem sie sich in einem Spiegel – wohlgemerkt: keinem magischen! – als Frau verkleidet gesehen hatte, offenbart sie dem verehrten Alonso ihr Schicksal, das sie zu einem »unnatürlichen Wesen« (S. 201) gemacht hatte, bis sich die Natur selbst durch den Naturtrieb der Liebe an diesem Akt der Unnatur rächte. Alles wendet sich jedoch zum Guten: Alonso erwidert die Liebe der nunmehr enttarnten Rosa, macht sie zu seiner Gemahlin und rettet damit das Erbe für beide. »So endigte sich diese Novelle ohne Zweifel wie sich alle Komödien und beynahe alle Novellen endigen; die wenigen abgerechnet, die ein tragisches Ende nehmen« (S. 207) – mit diesen Worten führt der Erzähler seine Geschichte zum Abschluss. Die Liebe wird hier also, vergleichbar der zweiten Geschichte, als geschlechtlich fest kodierter Naturtrieb gezeigt. Die kommunikative Auflösung der anfangs tragisch scheinenden Verkettung von Umständen gelingt hier jedoch relativ problemlos, da sie eigentlich für alle Beteiligten nur Vorteile birgt. Gleichwohl wird in einem anschließenden Gespräch die Möglichkeit anderer, auch tragischer Schlüsse diskutiert. An dieser Stelle werden nun in einer Art zweiter Exposition für den neuen Gattungstypus ›Novelle‹ Kriterien definiert: Neben der anfangs erwähnten »Alltäglichkeit« gelten auch für ihn die klassizistischen Gesetze von »Einheit und Ganzheit«, wie Herr M. unter Bezug auf die einschlägigen Horaz-Stellen im Brief an die Pisonen anführt.³² Deshalb ist der Schluss eben nicht beliebig, sondern muss sich aus der Anlage der Charaktere und der Handlung zwingend ergeben; das führt Rosalinde recht überzeugend anhand einer Charakteranalyse der Galora aus.³³ Für das gute Ende wird der Erzähler abschließend von Nadine mit einer »Bürgerkrone« aus Kastanien statt einem »Dichterkranze« aus Lorbeer (S. 215 f.) ausgezeichnet. Wiederum
Fabel unterscheiden, oder sich zu denselben verhalten wie die kleinen Schauspiele zu der großen Tragödie und Komödie« (SW IV.11, S. 18). Hier stehen im Vergleich mit der Definition aus dem Hexameron also vor allem die quantitative Festlegung auf die Kürze und die daraus resultierenden strukturellen Merkmale im Vordergrund; die inhaltliche Festlegung auf den Realismus der Gegenstände findet sich noch nicht. Die Formel findet sich in Goethes Novelle, deren Titellosigkeit ebenfalls zu Wielands Novelle ohne Titel in Beziehung gesetzt werden kann. Vgl. S. 211, 215. Vgl. S. 213 f.
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«?
kann der Blick von hier aus in der Zeit zurück gehen – zur antiken oder humanistischen Dichterkrönung, zu Horaz –, aber gleichzeitig nach vorn, zu einer neuen Gattung, die Geschichten aus dem wirklichen Leben der Bürger, gleichwohl mit einem hohen künstlerischen Formanspruch, erzählt.
Freundschaft und Liebe auf der Probe – Ehe-Experimente, mehrdeutig Eine solche Geschichte ist auch die von Nadine von Thalheim vorgetragene »Anekdote« (S. 219)³⁴ Freundschaft und Liebe auf der Probe, die als eine mögliche Vorlage für Goethes Wahlverwandtschaften gilt. Das mittels ausführlicher Charakterschilderungen eingeführte Quartett zweier Freundespaare wird zunächst zu zwei »passenden« Paaren verheiratet. Nachdem sich jedoch in den Ehen der erste Reiz der Verliebtheit erschöpft hat und die große Ähnlichkeit beider Partner zu ersten Konflikten führt, gewinnen – vor allem für die beiden Männer – die jeweils anderen Partnerinnen immer mehr an Attraktivität. Als zusätzlicher Handlungsantrieb wirken dabei zum einen die liberale Scheidungsgesetzgebung in der französischen Republik und zum anderen – ein bekannter Wieland-Topos – ein Gemälde, das die Reizungen Klarissens besonders zur Geltung bringt. In einem offenen Gespräch klären die beiden Männer die Situation und vereinbaren den Partnertausch. Im Verlauf des Experiments stellt sich aber im Lauf der Zeit heraus, dass die ersten Paarungen doch die besseren waren. Erneut trifft man sich unter Männern, redet ein offenes Wort miteinander – und schon tritt alles »wieder in die alte Ordnung zurück« (S. 278). Jeder verzeiht dem anderen nun seine Schwächen, statt sie ihm täglich vorzurechnen, und alle vier leben in Liebe und Freundschaft miteinander, so wie es Klarisse mit ihrer »Sokratischen Hochweisheit« (S. 272) als Idealbild einer Ehe definiert hatte: Denn, ihrer Denkart nach, soll die Ehe nicht ein Werk des blinden Liebesgottes, sondern der ruhigen Überlegung, des besonnenen Wohlgefallens an einander, und des gegenseitigen Vertrauens seyn; wobey denn doch auf beiden Seiten noch immer mehr oder weniger gewagt werden muß (S. 238).
Das Liebesthema wird hier nun also durch das Ehethema ergänzt: Jugendliche erste Liebe, Liebe auf den ersten Blick oder Liebe als Leidenschaft Interessant ist auch Nadines Begründung für den Genrewechsel: Märchen vergesse sie immer – Anekdoten hingegen offensichtlich nicht. Die größere »Wahrheit« des Selbsterlebten gegenüber dem Nur-Ausgedachten äußert sich hier ganz konkret (und inzwischen durch die Neurophysiologie belegbar) in der individuellen Gedächtnisleistung.
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sind Naturtriebe und funktionieren kurzfristig immer; entscheidend ist jedoch, was das Paar im alltäglichen bürgerlichen Ehealltag auf Dauer daraus macht. Daraus resultiert nun auch ein anderer Erzählmodus: Besonders auffällig sind die ausführlichen Figuren-Charakteristiken zu Beginn der Erzählung, die die Handlungsvoraussetzung bilden; an die Stelle von Konflikten oder Knoten tritt die »sonderbare Laune des Zufalls« (S. 232),³⁵ die die beiden Freundespaare erst zusammenführt. Welche Moral schließlich aus dieser Geschichte gezogen werden sollte, stellt die Erzählerin abschließend in die Freiheit des Zuhörers und dessen persönlichen Gebrauch. An die Stelle der Doppeldeutigkeit der ersten Märchen oder der Eindeutigkeit der anfangs bereits kritisierten moralischen Erzählungen als Gattungsmuster aus dem 18. Jahrhundert tritt nun ein Bekenntnis zur Mehrdeutigkeit: Eine moralische Lesbarkeit wird nicht abgestritten, aber deren Inhalt nicht vorgegeben – der Leser muss die moralische Bedeutung jeweils für sich selbst aktualisieren.
Die Liebe ohne Leidenschaft – Vom Rosenhain in die wirkliche Welt Die letzte Geschichte wird, wie die vorhergehende, als »Anekdote« eingeführt: »ein ganz einfaches Geschichtchen, aber es ist wenigstens wahr« (S. 285). Erstmals werden nun vollständige Namen und Orte genannt; ja der Erzähler Baron von Werdenberg gibt sogar zu, die Geschichte direkt in seinem Bekanntenkreis erlebt zu haben. Der Held, ein Herr von Falkenberg, sei deshalb kein Romancharakter, sondern »ein wirkliches Glied in der Kette der Wesen« (S. 292). Als er sich in eine schöne Unbekannte, die ihm einen Bleistift geschenkt hat,³⁶ verliebt, verfällt er auch nicht wie Föbidas sinnlos seiner Leidenschaft, sondern lenkt sich ab und kehrt allmählich zu seinem gewohnten »Gleichgewicht« (S. 295) zurück. Auch als
Der Zufall wird in verschiedenen Erzählungen benannt. So entscheidet bereits das Los über die Reihenfolge der Erzählungen (die dann aber doch sehr deutlich von einem Erzählerbewusstsein angeordnet werden). Am ersten Abend trifft man sich »ohne Abrede«, also zwanglos und zufällig, in der Rosenlaube. In Narcissus und Narcissa trifft das ideale Liebespaar zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort ein (S. 72). Explizit wird das Eingreifen des Zufalls als Glücksfall schließlich in der Novelle ohne Titel thematisiert, der in Romanen und Komödien überdurchschnittlich oft auftrete (S. 176). Auch Goethe hatte in seinen Unterhaltungen explizit auf die Rolle des Zufalls verwiesen: Es gehe um Liebesgeschichten, »wo der Zufall mit der menschlichen Schwäche und Unzulänglichkeit spielt« (S. 455). Man könnte vermuten, dass der Zufall als Glücksfall die Eingriffe des Wunderbaren im Feenmärchen, aber auch diejenigen des Schicksals in der Tragödie auf moderne Weise ersetzt; eine weitere Substitution des Wunderbaren durch das Natürliche. Der Bleistift erscheint zunächst ungeeignet als erotisches Objekt; seine Eignung beweist er jedoch noch im 20. Jh. in einem der großen epischen Texte der klassischen Moderne.
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sich ihm die schöne Unbekannte dann vorstellt und seine Neigung sich noch verstärkt, bemüht er sich, »alle Kräfte seiner Vernunft gegen eine solche Beeinträchtigung seiner Freyheit« (S. 297) aufzubieten. Ebenso wie die Heldin, die Bankierstochter Julie Haldenstein, erweist er sich damit als »ziemlich räsonable Person« (S. 301). Man beschließt, fortan freundschaftlich miteinander zu verkehren, da eine Heirat ausgeschlossen ist: Fräulein Haldenstein ist – zufällig – steinreich und deshalb fest entschlossen, nicht zu heiraten (weil es ja doch nur des Geldes wegen geschehe), während der verarmte von Falkenberg sich keinesfalls eben diesem Verdacht aussetzen will. Als er jedoch einem ähnlich vorteilhaften Angebot einer anderen Frau widersteht und zudem doch gegen seinen Willen (und mit Julies Beihilfe) allmählich vom Freund zum Liebhaber mutiert, bringt ihn Julie schließlich in einem vernünftigen Gespräch von seinem falschen Stolz wie von seiner »Liebe ohne Leidenschaft« (S. 312) ab und macht ihm praktisch einen Heiratsantrag – zumal nichts dagegen spreche, dass ihre Liebe niemals zur blinden Leidenschaft werde, sondern »bloß das reine und ruhige Verhältnis zweyer von der Natur zusammengestimmter Gemüther sey« (S. 309). Am Schluss steht also wiederum eine gemäßigte Liebesdefinition, die zweifellos auch die Basis einer gelungenen Ehe sein soll. Die Liebe ohne Leidenschaft ähnelt der vorherigen Erzählung in ihrer Grundaussage und -struktur – der Wichtigkeit der Charakteristik, der Forderung nach Leidenschaftslosigkeit und Mäßigung, der Auflösung durch das vernünftige Gespräch. Der Konflikt ist wegen der konstitutionellen Leidenschaftsarmut der Protagonisten relativ leicht zu lösen.³⁷ Die besondere Pointe liegt jedoch darin, dass ihre Protagonisten sich am Schluss als reale Personen erweisen: Der Erzähler selbst ist der Herr von Falkenberg; die vermeintliche Nadine von Thalheim jedoch ist eigentlich Julie Haldenstein, also eine Bürgerliche, die unter dem angenommenen Namen Zutritt zur Adelsgesellschaft des Rosenhains erhalten hatte. Die Erzählung selbst hat eine Verbindung möglich gemacht, die eigentlich gesellschaftlich als Mesalliance gilt, nun jedoch von allen akzeptiert, ja sogar bejubelt wird: Julie Haldenstein ist über ihre in der Erzählung exponierten moralischen Verdienste als würdiges Mitglied der geselligen Runde und damit in der Realität etabliert worden. Zum Abschluss der Erzählung – und damit am Schluss des ganzen Zyklus – weist der fiktive Herausgeber noch einmal auf die Zukunftsoffenheit jeglicher zwischenmenschlicher Beziehung hin: »Der fernere Erfolg dieser Geschichte« liege »außerhalb des Hexamerons von Rosenhain« (S. 321). Damit hat sich jedoch, ganz unter der Hand, ein bemerkenswerter
Beide erinnern dieser Eigenschaft wegen sehr an Aristipp und Lais. – Es handelt sich hier im Übrigen um eine Kur des männlichen Stolzes, der sich beispielsweise auf ganz ähnliche Weise auch der Major Tellheim in Lessings Minna von Barnhelm unterziehen muss.
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Perspektivenwechsel für den Leser eingeschlichen: Die Welt innerhalb des Hexamerons erscheint plötzlich als Realität – in der eine alltägliche Verlobung gefeiert wird, deren literarische Beschreibung der Erzähler noch dazu unter Berufung auf den Unsagbarkeitstopos ablehnt –; die weitere Zukunft des Paares wird jedoch in eine fiktionale Ferne verlegt. »[A]ußerhalb des Hexamerons von Rosenhain« meint auch außerhalb des gestifteten Erzähl- und vor allem Gesprächskosmos, als dessen Mitglied sich der Leser an dieser Stelle mit Fug und Recht fühlen kann: Er selbst ist inzwischen in die gesellige Runde der Zuhörer eingetreten – von einem »Wir« spricht an dieser Stelle auch der Herausgeber.³⁸
Vorbericht und Rahmen – Erzählverträge Die Deutung dieses Perspektivwechsels am Schluss – die Welt der Fiktion erscheint als real, die Realität als ungewisse Zukunft – mag etwas verwegen erscheinen, entspringt aber dem Leseeindruck und einer Analyse der Erzählstrukturen. Die These soll deshalb zum Schluss noch einmal vom Anfang her beleuchtet werden, von dem bisher ausgesparten Vorbericht eines Ungenannten, in dem Erzählsituation und Erzählbedingungen vorab genau dargestellt werden.³⁹ Zur Erzählsituation gehören zunächst die Geschlechtermischung und der dadurch hergestellte, ›reale‹ erotische Subtext;⁴⁰ daneben die (traditionelle) Situierung auf dem Landgut und die Anstrengungen, die die gesellige Runde unternimmt, um die
Ähnlich argumentiert auch Mergenthaler: »Liebe, die aus dem Rahmen fällt« (Anm. 14), S. 51, der in seinem Beitrag gegenüber der verbreiteten Konzentration auf die Gattungsinnovationsleistung Wielands vor allem die Liebesthematik in den Vordergrund rückt. Er sieht eine direkte Verbindung zwischen Liebes- und Kunstthematik in allen Geschichten des Zyklus sowie die enge Verbindung von Rahmen und Erzählungen, die schlussendlich dazu führe, dass nicht die Differenz von Fiktion und Realität thematisiert werde, sondern ein tatsächlicher Übergang stattfinde. Zu einem genauen Vergleich zwischen dem Rahmen in Boccaccios Decamerone und dem Hexameron vgl. Segebrecht: »Wielands ›Das Hexameron‹« (Anm. 14). Wesentliche Unterschiede finden sich in der Zusammensetzung des Personals (eine »nicht scharf umrissene, offene und gemischte Gesellschaft« bei Wieland gegenüber einer »exklusiven und hermetischen Erzähler-Gesellschaft« bei Boccaccio, S. 94); dem Grund der Zusammenkunft (aufgrund von Zufall bei Wieland); den Erzählregeln (»herrschaftsfreie Unterhaltungen« bei Wieland anstelle einer »streng hierarchischen, monarchistischen Konstitution« bei Boccaccio, S. 97); schließlich dem Erzählzweck bei Wieland: »Der Zweck des Erzählens ist das Erzählen selbst, sein Wert besteht in seinem Unterhaltungswert« (S. 99). Die Aufwertung der Unterhaltungsfunktion von Literatur, gerade in Verbindung mit dem Erzählen, ist ein weiteres Merkmal der Modernität im Hexameron. Vgl. Mergenthaler: »Liebe, die aus dem Rahmen fällt« (Anm. 14), S. 5, der besonders stark auf die dadurch gegebene Verbindung von Rahmen und Erzählungen hinweist. Bemerkenswert ist auch, dass sowohl die Jüngsten als auch die Ältesten nichts erzählen wollen, weil sie sozusagen nicht in den Einzugsbereich des Themas fallen.
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»beschwerlichste aller bösen Feen, die Langeweile« (S. 4) fernzuhalten. Schon hierin könnte man aber ein erstes Beispiel für die doppelte Lesbarkeit sehen: Denn die Langeweile ist natürlich keine böse Fee, sondern ein durch und durch menschliches Übel mit realen psychologischen und lebensweltlichen Ursachen. Der zweite Bestandteil des Vorberichts ist die Vereinbarung der Spielregeln, nach denen sich das Erzählspiel zu richten hat. Als Erstes schlägt Wunibald von P. (der Erzähler der Dafnidion-Geschichte) einen formellen Ausschluss aller »empfindsamen Familiengeschichten« und »sogenannten moralischen Erzählungen« (S. 7) vor, die zu einseitig nur die Tugend, Unschuld und Wohltätigkeit zeigen würden und zudem ihre Figuren auf eine unzulässige Weise idealisierten.⁴¹ Die Hausherrin Frau von P. differenziert das Argument auf eine bezeichnende Weise: Nicht das Idealisieren selbst sei das Problem, sondern die Inkompatibilität von idealisierten Figuren und realistischer Szenerie in den traditionellen moralischen Erzählungen. Erst die »Versetzung solcher Engel-Menschen in unsre Alltagswelt« (S. 11) führe dazu, dass der Dichter uns »bloße Mährchen« erzähle.⁴² Deshalb, so Frau von P. nun in Fortführung ihres paradoxen Arguments, könne sie die fiktionalen Schäferinnen und Hirten bei Geßner geradezu ›natürlich‹ finden, eben weil sie ausdrücklich als Bewohner einer fiktiven Welt ausgezeichnet würden – die eben in ihren Grundzügen idealisch gedacht ist, weswegen es zu keiner Inkompatibilität kommen kann.⁴³ Das vermeintlich Idealische kann also das Natürliche sein, ebenso wie das scheinbar Reale Vgl. S. 7 f. Wiederum findet sich hier eine frappierende Parallele zu Goethes Unterhaltungen. Auch hier wird über die moralischen Erzählungen debattiert. Der Geistliche jedoch hebt hervor, nachdem er eine solche eben vorgetragen hat, dass alle moralischen Erzählungen im Grunde gleich seien: Sie zeigten nur an verschiedenen Beispielen, dass man auch gegen seine Neigung handeln könne (Johann Wolfgang Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe). Bd. 4.1: Wirkungen der Französischen Revolution 1791 – 1797. Hg. v. Reiner Wild. München, Wien 1988, S. 436-518; hier: vgl. S. 495). Das gleiche Argument wird anschließend gegen die heimischen Familiengeschichten geltend gemacht (vgl. S. 497). Eine ähnliche Überlegung findet sich in den Unterhaltungen, ausgesprochen von Ferdinand: »Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen, nur mag ich nicht gern, wenn sie das was wirklich geschehen ist, verarbeiten will; die luftigen Gestalten, die sie erschafft, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen, verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist nur Ungeheuer hervor […] Sie muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen und zwar so daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt« (S. 517). Das Goethe’sche Märchen am Ende der Unterhaltungen kann auch deshalb als Gattungsmuster gelten, weil es genau dieser Bestimmung entspricht. Demgegenüber endet das Hexameron gerade nicht mit einem Übergang in die Welt der Fantasie, sondern in die der Realität. Das hebt auch Segebrecht: »Wielands ›Das Hexameron‹« (Anm. 14), S. 103 in seinem Vergleich hervor. Vgl. S. 11 f.
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ein reines Märchen sein kann – das ist nur eine Frage der Perspektive und der Darstellung und der Umgebungsbedingungen.⁴⁴ Ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt sich der Vorschlag der vorgeblichen Nadine von Thalheim. Sie nämlich möchte ein Verbot für »das gesammte Feen- und Genien-Unwesen, gegen alle Elementengeister, Kobolde, Schlösser von Otranto, […] kurz gegen alles Wunderbare und Unnatürliche, womit wir seit mehreren Jahren bis zur Überladung bedient worden sind« (S. 13). Der Antrag führt zu heftigem Widerstand in der Runde: Die »Liebe zum Wunderbaren«, so wird argumentiert – in Übereinstimmung mit einer Vielzahl von Wielands früheren Schriften zu diesem Thema – sei nicht nur der »allgemeinste, sondern auch der mächtigste unsrer angebornen Triebe« (S. 14); er sei »die stärkste und die schwächste Seite der menschlichen Natur« (ebd.). Nur er allein könne schließlich die Zuhörer »bey Aufmerksamkeit und guter Laune erhalten« (S. 14 f.).⁴⁵ Ähnliche Überlegungen finden sich bereits im Don Sylvio, demjenigen frühen Werk Wielands, das dem späten Hexameron wohl bemerkenswerterweise am ähnlichsten ist. Auch hier geht es um eine Liebesgeschichte, verbunden mit einer Schwärmerheilung nach dem Muster des Don Qujote; auch hier wird in einem Rahmen ein fantastisches Märchen erzählt; auch hier wird mehrfach über das Verhältnis von Wunderbarem und Natürlichem diskutiert. So macht Don Eugenio für die Feenmärchen, ganz ähnlich wie Frau von P., einen expliziten Fiktionsvorbehalt geltend: »Das Land der Feerey liegt außerhalb der Grenzen der Natur, und wird nach seinen eigenen Gesetzen, oder richtiger zu sagen, […] nach gar keinen Gesetzen regiert. Man kann ein Feenmährchen nur nach andern Feenmährchen beurtheilen« (SW IV.12, S. 278). Donna Felicia hält dagegen, dass die Geschichte selbst eigentlich gar nicht besonders fantastisch sei, sondern vor allem die Darbietung, zuvörderst des Namens ›Biribinker‹ wegen: »Vielmehr, wenn man diesen einzigen Umstand wegthäte, so würde die ganze Geschichte des Prinzen Biribinker, anstatt eines der possierlichsten Feenmährchen, eine Alltagshistorie seyn, die aufs höchste gut genug gewesen wäre, einen Artikel in den Zeitungen oder Kalendern seiner Zeit auszufüllen« (ebd. S. 280). Man einigt sich schließlich auf zwei Kriterien zur Unterscheidung des Wunderbarem vom Natürlichen: Zum Ersten müsse eine wahre Geschichte durch glaubwürdige Zeugen belegt sein; zum Zweiten müsse sie übereinstimmen mit dem »ordentlichen Laufe der Natur, in so fern sie unter unsern Sinnen liegt, oder mit demjenigen […], was der größte Theil des menschlichen Geschlechts alle Tage erfährt« (ebd. S. 292). Bereits hier wird also die Grenze zwischen beiden Bereichen zu einem gewissen Teil geöffnet: Ein Feenmärchen kann, ohne die entsprechende Einkleidung, nur eine »Alltagshistorie« sein; die Wahrheit einer Geschichte hingegen kann nie absolut entschieden werden, sondern nur nach empirischen Wahrscheinlichkeitsund Überlieferungskriterien eingeschätzt werden. Eine vergleichbare Diskussion über das Wunderbare, Romanhafte und Geisterhafte findet sich wiederum im Rahmen der Unterhaltungen (vgl. S. 457). Auch hier wird die Differenz dadurch eingeebnet, dass als Quellen für die darzubietenden »Privatgeschichten« (S. 453) sowohl alte Märchenbücher als auch erlebte Geschichten aus der unmittelbaren Gegenwart zugelassen werden. Die Verbindung von fiktionalen und faktualen Quellen wird dadurch verstärkt, dass direkt nach der ersten Geistergeschichte von der Sängerin Antonelli ein ganz ähnlicher Vorfall aus der Nachbarschaft berichtet wird und sich schließlich sogar im Zimmer selbst mysteriöse Dinge ereignen. Im Gegensatz zu Wieland wird hier jedoch keine realistische oder psychologische Auflösung nach aufklärerischem Muster versucht, sondern es herrscht sogar ein striktes Deutungsverbot (vgl.
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Der Streit wird im weiteren Gespräch nur oberflächlich vermittelt durch die Verteidigungsrede des Herrn M., der im Namen der aktuellen idealistischen Philosophie die »ganze Körperwelt« zu »nichts als einer bloßen Geistererscheinung« (S. 16) machen will. Er schlage deshalb vor, den Erzählern ihre »Dichterfreyheit« zu lassen und jedem selbst »einen so großen Spielraum, als sie sich selber nehmen wollten, zu gestatten« (S. 16). Während das erste Argument mit einem deutlich ironischen Bezug auf die Romantiker daherkommt, ist das zweite ein klassisches Toleranzargument durchaus im Wieland’schen Sinne. Die Erzählungen selbst bilden damit das Anschauungsmaterial für mögliche Spielräume in Bezug auf die dichterische Freiheit – wie auch für den Umgang mit dem Wunderbaren und Märchenhaften: Denn ist es tatsächlich so, dass einzig das Wunderbare den Leser oder Zuhörer letztlich bei der Stange hält? Dann wären die Erzählungen wohl verkehrt angeordnet: In ihnen wird ja das Wunderbare zunächst psychologisch unterfüttert und dann zunehmend motivisch substituiert und am Ende gar eliminiert – der Traum tritt an die Stelle der Zauberei, der Zufall ersetzt das Wunder, der reale Spiegel oder das Gemälde den Zauberspiegel, das Gespräch die Zauberformeln, ein geschenkter Bleistift einen magischen Ring. Sind die Geschichten der zweiten Hälfte deshalb nun wirklich weniger anregend oder uninteressanter?
Wielands Theorie des Märchens nach Herder – »Willkührlichkeit« der »neumodischen Ästhetik« statt »poetischer Wahrheit« Insgesamt steht das Hexameron von Rosenhain damit im Kontext einer grundlegenden Auseinandersetzung mit Fragen der Gattungstheorie und der Funktionsbestimmung des Erzählens im Allgemeinen. Einen interessanten Hintergrund dieser Diskussion bietet ein Brief Wielands an Johann Friedrich Rochlitz vom Oktober 1805 – also nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung der Erzählungen des Hexameron entstanden –, in dem sich dieser kritisch mit einem Märchen der Autorin Louise Brachmann S. 456). Die Erklärung dafür liefert Karl: »Daß jedes Phänomen, so wie jedes Faktum an sich eigentlich das Interessante sei. Wer es erklärt oder mit andern Begebenheiten zusammenhängt, macht sich gewöhnlich eigentlich nur einen Spaß, und hat uns zum besten, wie z. B. der Naturforscher und Historienschreiber. Aber eine einzelne Handlung oder Begebenheit ist interessant, nicht weil sie erklärbar oder wahrscheinlich, sondern weil sie wahr ist« (S. 471) – eine Auffassung, die man trotz des Ironieverdachts wohl dem späten, naturwissenschaftlich orientierten Goethe selbst zuschreiben kann. Aber auch Wieland nähert sich im Hexameron dieser Auffassung an, wenn er das mysteriöse Verschwinden des Idealpaares in der ersten Erzählung durch die Decke unkommentiert stehen lässt.
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auseinandersetzt, das in Rochlitz’ Frauenjournal erschienen war.⁴⁶ Wieland betont dabei, dass seine Bewertung durchaus als Reaktion auf die »seit Schillers ästhetischen Briefen neu entstandene transcendentale Kunstlehre« und deren »falsche Grundbegriffe« (S. 491) zu verstehen sei, welche dazu geeignet seien, »richtiges und helles Denken zugleich mit allem guten Geschmack und ächtem Schönheitsgefühl auf immer in Deutschland zu unterdrücken« (ebd.).⁴⁷ Dies führt er anschließend am Beispiel von Brachmanns Märchen Die Wanderer im Geistreich aus. Der dem Märchen zugrunde liegende Mythos, so Wieland einleitend, sei den Milesischen Märchen vergleichbar: ein »dürftiger Stoff«, überliefert in Bruchstücken, aber von der sinnreichen Dichterin durch passende Zusätze und Ergänzungen von ihrer eignen Erfindung zu einer angenehmen Fabel von der wunderbaren und allegorisierenden Gattung, oder vielmehr zu einem zwischen beiden Gattungen hin u herschwebenden Mittelding (S. 492)
umgeformt. Gleichwohl habe sie dabei ihrer »Fantasie« einen »so freyen Spielraum« gegeben, dass er als Leser nicht mehr davon überzeugt werden könne, es handele sich um »Etwas, welches sich wirklich hätte begeben können« (ebd.). Das jedoch sei das Ergebnis davon, dass man den Dichtern einen »Grad von Willkührlichkeit« einräume, der »nach meinem Begriff von der Poetischen Wahrheit, nicht einmahl dem Dichter eines Feenmährchens zugestanden werden kann« (ebd.). Das zeige sich exemplarisch an der Gestaltung der Figuren. Die Autorin habe ihre Zwischenwesen – die »Götter, Nymfen und Götterkinder« derart »idealisiert« (S. 492), dass sie keinesfalls mehr der Maxime einer »objektiven Darstellung« entsprächen (S. 493).⁴⁸ Zwar sei es dem Dichter selbstverständlich erlaubt, WBr 16.1, S. 489-196. Für den Hinweis auf diesen Brief und die Auseinandersetzung mit Herders Märchentheorie danke ich Peter Haischer. Wieland weist darauf hin, dass es sich hier um ein Zitat aus einer Rezension handelt; vgl. ebd., S. 491. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Thematisierung der Schutzgeister bei Wieland, die ja explizit vom Verbot des Wunderbaren ausgenommen werden sollen; Narcissus und Narcissa wird dann direkt mit dem Gespräch der beiden Schutzgeister beginnen. Wieland hat eine deutliche Vorliebe für solche Gestalten und Zwischenwesen, die er in der Tradition des sokratischen Daimonion sieht; im Alterswerk wird das beispielsweise an der Figur des Agathodämon (der Weise, der von den einfachen Bergbewohnern als Dämon des Menschlichen schlechthin verehrt wird) sehr deutlich. Vielleicht verkörpern sie in besonders anschaulicher Weise seine persönliche Position zwischen dem Wunderbaren und dem Natürlichen: Das Wunderbare mag und muss langfristig durch natürliche Ursachen substituiert werden; seine vielfältigen Personifikationen behalten jedoch ihren bleibenden Wert nicht nur als schöne Anschauungsformen, sondern als eine Art regulatives Prinzip. Ob man sich ein Gewissen also lieber als abstrakte psychische Instanz in der menschlichen Seele denken will oder als einen kleinen geflügelten Schutzgeist, der einem ins Ohr flüstert, ist eher eine Geschmacks- denn eine Prinzipienfrage; und wenn solche Vorstellungen gar helfen, die Moralität liebenswerter zu machen, sind sie umso mehr gerechtfertigt.
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«?
die Mythologie der Alten zu überformen und in sie einen »höhern geistigen und moralischen Sinn« zu legen – aber alles mit Maß, um nicht die historische und psychologische Wahrscheinlichkeit zu verletzen, die sich erst aus der »Kenntniß des Alterthums und mit einem gewissen Grad von Selbstverläugnung« (ebd.) ergäbe. Wieland operiert hier also genau an der Grenze zwischen Wunderbarem und Wirklichem, die im Hexameron ständig thematisiert wird. Er verwirft dabei keinesfalls das Wunderbare, verpflichtet es aber – im Gegenzug zur romantischen Ästhetik mit ihren weitgehenden poetischen Lizenzen – auf »poetische Wahrheit« und historische Wahrscheinlichkeit, die in der Objektivität der Darstellung zum Ausdruck kommt; dabei wird, sehr untergründig, die damit verbundene Entsagungsleistung des Dichters als Kontrast von Dichter-Willkür und »Selbstverläugnung« gefasst. Im Fortgang des Briefes setzt sich Wieland mit einem weiteren Märchen Brachmanns, dem Traum des Lebens, auseinander, das nunmehr jedoch gelobt wird: Es entspreche, vor allem in der ihm zugrunde liegenden Analogie des Lebens zum menschlichen Traum, »gar sehr dem Ideal, welches der Selige Herder in seiner Adrastea vom Mährchen aufgestellt« habe, und welches von einer gewissen Gattung, nur nicht von allen ohne Unterschied, auch das Meinige ist. Ein Mährchen, das einem neugebornen Kind einer gleichsam ohne ihr Wissen im Schlaf von der Vernunft geschwängerten Fantasie gleicht, ein Mährchen, das alles überraschende und unterhaltende eines abenteuerlichen Traums, worin alles durch Zauberey zugeht und nichts natürlich ist als die Individualität der handelnden Personen, ist nach meinem Geschmack eines der lieblichsten Produkte, die aus einem Genialischen Kopfe hervorgehen können.⁴⁹
Wielands kurzes Referat weist bereits darauf hin, was ihm an Herders Konzept wichtig ist. Zum Ersten geht es darum, feine Unterschiede zu beachten, auch im Blick auf die verschiedenen Formen des Märchens: Die Theorie gelte nur für »eine gewisse Gattung« von Texten, nicht etwa für alle Märchen »ohne Unterschied«. Zum Zweiten hat diese spezielle Gattung sehr verschiedene Eltern, wird sie doch von der Vernunft erzeugt, die die Fantasie im Schlaf überrascht und geschwängert hat – und dabei offensichtlich kein Monster produziert hat, sondern stattdessen ein liebliches Produkt des Genies, ein Märchen eben. Wegen dieser gemischten Abstammung partizipiert dieses auf der einen Seite mittels »Zauberey« am Wunderbaren, auf der anderen Seite durch die »Individualität« der Figuren an der Vernunft und der Natur. Auch hier wird also wiederum vor allem die Figurengestaltung auf Objektivität verpflichtet, während die äußere Einkleidung durchaus weiterhin auf die Attraktionspotentiale des »überraschenden« und »unterhaltenden« setzen darf. Auch hier entsteht
WBr 16.1, S. 493.
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also, wie im zuvor erwähnten aktualisierten Milesischen Märchen, ein »Mittelding«; dessen Nähe zum Traum weist einmal mehr auf die enge Beziehung dieser Überlegungen zum Hexameron hin, wo der Traum ebenfalls als poetologisches Modell verstanden wird. Auf die Parallelen zu Herders Märchentheorie in der Adrastea ⁵⁰ soll nur kurz hingewiesen werden, da sie Wielands knappe Ausführungen weiter erhellen und den Zusammenhang zum Hexameron noch verstärken. So ist auch für Herder das Interessante am Märchen die »Bildung oder Mißbildung menschlicher Charaktere, das Weben ihrer Schicksale«, die unmittelbar auf das eigene Leben bezogen werden können: »denn nach Jahren, wenn wir uns im Spiegel anschaun und unser Leben überdenken, sind wir uns nicht selbst Märchen?« (S. 257 f.). Des Weiteren ist die dominant mündliche Erzählsituation von Bedeutung, das damit verbundene »lebendige Erzählen« (S. 258), das oft Stoffe und Geschichten aus dem Leben selbst entnimmt und sie durch die mündliche Tradierung zu »Sagen« werden lässt; auch Herder verwendet in diesem Zusammenhang das Bild vom »Traum der Phantasie« (ebd.). Besonders bezüglich der Feenmärchen weist Herder darauf hin, dass diese »Gestalten des Glaubens der alten Welt« mit »Vernunft« behandelt werden müssten; sie werden wie Wielands Zwischenwesen nicht etwa nur im Reich der Fantasie angesiedelt, sondern in der unmittelbaren Welterfahrung: »denn wem begegneten nicht Feen in seinem Leben?« (S. 267) Damit zielt das Feenmärchen direkt auf das »menschliche Herz«, zu dem es mit besonderer Feinheit zu sprechen vermag (ebd.). Das Märchen ist also auch bei Herder nicht nur ein »Traum der Phantasie« (s.o.), sondern es kann gleichermaßen ein »Traum der Wahrheit« (S. 271) werden, wenn man die tradierten Stoffe »neugeschaffen und neugekleidet« mit »richtigem Verstande« verwendet (S. 270f.). Dabei spielt der Traum nicht nur als Metapher eine Rolle, er ist mit seinen kreativen Potenzen vielmehr ein reales psychisches Äquivalent, eine andere Ausdrucksform derselben Schöpfungskraft: »Die in uns wirkende, Vieles zu Einem erschaffende Kraft ist der Grund des Traumes« (S. 274). Schließlich findet sich hier auch das komplexe Verhältnis zwischen Wunderbarem und Natürlichem: Ersteres gibt dem Traum bzw. dem Märchen seinen »süßesten Reiz«; letzteres macht es notwendig, dass das Wunderbare zwar nicht aufklärerisch wegerklärt werden müsse, aber der Einsatz von Wundern ein Ergebnis der Notwendigkeit sein muss: »Jedes Wunder muß necessitiert werden, so daß es jetzt und also nicht anders erfolgen kann« (S. 275). Schließlich wendet sich Herder ganz explizit gegen die Verwendung von Träumen im Sinne der romantischen Ironie – der Traum darf nicht im
Johann Gottfried Herder: »Adrastea« (Auswahl). In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 10. Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt/M. 2000; hier: 6. Märchen und Romane, S. 255-276.
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«?
Traum aufgehoben werden (vgl. S. 274), sondern muss den Träumenden ganz umfassen. Hingegen kommt dem Traum durchaus ein moralischer Mehrwert zu, da er Unterbewusstes, »Heimlichkeiten und Neigungen unsres Herzens« (S. 276) ans Licht bringt: »So tue es auch unablässig und unvermerkt der Roman, das Märchen. Hiedurch gewinnen sie ein magisches sowohl als moralisches Interesse« (ebd.).
Zyklische Anordnung – Deutungsspielräume zwischen Tradition und Innovation Wo steht nun das Hexameron innerhalb dieses Spannungsverhältnisses von Wunderbarem und Vernunft, von Traum und Leben, von historischer Objektivität und poetischer Willkür der Darstellung? Im Blick auf diese Frage will ich abschließend die Anordnung der Erzählungen und ihre zyklische Struktur untersuchen.⁵¹ Eine Möglichkeit wäre es, die Zusammenstellung der Geschichten als eine Art narrative Summa am Beispiel der Liebesthematik zu verstehen, die modellhaft Gattungen, Erzählweisen, Erzählanfänge und -schlüsse, Handlungsverläufe und Konfliktauflösungen vorführt. Dann würde es sich um eine Art Panorama handeln, bei dem alle Erzählungen auf einer Ebene liegen und sich inhaltlich gegenseitig nach dem Modus der Goethe’schen »wechselseitigen Spiegelung« aufeinander beziehen lassen. So zeigen beispielsweise die erste und die letzte Erzählung jeweils zwei sehr ähnliche Paare – einmal zwei Selbstliebhaber, das andere Mal zwei eher kühle Liebhaber –; dabei werden jeweils explizit das Verhältnis von Liebe, Leidenschaft und Freundschaft sowie die Rolle von Bildung und Kultur thematisiert. Die dritte und die vierte Erzählung sind durch die Darstellung von Probesituationen miteinander verbunden. In der zweiten und der fünften dominieren die sinnliche Liebesleidenschaft und Liebesschwärmerei; beide thematisieren auch die
Die Forschung ist zu verschiedenen Gesamtdeutungen gelangt. Meier u. Proß: »Nachwort« (Anm. 14), S. 158 heben die gelungene Vermittlung von »ethischer Thematik mit einer modernen poetischen Form« hervor: Es gehe, vermittelt über die erotische Thematik, um die »Grundidee eines richtigen gesellschaftlichen Verhaltens« (ebd. S. 155); erprobt werde ein spielerisches Toleranzmodell, in dem menschliche Schwächen anerkannt werden können. »Wieland bietet vielmehr im literarischen Medium einen Lösungsversuch an, der sich freilich nur auf die private Sphäre richtet, aber hier durch das skeptische Liebes- und Gesellschaftsmodell die politische Dimension berücksichtigt« (ebd. S. 158). Auch Segebrecht: »Wielands ›Das Hexameron‹« (Anm. 14), S. 103 betont den moralischen Hintergrund des Werks: Der »Traum einer republikanischen Gesellschaft« in Oßmannstedt enthalte eine Vielzahl genuin aufklärerischer Werte – die Überzeugungen vom Wert der Erziehung wie der Selbstbestimmung –, zeige jedoch auch die Grenzen einer oberflächlichen Aufklärung. Dadurch sei er auch von Goethes Unterhaltungen abzugrenzen, die primär therapeutisch zu verstehen seien: Wieland gehe es nicht, wie Goethe, um »Veredelung« der Gesellschaft, sondern um ihre »Republikanisierung« (ebd. S. 103).
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Liebe auf den ersten Blick. Schließlich spielen auch Zauberspiegel wie reale Spiegel in mehreren Erzählungen eine Rolle.⁵² Die Anordnung könnte aber auch als eine Einführung der Leser /Zuhörer in das neue Medium der novellistischen Erzählung, als eine Art praktische Leserschulung verstanden werden, die ihn nach und nach von den vertrauten, eher kindlichen Reizen des Wunderbaren und Märchenhaften entwöhnt und ihm die neuen Reize der nicht-alltäglichen Alltagserzählung mit ihrem Anspruch an charakterliche Tiefenzeichnung bei klassizistischer Einheit und Ganzheit und moralischer Deutungsvielfalt demonstriert. Dann würde es sich um ein didaktisches Steigerungsprinzip handeln, und das Wunderbare würde am Ende in der Realität aufgehoben werden wie die Novellen im Rahmen am Schluss.⁵³ Eine dritte Möglichkeit wäre es schließlich, vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Theorie des Märchens bei Wieland und Herder den Unterschied zwischen Fiktion und Realität, zwischen Rahmen und Novellen, zwischen Wunderbarem und Natürlichem, aufzuheben bzw. als eine Konstruktion zu kennzeichnen, eine durchlässige Grenze, die wechselnde Perspektiven und Blicke von außerhalb des Rosenhains in die Welt der Fiktion bzw. aus der Welt der Fiktion in die ›reale‹ erlaubt. Innerhalb dieses ›Spielraums‹ kann sich jeder mit seiner Erzählweise und seinem persönlichen Wahrheitsanspruch selbst verorten; die Märchen sind nicht besser oder schlechter als die Novellen, es geht auch nicht um eine virtuose Demonstration von Kunstmitteln und Liebesvarianten, sondern um die wechselweise Angemessenheit von Erzählerpersönlichkeit, Erzählmitteln und Erzählthema – auf eine ähnliche Weise, wie Wieland in seinen großen Romanen in der Auseinandersetzung mit verschiedenen PhilosophieTypen nicht für eine bestimmte Philosophie als absolut beste plädiert, sondern auf die Angepasstheit von Persönlichkeit und jeweiliger Lebensphilosophie verweist. Diese Lösung ließe zweifellos dem Autor die größte produktive Freiheit – den Zugriff auf alle seine Kunstmittel – sowie dem Leser die größte rezeptive Freiheit – die Vervielfältigung der Bezugs- und Deutungsmöglichkeiten. Diese letzte Hypothese wäre meines Erachtens auch die ›modernste‹. Sie hebelt die traditionelle Diskussion über das Wunderbare und das Natürliche in literarischen Texten – moderner formuliert: über Fiktionalität oder Faktualität – dadurch aus, dass sie diese Frage auf der Ebene der
Weitere Möglichkeiten nennen Meier u. Proß: »Nachwort« (Anm. 14), S. 146: 1 und 4 behandelten die Verkennung und Deformation der eigenen Person; 2 und 5 das Verkennen des geliebten Partners; 3 und 6 die Auflösung einer Illusion. Auch hier ist ein Vergleich mit den Goethe’schen Unterhaltungen interessant. Dort folgen auf zwei Gespenstergeschichten zwei erotische Geschichten (aber ebenfalls mit leicht mysteriösen Untertönen) und schließlich die moralischen Geschichten des Geistlichen, die das ethische Modell der Entsagung einführen.
»Feereyn« oder »ganz einfache Geschichtchen«?
Erzählgegenstände letztlich für unentscheidbar (und auch unwichtig) erklärt und stattdessen auf die formale Ebene verlagert: Wichtiger als die Darstellung real existenter Gegenstände ist deren ›realistische‹ Gestaltung, die psychologisch nachvollziehbare Figurendarstellung, die klassizistische Rundung der Handlung zur Einheit und Ganzheit, die sich auch der Entsprechung von Erzählerpersönlichkeit, Erzählmitteln und Erzählzielen verdankt. Den gleichbleibenden inneren Kern bildet dabei das ethische Gerüst, das allen Texten zugrunde liegt – die Verpflichtung auf Mäßigung, die Forderung nach Bewältigung der Leidenschaften, die heilenden Kräfte gelingender Kommunikation –, das für Wieland in allen möglichen Welten Geltung beanspruchen kann und anhand der Beziehungsthematik besonders eindrücklich vorgeführt werden kann. Man könnte zum Schluss, wenn man dafür einen modernistischen Begriff bemühen möchte, von einer Art Präkonstruktivismus sprechen, der sich aus Wielands mit fortschreitendem Alter ebenfalls fortgeschrittener Skepsis gegenüber allen absoluten Wahrheitsansprüchen und ideologischen Verallgemeinerungen entwickelt und dazu führt, dass alle Welten – nicht nur alle möglichen, sondern auch die vermeintlich eine »reale«, »Wirklichkeit« genannt – als Konstruktionen behandelt werden; ganz ähnlich, wie auch der alte Herder im zitierten Text darauf verweist, dass das Selbstverhältnis zum eigenen Leben mit wachsendem Alter immer märchenhafter wird.⁵⁴ In seiner kleinen Abhandlung mit dem großen Titel Was ist Wahrheit? hatte Wieland bereits 1776 geschrieben: Geschiehet nicht öfters was jedermann für unmöglich hielt? […] Erweitert sich nicht der Kreis der Möglichkeiten mit unsrer Kenntniß der Natur und mit dem Denkbar wäre es auch, dass sich Wielands Absichten während der Entstehung des Zyklus und seiner längeren Druckgeschichte verschoben haben. Bemerkenswert ist zum einen, dass er gleich anfangs von »Märchen oder Novellen« spricht, also nicht von »Märchen und Novellen« – was ein Indiz für die hier behauptete doppelte Lesbarkeit wäre. Lange hält er auch an dem Titel des Pentameron fest, obwohl die sechste Novelle mit ihrem Übergang zur Rahmenhandlung bereits vorliegt; offensichtlich ist hier die Grenze zwischen Rahmen und Geschichten noch relativ intakt. Erst der Plan einer möglichen Erweiterung für die Ausgabe der letzten Hand hat ihn möglicherweise dazu gebracht, diese Grenze zu öffnen. Und daran sind vielleicht, um die Spekulation noch ein wenig weiter zu treiben, auch nicht ausschließlich die vorgegebenen gesundheitlichen Gründe schuld. So verfasste Wieland in der Folge mit Menander und Glycerion und Krates und Hipparchia zwar zwei in der Thematik ganz ähnliche »Romänchen«, diese spielen nun jedoch wieder in der ihm ungleich »vertrauteren« Antike. Auch diese Verschiebung spricht letztlich dafür, dass Wieland in seinem Leben wie in seinem Schaffen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität überschreitet: Das reale Oßmannstedt ist für ihn persönlich zuvörderst ein fiktives Osmantinum; die oßmannstättischen Unterhaltungen werden im fiktionalen Rosenhain geführt; und anstelle der lange geplanten Autobiografie beschließt er sein Œuvre mit der Übersetzung eines seiner persönlichen Schutzgeister, des Geistesverwandten Cicero. Vielleicht ist es gerade diese im Hexameron besonders ausgeprägte, letzte Grenzüberschreitung zwischen Leben und Werk, die ihn im diesem Alterswerk zu einem modernen Autor macht.
