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German Pages 438 Year 2015
Ästhetisches Wissen
Berlin Studies in Knowledge Research
Edited by Günter Abel and James Conant
Volume 7
Ästhetisches Wissen Herausgeber Christoph Asmuth und Peter Remmers
DE GRUYTER
Series Editors Prof. Dr. Günter Abel Technische Universität Berlin Institut für Philosophie Straße des 17. Juni 135 10623 Berlin Germany e-mail: [email protected] Prof. Dr. James Conant The University of Chicago Dept. of Philosophy 1115 E. 58th Street Chicago IL 60637 USA e-mail: [email protected]
ISBN 978-3-11-034620-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034624-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038390-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Peter Remmers und Christoph Asmuth Einleitung 1
1. Teil Grundlagen: Baumgarten, Kant und Hegel Ulrich Seeberg Schönheit und Wahrheit Zum Problem sinnlicher Erkenntnis bei Kant
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Michael Sellhoff Sinnliche Abstracta: Das Medium zwischen Individuo und Begriff
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Katerina Mihaylova Zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis: Die Ablösung der Ästhetik von der Logik bei Kant 49 Leonardo Amoroso Der ästhetische Mensch von Baumgarten bis Schiller
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Alberto L. Siani Kants ästhetische Urteilskraft als nicht-ästhetisches Wissen und das Ende des modernen Subjekts 95 Cristiana Senigaglia Sinnlichkeit als Kommunikationsform des Begriffs 111 Hegel und die Verbildlichung des Wissens Héctor Ferreiro Hegels Auffassung von der Poesie als Endform der Kunst
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Inhalt
2. Teil Phänomenologische Perspektiven: Kant, Husserl und Merleau-Ponty Astrid Wagner Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ – Kants Ästhetik im Lichte von Merleau-Pontys Phänomenologie der 147 Wahrnehmung David Espinet „Êtres de fuite“ – Der Ereignischarakter ästhetischer Ideen bei Kant, Merleau-Ponty und Proust 165 Michela Summa Ein sinnloses Gewühl? Die Hypothese des Chaos und ihre Implikationen bei Kant und Husserl 189 Serena Feloj Ästhetik, Wissen und Chaos Die symbolische Erkenntnis der ästhetischen Idee bei Husserl und 211 Kant Irene Breuer Husserls Lehre von den sinnlichen und kategorialen Anschauungen Der sinnliche Überschuss des Sinnbildungsprozesses und seine doxische Erkenntnisform 231
3. Teil Anwendungen: Musik, Religion und die Wissenschaften Michael Funk Zwischen Genetik und klassischer Musik: Zur Philosophie sinnlichen Wissens 249 Thomas Dworschak Klang und Geist: Über neuere Untersuchungen zu einem hegelschen Problem 289
Inhalt
Fábio Mascarenhas Nolasco Hegels negative Charakterisierung der Musik: Zahlenverhältnisse 311 und instrumentale Äußerlichkeit Damián Jorge Rosanovich Sinnlichkeit und Volksreligion beim jungen Hegel
327
4. Teil Postmoderne Perspektiven Andreas Jacke Berühren und Begreifen Ein Vergleich zwischen zwei Vermittlungsvorgängen in den philosophischen Ansätzen von Derrida und Hegel 339 Cem Kömürcü Das Nicht-Verschwinden des Verschwindens Weltentwurf und Indifferenz 357
5. Teil Ästhetisches Wissen zwischen Epistemologie, Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie Teresa Pedro Zum Verhältnis von Wahrnehmungstheorie und Ästhetik: Zwei Lesarten 373 Peter Remmers Was ist „ästhetisches Wissen“? Überlegungen zur Konzeption einer Wissensform 391 Zu den Autoren Personenregister
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Einleitung
Die Frage nach dem Verhältnis von Sinnlichkeit und Begriff bildet eines der Grundlagenprobleme der Erkenntnisphilosophie, der Ästhetik und angrenzender Gebiete. Im vorliegenden Band werden im Bezug auf dieses Verhältnis philosophische Positionen aufgegriffen, zusammengeführt und für neue Konzeptionen fruchtbar gemacht.Vor allem die epistemologischen Dimensionen stehen dabei im Vordergrund und werden in aller Breite unter dem Begriff „Ästhetisches Wissen“ gefasst. Die Wahl der terminologisch noch nicht einschlägigen Wendung „Ästhetisches Wissen“ hat mehrere Hintergründe. Zunächst einmal dient sie als übergreifender Verweis auf Entwicklungen, Erweiterungen und Spezifizierungen von Konzepten z. B. der sinnlichen Erkenntnis, der ästhetischen Erfahrung und des Wahrnehmungswissens. Zugleich werden mit der Wendung verschiedene philosophische Disziplinen mit Blick auf das Verhältnis von Sinnlichkeit und begrifflichen Funktionen gebündelt: Ästhetik, Transzendentalphilosophie, Philosophie der Kunst, Phänomenologie, Philosophie der Wahrnehmung, Hermeneutik und Postmodernismus bringen ihre je eigenen Perspektiven im Bezug auf ein verbindendes Thema ein. Schließlich bietet das Thema neben dem Schwerpunkt auf Problematiken des Wissens auch Anknüpfungspunkte an Untersuchungen u. a. zu den Künsten, zu den Wissenschaften, zur Religion sowie zur Stellung des Menschen in der Welt – Bereiche, die nicht von Fragen der Erkenntnis und der Ästhetik getrennt werden können. In den Beiträgen das Bandes werden verschiedene Ansätze entwickelt, die epistemologische Dimensionen des Ästhetischen auf der Ebene einer wie immer auch gearteten Vermittlung von Sinnlichem und Begrifflichem aufspüren und weiterdenken – mit Exkursen zu einigen spezifischen Realisierungen dieser Vermittlungen (etwa in der Musik, in der Poesie und in der Religion), die allerdings hauptsächlich mit jenem systematischen Interesse unternommen werden. Auf welche Fragen finden sich also Antworten im vorliegenden Band? Eine kurze Auflistung ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann als Orientierung dienen: – Welche Rolle spielt die Sinnlichkeit im Erkenntnisprozess? – Wie ist die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Begriff zu denken? – Wie kommen Sinnlichkeit und Begriffsvermögen im Menschen zur Einheit? – Vor welchem historischen Hintergrund wird das Verhältnis von Sinnlichkeit und Begriff problematisch? – Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Künste und die Wissenschaften?
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Inwiefern kann man den Künsten eine Erkenntnisfunktion zuschreiben? Welche Funktion erfüllt die Einbildungskraft? Macht es Sinn, von einer spezifisch ästhetischen Wissensform zu sprechen?
Diese und weitere Fragen werden im Lichte des aktuellen internationalen Forschungsstandes und an einschlägigen Positionen erörtert und beantwortet. Fast alle Beiträge orientieren sich dabei in der einen oder anderen Hinsicht an Immanuel Kants Transzendentalphilosophie. Sowohl die transzendentale Ästhetik in der Kritik der reinen Vernunft als auch die ästhetische Urteilskraft in der Kritik der Urteilskraft werden in ihrem grundlegenden Charakter ernst genommen und bilden Leitkonzeptionen auch für weiterführende Positionen des Deutschen Idealismus und der Phänomenologie. Im Resultat entsteht ein balanciert historisch-systematisches Bild der Forschungsentwicklung, das die Breite der diskutierten Philosophien angemessen repräsentiert.
Zu den Beiträgen Ulrich Seeberg stellt in seinem Beitrag wesentliche Grundgedanken aus Kants Kritik der Urteilskraft in ihrem Zusammenhang zur Erkenntnisphilosophie dar. Seeberg erklärt, inwiefern sinnliche Erkenntnis in Kants Werk nicht nur in Bezug auf die Beurteilung der Schönheit in ästhetischen Phänomenen im engeren Sinne, sondern auch gerade in Bezug auf die Welt der modernen Wissenschaften und des sinnlich affizierten Menschen einen zentralen Platz einnimmt. Denn in der Kritik der Urteilskraft wird mit dem Geltungsanspruch des sensus communis ein intersubjektiver Raum eröffnet, in dem eine systematische Verbindung zwischen erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis und sinnlich erfahrener Lebenswirklichkeit der in einer Öffentlichkeit vereinten Subjekte besteht. Die philosophische Ästhetik bildet daher nach Seeberg ein Schlüsselelement für eine umfassende Theorie des Verstehens und geht insofern weit über die Thematisierung von Phänomenen des Schönen und der Kunst hinaus. Michael Sellhoff zeichnet in seinem Beitrag die Geschichte des Konzepts der Einbildungskraft in der vorkantischen Philosophie von René Descartes über Johann G. H. Feder bis hin zu Johann Nicolaus Tetens nach und verdeutlicht so deren Einflüsse auf Kant. In Descartes’ Regulae hat die Einbildungskraft eine inhaltlich reduzierende Funktion, durch die symbolische Abkürzungen und Zusammenhänge im Denken ermöglicht werden. Feder bestimmt daran anschließend ein sinnliches Absonderungsvermögen der Einbildungskraft, aus dem sich von Begriffen unterschiedene „sinnliche Abstrakta“ ergeben. Tetens schließt daran an und geht noch einen Schritt weiter, indem er die produktive Einbildungskraft als
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bildende Dichtkraft beschreibt: Denn sie leistet nicht eine bloß assoziierende, sondern eine für alle Wahrnehmung grundlegende synthetisierende Abstraktion sinnlicher Vorstellungen. Hierdurch wird die Bedeutung der Einbildungskraft im erkenntnispsychologischen Prozess verstärkt, wodurch eine entscheidende Grundlage für Kants Schematismus-Kapitel gelegt ist – so Sellhoffs These. In einer minutiösen Untersuchung von Kants Argumenten zum ästhetischen Charakter des Raumes als Form der Anschauung erörtert Katerina Mihaylova in ihrem Beitrag die Emanzipation der (transzendentalen) Ästhetik von der Logik. Die Eigenständigkeit der transzendentalen Ästhetik hängt davon ab, ob sich ihr eigene Prinzipien a priori nachweisen lassen; deren Nachweis erfordert eine mit feinen begrifflichen Unterscheidungen arbeitende Bestimmung des Anteils der Sinnlichkeit an der Erkenntnis. Mit diesem Ziel rekonstruiert Mihaylova ausgehend von den vorkritischen Schriften bis zur Kritik der reinen Vernunft Kants Entwicklung der transzendentalen Argumentation für die räumliche Objektkonstitution in der Sinnlichkeit. So wird das ästhetische Wissen erklärlich, das die reinen Formen der Räumlichkeit zum Gegenstand hat: die Geometrie. Zugleich ist das methodische Vorgehen der Kritik der Urteilskraft hier schon vorgezeichnet. Leonardo Amoroso zeigt die historische Entwicklung verschiedener Modelle der Einheit von sinnlichen und begrifflichen Vermögen in ihrem Bezug zum Wesen des Menschen auf. Der „ästhetische Mensch“ spielt schon bei Baumgarten eine wichtige argumentative Rolle, denn für ihn gehört die Sinnlichkeit wesentlich zur menschlichen Erfahrung und ist schon deswegen einer wissenschaftlichen Behandlung würdig. Auch bei Kant erweist sich das ästhetische Urteil über das Schöne mit seiner besonderen Verbindung von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen als Spezifikum des Menschen. Ihren zentralen Ort hat die Bestimmung des ästhetischen Menschen dann aber in Friedrich Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, in denen über Kants Betonung der moralischen Schätzung hinaus eine vollständige anthropologische Schätzung des Menschen gefordert wird. Erst das Ideal des ästhetischen Menschen bildet den vollständigen Menschen – ein Anspruch, auf den sich sogar Autoren wie Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger positiv beziehen. Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft eröffnet in Alberto L. Sianis Deutung einen besonderen Raum der Intersubjektivität neben Wissenschaft und Moral, der zugleich nicht auf ästhetische Phänomene im engeren Sinne beschränkt bleibt. Siani argumentiert in seinem Beitrag dafür, dass Kants Konzeption der ästhetischen Urteilskraft neben den anerkannten künstlerischen und politischen Implikationen, wie sie von Schiller und Hannah Arendt hervorgehoben wurden, einen Übergang von der rationalistischen zur idealistischen Auffassung von Subjektivität bildet, die von G. W. F. Hegel weiter verfolgt und schließlich zur „Destruktion“ des modernen Subjekts geführt wird. Dadurch wird einerseits eine
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besondere Art der kritischen Reflexion ermöglicht, die weder von individuellen Einzelinteressen, noch von übergeordneten Interessen einer Allgemeinheit bestimmt ist. Andererseits kann daran anknüpfend und mit Hegel die Idee eines Wesens der Menschheit im Sinne von konkreten Gestaltungen des Menschlichen radikal neu gedacht werden. Cristiana Senigaglia untersucht in ihrem Beitrag, wie Hegel die sinnliche Mitteilungsfähigkeit der Kunst denkt. Im Gegensatz zu Kant geht Hegel zunächst davon aus, dass die Kunst mit einem Anspruch auf Wahrheit und somit auf Erkenntnis auftritt, weil sie sich die Entwicklung des Begriffs in sinnlicher Form zum Gegenstand macht. Zwei Aspekte werden nach Hegel in der künstlerischen Kommunikation verknüpft: Erstens wird geistiger Inhalt in einem konkreten sinnlichen Inhalt verbildlicht; zweitens wird eine gemeinschaftsstiftende Intersubjektivität hergestellt. Dadurch eröffnen sich in künstlerischen Darstellungen Möglichkeiten zur performativen Vermittlung von Begrifflichem oder Vorbegrifflichem, zur interkulturellen Verständigung und zur Überschreitung des Horizonts der sinnlich erfahrenen Welt. Senigaglia veranschaulicht schließlich Hegels eigene Anwendung der verbildlichenden Mittel für die Darstellung der Bewusstseinsentwicklung in der Phänomenologie des Geistes. Héctor Ferreiro thematisiert in seinem Beitrag den Erkenntnisprozess, der nach Hegel die Kunst zu einer Erkenntnisform des Absoluten macht und die Hierarchisierung und Periodisierung der Künste in der Ästhetik strukturiert. Den Ausgangspunkt bildet die Subjektivitätsauffassung des absoluten Idealismus, in deren Zusammenhang die epistemologischen Beziehungen zwischen Sinnlichkeit und Begriff bestimmt werden, ohne dabei in die Dichotomie von Rezeptivität und Spontaneität zu geraten. Ferreiro rekonstruiert daran anknüpfend den Übergang von der reproduktiven Einbildungskraft und der damit verbundenen Assoziation zur Phantasie, mit der über das Symbolische schließlich das Zeichen und die Bedeutungsvorstellung der Sprache entwickelt wird. Die Sprache wiederum stellt sich bei Hegel als das „bildsamste Material“ dar, weil sprachliche Bedeutungen reine Bestimmungen sind. Die Künste sind nach Hegel dadurch charakterisiert, dass sie den Begriff des Dargestellten auf mehr oder weniger bildliche Art ausdrücken; die Poesie aber kann als sprachliche Kunst den Begriff in seinem ideellen Dasein verbildlichen, weshalb sie von Hegel als „Endform“ der Kunst an die Spitze der Hierarchie der Künste gesetzt wird. Astrid Wagner erörtert in ihrem Beitrag die der ästhetischen Erfahrung zugrundeliegende vor-begriffliche Logik, wie sie in Kants Werk angelegt ist und von Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung ausgebaut wurde. Im Anschluss an Merleau-Pontys Kritik empiristischer und intellektualistischer Analysen der phänomenalen Wahrnehmungswelt rekonstruiert Wagner seine Argumentation für eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Wahrnehmung