Jutta Heinz
Anwachs unsrer Erfahrungen? […] Kinder sind leichtgläubig aus Unwissenheit dessen was möglich oder unmöglich ist: Alte sind es, weil sie so oft unglaubliche Dinge sich haben zutragen sehen, daß ihnen nichts mehr unglaublich scheint.⁵⁵
In: SW VIII.24, S. 42 f. Den Titel erhielt der kleine Essay aus dem Teutschen Merkur allerdings erst in den Sämmtlichen Werken.
Jan Cölln
Wielands Sprengmetaphorik Zur Funktion und Tradition des »hermetischen Zirkels« im Aristipp
Der folgende Beitrag richtet sein Erkenntnisinteresse auf die Sprache des Philosophierens über spekulative Fragen zum Wesen des Menschen und zu seiner Geschichtlichkeit in Wielands Briefroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Am Beispiel der Deutung einer auffälligen, für den Roman eher untypischen Metaphorizität wird ein Sprachgestus beschrieben, der auch in anderen philosophischen Romanen des Spätwerks, vor allem im Agathodämon zu beobachten ist.¹ Es handelt sich dabei um einen Sprachgestus, den Wieland insbesondere mit den Frühromantikern gemein hat, von denen er sich aber deutlich in seiner Haltung zum Ausgedrückten und zum Sich-so-Ausdrücken unterscheidet. Wieland hat in seinem letzten großen Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen den Protagonisten eine umfangreiche Rezension von Platons Politeia schreiben lassen, in der dieser in verschiedener Hinsicht seine ästhetische, philologische und philosophische Kritik formuliert.² Knuth Mewes und dann vor allem Klaus Manger ³ haben diese philosophische Ebene des Romans als erste ausführlicher beschrieben, die Susanne Wipperfürth als kritische Reflexionen über geschichtsphilosophische Konzeptionen gedeutet hat.⁴ Es ist dann Jan Philipp Reemtsmas ⁵ Verdienst gewesen herausgearbeitet zu haben, dass die Platon-Kritik, die Wieland hier und andernorts formuliert, motiviert ist durch die vehementen Debatten
Vgl. die Beiträge von Laura Auteri und Lothar van Laak in diesem Band. Zur Einführung in den aspektreichen Roman vgl. Jan Philipp Reemtsma: »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 322-333. Knuth Mewes: Aufklären – Schreiben – Philosophieren. Untersuchungen zu Christoph Martin Wielands Spätwerk »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. Halle / Saale 1988; Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland. Frankfurt/M. 1991. Susanne Wipperfürth: Christoph Martin Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen. Frankfurt/M. u. a. 1995. Jan Philipp Reemtsma: Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. Zürich 1993, S. 115-178. Vgl. auch Ders.: »Wie würde ein Kürbis philosophieren? Christoph Martin Wielands Kritik an Immanuel Kant« (1992). In: Ders.: Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk Christoph Martin Wielands. Zürich 1999, S. 203-227.
Jan Cölln
um philosophische Systeme in der Nachfolge Kants. Reemtsma sieht die Funktion dieser Kritik darin, sich von Philosophie als (disziplinärer) »Lebensform« überhaupt zu distanzieren. In meiner eigenen Dissertation⁶ habe ich versucht, mit der Archäologie des Diskurses zu beginnen, auf den Wieland sich nicht nur rezeptiv bezieht. Seine Platon-Kritik lässt sich im Rahmen seiner zeitkritischen Konzeption der Antikerezeption einordnen und als Kritik an den spekulativen Gedankengebäuden des Idealismus verstehen, deren autoritativ auftretender Letztgültigkeitsanspruch den Aufklärer zum Widerspruch reizt. Dabei setzt sich Wieland intensiver vor allem mit Schriften Kants und Fichtes (teilweise vermittelt durch den Schwiegersohn Reinhold und die Kant-Kritiken Herders; vielleicht auch durch seinen in Jena studierenden Sohn Ludwig) auseinander.⁷ Seine Positionen stehen dabei offenbar nicht nur in einfachem Gegensatz zum Idealismus, sondern er versteht es dabei durchaus, einzelne Aspekte kritisch zu würdigen, wie man u. a. auch seinem Briefwechsel und der großen Dokumentation zu Leben und Werk Wielands von Thomas C. Starnes entnehmen kann.⁸ Jutta Heinz hat in ihrer Habilitationsschrift die Perspektive zu Recht darauf gelenkt, dass Wieland mit Hilfe des Romans einen Akt kultureller Gedächtnisbildung ausübt, der die Kanones und Archive seiner Zeit zugleich dekomponiert und neu konstruiert.⁹ Grundsätzlich bleibt Wieland – auch und gerade wenn er sich Aristipp zum Protagonisten seines Romans auswählt und als Romanfigur konzipiert – ein Sokratiker: Zu seinen Maximen gehört es, metaphysischen Spekulationen keinen allzu hohen philosophischen Wert beizumessen, insofern man sie mit dem ›gesunden Menschenverstand‹ nicht vernünftig erklären respektive verstehen
Jan Cölln: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im »Aristipp«. Göttingen 1998, S. 159-205; zur Politeia-Analyse hier S. 188-205. Die Nachweise siehe ebd., S. 168-188. Hier ist allerdings noch umfangreiche Quellenarbeit sowie eine intensive Differentialanalyse der Argumentationsgeschichte zu leisten. Wielands rezeptive Teilhabe an dem lebhaften und vielstimmigen Diskurs darf jedenfalls nicht unterschätzt werden. Das bezeugen nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die verschiedenen Dokumentationen von Gesprächen und Äußerungen im Bekanntenkreis. Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. 3 Bde. Sigmaringen 1987. Zu Wielands Kant-Kenntnissen vgl. z. B. ebd. Bd. 2, S. 703 und Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007, weiterhin zitiert mit der Sigle WBr, hier Bd. 12.1, S. 135 sowie die zahlreichen Artikel Reinholds und Wielands eigene Stellungnahmen zu Herders Metakritik und Kalligone im Teutschen Merkur und Neuen Teutschen Merkur. Zu Fichte vgl. z. B. Starnes (s.o.) Bd. 2, S. 330 f. und S. 334 (zu den Beyträgen zur Berichtigung der Urteile über die Französische Revolution), S. 352 f. (zur Wissenschaftslehre, die Reinhold 1798 in der ALZ rezensiert), S. 437, S. 616 (zur Kritik gegen Fichtes »Ichphilosophie«), S. 707, 742 und 745f. (zum Atheismusstreit); vgl auch WBr 12.1, S. 253 f. Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte. Wielands Aristipp und Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. Heidelberg 2006. – Ähnliche Verfahren ließen sich auch für manche Frühromatiker beschreiben.
Wielands Sprengmetaphorik
kann. Anforderungen einer praktischen Ethik sind die Prüfsteine für den Wert philosophischer Überlegungen. Das sokratische, also vernunftgeleitete Wissen, dass man über metaphysische Gegenstände des Denkens nichts wissen könne, ist der Leitgedanke der Lebensphilosophie, die Wieland Aristipp in die Feder diktiert. Eine Maxime, die in der Philosophiegeschichte bekanntlich über des Nikolaus von Kues De docta ignorantia bis zu des jungen Wittgensteins Tractatus produktiv geblieben ist. Daher gehört es zu der Grundkonzeption des Romans, die aus einer dezidiert philologisch-hermeneutischen Geisteshaltung¹⁰ resultiert, dass Wielands Romanfigur Aristipp Platons Argumentationsgänge nachzeichnet und zum Teil nach kritischer Auseinandersetzung ihre Berechtigung hervorhebt, zum Teil auch Fehler in der logischen Konzeption der Verfahrensweise nachweist. Die Kritik bleibt dieser philologisch-hermeneutischen Prüfung aus sokratischer Geisteshaltung verpflichtet, aus der heraus grundsätzlich bezweifelt wird, dass Platons metaphysische Ideenlehre für die praktische Vernunft eine Lösung bestehender pragmatischer wie spekulativer Fragen anbieten könne. Im Aristipp ist das Hauptstück dieser Form der Reflexion über Platons Schriften die philologisch-kritische Hermeneutik von Platons Politeia.¹¹ Die Sprache von Aristipps Politeia-Kritik – als begrifflich rational nachvollziehbare Erkenntnishandlung, die sie in diesem Aussagekontext sein will – ist im Roman daher auch grundsätzlich eher metaphernarm. Wieland lässt seinen Protagonisten nur ansatzweise über die reine Platon-Hermeneutik hinausgehen. Dabei möchte ich ihn im Folgenden beobachten, aber mein Interesse nicht so sehr auf die Philosopheme selbst, sondern dort auf die Sprache des philosophierenden Aristipp richten, wo sie in eigenartiger Weise metaphorisch wird. Diese Metaphorizität des Ausdrückens von metaphysischen Überlegungen wird im Roman erkenntnistheoretisch reflektiert und anthropologisch legitimiert. Daher liegt es nahe, eine Interpretation auf Blumenbergs Metaphorologie zu stützen. So ist es im Folgenden u. a. mein Ziel, Blumenbergs Hauptanforderung an eine Metaphernanalyse einzulösen, nämlich »die logische ›Verlegenheit‹ zu ermitteln, für die die Metapher einspringt«.¹² Dabei gilt es zum einen zu erläutern, warum diese ›logische
Cölln: Philologie und Roman (Anm. 6), S. 204 f. (zusammenfassend zur Politeia-Kritik), S. 262-275, S. 280-304. Die Methoden dieser Hermeneutik habe ich in meiner Dissertation zu analysieren und in die Romanpoetik einzuordnen versucht: Cölln: Philologie und Roman (Anm. 5), S. 188-205. Zur Utopie-Kritik des Aristipp in der Auseinandersetzung mit Platon vgl. auch die stark deskriptive Studie von Bernhard Budde: Dialog als Aufklärung. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000, S. 436-589. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960). Frankfurt/M. 1998, S. 10. Vgl. Ders.: Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlass hg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt /M. 2007. Zu Blumenberg vgl. Eckard Rolf: Metaphertheorien. Typologie, Darstellung, Bibliographie. Berlin, New York 2005, S. 243-258, bes. S. 245 f. und S. 251-255.
Jan Cölln
Verlegenheit‹ besteht, und zum anderen zu fragen, weswegen sie ausgesprochen werden muss. Im Brief IV 11¹³ entwickelt Aristipp seine »Weise über diese Dinge zu denken« (AZ, S. 817, 33), um sich »von der Beschuldigung einer allzugemächlichen [sic] Gleichgültigkeit im Forschen nach Wahrheit loszusprechen.« (AZ, S. 817, 35-37) Denn es sei immer gut, in allen menschlichen Dingen (unter welche ich auch die meteorischen und göttlichen rechne) klar zu sehen; zu wissen, wann, wo und wie wir getäuscht werden, und auf keine Art von Täuschung mehr Wert zu legen als billig ist. (AZ, S. 817, 5-9)
Es geht dem Desillusionierer, als der Aristipp in der Auseinandersetzung mit Platon gestaltet ist, offenbar wieder nicht um Aussagen über Metaphysisches, sondern darum, sich gegen solche metaphysischen Aussagen zu wappnen. Denn die »Fantasie [gemeint ist hier die grundsätzliche Phantasiebegabtheit sowohl des Metaphysikers, als auch des denkenden Menschen als solchen; J. C.] ist immer eine unsichre Führerin, aber nie gefährlicher, als wenn sie sich die Larve der Vernunft umbindet und aus Principien irre redet.« (AZ, S. 817, 16-19) Aristipps anthropologisches Argument markiert hier zunächst die prinzipielle Notwendigkeit, den Lauf der »Fantasie« in die Zügel zu nehmen und damit unter Kontrolle zu halten, wenn man sich von ihr führen lässt. Aristipp und sein Briefpartner im Roman – Speusipp, ein Neffe Platons – beschäftigt die Frage nach dem Wesen des Menschen und seinem Verhältnis zum Sein überhaupt. Er verschiebt die Fragestellung von einer ursprünglich ontologischen auf eine erkenntnistheoretische Betrachtungsweise, die die Möglichkeit des ›Sagens‹, ›Sprechens‹ und ›Denkens‹ über diese Phänomene fokussiert: Indem ich Sein sage, spreche ich eben dadurch ein Unendliches aus, das Alles was ist, war, sein wird und sein kann, in sich begreift. Indem ich also mich selbst und die meinem Bewußtsein sich aufdringenden Dinge um mich her, denke, ist die Frage nicht: Woher sind wir? oder warum sind wir? – sondern das Einzige was sich fragen läßt und was uns kümmern soll, ist was sind wir? (AZ, S. 818, 13-19)
Aristipp hebt also zunächst die Sprachabhängigkeit des Denkprozesses hervor und zieht daraus Konsequenzen für das mögliche Erkenntnisinteresse. Wenn ich mich nun Aristipps Antwort zuwende, möchte ich weder auf die Traditionsgeschichte der einzelnen Philosopheme, ihre – wie auch immer vermittelte – offenbar Leibniz’sche Provenienz der Ausdrucksformen
Hier und im Folgenden zitiere ich mit Belegangaben (Sigle AZ, Seitenzahl, Zeilenzahl) im Fließtext nach der Ausgabe: Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 28)
Wielands Sprengmetaphorik
eingehen, noch ihren Gehalt diskutieren, sondern die Aufmerksamkeit auf die nun metaphorisch werdenden Sprachformen selbst richten: Und ich antworte: wir sind zwar einzelne aber keine isolierte Dinge; zwar selbständig genug, um weder Schatten noch Widerscheine, aber nicht genug, um etwas anders als Gliedmaßen (wenn ich so sagen kann) oder Ausstrahlungen (wenn du es lieber so nennen willst) des unendlichen Eins zu sein, welches ist, und Alles, was da ist, war, und sein wird, in sich trägt. (AZ, S. 818, 19-25)
Wie passt eine solche Antwort zu dem skeptisch-ironischen Desillusionierungs-Aufklärer Aristipp? Ist es tatsächlich dessen Anliegen, den Menschen als selbständiges Wesen zu bestimmen, das gleichermaßen »Gliedmaß« oder »Ausstrahlung« von etwas ist, das Unendlichkeit in der Zeit hat? Und wäre das überhaupt im eigentlichen Sinne des Wortes eine ›Bestimmung‹? Die Klammereinschübe markieren bereits, dass Aristipps Sprache hier nicht begriffliche Genauigkeit anstreben kann. Erst die folgenden Überlegungen machen deutlich, dass die Sprachhandlung recht textnah etwas vorführt, was Kant in den ersten beiden Absätzen des § 59 der Kritik der Urteilskraft ¹⁴ entwickelt hat, die ich zum Vergleich mit dem folgenden Zitat aus dem Aristipp in der Fußnote wiedergebe: Da all unser Denken im Grund entweder auf Anschauen [das entspricht Kants »Beispiele[n]« für »empirische Begriffe«; J. C.] oder bloßes Rechnen mit Zeichen [das entspricht Kants »Schemate[n]« für die »Verstandesbegriffe«; J. C.] hinausläuft, das Unendliche aber sich weder überschauen noch ausrechnen läßt, so bleibt mir, wenn ich mir das wie meines Daseins im Unendlichen einiger Maßen klar zu machen wünsche, kein anderes Mittel, als mir an dem dürftigen Begriff genügen zu lassen, den ich durch Bilder und Vergleichungen erhalten kann […]. (AZ, S. 818, 25-32)
Diese »Bilder« und »Vergleichungen« entsprechen Kants »symbolische[r]
»Die Realität unserer Begriffe darzutun, werden immer Anschauungen erfordert. Sind es empirische Begriffe, so heißen die letzteren Beispiele. Sind jene reine Verstandesbegriffe, so werden die letzteren Schemate genannt. Verlangt man gar, daß die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d. i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann. Alle Hypotypose (Darstellung, subiectio sub adspectum) als Versinnlichung ist zwiefach: entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand erfaßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch [ist], d. i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach übereinkommt.« Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1974 [=Wiesbaden 1957] (Werkausgabe, Bd. 10), S. 294 f. Wieland könnten diese Absätze auch aus eigener Lektüre bekannt gewesen sein, da er aus § 47 die Stelle (ebd., S. 244) gekannt hat, in der Kant Wieland neben Homer stellt und beide zusammen als Beispiele für den Unterschied der Genialität in Kunst und Wissenschaft anführt (vgl. Cölln: Philologie und Roman, Anm. 6, S. 134).
Jan Cölln
Versinnlichung« für die »Vernunftbegriffe« (»Ideen«), die »nur die Vernunft denken« und denen »keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann«. Blumenberg kann Kants Symbolbegriff aufgrund von dessen eigenen Beispielen aus der rhetorischen Begriffstradition mit der Metapher identifizieren und entwickelt aus Kants, hier von Wieland Aristipp in die Feder diktierten Überlegungen seine Metaphorologie.¹⁵ Die erste ›logische Verlegenheit‹, aus der heraus Wieland seine Romanfigur, die vom »dürftigen Begriff« spricht, Metaphern gebrauchen lässt, liegt mit Kant und Wieland also in einer prinzipiellen Inkompatibilität der Sprache zum Gegenstand des Nachdenkens. Die Metaphern von den »Gliedmaßen« und »Ausstrahlungen« drücken mit Kant gesprochen zunächst vor allem eine »Form der Reflexion« aus: eine Teil-Ganzes-Relation und die Vorstellung der Verbundenheit des Einzelnen mit etwas größerem Ganzen. Dieses größere Ganze lässt sich mit Hilfe von Begriffen nicht inhaltlich bestimmen, aber metaphorisch der Form der Reflexion nach zum Ausdruck bringen. Aristipp verwendet dazu eine kühne Metapher,¹⁶ die als Oxymoron formuliert ist, das die Unberechenbarkeit dieses Ganzen gerade durch mathematische Lexik vorführt: das »unendliche Eins«. Aus dieser rein metaphorischen Vorstellung leitet Aristipp Lebensweisheit ab, auf die es ihm eigentlich ankommt: [Der] einzige Gebrauch, den er davon mache, das große Geheimnis der Natur zu symbolisieren [gemeint ist hier wie bei Kant: metaphorisch auszudrücken; J. C.], sei: die ewige Grundmaxime der echten Lebensweisheit daraus abzuleiten, die zugleich die Regel unsrer Pflicht und die Bedingung unsrer Glückseligkeit ist. Denn natürlicher Weise trägt die Überzeugung, ›daß ich nur als Gliedmaß des unendlichen Eins da sein, aber auch nie gänzlich von ihm abgetrennt werden kann,‹ eine zwiefache Frucht: erstens, die feste Gesinnung, daß ich nur durch Erfüllung meiner Pflicht gegen das allgemeine sowohl, als gegen jedes besondere Ganze, dessen Glied ich bin, in der gehörigen Unterordnung des Kleinern unter das Größere, glücklich sein kann; und zweitens die eben so feste Gewißheit, daß ich, wie beschränkt auch meine gegenwärtige Art zu existieren scheinen mag, dennoch als unzerstörbares Glied des Unendlichen Eins, für Raum und Zeit meines Daseins und meiner Tätigkeit kein geringeres Maß habe, als den hermetischen Zirkel – die Unendlichkeit selbst. (AZ, S. 819, 17-33)
Die Metaphernsprache drückt eine Geisteshaltung – »Gesinnung« – aus und produziert eine »Gewißheit«, die »Glückseligkeit« möglich macht. Ihre metaphysische Letztbegründung ist aber rein sprachlich, eben mit Hilfe
Blumenberg: Paradigmen (Anm. 12), S. 11 f. Harald Weinrich: »Semantik der kühnen Metapher« (1963). In: Ders.: Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 295-316. Vgl. Christian Strub: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie. Freiburg, München 1991, hier bes. S. 50-100 und sein Exkurs über den prinzipiellen Unterschied zwischen kühnen und nicht-kühnen Metaphern: S. 135-140.
Wielands Sprengmetaphorik
von Metaphern erzeugt, die die Fassbarkeit und logische Vorstellbarkeit des Gesagten semantisch mit Hilfe mathematischer und geometrischer Lexik zwar zum Ausdruck bringen, ihre Begriffslogik aber zugleich sprengen: Denn was soll es bedeuten, dass trotz all der Beschränkungen der Existenz Unendlichkeit auch das Maß jedes einzelnen Menschen sein soll, der seinerseits als Teil dieser Unendlichkeit zu denken ist? Die Maßangabe »für Raum und Zeit meines Daseins und meiner Tätigkeit« findet Wieland in der Metapher vom »hermetischen Zirkel«, die hier nicht weiter expliziert wird, da sie dem Leser des Aristipp schon begegnet ist. Allerdings richtet sich Aristipp mit der Metapher zweimal ausführlich in Briefen an Eurybates (III 12; IV 7), so dass er in dem zitierten Brief an Speusipp bei dem Adressaten gar kein Vorverständnis voraussetzen dürfte. Zwei weitere Belege aus dem sechsten Buch des Agathodämon ¹⁷ und Eine Lustreise ins Elysium (zuerst 1789 im Teutschen Merkur veröffentlicht)¹⁸ machen deutlich, dass es weniger eine Metapher der Romanfigur für den fiktionalen Adressaten, als eine für die Leser des Romantextes ist. Was besagt die Metapher vom »hermetischen Zirkel«? Ist das ein Ausdruck für »eine Art rationalisierte mystische Erfahrung«, die der Kultur des Menschlichen zugeschrieben wird, wie Jutta Heinz interpretiert?¹⁹ Ist die Metapher überhaupt so einfach rhetorisch übertragbar durch den Begriff Unendlichkeit, wie die angeführte Textstelle hier ja selbst behauptet, oder handelt es sich vielmehr – im Sinne Blumenbergs – um eine absolute Metapher? So bezeichnet Blumenberg eine Übertragung, »die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen« lässt,²⁰ sondern ein »Modell
Hier beschreibt Apollonius die Unmöglichkeit der Einbildungskraft, sich das Unendliche zu denken, weil das Denken genötigt sei, von einem Anfang auszugehen, das Unendliche aber weder Ende noch Anfang habe. (Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier im Text zitiert mit der Sigle SW, römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl. Alle Hervorhebungen finden sich so im Text, hier SW X.32, S. 329 ff.) Den »höchsten Versuch«, sich das Unendliche zu denken, »machte der große Ägyptische Hermes; da er das Unendliche einen Zirkel nannte, dessen Mittelpunkt allenthalben und dessen Umkreis nirgends ist. Die Einbildungskraft erschrickt vor diesem Gedanken, wenn es anders ein Gedanke heißen kann; denn was ist ein Zirkel, der aus lauter Mittelpunkten besteht und keinen Umkreis hat?« (Ebd., S. 329 f.) Wielands Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (später Preußische A.d.W.; Deutsche A.d.W.). Berlin 1909 – 1976 Erste Abteilung: Werke, Bd. 15: Prosaische Schriften II. 1783 – 1794. Hg. v. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1930, S. 74-110, hier S. 74. Heinz: Narrative Kulturkonzepte (Anm. 9), S. 281-291, hier S. 286 f. »Daß diese Metaphern absolut genannt werden, bedeutet nur, daß sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können […].« (Blumenberg: Paradigmen, Anm. 12, S. 12) »Dann können Metaphern […] auch Grundbestände der philosophischen Sprache sein, Übertragungen,
Jan Cölln
in pragmatischer Funktion« anbietet, »an dem eine Regel der Reflexion gewonnen werden soll«²¹ für das, was die Metapher bezeichnet. Die folgenden Überlegungen werden zeigen, dass es sich bei Aristipps Verwendung der Metapher vom »hermetischen Zirkel« zwar auch um eine solche absolute Metapher handelt, dieser Begriff aber noch nicht ihren ganzen Ausdrucksgehalt beschreibt. In Aristipps Brief an Eurybates, in dem er eine kritische Würdigung von Platons Ideenlehre und seiner »Allegorie« vom Höhlengleichnis formuliert (IV 7), rechtfertigt er das darin ausgedrückte Streben nach Aufklärung unergründlicher Wahrheiten: Dem ungeachtet leugne ich nicht, daß der Hang alles, was um, über und unter uns ist, ergründen zu wollen – wiewohl er sich nur bei wenigen außerordentlichen Menschen in seiner ganzen Stärke zeigt – dennoch eines der Merkmale zu sein scheint, wodurch sich der gebildete und seiner Vernunft mächtig gewordene Mensch von dem bloßen Tiermenschen unterscheidet. Er gehört zu dem ewigen Streben ins Unbegrenzte, welches das große Triebrad der unbestimmbaren Vervollkommnung ist, deren höchstem Punkte das Menschengeschlecht sich in einer Art von unermeßlichen Spirallinie langsam und unvermerkt anzunähern scheint. Werden wir jemals dieses Ziel erreichen? Oder bewegen wir uns (wie der Ägyptische Hermes gesagt haben soll) in einem Zirkel, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umkreis nirgends ist? Und ist vielleicht gerade dies die einzige Möglichkeit, wie wir uns immer bewegen, d. i. nie zu sein aufhören können? (AZ, S. 782, 29 – 783, 8)
Der »hermetische Zirkel« birgt also eine Satz-Metapher, deren semantischer Gehalt aus der Bildfeldtradition²² der Geometrie gespeist wird, deren Logik aber gerade nutzt, um diese zu sprengen: Die Metapher wird also nicht nur absolut gebraucht, weil sie an dieser Stelle nicht in konventionalisierte Begrifflichkeit übertragen wird, sondern sie ist – wieder im Sinne Blumenbergs – als Sprengmetapher formuliert: [Sie] zieht die Anschauung in einen Prozeß hinein, in dem sie zunächst zu folgen vermag (z. B. den Radius eines Kreises verdoppelt und immer weiter vergrößert zu denken), um aber an einem bestimmten Punkt (z. B. den größtmöglichen bzw. unendlichen Radius eines Kreises zu denken) aufgeben – und das wird verstanden als sich aufgeben – zu müssen.²³
Die Metapher vom »hermetischen Zirkel«, die schon Blumenberg als
die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen.« (Ebd., S. 10) »Die absolute Metapher […] springt in eine Leere ein, entwirft sich auf der tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren« (ebd., S. 193). Ebd., S. 12. Blumenberg folgt hier dem Wortlaut des bereits zitierten § 59 aus Kants Kritik der Urteilskraft. Harald Weinrich: »Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld« (1958). In: Ders.: Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 276-290. Blumenberg: Paradigmen, Anm. 12, S. 179 f. Er setzt an dieser Stelle fort: »Worauf es hier ankommt, ist, die Transzendenz als Grenze theoretischen Vollzugs und eo ipso als Forderung heterogener Vollzugsmodi sozusagen ›erlebbar‹ zu machen. Das Sprengmittel dieser Metaphorik ist der Unendlichkeitsbegriff«.
Wielands Sprengmetaphorik
Musterbeispiel für Sprengmetaphorik bringt,²⁴ nutzt die Konventionen der Ausdrücke »Zirkel«, »Mittelpunkt« und »Umkreis« und setzt damit deren geometrische Semantik der Abmessbarkeit ein. Die Ausdruckskonventionen des Bildfeldes werden jedoch durch die Prädikationen – ›ist überall‹ und ›ist nirgends‹ – ad absurdum geführt – jedenfalls begrifflich. Dem Briefschreiber Aristipp geht es aber eben offenbar nicht darum, eine Aussage als irrational auszuweisen. Ein Beleg für eine solche Verwendungsweise der gleichen Metapher findet sich im Brief III 12 des Arztes Praxiteles, der seiner ›naturwissenschaftlich‹ akzentuierten Figurenkonzeption entsprechend Diotimas Bestimmung der Liebe in Platons Symposion einer rationalistischen Kritik unterzieht.²⁵ Aristipp verwendet die Metapher als Ausdrucksmöglichkeit für eine nicht rational bestimmbare Auffassung; seine Fragezeichen markieren den Vermutungsstatus der Aussagen. Die metaphorisch werdende Ausdrucksweise versprachlicht aber für deren Sender (Aristipp / Wieland) wie Empfänger (Eurybates / Leser) eine ethische Vorstellungsweise. Diese führt zu einer Aussage über die Anthropologie des Menschengeschlechts in seiner Geschichtlichkeit, deren Bewegungsrichtung offenbar weniger spirallinienförmig – eine Metapher, die im spätaufklärerischen Diskurs der Menschheitsgeschichten bereits konventionalisiert ist²⁶ – als zirkulär gedacht wird, so dass sie für immer unendlich bleiben kann. Statt aber aus diesen Gedanken eine ganze Geschichtsphilosophie zu entwickeln, markiert der Briefschreiber Aristipp wieder die Metaphorizität des Ausgesagten und gründet sie in der Sprachproblematik:²⁷
Ebd., S. 180. Wielands Verwendung dieser Sprengmetaphorik ist Blumenberg allerdings nicht bekannt. »Das allerschlimmste indessen ist, daß nachdem die Seherin [Diotima; J. C.], die so viel sieht was sonst niemand sehen kann, uns zu Erwartung der herrlichsten Offenbarungen über das selbständige Urschöne berechtigt hat, – zu welchem wir von einer ganz neuen Art von idealischer Päderastie, als der untersten Stufe, durch die ganze materielle und intellektuelle Welt emporsteigen sollen, – uns gleichwohl am Ende nichts geoffenbaret wird, als daß dieses Urschöne (welches Diotima doch für den eigentlichen Gegenstand und das höchste Ziel der Liebe ausgibt) weder mehr noch weniger als das Parmenideische Eins und All, das Platonische Wirklichwirkliche, der Hermetische Zirkel, dessen Mittelpunkt überall, und dessen Umkreis nirgends ist, mit Einem Worte, das Unendliche sei; welches aber erstens, da es keine Form hat, eben so wenig das Urschöne als der Urzirkel oder das Urdreieck sein kann; und zweitens, da es (ihrem eigenen ehrlichen Geständnis nach) weder von den Sinnen erfaßt, noch von der Einbildungskraft dargestellt, noch vom Verstande begriffen werden kann, gänzlich außer unserm Gesichtskreise liegt, und also für uns eben so viel ist als ob es gar nicht wäre.« (AZ S. 544, 14-34) Christoph Martin Wieland: »Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts« (1777). In: Ders.: Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit (1795). In: SW V.14, S. 289-334, hier S. 328. Die Forschungen zu den Menschheitsgeschichten der Spätaufklärung resümiert Stefanie Stockhorst: »Geschichte(n) der Menschheit. Zur Narrativität der historischen Kulturanthropologie in der Spätaufklärung«. In: KulturPoetik 8 (2008), S. 1-17, hier S. 8-10 (zu Wieland). Die philosophischen Auseinandersetzungen im Roman geben immer wieder Anlass
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Auch die Natur, Freund Eurybates, hat in ihren großen Mysterien unaussprechliche Worte, die wir entweder nie erfahren werden, oder welche der, dem sie sich enthüllte, nicht verraten könnte, weil es ihm an Worten fehlen würde sich andern verständlich zu machen? Befände sich jemals ein Sterblicher in diesem glücklichen Falle, würde er nicht, wenn er von dem, was unaussprechlich ist, sprechen wollte, genötigt sein, seine Zuflucht, wie Plato, zu Bildern und Allegorien zu nehmen? Und da er doch sicher darauf rechnen könnte, mit seinen Offenbarungen von Niemand verstanden, und nur von sehr Wenigen vielleicht, gleich fernen das Ohr kaum noch leise berührenden Tönen, mehr geahnet als gehört zu werden, tät’ er nicht eben so wohl, wenn er gar nicht davon spräche? – Aber was hätte da der göttliche Plato zu tun gehabt? – Ich beantworte also jene Frage mit Nein; aber nun auch keine Sylbe weiter! (AZ, S. 783, 8-24)
Die Satz-Metapher vom hermetischen Zirkel sprengt die Rationalität des Bildfeldes nicht, um sie durch eine Geschichtsphilosophie zu ersetzen; das sieht weder Aristipp noch offenbar sein Konstrukteur Wieland als seine Aufgabe. Als absolute Metapher ist sie aber darüber hinaus auch nicht ersetzbar. Der Ausdruckswert der Metapher zielt gerade darauf, dass die ihr zugrundeliegende Geisteshaltung, die sozusagen anthropologisch notwendig ist auszusprechen, nicht begrifflich bestimmbar ist. Aristipps Metapherngebrauch im Aussagekontext der Metaphysik ist eine spezifische Sprachhandlung, eine »Erkenntnistätigkeit«²⁸ mit Hilfe sprachlicher Bilder, die »zu einem Modus des Sichverhaltens«²⁹ führt und diesen zugleich zum Ausdruck bringt. Um diesen »Modus des Sichverhaltens«, der sich durch die Metapher vom »hermetischen Zirkel« ausdrückt, besser zu charakterisieren, möchte ich nun noch abschließend einen Blick auf die Verwendungstradition der Metapher werfen. Die Archive der Motivgeschichte erlauben es, Wielands Metaphern-Gebrauch im Kontext der Traditionsgeschichte einzuordnen. Die früheste Quelle des sogenannten hermetischen Zirkels hat Clemens Baeumker als Gottesdefinition in dem pseudo-hermetischen Liber XXIV philosophorum ausgemacht, das seiner Ansicht nach aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts stammt. Dort heißt es:
dazu, die ontologische wie erkenntnistheoretische Problematik des Sprechens in Begriffen über Abstrakta oder Metaphysisches zu benennen: »Das Bedürfnis unsre Gedanken an Worte zu heften, und die unvermeidliche Unschicklichkeit, mit diesen Worten allgemeine Begriffe bezeichnen zu müssen, deren Allgemeinheit ihren Grund nicht in der Natur der Dinge, sondern bloß in unsrer verworrenen und unvollständigen Ansicht derselben, und in den Trugschlüssen hat, die wir aus diesen täuschenden Anschauungen ziehen, – diese Quellen beinahe aller Irrtümer, Halbwahrheiten und Mißverständnisse, die so viel Unheil unter den Menschen anrichten – sind auch hier die Ursache eines Trugschlusses.« (AZ, S. 825, 6-15) Eugenio Coseriu: »Die Metaphernschöpfung in der Sprache« (1956). In: Ders.: Sprache. Strukturen und Funktionen. Hg. v. Uwe Petersen. 3., durchgesehene und verb. Aufl. Tübingen 1979, S. 15-44, hier S. 20 und S. 26. Blumenberg: Paradigmen (Anm. 12), S. 176.
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Gott ist eine unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgendwo ist. Diese Definition ergibt sich dadurch, dass man die erste Ursache selbst in ihrem Leben / Dasein wie einen Mittelpunkt bildlich vorstellt. Eine Begrenzung läge nämlich oberhalb [d. i. außerhalb; J. C.] ihrer Ausdehnung, wo sie auch von außen begrenzt wäre. Deswegen ist ihr Mittelpunkt überall und besitzt keine Abmessung. Die Seele nämlich, jedesmal wenn sie den Umfang der Kugelgestalt sucht, wird, ins Unendliche emporgehoben, sagen, dass, was ohne Abmessung ist wie der Schöpfer, auch ohne Anfang ist. Und so ist ihre Begrenzung nirgendwo.³⁰
Diese paradoxe Gottesdefinition sucht selbst ihre Anschaulichkeit in analogen Vorstellungsweisen (vom menschlichen Leben) und im mystischen Erfahrungshandeln der menschlichen Seele. Die Metapher gründet in genau der mystischen Haltung gegenüber Gott, die sie begründet. Der erste Satz dieser Gottesdefinition hat eine breite Tradition im Mittelalter³¹ und ist, so rekonstruiert Dietrich Mahnke,³² vermutlich durch die in der Renaissance häufig wiederaufgelegte Enzyklopädie des Bartholomaeus »Deus est sphaera infinita, cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam. Haec definitio data est per modum imaginandi ut centrum ipsam primam causam in vita sua. Terminus quidem suae extensionis est supra, ubi et extra terminans. Propter hoc ubique est centrum eius, nullam habens dimensionem. Anima enim, cum quaerit circumferentiam sphaeritatis, elevata in infinitum dicet, quia quicquid est sine dimensione, sicut creans fuit, et sine initio est. Et sic eius terminus nusquam.« Clemens Baeumker: »Das pseudo-hermetische Buch der vierundzwanzig Meister (›Liber XXIV philosophorum‹). Ein Beitrag zur Geschichte des Neupythagoreismus und Neuplatonismus im Mittelalter« (1913). In: Ders.: Studien und Charakteristiken zur Geschichte der Philosophie insbesondere des Mittelalters. Gesammelte Vorträge und Aufsätze. Mit einem Lebensbilde Baeumkers hg. v. Martin Grabmann. Münster 1927, S. 194-214, hier S. 208. Das Buch enthält die Gottesdefinitionen von 24 nicht genannten Philosophen und deren kurze Erläuterung. Dass die zitierte, unter II. aufgeführte Definition – wie die anderen 23 Definitionen – auf Hermes Trismegistos zurückgehen soll, behaupten das Incipit einer vaticanischen Handschrift aus dem 14. Jahrhundert und das Explicit einer nicht datierten Handschrift in Paris, nicht aber Baeumkers älteste Handschrift aus Lyon. Der Text ist jetzt mit anderen Lesarten neu herausgegeben: Liber viginti quattuor philosophorum [Hermes Latinus 3/1]. Hg. v. Francoise Hudry. Turnhout 1997. Baeumker: »Das pseudo-hermetische Buch der vierundzwanzig Meister« (Anm. 30), S. 201, gibt Bonaventura, Thomas von Aquin und später Meister Eckhart als Quellen an, die den Satz Hermes Trismegistos zuschreiben. – Ohne Hinweis auf dessen Urheberschaft zitiert ihn schon Alanus ab Insulis Regulae theologiae 7, 627. Deswegen hält es Baeumker für »denkbar«, »daß die Überlieferung der beiden ersten Definitionen von dem Ausbau des ganzen Werkes zu trennen ist« und schlägt als ältere Quelle den arabischen Pseudo-Empedokles vor (S. 202 f.). Dietrich Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik. Halle / Saale 1937. – Mahnke (S. 144 ff.) weist die breite Tradition dieser Gottesdefinition im 13. und 14. Jahrhundert nach (S. 171 f.) und glaubt die Schrift daher im 12. Jahrhundert einordnen zu können. Mahnke vermutet (S. 178-215), dass der Gedanke von Gott als »sphaera infinita« im Mittelalter auf der Grundlage der neuplatonischen Tradition der Spätantike entwickelt worden sein könnte, auch wenn Plotin diese Gottesdefinition noch nicht zitiert, zu einer solchen Formulierung aber Anlass gegeben habe (S. 215-230).
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Anglicus De proprietatibus rerum (um 1230)³³ und durch den Einfluss Meister Eckharts auf Nikolaus von Kues in die Naturphilosophie Ficinos und Giordano Brunos gelangt.³⁴ Außerdem habe Nikolaus von Kues direkt oder mittelbar seinen Niederschlag auch auf Rabelais ³⁵ und auf Pascal³⁶ gehabt, der seinerseits nachweislich der Gewährsmann von Leibniz gewesen ist. Leibniz hat diese Gottesvorstellung als bildliche Erläuterung seiner Vorstellung von Gott als einer unendlichen Ur-Monade angeführt.³⁷ Dietrich Mahnke verfolgt den Einfluss von Leibniz³⁸ auf Schelling,³⁹ Fichtes erste Wissenschaftslehre ⁴⁰ und Novalis,⁴¹ der der Ausgangspunkt seiner Untersuchungen gewesen ist. Die breite Überlieferung des sogenannten hermetischen Zirkels bei Autoren und Texten, deren Kenntnis man bei Wieland voraussetzen darf, wie z. B. bei Rabelais, Pascal, Leibniz und Fichte macht es geradezu unmöglich, Wielands genaue Quelle ausfindig zu machen oder zu eruieren, ob Wieland mit dem Zitat einen bestimmten Text oder Kontext aufrufen wollte. Der für Wieland vermutlich aber entscheidende, aller Wahrscheinlichkeit nach anlassgebende Gewährsmann der Metapher ist Ebd., S. 47. Mahnke: Unendliche Sphäre (Anm. 32) S. 144-47 weist nicht nur den Einfluss Eckeharts auf Nikolaus von Kues nach, sondern auch – wie schon Baeumker: »Das pseudo-hermetische Buch der vierundzwanzig Meister« (Anm. 30), S. 200-202 – den Liber XXIV philosophorum als Eckharts Quelle (Mahnke, S. 146-172). – Über die »zentrale Bedeutung des Nikolaus von Kues« bei der Vermittlung der Gottesvorstellung als »sphaera infinita«, seinen Einfluss auf Ficino und Giordano Bruno siehe ebd., S. 48 ff. und S. 76 ff. Der heroischen Taten und Raten des guten Pantagruel drittes Buch, 13. Kap., 311 und V. Buch, 47. Kap., 310; vgl. Mahnke: Unendliche Sphäre (Anm. 30), S. 43 f. Ebd., S. 24-29. Ebd., S. 18 – Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Bd. 6. Berlin 1885, S. 603 ff., hier S. 604 (Principes de la Natur et de la Grace, fondés en raison [= Systementwurf für den Prinzen Eugen (1714)], § 12-14, hier § 13): »Dieu seul a une connoisannce distincte de tout, car il en est la source. On a fort dit, qu’il est comme centre partout; mais son circomference n’est nulle part, tout luy étant present immediatement sans aucun eloignement de ce Centre.« Vgl. ebd., Bd. 4. Berlin 1880, S. 553 (Extraits du Dictionnaire de M. Bayle article Rorarius), S. 562 (Reponse aux reflexions contenues dans la seconde Edition du Dictionnaire Critique de M. Bayle article Rorarius, sur le systeme de l’Harmonie preétablie). Mahnke: Unendliche Sphäre (Anm. 32), S. 16 Anmerkung. Ebd., S. 10-12. Ebd., S. 7-10. In Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft von Johann Gottlieb Fichte. Weimar: im Verlage des Industrie = Comptoirs 1794, § 4, stellt Fichte die Unendlichkeit des menschlichen Wissensbestandes und damit des Menschen metaphorisch dar: »Es sind unendlich viele Radien eines unendlichen Zirkels, dessen Mittelpunkt gegeben ist; und so wie der Mittelpunkt gegeben ist, ist ja wohl der ganze unendliche Zirkel, und die unendlich vielen Radien desselben gegeben.« (Fichte: Gesamtausgabe. Werke 2, S. 130; später S. 135 wird der Mittelpunkt im Ich gesetzt.) Mahnke: Unendliche Sphäre (Anm. 32), S. 2 ff.
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Herder, der bei Mahnke merkwürdigerweise nicht genannt wird. Herders sprachphilosophische Kritik an Kant in der Metakritik (1799) hat Wieland bekanntlich stürmisch begrüßt.⁴² In Herders Spinoza-Schrift Gott,⁴³ die Wieland im November 1789 im Anzeigenblatt des Teutschen Merkurs ausführlich empfiehlt, lässt Herder im zweiten der fünf »Gespräche« Theophron, einen Verteidiger und Befürworter Spinozas, die Metapher vom hermetischen Zirkel als Gottesdefinition zitieren, um Unendlichkeit als sein Wesensmerkmal zu verstehen zu geben: In der Materie, die wir tot nennen, streben auf jedem Punkt nicht minder und nicht kleinere göttliche Kräfte: wir sind mit Allmacht umgeben, wir schwimmen in einem Ozean der Allmacht, so daß jenes alte Gleichniß immer wahr bleibt: ›die Gottheit sei ein Kreis, dessen Mittelpunkt allenthalben, dessen Umkreis nirgend ist‹, weil weder im Raum noch in der Zeit, als in bloßen Bildern unserer Einbildungskraft, die Einbildungskraft nirgend ein Ende findet. […] Nicht etwa nur für uns ist das Wesen des Ewigen unausmeßbar; es ist an sich selbst keines Maßes fähig; in jedem Punkt seiner Wirkung, der nur für uns ein Punkt ist, trägt es seine ganze Unendlichkeit in sich.⁴⁴
Aufschlussreich an diesem kleinen Exkurs über die Traditionsgeschichte der Metaphernverwendung ist meiner Ansicht nach zweierlei: 1.) Die Metapher vom hermetischen Zirkel, wie überhaupt die aus der Geometrie stammenden Metaphern, ist von ihrem Ursprung her bis zu Pascal, Leibniz und Herder immer auf eine Gottesvorstellung bezogen. Blumenberg hat sie in seinem letzten Kapitel der Metaphorologie ⁴⁵ als Paradebeispielfeld für Zur Sprachphilosophie in Herders Metakritik vgl. Ulrich Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart – Bad Cannstatt 1988 und Gesine Leonore Schiewer: Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis. Tübingen, S. 21-182; zu Wielands Ankündigung der Streitschrift im Neuen Teutschen Merkur vgl. Reemtsma: Das Buch vom Ich (Anm. 5), S. 126, und Cölln: Philologie und Roman (Anm. 6), S. 183-185. Zu der für Wielands Rezeption wichtigen Dialogizität der Schrift vgl. Alexandra Kleihues: »Im Dialog mit den Toten. Herders Auseinandersetzung mit Shaftesbury und Lessing in der literarischen Form des Gesprächs.« In: Euphorion 100 (2006), S. 131-160. Johann Gottfried Herder: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774 – 1787. Hg. v. Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt/M. 1994 (Werke in zehn Bänden, Bd. 4, Bibliothek der Klassiker 105), S. 712, 32 – S. 713, 13. – Ingrid StrohschneiderKohrs: »Metaphorische Approximationen. Ein Sprachbild und sein Kontext in Herders frühen Schriften« (1988). In: Dies.: Poesie und Reflexion. Aufsätze zur Literatur. Tübingen 1999, S. 1-24, hat den Weg der Veränderungen in Herders Denkerfahrungen und Explikationsweisen anhand seiner die Schreibtraditionen und sich selbst reformulierenden Metaphernsprache beschrieben. Gerade Herders Kant-Kritiken müssten einmal eingehend nach der spezifischen Funktion des Traditionsverhaltens bei der Metaphernsprache analysiert werden. Zu »antiaufklärerischen Begründungen der Bildersprache im Zeitalter der Aufklärung« vgl. Klaus-Müller Richter u. Arturo Larcati: »Kampf der Metapher!« Studien zum Widerstreit des eigentlichen und uneigentlichen Sprechens. Zur Reflexion des Metaphorischen im philosophischen und poetologischen Diskurs. Wien 1996, S. 145-186, hier S. 165-186. Hans Blumenberg: »Geometrische Symbolik und Metaphorik«. In: Ders.: Paradigmen (Anm. 12), S. 167-193, hier S. 180-184 bezogen auf De docta ignorantia des Nikolaus von
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die Funktion von Sprengmetaphern hervorgehoben und analysiert. Wieland überträgt das »bildempfangende Feld«⁴⁶ vom »Sinnbezirk« menschlicher Gottesvorstellungen auf den Sinnbezirk der Vorstellungen vom Wesen des Menschen und seiner Geschichtlichkeit. 2.) Bei der Übertragung ist aber der metaphysische Ausdruckswert der Metapher gerade nicht getilgt. Die Übertragung führt vor, dass auch das Denken und Sprechen über das Wesen des Menschen in seiner Geschichtlichkeit zu einer der Theologie analogen metaphysischen Vorstellungsweise führt. Wieland zieht mit Hilfe seiner Romanfigur – trotz der vorwiegend diskursiven Sprachhandlung der Politeia-Analyse also im Rahmen einer fiktionalen Textsorte mit den ihr inhärenten Rezeptionserwartungen der Zeit um 1800 – daraus die Konsequenz, es bei solchen kurzen Stellungnahmen zu belassen und eben keine ausformulierte Anthropologie zu konzipieren. Während der nachkantische Idealismus eines Fichte oder Schelling und die Frühromantik eines Novalis die »Unbegrifflichkeit«⁴⁷ der gleichen Bildfelder, denselben Sprachgestus also in den Dienst einer solchen metaphysischen Anthropologie stellen, ist Wieland ein Sprengmetaphoriker aus dem sokratischen Geist des vernunftgeleiteten begrifflichen Nicht-Wissen-Könnens.⁴⁸ Seine Verwendung des Sprachgestus respektiert und artikuliert dessen im Bedürfnis des Menschen liegende anthropologische Notwendigkeit ausgesprochen zu werden, führt den Lesern der Sprachhandlung aber die Haltung einer docta ignorantia vor.
Kues, die er einen »fruchtbare[n] Schoß metaphysischer Metaphorik« (S. 167) nennt. Schon Blumenberg hat die Studien von Baeumker und Mahnke ausgewertet, aber ebenfalls weder Herder noch Wieland im Blick gehabt. Harald Weinrich: »Münze und Wort« (Anm. 22), S. 284. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit (Anm. 12). Vergleichbar ist Blumenbergs Fazit zur Aussagefunktion des Metapherngebrauchs bei Nikolaus von Kues: »Die von der Metapher induzierte Haltung aktualisiert sich im Gebrauch der Metapher, deren Implikation docta ignorantia ist« (Paradigmen, Anm. 12, S. 183). Zur Tradition des Sokrates-Verständnisses im 18. Jahrhundert vgl. Benno Böhm: Sokrates im 18. Jahrhundert. Studien zum Werdegang des modernen Persönlichkeitsbewußtseins. Leipzig 1929. Zu Wielands Sokrates-Bild im Aristipp vgl. Cölln: Philologie und Roman (Anm. 6), S. 135-168.
IV. Antike und Moderne
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Ein »hartnäckiger Ketzer in Liebessachen« Wieland, griechische Liebe und Selbstzensur
Paul Derks rühmt an Wieland, dass er »wohl der erste war, der in der deutschen Literatur Homosexualität zum thematischen Vorwurf einer Dichtung machte«.¹ Es bietet sich daher an, Wielands Darstellung der Homosexualität in Juno und Ganymed (1765 in den Comischen Erzählungen publiziert) und ihre Tragweite zu untersuchen. Denn schon um 1800 schien kein größeres Bewusstsein davon mehr vorhanden zu sein, dass Wieland sich je zu diesem Thema geäußert hatte. Dieses Vergessen hatte aber Programm – und es war Wielands Programm. Meine These ist, dass er unter dem Eindruck eher verhaltener Kritik nach diesem ersten, frühen Experiment das Thema Homosexualität aus seinem Werk tilgte. Johann Wilhelm Ludwig Gleim konnte Wieland noch im Jahre 1774 quasi als Dichter der Homosexualität beschreiben. Am 2. Januar richtete er folgende Zeilen an Wieland: Sollt’ ihn [sic] [= Wieland; W. D.W.], wegen seines Jupiter [recte: Juno; W. D.W.] und Ganymedes nicht irgend ein unberufner Richter des Schönen den Vorwurf gemacht haben, gegen den ich meinen Wieland zu Braunschweig einst vertheydigte, diesen, daß aus seinem Munde die deutsche Jugend zuerst von griechischer Liebe gehört, und bald darauf sich Ganymede gehalten hätte? ²
Dies ist eine erstaunliche Aussage. Denn dass »Ganymed« als Bezeichnung für einen meist jüngeren homosexuellen Geliebten verwendet wurde, ist aus anderen Quellen belegt und wurde auch von Wieland im Agathon mobilisiert.³ Anders als vom Kommentator in der neuen Wieland-Briefausgabe
Paul Derks: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750 – 1850. Berlin 1990, S. 234, vgl. S. 241. 2. Jan. 1774, Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007, im Text weiterhin zitiert mit der Sigle WBr und Bandnummer, hier Bd. 5, S. 221. Psyche erzählt, dass sie als verkleideter Jüngling von einem Piratenhauptmann begehrt und zum »Ganymedes« gemacht werden sollte: »Der Cilicier, den ich für meinen Herrn erkennen mußte, verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenschaft zu quälen. Er nannte mich Ganymedes, und schwur bei allen Tritonen und Nereiden, daß ich ihm sein müßte, was dieser trojanische Prinz dem Jupiter gewesen sei.« Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon, erste Fassung, I/8. In: Ders.: Werke. Hg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert. 5. Bde. München 1964 – 1968, weiterhin zitiert mit der Sigle WW, Band und Seitenzahl, hier WW I, S. 395; Derks: Päderastie (Anm. 1), S. 239. Es ist nicht deutlich, ob damit auch
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behauptet, berichtet Gleim hier nicht über einen publizierten Angriff aus Braunschweig, der Christian Günther Rautenberg zum Verfasser hatte. Denn Rautenbergs Angriff bezog sich nicht auf Homosexualität, und ein Kontakt Gleims mit Rautenberg ist nicht belegt.⁴ Näher liegt der Hinweis auf ein Streitgespräch mit Justus Friedrich Wilhelm Zachariae, Johann Arnold Ebert und dem neu nach Wolfenbüttel berufenen Gotthold Ephraim Lessing, das Gleim im Jahre 1770 bei einem Besuch in Braunschweig gehabt hatte, und zwar in einem Weghause zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel.⁵ Zachariä – wie Ebert Lehrer am Collegium Carolinum – scheint am heftigsten gegen Wieland gewettert zu haben, aber auch Lessing war offenbar an den Vorwürfen beteiligt.⁶ Aber was steckt hinter
die Sicht Wielands zur Sprache kommt; jedenfalls bleibt das Motiv eine kurze Episode, die handlungsfunktional bedingt ist. Als weiterer Beleg für diese Verwendung von »Ganymed« vgl. Zelters Brief an Goethe, Ende Feb. 1831, Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter u. a. 21 Bde. in 33 Teilbdn. München 1985 – 1999 (im Folgenden zitiert mit der Sigle MA), Bd. 20.2, S. 1450. WBr 6.3, S. 1283. Der Bearbeiter Siegfried Scheibe gibt als Beleg pauschal den vierten Band des Briefwechsels an. An den dort die Episode um Rautenberg betreffenden Stellen ist jedoch kein Hinweis auf ›griechische Liebe‹ oder Juno und Ganymed. Scheibes Mutmaßung basiert offenbar lediglich auf der Tatsache, dass der Angriff Rautenbergs in einer Braunschweiger Zeitschrift publiziert wurde. – Im Kommentar Scheibes auf derselben Seite sind zwei andere Fehler zu berichtigen; dort heißt es: »Wielands ›Juno und Ganymed‹ in den ›Comischen Erzählungen‹, [Zürich] 1757. – Wieland nahm diese Erzählung in die Neuausgaben der ›Comischen Erzählungen‹ ab 1775 nicht mehr auf.« Zusätzlich zum fehlerhaften Publikationsdatum ist zu bemerken, dass Wieland an den beiden 1775 erschienenen Raubdrucken seiner Comischen Erzählungen keinen Anteil hatte (vgl. Gottfried Günther, Heidi Zeilinger: Wieland-Bibliographie. Berlin, Weimar 1983, S. 111; auch die Angaben in WW IV, S. 844 sind zu berücksichtigen), so dass es statt »1775« richtig »1782« heißen sollte. So bereits bemerkt von Derks: Päderastie (Anm. 1), S. 233, mit Hinweis auf Heinrich Pröhle: Lessing, Wieland, Heinse. Nach den handschriftlichen Quellen in Gleims Nachlasse dargestellt. Berlin 1877, S. 23. Da die Stelle des Briefes von Gleim an Johann Arnold Ebert vom 31. Juli 1770 bei Richard Daunicht (Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, S. 297f.), die offensichtlichen Fehler in seiner Quelle (Adolph Glaser: »Ungedruckte Briefe von Cramer, Gleim, Klopstock, Lavater, Ramler, Uz u. A. an J. A. Ebert«. In: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte. Ein Familienbuch für das gesammte geistige Leben der Gegenwart, 2. Bd. (1857), S. 90-103, 207-216, 562-569, hier S. 567 f.) enthält und außerdem, dem Anliegen seiner Ausgabe entsprechend, einige wichtige Aussagen über Wieland gegenüber dieser Quelle auslässt, sei hier die ganze Stelle nach dem Konzept im Gleimhaus Halberstadt zitiert: »Aber der Abend bey Zachariä, mein lieber Ebert, und der Rückweg vom Weghause liegen beyde mir noch in den Knochen, und werden das Verlangen meine Freunde zu sehen mir auf lange zeit verleiden. Grausam ists irgend einem guten Mann, der die Menschen nicht zu boshaft findet, seinen Irthum nehmen zu wollen, grausamer Tugend und Sitten zu predigen, und so erschrecklich, Beyspiel dawieder zu seyn. Nur eine Stunde hätt ich darüber gegen meinen Ebert allein, mich auslaßen mögen. oder auch gegen Leßing oder zachariä! Gegen drey solche tief sinnige Tieger ein guthertziges Lamm das war zu arg! Das schreckliche: Wie lesen sie denn? schallt noch in meinen an sanftene [sic] Thöne gewöhnten ohren!
Ein hartnäckiger Ketzer in Liebessachen
dieser Behauptung? Können diese Schriftsteller im Ernst gemeint haben, junge deutsche Männer seien durch Wielands Darstellung der Knabenliebe Jupiters zu Ganymed angeregt worden, päderastische bzw. homosexuelle Beziehungen anzuknüpfen? Der einzige Beleg für eine homosexuelle Subkultur in Deutschland, und zwar aus dem Jahre 1782 aus Berlin, ist unsicher.⁷ Und von weit verbreiteter ›griechischer Liebe‹ in der deutschen Provinz, wie sie hier nahegelegt wurde, gibt es sonst keine dokumentarische Spur. So wären wir auf unergiebige Spekulation angewiesen. Noch erstaunlicher ist die Annahme, dass junge deutsche Männer bis dahin keine Ahnung von ›griechischer Liebe‹ gehabt haben sollten – und unter einem flüchtigen literarischen Eindruck plötzlich damit experimentierten.
Ich habe mir Mühe gegeben, zu lesen, wie Zachariä will, und nicht gefunden was er gefunden hat, nicht den Wieland, den uns zachariä mahlete, nicht den bösen Mann, vor welchem er warnete, sondern den guten ehrlichen Wieland, der die Menschen schildert, wie sie sind, dem es ein Ernst ist, Tugenden und Freuden auszubreiten, und die allzustrengen Sitten lehrer gegen die Fehler der Menschen nachsichtiger und überhaupt wohl gestimmeter zu machen. So find ich Wieland in Agathon, in Idris, in den Dialogen in den Beyträgen, in Musarion, immer sich gleich, ich finde den gleichen Lehrer der Menschenliebe, der Tugend, der Freude, den gleichen sceptischen Spötter der allzukühnen Vernunft, die, mit der schwachen Menschheit hadert, nicht aber die Menschen beßer und glücklicher macht. Und wenn ich, nach jenen allzuheftigen nächtlichen Belehrungen des Gegentheils meinen Wieland immer noch so finde, dann komt es mir ein, Unserm Zachariä, nach vorgebrachten gegenseitigen Behauptungen sein stolzes: wie lesen sie denn? sanftmuthiger, als er, zurückzugeben. Kurtz mein lieber Ebert, ihr Braunschweiger möget den alten Wieland für [einen unter Tintenfleck] Schwärmer, wie den neuen für einen Atheisten [unsichere Lesart, teilweise unter Tintenfleck] halten, Wir Preußen halten ihn für einen unverstellten guten ehrlichen Mann, der es ein gesehen hat, daß die Menschen nicht völlig so böse, und nicht völlig so gut sind als man sie gemeiniglich hält, daß er sich irrete, wenn er ehemahlen von ihnen verlangete, was Gott von Engeln, und der mit samt seinem erhabenen Genie über diese, beßer eingesehene Menschheit nicht erhaben seyn will, Weswegen er, nachdem er, unter Engeln, seiner itzigen Einsicht nach, nicht die beste Rolle gespielt haben [sic] zu der ihm angewiesenen Stufe der Wesen zurück gekehret, und wiederum geworden ist, wie unser einer. That er meinlieber [sic] Ebert, damit was andres, als, was umgekehret sie, da sie von ihren Schäferliedern zu den Nachtgedancken übergiengen? Möchten sie doch immer noch ein mahl von den Nachtgedancken zu den Schäferliedern wieder kehren. Die Nachtgedancken sind wie der Himmel erhaben! Eloa [gemeint wohl eine Singularform von Elohim] spiele sie auf seiner Harfe! Die Schäferlieder, rein und edel wie der helleste Kristallbach, hätten Engel an Eloas Harfe sich müde gehöret, sie könten Eberts Schäferlieder singen. Laßen Sie, mein theurester Ebert, unserm Wieland Gerechtigkeit wiederfahren, und helfen sie, daß Leßing und zachariä gut für ihn gesinnet sind. Er gehört zu unsern Alten guten Köpfen, und diese sollen sich nicht entzweyen. Ich um arme Sie Ihr [ohne Unterschrift]« Der ursprüngliche Herausgeber Glaser gab noch die Unterschrift »Ihr ganz treuer Gleim« zusammen mit Grüßen an andere wieder, so dass ihm das Original des Briefes aus Eberts Nachlass vorlag, von dem hier das Konzept vorliegt. Für die Beschaffung dieses Briefes ist der Direktorin des Gleimhauses, Dr. Ute Pott, sowie Ines Wieczorek herzlich zu danken. Derks: Päderastie (Anm. 1), S. 103 ff.
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Als historischem Zeugnis gebührt der Behauptung also ein großes Maß an Skepsis. Trotzdem kann sie eine beträchtliche Wirkung auf Wieland selbst gehabt haben. Seit einigen Jahren entspinnt sich eine rege wissenschaftliche Debatte über die Frage, was die ›griechische Liebe‹ im Altertum eigentlich gewesen sei. Die Mehrzahl der dabei diskutierten Fragen sind für unsere Zwecke belanglos, aber eine relevante Position des britischen Altertumsforschers James Davidson ist festzuhalten. Davidson widerlegt den »Mythos der Knabenliebe«, die Vorstellung, es habe sich bei der griechischen Liebe um sexuelle Beziehungen zwischen einem älteren Mann und einem Knaben im heutigen Sinne gehandelt.⁸ Er weist detailliert nach, dass noch 18- und 19jährige als Knaben bezeichnet wurden und die einzig legitimen Werbungsobjekte für Männer waren, die ihrerseits kaum älter als 20 Jahre waren. Sexuelle Beziehungen mit Knaben unter 18 Jahren kamen vor, waren jedoch streng verboten und wurden mitunter mit Todesstrafe belegt. Wohlhabende Familien gesellten ihren minderjährigen Söhnen ältere Sklaven als Leibwächter zu, die sogenannten paidagōgoi. Sogar intime Gespräche zwischen älteren Männern und Knaben unter 18 Jahren waren verboten; die mehr als 20jährigen durften nicht einmal ein Gymnasium betreten, und auch die 18- und 19jährigen wurden dort von den unter 18jährigen ferngehalten. Insofern war der Jugendschutz dort, wo angeblich die Knabenliebe grassierte, strenger als heute. Das heißt natürlich nicht, dass Knaben unter 18 Jahren kein Gegenstand des Begehrens älterer Männer waren – gerade der Einsatz von Hütern beweist das Gegenteil. Und die Versuche Davidsons, die Beziehungen zwischen jungen, unter 18jährigen Männern und ihren Werbern als gleichberechtigt hinzustellen, überzeugen nicht, denn es ging stets um einen Tausch von Leistungen des Älteren – meist erzieherischer Natur – gegen Sex. Andererseits waren heterosexuelle Beziehungen denselben Machtverhältnissen unterworfen, vielleicht mehr noch als homosexuelle. Denn erstens handelte es sich um eine ausgesprochen patriarchalische Gesellschaft, zweitens war der Altersunterschied zwischen Männern und den von ihnen umworbenen Frauen größer als zwischen Männern in typischen homoerotischen Beziehungen: eine typische Ehe wurde zwischen einer etwa 14jährigen Frau und einem mehr als 30jährigen Mann geschlossen. Bis heute wird ein deutliches Machtgefälle zwischen Mann und Frau eher als ›normal‹ angesehen als eines zwischen zwei Männern. Im Zusammenhang mit Wielands Erzählung Juno und Ganymed interessiert hier vor allem der Ganymed-Mythos. Davidson untersucht die beiden Stränge der Ganymed-Überlieferung: die (homo)erotische und die
James Davidson: The Greeks and Greek Love: A Radical Reappraisal of Homosexuality in Ancient Greece. London 2007, S. 68 ff.
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religiöse, wobei er sich auf die letztere als die eher vernachlässigte konzentriert.⁹ Der Ganymed-Mythos sei einer der ältesten und in religiöser Hinsicht der bedeutendste überhaupt. Als einziger Mensch wurde Ganymed zu den Göttern in den Olymp heraufgeholt, so dass er zu einer Art Mittlerfigur zwischen Göttern und Menschen avancierte. Er wurde von Zeus unsterblich gemacht, aber nicht in derselben Form wie sein Verwandter (bzw. Bruder) Tithonus, der nie stirbt, aber unaufhörlich altert. Ganymed behält seine jungenhafte Form, ebenso wie die Götter. Aber er selbst nährt und erhält die Unsterblichkeit und zeitlose Jugendlichkeit der Götter, indem er ihnen Nektar einschenkt (genauso wie seine Vorgängerin als Mundschenk, Hebe, die die Jugend repräsentierte). Jeder Grieche – so Davidson – musste in Ganymed einen reinen, ehemals sterblichen Knaben sehen, der zwischen Himmel und Erde vermittelte, ein bedeutungsträchtiges Symbol des Austausches zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, eine Figur von einmaliger religiöser Resonanz. Allerdings war die sexuelle Komponente fast von Anfang an Teil des Ganymed-Mythos. Dieser sexuelle Aspekt des Mythos verselbständigte sich schnell, und einer seiner ersten und wichtigsten Vertreter war Wielands Gewährsmann für Juno und Ganymed, der satirische Dichter Lukian von Samosata, der um die Mitte des zweiten Jahrhunderts tätig war. Lukian widmet zwei seiner religionskritischen Göttergespräche dem Thema. Im 4. Gespräch zwischen Jupiter und Ganymed, bei dessen Entführung, sagt der Gott schon im zweiten Satz zu Ganymed (hier in Wielands späterer Übersetzung): »Küsse mich, mein Püppchen…«.¹⁰ Am Schluss will Jupiter sogar mit Ganymed schlafen: Ganymed. Aber wo werd’ ich denn bey Nacht schlafen? Etwa bey meinem Cameraden Amor? Jup. Närrchen, deßwegen hab ich dich ja entführt daß du bey mir schlafen sollst. Ganymed. Du kannst’s also nicht allein, und bildest dir ein, du werdest besser schlafen können, wenn du bey mir liegst? Jup. Bey einem so hübschen Knaben wie du, allerdings! Ganymed. Was kann die Schönheit zum schlafen helfen? Jup. O sie führt etwas gar angenehm einschläferndes bey sich, und macht einen viel sanftern Schlaf! Ganymed. Mein Vater sprach ganz anders. Er wurde immer ungehalten auf mich wenn ich bey ihm lag, und klagte des Morgens, daß ich mich immer hin und her gewälzt und ihn gestoßen, oder im Schlaf aufgeschrien, so daß er gar keine Ruhe vor mir haben können; und deßwegen schickte er mich meistens zur Mutter schlafen. Wenn du mich also nur dazu geraubt hast, so kannst du mich immer wieder auf die Erde tragen; denn ich werde dir sehr überlästig seyn weil ich mich so oft umkehre.
Davidson: Greek Love (Anm. 8), S. 169-200. Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. 6 Bde. Leipzig 1788 – 89, Bd. 2, S. 38.
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Jup. Das wird mir eben das angenehmste seyn, wenn ich recht viel bey dir wachen und dich nach Herzenslust küssen und drücken kann. Ganymed. Das magst du! ich werde schlafen und dich küssen lassen. […]¹¹
Deutlich wird das Bild des lüsternen alten Mannes, der einem naiven Jungen nachläuft. Spätestens hier fällt auf, dass der sexuelle GanymedMythos, wie er am ausführlichsten von Lukian inszeniert wurde, den erwähnten Klischees zur ›griechischen Liebe‹ entspricht, besonders in Bezug auf den Altersunterschied. Zeus treibt also etwas den menschlichen (d. h. athenischen) Männern streng Verbotenes, die sexuelle Verfolgung eines minderjährigen Knaben. Denn in fast allen Quellen ist Ganymed eben kein Achtzehnjähriger, sondern ein Minderjähriger, manchmal ein richtiges Kind. Bei Lukian bemerkt Jupiter »vor sich« über Ganymed: »Wie offen und unschuldig der Junge noch ist! noch ein völliges Kind!«¹² (Es kann aus dem späteren Roman Peregrinus nachgewiesen werden, dass Wieland vom griechischen Verbot des sexuellen Umgangs mit Minderjährigen wusste.)¹³ Wielands Interpretation folgt daher ausschließlich der sexuellen Variante des Ganymed-Mythos – aber beim Altersunterschied zwischen Zeus und Ganymed deutet sich schon seine Neuerung an, auf die ich gleich zurückkomme. Wie sieht die Darstellung der ›griechischen Liebe‹ und des GanymedMythos bei Wieland aus? In Juno und Ganymed erzählt er vom Tadel Junos an Jupiters erotischen Streifzügen, die in der Entführung Ganymeds auf den Olymp gipfeln. Jupiter setzt Hebe kurzerhand von ihrem Amt als Mundschenk der Götter ab und Ganymed als ihren Nachfolger ein. Juno erregt sich über die Küsse zwischen Jupiter und dem Knaben. Soweit folgt Wieland seiner Quelle, Lukians fünftem Göttergespräch, in Wielands Übersetzung überschrieben: »Ein ehlicher Wortwechsel zwischen Jupiter und seiner Gemalin«.¹⁴ Dann aber erfolgt der von Wieland erfundene Teil der Handlung: Juno rächt sich, indem sie selber Ganymed verführt; sie wird dabei von Jupiter ertappt, und als dieser ihr Vorwürfe macht und auf ihre Proteste hin beteuert, dass »schöner Knaben schöne Seele / Allein der Gegenstand von meiner Liebe sei«, erwidert Juno am Schluss der Erzählung:
Ebd., S. 41 f. Ebd., S. 40. Vgl. Anm. 68. Julius Steinberger schreibt etwas widersprüchlich: »Keine dieser beiden Erzählungen [d. h. Juno und Ganymed und Aurora und Cephalus; W. D.W.] schöpft ihren Vorwurf aus Lucian. Der Stoff liegt aber an sich ganz in seinem Gesichtskreise, sodass es nicht zu verwundern ist, wenn W. seine Gestalten mit Lucians Augen sieht und mit dessen Griffel schildert.« Dann zu Juno und Ganymed: »Es sind also in dieser Erzählung, bevor zum Kern der Handlung vorgeschritten wird, die Lucianischen Göttergespräche No 4, 5 u. 6 wirkungsvoll verwertet.« In: Ders.: Wielands Jugendjahre. Göttingen 1935, S. 61.
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Ganz gut, mein Herr, es steht euch frei An ihren Seelen euch nach Herzenslust zu weiden; Ich gönn euch diesen edlen Trieb, Und nehme, wie ihr seht, bescheiden, Mit ihrem gröbern Teil vorlieb. (Z. 866-70)¹⁵
Das Problem der Darstellung der griechischen Liebe in diesem frivolen Werk liegt meines Erachtens nicht in der von Paul Derks postulierten angeblichen Annahme des Lesers, dass nach der Logik der Erzählung »auf Erden ein solcher Fall [d. h. die Homosexualität; W. D.W.] schon gar nicht anvisiert werden« darf (S. 240). Dagegen spricht, dass alles, was Wieland den Göttern andichtet, von vorneherein als menschlich-allzumenschlich vorausgesetzt wird (daher auch die vielen heiter-anachronistischen Ausdrücke wie »Miß Hebe« oder »Zofe« usw.). Zwei Aspekte der Darstellung der Homosexualität in Juno und Ganymed fallen ins Auge. Erstens erscheint Zeus als Heuchler und damit als negativer Vertreter der schwulen Präferenz, gibt er doch scheinheilig an, nur Ganymeds Seele zu lieben. In diesem Sinne erscheint es mir auch unsinnig, die »intellektuelle Frau« Juno als ein Beispiel für Wielands »Frauenfeindlichkeit« herauszustellen, wie Thomas Lautwein das tut.¹⁶ Es siegt doch Juno am Ende, da der sexuelle Genuss ihrer ist, während Jupiter zum Opfer seiner Heuchelei wird und entsagen muss. Zweitens aber – und das ist die wichtigste Neuerung Wielands, die in der Forschung überhaupt nicht zur Geltung gebracht wurde – wird das homoerotische Begehren Jupiters von Ganymed nicht erwidert, oder wenigstens bleibt diese Möglichkeit im ironischen Zwielicht, da sie eventuell nur in Junos eifersüchtiger Einbildung besteht: Die Göttin staunt, bemerkt, vergleicht, Macht manchen Schluß und glaubt zuletzt zu sehen, Daß Ganymed und ihr geliebter Mann Einander mehr als nötig ist verstehen. (Z. 327-29, vgl. 383-87)
Aber dass Ganymed heterosexuell veranlagt ist, da er angesichts der verführerischen Juno »fast von Lust entseelt« ist, wird vom Erzähler verbürgt und mit Wielands üblicher Bildlichkeit der Rokoko-Erotik ausgemalt (Z. 753-77) – und zum Überfluss erfahren wir, dass ihn ihre »Zofe« Iris bereits verführte (Z. 640-43). So wird die Homoerotik wenigstens in der Person Ganymeds erfolgreich besiegt. Seine Begierde wird in die Sicherheit des
Im Folgenden stehen Zeilenangaben im Text nach dem Abdruck der Erstausgabe in WW IV, S. 118-142. Thomas Lautwein: Erotik und Empfindsamkeit. C. M. Wielands »Comische Erzählungen« und die Gattungsgeschichte der europäischen Verserzählung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1996, S. 145-163. Lautwein begibt sich selbst in Widersprüche, wenn er die angeblich negativen Züge der Juno auflistet und dann beschreibt, wie sie »durch einen witzigen Einfall die Situation zu ihren Gunsten wendet, so daß es dem betrogenen Gatten die Sprache verschlägt« (S. 151) oder von der »Schlagfertigkeit« Junos schreibt (S. 154).
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heterosexuellen Hafens geleitet – wie auch in anderen erotischen Dichtungen des 18. Jahrhunderts, etwa Friedrich Schlegels Lucinde oder Wilhelm Heinses Ardinghello und die glückseligen Inseln. In dieser Perspektive scheint die ›griechische Liebe‹ schlecht wegzukommen. Jupiter als ihr einziger Verfechter wird in ein zweifelhaftes Licht gerückt, der Gegenstand seines Begehrens scheint eher heterosexuell orientiert, und die Frage der Juno, wer den Ganymed »wohl mit besserm Anstand küssen« könne, sie oder Zeus (Z. 860), scheint völlig auf die zeitgemäße Disqualifizierung der Homosexualität als ›unnatürlich‹ oder wenigstens ungebührlich abzuzielen. Die Hetero- oder Bisexualität Ganymeds, eine Innovation in Wielands Bearbeitung des Mythos, lässt die griechische Liebe aber in anderer Hinsicht positiver erscheinen als in anderen Darstellungen. Denn wenn Ganymed sein sexuelles Spiel mit Juno treibt, dann kann er eben kein Knabe im modernen Sinne sein, sondern nur im altgriechischen Sinne eines Jünglings an der Grenze zwischen Kind und Erwachsenem. Damit bricht Wieland entschieden mit der Tradition der Darstellung des Ganymed als Knabe – möglicherweise als erster Dichter (Goethe wird ihm im Gedicht Ganymed hierin folgen).¹⁷ Das lässt das Begehren Jupiters wiederum in vorteilhafterem Licht erscheinen, als bei Wielands Gewährsmann Lukian oder in anderen Quellen, ist er damit doch vom Makel der ›Knabenschändung‹ befreit. Schließlich ist es – wie Derks nahelegt – Wieland hoch anzurechnen, dass er die ›griechische Liebe‹ so frei behandelt und offenbar überhaupt als Erster zum Thema eines Werkes machte. Die zitierte Frage Junos, ob sie oder Jupiter den Ganymed mit besserem Anstand küssen könne, enthält ja eine provokante Parallelisierung der Homosexualität mit der Heterosexualität, die bis in Details der Darstellung von Jupiters Frauenabenteuern und seiner Verführung Ganymeds hineinreicht: das Thema Jugendlichkeit (Z. 117, 571 ff.), die Verführung nach der Mahlzeit Jupiters (Z. 130, 210), der Schwan (Z. 157, 211), die Quelle bzw. der Wasserkrug (Z. 115, 212) sowie das typische Rokokomotiv des /der schlafenden Geliebten (Z. 116, 212). Durch diese demonstrative Parallelisierung von Homosexualität und Heterosexualität sowie überhaupt durch die Aufnahme von Juno und Ganymed in die erotischen Comischen Erzählungen erscheint die ›griechische Liebe‹ als eine sexuelle Variante unter anderen, die Bisexualität als etwas eher Normales. Nun ist aber die Rezeption des Werkes und Wielands Reaktion darauf als ein Rückschlag zu sehen, weil Wieland seine zaghaften Schritte zu einer freieren Darstellung der Homosexualität wieder rückgängig machte.
Vgl. dazu das im Entstehen begriffene Buch des Verfassers über Goethe und die griechische Liebe.
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Der Erfolg der skandalösen Comischen Erzählungen war so groß – das wird unter anderem durch die zahlreichen Raubdrucke verbürgt¹⁸ – dass Wieland bald an einer »zweiten, verbesserten Auflage« arbeitete, die 1768 in drei verschiedenen Drucken erschien. Er zeigte sich bei dieser Umarbeitung ungemein empfindlich gegen Kritik (ein Rezensent bemerkte in der Überarbeitung »eine ausserordentliche Gefälligkeit gegen die Bemerkungen der Kunstrichter«).¹⁹ Er schrieb seinem Verleger Salomon Geßner, »dieses Geseufze und Geheul über die komischen Erzählungen, welches mir von allen Orten und Enden zukommt« verleide ihm das Dichtergeschäft; er suchte einen »Champion«, der beweisen sollte, dass die Comischen Erzählungen doch moralisch seien.²⁰ In der Arbeit an der zweiten Auflage reagierte Wieland auf die »Critik der Berliner« – also der Aufklärer um Friedrich Nicolai, speziell von Thomas Abbt in einer Besprechung in der Allgemeinen deutschen Bibliothek – und hat »etliche hundert Verse durchgestrichen« (WBr 3, S. 431). Juno und Ganymed ist zwar von diesen Kürzungen betroffen, aber nur in geringem Ausmaße,²¹ und (das ist das Entscheidende) wird noch mit gedruckt. Das geschah aber sicherlich nur deswegen, weil die ›griechische Liebe‹ bislang in keiner Rezension Gegenstand der Kritik gewesen war.²² Denn in der nächsten von Wieland autorisierten Ausgabe, nunmehr unter dem Titel Griechische Erzählungen, im zweiten Band der Auserlesenen Gedichte des Jahres 1784, ist die gesamte
Günther u. Zeilinger verzeichnen sieben Nachdrucke zwischen 1775 und 1789, vgl. Wieland-Bibliographie (Anm. 4), S. 111. Unterschrieben »B.«; in Klotz’ Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, Bd. 2 (1768), St. 5, S. 23-32, hier S. 23. 5. Jan. 1767, WBr 3, S. 425 f.; vgl. S. 431, 456. Weniger als 20 Verse wurden gestrichen, und zwar keine aus sittlichen Gründen oder um die homoerotische Thematik zu mildern. Eine Streichung scheint mir jedoch das Erwachsensein des Ganymed zu betonen, nämlich der Verse 470-471, wo es u. a. um die »Unschuld« Ganymeds geht. Vgl. Comische Erzählungen. Zweyte und verbesserte Auflage. O. O. [Zürich] 1768, S. 111. Wieland schrieb zwar am 29. Juni 1768 an Riedel: »Der Recensent, […] der mich wegen meines Ganymed zu beschuldigen scheint, als ob ich den heiligen Ehestand lächerlich machen wolle, ist mit seiner Erlaubniß – ein mal avisé. Ich habe die beste kleine Frau, die jemals gewesen ist und seyn wird […]« (WBr 3, S. 526 f.). Das bezieht sich nach Meinung Siegfried Scheibes auf eine Besprechung, in der behauptet wird, in den Comischen Erzählungen »werden Ehen und Pflichten gespottet« (Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Bd. 1 [1765], St. 2, S. 300-314, hier S. 300; der Verfasser kann nicht Thomas Abbt sein, wie Scheibe behauptet [WBr 6.1, S. 563], denn Abbt schrieb die Rezension für die Allgemeine deutsche Bibliothek). Aber in dieser Bemerkung erwähnt der Verfasser Juno und Ganymed nicht. Allerdings heißt es an einer anderen Stelle: »Endlich finden wir nicht allezeit diejenige Delikatesse drinnen, die wir von einem solchen Dichter erwarten. Wir wollen nicht von der ganzen Erzählung, Jupiter [sic] und Ganymed reden, die unserm Bedünken nach alle Gränzen der Sittlichkeit und Tugend überschreitet, und von dem die Geschichte kaum einen heydnischen Dichter würde zu vergeben seyn […]« (S. 304). Da aber die »heydnischen Dichter« sehr oft die griechische Liebe thematisierten, ist wohl eher die wenig respektvolle Behandlung der sexuellen Abenteuer der Götter überhaupt gemeint.
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Erzählung Juno und Ganymed umstandslos gestrichen. Wieland sprach sich nun dafür aus, sie »auszurotten, wo ich kann«.²³ Wieland begründete dies im Winter 1795 – 96, im Gespräch mit Karl August Böttiger über den Vorwurf, er habe »schlüpfrige« Werke geschrieben: Nur eins meiner frühen Gedichte habe ich deßwegen auf immer verdammt, weil es teuflische Carikatur u. Bordellcharakter hat, Juno und Ganymed. Eine Gräfin, die mir und meiner Freundin [d. h. Christina Hogel; W.D.W.] (bei Stadion) groß Herzeleid zufügte, hatte meine Galle so gereizt, daß sie in diesen Erguß gerieth.²⁴
Ein paar Monate später fällt der Name der karikierten Frau in einem Gespräch, in dem Wieland abstreitet, er habe in sein Werk Anspielungen auf Zeitgenossen aufgenommen: Ich habe eigentlich nur eine Person in meinem Leben gemeint, das ist die Gräfin Schall, Tochter des Grafen Stadion, gegen die ich eine große Wuth hatte, und die ich als Juno figuriren lasse. Aber darum ist mir jetzt das Stück unrein und verhaßt.²⁵
Wielands Behauptung, er habe die Streichung aus Reue über das in der Figur der Juno entworfene satirische Porträt der Gräfin von Schall vorgenommen, einer Tochter des Grafen Stadion, die er auf Schloss Warthausen kennengelernt hatte, überzeugt nicht.²⁶ Schließlich ist die Gräfin als Gegenstand der angeblichen Satire im veröffentlichten Werk überhaupt nicht erkennbar. Das Werk trägt, wie Peter Haischer gegen Wielands Behauptung richtig erkennt, »kaum satirische Züge in diesem Sinne«.²⁷ Außerdem hätte Wieland 1768 denselben Grund für die Streichung gehabt, als er die Überarbeitung vornahm, aber er ließ die Erzählung damals noch drucken. Wieland versuchte mit dieser Behauptung den wirklichen Grund der Auslassung von Juno und Ganymed zu verschleiern, der eher in der Kritik am von Wieland zugegebenen »Bordellcharakter« der Erzählung liegt. Wieland reagierte mit Selbstzensur auf drei Kritiken an Juno und Ganymed, in denen die griechische Liebe angesprochen wird. Erstens
Gespräch mit Sophie Becker am 20. Dez. 1784. In: Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. 3 Bde., Sigmaringen 1987, hier Bd. 2, S. 29. Gespräch vom 26. Nov. 1795; Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Hg. v. Klaus Gerlach u. René Sternke. Berlin 1998, S. 168. Vgl. auch Jens Baggesens Bericht über ein Gespräch mit Wieland am 21. Juli 1793: »Gespräch über Wollust – Entschuldigung nebst Reue über sein Juno und Ganymed – Über Sittlichkeit und Unschuld.« Starnes: Wieland (Anm. 23), Bd. 3, S. 474. Gespräch vom 3. Feb. 1796, Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (Anm. 24), S. 180. Wielands Erklärung wird unbefragt akzeptiert von Sven-Aage Jørgensen (in: Ders. u. a. (Hg.): Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994, S. 58) und Lautwein: Erotik und Empfindsamkeit (Anm. 16, S. 145 f.). Peter Haischer: Artikel »Comische Erzählungen«. In: Jutta Heinz (Hg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. Weimar 2008, S. 181-195, hier S. 184.
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meinte ein Rezensent der 1768 erschienenen zweiten Auflage, der eingehend die Änderungen gegenüber der Erstausgabe besprach, in Juno und Ganymed seien keine »wichtigen Veränderungen« vorgenommen worden. Seine »critische Muse« sei deshalb »sehr zufrieden, sich nicht so lange dabey aufhalten zu dürfen [=müssen; W. D.W.]«, sie sei zwar eben nicht »spröde«, dennoch geht sie mit niedergeschlagenen Augen vor dieser Erzählung vorüber, wie ein sittsames Mädchen, das in einem angenehmen Haine die Bildsäule des GOttes sieht, welcher Die Gärten schützt und ihre jungen Ziegen.²⁸
Mit diesem Hinweis (dabei eine Stelle aus dem Urteil des Paris [Z. 487] aus Wielands eigenen Comischen Erzählungen böse zitierend!) auf den anstößigen Gartengott Priap wendet sich der Rezensent nach wenigen Zeilen den anderen Erzählungen zu. Diese Kritik musste Wieland desto mehr treffen, da dieser Rezensent den Comischen Erzählungen ungewöhnlich wohlwollend gegenüber stand – er rechne sie »zu den Originalwerken und zu den Meisterstücken unserer Dichtkunst«.²⁹ Und wie wir sehen werden, stand der Priap für Wieland geradezu als Symbol für die Überschreitung der Grenzen des guten Geschmacks. Die zweite Kritik war eben der eingangs zitierte Brief Gleims, in dem von der Wirkung der Erzählung auf die bis dahin in homoerotischen Belangen angeblich ahnungslose deutsche Jugend die Rede ist. Der Kontext von Gleims Brief vom 2. Januar 1774 ist entscheidend. Am 6. Dezember 1773 hatte Wieland aus Weimar, wohin er im vorigen Jahr als Prinzenerzieher berufen worden war, an seinen neugewonnenen Briefpartner in Halberstadt über seinen ehemaligen Erfurter Schüler Wilhelm Heinse geschrieben. Der feurige junge Dichter Heinse hatte gerade Petrons berüchtigtes Satyricon unter dem Titel Die Begebenheiten des Enkolp in einer neuen Übersetzung publiziert. Wieland fragte Gleim: P.S. Was sagen Sie zu dem abscheulichen Frevel, den Heinse durch seinen Encolp wider unsre Göttin Kalokagathia³⁰ und Ihre Grazien begangen hat? Hätte der Unglückliche nur das vom Petron übersezt, was ehrliche Leute lesen können, und hätte dies desto besser gemacht und poliret, so hätte er ein gutes Werk gethan! Aber nun – und seine unausstehlichen Noten! – seine öffentlich profitirete Asotie!³¹ – Der Elende! Wo ist er? Ist er würckl. nach Italien gegangen, den Vaticanischen Apollo mit profanen Augen zu verunreinigen?³² Der Rezensent »B.« (vgl. Anm. 19), S. 29 f. Ebd. S. 32. »Im alten Griechenland Bezeichnung des Wesens, der Eigenschaften und Tugenden eines schönen und guten Mannes (kalos kai agathos); bereits früh zur Göttin personifiziert« (WBr 6.3, S. 1264). »Asotie« von lat. asotus, Wüstling. WBr 5, S. 187 f. – Zum Vatikanischen Apoll: Am Ende des Vorworts hatte Heinse geschrieben: »Geschrieben in Augsburg im May 1772 während meiner Reise nach Italien, um
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Die Ironie will es, dass diese Kritik Wielands an Heinses erotischem Werk in vieler Hinsicht die vorangegangenen Angriffe gegen Wielands eigene erotische Dichtungen wiederholt, auf die er zunächst mit Kürzungen – aber nicht wegen der homoerotischen Thematik – für die 1768 erschienene zweite Auflage reagiert hatte. Jetzt aber, im Jahre 1774, ging es zum Teil um das Thema Knabenliebe. Ganz abgesehen vom Gegenstand des homosexuell aufgeladenen Satyricon hatte Heinse nämlich in einer Einleitung zu seiner Petron-Übersetzung die Homosexualität verteidigt, wenn auch mit einem ironischen Rückzieher am Schluss. Und dort hatte er Wieland erheblich bloßgestellt, indem er ihn dreimal namentlich erwähnte und nicht nur Agathon, sondern auch »komische Erzählungen« als mustergültige Werke anpries – und zwar wenige Zeilen vor seiner Auseinandersetzung mit der »Knabenliebe« (in einer späteren Ausgabe dezent zu »K***liebe« zensiert).³³ Heinse, der um diese Zeit in Halberstadt als Gast Gleims weilte, ließ Wieland Verse zukommen, die dieser als sehr anstößig empfand und an Gleim schickte mit einem gehässigen Brief, in dem er den jungen Dichter und dessen »unglüklichen Priapismus« im heftigsten Ton verurteilt: Vom Helvetius, nicht von Sokrates, hat der Unglückliche, dessen ganze Seele ein Priap ist, gelernt, daß das Moralische Schöne nur eine Schimäre sey. Ich kan Ihnen nicht ausdrücken, wie sehr mir ekelt, diesen Satyr, (der sich bekehrt zu haben rühmt, da er statt Ganymede anzufallen [!], nun die Grazien nothzüchtigt) von Grazien reden zu hören, ihn, der nicht weiß, nicht fühlt, daß die Keuschheit eine Grazie ist.³⁴
Auch hier steht die griechische Liebe unter dem Stichwort »Ganymede« im Vordergrund. Das war auch in der Kritik an Heinses Übersetzung hervorgehoben worden, etwa in Schirachs Magazin der deutschen Critik, wo der Rezensent behauptete, dass Heinse »ein schriftliches Bordell hat errichten wollen«, damit Wielands späteres zerknirschtes Wort vom »Bordellcharakter« der Juno und Ganymed präludierend. »Sind die Stellen von der unnatürlichen Knabenliebe im Petron etwa so wichtig,« fragt der Rezensent, »daß sie in einer deutschen Uebersetzung mußten bekannter gemacht werden?«³⁵ Diese Kritik wurde dann von einem zweiten Rezensenten verstärkt.³⁶ Es ist daher verständlich, dass Wieland sich den Winkelmannischen Apollo zu betrachten.« Die Petronübersetzung Wilhelm Heinses. Quellenkritisch bearbeiteter Nachdruck der Erstausgabe mit textkritisch-exegetischem Kommentar. Hg. v. Wilhelm Hübner. 2 Bde. Frankfurt/M. 1987, Bd. 1, S. 48; Kommentar Bd. 2, S. 70 f. Die Petronübersetzung Wilhelm Heinses (Anm. 32), Bd. 1, S. 27; Bd. 2, S. 18. 22. Dez. 1773, WBr 5, S. 212. Die Petronübersetzung Wilhelm Heinses (Anm. 32), Bd. 2, S. 34 Der anonyme Rezensent zitiert die Schirachsche Rezension und schreibt: »[…] warum erwog er [d. h. Heinse; W. D.W.] denn nicht, welchen unersetzlichen Schaden sein Buch bei manchem Jünglinge stiften kann, der an gewisse Laster vielleicht nie gedacht hätte,
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durch Heinses Nennung der Comischen Erzählungen im Zusammenhang mit »Knabenliebe« verletzt fühlte: »Wenn Heinse, um solche Unflätereyen zu rechtfertigen sich auf meine komischen Erzählungen beruft, so muß er gar kein Discernement haben; und so ist es auch«, schrieb er an Gleim.³⁷ Wieland reagiert allergisch gegen die Vorstellung, die homoerotische Thematik in seiner Erzählung Juno und Ganymed könnte Heinse zu seiner skandalösen Petron-Übersetzung begeistert haben. Gleims Antwort, in seinem eingangs zitierten Brief, war ein inständiges Plädoyer für den »armen Heinse«, wobei er Wieland den Widerspruch zu seinem früheren Werk ins Gewissen rief. Das Fazit: Heinse hatte Wielands Juno und Ganymed mit seiner Verteidigung der »Knabenliebe« in Verbindung gebracht; Gleim berichtet über den »Vorwurf«, Juno und Ganymed sei für die angebliche Mode der Knabenliebe in Deutschland verantwortlich. Dies wird Wieland schwer getroffen haben, und zwar zu einem Zeitpunkt, da im ›Sturm und Drang‹ Angriffe auf homoerotische Tendenzen Wellen machten. Nicht zuletzt wurde Gleim selbst wegen seines mit Küssen bestickten Briefwechsels mit Johann Georg Jacobi (unberechtigt) zum Opfer der neuen homophoben Aggressivität.³⁸ Und der Angriff – es ist die dritte Kritik an der griechischen Liebe in Juno und Ganymed – geschah vor allem in einem Werk, in dem nicht nur Wieland mit Jacobi in Verbindung gebracht wurde, sondern in dem auch wieder das Thema Ganymed im Zusammenhang mit Wieland erörtert wurde: Goethes 1774 erschienene Satire Götter, Helden und Wieland. Hier fragt Merkur: »Wer ist dieser Wieland?«, worauf die Antwort vom Literator kommt: »Hofrat und Prinzenhofmeister zu Weimar«. Daraufhin Merkur: »Und wenn er Ganimeds Hofmeister wäre sollt er mir her.«³⁹ Das kleine Drama Goethes war eine scharfe Attacke gegen den auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stehenden Wieland, und mit der Nennung des Erbprinzen Carl August von Weimar auch ein schier unglaublicher Affront gegen diesen, den Goethe bald auch bereuen sollte. Aber was bedeutet hier eigentlich der Ausdruck »Ganimeds Hofmeister«, den keine Goethe-Ausgabe kommentiert? Es gibt zwei Möglichkeiten zur Erklärung für Goethes Absicht. »Hofmeister« konnte natürlich eine pädagogische
wenn er nicht die Art ihrer Ausübung von ihm gelernt hätte?« Übersetzungsbibliothek. Zum Gebrauch der Übersetzer, Schulmänner und Liebhaber der alten Literatur, von J. A. Schummel. Wittenberg 1774, S. 208-211; zit. nach Die Petronübersetzung Wilhelm Heinses (Anm. 32), Bd. 2, S. 41. WBr 5, S. 211 f. Im Kommentar wird leider nicht auf die »Berufung« auf die Comischen Erzählungen in Heinses Vorwort zur Petronübersetzung hingewiesen (WBr 6.3, S. 1275). Vgl. W. Daniel Wilson: »But is it Gay? Kissing, Friendship and ›Pre-Homosexual‹ Discourses in Eighteenth-Century Germany«. In: Modern Language Review 103 (2008), S. 767-783. MA 1.1, S. 683.