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und Urteil. Dabei rücken u. a. der leibliche Weltbezug, die Zeitlichkeit und schließlich das Konzept der fungierenden Intentionalität in den Vordergrund. Letztere leistet als „Logos der ästhetischen Welt“ die Verbindung von Sinnlichkeit und Begriff in allen Bewusstseinsakten. Ausgehend von einer Verortung des Ereignisses in Kants Philosophie und am Beispiel von Prousts petite phrase musicale de Venteuil deutet David Espinet in seinem Beitrag das interesselose Wohlgefallen als vorintentionale Offenheit, in der die Erscheinung ästhetischer Ideen als realer Sinnereignisse möglich wird. Espinet zeigt, wie ästhetische Ideen nach Kant die Möglichkeit eröffnen, aus sinnlichen Konfigurationen eine unabsehbare Vielfalt neuer Vorstellungen hervorgehen zu lassen. Vorausgesetzt ist eine leibliche Vernunft, die von Kant zwar angedacht, mit Merleau-Pontys Phänomenologie aber genauer bestimmt werden kann: Merleau-Ponty bestimmt ästhetische Ideen als „umschriebene Abwesenheiten“, deren belebende Krafteinwirkung das Sinnliche organisiert und eine Art unsichtbare Anziehung auf die Vernunft ausüben. Zugleich muss sich aber der Sinn ästhetischer Ideen jedem erkenntnis- und handlungsorientierten Interesse entziehen, so dass die grundsätzliche Differenz zwischen Sinn und Sinnlichkeit auch im Ästhetischen bestehen bleibt, wodurch wir als leibliche Vernunftwesen zuletzt nicht dem Denken im Sinnlichen entkommen können (und umgekehrt). Michela Summa und Serena Feloj untersuchen beide das Verhältnis von Husserls Phänomenologie zu Kants Transzendentalphilosophie. Beide gehen zugleich von dem Aspekt der Regelmäßigkeit der Sinnlichkeit aus und untersuchen die hypothetischen Konsequenzen eines im Gegensatz dazu denkbaren Chaos. Bei Michela Summa steht Kants Erkenntnisphilosophie der Kritik der reinen Vernunft im Vordergrund und die Frage, wie die Ordnung im Sinnlichen als Synthesis erklärt werden kann. Sie gliedert die Frage in drei Unterfragen: 1. Ist eine solche Erklärung a priori möglich? Wenn ja: 2. Ist die Regelmäßigkeit auf subjektive Leistungen oder auf eine Selbststrukturierung des Objekts zurückzuführen? Sofern sie auf subjektive Leistungen zurückzuführen ist: 3. Sind es Leistungen der Sinnlichkeit oder kognitive (begriffliche) Leistungen – oder, in Husserls Terminologie: kommt die Ordnung „von unten“ oder „von oben“? In ihrer Interpretation geht Summa von der These aus, dass verschiedene Synthese-Leistungen mit verschiedenen Schichten der Regelmäßigkeit korrespondieren. Im Ergebnis zeigt sie, dass Kants und Husserls Ansätze nicht nur in dieselbe Richtung weisen, sondern sich an bestimmten Punkten sinnvoll ergänzen. Serena Feloj untersucht in ihrem Beitrag das Verhältnis des ästhetischen Urteils zur Erkenntnis vor dem Hintergrund von Husserls Unterscheidung einer Ordnung von unten oder von oben. Im Kontext der Kritik der Urteilskraft steht nicht die einheitliche Ordnung der empirischen Mannigfaltigkeit in Frage, sondern die
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Einheit der Erfahrung. Hier zeigt sich der Übergang zwischen Natur und Freiheit im Sinne einer Anwendung des Denkens auf die Erfahrung, wie insbesondere im Zusammenhang mit Kants Ausführungen zur ästhetischen Idee deutlich wird. Die Leitfrage der Untersuchung lautet daran anschließend: Was folgt aus der hypothetischen Annahme einer chaotischen Erfahrung für die Struktur der Erkenntnis? Feloj zeigt, dass die von Kant und Husserl jeweils unterschiedlich bewertete Chaoshypothese eine phänomenologische Lesart der kantischen Ästhetik begründen kann. Irene Breuer erörtert in ihrem Beitrag, inwiefern ein starker Sinn von „ästhetischem Wissen“ in Husserls Phänomenologie angelegt ist. Die hierfür benötigte „Rechtsquelle“ findet sich in Anschauungen, die – so die These – einen vorprädikativen sinnlichen Überschuss gegenüber der kategorialen Wahrnehmung enthalten und so in ein Fundierungsverhältnis treten. Erkenntnis ergibt sich dann aus einer Übereinstimmung von Anschauung und Bedeutungsintention, also von Gegebenem und Gemeintem. Aus Husserls Argumentation rekonstruiert Breuer ein ästhetisches Wissen, das in einer Einheit von epistemischer und doxischer Erkenntnisform (wie sie etwa als pístis und eikasía bei Platon vorkommen) besteht. Die Wissensform des ästhetischen Wissens zeigt sich im Ergebnis als wesentliche lebensweltliche Grundlage, die auch wissenschaftliches Wissen fundieren kann. In Anknüpfung an die Philosophie des Wissens, wie sie von Günter Abel entwickelt wurde, untersucht Michael Funk in seinem Beitrag Begrifflichkeit und Möglichkeiten sinnlichen Wissens im leiblich-materiellen Vollzug. Als methodischen Ausgangspunkt schlägt er einen Ansatz der „Hermeneutischen Epistemologie“ vor, der um ein komplexes heuristisches Perspektivenmodell erweitert wird. So verortet Funk sinnliches Wissen als spezifische Wissensform, die in einer amalgamierten Perspektivenkonstellation mit anderen Wissensformen (Sensomotorik, Emotionen, Propositionen und philosophischer Reflexion) vereint ist. „Ästhetisches Wissen“ im weiteren Sinne wird daran anknüpfend als Kompetenz zur Assoziation und zum Umgang mit epistemischen Perspektiven und Wissensformen bestimmt – kurz: als „synaisthetisches Wissen“. Als konkrete Anwendung dieses Modells untersucht Funk exemplarisch für Wissenschaften und Künste die Rolle ästhetischen Wissens in der biologischen Genetik und in der klassischen Musik. Thomas Dworschak diskutiert in seinem Beitrag neue Lösungsansätze zum „hegelschen Problem“ der Musik. Dieses Problem besteht darin, dass die Beziehung des musikalischen Klangs zur Innerlichkeit des Hörers in gewisser Hinsicht ihr wesentliches Merkmal ist, wodurch aber zugleich ein ebenso berechtigter geistiger Zugang, der in einem „gelehrten“ oder denkenden Hören bestünde, prinzipiell ausgeschlossen zu sein scheint. Man könnte darin so etwas wie eine Paradoxie ästhetischen Wissens sehen, da die Frage nach einer angemessenen
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Erfahrungshaltung im Bezug auf Musik offenbar zu Widersprüchen führt. Zwar finden sich schon bei Hegel Lösungsansätze für dieses Problem – etwa ein Zusammenfallen von geistiger und materieller Produktion im musizierenden Vollzug und hörendem Mitvollzug –, die aber hinter Hegels Resultate seiner Ästhetik zurückbleiben, zumal die Musik dort eine nur unvollkommene und von anderen Künsten abhängige Kunst ist. Dworschak verfolgt daher Plessners hermeneutische Position sowie neuere musikphilosophische Ansätze, die gerade in der inhaltlichen Offenheit von Musik die Möglichkeit einer Einheit von Empfinden und Verstehen sehen. Von demselben Problem ausgehend und in Analogie zu Hegels Kritik der Mathematik bestimmt Fabio Mascarenhas Nolasco in seinem Beitrag die Entwicklung der Musik in einer historischen Situation, in der die Bedingungen der Sinnhaftigkeit, wie Hegel sie als geistigen Maßstab an die Künste angelegt hat, nicht mehr gelten. Technische Reproduzierbarkeit und die Verabschiedung aller Sinnhaftigkeit in den industrialisierten Gesellschaften haben die Musik vom Anspruch auf einen geistigen Zugang befreit – ein Prozess, der zugleich ein (geschichtlich) nach-begriffliches ästhetisches Wissen ermöglicht, das nicht mehr auf die Bedingungen des Begriffs eingeschränkt wird. Nolasco zieht mit seinem Beitrag radikale Konsequenzen aus der nicht zuletzt von Hegel besonders hervorgehobenen Geschichtlichkeit der Künste, die notwendig auch zu einem Umsturz des hegelschen Systems der Künste führen muss. Zumindest für die Musik fällt das Resultat gegenüber Hegels Diktum daher positiver aus. Die Sinnlichkeit als subjektive Bedingung für Religion in ihrer Gestalt als Volksreligion (in Abgrenzung etwa von der Theologie) wird im Beitrag von Damián Jorge Rosanovich im Anschluss an den jungen Hegel untersucht. Dabei geht es natürlich weniger um Wissen, sondern vielmehr um Glauben – hier aber besonders in seiner Eigenschaft als „Modus des Fürwahrhaltens“ sittlicher Gesetze, der durch die Sinnlichkeit eine feste Grundlage im Subjekt findet. Die damit verbundenen vermeintlichen Gegensätze zwischen Sinnlichkeit und Verstand sind hier aufzulösen; auf dieses Problem bezogen zeigt Rosanovich, wie die Sinnlichkeit bei Hegel als „irrationale“ Grundlage der Volksreligion in einem komplementären Verhältnis zum Verstand (und insofern zur aufklärerischen Verstandesphilosophie) steht. Andreas Jacke unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, mit Derrida die sinnliche Berührung gegenüber dem Begrifflichen zu rehabilitieren. Anknüpfungspunkt ist eine Kritik an Hegels Ausschluss der sinnlichen Gewissheit. So wird die Rolle des Begriffs bei Hegel von Derrida als Transzendierung kritisiert und auf die fehlende Anerkennung der Berührung als unmittelbare Erkenntnisform verwiesen.Was die Berührung erkennt, ist demnach die Existenz selbst – ästhetisches Wissen wird im Sinne Derridas also als begriffslose, rein körperlich-sinnliche
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Zugangsweise bestimmt. Dieser Zugang eröffnet die Möglichkeit, den Körper anders zu denken: nicht als Ausgangspunkt einer Aufhebung ins Geistige, wie er nicht nur von Hegel, sondern auch etwa in der katholischen Tradition der Eucharistie gedacht wird, sondern im Sinne von Nietzsches a priori des Leibes. So kann mit der Berührung die Ausdehnung oder Verräumlichung des Körpers als solche gefühlt werden. Cem Kömürcü widmet sich in seinem Beitrag dem Phänomen des Verschwindens. Er entwickelt seine Argumentation ausgehend von der gegebenen Ordnung der Welt, die von uns aufgefunden wird und die wir in einer existenziellen Benennung als Abbildung verfügbar machen. In dieser sinn-, wert- und realitätsbildenden Benennung ist die abzubildende Ordnung der Welt selbst nicht mehr vorhanden; auch kann der Beobachter sich selbst darin nicht vollständig abbilden. Der Abbildungsprozess vernichtet in diesem Sinne also sein Urbild und den abbildenden Beobachter. Das, was in der Theoriebildung eigentlich festgehalten werden soll, verschwindet daher in ihr unaufhörlich. Dieser Vorgang der zunehmenden Indifferenzierung kulminiert im Hinblick auf seine kulturelle, technische und gesellschaftliche Bedeutung schließlich in einer Ästhetik des Verschwindens, der eine (Anti‐)Theorie des Nichtwissens zugrunde liegt. Das Verhältnis der Ästhetik zur Wahrnehmungsphilosophie steht im Mittelpunkt von Teresa Pedros Beitrag. In einer Rekonstruktion der Positionen von Bence Nanay und Hugo Münsterberg ermittelt sie zwei Modelle der Beziehung von Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie: In Nanays Modell kann die Wahrnehmungsphilosophie eine Leitfunktion gegenüber der Ästhetik übernehmen, wie Nanay es vorschlägt. Dieses Modell beruht auf der Annahme, dass die Ästhetik eine spezifische Art der Erfahrung thematisiert, während die Wahrnehmungsphilosophie Erfahrung im Allgemeinen untersucht. Es besteht in diesem Modell eine gewisse Abhängigkeit der Ästhetik vom begrifflichen und methodischen Instrumentarium der Wahrnehmungsphilosophie. In Münsterbergs Schriften zur Psychologie und Ästhetik des Films findet sich Pedro zufolge dagegen ein alternatives Modell, in dem beide Disziplinen in ein komplementäres Verhältnis zueinander gestellt werden.Wahrnehmungsphilosophie und Ästhetik stellen jeweils verschiedene Fragen und ergänzen sich so wechselseitig. Pedro argumentiert dafür, dass das letztere Modell gewisse Vorzüge aufweist. Peter Remmers entwirft in seinem Beitrag eine allgemeine Konzeption ästhetischen Wissens in Anknüpfung an Ergebnisse aus Kants Kritik der Urteilskraft und an Nelson Goodmans Symboltheorie aus Languages of Art. Am Leitfaden von Bestimmungen des Ästhetischen und des Wissens schlägt Remmers verschiedene Bedingungen für ästhetisches Wissen vor, die sowohl den besonderen Status der Sinnlichkeit gegenüber dem Begrifflichen wie auch den Allgemeinheitsanspruch und die Korrigierbarkeit von Wissen reflektieren. Ästhetisches Wissen wird so als
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eine besondere Art von Erfahrung bestimmt, die über einen sinnlich strukturierten Lernprozess begrifflich unbestimmte Eigenschaften präsentiert und hervorhebt. Der Prozess der sinnlichen Erfassung dieser Eigenschaften kann daraufhin zu einer Art Begriffsbildung führen; diese Beziehung zum Begrifflichen und die Struktur des sinnlichen Auffassungsprozesses bilden die Motivation für die Anwendung des Wissensbegriffs im ästhetischen Kontext. Der Sammelband ist auf der Grundlage von Vorträgen entstanden, die auf der XI. Netzwerktagung Transzendentalphilosophie/Deutscher Idealismus im Februar 2013 an der TU Berlin gehalten wurden. Die internationale Tagung wurde vom Innovationszentrum Wissensforschung (IZW)¹ und vom Internationalen Forschungsnetzwerk Transzendentalphilosophie/Deutscher Idealismus ² veranstaltet. Die Herausgeber danken allen Teilnehmern der Tagung, Prof. Dr. Günter Abel und dem IZW für vielfältige Unterstützung, Hadi Faizi, Can Atli, Eva Schneider und Kurda Nejad für ihre Mitarbeit bei der Einrichtung des Bandes, sowie Elisabeth Simon und Martin Klaus Günther für ihren unverzichtbaren Beistand.
Siehe www.wissensforschung.tu-berlin.de. Siehe www.a-priori.eu.