W. Daniel Wilson
Komponente implizieren, so dass Goethe vielleicht auf die Beziehung zwischen Liebhaber (erastēs) und jüngerem Geliebten (erōmenos) in der paradigmatischen erotischen Situation der ›griechischen Liebe‹ anspielt: Der etwas ältere Liebhaber erbrachte in der Tat »pädagogische« Leistungen, eben eine informelle Ausbildung in den Fähigkeiten, die für den Eintritt ins öffentliche Leben der polis erforderlich waren. Und das geschah natürlich als Gegenleistung für Sex mit dem »Ganimed«. Wie wir sahen, wurde »Ganymed« als Bezeichnung für einen sexuell begehrten Jugendlichen bzw. einen jüngeren homoerotischen Liebhaber verwendet – etwa in Wielands Geschichte des Agathon.⁴⁰ Näher liegt jedoch eine andere Deutung, die eine raffinierte Anspielung voraussetzt. Im 5. Buch der Äneis beschreibt Virgil einen mit Gold bordierten Umhang, der dem Sieger in einem Bootsrennen als Preis zuerkannt wird. Darauf befindet sich folgende gestickte Szene (in der 1799 erschienenen Übersetzung von Johann Heinrich Voß): Eingewirkt ist der Knabe des Königes [=Ganymed; W. D.W.], wie er in Idas Waldungen flüchtige Hirsche mit Lauf abmüdet und Wurfspieß, Feurig, dem Atmenden gleich, den rasch vom Ida zum Himmel Auf mit kralligen Klaun Zeus Waffenträger geraubet; Dort zu den Sternen erheben die Hände hochaltrige Hüter, Ach umsonst, und es wütet der Hund’ Anbellen zur Luft auf.⁴¹
Der Ausdruck »hochaltrige Hüter« heißt im Original »longaevi […] custodes« (5. Buch, Z. 256 f.). Für »custos« wäre das Wort »Hofmeister« eine geeignete Übersetzung: Es bezeichnete im 18. Jahrhundert bekanntlich einen Hauslehrer. Im Zusammenhang mit »Ganimed« könnte »Hofmeister« aber den paidagōgos meinen, den Sklaven, der im alten Athen die Aufgabe hatte, den vornehmen Jugendlichen vor lüsternen Werbern zu schützen. Das Wort paidagōgos sollte eigentlich keinen ›pädagogischen‹ Aspekt im modernen Sinne beinhalten, aber das hielt die Übersetzer nicht ab, es mit ›Hofmeister‹ wiederzugeben, zum Beispiel im späteren Wörterbuch von Goethes Freund Friedrich Wilhelm Riemer. Dort wird auch darauf hingewiesen, dass Horaz »paidagōgos« mit »custos« wiedergegeben habe.⁴² Nun musste dieser Hüter wenigstens vierzig Jahre alt sein, um Vgl. Anm. 3. Des Publius Virgilius Maro Werke in drei Bänden. Übersetzt von Johann Heinrich Voß, Braunschweig 1799, Bd. 2: Äneis, hier 5. Buch, Z. 252-258. »Παιδαγωγός […] Führer, Begleiter, des Kindes od. Knaben; Hofmeister, Erzieher, Lehrer junger Leute, od. Söhne vom Hause; bey Horaz custos; gew. ein Sclav, δεράπων, der den Junker (sic! vrgl. χύριος) überall, auch in die Schule begleitete, ihn vor Verführung bewahrte, u. ihm Anstand u. gute Sitten beybrachte […]« Griechisch-Deutsches Wörterbuch für Anfänger und Freunde der griechischen Sprache. Ausgearbeitet von Friedrich Wilhelm Riemer […]. 2 Bde. Vierte rechtmässige, vermehrte und verbesserte Auflage. Jena 1823, Bd. 2, S. 430. Vom Deutschen ins Griechische übersetzt hat ein anderes Wörterbuch den
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selbst angeblich nicht mehr am geschützten Knaben sexuell interessiert zu sein (!).⁴³ Wieland war aber zum Zeitpunkt der Niederschrift von Goethes Werk gerade vierzig Jahre alt geworden – heißt es doch im Stück selbst (etwas ungenau), er sei »in seinem vierzigsten Jahr«.⁴⁴ Diese Anspielung enthält also einen bösen kleinen Witz: Wieland, der abgelebte Vertreter einer älteren Dichtergeneration und Hauslehrer des Erbprinzen Carl August von Weimar, habe nicht mehr die Potenz, Frauen oder Jünglinge zu verführen. Die außerdem anklingende Anspielung auf Lenzens Drama Der Hofmeister (1774), das Goethe im Manuskript kannte,⁴⁵ deutet mit der Selbstkastration des Protagonisten gleichfalls auf das Thema der Impotenz. Jedenfalls wird deutlich auf Wielands Erzählung Juno und Ganymed angespielt, zu dem sich Wieland bis dahin noch gar nicht öffentlich als Verfasser bekannt hatte, dessen Autorschaft in der Öffentlichkeit aber kein Geheimnis war. Kann es aber auch sein, dass Goethe mit »Ganimed« eine bestimmte Person meinte? Der beste Kandidat dafür wäre sicherlich Heinse. Dessen Petron-Übersetzung, die Wieland so heftig verurteilte, wurde kurz vor der Entstehung von Götter, Helden und Wieland publiziert; Goethe kannte sie und begrüßte enthusiastisch ihr »Eingreifen« ins literarische Leben.⁴⁶ Eintrag: »Hofmeister, der, für Kinder, Παιδαγωγός.« Joh[ann] Franz: Deutsch-Griechisches Wörterbuch zunächst zum Schulgebrauche […]. 2 Bde. Leipzig 1838, Bd. 1, Sp. 1285. Vgl. Davidson: The Greeks and Greek Love (Anm. 8), S. 69. MA 1.1, S. 692. Im Oktober 1772 schickte Lenz das Manuskript des Werkes an Johann Daniel Salzmann, der es sofort an Goethe weiterschickte. Vgl. Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. Frankfurt/M. 1989, S. 114; Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. München 1987, Bd. 1, S. 708. Die Dokumente stammen zwar aus dem Jahr nach der Entstehung von Götter, Helden und Wieland, zeugen aber von früherer Kenntnis der Übersetzung: »Heinse den Sie aus der Übersetzung des Petrons kennen werden, hat ein Ding herausgegeben des Titels: Laidion oder die eleusinischen Geheimnisse. Es ist mit der blühendsten Schwärmerey der geilen Grazien geschrieben, und lässt Wieland und Jakobi weit hinter sich, obgleich der Ton und die Art des Vortrags, auch die Ideen Welt in denen sich’s herumdreht mit den ihrigen coinzidirt.« Goethe an Schönborn, Frankfurt, 4. Juli 1774, Johann Wolfgang von Goethe: Briefe. Hg. v. Karl Robert Mandelkow u. Bodo Morawe. 4 Bde. Hamburg 1962 – 1967, Bd. 1, S. 164. Vgl. auch Heinses Brief vom 13. Oktober 1774 an Klamer Schmidt: »Göthe sagte: es [d. h. Heinses Laidion, W. D.W.] wird schon eingreifen, so wie die Vorrede zum Petron« – in der die Homosexualität ironisch verteidigt wurde (Goethe: Begegnungen und Gespräche. Hg. v. Ernst Grumach u. Renate Grumach. Bisher 6 Bde. Berlin 1965 ff., im Folgenden zitiert mit der Sigle BG, Bd. 1, S. 281; vgl. S. 277 ff.). Die Herausgeber der Sophienausgabe (in diesem Fall: Woldemar Freiherr von Biedermann und Carl Schüddekopf ) deuten diese Stelle, Hinweisen von Max Morris folgend (Der junge Goethe. Hg. v. Max Morris. 6 Bde. Leipzig 1909 – 1912, Bd. 4, S. 138; Bd. 6, S. 381), als Heinses Bericht über eine schriftliche Aussage Goethes (Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in IV Abt. Weimar 1887 – 1919. Abt. IV, Bd. 2, S. 323; Bd. 30, S. 253). Diese Interpretation würde die
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Goethe wird durch verschiedene Freunde, besonders Friedrich Jacobi, gewusst haben, dass Heinse Wielands Schüler in Erfurt gewesen war, und die Kombination mit Heinses Verteidigung der Homosexualität im Vorwort zur Petron-Übersetzung konnte hinreichen, um Wieland »Ganimeds Hofmeister« zu nennen. Ob Goethe wirklich auf all diese Assoziationen zielte, ist unsicher – war er doch angeblich »trunken«, als er diese »Posse« schrieb.⁴⁷ Für Wieland war all das jedenfalls ein Ärgernis. Insbesondere Heinse stellte für ihn jedoch in poetologischer Hinsicht ein ganz konkretes Ärgernis dar. Der jüngere Dichter, der sich 1774 wieder an ihn drängte, war durch seine erotischen Schriften eine Mahnung an den Wieland der 1760er Jahre, der vielleicht ebensowenig wie Heinse die Linie zwischen dezenter, eleganter Rokokoerotik und Pornographie zu beachten wusste, also das ehrwürdige Prinzip des decorum. Wieland schrieb am 22. Dezember 1773 an Gleim: »Lehren Sie ihn«, also Heinse, »die moralische Schönheits Linie kennen; lehren Sie ihn, daß die Mysterien der Natur und Liebe nicht aufgedekt werden müssen [d. h. »dürfen«; W. D.W.], und daß man die Grazien nicht stupriren [= schänden, vergewaltigen; W. D.W.] muß, um ihnen ein Opfer zu bringen.«⁴⁸ Dasselbe Prinzip hatte Wieland aber selbst erst lernen müssen. Denn aus den Comischen Erzählungen beispielsweise musste er damals für die zweite Auflage nicht nur viele Stellen nach der schon erwähnten »Critik der Berliner« an »pöbelhaften Ausdrücken«⁴⁹ ändern, sondern schon aus der Erstfassung musste er nach der Kritik Salomon Geßners eine nicht erhaltene, wohl in allen Details ausgemalte Beschreibung des Verkehrs der Europa mit dem in einen Stier verwandelten Jupiter noch vor der Drucklegung streichen. Wieland versucht zwar auf einer ganzen Briefseite, »diese Stiermäßige amourette« gegen Geßners Kritik zu verteidigen und zu erklären,⁵⁰ aber nach weiteren Einwänden
Authentizität der Bemerkung erhöhen. Fischer-Lamberg ist jedoch der Meinung, dass es sich um eine mündliche Aussage handelt (Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe [...]. Hg. v. Hanna Fischer-Lamberg. 5 Bde. Berlin 1963 – 1973, Bd. 4, S. 334). Heinse verehrte Goethe, wie Friedrich Jacobi in Briefen an Goethe und Wieland berichtet (26. August 1774, Briefe an Goethe. Hg. v. Karl Robert Mandelkow. 2 Bde. Hamburg 1965 / 1969, Bd. 1, S. 31-34, bes. S. 34; an Wieland, 27. August 1774, WBr 5, S. 286) und Heinse selbst an Gleim schreibt (13. September und 13. Oktober 1774, BG 1, S. 286). BG 1, S. 252. »Posse«: Dichtung und Wahrheit, III, 5; MA 16, S. 692. WBr 5, S. 212. Zur »moralischen Schönheits Linie« kommentiert Scheibe: »Von Polykletus formuliert; vgl. Wielands Erwähnung in seinen ›Gedanken bey einem schlafenden Endymion‹ […]« (WBr 6.3, S. 1275). [Thomas Abbt] Rez. von Comische Erzählungen. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1, 2 (1765), S. 215-227, hier S. 215. An Geßner, 29 Aug. 1764, WBr 3, S. 297 (Geßners Brief mit seiner Kritik ist leider nicht überliefert). Die gestrichene Europa-Episode muss nach der Stelle gewesen sein, in der die Geschichte von Leda und dem Schwan gestreift wird (Z. 157-67).
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Geßners entschließt er sich, sie ganz zu streichen.⁵¹ Die Linie zur Pornographie überschritten zu haben, war dann auch die logische Schlussfolgerung aus dem Bericht seines Schweizer Freundes Johann Georg Zimmermann, die Lektüre der nunmehr gedruckten Erzählungen habe ihm »Erectionen« gemacht.⁵² Auf diese Nachricht hin scherzt Wieland in einem Brief an Zimmermann zunächst über die deswegen zu befürchtende onanische Wirkung »bey Knaben von 18 Jahren, […] bey vorwitzigern Mädchen, übel versorgten Weibern, und untröstbaren Wittwen«, aber dann heißt es »im Ernst«: »ich dachte nicht so weit«, und er beteuert: »ich versichre Ihnen daß Sie mit diesem eintzigen Wort [also »Erectionen«; W. D.W.] eine ganze Reyhe von Embryonen comischer Erzählungen in meinem Kopf abgetrieben haben«. Mit diesem Bild der Abtreibung setzt Wieland das Motiv der Sexualität ohne Reproduktion fort. Und dann heißt es resümierend über die Kritik an seinen Werken: »Seit dem ich mir selbst einige ernsthafte Vorwürfe zu machen habe, bin ich so empfindl. gegen den öffentlichen Beifall worden als ich ehmals gleichgültig dagegen war.«⁵³ Resigniert schreibt er an Riedel nach Erscheinen der gereinigten zweiten Auflage 1768: »Sie sehen, wie viel ich dem Geschmack und der honnetété publique darin aufgeopfert habe«.⁵⁴ Mit der Überarbeitung der Erzählungen und auch Juno und Ganymed hatte Wieland aber noch nicht genug aufgeopfert. Auf den Brief Gleims, in dem Juno und Ganymed für eine Blüte homoerotischer Kultur in Deutschland verantwortlich gemacht wurde, auf die Rezension, die das ganze Thema der Erzählung als priapisch kritisierte, und auf die Satire Goethes, in dem ein Zusammenhang Wielands mit ›griechischer Liebe‹ und möglicherweise mit Heinse suggeriert wurde, der seinerseits Wieland hoch gelobt und im selben Atemzug die Homosexualität öffentlich verteidigt hatte, der außerdem auch literarisch als Schüler Wielands auftrat – auf all das reagierte Wieland mit der restlosen Ausmerzung der Erzählung aus seinem Œuvre nach 1784. Der Europa-Episode erging es genauso. In ihr war eine (neben Homosexualität) andere Art der Sodomie zur Darstellung gekommen, wie sie im 18. Jahrhundert definiert wurde, also der Sexualverkehr mit Tieren. Auch das Skandalon der Onanie schreckte Wieland ab. Alle drei Phänomene – Geschlechtsverkehr mit Tieren, Homosexualität und Onanie – waren, zusammengefasst als »Sodomie«, im
»Beym Wiederlesen habe ich Ihr Urtheil von der episodischen Stier-Liebe im Ganymed nur gar zu gegründet gefunden. Diese Episode ist erstlich ein hors d’œuvre, zweytens zum Eckel weitläufig, drittens an sich selbst ärgerlich, und viertens an einigen Orten übel gemalt.« An Geßner, 29 Sept. 1764, WBr 3, S. 302. An Zimmermann, 27. Juni 1765, WBr 3, S. 345. Die folgenden Zitate ebd. Ebd. Andere Briefstellen, in denen die Empfindlichkeit gegen Kritik zum Ausdruck kommt: WBr 3, S. 435, 445, 455, 466. 2. Juni 1768, WBr 3, S. 521.
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christlichen Glauben und weitgehend auch in der Gesetzgebung im säkularen 18. Jahrhundert als Phänomene nichtreproduktiver Sexualität verpönt.⁵⁵ Diese galt es aus dem Werk zu beseitigen. Die herrschende Moral hatte die Oberhand gewonnen. Und so blieb es auch: Wieland kam nie wieder in den Ruf, irgend etwas auch nur annähernd Positives über die griechische Liebe zu schreiben. Ein kurzer Blick auf die Auswirkungen der homosexuellen Thematik im klassischen Weimar zeigt, dass Wieland entgegen seiner Absicht auf den Herzog Carl August wirkte. Am 11. Dezember 1780 schreibt Carl August in einem noch ungedruckten Brief an seinen engen Freund Carl Ludwig von Knebel, er habe sich mit der »Lucianischen Ubersetzung« Wielands befasst: »Ich laß eben seine Vorrede vor der Ubersetzung, u. würckl. es deucht mir, daß diese mit interressanter deutlicheren Begriffen angefüllet ist, als alle seine neueren Fürtze.«⁵⁶ Ganz abgesehen von dieser drastischen Beurteilung der neueren Schriften Wielands – der derbe Ausdruck lässt darauf schließen, dass der Herzog nicht die neueren poetischen Werke wie Oberon, sondern die Aufsätze im Teutschen Merkur meint – fällt auf, dass Wieland schon 1780 an der Übersetzung arbeitet, und nicht erst 1786, wie bisher angenommen.⁵⁷ Jedenfalls geht aus diesem Zeugnis hervor, dass Wieland dem Herzog Lukian nahegebracht hatte – ob zum ersten Mal, ist nicht feststellbar. Und die Anregung wirkte nach. Da Wielands Übersetzung natürlich noch nicht vollständig war, griff der offenbar neugierig gemachte Carl August zur bekanntesten französischen Lukian-Übersetzung, von Nicolas Perrot d’Ablancourt (1606 – 1664) – die sich in Wielands, Goethes und Carl Augusts eigener Bibliothek befand.⁵⁸ Weniger als
Vgl. den Artikel »Sodomie« in: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden […]. 64 Bde. Halle, Leipzig: Johann Heinrich Zedler, 1732 – 1750, hier Bd. 38 (1743), Sp. 328-335. Goethe- und Schiller-Archiv 54/VII, 2, 3a, Bl. 20r. Julius Steinberger behauptet, Wieland »kann […] erst im Laufe des Jahres 1786 mit der Lucian-Übersetzung begonnen haben.« (Wielands Jugendjahre, Anm. 14, S. 10). – Mit der »Vorrede vor der Ubersetzung« meint Carl August wohl nicht die Darstellung von Lukians Leben, die im ersten Band erscheinen sollte, denn diese hätte Wieland sicherlich nicht als »Vorrede« bezeichnet. Gemeint war gewiss die Vorrede vor den Göttergesprächen im 2. Band mit ihrer aufklärerischen, antireligiösen Tendenz, der sich der in solchen Fragen liberal gebende Herzog mühelos anschließen konnte. Das Exemplar der Ausgabe aus dem Jahre 1709, das sich in der herzoglichen Bibliothek befunden hatte, war ein Verlust beim Brand in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Jahre 2004, so dass keine Benutzungsspuren überprüft werden konnten. Die dort noch vorhandene 5. Auflage aus dem Jahre 1763 enthält kein Variantenverzeichnis von d’Ablancourt und kann also nicht die von Herzog Carl August zitierte Ausgabe sein. Im handschriftlichen Catalogue raisonnée de la Bibliotheque [sic] de son Altesse serenissime madame Anne Amelie Princesse de la maison de Brusvik, et Duchesse douariere de Weimar et Eisenac ec. 1776. in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek sind im »Zuwachs von Büchern seit dem Jahre 1776« folgende Lukian-Ausgaben verzeichnet: »Luciani Opera.
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zwei Monate nach dem oben zitierten Brief an Knebel schreibt nun Carl August ein zweites Mal an diesen: Ein bon mot von D’Ablancourt will ich Dir mittheilen: An einer gewißen stelle sagt Jupiter vom Ganymed, qu’il vouloit lui donner dix baisers. Da sagt nun der Ubersetzer in einer Note (denn wie bekant zeigt er immer wo er mit unter vom Grundtext abgewichen ist) il n’y a dans l’original que deux baisers, mais dix ont plus de force.⁵⁹
Die von Carl August angeführte Stelle entstammt dem oben, als Quelle für Juno und Ganymed erwähnten 5. Göttergespräch Lukians, in dem Jupiter und Juno einen erhitzten »ehliche[n] Wortwechsel« über Ganymed führen. In d’Ablancourts Übersetzung endet das Gespräch damit, dass Jupiter zu Juno sagt, »Fay-toy seruir par Vulcain, si tu n’és pas bien-aise de voir Ganymede; mais pour moy, ie veux qu’il me presente à boire, & qu’il me donne à chaque fois dix baisers. Ne pleure point, mon mignon, ie feray repentir toux ceux qui s’attaqueront à toy.« In seinem Kommentar, »Remarqves svr la Tradvction de Lvcien«, schreibt d’Ablancourt zur Stelle »dix baisers«: »il n’y a que deux en Grec, mais cela fait plus de force.«⁶⁰ Die Tatsache, dass Carl August ungenau zitiert – vor allem: die Küsse stammen (nach dem Wunsch Jupiters) von Ganymed, nicht von Jupiter – zeigt, dass er aus dem Gedächtnis zitiert. Sicherlich ging die Anregung zur Lukian-Lektüre von Wieland aus. Nach dem bisherigen Befund ist Tom. II. Mitaviae 1776. 8.«, also Bd. 2 einer von Johann Peter Schmidt herausgegebenen siebenbändigen, griechisch-lateinischen Ausgabe, und »Luciano, Dialoghi. Venezia 1527«. Wielands Exemplar einer 1694 erschienenen Ausgabe der d’Ablancourt-Übersetzung wurde nach seinem Tod versteigert, ist aber im Auktionskatalog verzeichnet: Verzeichniß der Bibliothek des verewigten Herrn Hofraths Wieland welche den 3. April 1815 und die folgende Tage […] zu Weimar öffentlich versteigert werden soll. Weimar 1814, Nr. 295. Goethes Exemplar aus dem Jahre 1670 (in seiner Bibliothek, Goethe-Nationalmuseum) trägt keine Marginalien an der von Carl August angeführten Stelle, wohl aber an anderen Stellen. Goethe-Schiller-Archiv 54/VII, 2, 3a, Bl. 97 (Briefe Carl Augusts an Knebel, ehemals im Großherzoglichen Hausarchiv im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar). Datiert »d. 3ten Februar.« Zur Datierung auf das Jahr 1781: Carl August lässt dem Brief ein eigenes Gedicht vorausgehen, in dem er schreibt, er leide an einem Kater nach dem »Vauxhalltanze« am Vorabend mit »Nordlicht«, er müsse heute zum Glück nur »Wielands Sohnlein [sic] taufen«. Unter dem 2. Februar 1781 steht im Fourierbuch des Weimarer Hofes der Eintrag: »Heute Abend war die 5te Redoute« (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Hofmarschallamt 4530, Bl. 13r); es handelt sich um den von Goethe inszenierten Maskenzug zum Geburtstag der Herzogin (am 30. Januar), bei dem sein Gedicht »Ein Zug Lappländer« mit Nordlicht-Motiven (MA 2.1, S. 496), auf einem »rosafarbenem Seidenband gedruckt«, der Herzogin überreicht wurde (MA 2.1, S. 734). Starnes: Wieland (Anm. 23), Bd. 1, S. 693, bestätigt die Taufe von Wielands Sohn Wilhelm August in der Hofkapelle am 3. Februar 1781 mit dem Herzog und der Herzoginmutter als Paten. LVCIEN DE LA TRADVCTION DE N. PERROT SR D’ABLANCOVRT: DIVISÉ EN DEVX PARTIES. SECONDE EDITION REVEVE ET CORRIGÉE. Paris: Augustin Courbé, 1655, Bd. 1, S. 73ff., 652.
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es kaum denkbar, dass Wieland den Herzog speziell auf die Lektüre des 5. Göttergesprächs aufmerksam machte, obwohl Wieland am Anfang des Briefes in anderem Zusammenhang erwähnt wird. Es hat also den Anschein, dass hier eine gegen Wielands Absicht auftretende, die Knabenliebe betreffende Wirkung seiner literarischen Tätigkeit vorliegt. Dasselbe gilt für Heinses Lob der Erzählung Juno und Ganymed als eines der beiden »vortreflichste[n]« Werke Wielands.⁶¹ Diese Deutung wird durch Wielands Selbstzensur der eigenen Lukian-Übersetzung bestätigt.⁶² Denn er übersetzte mitnichten Sämtliche Werke Lukians in seinem sechsbändigen Opus. Eines der wenigen Werke, die er nicht übersetzte, beschreibt er in seinem grundlegenden Aufsatz Gedanken über die Ideale der Alten (1777), wenn er die berühmte Venusstatue des Praxiteles in Knidos erörtert: Aber sie flößte nicht nur Erstaunen und Bewunderung, nicht nur Liebe – sie flößte auch Begierden ein. Aristenät, oder wer der Verfasser der unter Lucians Namen fälschlich gehenden Liebesgötter ist, läßt die beiden Jünglinge, deren Reise nach Knidos er in diesem Dialog beschreibt, beim Anblick dieses Bildes beinah von Sinnen kommen, und den einen (sonst einen hartnäckigen Ketzer in Liebessachen) schier zum Stein erstarren, wie er die Göttin von derjenigen Seite beschaut, von welcher auch die Mediceische Venus vor Herrn Smollets Augen Gnade fand.⁶³
Wielands typisch gewundene Anspielung auf den Reisebericht des schottischen Dichters Tobias Smollett soll dem Leser (un)deutlich machen, dass es sich um den Hintern der Venus handelt. Die beiden »Jünglinge« sind der Heterosexuelle Charicles, der die Statue bestaunt und küsst, und der Homosexuelle Kallikratidas, der sich für die Teile der Statue interessiert, die »einen Knaben zieren« würden, und sie begeistert mit dem Hintern Ganymeds vergleicht. Letzterer, der Homosexuelle, ist es also, den Wieland als »einen hartnäckigen Ketzer in Liebessachen« bezeichnet – sicherlich kein freundlicher Ausdruck. Diese berühmte Szene stammt aus den »Liebesgöttern«, den Erotes, die Wieland also (wie auch heute viele Wissenschaftler) nicht für ein Werk Lukians hielt. Doch nach Wielands eigenem Zeugnis war das nicht der Grund dafür, dass er die Erotes nicht in seine Ausgabe aufnahm. Denn am Schluss des sechsten Bandes schrieb er, dass seine sechs Bände nicht nur von den sämtlichen ächten Werken Lucians, sondern sogar von denen, die ihm mit Ungewißheit oder gar fälschlich zugeschrieben werden, Alles enthalten, was einer Uebersetzung fähig oder nicht ganz unwürdig war. Der
An Gleim, 19. März 1773; Starnes: Wieland (Anm. 23), Bd. 1, S. 575. Vgl. den Beitrag von Michael Weißenberger im vorliegenden Band. WW III, S. 391 (die Anspielung auf die Erotes wird im Kommentar von Fritz Martini und Reinhard Döhl nicht erklärt). Vgl. dazu Derks: Päderastie (Anm. 1), S. 243.
Ein hartnäckiger Ketzer in Liebessachen
Unübersetzlichen habe ich unter allen Schriften die seinen Nahmen tragen (ausser einem einzigen Hetärengespräche) nur viere gefunden.⁶⁴
Darunter seien drei grammatische Werke, die für des Griechischen Unkundige nicht zur Übersetzung geeignet seien, und zum vierten versichert er eben, dass der Dialog, der den Titel Erotes (die beyden Liebesgötter) führt, der fast allgemeinen Meynung der Gelehrten und meiner eigenen Ueberzeugung nach, Lucians zu unwürdig ist, als daß er vor dem Richterstuhl des Geschmacks und der Billigkeit von der Beschuldigung, der Vater eines solchen Zwitters oder Wechselbalges zu seyn, nicht loßgesprochen werden sollte. Gesetzt aber auch, daß er es gewesen wäre, so brauche ich denen, die nicht schon wissen von was für Liebesgöttern in diesem Dialog die Rede ist, nur zu sagen, daß der Hauptinhalt desselben mit dem Sujet des berüchtigten Capitolo del Forno, das der gute Erzbischoff von B[e]nevent Johann la Casa zu verantworten hat, ziemlich einerley, aber ohne Vergleichung weniger verschleyert, und, mit Einem Worte so anstößig ist, daß ausser den lateinischen Übersetze[r]n, noch niemand, meines Wissens, unverschämt genug gewesen ist, sich mit der Dollmetschung desselben zu beschmutzen.
Der Ausdruck »unübersetzlich« wird von Manuel Baumbach im Sinne der »konsequenten Ausblendung von derb-erotischen Stellen« interpretiert.⁶⁵ Aber es handelt sich bei den Erotes um das klassische Werk, in dem die Vorzüge der heterosexuellen und der homosexuellen Liebe debattiert werden. Wielands kräftige Ausdrucksweise verrät hier eine allergische Reaktion auf das für ihn peinlich gewordene Thema der Homosexualität. Mit einer weiteren undurchsichtigen Anspielung auf das die Homosexualität streifende Werk des Erzbischofs Giovanni della Casa (1503 – 1556) bleibt Wieland, wie mit der Anspielung auf Smollett, nicht nur beim Prinzip der Unübersetzbarkeit, sondern auch der damals schon etwas altmodisch gewordenen Unnennbarkeit der ›griechischen Liebe‹ – traditionell sollte sogar bei Hinrichtungen von Sodomisten »niemalen […] in den Urtheln dasjenige, so Aergerniß geben möchte, öffentlich abgelesen werden«.⁶⁶ Dass mehr die homoerotische als die schlechthin erotische Thematik zur Selbstzensur führte, belegt das von Wieland nur in Klammern erwähnte Hetärengespräch. Dies schloss er gleichfalls von der Übersetzung aus, weil es die lesbische Liebe behandelte.⁶⁷ Weiterhin reduziert Wieland die Homosexualität in der Geheimen Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus (1791) auf die sittenwidrige Knabenliebe – also die Liebe zu einem Lucians Sämtliche Werke (Anm. 10), Bd. 6, S. 455; das folgende Zitat ebd., S. 455 f. Manuel Baumbach: Artikel »Lukian«. In: Heinz: Wieland-Handbuch (Anm. 27), S. 411418, hier S. 413. Zedler: »Sodomie« (Anm. 55), Sp. 331; auch sonst weigert sich der Verfasser ausdrücklich, überhaupt genauer zu bestimmen, worin die Sodomie bestehe. Das 5. Hetärengespräch; vgl. den Beitrag von Weißenberger in diesem Band sowie Baumbach im Wieland-Handbuch (Anm. 65), S. 412.
W. Daniel Wilson
Minderjährigen, hier ausdrücklich 14- oder 15jährigen Jungen⁶⁸ – und stellt sie damit selbstverständlich als etwas Schreckliches dar. In der Zusammenschau kann festgehalten werden: Als Grund für Wielands Überarbeitung seiner Werke unter sittlichen Gesichtspunkten werden in der Forschung fast ausschließlich »klassische« Normen genannt. Dieser »Weimar-Effekt« ist sicherlich ein Faktor, aber die Auswirkungen des Sturm und Drang, obwohl im allgemeinen sicherlich bekannt, kommen noch zu wenig zur Geltung. In Bezug auf die Homosexualität trifft dies jedenfalls zu, wenigstens wenn man für Sturm und Drang und Klassik verkürzt die Einwirkung Goethes auf Wieland nimmt. Die homophobe Anwandlung in Götter, Helden und Wieland kontrastiert auffallend mit Goethes souveräner Verteidigung der öffentlich als Homosexuelle bekannten Größen Johann Joachim Winckelmann und Johannes von Müller – aber auch mit Goethes Lob der Vorrede Heinses zu seiner Petronübersetzung. Und: Die Darstellung der Homosexualität in den erotisch aufgeladenen Römischen Elegien und Faust II, vor allem aber in der Skizze zur Schilderung Winkelmanns, haben wieder etwas von der Selbstverständlichkeit, die der Juno und Ganymed Wielands eignet, so dass hier umgekehrt vielleicht eine positive Wirkung Wielands auf Goethe zu verbuchen wäre, nachdem sich die beiden Weimaraner versöhnt hatten. Aber es war eine Wirkung des frühen Wieland. Der spätere Wieland, der sich nicht mit der Übersetzung eines Werkes »beschmutzen« wollte, dessen Thematik er in seiner Jugend unbekümmert selbst zum Gegenstand einer Dichtung gemacht hatte, hatte sich inzwischen von der Kritik an seiner Darstellung der ›griechischen Liebe‹ einschüchtern lassen. Und es ist möglich, dass diese Episode in Wielands bekannter Mäßigung in sonstigen sexuellen Aspekten seines Werkes eine grundlegende Rolle spielte.
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden, hier Bd. IX, Originalband 27, S. 97-105; Vgl. Derks: Päderastie (Anm. 1) S. 243-246.
Joachim Jacob
Wielands Horaz – Die Ars poetica als Antipoetik
I Der große römische Dichter der augusteischen Kaiserzeit Quintus Horatius Flaccus, kurz: Horaz, nimmt in der abendländischen Literaturgeschichte einen Platz ein, dessen Bedeutung für die Literatur wie für die Poetik, für die literarische Traditionsbildung wie für die Literaturkritik über Jahrhunderte hinweg kaum zu ermessen ist.¹ Für Christoph Martin Wieland, um dies gleich vorwegzunehmen, hat Horaz dazu offensichtlich auch eine persönliche Bedeutung. Oft ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass sich Wieland nach mancherlei Enttäuschungen in der literarischen Öffentlichkeit in die Welt der Übersetzung der Werke des Horaz zurückgezogen und sich dabei auch mit dessen Autor, dem geistreichen, ›urbanen‹ antiken Spötter identifiziert habe. So etwa in Wielands berühmter Charakterisierung des Dichters in der Einleitung zu Horaz’ Epistulae I.1, mit der der Übersetzer zugleich sich selbst porträtiere: Immer hören wir den feinen Weltmann, der mit dem Witz, als einer Art von Waffen, wovon er vollkommen Meister ist, so frei und sicher spielt, als ob er alle Augenblicke verwunden wollte; aber immer nur spielt, nie verwundet, und eben dadurch, daß er andere nie seine ganze Stärke fühlen läßt, dem Schicksal der meisten witzigen Köpfe, bewundert und gehaßt zu werden, glücklich zu entgehen weiß.²
Auch in Wielands Formulierung vom »dichterischen Philosophen« Horaz am Ende seiner Vorbemerkung zu Epistulae II.1, in dessen »anscheinende[r] Simplizität und Leichtigkeit […] alle Fassetten seines Geistes so schön zusammen spielen« (ÜH S. 367), mag bei aller verehrenden Distanzwahrung zumindest das Ideal auch der eigenen literarischen Tätigkeit mit angesprochen sein: »kurz, eine so glückliche Mischung von Philosophie, Witz und Laune, mit Imagination, Verstand und Lebensart, daß vielleicht nichts Vollkommners in dieser Art existiert.« (ÜH S. 367)³
Einen Eindruck davon vermittelt der Band Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden. Hg. v. Helmut Krasser u. Ernst A. Schmidt. Tübingen 1996. Zitiert nach: Christoph Martin Wieland: »Einleitung über den Charakter des Mäcenas«. In: Ders.: Übersetzung des Horaz. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 10, weiterhin zitiert mit der Sigle ÜH) S. 37. Alle Hervorhebungen so im Original. Für einschlägige Literatur zu Wielands Horaz-Übersetzung auch als »ein Unternehmen der Selbsterforschung und Selbstdarstellung« siehe jetzt den instruktiven Überblicksartikel
Joachim Jacob
Doch über diesen persönlichen Bezug der Wieland’schen Horazbeschäftigung hinaus – Hans-Heinrich Reuter ist diesem Thema in einem außerordentlich anregenden Aufsatz nachgegangen⁴ – kommt Horaz’ Werk und seiner Rezeption auch in der Perspektive von literarischer Innovation, Traditionsbildung und Wissenstransfer eine Schlüsselstellung bei Wieland zu. Wie dies überhaupt in der sich in einem kontinuierlichen Antikebezug vollziehenden Ausbildung der Literatur seit dem Beginn der Neuzeit der Fall ist. Horaz’ literarische Anschließbarkeit und immer wieder zur Geltung gebrachte Vorbildlichkeit liegt in der Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit seines Werkes, das Oden und Satiren, hohen und leichten, lyrischen und erzählenden Ton vereinigt, sinnliche Lust (diese bisweilen schwieriger zu integrieren) und ethische Maximen der Lebensführung umfasst, und dessen Autor nicht zuletzt mit Epistulae II.3, mit der Epistula ad Pisones, dem Versbrief An L. Calpurnius Piso und seine Söhne, auch eine Anweisung, wie dieses alles herzustellen sei, eine ›Poetik‹ also, einschließt. Jedenfalls war letzteres die Auffassung der Mit- und Nachwelt, beginnend mit dem römischen Rhetoriklehrer Quintilian, der in der Widmung seines Rhetorikhandbuchs Institutio oratoria Horaz’ Versbrief an die Pisonen als »Ars poetica« tituliert⁵ und Horaz damit eine Poetik zuschreibt, die in der europäischen Literatur und Literaturtheorie seither höchstes Ansehen genießen und neben der aristotelischen Poetik kanonischen Rang behaupten wird. Ein interessantes Indiz für diese besondere Autorität der im Folgenden auch von mir, der Tradition folgend, so genannten Ars poetica des Horaz ist, dass sie jeweils zuerst unter den Horaz’schen Werken in die eigene Landessprache übersetzt wurde.⁶ So erfolgte in Italien, nach der Neuedition des lateinischen Textes 1470, eine erste Übertragung 1535, in Frankreich 1541, während in Deutschland Andreas Heinrich Buchholtz noch einmal einhundert Jahre später, 1639, den Brief an die Pisonen als erste deutsche Horazübersetzung vorlegte: Verteutschte vnd mit kurtzen Noten erklaerte Poetereykunst Des vortreflichen Roemischen Poeten Q. Horatius Flaccus. Vielleicht ist es in der Rezeptionsgeschichte des Horaz ein besonders ausgeprägtes Phänomen, dass jede Generation ihren eigenen Horaz und in ihm
»Horaz« von Arnd Kerkhecker im Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar 2008, S. 403-411, hier bes. S. 404 f. Hans-Heinrich Reuter: »Die Philologie der Grazien. Wielands Selbstbildnis in seinen Kommentaren der Episteln und Satiren des Horaz« (1967). In: Christoph Martin Wieland. Hg. v. Hansjörg Schelle. Darmstadt 1981, S. 251-306. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lat./dt. Übers. u. hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt ²1988, Bd. 1, S. 2/3 (praef. 2). Vgl. Bernhard Kytzler: Horaz. Eine Einführung. Stuttgart 1996, S. 168.
Wielands Horaz
ihre eigene Probleme entdecken und verarbeiten konnte. Die Geschichte etwa der – ursprünglich bekanntlich keineswegs als solche gemeinten – ›ut pictura poesis‹-Formel aus der Ars poetica wäre ein anschauliches Beispiel dafür.⁷ Horaz’ ersten deutschen Übersetzer Andreas Heinrich Buchholtz dagegen treibt ein viel grundsätzlicheres Problem um, nämlich der Vorwurf, dass, wie der später auch durch eigene literarische Werke hervorgetretene Autor in der Vorrede ausführt, »vnsere liebe deutsche Sprache […] fast von aller welt« für »dermassen einfältig / grob vnd barbarisch« »vnd angeborner natürlicher vngeschickligkeit halbē / keiner Zierligkeit fähig« gehalten werde,⁸ dass sie weder zur angemessenen Übersetzung des Horaz aus dem Lateinischen noch überhaupt als Literatursprache für tauglich befunden werde. So ist Buchholtzens Übersetzung also nicht nur als Dienst an dem großen Römer, sondern auch dadurch motiviert, ein gravierendes Fehlurteil über die Ausdrucks- und Literaturfähigkeit der deutschen Sprache zu widerlegen. Das jedoch gelingt nach allgemeinem Urteil überzeugend zuerst Christoph Martin Wieland, der als erster eine Übersetzung des Horaz ins Deutsche besorgt, die, so Manfred Fuhrmann, zu den »besten und reifsten Produkten seines Geistes« überhaupt zu zählen ist (ÜH S. 1096). Wielands Übersetzungswerk umfasst zunächst die Horaz’schen Epistulae (1782), also die Versbriefe des Dichters, und unter ihnen, ohne besondere Heraushebung, eben auch die Epistula ad Pisones.⁹ Vier Jahre später, 1786, legt Wieland in zwei Bänden die Sermones vor, die Satiren. Rund eineinhalb Jahrhunderte nach Andreas Heinrich Buchholtz’ Beschwerden mit der deutschen Sprache können Wielands Übersetzungen nun noch dem letzten Kritiker vor Augen führen, zu welcher Leichtigkeit und Eleganz, zu welchem Witz und zu welcher Schärfe die deutsche Sprache fähig ist. – Immerhin war 1780 noch Friedrichs des Großen aufsehenerregende Schrift De la littérature allemande erschienen, die die einschlägigen Topoi der Kritik am ›halbbarbarischen‹ (›demibarbare‹) Zustand des deutschen literarischen Ausdrucksvermögen noch einmal versammelt und aktualisiert hatte.¹⁰
Vgl. dazu meine Überblicksdarstellung im Artikel »Ut pictura poesis«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 9. Tübingen 2009, Sp. 997-1006. Andreas Henrich Bucholtz: »Vorrede«. In: Erstes Verdeutschtes / vnd mit kurtzen Nothen erklaertes Odenbuch Des vortreflichen Roemischen Poeten Q. Horatius Flaccus. Rinteln a. d. Weser 1639, S. 6. Horazens Briefe aus dem Lateinischen übersezt und mit historischen Einleitungen und andern nöthigen Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. 1. und 2. Theil. Dessau 1782. Eine zweite Auflage erscheint in Leipzig 1790. Friedrich der Große: De la littérature allemande. Frz./dt. Mit der Möserschen Gegenschrift. Hg. v. Christoph Gutknecht u. Peter Kerner. Hamburg 1969, S. 42/80. Wieland pariert Friedrichs Streitschrift mit einem bissigen Seitenhieb in seinem Sendschreiben an einen jungen Dichter, im selben Jahr wie die Übersetzung der Epistulae 1782 veröffentlicht:
Joachim Jacob
Die Eleganz der Wieland’schen Übersetzung soll hier nur an einem einzigen Beispiel vorgeführt werden, dem Beginn der ersten Epistel an Maecenas aus dem ersten Band der Briefe. Allein schon die Virtuosität, mit der Wieland die Horaz’schen Hexameterverse, die ihm als deutsche Versform zu künstlich-feierlich klangen,¹¹ in einen leichten fließendjambischen Ton bringt, ist faszinierend: Du, dem mein erstes Lied gewidmet war, und nun auch meiner Muse letzte Frucht gebührt, warum, Mäcen, mich, den man schon genug gesehn und fernern Diensts entlassen, von neuem zu dem alten Spiel zurück zu nötigen? Ich bin an Jahren und an Sinnesart nicht mehr der vorige. Vejan, um seine Freiheit länger nicht dem Volke am Rand des Fechtplans abzubetteln, hing sein Schwert in Herkuls Tempel auf, und steckt verborgen in seinem Meierhof. Auch mir, Mäcen, raunt oft ich weiß nicht welche Stimm’ ins Ohr: ›Sei klug, und spann den alten Renner noch in Zeiten aus, bevor er auf der Bahn, wo einst der Sieg ihn krönte, lahm und keuchend die Lenden schleppt und zum Gelächter wird.‹ Gehorsam dieser Warnung hab’ ich nun der Verse und des andern Spielwerks mich entschlagen, und was wahr und recht ist, kümmert mich ganz allein; ich leb’ und webe d’rin, bemüht, mir einen Vorrat einzusammeln, wovon ich bald im Winter zehren könne. (ÜH S. 38 f.)
Bevor man diese Zeilen in Wielands zweibändiger Ausgabe der Übersetzung von Horazens Briefen liest, hat man als gewissenhafter Leser jedoch schon einiges an Lektüre hinter sich. Zunächst eine mehrseitige Zueignungsschrift an Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, die neben der Rechtfertigung des Unterfangens und der untertänigst selbstkritisch eingestandenen Grenzen des eigenen Vermögens auch eine Reflexion über das Wesen einer Zueignungsschrift an die Politisch-Mächtigen enthält (ein Kabinettstückchen über das Verhältnis von Geist und Macht),
»Vielleicht ist einem andern Fürsten der Nachruhm bestimmt, den der große König verschmähte, der, nachdem er in vierzig mit jedem andern Ruhme beladnen Jahren nichts für unsre ihm völlig unbekannte Literatur getan hatte, sich endlich an dem Verdienste begnügte, uns die Dürftigkeit und die Mängel derselben öffentlich vorzurücken.« Christoph Martin Wieland: »Sendschreiben an einen jungen Dichter«. In: Ders.: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Bd. III. Erzählende Prosa und andre Schriften. Hg. v. Friedrich Beißner. München 1965, S. 767-787, hier S. 782. Vgl. Wielands Ausführungen hierzu in seiner Vorrede zur Übersetzung der Satiren, ÜH S. 580 f.
Wielands Horaz
an die sich noch eine umfängliche historische Einleitung über den Charakter des Mäcenas anschließt. Erst jetzt folgt die deutsche Übertragung, begleitet vom lateinischen Originaltext, der den Nachvollzug des Übersetzungsgangs ermöglicht. In den deutschen Text der Übertragung sind des Weiteren zahlreiche Fußnoten mit Sacherläuterungen zu finden sowie schließlich in eigener Zählung »Erläuterungen« (zu den eben zitierten Versen allein schon vier an der Zahl), die an die Übersetzung angefügt einen eigenen Apparat bilden, der im Falle des ersten Versbriefs die Länge des übersetzten Originaltextes noch einmal um etwa das Siebenfache übersteigt. Kytzlers Charakteristik des Wieland’schen Übersetzungswerks: »Wieland übersetzte als erster Horaz nicht als pädagogisches Pensum, sondern als lebendigen, packenden Plauderer für ein breiteres Publikum, nicht für Philologen und Philister«,¹² trifft sicher zu, aber sie trifft nicht das Ganze. Die vierfach geschichteten Kommentierungen des Originaltextes aus Übersetzung (als implizitem Kommentar), für jeden Brief gesonderter historischer Einleitung, Fußnoten und zusätzlichen Erläuterungen,¹³ die allesamt durchaus, wie Wieland keinen Zweifel lässt, zur aufmerksamen Lektüre und nicht zum Überblättern vorgesehen sind, lassen den ›Plauderer‹ Horaz in Wielands Darbietung doch gelegentlich in den Hintergrund treten und unterstreichen die Bedeutung des Wissens, des Wissenstransfers zum angemessenen Verständnis auch eines höchst lebendig dargebotenen Horaz-Textes. Schon rein äußerlich wird damit eines der wichtigsten Momente des Horaz-Projekts Wielands deutlich: die Kommentarbedürftigkeit des literarischen Erbes, das Horaz hinterlassen hat. Dazu heißt es in der eben schon angesprochenen Zueignungsschrift an Carl August: Ein Kommentar ist vielleicht bei keinem Produkt der alten Literatur weniger entbehrlich, als bei den Horazischen Episteln. […] Ich hoffe daher, daß die Bemühungen, die ich mir zu diesem Ende gegeben, und die, ungeachtet alles dessen was mir von vielen gelehrten Auslegern des Horaz vorgearbeitet worden, nicht der leichteste Teil meiner Arbeit waren, wenigstens den Vorwurf der Überflüssigkeit nicht zu befürchten haben; und ich wünsche nur, daß sie eben so brauchbar befunden werden möchten, als sie notwendig waren. (ÜH S. 13)
Historisch erschließendes Wissen ist demnach nicht mehr im kulturellen
Kytzler: Horaz (Anm. 6), S. 172. Das Ausspielen der ›lebendigen‹ Übersetzungspraxis Wielands gegen die trockene Philologie, das auch Kerkhecker, dazu Rudolf Borchardts Gespräch über Formen (1905) zitierend, teilt, übersieht diese Rahmung der Texte: »Horaz war für Wieland nicht, was er für Philologen ist, ein Gegenstand der Untersuchung oder der Meinung oder im besten Falle anteilloser Bewunderung, sondern […] er war für ihn einfach Element seines Lebens«, Borchardt, zitiert nach Kerkhecker: »Horaz« (Anm. 3), S. 410. Vgl. dazu auch Reuter: »Philologie der Grazien« (Anm. 4), S. 268.
Joachim Jacob
Hintergrund unauffällig gegeben oder als gelehrtes Wissen beim adressierten Publikum stillschweigend voraussetzbar, sondern muss expliziert werden. Auch wenn Wieland, was Horaz betrifft, für sich selbst bisweilen divinatorische Kraft und Seelenverwandtschaft in Anspruch genommen hat,¹⁴ bedürfen seiner Auffassung nach Horaz’ Texte und die ihnen zugrundeliegenden Erfahrungen, die Wieland meint identifizieren zu können, einer wissensgeleiteten Rekonstruktion, eines historischen Wissens, das eigens bereit- und zusammengestellt werden muss, weil es, wie es in der Zueignungsschrift heißt, »auch dem gelehrtern Teile der Leser nicht allezeit gegenwärtig« ist (ÜH S. 13).
II Ich möchte mich nun im Folgenden einem Text zuwenden, der über den im gelehrten Kommentar konzentrierten Vermittlungsvorgang von Wissen hinaus scheinbar besonders nahe am Thema des ›Wissenstransfers‹ ist, und der auch dem eingangs erwähnten eigenen Interesse Wielands besonders entgegenkommt, sich in Horaz zu spiegeln bzw. Horaz als Medium eigener poetischer Überzeugungen (und nicht nur dieser) zu nutzen – der aber, wie sich gleich zeigen wird, diese Erwartung enttäuscht und vielmehr, jedenfalls in der Lesart Wielands, eine spezifische Dynamik von Wissen und Nichtwissen entfaltet. Denn das ist Wielands leitende These für die Übersetzung und vor allem für die Kommentierung von Epistulae II.3, für die Epistel an die Pisonen. Wie eingangs bereits kurz angedeutet, findet Wieland eine feststehende Tradition vor, in der die Epistula ad Pisones mit größter Selbstverständlichkeit als eine aus intimer Vertrautheit mit der Materie gewonnene ›Poetik‹ betrachtet wurde, als eine mit eigener Erfahrung gesättigte Anweisung zum Verfassen von Gedichten. So schreibt Martin Opitz im ersten Kapitel seines Buchs von der Deutschen Poeterey (1624): [Es; J. J.] haben die Gelehrten / was sie in den Poeten […] auffgemercket / nachmals durch richtige verfassungen zuesammen geschlossen / vnd aus vieler tugenden eine kunst gemacht. Bey den Griechen hat es Aristoteles vornemlich gethan; bey den Lateinern Horatius […].¹⁵
Gottsched, um ein weiteres, Wieland historisch näheres prominentes Beispiel anzuführen, stellt seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst seit der ersten Auflage von 1730 eine eigene Übersetzung der Horaz’schen Ars poetica voran, weil ihr Autor, so Gottsched, »einer der aufgeklärtesten
Vgl. die Belege bei Kerkhecker: »Horaz« (Anm. 3), S. 405. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 13.
Wielands Horaz
Köpfe seiner Zeit« gewesen sei, mit »einem gerechten Eifer für den guten Geschmack« und der Absicht, dass er theils seinen Römern eine Anleitung geben wollte, wie sie die Schriften ihrer Poeten recht prüfen könnten; theils auch der großen Anzahl der damaligen Versmacher die Augen zu öffnen suchte, damit sie nicht ferner, aus blinder Eigenliebe, ihre Misgeburten für Meisterstücke ausgeben möchten.¹⁶
Wielands Idee zur Deutung der Ars poetica radikalisiert gewissermaßen Gottscheds zweite Erwägung. Der in Weimar 1782 auf Durchreise nach Göttingen weilende Theologiestudent und dem Sturm und Drang verbundene Literat Friedrich Münter notiert dazu in seinem Tagebuch unter dem Datum vom 4. April von einem Gespräch mit Wieland: [Vormittags] zu Wieland. seine Ideen über Horazens Ars poetica. Es sei mit dem Vater der Pisonen verabredet, den einen Piso von der Poesie abzuschrecken, deswegen zeigt er alle Fehler die man so leicht begehen könne, und wie schwer es sei, sie zu vermeiden.¹⁷
Die Ars poetica ist Wieland zufolge also als eine Abschreckung konzipiert. Gegenüber Gottscheds vergleichsweise schlichter moralisierender Einschätzung der Ars poetica als eines Heilmittels gegen die ›blinde Eigenliebe‹¹⁸ liest Wieland Horaz’ Brief über Dichtkunst allerdings als einen deutlich subtileren Versuch, einen Liebhaber der Poesie von der »Liebe zur Ausübung dieser Kunst ab[zu]ziehen« (ÜH S. 495). Die Ars poetica, so Wielands Idee, ist eine Antipoetik. Wieland entfaltet seinen Deutungsansatz, dessen hypothetischen Charakter er wiederholt unterstreicht, detailliert im Apparat seiner Übersetzung. Die »Veranlassung zu dieser Epistel«, so Wieland in der Einleitung zum Dritten Brief, wäre vielleicht so vorzustellen: Der junge Piso habe »im Lauf seiner Schulstudien eine besondre Liebe zur Poesie, und einen so starken Hang zum Versemachen [gezeigt; J. J.], daß der Vater endlich unruhig darüber wurde.« (ÜH S. 493) Der Vater, in Sorge, »seinen Sohn dem Ridicule einer zu seiner Geburt und Bestimmung so wenig passenden Leidenschaft ausgesetzt zu sehen, fand, daß es nötig sei, ihn mit guter Art davon zurückzuziehen« (ÜH S. 493), und genau aus dieser Absicht resultierte möglicherweise auch der Wunsch des Vaters Piso, »seinen Freund Horaz zu vermögen, dem jungen Menschen richtigere Begriffe von der
Johann Christoph Gottsched: »Vorbericht«. In: Ders.: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Unveränderter reprographischer Nachdruck der 4., vermehrten Auflage. Leipzig 1751. Darmstadt 1982, S. 4. Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. Sigmaringen 1987, Bd. 1., S. 714. Gottsched steht damit noch erkennbar in der Tradition der Moralia Horatiana, vgl. dazu mit weiterführenden Hinweisen Wolfram Mauser: »Horaz in Halle. Johann Peter Uz als Anwalt bürgerlichen Lebensstils«. In: Ders.: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, S. 124-136, bes. S. 129 f.
Joachim Jacob
Dichtkunst und ihren Schwierigkeiten und Gefahren beizubringen.« (ÜH S. 494) Im Unterschied zu den beiden von Gottsched in der Ars poetica erkannten Motiven der Anleitung zu richtiger Kritik und des Heilmittels gegen dichterische Eitelkeit, die in einem einfachen logischen Ableitungsverhältnis zueinander stehen, entdeckt Wieland in der Ars poetica eine indirekte Form der Belehrung, die Regel und Mysterium der Dichtung nebeneinander stellt: Ein Aufsatz, worin die vornehmsten Regeln und gleichsam die Mysterien der poetischen Kunst entfaltet wären, schien das schicklichste Mittel, die erzielte Absicht auf eine indirekte Art desto gewisser zu erhalten. (ÜH S. 494)
Damit eröffnet sich Wieland eine doppelbödige Lesart der Ars poetica. Unter dem Schein einer Lehrschrift, die man und vor allem der Sohn Piso von Horaz erwartet habe, sei die Unlehrbarkeit der Dichtkunst ›schicklich‹ zu vermitteln gewesen. Ist die Doppelbödigkeit der Ars poetica demnach den Umständen geschuldet, unter denen sie entstanden ist, und zeigt sie das äußere Decorum der gesellschaftlichen Zwänge, denen auch ein berühmter römischer Dichter ausgesetzt war, so tangiert der Verdacht der Doppelbödigkeit zugleich auch eine ganze Auslegungstradition der Ars poetica (die bereits mit ihrer Titelgebung aus Quintilians Hand beginnt!) und droht, deren aus dem Horaz gezogenes, regeltaugliches Wissen in Schein zu verwandeln. Mit Wielands eigenen Worten: […] und so konnte dieser [Horaz; J. J.], unter dem Schein, als ob er ihn [den jüngeren Piso; J.J.] zum Dichter bilden wolle, den ganzen Diskurs darauf anlegen, ihn (ohne Miene zu machen, als ob dies seine wahre Absicht sei) davon abzuschrecken. (ÜH S. 494)
III Wenn nach meiner Kenntnis diese Hypothese in der bis heute nicht abgeschlossenen Deutungsgeschichte der Horaz’schen Ars poetica höchst originell ist,¹⁹ ist sie es im Blick auf Wielands eigene Vorstellungen nicht unbedingt. Denn man kann sie als Ausdruck eines für Wieland nicht untypischen ›negativen‹ Bildungskonzepts verstehen, das im Wortsinne mit ›Enttäuschung‹ operiert, mit ›Aufklärung‹ in ihrem kritischsten Sinn. So war, wie im vorliegenden Fall des jüngeren Piso, jemanden von einer falschen Einbildung, einer wahnhaften Vorstellung zu heilen, schon einmal das zentrale Thema in Wielands eigenen frühen Romanen Don Sylvio
Einen Überblick über die Forschungsgeschichte gibt Gregor Maurach: Horaz. Leben und Werk. Heidelberg 2001, S. 475 ff. Herrn Hugo Beikircher, Zorneding, verdanke ich den Hinweis auf Carl Becker: Das Spätwerk des Horaz. Göttingen 1963, S. 65 f., der die Singularität von Wielands Deutung, wenn auch ablehnend, bestätigt und auf die Rezeption bei Rudolf Alexander Schröder hinweist (Kommentar zur Horaz-Übersetzung).
Wielands Horaz
(1764) und Geschichte des Agathon (1766/1767) gewesen. Mit Horaz’ Ars poetica verwandelt sich jedoch das Romanprojekt in ein durch reale Umstände initiiertes historisches Erziehungsprojekt. Walter Erhart hat in seiner einschlägigen Monographie über Wielands »Agathon-Projekt« Entzweiung und Selbstaufklärung in sehr überzeugender Weise Wielands »Negative Anthropologie« in der moralisch-skeptischen Tradition der französischen Moralistik herausgearbeitet,²⁰ und diese Charakterisierung kann man in jeder Hinsicht nun auch auf Wielands Hypothese zur Horaz’schen Ars poetica anwenden. ›Negativ‹ heißt dann, dass die Ars poetica, zugespitzt formuliert, kein oder kaum positives Wissen transferiert, sondern vor allem die Unlehrbarkeit der Dichtung vor Augen führt. So erklärt sich auch, warum Wieland gleich zu Beginn seines Kommentars zum »Dritten Brief an L. Calpurnius Piso und seine Söhne« die tradierte Bezeichnung ›Ars poetica‹ für Horaz’ Brief an die Pisonen entschieden zurückweist, eben weil dieser »unglückliche Titel den Gelehrten in die Köpfe setzte« (ÜH S. 487), was in diesem Brief gerade nicht zu finden sei: eine Poetik, sondern stattdessen nur der ›Schein‹ einer solchen:²¹ »Er wollte keine Poetik schreiben.« (ÜH S. 495) So erklärt und rechtfertigt sich nach Wieland der (bis in die Gegenwart diskutierte)²² unsystematische Gang innerhalb der Ars poetica, das Absehen ihres Autors von einer Methode, die der Kommentator im Unterschied zu einigen seiner Vorgänger und Zeitgenossen in der Ars poetica nicht mehr erkennen kann,²³ Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«Projekt. Tübingen 1991, S. 85f. »Eine Menge selbstgedrehter Knoten, und eben so viele sinnreiche, aber den Horaz nichts angehende Auflösungen derselben würden weggefallen sein; kurz, ohne die vorgefaßte Meinung, die dieser unglückliche Titel den Gelehrten in die Köpfe setzte, würde man sich weder die Mühe gegeben haben, so viel in diesen poetischen Diskurs hineinzulegen, woran Horaz nicht gedacht hat: noch, vermutlich, den einzigen wahren Gesichtspunkt, woraus er betrachtet werden muß, so lange verfehlt haben.« (ÜH S. 487) Ich verweise hier nur auf, auch eine Darstellung der älteren Forschungsdebatte beinhaltend, Karl Büchner: »Das Poetische in der ›Ars poetica‹ des Horaz«. In: Ders.: Studien zur römischen Literatur. Bd. 10. Römische Dichtung. Wiesbaden 1979, S. 131-147. Vgl. neben Gottsched z. B. auch die Edition der Ars poetica durch Johann Andreas Christian Michelsen, Professor der Mathematik am vereinigten Berlinischen und Cöllnischen Gymnasium: Horazens Dichtkunst. Erläutert, übersetzt und als ein vortrefliches Ganze dargestellt v. Johann Andreas Christian Michelsen. Halle 1784. Als ein klassisches ›vortreffliches Ganzes‹ erscheint die Ars poetica für Michelsen, gerade insofern sie ein vollkommen durchorganisiertes Buch sei, voll »feine[r] Beobachtungen, auserlesene[r] Regeln, Bemerkungen eines Mannes von Kopf, Urtheile eines Meisters, kurz, was der schönste Geist aus dem schönsten Jahrhunderte Roms lehren mußte«, ebd. S. 13; – es erstaunt nicht, dass der Herausgeber namentlich »Wielands Hypothese, als sey Horazens Poetik weiter nichts als gleichsam ein Avis an einen hochgebornen autor, den man vor einer unglücklichen Liebhaberen [sic] warnen wollte«, nur als »witzig erdacht und scharfsinnig ausgeführt«, ebd. S. 11, schätzen kann, aber keineswegs für zutreffend hält. Immerhin sieht aber auch Michelsen in der Ars poetica ein Wissen formuliert, »was selbst der geschickteste Kunstrichter und die besten Lehrbücher nicht lehrten.« Ebd., S. 13.
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wie auch ihr Versagen als »Kompendium« (ÜH S. 495), und so erklärt sich schließlich auch, warum Horaz »in der Sokratischen Manier« seinen Brief damit beginnt, »den wesentlichsten Fehler, den ein Gedicht […] haben kann, in seiner ganzen Ungereimtheit darzustellen« (ÜH S. 496; Hervorhebung J. J.). In Wielands Übersetzung, Verse 1.ff der Ars poetica: Wofern ein Maler einen Venuskopf auf einen Pferdhals setzte, schmückte drauf den Leib mit Gliedern von verschiednen Tieren und bunten Federn aus, und ließe (um aus allen Elementen etwas anzubringen) das schöne Weib von oben – sich zuletzt in einen grausenhaften Fisch verlieren, sich schmeichelnd, nun ein wundervolles Werk euch aufgestellt zu haben: Freunde, würdet ihr bei diesem Anblick wohl das Lachen halten? (ÜH S. 508)²⁴
Der Anfang zeigt laut Wieland zu Beginn gleichsam wie mit einem Paukenschlag nichts weniger als »den wesentlichsten Fehler« eines Künstlers überhaupt, nicht zur Einheit eines in sich geschlossenen Werkes zu gelangen, das ausschlaggebende Vermögen, an dem sich Liebhaber auf der einen, »Genie und wahres Talent« (ÜH S. 496) auf der anderen Seite scheiden.²⁵ Kommt schon dieser kritische Beginn, an denen sich in Horaz’ Text noch eine Kette weiterer Negativbeispiele anschließt, die schließlich in der einen Ermahnung gipfelt: »Kurz, mache was du willst, / nur, was du machst, sei mindstens Eins und Ganz!« (ÜH S. 510), Wielands Interpretationshypothese entgegen, liest Wieland Horaz’ Brief auch im Weiteren als eine Antipoetik, die im Wesentlichen aus Warnungen und Mahnungen besteht. Die Ars poetica wird ihm zu einem ›sarkastischen‹, wortwörtlich ›zerfleischenden‹ Text, wenn Horaz, wie es in Wielands Kommentar heißt, »die wahnsinnigen Dichter (wie er die elenden nennt)«, mit einer »bis auf die Knochen brennende Lauge […] ohne Gnade übergießt« (ÜH S. 496). Bis am Ende der Schützling mit voller Absicht hilflos von seinem Mentor zurückgelassen wird, gleichsam mitten in einem Walde, mit der Versicherung, daß es nun bei ihm stehe, ob er die Reise allein fortsetzen, oder (was am Ende doch wohl das Sicherste wäre) von seinem Vorhaben lieber gar abstehen wolle. (ÜH S. 504)
Einen genauen Vergleich mit Gottscheds Übertragung der Verse gibt Jane V. Curran: »Wieland’s revival of horace«. In: International Journal of the Classical Tradition 3 (1996), S. 171-184, bes. S. 181 ff. Siehe zur Einheitsforderung wie zum Verhältnis von Wieland und Horaz mit Blick auf die Ars poetica auch den Beitrag von Ulrike Zeuch im vorliegenden Band.
Wielands Horaz
IV Trotz allem erkennt Wieland in Horaz’ Brief an die Pisonen auch »Stellen, in welchen wirklich die Mysterien der poetischen Kunst eingehüllt liegen« (ÜH S. 495). Auch wenn man sich bei Wieland nicht sicher sein kann, scheint dies keine Ironie zu sein, sondern das Mysterium, und d. h. existierendes, aber instrumentell unverfügbares Wissen, tatsächlich das Modell zu sein,²⁶ nach dem Wieland in seinem Kommentar zur Ars poetica den Begriff wahrer Dichtung konstruiert. Wirklich verständlich wird das Buch »nur den Adepten« (ÜH S. 495), in der Sprache der Mysterien also Schülern, die bereits eingeweiht sind. Wieland radikalisiert damit eine alte, aus der antiken Rhetorik bekannte Figur, die auch Horaz selbst in der Ars poetica verarbeitet: die Unterscheidung zwischen natura und ars, zwischen dem, was durch Kunstfertigkeit zu lernen, zu üben, auszubilden ist (ars), und dem, was eben nicht zu lernen ist, sondern sich angeborener Anlage, Talent verdankt (natura). Auf die ewige Frage, wodurch die Dichtkunst denn nun bestimmt sei, ob durch natura oder ars, gibt Horaz in der Ars poetica eine übliche Antwort, wie sie auch in jedem Rhetoriklehrbuch der Zeit zu finden gewesen wäre, durch beides: Man pflegt zu streiten, ob Naturkraft, oder ob Kunst ein Dichterwerk vortrefflich mache? Mir meines Orts scheint ohne reiche Ader das strengste Studium, und ohne Kunst das beste Naturell gleich unzulänglich: keins kann des andern mangeln: aber, freundlich vereinigt, glänzen beide desto mehr. (ÜH S. 552)²⁷
Für eine solche Dialektik ›freundlicher Vereinigung‹²⁸ hat jedoch der Kommentator Wieland, anders als der Übersetzer Wieland, keine Verwendung (und es ist bezeichnend, dass sich zu dieser, intrikate Probleme berührenden Passage keine Fußnote oder Erläuterung in Wielands Edition findet). Der Kommentator Wieland akzentuiert vielmehr zur Abschreckung derer, die »von einem unsäglichen Jücken für die Musenkunst geplagt werden, ohne mit einem wirklichen Talent geboren zu sein« (ÜH S. 493), als Grundvoraussetzung wahrer Dichtung das, was man nicht lernen kann: mit »feinem Gefühl« eine Regel, von der man weiß, auch Tatsächlich nur das Modell. Gedacht ist an »Mutter Natur«, den »Mystagogen« dagegen trifft der Spott, Wieland: »Sendschreiben« (Anm. 10), S. 771 f. Ars poetica, Verse 408-411. Nur an diesem kleinen Terminus sei noch einmal die Sprachkunst des Übersetzers Wielands demonstriert, die hell leuchtet, wenn man sie etwa einer gegenwärtigen, der sorgfältigen Prosaübertragung Eckart Schäfers gegenüber stellt: »[…] so fordert das eine die Hilfe des andren und verschwört sich mit ihm in Freundschaft.« Quintus Horatius Flaccus: Ars poetica. Die Dichtkunst. Lat./dt. Übers. u. mit einem Nachwort hg. v. Eckart Schäfer. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2008, S. 31.
Joachim Jacob
anzuwenden (ÜH S. 497), oder instinktiv in äußerster Schnelligkeit und Sicherheit »wie bei jedem anderen Virtuosen«²⁹ in Sachen der (eigenen) Kunst zu urteilen, wovon man »einem Menschen wohl sagen [kann; J. J.], daß es ihm an diesem Sinn fehle: aber wer kann ihm einen Sinn geben, den ihm die Natur versagt hat?« (ÜH S. 498) – Genau darum hat schließlich »bis auf den heutigen Tag noch kein Pfuscher aus dieser Epistel etwas gelernt« (ÜH S. 495), weil es dazu eines Ingeniums bedürfte, über das der »Pfuscher« gerade nicht verfügt. So scheint es zuletzt, dass Wieland den Kommentar zur Ars poetica nutzt, um über das Mittel der ›Abschreckung‹ indirekt einen emphatischen Begriff der Dichtung zu exponieren, der in einer Zeit literarischer Massenproduktion bedroht ist, wie Wieland sie sowohl zur Zeit Horaz’ wie auch seiner eigenen kritisch diagnostiziert.³⁰ Anders als die nur wenig später auftretenden Theoretiker der klassischen Autonomieästhetik setzt Wieland zur Sicherung poetischer Exzellenz jedoch weniger am Werk, denn am Vermögen des, wie dargestellt, naturbegabten Dichters an – der sich gerade daran als wahrer Dichter erweist, dass er sich nicht abschrecken lässt: Horaz […] Art, mit dem jungen Piso zu verfahren, ist die einzige, wie mit jedem angehenden Dichter verfahren werden sollte. Läßt er sich dadurch niederschlagen, desto besser! Fährt er demungeachtet fort, so ist es ein unfehlbares Zeichen, daß er – entweder zum Dichter – oder zum Narren geboren ist. (ÜH S. 507)
In dieser Hinsicht erweist sich Wieland gegen die kurze Zeit später folgenden, zum Teil hochspekulativen, idealistisch-ästhetischen Entwürfe eines Karl Philipp Moritz’ oder Friedrich Schillers noch als ›Dichtererzieher‹ alter Prägung. Das belegen neben der von Wieland zur Antipoetik verwandelten Horaz’ischen Versepistel vor allem auch seine zur selben Zeit im Teutschen Merkur veröffentlichten Briefe an einen jungen Dichter,³¹ Zu dem von Shaftesbury übernommenen Konzept des Virtuoso bei Wieland siehe MarieTheres Federhofer: »Moi simple amateur«. Johann Heinrich Merck und der naturwissenschaftliche Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Hannover 2001, S. 135 ff. Vgl. Wielands Einleitung zu Epistulae I.19, An Maecenas: »Das Vergnügen, das alle Leute von Geschmack an den Werken dieser Dichter fanden, der Ruhm ihres Namens, der, wiewohl ein bloßes Echo des Beifalls der kleinern Anzahl aus dem Munde der nachhallenden Menge, doch immer ein beneidenswerter Vorteil scheint; und vornehmlich die Gunst und Achtung, worin man sie bei den Großen und bei August selbst stehen sah, – alles dies erweckte ihnen in kurzer Zeit eine unendliche Menge Nachahmer und Nebenbuhler, von allerlei Graden der Mittelmäßigkeit oder Schlechtigkeit. Mit der Menge der Dichter nahm auch die Menge der Leser, und mit beiden die Menge der Kunstrichter und Kenner zu. Jedermann machte entweder selbst Verse, oder traute sich doch zu, über die Dichter und ihre Werke richterlich abzusprechen.« (ÜH S. 298f.) Zur Einschätzung der Gegenwart siehe Wieland: »Sendschreiben« (Anm. 10). Christoph Martin Wieland: »Briefe an einen jungen Dichter«. In: Der Teutsche Merkur 3/1782, S. 129-157, später als »Sendschreiben an einen jungen Dichter« (Anm. 10).
Wielands Horaz
die gleichsam das positive Gegenstück hierzu bilden und wiederum mit Horaz, einem anderen Horaz jedoch,³² das Bild eines von »Zeichen der Erwählung« angekündigten, wirklich begabten Dichters entwerfen, für den die Poesie ›Lebensschicksal‹ ist.³³
Vgl. Wieland: »Sendschreiben« (Anm. 10), S. 776. Ebd., S. 770, S. 773.
Michael Weissenberger
Wieland als Übersetzer Lukians Wieland war ein produktiver Übersetzer griechischer und lateinischer Autoren, sowohl poetischer als auch prosaischer Texte. Seine Übertragung der sämtlichen Werke des Lukianos von Samosata (2. Jh. n. Chr.) scheint im Rahmen dieser Arbeiten eine Sonderstellung einzunehmen, und zwar aus zwei Gründen: Lukian ist derjenige antike Autor, der Wielands Schaffenskraft am längsten und intensivsten gebunden hat, diese Übersetzung war »die langwierigste und entsagungsvollste Arbeit, die Wieland je geleistet hat«.¹ Tatsächlich hat sich Wieland von der zweiten Jahreshälfte 1786 bis tief ins Jahr 1789 fast ausschließlich mit Lukian beschäftigt. Erschienen ist die Übersetzung unverzüglich nach ihrer Fertigstellung in sechs Bänden in den Jahren 1788 und 1789. Und diese Arbeit kostete nicht nur viel Zeit, sie scheint auch, zumindest zeitweise, das geistige und kreative Potential Wielands so vollständig beansprucht zu haben, dass an gleichzeitige andere Tätigkeiten kaum zu denken war. Die Wieland von so urteilsfähigen Zeitgenossen wie Goethe und Schiller attestierte Geistesverwandtschaft mit Lukian² ging zuweilen so weit, dass der Übersetzer sich mit seinem Autor geradezu identifizierte. Als er mit der Arbeit noch nicht sehr lange begonnen hat, am 17.12.1786, schreibt Wieland: »Mich macht jetzt Lucian dessen opera omnia ich übersetze u commentiere, zu einem sehr glüklichen und sehr beschäftigten Menschen.«³ Anfang April des folgenden Jahres heißt es in einem Brief: »Ich grüße Sie […] in Lucian und durch Lucian: denn in diesem lebe und webe ich, stehe mit ihm auf, und gehe mit ihm nieder.«⁴ Und im Juni desselben Jahres 1787 schreibt Wieland an Gleim: »Lucian, an dem ich con amore arbeite, macht jetzt einen großen Theil des Glücks meines Lebens aus. In anderthalb Jahren a dato, so wir leben, wird auch dieses Abenteuer bestanden seyn.«⁵ Die Hochstimmung hält also noch an, wenn auch der Seitenblick auf
Otto Bantel: Christoph Martin Wieland und die griechische Antike. Diss. Tübingen 1952, S. 389. Emil Ermatinger u. Karl Hoenn (Hg.): Lukian, Parodien und Burlesken. Zürich 1948, S. XXXI ff. Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007, weiterhin zitiert mit der Sigle WBr, Band und Seite und Zeile, hier Bd. 9.1. (Berlin 1996), S. 254, 35-37. Ebd., S. 326, 41-44. Ebd., S. 356, 38-40.
Michael Weißenberger
das voraussichtliche Ende des Unternehmens bereits eine unterschwellige Ungeduld erahnen lässt. Die ins Auge gefassten anderthalb Jahre sollten indes nicht reichen; noch im Februar 1789 sitzt Wieland an Lukian und kommentiert dies mit dem Stoßseufzer: »Ich übersetze mich am Lucian – zum Invaliden, u sehe meiner Erlösung mit Ungeduld entgegen; denn Zuviel ist Zuviel! Auch Lucians kriegt man in 2 Jahren endlich genug.«⁶ Als dann schließlich alles fertig ist und im folgenden Jahr der Verleger Göschen Wieland dazu bewegen möchte, eine Übersetzung der Briefe Ciceros anzufertigen, spricht der geplagte Übersetzer in seiner Antwort von »der traurigen Erfahrung die ich mit Lucian gemacht und die mir einige Jahre an meinem Leben kostet«⁷ – was doch erheblich anders klingt als die im Nachwort zur Lukian-Übersetzung zu lesende Versicherung, dies sei »die angenehmste und mühsamste aller litterarischen Unternehmungen meines Lebens«⁸ gewesen. Wieso dieser Aufwand und diese Mühe gerade für Lukian? Bereits mit nicht ganz dreißig Jahren, nämlich 1762, plante Wieland, Lukian zu übersetzen, wovon er dann aber wegen der damals schon in Entstehung begriffenen Übersetzung des Schweizers Waser (erschienen 1769 bis 1773) Abstand nahm.⁹ Lukian sei, so Wieland in einem Brief vom 30.03.1767, »der sinnreicheste, witzigste und vielleicht auch der gescheidteste und brauchbarste Autor der uns aus dem Griechischen Alterthum übrig geblieben ist.«¹⁰ Wieland schätzte Lukian insbesondere als kraftvollen Verbündeten im Kampf für Vernunft und Aufklärung, gegen jede Form von geistiger Unselbständigkeit bzw. Trägheit, gegen Aberglauben und dergleichen.¹¹ Er gibt ihm den Titel eines »alten Vorgängers und Modells der neuern Rabelais, Cervantes, Cyrano de Bergerac, Swift, Fielding, Sterne«¹² und betont sein aufklärerisches Potential »besonders für eine der seinigen so ähnliche Zeit wie die gegenwärtige ist«.¹³ Dass diese Einschätzung – wenn überhaupt – nur für einen Teil von Lukians Schriften zutrifft, und zwar für den kleineren – sei hier nur angedeutet; für Wieland jedenfalls genügte dies als Motivation, den gesamten Lukian zu übersetzen.
WBr 10.1, S. 178, 48-50. Ebd., 476, 31 f. Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland. 6 Bde. Leipzig 1788 – 89, (Nachdruck Darmstadt 1971), hier Bd. 6, S. 455. Ermatinger u. Hoenn: Lukian (Anm. 2) S. XXXV. WBr 3, S. 446, 6-8. Ungefähr ein Jahrhundert später war die Zunft der Klassischen Philologie der entgegengesetzten Ansicht, vgl. Manuel Baumbach: Lukian in Deutschland. München 2002, bes. S. 201 ff. Baumbach: Lukian (Anm. 10) S. 92 f., S. 100 f. Lukians Sämtliche Werke (Anm. 8), Bd. 6, S. 455. Ebd., Bd. 1, S. XLI.
Wieland als Übersetzer Lukians
Wieland war nicht nur ein fleißiger, sondern auch ein sehr bewusster Übersetzer, d. h. einer, der über die grundsätzliche Problematik seines Tuns kritisch reflektierte und eine ebenso klare wie eigenständige Position zur Übersetzungsmethodik entwickelt hat.¹⁴ Sein um eine Generation jüngerer Zeitgenosse Friedrich Schleiermacher, bekannt vor allem durch seine Übersetzung sämtlicher Schriften Platons, hat die beiden Extrempositionen, die ein Übersetzer sich zu eigen machen kann, in einer klassischen Antithese formuliert: »Entweder der Uebersezer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.«¹⁵ Schleiermacher selbst hat sich für die erste Option entschieden und dem deutschen Leser viel Bewegung in Richtung auf das griechische Original zugemutet, an manchen Stellen so viel, dass dem Verständnis der deutschen Übersetzung – um es vorsichtig auszudrücken – ein Blick in den Urtext ausgesprochen förderlich ist. Ähnlich arbeitet der dritte große Übersetzer der Wieland-Zeit, Johann Heinrich Voß, in seiner um ›Genauigkeit‹ bemühten, d. h. stark gräzisierenden HomerÜbersetzung. Wieland dagegen lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Autor.¹⁶ Diesen in die eigene Zeit zu holen, in die eigene Kultur ihn einzuschmelzen, ist sein Bemühen.¹⁷ Und es ist ihm gelungen. Zwar bemerkt Wieland selbst, seine Übersetzung hätte noch viel freier sein müssen, als sie wirklich ist, wenn beabsichtigt gewesen wäre, dass sie sich wie ein deutsches Original liest.¹⁸ Andere empfanden das anders, etwa der eben erwähnte Voß, der offenbar Größe genug besaß einer zu seinen eigenen Prinzipien konträren Übersetzung die Anerkennung nicht zu versagen; im Juni 1788 schreibt er an Wieland: »Man glaubt nicht an Uebersetzung, sondern eine frische Arbeit des wieder erweckten Griechen in thuiskons Sprache zu bewundern.«¹⁹ Und in der Rückschau, mit einem Abstand von gut drei Jahren, schließt Wieland sich diesem Urteil an, oder besser gesagt: äußert diese, wahrscheinlich auch bei ihm schon
Vgl. Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart 1949, S. 398-402. Friedrich Schleiermacher: Methoden des Übersezens. Berlin 1813, abgedruckt in: Hans Joachim Störig (Hg): Das Problem des Übersetzens. Bd. 8. Darmstadt 1963, S. 38-70, hier S. 47. »Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen […]. Unser Freund […] war beide zu verbinden bemüht, doch zog er als Mann von Gefühl und Geschmack in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor.« Johann Wolfgang Goethe: »Zu brüderlichem Andenken Wielands«. In: Störig: Problem des Übersetzens (Anm. 15), S. 35. Bantel: Wieland (Anm. 1), S. 421. Lukians Sämtliche Werke (Anm. 8), Bd. 1, S. XLIII ff. WBr 10.1, S. 64, 52 f.
Michael Weißenberger
länger bestehende Einschätzung offen, wenn er am 01.11.1793 schreibt: Alle Welt stimmt, mit Recht darin überein, daß sowohl Meine Übersetzungen des Horaz als des Lucian, soviel von meinem Eigenen haben, und sich soweit von der gewohnlichen Ubersetzer Manier entfernen, daß sie so gut, als irgend eines meiner originalsten Werke, in eine Sammlung aller meiner Schriften gehören.²⁰
Mancher hält die Übersetzung gar für geistvoller als das Original.²¹ Die Umsetzung des kaiserzeitlichen griechischen Autors in das kulturelle Milieu des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelingt Wieland durch kleinere oder größere Abweichungen der Übersetzung vom Originaltext, wie man sie in den Übertragungen von Schleiermacher oder Voß niemals finden wird. Diese Abweichungen lassen sich zu drei Typen zusammenfassen, von denen zwei durch Wieland selbst in seiner Einleitung zum Lukian benannt werden: (1) Der Übersetzer nimmt sich die Freiheit, einzelne Wörter oder ganze Wortgruppen vollständig wegzulassen. Wieland spricht von Vermeidung der von Lukian so geliebten Tautologien;²² es gibt allerdings, wie wir sehen werden, auch andere Gründe für derartige Eingriffe in den Text. (2) Umgekehrt stößt man in der Übersetzung überall auf Wörter und ganze Sätze, die keine Entsprechung im Original haben. Wieland schreibt, er habe seinem Autor Worte geliehen, »um seinen Gedanken desto sichtbarer zu machen«.²³ Im Vorwort seiner 1799 erschienenen Xenophon-Übersetzung liest man zu diesem Thema, der Übersetzer habe keinerlei Bedenken gehabt, »wenn ich auch eine oder zwei Zeilen nötig haben sollte um das zu sagen, was der Grieche oder Römer mit zwei oder drei Worten gesagt hat«.²⁴ Mir scheint (und ich will versuchen zu zeigen), dass mit dieser Präzisierungsfunktion der Sinn der wielandschen Einfügungen noch nicht erschöpfend beschrieben ist. (3) Den dritten Typus, von dem Wieland meines Wissens nirgends spricht, würde ich als gezielte Verschiebung bzw. Adaption sowohl von Begriffen als auch von deren Inhalten bezeichnen: Dem Leser Unverständliches, Fremdartiges, Unvertrautes wird in dessen alltägliche Erfahrungswelt herübergeholt. Beginnen wir mit dem Weglassen, und zwar dem Weglassen im großen Stil: Lukians überlieferte Werke umfassen rund 80 einzelne Schriften (genauer lässt sich das wegen einiger sicherer und einiger nicht so sicherer Pseudepigrapha nicht sagen). Immerhin vier davon hat Wieland aus seiner Übersetzung sämtlicher Schriften ausgeschlossen, was er in der Einleitung angibt und begründet. Von drei dieser Schriften sagt Wieland, sie seien aus grammatischen Gründen unübersetzbar und hätten in keiner anderen
WBr 12.1, S. 76, 8-12. Vgl. Bantel: Wieland (Anm. 1), S. 421. Lukians Sämtliche Werke (Anm. 8), Bd. 1, S. XLIV. Ebd., S. XLIV. Xenophon. Schriften über Sokrates. Nach der Übersetzung von C. M. Wieland neu hg. v. Heinrich Conrad. München, Leipzig 1912, S. 2 f.
Wieland als Übersetzer Lukians
Sprache als der griechischen so geschrieben werden können; das letzte ist völlig richtig, das erste nur, wenn man die Wieland’schen Ansprüche stellt. Denn eine immerhin deutsche, wenn auch höchst befremdliche, schwierig zu lesende, von erklärenden Anmerkungen überquellende und im Gegensatz zu den Originalen gar nicht mehr witzige Übersetzung lässt sich auch von diesen Schriften machen. Die ihnen gemeinsame Schwierigkeit besteht darin, dass sie ein sprachliches Phänomen bald höhnisch kritisierend, bald parodierend aufs Korn nehmen, das es in dieser Ausprägung meines Wissens niemals in irgendeiner Kultursprache gegeben hat, nämlich den Attizismus,²⁵ genauer gesagt, dessen skurrile Übertreibungen. Lukian ist selbst ein Attizist, was einfach bedeutet, dass er (wie alle seine literarisch produktiven Zeitgenossen mehr oder weniger) ein Griechisch schrieb, das sich von der tatsächlich gesprochenen (und in nicht-literarischem Kontext auch geschriebenen) Sprache seiner Zeit erheblich unterschied und hinsichtlich des Wortmaterials, der Morphologie, der Syntax die mittlerweile zu Klassikern avancierten Autoren des 5. und 4. Jh. v. Chr. möglichst perfekt zu imitieren suchte. Lukian selbst schrieb ein formvollendetes, elegantes, differenziertes und höchst vokabelreiches Attisch (er ist unter allen erhaltenen griechischen Autoren der Antike derjenige mit dem umfangreichsten Wortschatz) – umso bemerkenswerter, als Griechisch nicht seine Muttersprache war. Aber natürlich führte eine derartige Sprach- und Stilmode (wobei ›Mode‹ eigentlich ein falscher Ausdruck ist, denn der Attizismus war alles andere als kurzlebig, wirkte vielmehr mit seine letzten Nachwehen bis tief ins 20. Jahrhundert)²⁶ auch zu zahllosen Verrücktheiten und Fehlleistungen in einem Umfeld, das weithin die perfekte Beherrschung eines seit einem halben Jahrtausend obsoleten Sprachzustandes als den höchsten, ja einzigen Nachweis von Bildung gelten ließ. Die Irrtümer und Missgriffe, die Lukian in diesem Kontext bloßstellt, die Sprachscherze, die er sich erlaubt, die urkomischen Parodien, mit denen er brilliert,²⁷ konnten also nur in der griechischen Sprache vor dem Hintergrund ihrer 500 Jahre alten klassischen Literatur und der Diskrepanz zwischen der real gebrauchten und der normativ für die Literatur geforderten Sprachform entstehen; das lässt sich zwar irgendwie übersetzen, aber dadurch geht so gut wie alles verloren. Wieland, zumal er einen ›deutschen‹, seiner Zeit vertraut wirkenden Lukian präsentieren will, hat mit dem Weglassen eine in seinem Sinne kluge Entscheidung getroffen;
Zu ›Attizismus‹ und ›Zweiter Sophistik‹ vgl. einführend: Martin Hose: Kleine griechische Literaturgeschichte. München 1999, S. 167-184. Die ›Diglossie‹, also der Zwiespalt zwischen antikisierender ›Reinsprache‹ (καθαρεύουσα) und lebendiger ›Volkssprache‹ (δημοτική) verschwand erst seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Vgl. z. B. Michael Weißenberger: Literaturtheorie bei Lukian: Untersuchungen zum Dialog ›Lexiphanes‹. Stuttgart, Leipzig 1996.