1. Teil Grundlagen: Baumgarten, Kant und Hegel
Ulrich Seeberg
Schönheit und Wahrheit Zum Problem sinnlicher Erkenntnis bei Kant Sinnliche Erkenntnis bei Kant: dieses Thema scheint auf den ersten Blick ins Leere zu zielen. Das menschliche Erkennen erwächst nämlich, so umschreibt es Kants Analyse, aus zwei Stämmen, der Sinnlichkeit auf der einen Seite und dem Verstand auf der anderen Seite, dem Vermögen der Anschauungen also und dem Vermögen der Begriffe, oder, noch einmal anders gewendet, aus der Rezeptivität und der Spontaneität der Erkenntnis. Eine rein sinnliche oder anschauliche Erkenntnis, die als solche bloß rezeptiv wäre, gibt es demnach so wenig wie eine rein verstandesmäßige oder begriffliche Erkenntnis, die als solche bloß spontan wäre. Wenn im Folgenden gleichwohl das Thema einer spezifisch sinnlichen Erkenntnisart in Bezug auf Kant behandelt wird, dann gewiss nicht in der Absicht, Kants grundsätzliche Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand zu ignorieren. Der Begriff der sinnlichen Erkenntnis bezieht sich vielmehr auf ein Lehrstück der rationalistischen Schulphilosophie der leibniz-wolffschen Tradition, das von Alexander Gottlieb Baumgarten unter dem Obertitel der Ästhetik verhandelt und bekannt gemacht worden ist. Sinnliche Erkenntnis findet demnach einerseits im Bereich der verworrenen Vorstellungen oder Repräsentationen statt, die dem Bereich der deutlichen Erkenntnisse des Verstandes zwar vor-, nicht aber untergeordnet sind, ihr Kriterium ist die Schönheit. Baumgarten konzipiert andererseits aber die Ästhetik, als Kunstlehre eines der Vernunft analogen Denkens, so, dass sie unter dem Titel einer ästhetiko-logischen Wahrheit auf eine Verbindung von sinnlich-anschaulicher Schönheit und begrifflich-logischer Wahrheit zielt. Dieses Lehrstück Baumgartens findet sich aber, wenn auch in modifizierter Form, auch bei Kant wieder, nämlich im Zusammenhang mit dem sensus communis, dem Gemeinsinn, der nach Kant sowohl dem Geltungsanspruch von Erkenntnisurteilen wie auch dem Geltungsanspruch von ästhetischen Urteilen zugrunde liegt. Kant spricht zwar in diesem Zusammenhang, anders als Baumgarten, nicht von Erkenntnis, setzt diese doch im Rahmen seiner Analyse eine Bestimmung von Anschauungen durch Begriffe voraus, während es sich beim ästhetischen Urteil, um dessen Beziehung zur begrifflichen Erkenntnis es geht, um ein subjektives Gefühl handelt. Ebenso wenig arbeitet Kant eine systematische Theorie des Gemeinsinns aus, die in Baumgartens Sinne Schönheit und Wahrheit in Gestalt einer eigenen ästhetischen Lehre verschwistern würde. Gleichwohl verbindet der sensus communis die bei Kant wie bei Baumgarten sachlich voneinander zu unterscheidenden Bereiche des Schönen und des Wahren in einer Weise, die Nachfragen bezüglich
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Ulrich Seeberg
der Möglichkeit einer solchen Verbindung auf sich zieht. Diese Nachfragen nach einer spezifisch sinnlichen Erkenntnisart bei Kant betreffen also nicht das Erkenntnisurteil im engeren Sinne, in dem Sinnlichkeit und Verstand aufeinander bezogen werden. Stattdessen wird nach dem Zusammenhang zwischen dem begrifflichen Erkennen und dem Gefühl des Schönen gefragt, für den Kant in einer klärungsbedürftigen Weise auf den sensus communis verweist, der als Sinn für das allen Gemeinsame sowohl dem Erkennen wie auch dem Gefühl des Schönen zugehört. Um diesen auch im Rahmen von Kants Analyse schwierigen Zusammenhang zumindest ein Stück weit zu erhellen,werden im Folgenden zunächst die Umrisse jenes Problems skizziert, das den Anlass für das Projekt der Ästhetik bei Baumgarten, nicht minder aber auch für Kants eigene Philosophie bildet, nämlich die Frage, wie sich die abstrakt formulierten Hypothesen der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis der Natur im Zusammenhang mit der sinnlich-konkret erfahrenen Lebenswirklichkeit des Menschen verstehen, der die Natur zu erkennen versucht. Im Anschluss an diese Skizze wird dann Kants Reaktion auf dieses Problem wie auch auf Baumgartens Antwort rekonstruiert. Sinnliche Erkenntnis, so soll gezeigt werden, spielt zwar nicht dem Namen, wohl aber der Sache nach, nämlich in dem von Baumgarten intendierten Sinn einer ästhetischen Vermittlung zwischen dem sinnlichen Gefühl einer Welt und ihrer begrifflichen Erkenntnis, auch bei Kant eine wichtige Rolle. Schönheit und Wahrheit sind voneinander zu unterscheiden, sie bilden aber keine isolierten Bereiche des menschlichen Weltbezugs.
1. Das Projekt der Ästhetik und die moderne Erfahrungswissenschaft Die philosophische Disziplin der Ästhetik scheint auf den ersten Blick nur wenig mit den modernen Naturwissenschaften gemeinsam zu haben. Die mathematischen Naturwissenschaften der Neuzeit bedienen sich nämlich als Erfahrungswissenschaften des Verfahrens des wissenschaftlichen Experiments. Experimente dienen aber der Überprüfung von Hypothesen, die mathematisch formulierte gesetzmäßige Zusammenhänge in der erfahrbaren Wirklichkeit beschreiben. Dies geschieht im Regelfall mit der Hilfe von Messinstrumenten, die exakte, quantitativ darstellbare und reproduzierbare Messergebnisse ermöglichen, und zwar bezüglich der kontrollierten experimentellen Veränderung der relevanten Parameter der zuvor mathematisch formulierten gesetzmäßigen Zusammenhänge. Ästhetische Phänomene im Bereich des Naturschönen wie auch im Bereich der Künste scheinen sich hingegen einer entsprechenden Beschreibung ihrer Gesetzmäßig-
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keiten zu entziehen. Sie bieten keinen Ansatzpunkt für eine kontrollierte experimentelle Veränderung und Messung der Parameter eines durch mathematische Funktionen zu beschreibenden gesetzmäßigen Zusammenhangs. Üblicherweise macht daher die Ästhetik keinen Gebrauch vom methodischen Verfahren des Experiments in dem Sinne, wie Kant unter Berufung auf Francis Bacon die neuzeitliche Erfahrungswissenschaft charakterisierte, nämlich die Natur richterlich zu nötigen, als Zeuge auf die eigenen Fragen Antwort zu geben.¹ Ästhetische Phänomene, so ließe sich dieser Vergleich umwenden, stellen gerade keine abgenötigten Antworten der Natur auf methodisch kontrolliert gestellte Fragen des Menschen dar, sondern sind eher als ungezwungene und spontane Weisen einer Selbsterfahrung des Menschen im Verhältnis zur Natur und zu anderen Menschen zu verstehen. Der Unterschied zwischen dem Bereich der erfahrungswissenschaftlich zugänglichen Natur einerseits und dem Bereich der ästhetischen Phänomene in Natur und Kunst andererseits betrifft also sowohl das Verfahren einer richterlich nötigenden Inquisition der erfahrbaren Wirklichkeit durch das erkennende Subjekt wie auch die Möglichkeit des kontrollierten Gebrauchs exakter Messverfahren im Bezug auf mathematisch formulierte Hypothesen über die Natur. Gleichwohl stellen in der Neuzeit der Fortschritt der methodisch-kontrollierten wissenschaftlichen Forschung wie auch die Evidenz ihrer technologischen Umsetzung eine Herausforderung auch für das Selbstverständnis der Künste dar. Dies gilt umso mehr, als die Abgrenzung künstlerischer Tätigkeiten zu denen der experimentell verfahrenden Wissenschaften durch die genannten Punkte keineswegs schon erschöpfend beschrieben ist. Im Gegenteil: auch Experimente müssen erst einmal erfunden werden und ihre oft unvorhersehbaren Ergebnisse erfordern komplexe Interpretationen, die wiederum auf die leitenden Theoriemodelle selbst zurückwirken.² Die wissenschaftliche Praxis ist also weder unkreativ zu nennen noch frei von Zufällen, so wie auch umgekehrt die künstlerische Praxis weder bloß zufallsgesteuert noch unkontrolliert erfolgt. Sieht man daher einmal genauer auch auf die geschichtliche Entstehung der Ästhetik als einer eigenen philosophischen Disziplin, so ergibt sich der Befund, dass diese Entstehung erstaunlich eng mit der Erfolgsgeschichte der experimentellen Naturwissenschaften der Neuzeit zusam-
„Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“ (KrV B XIII). Vgl. Rheinberger 2006.
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menhängt. Dabei geht es nicht, wie man zunächst vermuten möchte, um ein bloß negatives Abgrenzungsverhältnis, so nämlich als ob die subjektiv erfahrenen ästhetischen Phänomene als solche erst im Gegenzug gegen die Etablierung der objektiven Erfahrungswissenschaften als autonomer Bereich auffällig geworden wären. Es geht vielmehr um eine auf das Phänomen der subjektiven sinnlichen Wahrnehmung in der wissenschaftlichen Praxis selbst zielende Analyse.³ Alexander Gottlieb Baumgarten, der Begründer der neuzeitlichen Disziplin der Ästhetik, kritisiert nicht einfach nur die von einem ästhetischen Standpunkt aus gesehen oftmals lebensfern erscheinende Abstraktion logischer oder mathematischer Analysen, sondern bestimmt die Aufgabe der Ästhetik dahingehend, als Kunstlehre eines der Vernunft analogen Denkens sowohl das sinnliche Material für die wissenschaftliche Analyse zu liefern wie auch deren Resultate fasslich darstellbar zu machen.⁴ Im Interesse einer umfassenden Repräsentation der Welt, so Baumgarten, müssen die Schönheit, als Kennzeichen der sinnlichen Erkenntnis, und die Wahrheit, als Kennzeichen der logischen Erkenntnis, miteinander zu einer ästhetiko-logischen Wahrheit vereint werden, deren Kriterien nicht alleine durch begriffliche Klarheit und Deutlichkeit sondern auch durch Reichtum, Bedeutsamkeit und Fülle bestimmt werden.⁵ Eine gehaltreiche Repräsentation der Welt kann nämlich, so Baumgartens durch Leibniz beeinflusste Überlegung, nicht alleine durch die logische bzw. formale Konsistenz einer notwendigerweise abstrakten Theorie erreicht werden, diese bleibt vielmehr stets auf die sinnliche Wahrnehmung von Einzelnem angewiesen, die ihrerseits immer Züge von Dunkelheit und Verworrenheit in sich trägt. Die Aufgabe der Ästhetik besteht nach Baumgarten daher darin, eine vermittelnde Stellung in jenem Kontinuum der menschlichen Repräsentationen der Welt einzunehmen, das von den verworrenen Vorstellungen im Bereich der Sinnlichkeit – nämlich jenen Vorstellungen, die zwar voneinander unterschieden und die auch wiedererkannt, deren unterscheidende Merkmale aber nicht eigens angegeben werden können – bis hin zu den deutlichen Vorstellungen im Bereich der logischen Analyse reicht – nämlich jenen unterscheidbaren und wiedererkennbaren Vorstellungen, deren Unterschied auf bestimmte Merkmale zurückgeführt werden kann.⁶ Nun scheint allerdings die Stärke des wissenschaftlichen Experiments gerade darin zu bestehen, dass sie das Material der wissenschaftlichen Analyse von der bloß subjektiven sinnlichen Wahrnehmung befreit, nämlich in Form der
Vgl. Schwarte 2008. Vgl. Baumgarten 2007, §3, 13. Vgl. Baumgarten 2007, § 424 (403 ff.), § 427 (407), § 440 (417 ff.). Vgl. Seeberg 2006a.
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durch Messinstrumente gewonnenen exakten Messdaten. Die subjektive sinnliche Wahrnehmung kommt also, wie es scheint, hierbei nur noch indirekt ins Spiel, nämlich vor allem beim praktischen Ausführen der Experimente durch die experimentierenden Subjekte. Dieser Umstand erübrigt jedoch keineswegs Baumgartens Fragestellung, sondern führt vielmehr zu ihr zurück. Die Frage ist nämlich, was eigentlich im erfahrungswissenschaftlichen Experiment mit Hilfe mathematischer Formeln und mit Hilfe von Messinstrumenten erkannt oder bestimmt wird, sofern der Bezugsgegenstand der wissenschaftlichen Theorie als solcher, die objektiv messbare Wirklichkeit, im Verhältnis zu jener subjektiv wahrgenommenen Welt thematisiert wird, in und aus der sich der erkennende und handelnde Mensch als solcher begreift. Vor allem die auf Husserl und Heidegger zurückgehende phänomenologische Tradition des 20. Jh. hat herausgestellt, dass die Lebenswelt des Menschen als solche keinesfalls als Ergebnis experimenteller Befunde und deren wissenschaftlicher Interpretationen verstanden werden kann, sondern vielmehr eine irreduzible vortheoretische Voraussetzung für das in ihr selbst, als Welt, stattfindende Experimentieren und Interpretieren des Menschen darstellt. Damit kommt aber wiederum die Frage Baumgartens ins Spiel, die sich trotz aller Skepsis gegenüber dem chimärisch erscheinenden Begriff einer ästhetiko-logischen Wahrheit wie auch gegenüber der Realisierbarkeit des Programms einer Kunstlehre des der Vernunft analogen Denkens seither durch die Geschichte der modernen Philosophie zieht: wie lässt sich die abstrakte, mathematisch formulierte objektive Erkenntnis der erfahrbaren Wirklichkeit mit jener sinnlich wahrgenommenen Welt vereinbaren, aus der heraus sich das wahrnehmende und erkennende Subjekt selbst als Teil der Wirklichkeit begreift, die es zu verstehen sucht? Was also hat ein naturgesetzlich formulierter Zusammenhang, seinem eigenen Realitätssinn nach, mit der Lebenswirklichkeit des Menschen zu tun, deren selbstreflexive Praxis, einschließlich der menschlichen Theoriebildung über die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit, er als solche gerade nicht beschreibt? In diesem Zusammenhang stellt nun die philosophische Ästhetik weitaus mehr dar als eine bloß auf die Künste oder das Phänomen der Schönheit fokussierte Analyse, sie zielt vielmehr auf eine umfassend ansetzende Theorie des Verstehens überhaupt – die sich hierbei allerdings auffällig häufig, wie schon bei Baumgarten, gerade auf ästhetische Phänomene im engeren Sinne bezieht. Zu erinnern ist hier nicht nur an die Bedeutung der Ästhetik im Rahmen der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel, sondern auch an das auf Schleiermacher zurückgehende Programm einer Universalhermeneutik, das wiederum, unter anderem im Zusammenspiel mit Husserls phänomenologischer
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Kritik des mathematischen Erkenntnisideals der neuzeitlichen Naturwissenschaften,⁷ Pate für die moderne Existenzphilosophie und Hermeneutik stand. Zur Disziplin der Ästhetik in diesem weiteren Sinne gehört also nicht einfach die Beschäftigung mit dem Schönen und der Kunst lediglich um ihrer selbst willen, als einem vermeintlich isolierten, zumindest aber autonomen Bereich der menschlichen Lebenswirklichkeit, sondern im Zusammenspiel mit der Hermeneutik geht es in ihr um ein Fragen, das die Beziehung verschiedener Bereiche des menschlichen Verstehens und Handelns aufeinander thematisiert und dabei bereit ist, dem Gedanken einer spezifisch sinnlichen Erkenntnis, wie Baumgarten sie genannt hat, breiten Raum zu geben. Zu vermeiden ist im Rahmen einer so konzipierten Disziplin, die verschiedenen Bereiche des Lebens auf das lediglich mathematisch Erfassbare zu reduzieren, ebenso aber ist es zu vermeiden, diese verschiedenen Bereiche so verführerisch simplifizierend gegeneinander auszuspielen, wie es Mephistopheles in Goethes Faust dem Schüler vorspricht: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“.⁸ Es ist also zwar verständlich, dass und warum die Ästhetik keine experimentelle Erfahrungswissenschaft darstellt; die ästhetische Erfahrung als solche hängt aber doch enger mit dem Problem der Erfahrungswissenschaften zusammen, als es zunächst den Anschein haben mag. Den gewiss klärungsbedürftigen Titel einer sinnlichen Erkenntnis auch im Blick auf Kant beizubehalten, lässt sich also zunächst dadurch rechtfertigen, dass zumindest zu fragen ist, ob nicht der ästhetische Sinn einen umfassenden Blick auf die Welt und das menschliche Leben in seiner Vielgestaltigkeit freigibt, auch ohne dass dies schon als eine fundierende Erkenntnis für alle Lebensbereiche verstanden werden müsste. Im Folgenden soll daher nun näher erkundet werden, was Kant für das Verständnis dieses komplexen Zusammenhangs beizutragen hat. Kant vertritt nämlich die eingangs erwähnte These, dass diejenige Leistung der reflektierenden Urteilskraft, die der ästhetischen Erfahrung zugrunde liegt, auch für jede objektive Erfahrungserkenntnis vorauszusetzen ist, nämlich als Gemeinsinn bzw. sensus communis. Weil dies der Fall ist, so Kant, lässt sich der Anspruch ästhetischer Urteile über das Schöne auf eine intersubjektive Verbindlichkeit rechtfertigen. Dies bedeutet aber umgekehrt auch, wie im folgenden verdeutlicht werden soll, dass sich die objektive Erfahrungserkenntnis ohne ein im weiteren Sinne ästhetisch zu nennendes Gefühl, eben den sensus communis, ihrerseits nicht zureichend verstehen lässt. Ohne das Gefühl (den Sinn) eines situationsbezogenen Stimmens oder Passens der konkreten Urteile fehlte dem
Vgl. Husserl 1962. Goethe 1976, 66 (= Faust. Erster Teil, Studierzimmer).
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objektiven Erkennen eine entscheidende Dimension – nämlich gerade dasjenige, was nach Mephistopheles’ Diktum die Theorie als grau und lebensfern erscheinen lässt und was in der Rationalitätskritik der Moderne als blinder Kontrollzwang und bloße Betriebsamkeit von Wissenschaften, Technik und Ökonomie gegeißelt wird.
2. Sinnlichkeit und Verstand Wie eingangs bereits angedeutet, beruht Kant zufolge das menschliche Erkennen auf zwei Stämmen, der Sinnlichkeit und dem Verstand (vgl. KrV A 15). Diese These gewinnt ihren Sinn zunächst aus einer näheren Bestimmung dessen, was unter Erkenntnis zu verstehen ist. Mit Ausnahme der formalen Logik bezieht sich nämlich jede Erkenntnis, so Kant, zuletzt auf einen Gegenstand. Dieser Gegenstand der Erkenntnis muss aber als das zu Erkennende für den Erkennenden in gewisser Weise als schon gegeben verstanden werden. Anders gesagt, dasjenige, was als zu erkennender Sachverhalt in der Wirklichkeit dem Erkennenden im durchaus wörtlichen Sinne eines Gegen-Standes gegenüber oder entgegen steht, verdankt sein Dasein nicht etwa dem Umstand, dass es erkannt wird. Mit Ausnahme der mathematischen Erkenntnis, die, wie im Falle geometrischer Figuren, auf einer erfahrungsunabhängigen Konstruktion ihrer Erkenntnisgegenstände beruht, bringt das Erkennen also seine Gegenstände nicht selbst hervor, sondern ist auf sie als sinnliche Gegebenheiten angewiesen. Gleichwohl und andererseits besteht das zu Erkennende auch nicht gänzlich unabhängig vom Erkenntnisprozess. Das zu Erkennende als solches wird vielmehr grundsätzlich als einzelner Sachverhalt oder Gegenstand gedacht, der durch allgemeine Regeln oder Begriffe als Fall dieser Regeln bestimmt und erkannt werden kann. Der Zusammenhang beider Momente der Erkenntnis, die sinnlich-anschauliche Gegebenheit einzelner Gegenstände oder Sachverhalte und der Gedanke ihrer begrifflich-allgemeinen Bestimmbarkeit, findet sich nun zum einen in Kants Lehre von den Kategorien und deren sinnlichen Anwendungsbedingungen ausgearbeitet. Das Ergebnis dieser Untersuchungen, die auf die notwendigen Bedingungen des Erkennens überhaupt zielen, lautet, dass nur jene Gegenstände auch erkennbar sind, die als einzelne Gegenstände unter anderen in Raum und Zeit sinnlich wahrgenommen werden können. Diejenigen Gegenstände hingegen, die so gedacht werden, dass sie den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung überschreiten, also zum Beispiel das unbedingte Ganze der wahrnehmbaren Wirklichkeit, aber auch das Bewusstsein, das der Erkennende von sich selbst hat, können nicht erkannt sondern lediglich gedacht werden. Eine übersinnliche, rein begriffliche Erkenntnis eines unbedingten Ganzen der Wirklichkeit ist damit grundsätzlich ausgeschlossen, eine rein sinn-
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liche Erkenntnis der Wirklichkeit, ohne begriffliche Momente, gibt es aber ebensowenig.⁹ Die wohl wichtigste Konsequenz von Kants Lehre der beiden Stämme der Erkenntnis besteht daher darin, dass das menschliche Erkennen begrenzt ist: Dasjenige, was dem Menschen als das zu Erkennende in der wahrnehmbaren Wirklichkeit entgegen steht, was also den Bereich der möglichen Erfahrung, nämlich die Natur, ausmacht, ist Teil eines Bedingungszusammenhangs, der über sich hinaus auf den Gedanken eines unbedingten Ganzen verweist, das aber selbst kein erkennbarer Gegenstand unter anderen ist. Zugleich ist dieser Bedingungszusammenhang nur in Bezug auf den Erkenntnisprozess und damit auf den Gedanken eines Subjekts der Erkenntnis zu verstehen, das seinerseits ebenfalls kein wahrnehmbarer und erkennbarer Gegenstand unter anderen ist. Diese Analyse gewinnt wiederum eine ganz handfeste Bedeutung, wenn sie auf die Situation der modernen Erfahrungswissenschaften bezogen wird. Denn ganz offensichtlich kommt hier ein erfahrungsunabhängiger Vorbegriff der erfahrbaren Wirklichkeit ins Spiel, nämlich der Gedanke der objektiv erkennbaren Wirklichkeit, die als solche mathematisch beschrieben und experimentell erforscht werden kann, und ganz offensichtlich erfordert dies, dass ein erkennendes Subjekt die Natur nötigt, auf seine Fragen zu antworten. Eben diese Voraussetzung stellt aber keinen Gegenstand der Erfahrung oder der Erfahrungswissenschaft selbst dar: die Erfahrung der Wirklichkeit, im Sinne ihrer richterlichen Inquisition, kann als solche nicht selbst erfahren werden. Kants Analyse der prinzipiellen Begrenztheit des erfahrungswissenschaftlichen Erkennens erklärt nun auch seine Kritik an der leibniz-wolffischen Schulphilosophie: der Bereich der objektiv erkennbaren Wirklichkeit, nämlich die erfahrbare Natur, ist vom Gedanken eines Ganzen der Wirklichkeit, die als solche auch das erkennende Subjekt einschließt, zu unterscheiden. Diese Kritik richtet sich nicht gegen den Sinn und die Bedeutung der Metaphysik bzw. gegen den Gedanken eines Ganzen der Wirklichkeit überhaupt, sie dringt jedoch auf eine Korrektur in der Art und Weise, wie solche metaphysische Gedanken darzustellen sind und wie ihre Bedeutung zu verstehen ist. Eine erste Konsequenz dieser Differenzierung besteht darin, dass die verschiedenen Erkenntnisweisen des Menschen nicht anhand des bloß logischen Kriteriums der Deutlichkeit oder Verworrenheit von Repräsentationen bestimmt werden können, sondern dass sie auf den epistemologischen Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand, also die Fähigkeit, Einzelnes wahrzunehmen und Allgemeines denken zu können, bezogen werden müssen (vgl. AA VII, 196 u. AA IX, 11). Aus diesem Grunde verwendet auch
Vgl. Seeberg 2006b.
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Kant nicht den Begriff der sinnlichen Erkenntnis. Bei Baumgarten geht es hingegen, wie in der rationalistischen Schulphilosophie überhaupt, um eine möglichst vollkommene Erkenntnis bzw. Repräsentation der Wirklichkeit, und zwar im metaphysischen Sinne der Erkenntnis eines Ganzen der Wirklichkeit. Die abstrakte Verstandeserkenntnis, wie sie exemplarisch in den Formeln der newtonschen Physik vorgeführt wird, kann in diesem Sinne nicht zu einer vollständigen Repräsentation der Welt führen, weil zur Welt im umfänglichen Sinne insbesondere auch der große Bereich dessen gehört, was vom Menschen mit seinen Sinnesorganen nur in verworrener Weise oder auch gar nicht mehr distinkt wahrgenommen werden kann. Die Abstraktheit der Verstandeserkenntnis setzt zudem als solche voraus, dass es einen Bereich gibt, nämlich den Bereich der verworrenen Wahrnehmungen der Sinnlichkeit, von dem abstrahiert wird. Ohne diesen Bereich, ohne die Sinnlichkeit, gäbe es also, so Baumgartens bereits angeführtes Argument, für die abstrakte Verstandeserkenntnis nichts zu erkennen. Beide Bereiche der Wirklichkeit, der Bereich, der vom Menschen nur in verworrener Weise repräsentiert wird, und der Bereich, der in deutlicher Weise repräsentiert wird, müssen daher miteinander vermittelt werden, nämlich als sowohl klare und deutliche wie auch als reichhaltige Erkenntnis – und dies stellt eine eigene Kunst dar bzw. erfordert eine eigene Kunstlehre, eben die Ästhetik, die Schönheit und Wahrheit miteinander zu vermitteln hat. Diese Argumentation ist nun zwar verständlich, sie greift aber allem Anschein nach nicht unmittelbar, was die modernen Erfahrungswissenschaften in ihrem eigenen Erkenntnisfortschritt betrifft. Es fragt sich zwar in der Tat, in welchem Verhältnis etwa die physikalische Theorie zur Lebenswirklichkeit des Menschen steht, aus der heraus sie entwickelt wird. Die physikalische Theoriebildung als solche berührt diese Frage aber, wie sich beispielsweise an der gänzlichen Unanschaulichkeit der Quantentheorie oder der physikalischen Kosmologie unserer Tage zeigt, nicht direkt. Kants Ansatz trägt diesem Problem insofern Rechnung, als der Erkenntnissinn der mathematischen Naturwissenschaften auf den Bereich der objektiv erfahrbaren Wirklichkeit begrenzt wird. Es geht hier also nicht um eine im metaphysischen Sinne vollständige Erkenntnis der Wirklichkeit. Und die Abstraktheit der mathematischen Naturwissenschaften erfordert für sich genommen ebenfalls nicht, diese anschaulich fasslich machen zu müssen bzw. sie mit dem Bereich einer anschaulichen Lebenswirklichkeit zu vermitteln. Gleichwohl ist das Problem Baumgartens damit auch in Kants Analyse nicht vom Tisch. Im Interesse einer umfassenden Selbstverständigung des Menschen, der als frei handelndes und verantwortliches Wesen nach einem unbedingten Zweck oder Sinn seines Daseins in der Welt fragt, muss nämlich, wie auch Kant meint, am Gedanken der Einheit der Wirklichkeit festgehalten werden. Es reicht also nicht, etwa die Physik in ihrer Abstraktheit einfach auf sich beruhen zu lassen und sich als Philosoph
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stattdessen auf die Fragen der praktischen Philosophie zu konzentrieren. Es muss vielmehr geklärt werden, wie der Bereich der objektiv erfahrbaren Wirklichkeit, der als solcher mit Hilfe abstrakter, mathematischer Formeln beschrieben wird, und die konkrete, sinnlich erfahrbare Handlungswelt, aus der heraus auch die physikalischen Theorien entwickelt werden, im Leben des Menschen miteinander zusammenhängen. In diesem metaphysischen Fragezusammenhang einer Selbstverständigung des Menschen über sein Leben in der Welt gewinnt nun Kants Analyse der Urteilskraft ihre grundlegende Bedeutung. Dasjenige nämlich, was alle Bereiche des menschlichen Lebens verbindet, von der Wahrnehmung und theoriegeleiteten Erkenntnis über die Sphäre des verantwortlichen bzw. moralischen Handelns bis hin zur ästhetischen Erfahrung des Schönen in Natur und Kunst, ist das Bewusstsein, hier in je verschiedener Weise zu urteilen. Eine der Grundvoraussetzungen des Urteilens besteht aber darin, dass Urteil und Urteilsgegenstand auch zusammenstimmen können. Und diese Voraussetzung verweist nach Kant unabdingbar, wie im Folgenden näher erläutert wird, auf den metaphysischen Gedanken eines intelligiblen Weltgrundes, der eben dieses Zusammenstimmen ermöglicht und der es zugleich erlaubt, die verschiedenen Bereiche der Lebenswirklichkeit des Menschen aufeinander zu beziehen. Auch wenn also der Erkenntnisfortschritt der Erfahrungswissenschaften von der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen, sieht man einmal von der technologischen Anwendung der Naturwissenschaften ab, entkoppelt zu sein scheint, bleibt dennoch die Frage bestehen, was es heißt, die erfahrbare Welt in abstrakter Weise zu erkennen. Diese Frage gewinnt jedoch ihre Bedeutung nicht in erster Linie im Rahmen der wissenschaftlichen Theorie, sondern im Rahmen einer Selbstverständigung des Menschen, der sich in verschiedenen Weisen urteilend auf die Welt bezogen weiß. Weil die erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis nicht den Menschen selbst, der die Welt wissenschaftlich erforscht, thematisieren kann, stellt sich dem Menschen, der um sich selbst als urteilendes Wesen in der Welt weiß, die Frage, was er selbst, als urteilendes Wesen in der Welt, ist, und wie sein theoretisches Urteilen nun mit dem moralischen und auch dem ästhetischen Urteilen zusammenhängt. An die Stelle einer einheitlichen Weltrepräsentation, die intern nur durch den Grad an Klarheit und Deutlichkeit gegliedert ist, tritt also das Bewusstsein des Menschen von sich selbst, auf das Ganze der Wirklichkeit in verschiedenen Urteilsweisen bezogen zu sein.¹⁰
Vgl. Seeberg 2010.
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3. Urteilskraft und ästhetischer Sinn Zu urteilen bedeutet nun, wie Kant zunächst im Blick auf die theoretische Erkenntnis schreibt, Begriffe bzw. allgemeine Regeln auf besondere Fälle dieser Regeln zu beziehen (vgl. KrV A 132/B 171). Diese Fälle können andere Begriffe sein, sie müssen aber zuletzt, zumindest im Falle der Erfahrungserkenntnis der Welt, sinnlich Gegebenes, nämlich einzelne Anschauungen in den Formen von Raum und Zeit sein. Die Urteilskraft besteht daher in ihrer wesentlichen Funktion darin, Begriffe auf Anschauungen zu beziehen. Nun kann die Anwendung einer allgemeinen Regel auf besondere Fälle nicht ihrerseits durch eine Regel geleitet werden – denn dies würde das Anwendungsproblem, also die Frage, wann etwas Fall einer Regel sei und wann nicht, nur verschieben. Urteilskraft ist also, wie Kant schreibt, eine Fähigkeit, die nicht erlernt, sondern nur geübt werden kann und deren Mangel das ausmacht, was Dummheit genannt wird.¹¹ Abstrakt können Regeln daher zwar bis hin zur Gelehrsamkeit erlernt werden, ihre Anwendung in concreto ist dadurch aber in keiner Weise garantiert. Diese Fähigkeit der selbständigen Regelanwendung macht wiederum dasjenige aus, was Gemeinsinn oder sensus communis oder auch gesunder Menschenverstand bzw. bon sens genannt wird (vgl. AA VII, 139). Kant unterscheidet weiter zwei Funktionen der Urteilskraft: die bestimmende Urteilskraft subsumiert Fälle unter gegebene Regeln bzw. Begriffe, hat also lediglich zu entscheiden, ob etwas der Fall einer Regel ist oder nicht, während die reflektierende Urteilskraft zu empirisch gegebenen Fällen auch neue Regeln sucht. Im Urteilen begnügt man sich also nicht damit, Fälle, die nicht unter bestehende Regeln passen, einfach zu ignorieren, man sucht vielmehr in einer solchen Situation eine neue Regel zu finden. Diese Funktion der reflektierenden Urteilskraft bringt das Verhältnis des urteilenden Subjekts zur beurteilten Welt ins Spiel, und zwar vermittels der Idee einer Zweckmäßigkeit der Natur für die Erkenntniskräfte bzw. der Idee eines zwecksetzenden intelligiblen Grundes von Natur und urteilendem Subjekt (vgl. KU 405 – 410). Hierbei muss jedoch in Bezug auf die Erfahrungserkenntnis eine weitere Differenzierung beachtet werden: der Gedanke eines Gegenstandes der Erfahrung überhaupt wird, wie erwähnt, durch die reinen „Der Mangel an Urtheilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, sogar bis zur Gelehrsamkeit auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdann auch an jener (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die im Gebrauche ihrer Wissenschaft jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.“ (KrV B 132 Anmerkung).