Michael Weißenberger
dass damit die Ausblendung eines nicht ganz nebensächlichen Aspektes von Lukians Werk einhergeht, darf man freilich auch konstatieren. Weggelassen hat Wieland außerdem die auch nicht schwieriger als irgend ein anderes Werk Lukians übersetzbare Schrift [῎Ἔρωτες (›Formen‹ oder ›Arten der Liebe‹); dieser Dialog sei nämlich »so anstößig […], daß ausser den lateinischen Uebersetzern, noch niemand, meines Wissens, unverschämt genug gewesen ist, sich mit der Dollmetschung desselben zu beschmutzen«.²⁸ Wir wären heute sicher gelassener, aber Wieland beurteilte die Dinge schon richtig: Ein Streitgespräch, in dem die beiden männlichen Kontrahenten eingehend und detailreich die Vorzüge der körperlichen Liebe mit Frauen einerseits, der Päderastie andererseits erörtern und – als wenn das nicht schon reichen würde – der Anhänger der Päderastie auch noch das letzte Wort und die besseren Argumente erhält, konnte dem Publikum des 18. Jahrhunderts gewiss nicht zugemutet werden (und dem des 19. und der ersten drei Viertel des 20. übrigens ebensowenig).²⁹ Im Folgenden soll durch wenige ausgewählte Textbeispiele demonstriert werden, wie Wielands Methode des gezielten Weglassens, Hinzufügens und Adaptierens in der Praxis funktioniert. Zu diesem Zweck stelle ich meine stilistisch anspruchslose, aber möglichst genaue Übersetzung (in kleinerer Schrift) der Version Wielands gegenüber; hier sind die Hinzufügungen, denen nichts im griechischen Text entspricht, kursiv gesetzt, die begrifflichen Verschiebungen unterstrichen und die Übersetzungsfehler, die es auch gibt, durch Kursivsetzung und Unterstreichung markiert; die fett gesetzten Worte in meiner Übersetzung kennzeichnen das, was Wieland weggelassen hat. Der griechische Originaltext steht in Fußnoten. Das erste Beispiel, ein kleines Stück narrativen Textes, ist dem Dialog Φιλοψευδεῖϛ (›Lügenfreunde‹) entnommen: Eine Runde älterer Herren hat sich am Krankenbett eines Freundes versammelt und vertreibt diesem und sich selbst die Zeit damit, dass jeder den anderen durch die Erzählung allerlei angeblich selbst erlebter, unglaublicher Wunder- und Spukgeschichten zu überbieten sucht. Eine einzige Person, das Sprachrohr des Autors, glaubt nichts von all dem Unsinn und versucht – allerdings erfolglos –, die anderen davon zu überzeugen, dass derlei Dinge nur in der Phantasie existieren. Die hier ausgewählte Geschichte kennt heute – dank Goethes im Juli 1791 entstandenem Gedicht – fast jeder im deutschen Sprachraum, aber kaum jemand weiß, dass sie von Lukian stammt (der sie allerdings höchstwahrscheinlich auch nicht erfunden hat). Der Erzähler berichtet,
Lukians Sämtliche Werke (Anm. 8), Bd. 6, S. 456. Zudem (aber das gab nicht den Ausschlag) hielt Wieland (wie heute noch einige Philologen) das Werk für unecht (Lukians Sämtliche Werke, Anm. 8, Bd. 6, S. 456).
Wieland als Übersetzer Lukians
was er angeblich auf einer Reise durch Ägypten mit einem der dortigen Magier erlebt hat: Und schließlich überredet er mich, alle Diener in Memphis zurückzulassen und ganz allein ihn zu begleiten, denn es werde uns nicht Bedienung fehlen; und darauf lebten wir also in dieser Weise. Sooft wir aber eine Herberge erreichten, nahm er entweder den Türriegel oder den Besen oder auch den Stößel, zog ihm Kleider an, besprach ihn mit irgendeinem Zauberspruch und bewirkte damit, dass er lief, wobei er allen anderen ein Mensch zu sein schien. Endlich überredete er mich, meine Leute zu Memphis zu lassen, und ihn ganz allein zu begleiten; es würde uns an Bedienung niemals fehlen, sagte er. Ich gehorchte, und seitdem lebten wir folgendermaßen. Sobald wir in ein Wirthshaus kamen, nahm er einen hölzernen Thürriegel, oder einen Besen, oder den Stößel aus einem hölzernen Mörser, legte ihm Kleider an und sprach ein paar magische Worte dazu. Sogleich wurde der Besen, oder was es sonst war, von allen Leuten für einen Menschen wie sie selbst gehalten;³⁰
Hinzufügungen: Wieland verbindet Aufforderung und Ausführung durch ›sagte er. Ich gehorchte‹, erklärt, dass der Türriegel ›hölzern‹ war und dass der Stößel zu einem ›hölzernen Mörser‹ gehört, und er präzisiert das Ergebnis der wundersamen Wandlung vom ›Besen oder was es sonst war‹ zu einem Dienstboten. Die Tatsache, dass das derart verwandelte Objekt laufen kann, erschien ihm dagegen offenbar als selbstverständlich impliziert und damit verzichtbar. ›Folgendermaßen‹ in Zeile 3 ist ein Fehler: Der Satz weist nicht voraus, sondern zurück: In der Folgezeit lebten wir also so (d. h. ohne Dienerschaft); außer eben dann, wenn wir in ein Wirtshaus kamen, wo es zur Verwandlung geeignete Gegenstände gab. Das so verwandelte Holzstück verrichtet nun die ihm aufgetragenen Arbeiten und wird anschließend mittels eines weiteren Zauberspruches wieder zum leblosen Stößel bzw. Besen gemacht. Natürlich versucht der Erzähler, dem Magier das Geheimnis zu entlocken, jedoch: Dies konnte ich, so sehr ich mich auch bemühte, nicht aus ihm herausbringen; denn er hütete es eifersüchtig, obwohl er in allem anderen äußerst zugänglich war. Eines Tages dann aber hörte ich heimlich den Zauberspruch mit – er war dreisilbig –, da ich in der Nähe im Dunkeln verborgen stand. Und er ging fort auf den Marktplatz, nachdem er dem Stößel Weisung gegeben hatte, was getan werden müsse. Ich wandte alles mögliche an, daß er mich das Kunststück lehren möchte: aber mit diesem einzigen hielt er hinterm Berge, wiewohl er in allem andern der gefäl Luciani opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit M. D. MacLeod, Bd. II, Oxford 1974, S. 197, 3-9: »Καὶ τέλος πείθει με τοὺς μὲν οἰκέτας πάντας ἐν τῇ Μέμφιδι καταλιπεῖν, αὐτὸν δὲ μόνον ἀκολουθεῖν μετ᾽ αὐτοῦ, μὴ γὰρ ἀπορήσειν ἡμᾶϛ τῶν διακονησομένων. καὶ τὸ μετὰ τοῦτο οὕτω διήγομεν. ᾽Ἐπειδὴ δὲ ἔλθοιμεν εἴς τι καταγώγιον, λαβὼν ἂν τὸν μοχλὸν τῆς θύρας ἢ τὸ κόρηθρον ἢ καὶ τὸ ὕπερον περιβαλὼν ἱματίοις ἐπειπών τινα ἐπῳδὴν ἐποίει βαδίζειν, τοῖς ἄλλοις ἅπασιν ἄνθρωπον εἶναι δοκοῦντα.«
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ligste Mann von der Welt war. Endlich fand ich doch einmal Gelegenheit, mich in einem dunkeln Winkel verborgen zu halten, und die Zauber-Formel, die er dazu gebrauchte aufzuschnappen, indem sie nur aus drey Sylben bestand. Er gieng darauf ohne mich gewahr zu werden, auf den Marktplatz, nachdem er dem Stößel befohlen hatte was zu thun sey.³¹
Wieland erlaubt sich zwei interpretierende Abweichungen, indem er von einem ›Kunststück‹, das der Erzähler ›gelehrt zu bekommen‹ wünscht, spricht und indem er die im Original suggerierte Zufälligkeit der Lauschszene zu einem absichtlichen Manöver umdeutet (›mich […] verborgen zu halten‹). Ansonsten findet man wieder erläuternde bzw. die Übergänge glättende Hinzufügungen: ›der gefälligste Mann von der Welt‹, ›Endlich fand ich doch einmal Gelegenheit‹, aus Lukians ›Dunklem‹ wird ein ›dunkler Winkel‹ und dass der Erzähler unbemerkt bleibt, wird eigens betont (›ohne mich gewahr zu werden‹). Die Geschichte geht weiter: Am nächsten Tag, als er auf dem Marktplatz etwas zu erledigen hatte, nahm ich mir den Stößel, bekleidete ihn ebenso (wie er), sprach dazu die Silben und befahl ihm, Wasser zu bringen. Als er den Behälter gefüllt und gebracht hatte, sagte ich: »Hör auf und bringe kein Wasser mehr, sondern sei wieder ein Stößel.« Das Ding wollte mir aber nicht mehr gehorchen, sondern brachte immerfort Wasser, bis es uns mit ständigem Dazugießen das Haus mit Wasser angefüllt hatte. Den folgenden Tag, da er Geschäfte halber ausgegangen war, nehm’ ich den Stößel, kleide ihn an, spreche die besagten drey Sylben, und befehle ihm Wasser zu hohlen. Sogleich bringt er mir einen großen Krug voll. Gut, sprach ich, ich brauche kein Wasser mehr, werde wieder zum Stößel! Aber er kehrte sich nicht an meine Reden, sondern fuhr fort Wasser zu tragen, und trug so lange, daß endlich das ganze Haus damit angefüllt war.³²
Dass der Magier ein weiteres Mal ›auf dem Marktplatz‹ zu tun hatte, schien Wieland offensichtlich nicht erneut gesagt zu werden brauchen und für überflüssig hielt er auch Lukians etwas pedantische Angabe, dass die Überschwemmung ›durch ständiges Dazugießen‹ zustande kam. Dafür wieder die glättenden und veranschaulichenden Zusätze: Der Stößel gehorcht ›sogleich‹ auf die ›besagten‹ Silben, nimmt einen ›großen‹ Krug und ›trägt so lange‹, bis das ›ganze‹ Haus überflutet ist. Aus dem Befehl, mit dem Wassertragen aufzuhören, wird eine umgangssprachliche
Ebd., S. 197, 14-18: »Τοῦτο ἐγὼ πάνυ ἐσπουδακὼς οὐκ εἶχον ὅπωϛ ἐκμάθοιμι παρ᾽ αὐτοῦ. ἐβάσκαινε γάρ, καίτοι πρὸς τὰ ἄλλα προχειρώτατος ὤν. Μιᾷ δέ ποτε ἡμέρᾳ λαθὼν ἐπήκουσα τῆς ἐπῳδῆς - ἦν δὲ τρισύλλαβος - σχεδὸν ἐν σκοτεινῷ ὑποστάς. Καὶ ὁ μὲν ᾤχετο εἰς τὴν ἀγορὰν ἐντειλάμενος τῷ ὑπέρῳ ἃ δεῖ ποιεῖν.« Ebd., S. 197, 18-24: »᾿Ἐγὼ δὲ εἰς τὴν ὑστεραίαν ἐκείνου τι κατὰ τὴν ἀγορὰν πραγματευομένου λαβὼν τὸ ὕπερον σχηματίσας ὁμοίως, ἐπειπὼν τὰς συλλαβάς, ἐκέλευσα ὑδροφορεῖν. ᾿Ἐπεὶ δὲ ἐμπλησάμενον τὸν ἀμφορέα ἐκόμισεν, Πέπαυσο, ἔφην, καὶ μηκέτι ὑδροφόρει, ἀλλ’ ἴσθι αὖθις ὕπερον. τὸ δὲ οὐκέτι μοι πείθεσθαι ἤθελεν, ἀλλ’ ὑδροφόρει ἀεί, ἄχρι δὴ ἐνέπλησεν ἡμῖν ὕδατος τὴν οἰκίαν ἐπαντλοῦν.«
Wieland als Übersetzer Lukians
Bewertung des Geleisteten (›gut‹) und eine Erklärung des Sprechers (›ich brauche kein Wasser mehr‹). – Das Unglück nimmt jetzt seinen bekannten Verlauf: Da ich nicht wusste, wie ich mit der Sache umgehen sollte – ich fürchtete, dass Pankrates nach seiner Rückkehr erbost sein würde (was ja auch geschah) –, nehme ich mir eine Axt und haue den Stößel in zwei Stücke; die aber, jedes Stück für sich, ergriffen Behälter und brachten Wasser, und statt mit einem hatte ich es jetzt mit zwei Dienern zu tun. Mir fieng an bange zu werden, Pankrates, wenn er zurück käme, möcht’ es übel nehmen (wie es denn auch geschah) und weil ich mir nicht anders zu helfen wußte, nahm ich eine Axt, und hieb den Stößel mitten entzwey. Aber da hatte ich es übel getroffen; denn nun packte jede Hälfte einen Krug an und hohlte Wasser, so daß ich für Einen Wasserträger nun ihrer zwey hatte.³³
Charakteristisch für Wielands leserfreundliche Textglättung scheint mir hier die dem Erzähler in den Mund gelegte Kommentierung des eigenen Tuns (›Aber da hatte ich es übel getroffen‹), die Lukian dem Leser überlässt; daneben wieder die üblichen Veranschaulichungen: Der Stößel wird ›mitten‹ entzwei gehauen und aus Lukians farblosen ›Dienern‹ werden ›Wasserträger‹. Deutlich einschneidender und – wenn man einen Übersetzer auf ein gewisses Maß an Treue zu seinem Original verpflichten möchte – bedenklicher präsentieren sich Wielands Eingriffe in dem zweiten hier ausgewählten Beispiel. Es handelt sich um ein kleines Stück aus den ᾿Ἀληθῆ διηγήματα, den Wahren Geschichten, einer phantasievollen und sehr amüsanten Parodie auf das Genre des griechischen Reiseromans, der sein Publikum durch Wunder- und Sensationsgeschichten an mit allerlei Fabelwesen bevölkerten exotischen Schauplätzen in Atem hielt. An unserer Stelle berichtet der Erzähler von seiner Reise zum Mond und bemerkt über dessen eigentümliche Bewohner: Die Nahrung ist für alle dieselbe: Sobald sie nämlich Feuer entfacht haben, braten sie auf den Holzkohlen Frösche; viele gibt es bei ihnen, die in der Luft herumfliegen; während die nun gebraten werden, nehmen sie im Kreis wie um einen Tisch herum Platz und schnappen nach dem aufdampfenden Rauch und schmausen. So beschaffen ist also die feste Nahrung, von der sie leben; zum Trunk aber dient ihnen Luft, die in einen Becher ausgepresst wird und Feuchtigkeit entlässt wie Tau. Sie urinieren auch nicht und treten nicht aus, ja sie haben nicht einmal eine Öffnung an der Stelle, wo wir sie haben. Und die Möglichkeit zum Verkehr bieten die Knaben auch nicht im Gesäß, sondern an den Kniekehlen über der Wade; dort haben sie nämlich eine Öffnung.
Ebd., S. 197, 24 – S. 198, 1: »᾿Ἐγὼ δὲ ἀμηχανῶν τῷ πράγματι – ἐδεδίειν γὰρ μὴ ὁ Παγκράτης ἐπανελθὼν ἀγανακτήσῃ, ὅπερ καὶ ἐγένετο – ἀξίνην λαβὼν διακόπτω τὸ ὕπερον εἰς δύο μέρη∙ τὰ δὲ, ἑκάτερον τὸ μέρος, ἀμφορέαϛ λαβόντα ὑδροφόρει καὶ ἀνθ᾽ ἑνὸϛ δύο μοι ἐγεγένηντο οἱ διάκονοι.«
Michael Weißenberger
Die ganze Nation hat nur einerley Art sich zu nähren: sie braten nehmlich Frösche (die bey ihnen haufenweis in der Luft herumfliegen) auf Kohlen, setzen sich um den Heerd, wie sie gebraten werden, wie um einen Tisch her, schlürfen den aufsteigenden Dampf ein, und darin besteht ihre ganze Mahlzeit. Wenn sie trinken wollen, so drücken sie Luft in einen Becher aus, der auf diese Weise mit einer dem Thau ähnlichen Feuchtigkeit angefüllt wird. Bey einer so feinen Nahrung wissen sie nichts von den Excretionen, denen die Erdebewohner unterworfen sind; sie sind auch nicht an eben dem Orte gebort wie wir, sondern haben bloß (zu dem oben angedeuteten Gebrauch) eine Öfnung in der Kniekehle.³⁴
In Wielands Version sehen wir einerseits wieder die verdeutlichenden Hinzufügungen: ›bey einer so feinen Nahrung‹ und ›denen die Erdebewohner unterworfen sind‹; die Mondbewohner eine ›Nation‹ zu nennen, ist wohl ein Zugeständnis an das Weltbild des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Viel stärker fällt aber auf, was Wieland weggelassen und – um es ganz deutlich zu sagen – verfälscht hat: Bereits der wie desinfiziert klingende Ausdruck ›Excretionen‹ bezeugt die Verlegenheit des Übersetzers angesichts der unverblümten griechischen Ausdrücke; vollends aus der Fassung gebracht hat ihn offensichtlich, was der Mondreisende über Lage und Nutzungsmöglichkeiten von Körperöffnungen mitzuteilen hat. Die sittliche Entrüstung erreicht hier ein derartiges Ausmaß, dass Wieland – um es zu wiederholen – den Text grob verfälscht und sogar in Kauf genommen hat, Unsinn zu schreiben: Was nämlich soll man sich unter ›dem oben angedeuteten Gebrauch‹ vorstellen, wo oben doch gerade betont wurde, dass die Mondbewohner überhaupt keine Körperausscheidungen kennen und – ginge es allein darum – also auch keine Körperöffnungen benötigen würden. Lukian ist hier – und es gibt weitere derartige Stellen (z. B. im ῎Ὄνος [Lucius oder der magische Esel ], wo fast zwei Seiten des griechischen Textes weggelassen sind, was Wieland aber wenigstens in einer Anmerkung sagt) – wirklich mit Brachialgewalt in das Dezenzkorsett des 18. Jahrhunderts gezwängt worden. Der größere Teil von Lukians Werk besteht aus Dialogen; die Frische und Lebendigkeit, die bereits dem Original eigen ist, hat Wieland gerade in dieser Textsorte mindestens erreicht, wenn nicht überboten. Zur Demonstration zwei Stücke aus der 15 derartige Sketche umfassenden Sammlung der ῾Ἑταιρικοὶ διάλογοι, also der Hetärengespräche (dies übrigens Wielands in einer langen Anmerkung sehr umsichtig begründete Übersetzung Luciani opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit M. D. MacLeod, Bd. I [1972], S. 92, 27 – S. 93, 6: »Τροφὴ δὲ πᾶσιν ἡ αὐτὴ∙ ἐπειδὰν γὰρ πῦρ ἀνακαύσωσιν, βατράχουϛ ὀπτῶσιν ἐπὶ τῶν ἀνθράκων∙ πολλοὶ δὲ παρ᾽ αὐτοῖς εἰσιν τῷ ἀέρι πετόμενοι∙ ὀπτωμένων δὲ περικαθεσθέντεϛ ὥσπερ δὴ περὶ τράπεζαν κάπτουσιν τὸν ἀναθυμιώμενον καπνὸν καὶ εὐωχοῦνται. Σίτῳ μὲν δὴ τρέφονται τοιούτῳ∙ ποτὸν δὲ αὐτοῖϛ ἐστιν ἀὴρ ἀποθλιβόμενος εἰς κύλικα καὶ ὑγρὸν ἀνιεὶς ὥσπερ δρόσον. Οὐ μὴν ἀπουροῦσίν γε καὶ ἀφοδεύουσιν, ἀλλ’ οὐδὲ τέτρηνται ᾗπερ ἡμεῖϛ, οὐδὲ τὴν συνουσίαν οἱ παῖδεϛ ἐν ταῖϛ ἕδραις παρέχουσιν, ἀλλ’ ἐν ταῖς ἰγνύσιν ὑπὲρ τὴν γαστροκνημίαν∙ ἐκεῖ γάρ εἰσι τετρημένοι.«
Wieland als Übersetzer Lukians
des Titels). Angemerkt sei, dass eines der 15 Gespräche von Wieland nicht übersetzt wurde. Es geht darin um die aus Wielands Lukian konsequent ausgemerzte gleichgeschlechtliche Sexualität, diesmal unter Frauen. Immerhin informiert der Übersetzer den Leser über diese Auslassung und gibt eine Begründung, die für sein Lukian-Bild insgesamt aufschlussreich ist: Uebrigens ist unter den funfzehn hetärischen Gesprächen nur ein einziges, das keine Uebersetzung in irgend eine lebende Sprache gestattet, jedoch ohne daß deßwegen ein billiger Tadel auf Lucian fallen könnte; denn der Grund davon liegt nicht in der Art, wie er das Süjet dieses Dialogs behandelt hat – diese ist wirklich für einen solchen Gegenstand züchtig genug – sondern in dem Sujet selbst. Lucian hatte vermuthlich gute Ursachen, eine unter den vornehmen Damen seiner Zeit ziemlich im Schwange gehende Ausschweiffung, zu ihrer Beschämung und zur Warnung junger Personen, durch dieses vertrauliche Gespräch einer sittsamen jungen Hetäre mit einer ältern Freundin öffentlich zur Schau auszustellen: aber bey uns finden weder diese Bewegursachen statt, noch vertragen unsere Sitten, was die Sitten seiner Zeitgenossen vertragen konnten.³⁵
Zwei Punkte sind hervorzuheben: Lukian behandle zwar ein anstößiges Thema, tue dies aber in der besten Absicht des Anprangerns von Verfehlungen und der allgemeinen Verbesserung der Sitten, meint Wieland. Dass ein Lukiankenner wie er dergleichen glauben konnte, können wir heute unsererseits kaum mehr glauben: Das Hetärengespräch 5 ist, wie in unterschiedlichem Grad alle diese Dialoge, ein unterhaltsamer Sketch mit schlüpfrigem Thema, aber ganz bestimmt keine Warnung vor der lesbischen Liebe oder ein Appell zu sittlicher Besserung. Und zweitens: Inwieweit Lukian genießbar ist und genossen werden darf, das bestimmen ›unsere Sitten‹; und wenn bestimmte ›Bewegursachen‹ ›bey uns‹ nicht vorhanden sind (oder vermeintlich nicht vorhanden sind), dann können wir die ihnen zu verdankenden Teile von Lukians Werk auch nicht gebrauchen. Deutlicher kann man Wielands Programm der kulturellen Umtopfung eines antiken Autors nicht auf den Punkt bringen. Im ersten Gespräch beklagt sich die Hetäre Glykerion bei ihrer Freundin Thais darüber, dass eine gewisse Gorgona ihr den Liebhaber mittels Zauberei abspenstig gemacht habe: Den Soldaten, Thais, den Akarnanier, der früher Abrotonon hatte, danach aber mein Liebhaber wurde, den mit dem kostbar verzierten Gewand meine ich, den im Soldatenmantel, weißt du von ihm oder hast du den Menschen vergessen? – Nein, sondern ich kenne ihn, und er trank mit uns voriges Jahr beim Tennenfest. Aber was bedeutet das? Du schienst nämlich etwas über ihn erzählen zu wollen. Liebe Thais, erinnerst du dich des Akarnanischen Hauptmanns noch, der die Abrotonon unterhielt, und sich hernach in mich verliebte, des schönen Officiers,
Lukians Sämtliche Werke (Anm. 8), Bd. 3, S. 343 f.
Michael Weißenberger
der immer in der scharlachnen Uniform gieng? Oder hast du ihn schon vergessen? – Ich erinnere mich seiner sehr wohl, Glycerion; er hat ja erst in verwichnem Jahr am Ceresfeste mit uns geschmaust. Aber warum fragst du mich? Solltest du seinethalben was auf dem Herzen haben?³⁶
Als erstes fällt ins Auge die Eliminierung des Unvertrauten: Der einfache, gut gekleidete, eine χλαμύς, d. h. einen für Soldaten typischen Mantel tragende Kriegsmann wird vom Übersetzer kurzerhand befördert zum ›Hauptmann‹ und ›schönen Offizier‹, der eine (der griechischen Antike fremde) ›Uniform‹ trägt, welche Wieland überdies scharlachrot gefärbt hat: Das ist kein antiker Hoplit, sondern ein – sagen wir – Husarenoberst des 18. Jahrhunderts. Dessen Gepflogenheiten entsprechend ›schmaust‹ man auch zusammen aus Anlass eines Festtages, während das griechische Verbum συμπίνειν – wie natürlich auch Wieland genau wusste – ›zusammen trinken‹ bedeutet, weil bei solchen Veranstaltungen eben der gemeinsame Weingenuss – selbst wenn man dies und jenes aß – das Wichtigste war. Ein weiteres Beispiel für Wielands gekonnte Kultur-Transferleistungen greife ich aus dem zweiten Gespräch heraus: Hier glaubt die Hetäre Myrtion – zu Unrecht, wie sich herausstellt –, dass ihr Geliebter Pamphilos, von dem sie schwanger ist, soeben eine ordentliche bürgerliche Ehe geschlossen habe, was den Abbruch des Verhältnisses mit der Hetäre bedeuten würde. Myrtion beginnt mit einer schmerz- und vorwurfsvollen Rede, Pamphilos weist die Anschuldigung als Hirngespinst zurück, worauf Myrtion verunsichert noch einmal nachfragt: Du wirst also nicht heiraten, Pamphilos? – Du bist verrückt geworden, Myrtion, oder hast einen Kater; dabei haben wir uns doch gestern gar nicht so betrunken. Du heurathest also nicht, Pamphilus? – Bist du toll, Myrtchen? Oder hast du zu tief ins Glas geguckt? Gestern giengs doch ziemlich nüchtern her?³⁷
Wielands umgangssprachliche Formulierung ›Oder hast du zu tief ins Glas geguckt?‹ (für ein eher farbloses griechisches Verbum, das eigentlich ›einen Rausch‹ bzw. ›Kopfschmerzen haben‹ bedeutet) trifft den Ton des ganzen Gesprächs so glücklich, dass das Vergnügen des Lesers auch durch die gesicherte archäologische Erkenntnis, dass die Griechen die Kunst der Glasherstellung noch kaum entwickelt hatten und jedenfalls niemals Gläser benutzten, um daraus zu trinken, kein bisschen getrübt werden kann. Luciani opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit M. D. MacLeod, Bd. IV, [1987], S. 315, 1-5: »Τὸν στρατιώτην, Θάι, τὸν Ἀκαρνᾶνα, ὃς πάλαι μὲν ᾿Ἀβρότονον εἶχε, μετὰ ταῦτα δὲ ἠράσθη ἐμοῦ, τὸν εὐπάρυφον λέγω, τὸν ἐν τῇ χλαμύδι, οἶσθα αὐτὸν, ἢ ἐπιλέλησαι τὸν ἄνθρωπον; – Οὔκ, ἀλλὰ οἶδα, ὦ Γλυκέριον, καὶ συνέπιε μεθ’ ἡμῶν ἐν τοῖς ῾Ἁλώοις. Τί δὲ τοῦτο; Ἐῴκεις γάρ τι περὶ αὐτοῦ διηγεῖσθαι.« Ebd., S. 318, 10-12: »Οὐκοῦν οὐ γαμεῖϛ, ὦ Πάμφιλε; – Μέμηνας, ὦ Μύρτιον, ἢ κραιπαλᾷς∙ καίτοι χθὲς οὐ πάνυ ἐμεθύσθημεν.«
Wieland als Übersetzer Lukians
Besonderer Beachtung wert sind gerade in den Dialogen Wielands Hinzufügungen. Der Übersetzer erzielt durch sie – um meine Deutung vorwegzunehmen – einen gemütvoll-vertraulichen Plauderton, der im Original so nicht vorhanden ist, und intensiviert zugleich die Emotionaliät der Gespräche, was man vielleicht als ›Sentimentalisierung‹ bezeichnen könnte; dafür abschließend noch einige Beispiele: Im oben zitierten Beginn des ersten Gesprächs fragt Thais ihre Gesprächspartnerin im Original nicht, ob sie des Soldaten wegen ›was auf dem Herzen habe‹, sondern äußert lediglich ihren Eindruck, dass Glykerion etwas über ihren früheren Liebhaber erzählen wolle. Ähnlich ein Wortwechsel in demselben Stück: Und jetzt besucht er dich nicht, hat dagegen Gorgona zu seiner ›Gefährtin‹ gemacht? – Ja, Thais, und die Sache hat mich nicht wenig angegriffen. Er hat dich also aufgegeben und Gorgonen zu seiner Gesellschafterin gewählt? – Leider, liebe Thais! Es hat mir nicht wenig weh gethan, das kannst du mir glauben.³⁸
Aus Glykerions bestätigender Antwort und schlichter Anrede ›Ja, Thais‹ wird ein innig-bedrücktes ›Leider, liebe Thais‹, und zusätzlich (wie öfter) lässt der Übersetzer die Sprecherin ihre eigenen Worte durch ein ›das kannst du mir glauben‹ redensartlich bekräftigen. Auch bei der Beschreibung der mangelnden Attraktivität der Rivalin Gorgona hat Wieland nicht mit Hinzufügungen gespart: Aber erstaunlich finde ich dies, was dieser Soldat nur an ihr gefunden hat, wenn er nicht vollkommen blind ist, dass er nicht gesehen hat, wie spärlich ihr Haar ist und wie weit von der Stirn weg fliehend; und die Lippen farblos und der Hals mager und deutlich darauf zu sehen die Adern und eine lange Nase. Eins nur: sie ist von stattlicher Größe, hält sich gerade und lächelt sehr verführerisch. Aber das wundert mich, was dem Hauptmann denn so sehr an ihr gefallen haben kann? Er muß seitdem ich ihn gesehen habe, stockblind worden seyn, oder er hätte doch sehen sollen, daß sie beynahe kahl ist, und daß die paar Haare, die sie noch hat, eine halbe Elle weit von der Stirne abstehen; daß sie ganz bleyfarbige leichenblasse Lippen und eine lange Nase hat, und daß man alle Adern an ihrem dürren Halse zählen kann. Das einzige muß man ihr lassen, sie ist wohl gewachsen, trägt sich schön gerade, und hat in der That etwas zauberisches in ihrem Lächeln.³⁹
Sehr deutlich zeigt sich die Tendenz zur Sentimentalisierung auch in dem zweiten Hetärengespräch: Das beginnt bereits mit dem Namen der
Ebd., S. 316, 1-3: »Καὶ νῦν σοὶ μὲν ἐκεῖνοϛ οὐ πρόσεισι, Γοργόναν δὲ ἑταίραν πεποίηται; – Ναὶ, ὦ Θάι, καὶ τὸ πρᾶγμα οὐ μετρίως μου ἥψατο.« Ebd., S. 316, 7-12: »᾿Ἀτὰρ ἐκεῖνο θαυμάζω, τί καὶ ἐπῄνεσεν αὐτῆϛ ὁ στρατιώτηϛ οὗτος, ἐκτὸϛ εἰ μὴ παντάπασιν τυφλός ἐστιν, ὃϛ οὐχ ὡράκει τὰϛ μὲν τρίχαϛ αὐτὴν ἀραιὰϛ ἔχουσαν καὶ ἐπὶ πολὺ τοῦ μετώπου ἀπηγμένας∙ τὰ χείλη δὲ πελιδνὰ καὶ τράχηλος λεπτὸς καὶ ἐπίσημοι ἐν αὐτῷ αἱ φλέβεϛ καὶ ῥὶϛ μακρά. ῝Ἕν μόνον, εὐμήκηϛ ἐστὶ καὶ ὀρθὴ καὶ μειδιᾷ πάνυ ἐπαγωγόν.«
Michael Weißenberger
weiblichen Hauptperson, der im Griechischen immer nur Myrtion lautet und ohne Attribute bleibt. Bei Wieland dagegen bezeichnet die Dame sich selbst gegenüber ihrem Geliebten Pamphilos als ›dein armes Myrtchen‹ und er nennt sie ›Myrtchen‹ oder ›liebstes Myrtchen‹ oder ›meine gute Myrto‹. Hierbei muss man berücksichtigen: Myrtion ist auf der einen Seite tatsächlich die Diminutivform des griechischen Frauennamens Myrto, auf der anderen Seite aber auch selbst als Frauenname durchaus gebräuchlich und muss somit nicht oder jedenfalls nicht nur als Koseform verstanden werden. Im Deutschen dagegen kann ›Myrtchen‹ nichts anderes sein als eine Koseform. Auf derselben Linie liegt es, dass dieses verniedlichte wielandsche ›Myrtchen‹ sein ungeborenes Kind das ›arme Würmchen‹ nennt, wo im Griechischen nichts weiter steht als die substantivierte Neutrum-Singular-Form des passiven Aorist-Partizips zu dem Verbum, das ›gebären‹ bedeutet, also ›das gerade geboren worden Seiende‹; dieses ›Würmchen‹ will Myrtion trotz aller zu erwartenden Widrigkeit auch aufziehen, nicht wie bei Lukian lediglich als ›Trost für meine Liebe‹, sondern als ›einzigen Trost meiner unglücklichen Liebe‹. Und auch die im Original eher lakonische Mutter des Pamphilos, die ihren Sohn gern im Hafen der Ehe sehen möchte, lässt sich in der Übersetzung beim Entfalten ihrer Gefühle und Wünsche kaum bremsen: Allerdings habt ihr euch umsonst aufgeregt; denn nicht bei uns ist die Hochzeit, sondern gerade ist mir eingefallen, was ich von meiner Mutter hörte, als ich gestern von euch heimkam; sie sagte: »Pamphilos, der mit dir gleichaltrige Charmides, unseres Nachbarn Aristainetos Sohn, heiratet schon und ist vernünftig geworden; du dagegen, wie lange willst du dich noch mit einer Hetäre abgeben?« … und gleichwohl habt ihr euch vergeblichen Kummer gemacht; denn die Hochzeit ist nicht bey uns. Ich erinnere mich aber nun, was mir meine Mutter gestern sagte, da ich von euch nach Hause kam. Pamphilus, sagte sie, Charmides, ein Jüngling ungefehr von deinem Alter, ist im Begriff unsers Nachbars Aristänets Tochter zu heurathen. Das nenn’ ich einen wackern und gesetzten jungen Menschen! Wie lange wird dich dein freyes Leben noch abhalten, deiner Mutter auch eine solche Freude zu machen?⁴⁰
Diese Beispiele ließen sich vervielfachen; das Gebotene mag indes genügen, um deutlich zu machen, welchen Tendenzen folgend und welche Mittel einsetzend Wieland den Text modifiziert hat und wie es kommt, dass seine Übersetzung sich tatsächlich nicht wie eine Übersetzung liest. Einem möglichen Missverständnis sei am Ende noch vorgebeugt: Es ging nicht darum, Wieland zu kritisieren oder seine Leistung als Übersetzer in Ebd., S. 319, 8-13: »Πλὴν μάτην γε ἐταράχθητε∙ οὐδὲ γὰρ παρ’ ἡμῖν οἱ γάμοι, ἀλλὰ νῦν ἀνεμνήσθην ἀκούσας τῆς μητρός, ὁπότε χθὲς ἀνέστρεψα παρ’ ὑμῶν∙ ἔφη γάρ, ῏Ὦ Πάμφιλε, ὁ μὲν ἡλικιώτης σοι Χαρμίδης τοῦ γείτονος Ἀρισταινέτου υἱὸς γαμεῖ ἤδη καὶ σωφρονεῖ, σὺ δὲ μέχρι τίνος ἑταίρᾳ σύνει;«
Wieland als Übersetzer Lukians
irgendeiner Weise abzuwerten. Vielmehr bleibt wahr, dass seine Version der Werke Lukians – und das gilt auch für Aristophanes und Xenophon und Horaz usw. – eine der herausragenden Glanzleistungen der deutschen Übersetzungsliteratur ist.⁴¹ Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass aus philologischer Sicht gewisse Eigentümlichkeiten in dieser Übersetzung zu konstatieren sind, die Lukian dem Leser des 18. Jahrhunderts und auch noch dem heutigen näher und vertrauter erscheinen lassen, als er wirklich ist. Der Leser muss dies nicht unbedingt wissen, wenn er es aber weiß, wird er besser in der Lage sein, zwischen dem deutschen Lukian des 18. Jahrhunderts und dem griechischen des 2. Jahrhunderts zu unterscheiden. Dessen ungeachtet wäre es ein Jammer, wenn Wieland einer Ermahnung, die ihn brieflich im Januar 1787, also noch in der Anfangsphase seiner Arbeit, erreichte, Gehör geschenkt hätte. Johann Wilhelm Ludwig Gleim schrieb damals: Damit aber, mein bester Wieland, daß Sie den Lucian übersetzen wollen, bin ich im mindesten nicht zu frieden. Ein Kopf, wie der Ihrige, muß, zur Ehre seines Volks, und seiner Sprache, selbst produciren. Noch einen Oberon, eine Musarion nur, wäre mir lieber, als alle die vortreflichen Ubersetzungen die Sie liefern könnten, den trägen Leuten, die Griechisch und Römisch nicht lernen wollen, also nicht verdienen, daß ein Original-Kopf sich Mühe giebt.⁴²
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II. In: Ders.: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 2. München u. a. 1988, S. 599: »[…] seine Uebersetzungen der Briefe Cicero’s und des Lucian sind die besten deutschen Uebersetzungen […]« WBr 9.1, S. 274, 7-13.
Jan Philipp Reemtsma
Wielands letztes Werk Wenn man sich jahre-, in meinem Fall muss ich sagen: jahrzehntelang, mit einem Autor beschäftigt, dann muss es sich wohl um ein Liebesverhältnis handeln. Was eigentlich – keine Sorge, ich werde zum angekündigten Thema schon noch kommen – macht ein solches Liebesverhältnis aus? Zunächst muss festgehalten werden, dass man in der Literatur (in der Kunst überhaupt), anders als in rein zwischenmenschlichen Liebesverhältnissen, wo das Geschmackssache ist, nur auf promiskuitiver Grundlage lieben kann. Wer nur einen Autor liebt, liebt keinen, nur wer viele liebt, kann einen lieben. Darf ich Wieland zitieren?: Die Damen fordern sonst, es soll, wer sie verehret, Für alle andern stumpf und ohne Nerven sein. Für mich ist diese Art von Eitelkeit zu klein: Der Schönsten Gunst wird euch von mir gewähret. Genießt sie alle, Prinz, nehmt alle stürmend ein: Doch wenn ihr im Triumf aus ihren Armen kehret, Bringt euer Herz mir unverletzt zurück.¹
Die Eifersucht, sagt Max Frisch irgendwo, sei die Angst vor dem Vergleich. In literarischen Dingen lebt die Liebe vom Vergleich. Schönheiten wie Extravaganzen erschließen sich nur dem, der sich umgetan hat, und kehrt er dann immer wieder zu einem zurück, so heißt das nicht, dass der der Einzige wäre, wohl aber, dass man sich an seinen Schönheiten nicht sattlieben mag. Wie kommt es zu solchen Verliebtheiten, die so lange andauern? Nun, das hängt, wie in anderen Liebesdingen auch, von Zeit, Ort, Gelegenheit, von der Beschaffenheit des Liebhabers und dem geliebten Objekt (wenn ich mich einmal so schnöde ausdrücken darf ) ab. Wie war es bei mir und Christoph Martin Wieland? Am Anfang stand Friedrich Dürrenmatt, den ich als Schüler mit 12 oder 13 Jahren las, und unter anderem sein Hörspiel Der Prozeß um des Esels Schatten mit dem Untertitel nach Wieland, aber nicht sehr. Das gefiel mir und ich versuchte, dem Hinweis des Untertitels nachzugehen, was mir durch die Hilfestellung meiner Buchhändlerin gelang. Ich habe dann die Geschichte der Abderiten – die Reclam-Ausgabe – gelesen. Das Buch gefiel mir, aber natürlich im Rahmen dessen, was einem
Christoph Martin Wieland: Idris und Zenide. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 17. Leipzig 1796, S. 233.
Jan Philipp Reemtsma
so jungen Menschen daran gefallen kann: wirklich würdigen, auch wirklich komisch finden kann man das Buch erst dann, wenn man selber in Kontakt (am besten in aktiven) mit der Politik gekommen ist, und das hatte bei mir natürlich noch eine gute Weile. Das war es für eine recht lange Zeit. Zurückgekommen bin ich auf Wieland im Rahmen eines Dissertationsvorhabens über den Märchenstil Jacob Grimms, wozu unter anderem eine Analyse von Grimms Umarbeitungen von Kunstmärchen in den von ihm geschaffenen Volksmärchenton gehörte. In diesem Zusammenhang traf ich auf die Stichworte »französische Feenmärchen« und »Wieland«, und ein Freund meiner Familie, dem ich davon erzählte, schenkte mir die Geschichte des Prinzen Biribinker, die ich mit großem Vergnügen las. Wenig später rief mich ein Kommilitone an, der in einem Antiquariat vor einer Wieland-Ausgabe (Göschen 1853) stand, worauf ich mich sofort auf den Weg machte, die Ausgabe kaufte und mit dem Don Sylvio begann. Weiter ging es mit der Musarion (die wieder als Reclam-Text). Aber zu jener Zeit begann ich auch Arno Schmidt für mich zu entdecken, und beschloss einfach, seinem Hinweis auf das Wieland’sche Spätwerk, besonders auf den Aristipp, zu folgen – und da passierte es dann: Alle Götter der beiden Elemente, denen du bei unserm Abschied mein Leben so dringend empfahlst, schienen es mit einander abgeredet zu haben, die Überfahrt deines Freundes nach Kreta zu begünstigen. Wir hatten, was in diesen Meeresgegenden selten ist, das schönste Wetter, den heitersten Himmel, die freundlichsten Winde; und da ich dem alten Vater Oceanus den schuldigen Tribut schon bei einer frühern Seereise bezahlt hatte, genoß ich der herrlichsten aller Anschauungen so rein und ungestört, daß mir die Stunden des ersten Tages und der ersten Hälfte einer lieblichen mondhellen Nacht zu einzelnen Augenblicken wurden. Gleichwohl – darf ich dirs gestehen Kleonidas? – deuchte michs schon am Abend des zweiten Tages, als ob mir das majestätische, unendliche Einerlei unvermerkt – lange Weile zu machen anfange. Himmel und Meer, in Einen unermeßlichen Blick vereinigt, ist vielleicht das größte und erhabenste Bild, das unsre Seele fassen kann; aber nichts als Himmel und Meer und Meer und Himmel, ist, wenigstens in die Länge, keine Sache für deinen Freund Aristipp.²
Da war ich gefangen. War schon der Titel Aristipp und einige seiner Zeitgenossen von einer frappierend modernen Lakonik, so wurde die mit ihm signalisierte Pathosferne in diesem ersten Absatz vollkommen eingelöst. So trocken ist wohl nie eine Absage an das Erhabene als dem würdigsten Gegenstand der Poesie formuliert worden, und das zu einer Zeit, wo sowohl seitens der Philosophie wie der Literatur das Erhabene als der eigentliche Fluchtpunkt ästhetischen Bemühens formuliert wurde. Auch wenn man derlei bei der ersten Lektüre nicht durchdenkt, wird der programmatische Anspruch doch deutlich, und wenn wenig später die Wirkung
Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. 1. Buch. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 33. Leipzig 1800, S. 3.
Wielands letztes Werk
der Zeus-Statue des Phidias zu Olympia erörtert wird, und zwar als technisches Problem und als Resultat der richtigen Distanz des Betrachters, dann merkt man sehr bald, dass hier (neben der zu vermutenden impliziten) sehr wohl auch eine explizite Ästhetik zu finden (und also zu suchen) sein wird. Später bin ich ja auch fündig geworden, denn nicht nur der Hinweis auf die entsprechenden Stellen aus der Kritik der Urteilskraft führt weiter, sondern es findet sich später noch eine sehr genaue Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon. Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht sprechen. Zurück zur zitierten Stelle – noch einmal: Alle Götter der beiden Elemente, denen du bei unserm Abschied mein Leben so dringend empfahlst, schienen es mit einander abgeredet zu haben, die Überfahrt deines Freundes nach Kreta zu begünstigen.
Alle Vokale finden sich in diesem Satz, zwei Umlaute, zwei Diphtonge, alles in gehöriger Abwechslung, da ist kein Maulaufsperren, kein versehentlicher Binnenreim, der Rhythmus ist wunderbar austariert – und alles das so leichthändig, dass man gar nicht merkt, wie kunstvoll das gemacht ist. Ich muss ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern: Ich habe vor einiger Zeit den gesamten Aristipp für eine Hörbuchproduktion im Studio gelesen, und – sprechen wir jetzt von einem anderen Gefühl – meine Achtung ist noch einmal gewachsen. Es gibt wenige Schriftsteller, die eine Prosa schreiben, der man sich als Sprecher so überlassen kann: Der Takt der Worte, der Einsatz der Interpunktion leiten die Stimme auch bei Sätzen, die sich über eine halbe oder dreiviertel Seite ziehen, so, dass man (auch wenn man den Text nicht vorbereitet, was natürlich trotzdem anzuraten ist) sicher ans Ende kommt. Dass Wieland sagte, er habe sein ganzes Schriftstellerleben gebraucht, um diesen Roman zu schreiben, wird allein aus diesem Umstand deutlich. Und man kann an dem Absatz noch weit mehr zeigen, wie mit wenigen Strichen der Autor seinen Titelhelden sich selbst porträtieren lässt: Man sieht sein Gesicht schon vor sich und der Fortgang des Briefes, die folgenden Briefe entwerfen die ganze Gestalt. Das alles geschieht ebenso genau wie beiläufig, und nie wird der Leser mit offensichtlich Konstruiertem belästigt. Was sich hier im Kleinen zeigt, zeigt sich später in der Konstruktion des Ganzen, so, dass es möglich ist, über den ungeschriebenen fünften Band, Einiges zu sagen, allein aufgrund des in den geschriebenen vier Büchern Angelegten. Aber das will ich Ihnen nicht erzählen, denn der Aristipp ist nicht Wielands letztes Werk gewesen. Aber mit diesem Buch habe ich Wieland lesen gelernt. Wenn man einen Autor lesen lernt und ihm treu bleibt, wandelt sich die Verliebtheit in Liebe, weil der Verliebtheit der Respekt zuwächst. Zwar ist das Abenteuer erster Erkundungen vorbei, aber es folgt das größere Abenteuer lebenslangen Kennenlernens. Es ist noch nicht
Jan Philipp Reemtsma
vorbei, und wenn ich heute etwas über Wielands letztes Werk sage, sage ich hoffentlich nicht zum letzten Mal etwas über Wieland. Vor dem letzten Werk aber etwas zum gesamten Werk, und das unter dreierlei Gesichtspunkten. Einmal möchte ich ein paar Worte zu der besonderen historischen Situation sagen, in der Wieland seine literarische Laufbahn begann und vollendete. Zweitens etwas zu dem besonderen künstlerischen Naturell, das auf besondere Weise zu dieser Situation passte, so dass Wielands Werk unter die wirklich großen Glücksfälle gerechnet werden kann, die einer Nationalliteratur überhaupt zufallen können. Drittens zu dem vor diesem Hintergrund auf den ersten Blick so befremdlichen Fremdwerden Wielands für die Literaturrezeption des 19. Jahrhunderts, die sich bis in die zweite Hälfte des 20. erstreckte. Wann eigentlich beginnt die moderne deutsche Literatur? 1748 – einhundert Jahre nach dem Westfälischen Frieden – in Leipzig mit den Worten: »Die Post also ist noch nicht da?« So beginnt Lessings Der junge Gelehrte, und diesen Ton hat es bis zu diesem Tag auf dem deutschen Theater nicht gegeben. Wenn Sie einmal ein Theaterstück von Gottsched gelesen haben und damit vergleichen, was diesem jungen Mann aus dem Stand gelang, werden Sie ihm jede Injurie gegen den älteren Kollegen nachsehen müssen – und Sie werden wohl auch einen Brockes, einen Bodmer, einen Klopstock immer unter die Übergangsfiguren rechnen müssen. Was Lessing für das Theater – Komödie wie Tragödie – den kulturhistorischen Essay, die Polemik tat, tat Wieland für die Verserzählung, den Roman, den politischen Essay, das Libretto, das Kunstmärchen, die Kunst der Übersetzung (Shakespeare, Horaz, Lukian, Euripides, Aristophanes – not least: Cicero). Mit diesen beiden Autoren wurde eine provinzielle, schwerfällige Literatur, die nur zuweilen – man möchte sagen: zufällig – ein gewisses Niveau erreichte, innerhalb von weniger als einem Vierteljahrhundert Weltliteratur. Man mag es keinen Zufall nennen, dass dieses Wort von Wieland stammt, der die deutsche Literatur mit vielleicht mehr haltbaren Neologismen beschenkt hat (er brauchte sie für seine Shakespeare-Übertragungen) als je ein anderer: von »kaltherzig« über »rosenwangig« bis zur »Sicherheitsklausel«. Wie sehr die deutsche Literatur zu Wielands Jugend noch barfuß ging (von Kinderschuhen kann man kaum sprechen), zeigen die Auseinandersetzungen, in die er als Parteigänger Bodmers in Zürich verwickelt war: Da griffen Anhänger Gottscheds Bodmer an, weil er vom »Lautenklang fallender Wasser«³ spreche, wo doch Wasser keine Laute spielen könne, und Wieland musste etwas über die Logik des Metapherngebrauchs erzählen.