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Verstandesbegriffe unter den Bedingungen der Anschauungsformen a priori von Raum und Zeit bestimmt. Hierbei bedingt der Verstand selbst, als regelgebendes Vermögen, in transzendentaler Weise die Möglichkeit seiner Anwendungsfälle (vgl. KrV A 135/B 174). Für die besondere empirische Erkenntnis gilt dies jedoch nicht. Wie Kant argumentiert, besteht nämlich die Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes darin, zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit eines erkannten Gegenstandes in der wahrnehmbaren Wirklichkeit zu unterscheiden (vgl. KU 402). Durch das Denken einer Möglichkeit alleine wird diese aber ganz offensichtlich nicht auch schon als wirklicher Sachverhalt oder Objekt hervorgebracht. Dasjenige, was als wirklicher Gegenstand, und zwar in seiner jeweiligen empirischen Besonderheit, erkannt wird, existiert daher nicht notwendigerweise sondern nur zufälligerweise (vgl. KU 403 u. 406). Trotz dieser Zufälligkeit der besonderen Beschaffenheit der empirischen Wirklichkeit muss aber auch eine gesetzmäßige Zusammenstimmung dieses Besonderen angenommen werden. Denn wenn die empirische Wirklichkeit unendlich verschiedenartig wäre, ohne dass sie vom Verstand in allgemeiner Weise durch Regeln bzw. Begriffe erkannt und das heißt systematisiert werden kann, gäbe es keine Erkenntnis. Diese zufällige und doch gesetzmäßige Zusammenstimmung des Besonderen auf der Ebene der empirischen Erkenntnis kann aber, wie Kant argumentiert, „nur durch einen darauf gerichteten Zweck als möglich“ vorgestellt werden (KU 407). Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft ist daher dasjenige einer Zweckmäßigkeit der Natur für die Erkenntniskräfte des Menschen. Da aber eine zweckmäßige Übereinstimmung des Besonderen in der Natur für die Erkenntniskräfte des Menschen weder auf die Absicht des Menschen noch auch der Natur zurückgeführt werden kann, impliziert dieses Prinzip der reflektierenden Urteilskraft den Bezug auf den Gedanken eines intelligiblen zwecksetzenden Weltgrundes. Diese grundlegende Bestimmung gilt nun nicht nur für den Bereich der empirischen Erkenntnis der Natur, sondern insbesondere auch für die ästhetische Erfahrung der Schönheit sowie, was an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden kann, auch für den Bereich der Moral. Schönheit ist, wie Kant gegenüber Baumgarten differenziert, eine subjektive Erfahrung, ein Gefühl, nicht eine objektive Eigenschaft, wie die Gestalt und Lage von Figuren im Raum, die Schwere und Solidität eines materiellen Körpers oder auch die Farbe und der Geschmack von Dingen (vgl. KU 203). Dem entspricht, dass dieses Gefühl nur von jedermann selbst erfahren, nicht hingegen durch eine objektive bzw. allgemeine Beschreibung vermittelt werden kann. Dieses Gefühl wird gleichwohl allen anderen Menschen „angesonnen“ (KU 290), wie Kant sich ausdrückt, als ob es sich um ein objektives Urteil handelte. Das subjektive Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen hingegen, das ebenfalls keine objektive Eigenschaft eines Objekts ist,
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geht auf die zufällige physische Einwirkung eines äußeren Objekts auf die Sinne des Menschen zurück und gilt daher nur für das einzelne Subjekt selbst. Das ästhetische Gefühl der Schönheit muss also auf einem Grund beruhen, der von jedermann geteilt werden kann, und zwar nicht erfahrungsgemäß, also a posteriori, sondern erfahrungsunabhängig, also a priori. Im Falle des Angenehmen lässt sich erfahrungsgemäß durchaus eine Übereinstimmung der Urteile beobachten, wie etwa bezüglich des Wohlgeschmacks von Speisen oder der schmerzhaften Erfahrung einer Verbrennung. Findet jedoch keine Übereinstimmung der Urteile statt, so wird vielleicht eine Erwartung enttäuscht, es gibt jedoch keinen Grund und auch keine Möglichkeit, anderen gegenüber auf der Richtigkeit des eigenen Geschmacks zu bestehen. Das Geschmacksurteil im engeren Sinne, also in Bezug auf die Schönheit, verweist hingegen auf einen allgemeinen Maßstab. Findet keine Übereinstimmung der Urteile statt, so versucht man, andere zu überzeugen, auch wenn es keine objektiven Kriterien gibt, die andere nötigen könnten, mit dem eigenen Urteil übereinzustimmen. Im Unterschied zum Angenehmen ist daher mit dem Gefühl des Schönen, so Kants Analyse weiter, auch kein Interesse an der Existenz eines erfahrbaren Gegenstandes verbunden, der das Gefühl auslösen könnte – das Gefühl des Schönen ist indifferent gegenüber der Existenz physischer Objekte, wie etwa die wärmende Sonne oder die nährende Speise, es handelt sich vielmehr um ein interesseloses Wohlgefallen (KU 211). Dieser Punkt des Phänomens ist entscheidend, um Kants Analyse weiter nachverfolgen zu können. Wenn es nämlich kein wahrnehmbares physisches Objekt gibt, das auslösend für das Gefühl des Schönen, als interesseloses Wohlgefallen, von Bedeutung wäre, worauf bezieht sich und worauf beruht dieses Gefühl dann? Das Gefühl des Schönen, so Kant weiter, wird nicht mehr oder minder passiv durch die Einwirkung eines physischen Objekts auf die Sinne des Menschen erfahren, wie im Falle des Angenehmen (vgl. KU 222), sondern es beinhaltet vielmehr das Bewusstsein einer eigenen Aktivität. Diese Aktivität, das Bewusstsein einer Selbsttätigkeit, lässt sich jedoch eigentümlicherweise nicht willentlich herbeiführen oder herstellen, sondern besteht, wenn es sich überraschenderweise einstellt, in einem Verweilen, nämlich in der sich selbst bestärkenden und zugleich belebenden Tätigkeit der Kontemplation, dem interesselosen Wohlgefallen. Das aktive Interesse an der Existenz eines einzelnen Gegenstands, der ein angenehmes Gefühl hervorruft, ist hingegen stets mit einer zweckgerichteten Aktivität verbunden, die, solange das Interesse anhält, darauf zielt, den angenehmen Gegenstand zu erhalten – und zwar für sich selbst, als seinerseits einzelnes Wesen in der Welt, das sich dabei auch gegen potentielle Konkurrenten behaupten muss. Während man also beispielsweise isst, um satt zu werden, und dabei ein durchaus selbstbezogenes Interesse an den Tag legt, gibt es in der Erfahrung des Schönen nichts Vergleichbares, was zielgerichtet erstrebt oder bewahrt werden könnte und
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was vor anderen zu verbergen oder zu schützen wäre. Es handelt sich vielmehr um die Erfahrung einer Welt, in der einem Gefühle und die damit verbundenen zweckgerichteten Handlungen nicht durch die physische Einwirkung von Dingen abgenötigt werden, sondern eine Welt, mit der man als geistiges Wesen harmonisch gleichsam von selbst übereinstimmt, ohne dass diese Übereinstimmung vom Menschen herbeigeführt oder als abhängig von der Existenz einzelner Dinge in der Welt begriffen werden könnte. Es handelt sich also um die ganz eigentümliche Erfahrung einer Harmonie, die deswegen, weil sie sich weder als Zweck des Menschen herstellen noch auch als Zweck der Natur, in der sich der Mensch weiß, begreifen lässt, von Kant als Bewusstsein einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck bezeichnet wird (vgl. KU 236). Um diese Begrifflichkeit verstehen zu können, ist zunächst nachzutragen, dass die Gefühle der Lust und Unlust, zu denen neben dem Gefühl des Angenehmen und Unangenehmen sowie dem moralisch bewirkten Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz in der Person des Menschen auch das Gefühl eines interesselosen Wohlgefallens am Schönen gehört, von Kant ganz allgemein als Bewusstsein einer subjektiven Zweckmäßigkeit analysiert werden. Subjektiv zweckmäßig und damit lustvoll ist dasjenige, was sich als günstig erweist, das Subjekt in dem Zustand, in dem es um sich selbst weiß, zu erhalten, subjektiv unzweckmäßig dementsprechend das Gegenteil. Gefühle sind also keine primitiven Gegebenheiten der inneren Wahrnehmung, sondern beruhen auf einer selbstreflexiven Urteilsleistung. Warum aber ist, dies einmal vorausgesetzt, eine bestimmte selbstreflexive Urteilsleistung, nämlich diejenige, die dem Gefühl des interesselosen Wohlgefallens zugrunde liegt, so beschaffen, dass sie allen anderen Menschen zugemutet werden kann? Kants Formulierung, dass es sich um die Beurteilung einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck handele, nimmt zwar Rücksicht auf den Umstand, dass das Gefühl der Schönheit nicht willentlich erzeugt werden kann, dass es also keinen Zweck darstellt, den man sich vorsetzen könnte, sie erklärt aber noch nicht, wie sich dieses eigentümliche Urteilen näher verstehen und rechtfertigen lassen könnte. Kants Antwort auf diese Frage lautet, dass es die Formen und Gestalten im Wahrnehmungsprozess sind, die unabhängig von aller konkreten begrifflichen Bestimmung einzelner Gegenstände oder Sachverhalte vom urteilenden Subjekt auf sich selbst, als urteilendes Subjekt im Verhältnis zur beurteilten Welt, bezogen werden. Wenn sich in dieser Beziehung bestimmte Formen und Gestalten in der Wahrnehmung als subjektiv-zweckmäßig für die Möglichkeit erweisen, überhaupt begrifflich urteilen zu können, so äußert sich das Bewusstsein dieser Zweckmäßigkeit als interesseloses Wohlgefallen. Die Fähigkeit, überhaupt urteilen zu können, kann aber vom Menschen nicht als Zweck gesetzt oder storniert werden, sie macht vielmehr sein Selbstverständnis als Mensch aus. Entspricht daher die Form einer in der Einbildungskraft aufgefassten
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Anschauung einem von der Urteilskraft nur selbst zu bestimmendem zweckmäßigen Verhältnis der Erkenntniskräfte von Einbildungskraft und Verstand, dann äußert sich diese Entsprechung als Gefühl des interesselosen Wohlgefallens bzw. als Bewusstsein der Schönheit. Weil nun aber, so Kant, die Möglichkeit der Beurteilung eines solchen zweckmäßigen Verhältnisses der Erkenntniskräfte Voraussetzung auch jeder besonderen (bestimmten) Erkenntnis ist, kann das auf dieser Grundlage, nämlich auf der Grundlage der Idee eines Gemeinsinns oder sensus communis beruhende Gefühl des Schönen „für jedermann gelten und folglich [auch] allgemein mittheilbar sein“ (KU 218). Damit ist nun der Kern des Problems einer spezifisch sinnlichen Erkenntnis angesprochen. Das ästhetische Urteil beruht auf einer Fähigkeit der Urteilskraft, die nicht nur im Bereich des Ästhetischen sondern in aller Erkenntnis vorausgesetzt werden muss. Diese Fähigkeit der Urteilskraft besteht darin, eine potentiell unendlich erscheinende Mannigfaltigkeit besonderer empirischer Wahrnehmungen, deren Zusammenhang als bloß zufällig erscheint, gleichwohl durch wenige Begriffe bzw. allgemeine Regeln systematisch zu bestimmen. Begriffliche Urteile über die wahrnehmbare Welt und die beurteilte Welt selbst müssen also zusammenstimmen können – und diese Zusammenstimmung ist nicht selbstverständlich, sondern von der Urteilskraft nur unter der Voraussetzung eines zwecksetzenden Grundes von Subjekt und Natur zu denken möglich. Im Falle der ästhetischen Erfahrung des Schönen werden Formen und Gestalten, die von der Einbildungskraft aufgefasst werden, nicht durch einzelne Begriffe oder Regeln bestimmt, sondern vielmehr auf die Fähigkeit der Urteilskraft bezogen, überhaupt Begriffe auf Anschauungen beziehen zu können. Als subjektiv zweckmäßig und damit als schön erweist sich eine Wahrnehmung dabei dann, wenn sie so erscheint, wie sie die Urteilskraft für ein harmonisches Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand auch von selbst bestimmen würde. Eine solche reale Übereinstimmung ist aber weder bloß zufällig, betrifft sie doch das urteilende Subjekt als solches im Verhältnis zur Welt, das urteilend über das bloß Zufällige hinaus fragt, noch auch notwendig, sie verweist vielmehr auf einen zwecksetzenden intelligiblen Weltgrund. Das ästhetische Urteil über das Schöne stellt nun aber keine Vorstufe des Erkenntnisurteils dar – anderenfalls müsste, kontrafaktisch, alles Erkannte auch schön sein.¹² Die Fähigkeit jedoch, überhaupt Begriffe auf Anschauungen beziehen zu können, also ein zweckmäßiges Verhältnis zwischen den sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen der Welt und den Erkenntniskräften des Menschen konzipieren zu können, muss als Möglichkeit für alle Erkenntnis vorausgesetzt werden. Ginge es im Urteilen nur darum, gegebene Begriffe
Vgl. Ginsborg 2008.
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oder Regeln auf gegebene Situationen zu applizieren, so stellte sich diese Frage nicht. Diese Tätigkeit kann auch durch Maschinen geleistet werden. Da aber die Urteilskraft sowohl bestimmend wie auch reflektierend ist, beurteilt sie immer auch, wie Anschauungen beschaffen sein müssen, um überhaupt auf Begriffe bezogen werden zu können – und diese Fähigkeit, die in der Praxis dazu führt, dass man die eigenen Urteile kritisch prüfen und revidieren kann, ist tatsächlich unentbehrlich für alle Erkenntnis überhaupt. Wie zeigt sich diese Fähigkeit aber nun in concreto? Im Urteilen geht es immer auch um ein Verhältnis des urteilenden Subjekts zur beurteilten Welt. Das Urteilen bewegt sich dabei zwischen zwei Polen: die Welt kann nicht einfach nur chaotisch-regellos sein, wie sie im Extrem des Fiebertraums erscheint, in dem kein Urteil mehr möglich ist, sie kann aber auch nicht einfach nur schematisch unter irgendwelche vorgegebene Begriffe gezwungen werden, wie es der Vorwurf gegenüber dem bloß blinden Funktionieren des Menschen in der modernen Welt artikuliert. Die beurteilte Welt wird vielmehr idealerweise im Urteil als mit dem urteilenden Subjekt übereinstimmend erfahren – und zwar im Gefühl einer harmonischen Beziehung, die weder bloß zufällig sein noch auch willkürlich gesetzt werden kann. Diese grundlegende ästhetische Dimension des Urteilens, der sensus communis, liegt dem Verständnis dessen zugrunde, was es heißt, frei und zugleich angemessen zu urteilen. Man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, an die Situation des juristischen Urteilens, in dem es darum geht, ein angemessenes Urteil zu fällen, d. h. die Mannigfaltigkeit der Aspekte, die eine besondere Situation ausmacht, nicht willkürlich auf einige Faktoren zu reduzieren, sondern im Urteil selbst, das notwendigerweise abstrakt formuliert sein muss, der Situation bzw. dem besonderen Fall auch gerecht zu werden. Damit ergibt sich aber erstens, dass ästhetische Phänomene gegenüber der Objektivität der Erkenntnis keine bloß subjektive Privatangelegenheit darstellen, sondern vielmehr einen intersubjektiven Raum eröffnen, der wiederum auch für die Objektivität des Erkennens konstitutiv ist. Schönheit stellt zwar keine Vorstufe der Erkenntnis dar, der Sinn für Schönheit ist aber mit jeder weltbezogenen, urteilenden Erkenntnis verbunden. Wer dumm ist, wer also einen Mangel an Urteilskraft aufweist, der wird auch keinen Sinn für Schönheit haben. Auch das objektive Erkennen ist in diesem Sinne auf einen öffentlichen, gemeinschaftlichen Raum freier und gleicher Subjekte bezogen, der als solcher über dasjenige, was im Einzelnen objektiv erkannt wird,weit hinausreicht.Was folgt hieraus nun zweitens für das Verständnis der neuzeitlichen Erfahrungswissenschaften und das Projekt der Ästhetik? Kant selbst hat die Formulierung Bacons berühmt gemacht, die Natur müsse genötigt werden, auf die Fragen des Menschen zu antworten, nämlich mit methodisch kontrolliert gestellten Fragen und Experimenten. Dass nun das experimentelle Verfahren dann, wenn es als bloße Regelanwendung
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begriffen wird, in der Tat zwanghafte Züge annimmt, und zwar sowohl gegenüber der Natur wie auch in Bezug auf den experimentierenden Menschen selbst, lässt sich gerade unter Bezug auf Kants Theorie der reflektierenden Urteilskraft begreiflich machen. Experimentelle Daten per se weisen eben keinen Weltbezug auf, sondern müssen in jedem Fall beurteilt werden, d. h. auf die für das Urteilen konstitutive Differenz zwischen dem Gegebenen und dem Verstandenen bezogen werden. Schönheit, so ließe sich sagen, kann daher den erkennenden Menschen daran erinnern, was es heißt, in freier Weise zu urteilen. Sie tut dies, weil sie auf eine gemeinschaftlich geteilte Sphäre bezogen ist, die sich in anderer Weise auch im Bereich der objektiven Erkenntnisurteile zeigt. Diese gemeinschaftlich geteilte Sphäre ist selbst kein Erkenntnisobjekt, sie stellt vielmehr jene Lebenswirklichkeit des Menschen dar, in der er sich urteilend auf den Gedanken eines intelligiblen Weltgrundes bezogen weiß. Mit diesem Ansatz ist nicht die Abstraktheit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis zugunsten einer sinnlichen bzw. ästhetiko-logischen Erkenntnis überwunden, wohl aber wird dem Umstand Rechnung getragen, dass auch naturwissenschaftliche Theorien erst entwickelt und geprüft, also urteilend auf die Welt bezogen werden müssen. Hierfür bedarf es aber eines spezifischen Vermögens, nämlich des Gemeinsinns, der sowohl im Bereich der Schönheit wie auch im Bereich der Wahrheit anzusetzen ist. In diesem Sinne spielt aber Baumgartens Projekt einer ästhetischen Verbindung zwischen den Sinnen und dem Verstand, so sollte gezeigt werden, durchaus auch bei Kant, und der Sache nach wohl auch noch im Blick auf die moderne Ästhetik und Hermeneutik des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.
Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb (2007): Ästhetik, übers. und hg. v. Dagmar Mirbach, Meiner: Hamburg. Ginsborg, Hannah (2008): „Interesseloses Wohlgefallen und Allgemeinheit ohne Begriffe (§§ 1 – 9)“, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (Klassiker Auslegen Bd. 33), Berlin: Akademie Verlag, 4 – 77. Goethe, Johann Wolfgang (1976): Faust. Eine Tragödie, hg. v. Erich Trunz (Hamburger Ausgabe Bd. 3), München: Beck. Husserl, Edmund (1962): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. von Walter Biemel (Husserliana Bd. VI), Den Haag: Martinus Nijhoff. Kant, Immanuel (1900 ff.): Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin [zitiert als AA mit Band- und Seitenzahl; Kritik der Urteilskraft als KU (= AA V, 164 – 485); Kritik der reinen Vernunft unter Angabe der Paginierung der beiden Erstausgaben von 1781 (A) und 1787 (B)].
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Ulrich Seeberg
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Michael Sellhoff
Sinnliche Abstracta: Das Medium zwischen Individuo und Begriff Die hartnäckige und zielstrebige¹ Begründung der Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten gilt bekanntlich nicht allein einer philosophischen Grundlegung der Kunst, sondern auch und vor allem einer „Logik des unteren Erkenntnisvermögens“. Jenseits der sowohl von eher empiristischen als auch von eher rationalistischen Ansätzen akzeptierten Rolle der sinnlichen Erfahrung als Material der Erkenntnis erhält die Sinnlichkeit, begriffen als analogon rationis, durch die aisthesiologische Betrachtungsweise den Status von Erkenntnis sui generis. Baumgarten begreift sie nicht als dunkle Erkenntnis, sondern als Erkenntnis vom Dunklen und restituiert damit die Eigengesetzlichkeit der perceptio confusa als reiche, verbundene statt bloß verworrene Erkenntnis.² Während bei Baumgarten trotz dieser epistemologischen Aufwertung der Sinnlichkeit die Trennlinie zwischen den sinnlichen und begrifflichen Erkenntnissen unangefochten bleibt, so nehmen die aus dieser Scheidung resultierenden Spannungen mit der sich stetig ausdifferenzierenden Erkenntnispsychologie im Verlauf des 18. Jahrhunderts deutlich zu. Bereits für Christian Wolffs Deutsche Metaphysik lässt sich zeigen, dass er „ein Rationalitätskonzept“ anstrebt, „das nicht von einem Gegensatz zu elementaren Bewusstseinsdimensionen wie der Sinnlichkeit oder dem Affektleben ausgeht.“³ Wolffs umfassende „psychologische Genetisierung“⁴ nicht nur der gesamten Metaphysik, sondern geradezu der gesamten Philosophie wirft zugleich umso vehementer die Frage nach dem Beitrag der unteren Seelenvermögen zu den oberen Kenntnissen auf. Der vorliegende Beitrag motiviert sich aus dem folgenden Entstehungskontext: Im Zusammenhang mit der Edition und dem Kommentar einer Vorlesung über „Metaphysik bey dem H. Profeßor Tetens“ stellen sich auf der Grundlage dieses Materials zwei Fragen neu: einerseits nach den vorausliegenden Einflüssen zu der Philosophie von Johann Nicolaus Tetens (1736 – 1807), andererseits nach dessen Verhältnis zur nachfolgenden kritischen Philosophie Kants.⁵ Wie in seinem
Vgl. Schwaiger 2011, 17 ff. Vgl. Cassirer 1998, 455 – 463. Barth 2010, 187. Barth 2010, 189. Darüber hinaus stellt das Manuskript eine Reaktion auf das Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft in Aussicht; liegt doch Tetens’ Hauptwerk davor und ist er nach 1781 philosophischen
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Hauptwerk, den zweibändigen Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (1777), bauen Tetens’ systematische Überlegungen auch in der Metaphysik-Vorlesung maßgeblich auf einer detaillierten Erfahrungsseelenlehre auf. Dabei tritt an prominenter Stelle, bereits bei der Erörterung der grundlegenden Modifikationen der menschlichen Seele, ein terminologisch auffälliges Element auf: Die Vorstellungskraft erzeugt „sinnliche Abstracta oder Gemeinbilder“.⁶ Aus den bisherigen historischen und systematischen Nachforschungen zu möglichen Quellen dieses Begriffs resultiert die folgende Darstellung. In ihr soll thesenartig eine mögliche Genese des Tetensschen Begriffs formuliert werden, die zugleich deren Bedeutung im Rahmen der Philosophiegeschichte des 18. Jahrhunderts erhellt. Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, wie (1) René Descartes bereits in seiner frühen Erkenntnistheorie die Einbildungskraft rehabilitiert: sie ist nicht nur eine Quelle der Täuschung, sondern hat eine erkenntnisermöglichende Funktion inne; wie (2) Johann Georg Heinrich Feder vermutlich auf dieser Grundlage eine sinnliche Begriffsbildung im Rahmen seiner metaphysischen Vorstellungstheorie konzipiert und (3) Johann Nicolaus Tetens von dieser Funktion intensiven Gebrauch macht. Er beabsichtigt eine nicht-reduktionistische Neufassung der Begriffsbildung, die bereits zu Beginn seines philosophischen Wirkens im Zentrum seiner Kritik an der zeitgenössischen Metaphysik wie den Bestrebungen ihrer wissenschaftlichen Renovierung steht. Darüber hinaus gelingt ihm auf diese Weise eine minutiöse genetische Ableitung der Seelentätigkeiten, die schließlich an den äußersten Rand zur kantischen Transzendentalphilosophie und ihrer synthetischen Einbildungskraft a priori heranreicht.
1. Descartes: Regulae ad directionem ingenii (1628/1701) Die Regulae stehen an einer Zäsur im Cartesischen Schaffen: Mit hoher Wahrscheinlichkeit bricht er die Arbeit an der mehrfach und langwierig revidierten Schrift bei seiner Übersiedlung von Paris nach Holland im Jahre 1628 ab, die Abkehr fällt also zusammen mit dem Beginn der Ausarbeitung seiner eigentlichen
Veröffentlichungen beinahe abstinent. In den einzig zwischen 1781 und seiner Umorientierung in den dänischen Staatsdienst liegenden theologischen Aufsätzen (Tetens 1783a, 1783b, 1783c) tritt keine prägnante Reaktion auf die „Kopernikanische Revolution“ zutage. Tetens 1789, Psychologia empirica, § 6.
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Metaphysik.⁷ Die Regulae bleiben Fragment, das Manuskript selbst geht verloren, erst posthum erscheint der Text in lateinischer Sprache ab 1701 in verschiedenen Fassungen; heute wird allgemein eine durch Leibniz übermittelte Abschrift als maßgeblich angesehen.⁸ Stehen die ab 1629 folgenden Erkenntnisse dergestalt in direktem Widerspruch zum Inhalt der Regulae,⁹ dass deren sinnvolle Interpretation vom Hauptwerk zu abstrahieren habe,¹⁰ oder sind die Regulae dergestalt von der Frage nach der Methode motiviert, die Descartes „freilich […] nie fallengelassen [hat]“,¹¹ dass damit der von Descartes selbst diagnostizierte – einzige – Bruch¹² überspielt wird und Früh- und Spätschriften zusammengebunden bleiben? Jedenfalls wird Descartes mit den Regulae, wie Ernst Cassirer überzeugend dargelegt hat, „[z]um Begründer der neueren Philosophie“, da er im „Gedanken der Methode […] eine neue Aufgabe erfaßt“,¹³ die neue Aufgabe nämlich, „[die Idee der] Notwendigkeit nicht nur innerlich zu erfahren, sondern auch zu begreifen, woher sie stammt.“¹⁴ Ziel der Regulae ist die Klärung, worin die zuverlässige, evidente wissenschaftliche Erkenntnis und die Einheit der Wissenschaft bestehen. Descartes bestimmt in der dritten Regel Intuition und Deduktion als allein verlässliche Wege zu Wahrheit und Wissenschaft und vollzieht eine grundlegende Erläuterung des notwendig methodischen Vorgehens in den Regeln vier bis sieben. Daraufhin wendet er sich dem wesentlichen Spezifikum der menschlichen Erkenntnis zu: ihrer Begrenztheit. Werden die vorausliegenden Regeln penibel beherrscht und führt dennoch keine Anstrengung weiter, so mangelt es nicht an Erkenntniskraft, sondern „die Natur der Schwierigkeit selbst […] oder die Lage des Menschen“ verhindern die Lösung und das Auffinden des erstrebten Wissens.¹⁵ Der Vgl. Gäbe 1973, xxi – xxx. Auch Wohlers 2011, viii hält eine spätere Weiterbearbeitung zwar für prinzipiell möglich, doch ebenso wie Gäbe für unwahrscheinlich (vgl. a. Wohlers 2011, xxvii). Vgl. Springmeyer 1973. Wohlers betont ausdrücklich, dass weder philologische Entdeckungen noch eine grundlegende Kritik an der Ausgabe von Springmeyer, Gäbe und Zekl der Grund für die Neuausgabe der Regulae sind. Neben der wünschenswerten „terminologisch transparente[n] Neuübersetzung“ (Wohlers 2011, xi) wendet sich Wohlers allerdings gegen die Verschiebung zweier Textteile in den Anhang und plädiert für die Ausgabe Crapulli als Referenzpunkt, der aufgrund der Quellenlage nicht überschritten werden kann (Wohlers 2011, xii). Gäbe 1973, xxviii f. Gäbe 1973, xxx. Gäbe 1972 spricht von einer „Umkippung“ im Jahr 1628, die von Descartes’ Lektüre des Novum Organon ausgegangen sei. Dagegen wendet sich Wohlers 2011, lxx – lxxvii. Wohlers 2011, viii. Goldstein 2007, 344– 348. Cassirer 1999, 366. Cassirer 1999, 367. Im weiteren zitiere ich die Regulae unter Angabe der Regel („R“) in römischen Ziffern; hier: RVIII, 2.
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menschliche Geist ist endlich, doch können die Bedingungen seiner Endlichkeit nicht bloß hindern, sondern auch fördern, indem sie die Erkenntnisgegenstände dem menschlichen Verstand gemäß machen. Dabei sind die Regulae ad directionem ingenii nicht eigentlich eine methodologische Grundlegung des Verstandesgebrauchs, sondern eine Anleitung zur richtigen Verwendung der Vorstellungskraft.¹⁶ Zwar ist einerseits „ingenium“ die Klammer um Verstand, Einbildungskraft, Sinne und Gedächtnis, also die „eine einzige“¹⁷ Erkenntniskraft. Doch im engeren Sinn ist andererseits das „ingenium“ mit den Objekten der Einbildungskraft befasst, es ist die Fähigkeit, mithilfe körpergebundener Phantasmata richtig zu denken.¹⁸ Descartes’ Begriff des „ingenium“ steht damit quer zu einer vereinfachenden Unterscheidung der natürlichsinnlichen, unteren von den höheren rationalistischen Fähigkeiten des menschlichen Geistes, er ist – zumindest für den Inhalt der Regulae – mit den gängigen Beifügungen Verstand, Erkenntniskraft, Esprit oder Witz gleich unvollständig wiedergegeben.¹⁹ Erkenntnistheoretisch weisen die Regulae der Einbildungskraft eine zentrale Rolle zu: Sie ist für das Zustandekommen, die Ermöglichung deutlicher Intuition im Verstand dergestalt entscheidend, dass sie je nach momentanem Gegenstand bzw. Erkenntnisziel entweder abstrahierend oder detaillierend wirkt.²⁰ Insbesondere die inhaltlich reduzierende Funktion der Einbildungskraft ist für das ZumSchluss-Kommen des Verstandes von Bedeutung: Um dagegen aus mehrerem zusammengenommen eines zu deduzieren, was oft nötig ist, muß alles das aus den Ideen der Dinge beseitigt werden, was keine gegenwärtige Aufmerksamkeit erfordert, damit das Übrige leichter im Gedächtnis behalten werden kann. Demgemäß sind also dann nicht die Sachverhalte selbst den äußeren Sinnen vorzulegen, sondern vielmehr gewisse abkürzende Zeichen an ihrer Stelle, die je kürzer um so bequemer sein werden, wenn sie nur ausreichen, ein Versagen des Gedächtnisses zu verhindern.²¹
Es ist also die zeichenmachende Phantasie mit ihren symbolischen Abkürzungen, die – wie die sechzehnte Regel ausführt – es erlaubt, mehrere Propositionen „in Vgl. in Sepper 1996 den Teil über die Regulae, 83 – 208; hier bereits 85 f. RXII, 10. Ebd.; so auch Perler 1997, 295 f. Vgl. für eine Annäherung an die geschichtlichen Facetten des Begriffs Weinrich 1976, der allerdings gerade dem Ingenium-Begriff der Regulae in keinster Weise gerecht wird. Es ließe sich einwenden, dass in beiden Formulierungen nicht die Einbildungskraft handelndes Subjekt des Satzes ist. M. E. trifft ein solcher Einwand nicht, da ja stets das Ingenium einheitliche handelnde Kraft ist (und die Einbildungskraft beteiligt ist bzw. vom Ingenium umgriffen wird). RXII, 11; m. H.