Christoph Martin Wieland: Schriften zur deutschen Sprache und Literatur. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler. 3 Bde. Frankfurt/M. 2005, hier Bd. 1, S. 534.
Wielands letztes Werk
Es ist bezeichnend, dass uns die Gedichte eines Andreas Gryphius, eines Paul Fleming weniger fremd vorkommen, als das, was in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Papier gebracht wurde. Es war nicht nur eine fixe Idee der Zeit, die deutsche Literatur müsse neu erfunden werden – sie musste es tatsächlich. Und die beiden Autoren, die dies in erster Linie bewerkstelligten, waren sich in zweierlei Hinsicht einig: einmal in ihrer genauen Kenntnis der Literatur der griechischen und römischen Antike ohne diese zum Muster zu erklären, das nachzuahmen wäre. Vielmehr nahmen sie sie als Studienmaterial, wie unter Umständen des Beginnens formale Fragen gelöst werden können. Zweitens verwiesen sie beide auf Shakespeare – Lessing als Theoretiker des Theaters, Wieland als Übersetzer – um zu zeigen, wie sich Qualität ohne Nachahmung aus sich selbst bildet. Es gehört zu den Voraussetzungen der besonderen Rolle dieser beiden Autoren, dass sie eine persönliche Eigenschaft teilten. Sie waren Experimentatoren – d. h. sie waren es nicht nur notgedrungen, sondern mit Kopf und Herz. Es gibt ja Autoren (Musiker, bildende Künstler), die von bestimmten Themen nicht lassen können und sie immer erneut variieren (Jean Paul wäre hier zu nennen), andere widmen sich bestimmten Problemen (Joyce: die Darstellbarkeit des Konkreten durch ein Höchstmaß an indirektem Bezug, Schönberg: die Neubegründung der abendländischen Kompositionstechnik), und es gibt Künstler, die sich unterschiedlichen Formen widmen, um ihre Möglichkeiten und Grenzen zu erkunden – für die Malerei führe ich da gerne Turner, für die Musik Strawinsky, für die Literatur Lessing und vor allem Wieland an. Es ist nun unter anderem gerade diese Verbindung von historischer Rolle und persönlicher Disposition, die Wieland – aber nicht Lessing – den Ruf, der sich im 19. Jahrhundert gebildet hat und ins 20. hinübergetragen wurde, eingebracht haben, der Vorläufer schlechthin gewesen zu sein: Was immer er gemacht habe, hätten andere nach ihm besser gemacht – in Walter Benjamins grandioser Unverschämtheit, eines Autors 200sten Geburtstag zu würdigen, ohne ihn zu kennen,⁴ liest sich das so: Es gelte von Wieland, »was Goethe von Sterne« sage, »er sei in nichts ein Muster und in allem ein Andeuter und Erwecker gewesen«.⁵ Nun wäre das Goethe’sche Urteil über Sterne schon Narretei – Sterne ist allenfalls insofern kein Muster gewesen, als niemand den Tristram Shandy je hätte übertreffen können – seine Applikation auf Wieland bedient sich muffigster Klischees, die aber
Vgl. Walter Benjamin: »Christoph Martin Wieland. Zum zweihundertsten Jahrestag seiner Geburt«. In: Ders.: Gesammelte Schriften, II.1., hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1977, S. 395-406. Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Auf Grund der letzten vom Verfasser bearbeiteten Auflage herausgegeben von Georg Wittkowski. Leipzig 1928, S. 290 f.
Jan Philipp Reemtsma
in den 60er Jahren noch so verbreitet waren, dass Adorno, der von der Literatur des 18. Jahrhunderts ebenso selektiv unterrichtet war – und das nehme man beim Worte: unterrichtet, er hatte keine Lehrer gehabt, die ihn anderes lehrten – diesen Aufsatz über Wieland in eine seiner Auswahlen aus den Schriften Benjamins aufnahm. Federführend bei der Neu-Lektüre Wielands sind zwei Menschen gewesen, ein Germanist und ein Schriftsteller, Friedrich Sengle und Arno Schmidt. Sengle veröffentlichte 1949 eine Wieland-Biographie und tat dies mit der seit Grubers Biographie und Edition von 1825 eingebürgerten Entschuldigung dafür, dass er das Publikum mit einem im Grunde doch historisch überholten Autor plage. In der Tat ist Sengles Biographie merkwürdig, weil sie etwas wie einen pragmatischen Widerspruch bildet. Er schreibt fast ein halbes hundert Seiten über einen Autor, über den er, wenn er wertet, fast nichts weiter zu sagen weiß, als die Klischees des 19. Jahrhunderts, und von dem er, wenn man genau hinsieht, auch nicht wirklich alles – soll sagen: alles Wichtige – gelesen hat. Andererseits geistert durch die Seiten von Sengles Buch, dass es an der Zeit wäre, einen Autor wieder zu lesen, den neu zu lesen er selbst nicht vermochte. Das tat dann Arno Schmidt, und er tat das als junger Mann in einem Buch, das er seiner Frau widmete, und das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde: Dichtergespräche im Elysium. Dann folgte in den frühern 50ern eine Passage in dem Roman Aus dem Leben eines Fauns, und schließlich der RadioEssay Wieland oder die Prosaformen mit dem bezeichnenden Eingang: Wieland? – : Hm. – Ein berühmter Name, gewiß; aber wie ich gestehen muß, mir nur eine Schattengestalt. Die Literaturgeschichte – die alte Jungfer mit der spitzen roten Nase, und den falschen schwarzen Locken, steif und brüchig, wie abgebrannte Streichhölzer – hat ihn doch längst so endgültig abgetan.⁶
Schmidts Aneignung der Literaturgeschichte folgte einem eigenen Gesetz: Er wählte nach Maßgabe gefühlter Wahlverwandtschaften, weshalb seine Entdeckungen und Empfehlungen alle die befremdeten, die das Schmidt’sche Werk nicht kannten – und bei den enthusiastischen Lesern Schmidts führten seine Empfehlungen oft dazu, dass sie ihm alles glaubten, was er über diese Autoren sagte. Umgekehrt glaubten viele, seine Gedanken über andere Autoren müssten von denen »vom Fach« nicht weiter berücksichtigt werden – erst jüngst ist ein Buch erschienen, das Schmidts einzigartige Rolle für eine – übrigens internationale – Re-Lektüre Wielands glatt unterschlägt. Schmidt sah seine Nähe zum Werk Wielands in dem, was er an andrem Ort »Versuchsreihen« nannte, also eben genau in der erwähnten Neigung, mit literarischen Formen zu experimentieren. Kommentarlos ließ er ausführlich den Beginn von Wielands (sehen wir
Arno Schmidt: Wieland oder die Prosaformen. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe, II.1. Bargfeld 1989, S. 278.
Wielands letztes Werk
vom letzten Teil des Pervonte und der späten Wasserkufe ab) letzten großen Verserzählung Klelia und Sinibald rezitieren, und der erstaunte Leser – wofern er nicht durch die Rezitation gefangen wurde – fragte sich, was denn an diesem Text, so charmant er auch klingen mochte, so bemerkenswert sein möge. Erst wenn man den Begriff der Versuchsreihen wirklich ernstnimmt, kommt man analytisch dem, was sich bei bloßer Lektüre als Charme darbietet, auf die Spur. Wobei man ebenfalls ernstnehmen muss, was Wieland in seiner Einleitung zum Neuen Amadis betont: dass man Verse laut lesen müsse. Man kann – speziell bei Wielands Versen – die Erfahrung machen, dass der stumme Leser sich im Text hoffnungslos verfängt ohne wirklich gefangen zu werden, dass derjenige, der sich den Text aber vorlesen lässt oder ihn selbst laut liest, ein Wunder an Harmonie und Transparenz hört. Es ging Wieland um die Versifizierung des Sprechens als eine akustische Kunst, die nur akustisch erschlossen werden kann. Mit Klelia und Sinibald beendete Wieland seine Versuchsreihe der Verserzählungen, weil er zu einem Ende gekommen war: besser ging es nicht. Was, wäre zu fragen, ging nicht besser? Wieland hatte in seinen theoretischen Schriften ein Ideal aufgestellt: Verse müssten sich – ohne Unterstützung durch das Druckbild (sprich: den Zeilenumbruch) – wie Prosa lesen lassen. Das heißt nicht nur, dass die einzelnen Wörter im Vers nicht anders betont werden dürften als sie in Prosa betont werden würden – Lausbübisches (oder Schlampiges) à la Heine verbietet sich. Vor allem muss der Takt der einzelnen Sätze, obwohl dem gewählten Metrum getreu, nicht dem Prosatakt, den man wählen würde, gäbe es keine metrische Vorgabe, zuwiderklingen. – Man sollte überlegen, was das bedeutet: Die klassische Auszeichnung der gebundenen Rede vor der ungebundenen beruht ja gerade auf den immer wieder anti-prosaischen Wortumstellungen, die signalisieren, dass hier in höherem Tone gesprochen wird. Das Getragene, Feierliche, Bedeutungsvolle beruht auf der formal erzwungenen Abweichung. Und umgekehrt: Die Abweichung signalisiert, dass hier Bedeutungsvolles gesagt wird. Für lange war die Verwendung des Verses auf der Bühne sowohl ein Gattungsmerkmal wie eines der sozialen Differenzierung: Tragödien fordern den Vers, Komödien erlauben die Prosa, Angehörige der Nobilität sprechen Verse, Bürger und Pöbel Prosa. Wenn Wieland nun als poetische Zielperspektive formuliert, dass man regel-rechte Verse schreiben solle, die in der Rezitation von Prosa nicht zu unterscheiden sein sollten – was fordert er dann eigentlich? Es ist die Absage an das Pathos. Wie seine Missachtung des Erhabenen, dient diese Absage der größtmöglichen Annäherung an das Schöne, das sich hier als Eleganz, Fluss, Grazie zeigt. Schon hatten Morgens früh, beym festlichen Gelärm der Glocken, schaarenweis’ die Bürger von Palerm
Jan Philipp Reemtsma
an Sankt Kathrinens Tag zur Mette sich versammelt; die Glocken hatten ausgebammelt vorüber war der Zug mit Kreuz und Fahn’, und Priester stimmten schon, der Heiligen zu Ehren mit reichen Stolen angethan, an wohl beräucherten Altären ihr Dominus vobiscum schnarrend an, als Sinibald, ein junger Pflastertreter aus Tankreds edlem Blut (sonst nicht der größte Beter) an Guidos Arm, in seinem Sonntagsstaat, von Neugier angelockt mit in die Kirche trat. Man merkte wenigstens an seiner Weltkinds-Miene ihn ziehe nicht die heilige Kathrine wie schön sie auch von eines Taffi Hand, in einem Kranz von goldnen Engelsköpfen am Hochaltar in Lebensgröße stand. Wiewohl die Kunst in ihm sonst einen Gönner fand, jetzt schien er wenig Lust aus Taffi’s Werk zu schöpfen; so sehr beschäftigte die schönere Natur den Kennerblick, der hier sich gern verwirrte, und, gleich dem Schmetterling auf einer Blumenflur, um hundert fromme Schönen irrte, die, sitzend oder auf den Knien ihn wechselweis’, unwissend, an sich ziehn; denn jede schien allein die Sorge zu beseelen, an ihrem Rosenkranz sich nicht zu überzählen.⁷
Wenn Sie diesen Text ohne besonderen Zeilenumbruch, also wie Prosa, drucken, werden Sie kaum über etwas stolpern, das Sie befremdlich finden würden. Wieland hat hier ein Ideal erfüllt, das er sich selbst gesetzt hatte – und mehr war nicht zu tun. Wieland wusste wie alle großen Experimentatoren, dass Experimente nicht in Serie gehen dürfen. Turner macht nie dasselbe, Strawinsky auch nicht – Malewitsch und viele andere waren da schlechter beraten. Erlauben Sie einen kleinen Exkurs: Ohne Wielands Lust am Experiment, gäbe es Weimar nicht. Man muss das ganz wörtlich nehmen, Anna Amalia stellte Wieland als Mentor der letzten Jahre ihres Sohnes Carl August vor dessen Regierungsantritt an. Mehr war mit dieser Stelle nicht verbunden. Wieland aber benutzte diese Stelle zu zwei außergewöhnlichen kulturpolitischen Initiativen. Die eine: Er gründete eine literarisch-politische Zeitschrift, den Teutschen Merkur, der die erfolgreichste Zeitschrift der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts werden sollte. Er nannte sie nach dem Mercure de France, und man bedenke, was das signalisieren sollte: ein Parallelunternehmen zu der Zeitschrift, die in Frankreichs
Christoph Martin Wieland: Klelia und Sinibald. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 21. Leipzig 1796, S. 172 ff.
Wielands letztes Werk
Hauptstadt erschien, publiziert in Weimar. Allein dies war eine ungeheure Prätention. Die zweite Initiative: die Erfindung einer Oper für Höfe, die sich weder große Ensembles, noch aufwendige Maschinenwerke leisten konnten. Das Resultat: die Alceste – eine Oper, die nur aus Arien und Rezitativ bestand. Man kann mit den Worten von Klaus Manger sagen, dass Wieland Weimar erfunden hat. Als Goethe dem Rufe Carl Augusts folgte, kam er an einen Ort, wo der Boden für seine in ganz anderer Weise einzigartige Biographie bereits bereitet war. Gemeinsam mit Wieland macht er dann Personalpolitik: Herder kam. Wieland lebte von 1772 bis 1797 in Weimar; dann kaufte er sich in der Nähe von Weimar ein Landgut: in Oßmannstedt befindet sich heute das erste ihm gewidmete Museum, eröffnet 2005. 1803 kehrte Wieland nach Weimar zurück. 1801 war seine Frau gestorben, und ihr Tod nahm ihm die Freude an jenem Landleben, das er zuvor in vielen Briefen gepriesen hatte. Finanzielle Sorgen kamen dazu, er war mit der Verwaltung des Gutes überfordert. Doch waren die Oßmannstedter Jahre ausgesprochen produktiv: er redigierte einen Teil seiner Werke für die Ausgabe letzter Hand, veröffentlichte die Gespräche unter vier Augen, in denen die berühmte Prophezeiung der Alleinherrschaft Napoleons steht, er verfasste die beiden historischen Romane Agathodämon und Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, die Erzählung in Briefform Menander und Glycerion – eine der schönsten Liebesgeschichten in deutscher Sprache – und begann den Novellenzyklus Das Hexameron von Rosenhain, den er nach seiner Rückkehr nach Weimar beendete. In den Weimarer Jahren – 1803 bis 1813 – schrieb er noch eine Erzählung Krates und Hipparchia aus dem Stoffbereich des ungeschriebenen fünften Bandes des Aristipp. In Oßmannstedt hatte er zudem Aristophanes und Euripides sowie Teile von Xenophons Memorabilien und das Gastmahl übersetzt – weitere Übersetzungen folgen in Weimar. Diese letzte Phase übrigens behandeln beide, Schmidt wie Sengle, als die eines Pensionärs. Schmidt ein wenig neidisch, dass da ein Kollege nicht ums liebe Brot übersetzen muss, sondern sich einen alten Liebling »in aller Ruhe vornehmen« kann, Sengle als die Marotte eines ausgeschriebenen Greises, »Lebenshilfe seines Alters«, letztlich ein bloßes Spiel. Es bleibt immer merkwürdig, wie ein Mann über ein halbes Tausend Seiten über einen Autor schreiben kann und mag, den er so wenig kennt. Aber um die Cicero-Übersetzung – Wielands letztes Werk – zu verstehen, muss man den Experimentator und die Übersetzung als letzten Teil einer Versuchsreihe verstehen, die mit dem Doppelroman Geschichte des Agathon und Don Sylvio beginnt. Wielands Übersetzung der Briefe Ciceros ist nämlich sein letzter Roman, und das wird erst deutlich, wenn man seine gesamte Romanproduktion als vielgestaltiges Experimentieren mit der Form des Romans versteht.
Jan Philipp Reemtsma
Bekanntlich war es der andere Experimentator, Lessing, der nach dem Erscheinen des Agathon dessen Bedeutung für die Zukunft der Form des Romans in Deutschland erkannte. Bis zu diesem Zeitpunkt galt der Roman für eine mindere Literaturgattung, geeignet zur Unterhaltung eines gering gebildeten Publikums – vor diesem Hintergrund bezeichnet Lessing den »Agathon« als ersten deutschen Roman für Leser von klassischem Geschmack. Als »Doppelroman« bezeichne ich den Agathon und Don Sylvio, weil der Don Sylvio während der Arbeit am Agathon entsteht, laut Wielands eigener Auskunft allein, um Geld zu schaffen – was, wenn es denn wirklich so gewesen wäre, auch eine literarische Premiere gewesen wäre: der erste geplante Bestseller der deutschen Literatur. Wieland hat in diesen beiden Romanen dasselbe Thema in unterschiedlicher Weise behandelt: die Standortgebundenheit der Weltwahrnehmung und -deutung. Dieses Thema hat in beiden Romanen formale Konsequenzen, man hat den Agathon gerne als Roman in der Nachfolge Fieldings gelesen, aber dabei überlesen, in welchem Maß in ihm offene Debatte stattfindet, die nicht über einen Erzähler gelenkt und dem Leser dargeboten wird. Der Agathon ist partienweise ebenso »offen« wie es ein Briefroman nach dem Muster von Richardsons Pamela wäre. Der Agathon beginnt wie ein traditioneller vor-bürgerlicher Abenteuerroman, aber bald finden wir philosophische Zwiegespräche, abgelöst von Charakterstudien, die zeigen, wie die handelnden Personen zu ihren durchaus unterschiedlichen Ansichten kommen. An seinem Protagonisten zeigt Wieland, wie schwierig die Frage zu beantworten ist, was eigentlich die Einheit eines Individuums ist, die Frage nach dem Ich. Wieland lässt seinen Helden durch allerlei Extreme gehen – Agathon ist ein klassischer Schwärmer – um an diesen Extremen die Weitmaschigkeit dessen zu zeigen, was wir normalerweise für ein kompaktes Ich halten. Dabei diskutiert der Autor das Problem mit seinen Lesern, die gleichsam in den Text hineingenommen werden: ›Himmel!‹ – so deucht mich, höre ich hier einige rührende Stimmen ausrufen – ›ist’s möglich? Konnte Agathon so denken? So klein, so unedel –‹ ›so kalt, meine schönen Damen, so kalt! Und sie werden mir gestehen, daß man in einer Einkerkerung von zween oder drei Monaten, die man sich ganz allein durch große und edle Gesinnungen zugezogen, gute Gelegenheit hat, sich von der Hitze der großmütigen Schwärmerei ein wenig abzukühlen –‹ ›Aber was wird nun aus der Tugend unsers Helden werden? […] Es ist bedauerlich, daß unser Held seine Rolle nicht besser behauptet – Aber allem Ansehen nach, war er wohl niemals ein Held – und wir hatten Unrecht ihm einen so ehrenvollen Namen beizulegen –‹ ›Das eben nicht; er fing vortrefflich an; er […]⁸
– und so wird anlässlich eines misanthropischen Monologs des Agathon
Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Zweyter Theil. Frankfurt, Leipzig [d. i. Zürich] 1767 (Erste Fassung), S. 278f .
Wielands letztes Werk
der Roman noch einmal im Zwiegespräch zwischen Autor und Leser durchgegangen. Solche Reflexionen ziehen sich durch den Roman; ihr Ergebnis ist aber nicht, irgendeinen festen Persönlichkeitskern erkennbar zu machen, der uns das zuweilen arg schwankende Benehmen des Protagonisten als Abweichungen von einer idealen Mitte verstehbar machen würde. Die Psychologie der Geschichte des Agathon besteht vielmehr im deutlichen Verzicht auf eine solche Vorstellung von Individualität. Was Wieland immer wieder bietet, ist das Verstehen von Übergängen. Verstanden habe ich einen Menschen dann, wenn ich verstanden habe, wie er dazu gekommen ist, so zu sein, wie er mir gegenübertritt. Es gibt kein Ich jenseits der Biographie; der Mensch ist immer, der, der er gerade jetzt ist, und das mag ein ganz anderer sein als er mir bisher bekannt war. Im Don Sylvio, der auch sehr missverständig gelesen worden ist – bereits von den Schlegels, die in ihm eine Nachahmung des Don Quijote sehen wollten, wobei er vielmehr ein Spiel mit den literarischen Mustern u. a. des Don Quijote ist – finden wir dies Thema im Medium der Komik abgehandelt. Hier treffen nicht der Schwärmer und der Realist aufeinander (eine Kennzeichnung, die ja schon für den Roman des Cervantes nicht ganz zutrifft), sondern zwei Sonderlinge, die sich nur nicht auf eine gemeinsame Weltsicht einigen können. So finden wir eine Vielschichtigkeit im Wahrnehmen und Deuten, der Wieland eine Vielzahl von Tonlagen entsprechen lässt, in denen über das Wahrgenommene Auskunft gegeben wird. Wieland verbindet so Psychologie mit Genrebildern. Und wir stoßen auf eine verstörende erkenntnistheoretische Auskunft, die uns ganz en passant gegeben wird: »So wie es nehmlich«, belehrt uns der Autor, »allen Egoisten zum Trotz, Dinge giebt die wirklich außer uns sind, so gibt es andre die bloß in unserm Gehirn existiren. Die erstern sind, wenn wir gleich nicht wissen daß sie sind; die andern sind nur, in so fern wir uns einbilden daß sie seien.«⁹ Damit ist das Grundproblem aller Erkenntnistheorie benannt und aporetisch beantwortet. Auf diese beiden Biberacher Romane folgen in Erfurt der Sokrates Mainomenos bzw. Dialogen des Diogenes von Sinope und Der goldne Spiegel sowie in Weimar seine Fortsetzung Geschichte des weisen Danischmend, sowie die Geschichte der Abderiten. Man könnte sagen, dass auf die beiden der Psychologie und Erkenntnistheorie gewidmeten Romane nun die Sequenz der sich an Problemen der praktischen Philosophie orientierenden folgt – wenn das nicht so klingen würde, als wären Wielands Romane eigentlich mehr essayistische Unternehmungen, was sie nun wahrlich nicht sind. – Sind der Diogenes und der Danischmend Fragen der Moral und
M. Tullius Cicero’s sämmtliche Briefe übersätzt und herausgegeben von C. M. Wieland. Neue Ausgabe in zwölf Bändern. Band 1. Leipzig 1840, S. IV f.
Jan Philipp Reemtsma
des Umgangs miteinander gewidmet, so sind der Goldne Spiegel und die Abderiten politische Romane, wir erleben, was Politik am Hofe und in Republiken ist. Dabei geht weder der Goldne Spiegel in seiner didaktischen Dimension auf, die, bei genauer Lektüre, gar nicht mal so sehr im Vordergrund steht, noch die Geschichte der Abderiten darin, was Spaß und Satire in ihr ist. Dass der »Prozeß um des Esels Schatten« (also das vierte Buch des Romans) ein absurder Anlass für zunächst einen Rechtshandel und dann für einen politischen Konflikt ist, versteht sich, woraus aber nicht folgt, dass die beiden Anwälte, die sich der Sache annehmen dummes Zeug reden – ganz im Gegenteil. Übrigens zeigen diese Romane den Aufklärer Wieland als entschiedenen Skeptiker, was die Aufklärbarkeit der meisten Menschen angeht. Wieland war alles andere als ein Optimist in anthroplogischer Hinsicht. Danischmend gelingt es weder im Goldnen Spiegel, seinen Fürsten zu einem wenigstens etwas besseren Regenten zu machen, noch gelingt es ihm im Folgeroman, in einem Gebirgstal ein vorbildliches und stabiles Gemeinwesen zu schaffen. Diogenes mag ein Leben führen, das in den Augen des Lesers einen gewissen Vorbildcharakter hat – im Roman ist er Objekt von allerlei verleumderischen Reden. Wieland war stets ein Skeptiker, und dass am Ende die Abderiten ihre Stadt verlassen müssen, weil sie mit einer selbstverschuldeten Froschplage nicht fertig werden, kann man von heute aus als eine ökologische Parabel lesen, noch vielmehr ist hier aber die zentrale Lektion der Aufklärung aufbewahrt – die über ihre eigenen Grenzen – unbeachtet wie selten eine. In allen Büchern der Geschichte der Abderiten ist das Thema die Dummheit – bestimmt als die Unfähigkeit, sich durch die Augen anderer zu sehen – das des fünften Buchs ist das der dummen Aufklärung. Der junge Absolvent athenischer Philosophenschulen, der nach Abdera zurückgekehrt den Kampf gegen das Überhandnehmen der heiligen Frösche führen möchte und dies tut, indem er den ganz vernünftigen Vorschlag macht, die überzähligen Frösche zu fangen und zu essen, ist der Dümmste von allen. Die Frösche nehmen überhand, weil sie heilig sind, und der Vorschlag, sie zu dezimieren, lässt die Gefühle derjenigen, die die Frösche nun mal für heilig halten, außer Acht. Wer die Dummheit seiner Mitmenschen nicht in Rechnung stellt, beweist damit nichts weiter als seinen Mangel an Urteilskraft – und so hatte Kant ja, vielleicht mit einem Seitenblick auf den von ihm so geschätzten Wieland, die Dummheit bestimmt. Wenn solcher Mangel in einem scheinbar aufgeklärten, sagen wir: vorurteilslosen Kopfe sitzt, desto schlimmer. Als politischer Kopf hatte Wieland die Bedeutung der revolutionären Ereignisse in Frankreich sofort und genauer als viele seiner Zeitgenossen erkannt und er informierte die Leser des Teutschen Merkur nicht nur
Wielands letztes Werk
genau, sondern zeigte ihnen auch, aus welch verschiedenen Gesichtswinkeln man über sie urteilen konnte. Der politische Meinungsjournalismus war dabei seine Sache nie. Es mag die Beschäftigung mit diesem historischen Umbruch gewesen sein, die Wielands historisches und kulturhistorisches Interesse noch einmal aktiviert hat. Die dritte und letzte der Versuchsreihen der Form Roman widmet er dem historischen Roman – Peregrinus Proteus und Agathodämon spielen in der Spätantike, der Aristipp in den Jahrzehnten nach dem Peloponnesischen Krieg – und bei den ersten beiden ist es explizit die »größte aller historischen Revolutionen«, nämlich der Aufstieg des Christentums, dem sein Interesse gilt. Der Aristipp thematisiert das Scheitern der griechischen Aufklärung, wie sie von den Sophisten und Sokrates (und natürlich vom Titelhelden) repräsentiert wird, und den Aufstieg der platonischen Philosophie. Wieland fasst in diesem Roman in ganz unterschiedlichen Themensträngen – der Roman ist auch ein philosophischer, aber ebenso ein politischer, ein erotischer und einer, der die eigenen ästhetischen Prinzipien diskutiert – was für ihn Aufklärung bedeutet, und zwar zu einem Zeitpunkt, als eine neue Generation von Literaten und Philosophen die Öffentlichkeit in Deutschland zu prägen beginnt, und Wieland sieht, wie so vieles außer Kurs gerät, was eben Aufklärung ausgemacht hat: Man wendet sich von kosmopolitischen Auffassungen ab und hin zur Nation – »eine Modetugend« nennt Wieland den »teutschen Patriotismus« –, man wird wieder religiös, man orientiert sich am Mittelalter, nicht an der Antike und so fort. Wieland schreibt dieses Vermächtnis in Romanform in einer Zeit, in der er die Aufklärung unterliegen sah, über eine Zeit, in der sie schon einmal unterlag, und spiegelt so die Zeiten ineinander. Insgesamt sind die drei historischen Romane Erkundungen der Grundlagen unserer Kultur – und das ist die Übersetzung der Briefe Ciceros eben auch. In diesen Briefen erleben wir das Ende der römischen Republik und die Entstehung der römischen Monarchie. Nach dem Briefroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen nun gewissermaßen »Cicero und einige seiner Zeitgenossen«, nur dass der Text für diesen historischen Roman eben schon vorlag, er musste nur noch vom Lateinischen ins Deutsche gebracht werden. Dass sich Wieland zeitlebens mit Cicero beschäftigt hat, wissen wir. Ihn nun gleich, wie Sengle das tut, zu Wielands Lieblingsschriftsteller zu erheben, geht sicher zu weit. In einer frühen Schrift, in der Wieland seine Polemik im Dienste Bodmers verteidigte (später hat er sich des polemischen Tons fast ganz enthalten), gibt es sogar einen ausgesprochen kritischen Hinweis auf Ciceros politische Halbherzigkeiten – und diese Kritik wiederholt er in der Einleitung zu seiner Übersetzung. Dass Wielands letztes Werk alles andere als die selbstgenügsame Beschäftigung
Jan Philipp Reemtsma
eines Pensionärs war, der seinen Lebensabend nicht untätig bleiben möchte und also irgend etwas Beliebiges tut, kann man ebendieser Einleitung entnehmen, die Sengle, wie so manches andere von dem von ihm Verbiographierten, wohl gar nicht gelesen hatte. Der Zeitraum von ungeführ fünf und zwanzig Jahren, welchen diese Briefe umfassen, nehmlich vom Jahr der Stadt 685 bis 710, in so fern er die Geschichte der letzten Lebensjahre der größten und außerordentlichsten aller Republiken, und der nächsten Ursachen ihres Unterganges enthält, ist ohne Zweifel das wichtigste, und (wenn die Welt über ihr höchstes Interesse Belehrung annehmen wollte) das lehrreichste Stück der ganzen Römischen Geschichte. Der Schauplatz, auf welchem diese furchtbare Welttragödie gespielt wurde, erreichte gerade in dieser Zeit seine weiteste Ausdehnung und eine statistische Größe, die kein andrer Staat vor noch nach dem Römischen je zu erreichen vermögend war: eine Größe, die es der Republik, ihrer wesentlich fehlerhaften innern und äußern Organisation wegen, schlechterdings unmöglich machte, ein so ungeheures Ganzes noch zusammenzuhalten. Vier so große Männer – wie sie nur in Rom, und nur in dieser Zeit kommen konnten – hatten sich noch niemahls beysammen gefunden als Pompejus und Cäsar, Cicero und Cato: nie hatte man so große Kräfte, in einem so hartnäckigen Kampf um Freyheit oder Sclaverey auf der einen, um Alleinbeherrschung der Welt oder Tod auf der andern Seite, mit einander ringen sehen. Nie hatte sich noch so auffallend zu Tage gelegt, wie wenig die größten Talente, mit Rechtschaffenheit, Mäßigung und Humanität verbunden, gegen grenzenlose Herrschsucht, welcher alle Mittel zu ihrem Zweck zu gelangen gleichgültig sind, auszurichten vermögen.¹⁰
Ein historisches Lehrstück also und gleichzeitig eines, das eine bestimmte ästhetische Qualität aufweise. Wieland spricht von den historischen Ereignissen, als handele es sich um einen gut konstruierten Roman: Nie hatte sich augenscheinlicher bewährt, daß die erstaunlichsten Weltveränderungen sich zwar aus dem vorhergehenden und gegenwärtigen Zustand der Dinge, aus dem Charakter der handelnden Personen, aus ihren Lagen, Verhältnissen und Leidenschaften, kurz, aus der immer individuellem Wirkung und Gegenwirkung aller dieser noch so sehr verwickelten Ursachen, so natürlich und begreiflich entwickeln, als ob die Götter und das Schicksal bloß müßige Zuschauer dabey abgäben: und gleichwohl der Verwegenste und Ruchloseste so offenbar von den unsichtbaren Mächten unterstützt zu werden scheint, daß man sich nothgedrungen fühlt, in allem diesem den verborgenen Plan einer über die menschlichen Dinge waltenden höchsten Macht zu erkennen, von welcher der begünstigt scheinende Liebling des Glücks unwissender Weise das bloße Werkzeug ist.¹¹
Diese Worte sind in dem Jahr geschrieben, in dem Wieland und Napoleon in Weimar zusammengetroffen sind. Napoleon hatte von Erfurt aus einen Abstecher nach Weimar gemacht und einige Schauspieler mitgebracht,
Christoph Martin Wieland: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler. Nördlingen 1988, S. 606 f. Ebd., S. 607.
Wielands letztes Werk
die auf dem dortigen Theater (ausgerechnet, ist man versucht zusagen) Voltaires Stück über die Ermordung Caesars aufführen. Im Theater sieht Napoleon Wieland in seiner Loge und bestellt ihn zum anschließenden Hofball. Als Wieland kommt, wird unter anderem über Julius Caesar gesprochen. Wielands Biograph Johann Georg Gruber schreibt: diesen erklärte Napoleon für einen der größten Köpfe in der ganzen Weltgeschichte, ja, fügte hinzu, er würde ohne Ausnahme der größte seyn, wenn er nicht einen einzigen, aber ganz unverzeihlichen Fehler gemacht hätte. Wieland sann vergeblich, was das für ein Fehler gewesen seyn möchte, wollte jedoch nicht fragen; Napoleon aber, der ihm die Frage wol am Auge ablesen mochte, fuhr sogleich fort: Sie wollen ihn wissen, diesen Fehler? Cäsar kannte ja längst die Menschen, die ihn auf die Seite schafften, und so hätte er sie auf die Seite schaffen müssen. – Hätte Napoleon, fügte Wieland hinzu, hier auch in meiner Seele lesen können, so würde er gelesen haben: Du wirst Dir diesen Fehler nicht lassen zu schulden kommen!¹²
Es dürfte weniger diese Hinsicht sein, in der Wielands Beurteilung jener Zeit als historisches Lehrstück liegt. War Wieland zu Beginn der Französischen Revolution diese noch, wie erwähnt, vor allem ihrer historischen Präzedenzlosigkeit wegen interessant erschienen, so verlor sie in seinen Augen im Laufe der Zeit zusehends diese Eigenschaft, und er sah immer mehr die Wiederkehr allgemeiner Muster, die ihm aus der Antike bekannt waren: eine unfähige Monarchie wird gestürzt, eine Oligarchie oder eine Demokratie tritt an ihre Stelle bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Probleme des Gemeinwesens wieder eine monarchische Lenkung verlangen und es zum Umsturz kommt. Im Aristipp führt er die Unruhen im nordafrikanischen Kyrene bis hin zu einer ausgewogenen Verfassung, die sich grob an der Solonischen orientiert, aber auch ihr wird, so wenig wie der solonischen, keine ewige Dauer prophezeit; die Vor- und Nachteile monarchischer Regierungsform werden an der Tyrannis des Dionys von Syrakus diskutiert. Und so finden wir in der Einleitung zum Cicero auch die Vorstellung einer geschichtlichen Wiederholung, eine im Grunde antike Vorstellung: »Alles Vergangene kommt, wie es scheint, in einer Art von Kreislauf der Zeiten, in mehr oder minder veränderter Gestalt wieder.«¹³ Nun könne man aber aus der Geschichte durchaus lernen, d. h. durch das Studium der Vergangenheit sich in die Lage versetzen, die Gegenwart besser zu bestehen als es in der Vergangenheit gemacht wurde. Insofern empfiehlt Wieland seinen Cicero als politisches Lehrbuch – nur bleibt er der Skeptiker, der er immer war. Das Orakel der Vergangenheit habe »das Schicksal der Weissagungen der Trojanischen Cassandra […]: man versteht sie nicht, weil man sie nicht verstehen will; man glaubt ihr nicht, weil man keine Lust hat ihr zu gehorchen.«¹⁴
Ebd., S. 606 f. Cicero’s sämmtliche Briefe (Anm. 9), S. VI. Ebd.
Jan Philipp Reemtsma
Dazu kommt für Wieland die Bedeutung der Briefe als persönliches Zeugnis eines außergewöhnlichen, wenn auch keineswegs unproblematischen oder tadelfreien Mannes: Ohne es zu wollen oder nur zu ahnden [sic], läßt er uns in die innersten Falten seines Herzens sehen, und deckt uns besonders seine schwache Seite, – seine Eitelkeit und Ruhmsucht, seine häufigen (wiewohl meist nur momentanen) Widersprüche mit sich selbst; seine raschen Uebergänge von der muthigsten Zuversicht im Glück, zu zaghafter Unentschlossenheit in Gefahr, und gänzlicher Muthlosigkeit im Unglück; sein Unvermögen denen zu widerstehen, die sich seiner Zuneigung bemächtigt oder durch imponirende Vorzüge Gewalt über ihn bekommen hatten, kurz alle seine individuellen Menschlichkeiten, so treuherzig und unbefangen auf, daß man ihm schon um dieser Arglosigkeit willen gedrungen fühlt, ihm alle seine Fehler, als bloße Schranken seiner hohen Vorzüge, oder natürliche Folgen einer äußerst feinen Organisation und einer seltnen Lebhaftigkeit des Geistes, nur zu gut halten, und ihn auch da, wo er etwas von unsrer Achtung verliert, doch immer anziehend und liebenswürdig zu finden.¹⁵
Geht man zu weit, wenn man argwöhnt, Wieland spreche hier auch etwas pro domo? Seine Eitelkeit war ja bekannt – er kenne nur zwei Themen, hat mal ein Besucher geurteilt, sich und Wieland, und so ausgeglichen und unpolemisch er am Schreibtisch war – so sehr dass hier keine abgenötigte, wohl aber eine erlernte Haltung zu unterstellen ist – so leicht erregbar, kränkbar und zuweilen auch kränkend konnte Wieland sein (wobei er das letztere immer bald bedauerte, was zu ausufernden Entschuldigungen führte). Nun, wie man das auch immer wird sehen wollen, dass Wieland mit seinem Naturell einen sehr problematischen Politiker abgegeben hätte, dürfte ihm klar gewesen sein. Wenn er aber auf Ciceros Stil zu sprechen kommt, gerät er ins Schwärmen: worin Cicero sich über alle andern Briefsteller erhebt, über das Musterhafte seiner Schreibart in allen Gattungen und Arten des Stils, seinen unerschöpflichen Reichthum an Wendungen derselben Sache oder desselben Gedankens, die Genialität seiner Laune und seines Witzes, den feinen Atticismus in leichtscherzender Einleitung seines Tadels oder Spottes, die ihm so geläufige Sokratische Ironie, und die häufigen Anspielungen auf Homerische Verse oder andere griechische Dichter, kurz über alles, was seiner Diction diese Frischheit, Leichtigkeit und naive Grazie giebt […]¹⁶
Wollen wir auch hier gewisse Züge wiedererkennen, die auch für Wielands Prosa charakteristisch sind? Bezeichnend genug, dass er hier abbricht, »um nun auch das Nöthigste von mir selbst und von dieser Uebersetzung zu sagen.«¹⁷ Neben der biographischen Veranlassung des Beginns der Übersetzungen, teilt Wieland uns das Prinzip seiner Übertragungen mit:
Ebd., S. VII f. Ebd., S. VIII f. Ebd., S. IX.
Wielands letztes Werk
Bey der Arbeit selbst habe ich […] dieselben Gesetze befolgt, welche man in meinen Uebersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen beobachtet zu sehen gewohnt ist. Klarheit und Verständlichkeit ist mein erstes Augenmerk, und vermuthlich auch die erste Forderung der Leser, die ich zu finden hoffe. Indem ich dem Cicero so gutes deutsch als ich selbst gelernt habe, leihe, bin ich weit von dem Gedanken entfernt, ihn schreiben zu lassen, wie er vielleicht geschrieben hätte, wenn er ein Deutscher unsrer Zeit, zumahl der neuesten, gewesen wäre. Ueberall, wo es mir nur immer möglich scheint, schließe ich mich so genau an den Text an, als es geschehen kann, ohne lateinisches Deutsch zu schreiben.¹⁸
Ein Grundsatz, den manche heutigen Altphilologen befolgen sollten, wenn sie ihn denn befolgen könnten. – Nun ist Wielands Cicero-Übersetzung beileibe nicht nur das. Schon andere Übersetzungen hatte Wieland mit Anmerkungen versehen; seine Horaz-Übersetzungen etwa hatte er reichlich kommentiert, sie sind gleichzeitig ein Buch über Horaz und seine Zeit, und manchmal wachsen sich die Kommentare zu historischen Miniaturen und Kurz-Essays aus. Auf die Einleitung folgt zunächst ein Abriss der Biographie von Ciceros ersten 45 Jahren (ab dann wird die Frequenz der Briefe dichter und ersetzt die biographische Erzählung) von hundert Seiten, in der nicht nur dem Verständnis der Briefe vorgearbeitet wird, der Nicht-Fachmann Einiges über die politischen Ereignisse der Zeit, aber auch über den Sinn der klassischen Ämterlaufbahn erfährt. Es finden sich auch kurze Charakteristiken der verschiedenen biographischen Episoden. Am Ende jedes Bandes folgt ein ausführlicher Anmerkungsteil, der politische und historische Fakten erläutert, aber auch auf sprachliche Eigenheiten und Übersetzungsprobleme eingeht. Ich möchte zum Schluss auf eine sehr interessante Wertung Wielands eingehen. Wer immer sich des Lebens Ciceros annimmt, wird – wie auch immer er das Verhalten des späten Cicero bewerten wird – doch wohl in den Mittelpunkt seine Aufdeckung der Verschwörung der Catilinarier stellen. Natürlich beschäftigt Wieland sich eingehend mit dieser Episode, und interessant ist sein Vergleich Catilinas mit Alkibiades: beide, wie Wieland sie sieht, hochbegabte, aber völlig skrupellose Menschen: Catilina war in Ansehung seiner Naturgaben und aller Vorzüge, die sich nur immer mit der größten Verruchtheit beisammen denken lassen, einer von den Menschen, deren, zum Glück der Welt, in ganzen Jahrtausenden nur wenige gebohren werden. Selbst Julius Cäsar, der größte Mann, seiner und vielleicht aller Zeiten, hatte kaum etwas anders vor ihm voraus, als eine höhere Richtung des Geistes und mehr Gewalt über sich selbst.¹⁹
Interessant, wie weit Wieland (schon in dem, was ich aus der Einleitung zitiert habe) entfernt ist von jener Idealisierung Caesars, wie sie Theodor
Ebd., S. XI. Ebd., S. 48
Jan Philipp Reemtsma
Mommsen (der Cicero nicht leiden konnte) am meisten betrieben hat, von der aber kaum eine Caesar-Biographie frei ist – bis auf die jüngst erschienene von dem Althistoriker Werner Dahlem, der seinerseits Caesar in die Nähe Catilinas rückt: beide nur an Macht und persönlichem Ruhm interessiert, skrupellos, was den Einsatz von Gewalt gegen den Staat angeht, nur eben: Der eine scheitert, der andere lässt sich das eine Lehre sein und geht andere Wege. – Cicero habe »von dieser Zeit an bis ans Ende seines Lebens […], so zu sagen, nur im Andenken dieses Jahres« in dem er während seines Konsulats die Verschwörung aufdeckte und (gegen Caesars Votum) die Hinrichtung der verhafteten Anhänger Catilinas (Catilina selbst wurde in einer offenen Feldschlacht besiegt und im Kampf getötet) durchsetzte, gelebt. Wenn sich in alles dies auch etwas mehr Eitelkeit einmischte, als dem Weisen der Stoiker ziemen möchte, so wird doch immer wahr bleiben, daß Cicero während seines Consulats seine dem Römischen Volke nach seiner Erwählung öffentlich gegebne feierliche Zusage auf die edelste und vollständigste Art erfüllte; daß er in seiner ganzen Amtsführung Muth, Redlichkeit, Uneigennützigkeit, Klugheit, Wachsamkeit, Thätigkeit und Beharrlichkeit, kurz alle Eigenschaften und Tugenden, die zu gefahrvollen Zeiten in dem Oberhaupt eines großen Staats vereinigt sein sollen, in einem Grade an den Tag legte, der in der ganzen Römischen Geschichte, unter solchen Umständen und Schwierigkeiten als Er zu bekämpfen hatte, ohne Beispiel ist.²⁰
Das ist ja nun eine ganze Menge behauptet, und doch ist es nicht das Konsulat, nicht der Erfolg gegen die Catilinarier, dem Wieland das höchste Lob zollt. Es ist der Prozess gegen Verres. Verres war Prätor von Sicilien gewesen und hatte sich sogar für römische Gewohnheiten auf unglaubliche Weise bereichert: durch willkürliche Abgaben, aber auch durch Erpressung und nackten Diebstahl. Die römische Provinzverwaltung war eine reine Kleptokratie, verbunden mit politischem Terror. Wer eine Provinz verwaltete, schreibt Dahlem, hatte nur eine wirkliche Aufgabe: für Ruhe zu sorgen. Gelang ihm das, konnte er sich schadlos halten und ein Vermögen zusammenraffen. »Wer unter die Späne fiel, wenn gehobelt wurde« – ich zitiere Dahlem »blickte mit Schaudern auf die Weltstadt Rom.« Anders gesagt: Man war Einiges gewöhnt. In Sicilien hatte Cicero, der dort die Quästur verwaltet hatte, sich einen eher guten Namen gemacht, und nun wandte man sich an ihn, er möge die Seicilier als seine Klienten vertreten und Verres anklagen. Verres wurde von Mitgliedern reicher und angesehener Familien unterstützt, von denen sicher die meisten, wenn nicht alle, ihr Vermögen auf dieselbe Weise gemacht hatten, und wurde von einem designierten Konsul, der noch dazu als der beste Redner Roms galt, verteidigt. Der Zynismus in dieser Angelegenheit ging so weit, dass Verres’
Ebd., S. 53.