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einer zusammenhängenden und nirgends unterbrochenen“,²² „blitzschnellen Bewegung des Denkens [zu] durchlaufen und intuitiv soviel wie möglich auf einmal erfassen [zu] können“.²³ Die Einbildungskraft arbeitet auf diese Weise dem Denken vor, indem es das Problem von seinem Gegenstand löst²⁴ und „ganz durch nackte Figuren“,²⁵ durch „in der Phantasie gemalte Bilder“²⁶ darstellt. Somit ist von einer bestimmten Stufe der Komplexität an „nichts mehr ohne die Hilfe der Einbildungskraft durch[zu]führen“.²⁷ Zwar ist die Einbildungskraft auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht aus dem Kreis der Seelenvermögen des Menschen wegzudenken – man denke allein an Leibniz’ Auseinandersetzung mit Lockes Vorstellungstheorie in den Nouveaux Essais und deren intensive Rezeption –, doch fällt sie zunächst hinter ihre Bedeutung in den Regulae zurück; zumindest die der Erkenntnis zuarbeitende Reduktion der sinnlichen Merkmalsfülle scheint nicht rezipiert worden zu sein. Bestimmend wird für eine längere Phase der Vorstellungstheorien ihre Tätigkeit im Rahmen der Ideen-Assoziation, der Einbildungskraft kommt es zu, einerseits komplexe Vorstellungen in ihre Teile zu zergliedern und andererseits aus einzelnen Vorstellungen andere oder neue zusammengesetzte Vorstellungen zu synthetisieren. Demgegenüber wird die Abstraktion üblicherweise als ein bloßes Absehen von Details durch die Richtung der Aufmerksamkeit betrachtet,²⁸ die Allgemeinbegriffe entstehen durch ein Vergleichen, das im Verstand durch das Zusammenwirken von Aufmerksamkeit und Gedächtnis vollzogen wird.²⁹
RII, Scholion. RXVI, 1. RXIII. RXIV, Scholion. RXIV, 5. RXIV, 9: nihil sine imaginationis auxilio. – In den Worten von Josef Simon: Die Einbildungskraft ist als zeichenmachende Phantasie „unerläßlich, wenn es darum geht, dem Ingenium so vorzuarbeiten, daß es, als ‚Intuition‘, mühelos notwendige Verbindungen einsehen kann. In dieser Beziehung kann von einer bestimmten Stufe der Komplexität an nichts mehr ohne Hilfe der Einbildungskraft vollzogen werden“ (Simon 1978, 130). Als isolierende Abstraktion; vgl. Baumgarten 2011, § 529: „facultatem attendendi et abstrahendi [Vermögen des Achtgebens und des Außerachtlassens]“, der Aufmerksamkeit und Abstraktion als Opposita fasst (§ 625). Abstraktion als separates Vermögen auch bei Wolff 1968, § 282. Generalisierende Abstraktion; so Wolff in der Deutschen Metaphysik (Wolff 1983): Das Überdenken ist fortgesetzte Aufmerksamkeit (§ 272), die im Zusammenspiel mit dem Gedächtnis die Erkenntnis von Ähnlichkeiten und Unterschieden (§ 273) und damit die Bildung von allgemeinen Begriffen ermöglicht (§ 286).
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2. Feder: Logik und Metaphysik (1769) Es ist dann der Göttinger Johann Georg Heinrich Feder (1740 – 1821),³⁰ in dessen ungemein populärer Logik und Metaphysik sich ein Passus findet, der mir eine Wiederaufnahme der Descartesschen Bestimmung der reduzierenden Einbildungskraft zu sein scheint. Feder hatte bereits 1767 in seinem Grundriß der Philosophischen Wissenschaften die Architektonik der Metaphysik gegenüber der wolffschen Schulphilosophie geöffnet, indem er die Logik psychologisch wendete und die Untersuchung der Wirkungen der Denkkraft wie der Fähigkeiten der Seele in sie einbezog: Die Logik sei „der bequemste Ort“, um das Empfindungsvermögen, den äußeren und inneren Sinn, das Selbstgefühl und die Einbildungskraft zu behandeln.³¹ Indem Feder in seinem bis 1794 neun Auflagen erfahrenden Handbuch „die Logik mit empirischer Psychologie“ anfängt „und überhaupt viel von letzterer in die Logik“ bringt,³² will er, wie er im Vorbericht begründet, den Schwierigkeiten der systematischen Anordnung der Teile der Metaphysik Abhilfe schaffen. Feder stellt die Einbildungskraft als die zentrale Fähigkeit des unteren Erkenntnisvermögens dar: Der Name „Vernunftähnliche Fähigkeit (Analogon rationis)“³³ beziehe sich besonders auf „solche Denkarten, solche Folgen und Verbindungen der Vorstellungen“,³⁴ die Wirkungen der Einbildungskraft seien; außerdem finde sich im „Herumschweifen der Einbildungskraft“ eine „Art von Nachdenken und Ueberlegung (Analogon reflexionis)“.³⁵ Zwischen die reproduktive Einbildungskraft und das Dichtungsvermögen, also die produktive Einbildungskraft, setzt Feder ein „sinnliches Absonderungsvermögen“ als dasjenige Vermögen der Einbildungskraft, „weniger denn in der vorhergehenden Empfindung einer Sache lag, sich vorzustellen, aber doch noch unter einem Bilde“.³⁶ Sie [scil. die Einbildungskraft; MS] kann alsdenn das sinnliche Absonderungsvermögen genennet werden. […] Kraft dieses sinnlichen Absonderungsvermögens sammlet sich die
Zu Feder vgl. den informativen Eintrag Thiel 2010, der die bisherigen Untersuchungen v. a. von Brandt 1989, Röttgers 1984 und Zimmerli 1983 bündelt sowie deren gelegentliche polemische, zur Abwertung Feders neigende Übertreibung ausbalanciert. Feder 1769, 52– 54. Feder 1770, „Vorbericht von der Philosophie und den philosophischen Wissenschaften überhaupt“, § 3, Anmerkung, 9. Feder 1770, § 15, 138. Ebd. Ebd. – Mir ist bisher kein weiterer Beleg für die Wendung bzw. Zusammenfügung „analogon reflexionis“ bekannt, möglicherweise ist sie eine Schöpfung Feders. Feder 1770, § 11, 130.
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Seele allgemeine sinnliche Begriffe, oder Bilder, in welchen das, was einer Gattung oder Art gemeinschaftlich zukömmt, hauptsächlich aufbehalten wird, und dem Geiste vorzüglich klar obschwebet.³⁷
Die so gewonnenen „sinnlichen Abstracta“ scheidet Feder kategorisch von „intellectualen Abstracta, [den] allgemeinen Begriffe[n], die in Worten liegen“, gleichen erstere doch „indem es Bilder sind, immer mehr einem Individuo, als dem andern“. Trotz der nach Vernunftmaßstäben unvollständigen Abstraktionsleistung ist diese Wirkung der Einbildungskraft von großem Nutzen: „Vermöge dieser allgemeinen Bilder, oder wenn dieser Ausdruck zu hart seyn sollte, vermöge dieser bildlichen Grundbegriffe bemerken wir schon bey der gemeinen und sinnlichen Erkenntniß die Arten und Gattungen“, in diesen Allgemeinbildern „[obschwebet] dem Geiste vorzüglich klar“³⁸ das ihnen gemeinsam Zukommende. Terminologisch klar erkennbar knüpft Feder an die baumgartensche Aufwertung des sinnlichen Erkenntnisvermögens an. Dabei scheint ihn – ähnlich wie Descartes – ein starkes Bewusstsein von der Endlichkeit des menschlichen Geistes zu dem Schluss zu führen, dass die unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Sinnlichkeit am ehesten durch die immense Fassungskraft der Sinnlichkeit selbst handhabbar ist: Möglicherweise in direkter Anknüpfung an die Regulae ordnet er der Einbildungskraft die Bedingung des ‚Zum-Schluss-Kommens‘ zu und schreibt damit der Erkenntnis ein vorbewusst-kreatives Element ein.
3. Johann Nicolaus Tetens Als der Philosoph, Mathematiker und Physiker Johann Nicolaus Tetens³⁹ (1736 – 1807) seine Vorlesungen an der Akademie im mecklenburgischen Bützow beginnt, legt er mit seiner Einladungsschrift Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind (1760) ein Grundsatzprogramm vor, dessen großen Linien er bis zum Ende seines philosophischen Wirkens
Feder 1770, 130 f. Ebd. Anders als für J. G. H. Feder ist der Eintrag zu Tetens im Dictionary of 18th-Century German Philosophers mit Vorsicht zu genießen (Kuehn 2010): Während die Interpretation seiner philosophischen Stellung überwiegend vertretbar bzw. zumindest kontrovers diskutabel ist, liegen doch formal wie biographisch deutliche Schwächen vor. So sind zumindest Geburtsdatum und -ort geklärt (Hintze 1936), liegen die Gründe für die Abspaltung der Bützower Akademie von der Universität nicht tatsächlich im Siebenjährigen Krieg, sondern in Streitigkeiten des Landesherrn mit dem Stadt-Senat begründet (vgl. Hölscher 1885, Asche 2006), wurde Tetens 1763 Professor für Physik, nicht für Naturphilosophie etc.
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treu bleiben wird. Der 24jährige Magister entwirft von einem sprachkritischen Ausgangspunkt her eine erkenntnistheoretisch operierende Vermittlung empiristischer und rationalistischer Methode, die in letzter Konsequenz auf die Neubegründung der Metaphysik als Wissenschaft zielt. Tetens identifiziert als Hauptursache für die Defizite der Metaphysik „das verworrene und dunkle in den Begriffen“.⁴⁰ Während „die Mathematiker die Kunst [verstehen], algemeine Begriffe, auch die von den Sinnen am entferntesten sind, durch Hülfe geschickter Zeichen der Einbildung als gegenwärtig vorzustellen“,⁴¹ fehle ein solches Mittel in der Metaphysik. Die Gegenstände der Mathematik und Geometrie könnten deshalb „so leicht deutlich gedacht [werden], da Sinne und Einbildungskraft, dem Verstand zu Hülfe kommen“ und „in dem Zeichen des zusammengesezten Begrifs die Zeichen der einfachen zusammen[kommen]“.⁴² Tetens fordert insbesondere in der Ontologie einen Rückgang auf die Erfahrungsbegriffe, denen – eben als aus der Erfahrung stammenden, sie sind als Begriffe „noch immer Empfindungen“⁴³ – ein spezifischer Deutlichkeitsgrad eignet, ein sozusagen ideales Niveau der Detailliertheit. Um dieses Äquilibrium zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion für den Verstand nutzbar zu machen – so kann der tetenssche Gedankengang nur ergänzt werden –, fehlt es der Ontologie und damit der gesamten Metaphysik bisher an zeichenhaft konstituierten Erfahrungsbegriffen. Aus dieser Ankündigungsschrift entfaltet sich ein Arbeitsprogramm, das Tetens in den darauffolgenden Jahren mittels seiner Lehrveranstaltungen absolviert. Er liest in Bützow 1760 Metaphysik nach Baumgarten, erschließt sich also das systematische Fundament einer „Logik des unteren Erkenntnisvermögens“. Im darauffolgenden Jahr dann Logik nach Hermann Samuel Reimarus’ Vernunftlehre, dessen prägnant nominalistische Formulierung der Tetensschen Suchbewegung die Richtung gewiesen haben könnte: In § 58 heißt es, „[d]as Weglassen der verschiedenen Bestimmungen einzelner wirklicher Dinge, in den allgemeinen und abgesonderten Begriffen, ist eine Erdichtung“,⁴⁴ Reimarus schreibt also der Einbildungskraft eine zentrale Rolle bei der Produktion der Allgemeinbegriffe zu.⁴⁵
Tetens 1760, 13. Tetens 1760,, 21. Ebd. Tetens 1760, 24. Reimarus 1766, 49, m. H. Wie Engfer 1980 zeigt, „[signalisiert die] neue und eingeschränkte Verwendung des Terminus ‚notio completa‘ [sc. als Definition, die allein Allgemeinbegriffe, nicht Individuen erfasst; MS] eine grundsätzliche Uminterpretation der analytischen Urteilstheorie“ (46) gegenüber Leibniz, die es Reimarus erlaubt, das „Fundament [der Definitionsbildung] letzten Endes in der Erfahrung“
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Ab dem Wintersemester 1769 liest Tetens dann sieben Jahre lang Logik und Metaphysik nach dem frisch erschienenen, gleichnamigen Lehrbuch J. G. H. Feders, in dem dieser (wie ausgeführt) den Terminus „sinnliche Abstraktion“ vorlegt. Tetens übernimmt daraufhin Feders Konzept in die Ausarbeitung seiner Sprachphilosophie, wie er sie in Ueber den Ursprung der Sprachen und der Schrift von 1772 entwickelt. Gegenüber der Herderschen, „literarisch brilliantere[n]“⁴⁶ Preisschrift leistet Tetens darin „die philosophisch überzeugendere Abhandlung […, eine] strenger durchgeführte[] prinzipientheoretische[] Begründung der Sprachtheorie.“⁴⁷ Tetens sucht die Bedingung des menschlichen Spracherwerbs in den Prinzipien des menschlichen Erkenntnisvermögens auf und bestimmt die Einbildungskraft mit ihrer Fähigkeit des In-ein-Bild-Bringens als die zentrale Voraussetzung sowohl der Sprache als auch der Schrift. Den Anfang aller Erkenntnis lokalisiert er dabei in den bereits auf der Wahrnehmungsebene verallgemeinernd überformten sinnlichen Begriffen und ihren Ähnlichkeitsbeziehungen: Bei wiederkehrenden Vorstellungen von Objekten der äußeren Wahrnehmung [fallen] die ähnlichern Züge in diesen einzelnen Bildern […] auf einander; und drücken sich also lebhafter ab, und tiefer hinein. Die Verschiedenheiten hingegen legen sich neben und zwischen einander, laufen durch einander, und verwirren und verdunkeln sich […]. So entsteht ein allgemeines Bild […]. Diese sinnliche Abstraction ist blos eine Wirkung der Einbildungskraft und des Witzes. […] [Sie] gehet vor der logischen Abstraction des Verstandes vorher, und untersützet diese.⁴⁸
Mit diesen allgemeinen Bildern werden Töne, dann Wörter als erste aber zugleich allgemeine Zeichen ihrer Ideen verknüpft. Die „allgemeinen Bilder[] der Einbildungskraft“⁴⁹ sind dabei allerdings bereits das natürliche Zeichen eines intuitiven sinnlichen Urteils, das – in der Formulierung Feders – schon vor dem kognitiv-
aufzusuchen (52). So verschränkt Reimarus in der Urteilstheorie auf integrative Weise synthetische [empirischer Entdeckungszusammenhang] und analytische [definitorischer Begründungszusammenhang] Elemente; „‚analytische[ ]‘ Urteilstheorie und die These von der Erfahrung als der ersten Quelle unserer Erkenntnis widersprechen einander also nicht, sondern stellen einander ergänzende und aufeinander angewiesene Teilstücke eines in sich geschlossenen Methodenkonzeptes dar.“ (53) Auf der synthetisch-empirischen Ebene beruht dieses Konzept wesentlich auf dem Zustandekommen „intuitiver Urteile“ über die „Ähnlichkeitsrelation zwischen den Dingen“ (51, Anm. 75), also (wie oben aus § 58 zitiert) auf dem erdichtenden Weglassen der Einbildungskraft zugunsten des Allgemeinen. Westerkamp 2007, 8. Ebd. Tetens 1772, 34 f. Ebd.
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sprachlichen Zugriff der Vernunft jene „vorzügliche Klarheit“ der Wahrnehmung erzeugt, die überhaupt erst eine weitere logische Abstraktion erlaubt. Über Tetens’ Hauptwerk, die zweibändigen Philosophischen Versuche von 1777, ist im 19. Jahrhundert vermerkt worden, sie seien die Veröffentlichung seiner „Dictate“.⁵⁰ Tatsächlich beginnt er in Kiel erst 1778 damit, Metaphysik „ad dictata sua“ zu lesen. Dass dennoch deren systematische Ausarbeitung den Philosophischen Versuchen vorausgegangen sein könnte, darauf weist seine zweite Programmschrift hin, Ueber die allgemeine speculativische Philosophie von 1775, ursprünglich, wie er selbst voranschickt, geplant der „erste [Versuch] in einer Sammlung von mehrern zu seyn“⁵¹. Tetens setzt hier die sprachkritischen Reflexionen der Bützower Einladungsschrift wie seiner Sprachursprungsschrift fort und exponiert aus der notwendigen Korrektur sinnlicher Kenntnisse als dem Fundament jeder Wissenschaft sowohl ein Verfahren zur „Realisierung der Gemeinbegriffe“ als auch die „Nothwendigkeit einer allgemeinen Grundwissenschaft“, die letztlich auf eine empirische Ontologie hinausläuft. Erneut spielt die Einbildungskraft eine wesentliche Rolle in der Behandlung der Abstrakta, sie macht die Begriffe den gegenwärtigen Bedürfnissen des Erkenntnisvermögens gemäß: Jeder Gemeinbegrif, den wir in uns haben, wird von der Phantasie individualisirt, so oft wir uns bemühen, ihn zum Anschaun in uns gegenwärtig zu erhalten. Die Phantasie mahlt das allgemeine, als die hervorstechenden Züge, auf die wir aufmerksam sind, zu einem vollen Bilde aus, dessen Gränzen schwanken, und jeden Augenblick sich abändern. Diese Bilder kann man als die individuellen Ideen ansehen, wozu der Gemeinbegrif das Abstractum ist. […] Der Kopf des Erfinders individualisiret seine Gemeinbegriffe, die er vorher zusammen gesetzt hatte […].⁵²
Die Philosophischen Versuche verschieben den Fokus des Projekts einer „allgemeinen speculativischen Philosophie“ als empirische Wissenschaft. In direktem Anschluss an Lockes Methode und Gegenstand beabsichtig Tetens die Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft durch die Herleitung der Bedingungen menschlicher Erkenntnis aus der Psychologie. Seine im besten Wortsinne kleinschrittige Analyse der menschlichen Seelenvermögen stärkt erneut die Bedeutung der Einbildungskraft und mit ihr das Konzept sinnlicher Abstraktion:
Hölscher 1885, 71. Tetens 1775, 1. Tetens 1775, 68 – 69.