Wielands letztes Werk
Verteidiger, öffentlich sagte, wer so reich sei wie sein Mandant könne sich ohnehin jedes Gericht kaufen. Dennoch gewann Cicero den Prozess, weil es ihm gelang, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass es hier einer zu toll getrieben hatte, und dass man, wenn man solche Extreme dulde, Roms Herrschaft in den Provinzen untergrabe. Zum Beispiel hatte Verres eine Reihe von Kunstgegenständen aus Privathäusern und Gärten abtransportieren lassen, und Cicero machte dem Gericht klar, dass die griechische Bevölkerung Siziliens ein anderes Verhältnis zur Kunst habe als die Römer es hätten: Was für uns nur wertvolle Gegenstände sind, ist für die ein Kulturgut, an dem sich zu vergreifen die Menschen beleidige – und so weiter. Dieser Prozess war, und dies nicht nur implizit, auch eine Anklage gegen die alten Adelsfamilien Roms – Cicero war ja ein Aufsteiger, ein, wie man sagte, homo novus – und insofern für jemanden, der eine politische Karriere machen wollte, eine durchaus couragierte Tat. Wieland: Es ließe sich, dünkt mich, mit gutem Grunde behaupten, daß diese Anklage des Verres, in Rücksicht aller Umstände und der ganzen Art wie Cicero die Sache angefangen, geführt und zu Ende gebracht, die größte und preiswürdigste That seines ganzen Lebens war, selbst das größte, was er in seinem Consulat gethan, nicht ausgenommen.²¹
Und so ist denn Wielands letztes Werk auch, und in ganz anderer Weise als die Schriften zur Französischen Revolution, ein politisches Werk, eine Bestandsaufnahme politischer Tugenden und Laster, Fehler und Verbrechen und ein Lob der Zivilcourage.
Ebd., S. 31.
V. Epilog
Thomas C. Starnes
Tod in Oßmannstedt¹ In der zweiten Hälfte seines Lebens schwebte dem Dichter Christoph Martin Wieland das Horaz’ische Bild der »Freuden des Landmanns« immer wieder vor. Vom Herbst 1772 bis Frühsommer 1775 als Prinzenerzieher und dann als Hofrat an die fürstlichen Etikette Weimars gebunden, sehnte er sich öfters nach einer Freiheit und Glückseeligkeit, die er in der Residenzstadt nicht zu finden wähnte. Ein Vierteljahrhundert verfloss aber, ehe er diesen Lebenstraum gewissermaßen verwirklichen konnte; 64 Jahre alt, bezog er am 1. Mai 1797 das Haus seines neu erworbenen Ritterguts Oßmannstedt. Kaum konnte er, wie Horaz, Worte genug finden, um seine Freude an der ungekünstelten Natur auszudrücken – und seinen Osmantinum setzte er mit dem Tibernum des alten Römers gleich. Schriftlich und mündlich behauptete er wiederholt, er lebe in Oßmannstedt zusammen mit seinem Weib und einem Kreis von Kindern und Enkelkindern in einer Art Elysium, wo ihm seine Tage leicht und schnell entschlüpften. Kein höheres Glück gewähre der Himmel. Die reine Freude wurde aber früh genug getrübt. Fast vom Anfang an drückten ihn die unendlichen Schulden, welche der Kauf des Gutes auf ihn geladen hatte. Dann kam auch der unerwartete Angriff auf seinen Dichterruf durch die junge Generation der Romantiker und die Entdeckung, dass sein ältester Sohn sich zu diesen unversöhnlichen Feinden gesellt hatte. Die schwierigsten Schläge waren aber bei weitem die Verluste von drei geliebten weiblichen Seelen, die seine Horaz’ische Umwelt versüßt hatten. Eine nach der anderen starben sie ihm weg. Zuerst war es Wilhelmine Friederike Wieland, sein zwölftes Kind, seine achte Tochter. Am 29. April 1798 starb das fünfzehnjährige Mädchen
Eingehende Untersuchungen zum Thema ›Wielands Auffassung vom Tode‹ bietet Liselotte Kurth-Voigt: »Existence after Death: Changing Views in Wieland’s Writings«. In: Lessing Yearbook 17 (1985), S. 153-175 sowie in dem 6. Kapitel ihres Buches Continued Existence, Reincarnation, and the Power of Sympathy in Classical Weimar, Columbia SC 1999, S. 68-110. In der gegenwärtigen Arbeit sind Zitate aus Wielands Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (später Preußische A. d.W.; Deutsche A. d.W.). Berlin 1909 – 1976 entnommen. Für Auszüge aus Briefen diente Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007. Andere häufiger verwendete Quellen waren Christoph Martin Wieland – Sophie Brentano: Briefe und Begegnungen. Hg. v. Otto Drude. Weinheim 1989; und Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. 3 Bde. Sigmaringen 1987.
Thomas C. Starnes
nach langem Leiden an Auszehrung. Wielands jüngerer Freund, Johannes Daniel Falk, berichtete davon, wie man den Dichter auf den Todesfall hat vorbereiten wollen, wie er dennoch weinte, die Hände rang und sein zärtliches Vaterherz verriet. Nur bei seiner Frau, seinem guten Genius, erlange er etwas Ruhe. Er habe seine Vorstellungen von Sein und Nichtsein neu durchgedacht – Gedanken, welche Falk dann stichwortartig zusammenfasste: »Im Garten hatte er ein paar Stunden über Verlust der Unsrigen, über Tod, künftiges Leben etc. gesprochen. (Poetisches im Leben. Unsterblichkeit etc.! Unglücklich die, denen solch ein erhebender Gedanke nie aufsteigt etc.)« Ähnliches schrieb Wieland sechs Tage nach Wilhelmines Tod in einem Brief an seinen Verleger Göschen: Sie war eines der reinsten und liebenswürdigsten Geschöpfe; mein Herz hing vorzüglich an ihr, und ich versprach mir von ihrer ungemeinen Anhänglichkeit an mich viel Trost und Freude für meine künftigen Jahre. – Sie ist nun in einer bessern Welt, und ich werde ihr folgen. In diesem Gedanken allein ist heilender Balsam für eine solche Wunde.
Der zweite Todesfall, den der alte Dichter erleben musste, war derjenige der 24 Jahre alten Sophie Brentano. Diese Enkelin seiner Jugendgeliebten, Sophie Gutermann La Roche, lernte er Mitte Juli 1799 kennen, als die beiden Sophies ihn in Oßmannstedt aufsuchten. Das Wiedersehen mit der ehemals so heiß angebeteten Verlobten brachte Wieland keine besondere Freude – oft fand er ihre langatmige Sentimentalität einfach ermüdend. Ganz anders aber war seine Reaktion auf ihre Reisebegleiterin: Die junge Sophie strahlte einen Liebreiz aus, der bald sein Herz eroberte, und sie erkannte in ihm einen verständnisvollen und väterlich-männlichen Freund, dem sie sich anvertrauen konnte. Von Anfang an verband beide eine zarte Neigung und ein tiefes Vertrauen, was zu langen, einsamen Unterhaltungen führte. Ein häufiger Gegenstand der Gespräche war Wielands damals entstehender Roman Aristipp und die Gestaltung darin der Hetäre Lais: Nichts, schrieb Sophie, habe auf sie so tief gewirkt als das Verhältnis der Lais zu Sokrates: zarter, feiner, überirdischer und doch auch menschlicher könne es nichts geben. Der Dichter bewunderte wiederum die schöne Klarheit von Sophies Verstand, die ihr, wie er sagte, einen so großen Vorzug vor den meisten ihres Geschlechts verliehen habe. Der Aufenthalt des Mädchens und ihrer Großmutter in Oßmannstedt dauerte nur einen Monat, aber ein Jahr später, etwa am 25. Juli 1800 kehrte die junge Sophie alleine dahin zurück. Die darauffolgenden Tage, waren, wie sie Wielands Sekretär Samuel Christoph Abraham Lütkemüller beschrieb, idyllisch. In seinen Erinnerungen heißt es: »Wieland liebte Sophie Brentano zugleich als seine Tochter und Freundin, und sie wirkte auf seinen Aristipp als eine Muse und Grazie.« Einmal hatte er das Paar belauscht, als sie im Gespräch saßen – Wieland sprach:
Tod in Oßmannstedt
›Als ich in die Lindenschatten trat, war mir auf einmal, als wandelte ich in Delphi’s heiligen Hainen, mit aller Sehnsucht meine Psyche suchend.‹ – ›Sie scherzen, lieber Vater!‹ sagte Sophie lachend. ›Und warum denn?‹ entgegnete Wieland. ›Meinen Sie vielleicht, ich wäre der Empfindungen und Einbildungen Agathons gar nicht mehr fähig? Ich versichere Sie, in allen verschiedenen Perioden meines Lebens überfiel mich zuweilen eine Sehnsucht nach den Delphischen Hainen; sie wehte auch, ich weiß nicht woher, wie ein Lüftchen in die Aeolsharfe meiner Seele, und erweckte darin wunderbare Anklänge.‹
In diesem Zusammenhang zu betrachten sind folgende Worte Wielands in einem Brief an seinen vertrauten Freund Karl August Böttiger: »Wenn die liebenswürdige Sofie Brentano nicht wäre, so weiß ich nicht was aus meinem allmählich verglühenden Lämpchen werden könnte. Mit der Lebenslust schwindet auch die Lebenskraft.« Das Idyllische dauerte aber nicht lange. Kurz nach Anfang des Monats September wurde Sophie von einer Nervenkrankheit ergriffen und nur sechszehn Tage darauf starb sie. Etwas Näheres hierüber, welches nicht nur den Nervenzusammenbruch, sondern auch das enge Verhältnis zwischen dem Dichter und Sophie erklärt, befindet sich in der Korrespondenz ihrer Großmutter La Roche: Das Mädchen sei mit ihrer Stiefmutter nach Wien gereist und habe dort einen Grafen kennengelernt; dieser, da er sie schön fand und reich glaubte, hielt um sie an. Bald erfuhr der Graf aber, dass sie so arm war wie er selbst, und er ließ sie im Stich. Kurz danach wurde sie von dem jungen Frankfurter Geschäftsmann Moritz Bethmann umworben. Während die Familien Bethmann und Brentano über die Eheschließung verhandelten, reiste Sophie zu Wieland nach Oßmannstedt, um dort auf ihren Bräutigam zu warten. Nach einigen Wochen aber erfuhr Sophie, dass auch diese zweite Hoffnung gescheitert war. In ihrem Verdruss erlag sie einem Nervenfieber und verfiel in eine Raserei, in der sie zwei Wochen lang ununterbrochen Unsinn redete oder einfach schrie. Über diese letzte Krankheit schrieb Wieland in einem Brief an Göschen: Sophie Brentano, das liebenswürdigste und interessanteste Mädchen von 24 Jahren, das vielleicht der Erdboden trug, wurde, nachdem sie uns, durch ihren Aufenthalt bei uns, eine Reihe paradiesische Tage geschenkt hatte, am 3. September von einer der sonderbarsten und verwickeltesten Nervenkrankheiten befallen, die sich in wenig Tagen als gefährlich ankündigte, mit jedem Tage trostlosere Symptome zeigte, und ungeachtet aller ersinnlichen angewandten Hilfe der vorzüglich in solchen Fällen leider! wenig vermögenden Heilkunst, in der Mitternachtstunde des 19. Sept. […] mit dem Tode endigte. Was wir in diesen trübseligen 16 Tagen erfahren und gelitten, möge Ihnen Ihre eigene Einbildungskraft und Ihr eigenes Herz sagen. Der einzige Trost, womit ich mich nun behelfen muß […] ist mir das holde Geschöpf als einen über ihrem so lieben Osmantinum schwebenden Schutzengel vorzustellen.
Thomas C. Starnes
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Bericht von Karl August Böttiger, auf den 16. September datiert: »Wieland wohnt jetzt auf einige Zeit in Tiefurt, weil sein Haus in Oßmanstedt ihm durch den Wahnsinn der Sophie Brentano etwas verleidet wurde.« Unwillkürlich denkt man hier an Goethe während des qualvollen Absterbens der Christiane Vulpius. Es wurde beschlossen, Sophie in Wielands Oßmannstedter Garten am Ufer der Ilm zu beerdigen. Über sie und ihre Begräbnisstelle schrieb der Dichter an Böttiger: Der Platz, wo die Hülse der schönsten weiblichen Seele, die jemahls auf Erden erschien, verborgen liegt, soll soviel möglich abgesondert, geheiligt und dem stillen süßen Schmerz der Erinnerung, aber auch zugleich dem herzerhebenden Vorgefühl der besseren Zukunft gewidmet. Es sollte das heimlichste, aber das anziehendste Plätzchen meines Gartens werden. Wollte Gott ich könnt’ es so anmuthig machen, daß es Ihren Geist selbst anlocken könnte, es in Feierstunden der untergehenden Sonne oder stillheitrer Mondnächte zu besuchen und seine liebliche Gegenwart durch ein sanftes Säuseln unter den Silberpappeln zu offenbaren.
Zwei Monate nach Sophies Tod ist diese »schönste Seele, die je in Engelsgestalt unter den Menschen wandelte« noch bei ihm in Traumbildern geblieben. An ihre Großmutter Sophie La Roche schrieb er den 28. November 1800: Was ich an ihr verloren habe, wird mir nie ersetzt werden. – Werden wir sie wieder sehen? – Das wolle der Himmel! Und warum nicht? Ich sehe sie doch öfters im Träumen. Noch in dieser letzt verwichenen Nacht sah ich sie, so schön, so liebenswürdig, und holdselig, so gefühlvoll und fröhlich, wie ich sie im Leben nur in ihren glücklichsten Augenblicken sah. Es war eine wahre vision beatifique für mich – und wie sie (als ob sie von einer weiten langen Reise wieder käme) auf mich zufällig, ich sie in meine Arme schloß und nun, indem ich sie zu wiederholten malen an mein Herz drückte, mit innigster Gewißheit zu mir selbst sagen konnte: Sie lebt, die du todt geglaubt hattest, sie lebt, – in einem Wonnegefühl, wofür kein Bild noch Ausdruck ist. Im Gefühl einer Seligkeit, die ich noch nie empfunden hatte, stützte ich auf meine Knie und dankte mit freudethränenden Augen und ausgebreiteten Armen zum Himmel empor, dafür, daß sie noch lebe – und erwachte wenige Augenblicke darauf. – Das Sonderbare dabey ist, daß ich an dem Abend, in dessen Nacht ich dieses selige Traumgesicht sah […] in ziemlich ungläubige Gedanken verfiel, und noch vor dem Einschlafen zu mir selbst sagte: ›Wenn Sophie noch lebte, warum sollte es nicht in ihrer Gewalt seyn, mir irgend ein Zeichen, daß sie sich meiner noch erinnere und Antheil an mir nehme, zu geben? Und würde sie es nicht thun, wenn sie könnte?‹ Wäre es – einem andern wenigstens als mir – nicht zu verzeihen, wenn er in Rücksicht dieses Umstandes ein wenig abergläubig wäre, und den Traum für eine unmittelbare Folge einer Annäherung und Einwirkung der Seele Sophiens in die meinige halten würde? Was meinen Sie, liebe Freundin?
Kaum vierzehn Monate später, am 8. November 1801, starb Wielands Gattin Anna Dorothea. Am Tage ihres Todes schrieb er an Göschen:
Tod in Oßmannstedt
Wenn Sie dieses erhalten, ist die treue Gefährtin meines Lebens, die 36 Jahre lang nur für mich und unsre Kinder lebte und für deren Werth ich keine Worte habe, wahrscheinlich von allen ihren Leiden entbunden–sie ist sterbend. O Mein Freund – wünschen Sie mir Geduld und Stärke.
Schon lange hatte der Dichter seine Frau zu schätzen gewusst. Über sie schrieb er Dezember 1787, 22 Jahre nach seiner Eheschließung, sie sei ein Muster jeder weiblichen und häuslichen Tugend; ihre Existenz sei mit der seinigen so verwebt, dass er nicht acht Tage von ihr entfernt sein könne, ohne eine Art Heimweh zu erfahren. Die Schlüsselrolle Anna Dorotheas ist auch anderen nicht entgangen. Schiller, zum Beispiel, notierte: »Niemand als Wielands Frau, die alle Ungewitter abwartet, kann in seiner Atmosphäre dauern.« Vom Tode Anna Dorotheas an Auszehrung berichtete Caroline Herder in einem Brief an Jean Paul: Wieland hat viel an ihr verloren, doch war er mehrere Monate auf diesen Verlust gefaßt. So sehr er sich auf diesen Schicksalsschlag vorbereitet haben mag, waren seine Briefe wochenlang mit Wehklagen über seinen Verlust gefüllt. Der Tag der Beerdigung Anna Dorotheas sei der trübste Tag seines Lebens. Ihr Tod sei das traurigste, was ihn im Leben befallen könnte. Seinen Augen sei es immer verborgen geblieben, daß seine seltne häusliche Glückseligkeit, deren er in der innigsten Verbindung, die er 36 Jahre lang mit seinem nur für ihn und ihrer Familie lebenden Weibe nicht länger dauern könnte–und die glückliche Täuschung sei bis gegen die letzten drey Monate ihres Lebens geblieben. Der Verlust, den er erlitten habe, werde immer einen wesentlichen Einfluß auf sein ganzes Dasein haben. Er befinde sich in dem Zustand eines Menschen, dem in einem schon weit vorgerückten Alter der rechte Arm abgestoßen geworden sei; er lebe zwar noch, aber den verlornen Arm müsse er so lang er lebe fühlen.
Am 20. November empfing Wieland Besuch von dem Engländer Henry Crabb Robinson, der von der Begegnung später erzählte: Er sprach zuletzt von seiner Frau, die einige Wochen früher starb. In seinen Worten über sie zeigte er einen Gemütszustand, der recht männlich war, und den ich sehr interessant fand: Ich helfe mir mit Illusionen ab, sagte er. Diejenige, die ich zärtlich geliebt habe, kann unmöglich sterben. Ich verliere sie nur von meinen äußerlichen Sinnen, was allerdings schmerzlich ist. Meine Frau war fünfunddreißig Jahre lang mein guter Engel. Da ich jetzt nicht mehr jung bin, so wird das Bild von ihr in meinem Gedächtnis nie geschwächt werden.
Drei Todesfälle also. Im Laufe von vier Jahren verlor Wieland drei ihm nahestehende Frauen. Welche Folgen haben diese Sterbefälle fürs Leben des Dichters? Hier werden drei angeboten: Eine rein sachliche, dann eine psychologische sowie auch eine philosophische. Erstens war der Traum eines ungetrübten Lebens auf dem Rittergut Oßmannstedt gescheitert. Ein halbes Jahr nach dem Tode seiner Frau hat Wieland mit seinem Schwiegersohn, dem Weimarischen Regierungsbeamten Karl Wilhelm Constantin Stichling, die drückende Last der
Thomas C. Starnes
Landwirtschaft besprochen. Das bedeutet nicht, dass das Horaz’sche Ideal einer ländlichen Existenz ihm nicht mehr vorschwebte. Er erklärte sich zwar bereit, Felder und Wäldchen zu verkaufen, wollte aber das Haus und besonders den Garten, mit den heiligen Gräber seiner Geliebten behalten. Der Wunsch, das Land ohne Haus und Garten zu veräußern, erwies sich aber als undurchführbar, und endlich am 18. April 1803 unterzeichnet er resigniert den Kaufvertrag, wonach das ganze Gut in den Besitz eines reichen Hamburgers überging. Vor Mitte Mai war das Übersiedeln nach Weimar beendet. Im Sommer 1804, weniger als drei Jahre nach dem Tode seiner Frau erhielt Wieland ein Exemplar des neu erschienenen Buches Meiner Gattin wirkliche Erscheinung nach ihrem Tode von dem Leipziger Schriftsteller Johann Karl Wötzel. In dem viel Aufsehen erregenden Werk, das in der Zeit 1804 – 1805 dreimal neu gedruckt wurde, erzählte der Verfasser, er hätte seine sterbende Frau gebeten, nach ihrem Tode ihm auf irgendeine »ganz untrügliche, völlig überzeugende und befriedigende Art« zu erscheinen, um ihn »auch als Philosophen von der lebendigen Fortdauer des menschlichen Geistes nach diesem irdischen Leben auf immer ausser allen Zweifel zu setzen.« Was dann in Wötzels Werk folgt, ist die Beschreibung einiger Phänomene, welche ihn überzeugten, seine Frau habe sich ihm nach ihrem Tode gezeigt und dadurch bewiesen, die Seele bewohne nach dem menschlichen Ableben ein Reich, das dem irdischen ähnelt. Danach bietet der Verfasser eine Reihe quasiwissenschaftlicher Betrachtungen über die Entwicklung der Seele vom Erdenbewohner zum reinen Geist. Wieland, der eifrige Bekämpfer jeder Manifestation des Aberglaubens, konnte Wötzels Traktat nicht anders als eine Provokation ansehen. Darauf zu antworten fühlte er sich verpflichtet – und seine Replik, Euthanasia. Drey Gespräche über das Leben nach dem Tode, erledigte er in weniger als vier Monaten. Obwohl er privat Wötzels Machwerk eins der abgeschmacktesten Bücher der Zeit nannte, legte er seine Gegenargumente dem Publikum in rein sachlichem Tone vor. Er warf Schlaglichter auf die früheste Geschichte der Menschheit und skizzierte die Evolution der primitiven Hoffnung auf ein Fortleben der Verstorben zu einem Glaubensartikel; dabei gedachte er auch der philosophischen Bekämpfung gleichzeitig entstandener Gespenstergeschichten. Neben den scheinbar wissenschaftlichen Methoden der Argumentation stand aber auch eine rein persönliche Subjektivität. Da der Ausgangpunkt für Wötzels Theorien die Erscheinung einer verstorbenen Gattin war, konnte Wieland nicht umhin, an seine eigene abgeschiedene Frau zu denken. Sollten Vernunftsgründe nicht immer hinlänglich sein, die absolute Unmöglichkeit aller Schattenerscheinungen zu beweisen, habe er für sich selbst einen geheimen Grund: Wenn eine Möglichkeit bestünde, dass die Geister der
Tod in Oßmannstedt
Verstorbenen wiederkehren könnten, warum habe er von seiner Gattin, die er 35 Jahre lang mit einer Anhänglichkeit geliebt habe, wovon wenige Menschen einen Begriff haben könnten, und die mit einer noch reineren Liebe für ihn gelebt habe – warum, fragte er sich, habe er von dieser treuen Seele nie Besuch bekommen? Warum erscheine sie ihm nicht wenigstens im Traume? Sie könne es also nicht oder sie dürfe es nicht, – und warum sollte es denn nicht mit allen anderen eben dieselbe Bewandtnis haben? Da er nun auf diese Fragen keine Antwort hat, so treten auf einmal die Vernunftschlüsse wieder ein, und wirken wieder mit ihrer vollen Kraft. Die gleiche Frage hatte Wieland drei Jahre früher nach dem Tode Sophie Brentanos erhoben: Wenn Sophie in irgendeinem Zustande noch existiere, warum solle es nicht in ihrer Gewalt stehen, ihm irgendein Zeichen zu geben, dass sie sich seiner noch erinnere und Anteil an ihm nehme: Würde sie es nicht tun, wenn sie es könnte? In seiner Schrift gibt Wieland zu, er habe nach dem Tode der Frau eine Beziehung zu ihr aufrechterhalten, kontrastiert seine Vorstellungen mit Wötzels Geistergeschichte: Länger als ein Jahr glaubte er, seine Frau lebe und habe ihn nie verlassen: Dieses Gefühl war mit keiner mir bemerklichen Täuschung der Einbildung verbunden: ich meinte nicht, sie zu sehen oder zu hören; aber mir war, sie sehe und höre mich. Ich fühle ihre Nähe in meinem Innern, und kein Dogmatiker noch Skeptiker hätte mir die Gewißheit, daß Sie leben und Antheil an mir nehme, wegvernünfteln können. Sobald ich allein war, unterhielt ich mit ihr, ohne des ewigen Monodrama’s jemahls müde zu werden.
Auch dieses Zitat aus der Euthanasia erinnert an Herzensergießungen Wielands nach dem Tode Sophie Brentanos: Ich sehe sie doch öfters im Träumen. Noch in dieser letzt verwichenen Nacht sah ich sie, schön, liebenswürdig und holdselig […] – und wie […] ich sie in meine Arme schloß und zu wiederholten malen an mein Herz drückte, konnte ich mit innigster Gewißheit zu mir selbst sagen: Sie lebt, die du todt geglaubt hattest, sie lebt […].
Dann setzte Wieland in seiner Schrift die Rechenschaft über seine Empfindungen nach dem Verlust einer geliebten Person, »mit der wir lange gelebt haben« fort: Das Gefühl Ihrer geistigen Nähe hatte die Wirkung auf mich, welche die Griechischen Dichter dem Anhauch einer Muse zuschrieben, es belebte meine Lebensgeister, und stärkte meinen Kopf, nicht weniger als mein Herz, kräftiger als das beste Kordial; ja ich bin überzeugt, daß ich ohne dasselbe damahls nicht nur nichts erträgliches hervorbringen, sondern das Daseyn selbst schwerlich hätte ertragen können.
Eine Erwägung dieses letzten Vergleichs berechtigt wohl die Frage, ob Wieland hier tatsächlich nur seine Ehefrau im Sinne hatte. So sehr er sie liebte und so sehr er in mancher Hinsicht von ihr abhängig blieb, hat sie
Thomas C. Starnes
ein rein häusliches Leben geführt und sich von den Kreisen der gebildeten Freunden und Freundinnen des Dichters immer zurückgehalten. Von ihr wurde sogar berichtet, sie habe in ihrem ganzen Leben keine einzige Schrift aus der Feder ihres Mannes gelesen. Nach Augen- und Ohrenzeugen hat dagegen die verständige, gefühlsvolle, interessante, belesene und liebenswürdige Sophie Brentano wie eine Muse und eine Grazie auf den Dichter gewirkt. Demnach dürfte man vielleicht eine zweite, eine psychologische Folge der Todesfälle in Oßmannstedt erschlüsseln. Wenn ein verwegener Blick in den Gemütszustand und die Gedankengänge des alternden Dichters erlaubt sei, so ist vielleicht nicht zuviel damit behauptet, dass er nicht immer eine klare Unterscheidungslinie zwischen seiner Ehefrau Anna Dorothea und seiner Tochter-Freundin Sophie ziehen konnte. Genau wie er später über beiden einen gemeinsamen Grabstein errichten ließ, hat er sich auch wohl vor dem Anfang seiner Arbeit an der Schrift Euthanasia unbewusst daran gewöhnt, die beiden als zwei Seiten eines einzigen Wesens anzusehen. So hat der Tod in Oßmannstedt gnädig oder unbarmherzig, wie man es will, auf ihn gewirkt. Auf jeden Fall ist es nicht zu leugnen, dass die drei Todesfälle ihn stark betroffen haben – und das rasche Aufeinanderfolgen der Verluste haben ihn zu Änderungen in seinen Gedanken über Tod und Wiederauferstehung geführt. Seine Worte nach dem Ableben der Tochter Wilhelmine tragen die Merkmale der christlichen Tradition: Sie sei nun in einer besseren Welt und er werde ihr folgen. In diesem Gedanken allein sei heilender Balsam für eine solche Wunde. Nachdem Sophie Brentano starb, tröstete er sich eine Zeit lang mit dem beglückenden Traum, dass sie irgendwo noch lebt. Auch von Anna Dorothea sagte er, diese Frau, die er geliebt habe, könne nicht sterben, nur aus seinen äußerlichen Sinnen verschwinden. So hat er nach jedem der drei Tode in Oßmannstedt eine gewisse Linderung seiner Trauer durch Flüge der Einbildungskräfte. Im Laufe der nachfolgenden drei Jahre aber, währenddessen er über die Bedeutung seiner Verluste nachdachte, setzte sich eine wachsend nüchterne Skepsis ein. Als er am Ende des Jahres 1804 seine Euthanasia herausgeben ließ, hat er die Stufe der endgültigen Resignation erreicht. Er gestand in der Schrift, er habe den tröstenden Gedanken aufgegeben, dass eine geistige Gemeinschaft mit den Verstorbenen möglich sei: Der Tod beende alle Gemeinschaft, denn ein Toter sei einfach nicht mehr und habe alles – auch die Erinnerung verloren: Alle früheren Verhältnisse lägen im Grab. Schon ehe er das Buch zu Ende geschrieben hatte, teilte er seinem Freund Böttiger mit, es werde darin laut und öffentlich behauptet, was andere, gescheitere Leute nur denken. Er hat darin zwar dem abstrakten Begriff der Religion gebührenden Tribut gezollt: Sie sei in ihrem eigentlichen Wesen »selbst die reinste und höchste Humanität« und könnte es
Tod in Oßmannstedt
bleiben, wenn sie sich selbst nicht durch chimärische Einbildungen, Magie und Möncherei verfinstere. Über die Unsterblichkeitslehre denke man aber einfach verschieden. Besonders die Verbindung des Glaubens an ein himmlisches Weiterleben mit der Idee, dass Tote zur Verantwortung gezogen werden sollten, lehnt er als unglaubhaft ab – und in moralischer Hinsicht eigentlich unnötig: Ein böses Gewissen sei eine Strafe, die nicht übertroffen werden könne. Dem sei wie ihm wolle, warum solle man sich vergebliche Mühe machen, den undurchdringlichen Vorhang wegzuziehen, der das Leben nach dem Tode vor uns verbirgt. Wichtig ist das, was die alten Griechen »Euthanasia« nannten, nämlich eine ruhige Ergebung im Bewusstsein eines gut geführten Lebens und ein ständiges Hoffen bis zum letzten Atemzug auf das Beste. Diese Gesinnungen Wielands sind wohl die dritte, die philosophische Folge der Todesfälle in Oßmannstedt. Die nüchterne Rationalität der Worte des alten Dichters unterscheidet sich auffallend von den für seine frühen Schriften charakteristischen geflügelten Gedanken und glühenden Überzeugungen, wovon hier nur einige wenige Beispiele zu nennen seien. In seinem Erstlingswerk, Die Natur der Dinge, das er als 17jähriger verfasste, brachte er eine Widerlegung des Matierialismus in Lukrez’ De rerum natura und durch eine Art Seelenwanderungstheorie eine Verteidigung des Unsterblichkeitsglaubens: In der Natur gebe es keinen Tod; der Tod sei die Geburt eines neuen Zustandes. Wenige Jahre später in seinen Briefen von Verstorbenen an hinterlassene Freunde beschrieb er paradiesische Täler, in denen tugendhafte Liebende glücklich wiedervereinigt werden. In diesen Briefen blieb Wieland bei der Vorstellung, der Mensch gehe nur einmal vom Leben in den Tod, d. h. in die Ewigkeit über, obwohl er in anderen Jugendschriften den platonisch-sokratischen Begriff einer Unsterblichkeit vertrat, wonach jede Seele eine Präexistenz hinter sich hat: Das merkwürdige Vermögen der einen, eine andere anzuziehen, erkläre die Metempsychose – Sympathien der Seelen seien prädestiniert, und solche durch Sympathien an einander geknüpften Seelen begehren, sich »dem heiligen Lande, wo sie entsprungen sind, immer mehr zu nähern […] und diese erhabene Begierde, man mag sie nun Tugend oder Religion nennen, vereinigt sie in allem, was sie denken oder thun.« Vielleicht auch hier erwähnenswert ist Wielands 1758 erschienenes, nach dem Engländer Nicholas Rowe bearbeitete Drama Lady Johanna Gray, worin die Heldin sich gern als Martyrin der englischen Kirche hinrichten lässt: Der Tod sei nur ein Übergang ins Leben – zum Sterben sei der Mensch geboren und der Tod raube ihm nichts als die Sterblichkeit. Der seraphische Sänger, als der Wieland während der ersten zehn Jahre seiner dichterischen Laufbahn bekannt war, schien in der Folge seiner Metamorphose zum anakreontischen »Sittenverderber« eine Zeit lang fast
Thomas C. Starnes
alle metaphysischen Erwägungen fallen zu lassen. Nach dem Tode seiner acht Jahre alten Tochter Regina Dorothea kommt aber in einem Brief von 14. Mai 1779 eine merkwürdige Stelle vor: Das Schicksal sei dem Menschen ein anderes Leben schuldig, wenn auch nur um unbilligerweise Getrennte wieder zu vereinigen. Die Natur nehme jedoch wenig Notiz von den Wünschen der Menschen, die in einem Abgrund des ungründlichen Unendlichen herumschwimmen. Nur Glaube, Liebe und Hoffnung seien dem Sterblichen geblieben. Nicht lange danach schildert er in seinem 1780 veröffentlichten Epos Oberon als eine Nebengestalt den Eremiten Don Alfonso und mit diesem eine Vorwegnahme des in der Romantik beliebten Themas der Todessehnsucht: Am Ende eines langen mit allen weltlichen Ehren belohnten Lebens sehnte sich der alte Edelmann Alfonso nach dem, was der Tod anbiete: eine mystische Vereinigung mit der Natur und damit eine Unendlichkeit, welche die menschliche Seele stille. Dem Titel nach verspricht Wielands langer Merkur-Aufsatz vom Jahre 1788, Gedanken von der Freyheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren neue Einsichten; der Text aber bringt nur einen schräg geworfenen Hinweis auf »zeitliches und ewiges Leben«, und dann an anderer Stelle eine kurzgefasste Erklärung der Zusammenhänge von Religion und Tod: Der Glaube an Gott […] als die erste Grundursache aller Dinge macht nebst dem Glauben an einen künftigen Zustand nach dem Tode, die ersten Grundartikel der Religion aus. Diesen Glauben auf alle mögliche Weise zu bekräftigen und zu unterstützen ist eines der würdigsten und nützlichsten Geschäfte der Filosophie und ist in Rücksicht der Unentbehrlichkeit desselben sogar Pflicht.
In seinen Altersromanen tauchen wieder die Fragen über das Schicksal der Seele nach dem Ende des irdischen Lebens auf. Als besonders erleuchtend müssen die Worte seines Aristippus gelten, denn diesen nannte Wieland den Fürsprecher seiner eigenen Hausphilosophie: Es gebe hinlänglichen Grund, den Tod für den Übergang zu einer höheren Art von Dasein zu halten; das »was unser eigentliches Ich ausmacht, und was man gewöhnlich unter dem Wort Seele versteht, wird nach der Trennung vom Körper fortdauern.« Als der unermüdliche Eklektiker Wieland im Laufe eines halben Jahrhunderts das Gedankengut alter und neuer Zeiten wieder aufgriff, änderte er fortlaufend nicht nur in veröffentlichten Schriften sondern auch in Briefen und Gesprächen seine Ansichten, Tod und Nachleben bezüglich – und darin scheint manchmal sogar eine Art Entwicklung bemerkbar zu sein. Seine Ideen und Bilder sind jedoch zu wenig konsequent, geschweige methodisch, um von einer Eschatalogie sprechen zu können. Erst in der Zeit vor und nach der Jahrhundertwende, d. h. in der Zeit, während der er in Oßmannstedt eine Lieblingstochter, eine fast angebetete Freundin
Tod in Oßmannstedt
und eine geliebte Lebensgefährtin durch den Tod verlor, ist ein Entfalten seiner Gedanken deutlich, welches die Merkmale der Konsequenz trägt. Den 24. Oktober 1812, knapp drei Monate vor seinem eigenen Tod, las der 81 Jahre alte Christoph Martin Wieland der Weimarer Freimaurerloge Amalia seine Rede Über das Fortleben im Andenken der Nachwelt vor. Darin wiederholte er mit anderen Worten den philosophischen Standpunkt, den er in der Euthanasia vertrat. Die Menschheit habe immer, so heißt es in dem Vortrag, das Leben für das größte aller Güter und das gänzliche Stillstellen und Aufhören desselben, den Tod, für das größte aller Übel gehalten. Die weisesten Männer und schärfsten Denker aller Zeiten, wie vermutlich auch die vor dem Redner versammelten Zuhörer, seien aus Vernunftsgründen zum Schluss geführt, die Seele oder der Geist des Menschen sei unkörperlich, unaufhörlich und unvergänglich – fahre folglich nach der Trennung vom Leibe zu denken, zu wollen und zu wirken fort. So erfreulich dieser Unsterblichkeitsgedanke, sei er leider nicht beweisbar. Zum Trost gebe es indessen eine andere Art von Leben nach dem Tode, deren Verwirklichung in gewissem Sinne vom Menschen selbst abhänge und die einen Abgeschiedenen in Verbindung mit den ihm Überlebenden erhalte, nämlich das Fortleben im Herzen der Freunde. Anspruch auf diese Unsterblichkeit erwerbe ein Jeder durch Privattugenden und den edlen Gebrauch von Geisteskräften und Talenten – so bescheiden sie auch sein möchten. Da ein Edelgesinnter weniger für sich selbst als für andere lebe, so sei für ihn ein Leben im Andenken der Nachwelt gewissermaßen sein Lohn und eine wirkliche Fortsetzung seines irdischen Daseins. Niemand, heißt es weiter, sei diese Art der Unvergänglichkeit sicherer als die Herzogin Anna Amalia, zu deren Ehre er die Stiftungsfestrede hält. Durch ihre vorbildlichen Qualitäten und Verdienste habe sie bis zum Ende ihres Lebens alle Herzen gewonnen und die Welt mit ihrem Ruhme erfüllt. Eine ähnlich tröstende, erreichbare und glaubwürdige Unsterblichkeit wünscht sich der Redner Wieland auch, wie er am Ende seines Vortrags unterstrich: Er, 80 Jahre alt und dem Ziele seiner Laufbahn nahe, hoffe im liebevollem Andenken seiner Logenbrüder fortzuleben.
Siglenverzeichnis Ag
Christoph Martin Wieland: Agathodämon. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans u. Johanna Radspieler. Frankfurt/M., Leipzig 2008
AZ
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GA
Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon: Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 11)
NTM Der Neue Teutsche Merkur (1790 – 1810), hier im Band zitiert mit Nr. der Jahresteilausgabe vor der Jahreszahl. Vgl. auch die Online-Ressource der Universität Bielefeld mit allen Ausgaben unter: www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/neuteutmerk PS
Christoph Martin Wieland: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Hans u. Johanna Radspieler. 3 Bde. Nördlingen 1988
SW
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Hg. v. d. »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« in Zusammenarbeit m. d. »Wieland-Archiv«, Biberach / Riß u. Hans Radspieler. Hamburg u. a.: 1984. 36 Bde. u. 6 Supplementbände [Faksimiledruck der Sämmtlichen Werke, Leipzig 1794 – 1811], erschienen in 14 Bänden. Hier im Band zitiert mit römischer Zahl für Band, arabischer Zahl für Originalband sowie Seitenzahl nach der Sigle.
TM
Der Teutsche Merkur (1773 – 1789) hier im Band zitiert mit Nr. der Jahresteilausgabe vor der Jahreszahl. Vgl. auch die Online-Ressource der Universität Bielefeld mit allen Ausgaben unter: www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/teutmerk
ÜH
Christoph Martin Wieland: Übersetzung des Horaz. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Frankfurt/M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 10)
WBibl Gottfried Günther u. Heidi Zeilinger: Wieland-Bibliographie. Berlin, Weimar 1983 WBr
Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hans Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe). Berlin 1963 – 2007
WGS
Wielands Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (später Preußische A. d. W.; Deutsche A. d. W.). Berlin 1909 – 1976. Hier im Band zitiert mit römische Ziffer für Abteilung, arabische Ziffer für Band sowie Seitenzahl nach der Sigle.
WOA Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. (Oßmannstedter Ausgabe) Berlin u.a. 2008 ff. WW
Christoph Martin Wieland: Werke. Hg. v. Fritz Martini und Hans Werner Seiffert. 5. Bde. München 1964 – 1968
Personenregister Abbt, Thomas Adorno, Theodor Alkibiades Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel , Apollonius von Tyana Ariost (Ludovico Ariosto) Aristippos von Kyrene Aristophanes , , Aristoteles f., , f., f., , Auerochs, Bernd f., Augustus Auteri, Laura Bachtin, Michail Baeumker, Clemens Bahr, Ehrhard Barthel, Marga Bartholomaeus Anglicus f. Baumbach, Manuel Behler, Ernst Benjamin, Walter , Bergerac, Cyrano de Berthold, Christian Bertin, Claude Bethmann, Moritz Biester, Johann Erich Blumenberg, Hans , -, Boccaccio, Giovanni Bodmer, Johann Jacob , f., , , Böttiger, Karl August , , , , f., Brachman, Louise , Breitinger, Johann Jacob Brentano, Sophie ff., f. Brockes, Barthold Heinrich Bruno, Giordano , Buchholtz, Andreas Heinrich f. Caeser, Gaius Julius , f Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach , , , f., f., f. Casa, Giovanni della Catilina, Lucius Sergius f. Cervantes, Miguel de , , Chladenius, Johann Martin -, - Cicero , , , , f., , , , , - Cölln, Jan
Cotta, Johann Friedrich d’Ablancourt, Nicolas Perrot f. d’Aulnay, Marie-Catherine Dahlem, Werner Davidson, James Dehrmann, Mark-Georg Derks, Paul , f. Derrida, Jacques Descartes, René , , , Diderot, Denis Diez, Immanuel Carl Diogenes Dürremann, Friedrich Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart) Engel, Manfred f. Erasmus von Rotterdam Erhart, Walter , , , Euripides , Falk, Johannes Daniel Fichte, Johann Gottlieb , , , , , Ficino, Marsilio , Fielding, Henry , , Fleming, Paul Foucault, Michel , , , Franz I. Frey, Pascal Frick, Werner , Friedrich II. (der Große) , Frisch, Max Fuhrmann, Manfred Garve, Christian ff. Gatterer, Johann Christoph - Geßner, Heinrich Geßner, Salomon , , , f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig f., f., ff., f., , Göchhausen, Luise von Goethe, Johann Wolfgang f., , f., , , , , f., , , , -, , , , , , Göschen, Georg Joachim , , ff. Gottsched, Johann Christoph , , f., Grimm, Jacob
Personenregister
Gropius, Walter f. Gruber, Johann Gottfried f., Gryphius, Andreas Habermas, Jürgen f., Hadot, Pierre , Haischer, Peter Hamann, Johann Georg Hegel, Georg Wilhelm Friedrich , Heinse, Wilhelm , , , ff., ff., , , Heinz, Jutta , , , , , Herder, Johann Gottfried , , , ff., , , f., , , f., f., , , Herder, Ludwig Herder, Maria Caroline (geb. Flachsland) Hinske, Norbert Hogel, Christina Hölderlin, Friedrich , Homer , Horaz (Quintus Horatius Flaccus) , , , f., ff., , ff., , , , , , f., , -, , , , , Jacob, Joachim Jacobi, Friedrich Heinrich , , , Jaumann, Herbert , Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) , , Joseph II. Joyce, James Kant, Immanuel f., , , , , , ff., f., , ff., , f., f., , Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (siehe Carl August von Sachsen-WeimarEisenach) Kauffmann, Kai Kierkegaard, Søren Kittler, Wolf Kleihues, Alexandra Klopstock, Friedrich Gottlieb , , Klotz, Adolph Knebel, Carl Ludwig von , , f. Körner, Christian Gottfried Koselleck, Reinhard Kreknin, Innokentij Kues, Nikolaus von , Kytzler, Bernhard La Bruyère, Jean de
La Roche, Marie Sophie von (geb. Gutermann von Gutershofen) , Laak, Lothar van Lange, Samuel Gotthold Latour, Bruno Lautwein, Thomas Leibniz, Gottfried Wilhelm f., f. Lenz, Jakob Michael Reinhold Leprince de Beaumont, Jeanne Marie Lessing, Gotthold Ephraim , , ff., , , f., , , , ff., Liskow, Christian Ludwig Livius, Titus f. Lukian von Samosata , , , ff., , ff., , , ff., , f., , -, -, Lukrez (Titus Lucretius Carus) Lütkemüller, Samuel Christoph Abraham Maecenas (Gaius Cilnius Maecenas) , Mahnke, Dietrich ff. Malewitsch, Kasimir Manger, Klaus , , , , Martínez-Bonatis, Félix Martus, Steffen Matthisson, Friedrich von Mauvillon, Jacob Meier, Georg Friedrich Meiners, Christoph Mendelssohn, Moses , Mewes, Knuth Milton, John Mommsen, Theodor f. Mondrian, Piet Moritz, Karl Philipp , Müller, Jan-Dirk Müller, Johannes von Münter, Friedrich Napoleon Bonaparte , , f. Nicolai, Friedrich , Nietzsche, Friedrich , Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) , , Obereit, Jacob Hermann Oesterhelt, Anja Opitz, Martin Ovid (Publius Ovidius Naso) Pascal, Blaise f Peregrinus Proteus Petersdorff, Dirk von
Personenregister Petron (Titus Petronius) f., f. Pfaff, Christoph Matthäus , Philistus f. Philostratus Pilatus, Pontius Platon , , f., , , , , , , , , f., -, f., Plotin Plutarch Pockels, Carl Friedrich , f. Pope, Alexander , , Pott, Ute Preisendanz, Wolfgang , Pyras, Jakob Immanuel f. Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) , Quintus Horatius Flaccus (siehe Horaz) Rabelais, François , Rautenberg, Christian Günther Reemtsma, Jan Philipp , , , , f. Reimarus, Hermann Samuel Reinhold, Karl Leonhard , ff., , f., , Reuter, Hans-Heinrich Richardson, Samuel Riedel, Friedrich Just , Riemer, Friedrich Wilhelm Robinson, Henry Crabb Robortello, Francesco Rochlitz, Johann Friedrich Rorty, Richard f. Rousseau, Jean-Jacques Rowe, Nicholas Scaliger, Julius Caesar Schelling, Friedrich , , Schikaneder, Emanuel Schiller, Friedrich , f., , , , , , , , , ff., , , , , Schirach, Gottlob Benedikt von Schlaffer, Hannelore , Schlegel, August Wilhelm , Schlegel, Friedrich , , f., , , , , Schleiermacher, Friedrich , ff., , f. Schlözer, August Ludwig von Schmid, Carl Christian Erhard Schmidt, Arno , , Schmidt, Christian Heinrich Schönberg, Arnold Seidler, Andreas
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