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Unter den Wirkungen [der Dichtkraft] finden wir keine, die in unserm Verstande von größern und wichtigern Folgen sind, als die sogenannten sinnlichen Abstrakta oder allgemeinen sinnlichen Vorstellungen.⁵³
Ganz leibnizisch denkt Tetens Empfindungen, also sinnliche Erfahrungen radikal individuell – es gibt „nicht zwey von ihnen, bey denen nicht einiger Unterschied in den Graden der Lebhaftigkeit“⁵⁴ oder den Details der Vorstellungen angetroffen werden. Doch ist gerade bei den „vielbefassenden Empfindungen“⁵⁵ jedes Wahrnehmen überhaupt davon abhängig, dass unterschieden wird, und dieses Unterscheiden darauf angewiesen, dass zunächst Ähnliches mit ihm verbunden wird.⁵⁶ Den drohenden Zirkel durchbricht Tetens zufolge die produktive Einbildungskraft mit der vorbewussten „Vereinigung meherer Eindrücke […], die einzeln genommen nicht vollkommen das sind, was das allgemeine Bild ist“:⁵⁷ [D]ie allgemeinen Bilder [sind] ursprünglich wahre Geschöpfe der Dichtkraft […]. Man hat es erkannt, daß es sich mit den allgemeinen geometrischen Vorstellungen also verhalte. In der That aber haben alle übrige dieselbige Beschaffenheit an sich.⁵⁸
Als genuine Hervorbringungen der produktiven Einbildungskraft – er nennt sie „bildende Dichtkraft“ – sind die sinnlichen Abstrakta für Tetens „selbst gemachte einfache Vorstellungen“⁵⁹ und gehören also zu denjenigen Produkten des menschlichen Geistes, die von dessen immenser Potenz zeugen. Tetens ist überzeugt, mit seiner Reformulierung der Einbildungskrafttheorie maßgeblich Neues zum Verständnis menschlicher Erkenntnis beizutragen. Denn in dem systematischen Grund legenden ersten Kapitel der Philosophischen Versuche über die „Natur der Vorstellungen“ formuliert Tetens seine zentrale Kritik an bisherigen Auffassungen der produktiven Einbildungskraft.⁶⁰ Sie be-
Tetens 1777, 128 f. Tetens 1777, 131. Ebd. Vgl. ebd. Tetens 1777, 132. Ebd. Ebd. (m. H.). Diese richtet er unpersönlich an „die Psychologen“ und deren „gemeiniglich[en]“ Erklärungen. Das Argument seiner Kritik bzw. die Zielrichtung seiner Neufassung zeigt allerdings tatsächlich, dass die Kritik allgemein zutreffend ist – angefangen mit Christian Wolff, der zwar bereits die Produktivität der Einbildungskraft gestärkt hatte (vgl.Wolff 1983, §§ 241– 246), jedoch in Tetens’ Augen nicht weit genug gegangen ist. Somit adressiert Tetens mit der Bezeichnung „Psychologe“ alle diejenigen, die die Psychologie behandeln und/oder nach psychologischer Methode verfahren. Vgl. die methodologische Bemerkung in der Vorrede der Philosophischen Versuche, seine
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ruhten letztlich allein auf dem Zerteilen und Neuzusammensetzen der (Teil‐) Vorstellungen, wie es mit den Regeln der Ideenassoziation beschrieben worden ist. Tetens fragt rhetorisch: Aber sollte dieß das Eigene der Fictionen ganz ausmachen? Wenn es so ist, so ist auch das Dichten nichts anders als ein bloßes Stellversetzen der Phantasmen; so werden dadurch keine neue für unser Bewußtseyn einfache Vorstellungen entstehen können.⁶¹
Dass mit den bisherigen Vorstellungen zur Bearbeitung von Vorstellungen eben eigentlich noch nicht „lebhafte Dichtung“, sondern erst ein produktiver Anteil der reproduktiven Einbildungskraft angesprochen ist, veranschaulicht Tetens am klassischen Beispiel des Pegasus. Diese bereits bisher als das Wirken der produktiven Einbildungskraft gefasste Veranschaulichung zieht er heran um einerseits zu zeigen, dass das Beispiel ein zutreffender Anwendungsfall ist, zugleich aber aufzuweisen, dass in ihm mehr enthalten ist, als bisher gesehen worden ist. Mit anderen Worten argumentiert Tetens, dass das bisherige Verständnis der Produktivität der Einbildungskraft nicht weitreichend genug ist. Die Verbindung einer Vorstellung von einem Pferd mit derjenigen von Flügeln ist ihm zufolge zunächst nur ebenso ein „reines Phantasma“, also eine reproduzierte Vorstellung, wie diese Vorstellungen es je einzeln sind. Doch der Pegasus erschöpft sich nicht darin, es bedarf allerdings des konzentrierten, genauen Betrachters: […] dort ist eine Stelle in dem Bilde an den Schultern des Pferdes, etwas dunkler, als die übrigen, wo die Flügel an dem Körper angesetzet sind; da fließen die Bilder von des Pferdes Schultern und von den Wurzeln der Flügel in einander; da ist also ein selbstgemachter Schein.⁶²
In einer Analyse der Fiktionen als das „Aneinanderlegen zweyer Einbildungen“ verliert sich das Verwirrte, die Vermischung an den Grenzen, und es entsteht keine Einheit. Fokussiert der beobachtende Philosoph jedoch ganz aufmerksam den genauen Ort der Vereinigung, vergrößert gewissermaßen stark die ‚Nahtstelle‘ der Einzelvorstellungen, so tritt die eigentliche neue, eben einfache Vorstellung in den Blick. Ebensolche nicht bloß assoziierte, sondern synthetisierte Bilder sind auch die sinnlichen Abstrakta. In der Metaphysik-Vorlesung von 1789 führt Tetens die Methode sei „die beobachtende, die Lock bey dem Verstande, und unsere Psychologen in der Erfahrungs-Seelenlehre befolgt haben“ (iv). Tetens 1777, 116. Tetens 1777, 118.
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sinnliche Abstraktion als grundlegende Funktion der Erkenntniskraft bereits zu Beginn der an den Anfang der Metaphysik gestellten Psychologia empirica ein.⁶³ Es scheint zunächst, als blieben trotz dieser prominenten Position die daraus folgenden Konsequenzen gering. Dieser Eindruck ändert sich zu Beginn der Ontologie, der Tetens ja, wie oben dargestellt, eine zentrale Bedeutung für die Verbesserung der Metaphysik zuweist. Im vierten Kapitel der allgemeinen Philosophie, in dem er die „Begriffe von dem Wirklichseyn“ behandelt, bezieht Tetens die Unterscheidbarkeit des Vorstellbar- und Wirklichseins auf den Unterschied zwischen dem Vorstellen und Empfinden. Dabei ist die „allgemeine Vorstellung von empfunden werden können, empfindbar seyn“ das „Gemeinbild zu unserm allgemeinen Begriff von der Existenz. Ein wirkliches Ding wird vorgestellt als ein empfindbares Ding.“⁶⁴ Das sinnliche Abstraktum ‚Empfindbar-/Wirklichsein‘ ist auch inhaltlich schon eine Vorstufe des Begriffs von Existenz. Bereits im Gemeinbild der Empfindbarkeit wird, so Tetens weiter im selben Paragraphen, von allem abstrahiert, das für den Allgemeinbegriff nicht benötigt wird: kontingente Eigenschaften, die auf der Herkunft aus verschiedenen Sinnen beruhen, ebenso wie subjektive Erfahrungsanteile. Mit dieser sinnlichen Abstraktionsleistung der Einbildungskraft greift Tetens zur Gänze auf unsere Erkenntnis von der objektiven Realität der Dinge aus: „Es bleibt also [in den Gemeinbildern von dem Empfindbar- gleich dem Wirklichsein; MS] nur so viel übrig, als in dem Begriff von Etwas, aber außer der Vorstellung (und unabhängig von der Vorstellung) enthalten ist.“ Dieses Etwas außer der Vorstellung ist, so ergänzt er zu Beginn des nächsten Paragraphen, einerlei mit einem Wirklichen. Mit ihnen produziert das Vorstellungsvermögen die vorbegrifflichen Koordinaten der sinnlichen Wahrnehmung, ohne deren Synthesen reduzierter Komplexität, so schließe ich an meine Ausgangsthese zu Descartes’ Regulae an, nicht nur der menschliche Verstand nicht zum Schluss kommt, sondern letztlich bereits die unendliche Mannigfaltigkeit der Sinnesreize für den endlichen Geist des Menschen nicht handhabbar wäre.
4. Zusammenfassung Die gezeigten Ausschnitte stehen in einem weitgespannten Zusammenhang der philosophiegeschichtlichen Entwicklung der Erkenntnistheorie: Nachdem Des-
Tetens 1789, Psychologia empirica, § 6. Tetens 1789, Allgemeine Philosophie, § 26.
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cartes in dem Bestreben, der Endlichkeit des erkennenden Subjektes bereits im Erkenntnisvermögen selbst Rechnung zu tragen, die Einbildungskraft in den Regulae ad directionem ingenii mit dem Vermögen zur Bildung symbolischer Abkürzungen ausstattet, knüpft dann Alexander Gottlieb Baumgarten an das leibnizsche Projekt einer unhintergehbaren Mannigfaltigkeit als Individualität an. Er reformuliert bekanntlich die Sinnlichkeit als analogon rationis; seine Ästhetik als eigene Wissenschaft des unteren Erkenntnisvermögens wirkt mit an einer „psychologischen Wende“, einer umfassenden Psychologisierung der Metaphysik, die die Seelenlehre in die eigentliche philosophische Leitwissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts transformiert.⁶⁵ Tetens wirkt auf doppelte Weise mit an der Vorgeschichte der Philosophie Kants wie des „Deutschen Idealismus“. Erstens ist er maßgeblich an der Ausarbeitung und Begründung der zentralen Rolle der Einbildungskraft innerhalb der Erkenntnispsychologie des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts beteiligt. Die regelmäßige Bezugnahme darauf, dass die Philosophischen Versuche Kant ständig vor Augen lagen, während er die Kritik der reinen Vernunft verfasste,⁶⁶ nehmen zwar bisweilen Züge eines bequemen Bonmots an, das von der Notwendigkeit einer inhaltlichen Begründung der Tetensschen Bedeutung zu entlasten scheint – doch sind einerseits ja auch Kants große Erwartungen an die Rezeption der Kritik durch Tetens bekannt⁶⁷ wie auch die systematische Parallele in der Behandlung der Einbildungskraft kaum zu übersehen: Kant bindet in seiner transzendentalen Analytik die Möglichkeit der Erfahrung an „die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit derselben in einer transzendentalen Apperzeption“ als „die formalen Bedingungen der Anschauung a priori“ (KrV B 197). Tetens weist der Einbildungskraft nicht nur die traditionelle Rolle des In-ein-Bild-Bringens jeglichen Erfahrungsinhalts zu, sondern geht mittels des über Feder rezipierten Gedankens der Descarteschen sinnlichen Abstraktion darüber hinaus. Die produktive Einbildungskraft Tetensscher Signatur schafft sinnlich abstrahierende Synthesen, deren Vorhandensein überhaupt notwendig ist, um dem Verstand einen Gegenstand präsentieren zu können.
Vgl. Vidal 2000; außerdem die umfangreiche und instruktive Studie Vidal 2006 (engl.: Vidal 2011). Der Hinweis findet sich u. a. bei Uebele 1911, 1: Brief Hamanns an Herder, 17. Mai 1779. In Hamann 1824 ist der Brief enthalten, die Stelle lautet wörtlich (und zeigt nebenbei zugleich auf die Verbindung zu J. G. H. Feder): „Kant arbeitet frisch darauf los an seiner Moral der reinen Vernunft und Tetens liegt immer vor ihm. Er wies mir einen Brief von Feder, den ich fast gar nicht kenne, aber sein Werk über den Willen lesen will“ (83). Vgl. die Briefe an Marcus Herz (11. Mai 1781; AA X, 270) und Christian Garve (7. August 1783; AA X, 341).
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Mir scheint der Vorgang der sinnlichen Abstraktion bei Tetens mit Kants Schema der Einbildungskraft (KrV B 175 – 187) verwandt zu sein. Kant erläutert den Begriff des Hundes als Regel, die es erlaubt, entsprechende vierfüßige Tiere als allgemeine „Gestalt“ zu „verzeichnen“, und damit das empirische Bild eines Hundes überhaupt erst ermöglicht (vgl. KrV B 180 f.). Tetens, so könnte man vielleicht sagen, treibt seine empirische Analyse des Wahrnehmungsvorgangs im Bewusstsein der Notwendigkeit erkenntnisermöglichender Tätigkeiten der produktiven Einbildungskraft so weit, dass sie an Kants Transzendentalismus heranreicht; für ihn nehmen wir qua unmittelbarer sinnlicher Abstraktion im Moment der Wahrnehmung ›immer schon‹ zunächst das sinnlich Allgemeine eines Gegenstandes wahr. Am Anfang der Erkenntnis steht der allgemeine Baum, nicht der individuelle, in dessen „intensiver Mannigfaltigkeit“⁶⁸ – Tetens setzt in seiner Veranschaulichung die Bewegungen, Farbschattierungen und Formen all der einzelnen Blätter in Zusammenhang – sich der Geist verlöre. Für Kant ist die Rezeption der Philosophischen Versuche ein produktiver Abstoßpunkt gewesen,⁶⁹ an vielem konnte er sich wirksam abarbeiten – auch Tetens’ intensive Auseinandersetzung mit David Hume,⁷⁰ eine der profiliertesten deutschsprachigen Rezeptionen der Zeit,⁷¹ dürfte ihn angeregt haben. Bekanntlich hat Kant die Philosophischen Versuche dennoch verworfen: „Tetens untersucht die Begriffe der reinen Vernunft blos subiectiv (Menschliche Natur), ich obiectiv. Jene Analysis ist empirisch diese transcendental.“ (AA XVIII, Reflexionen zur Metaphysik 4901, 23) Mit der Scheidung der „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis“ (KrV B 29) schafft er den Ausgangspunkt, um das für Tetens geltende Paradigma der Erfahrungsseelenlehre zu verlassen. Doch zugleich gewinnt Tetens – und dies ist der zweite weitreichende Einfluss, auch über Kant hinaus – in der Beantwortung der seinerzeit virulenten Frage nach der Grundkraft der menschlichen Seele eine bald nicht mehr nur psychologischerkenntnistheoretische, sondern anthropologische Lesart: Die „innere Selbstthätigkeit der menschlichen Seele“ ist zugleich ihre „Selbstmacht über sich“ und
Tetens 1777, 129. Vgl. die Erwähnung in den Vorarbeiten zu den Prolegomena, Tetens habe Anlass geben können, „über die Möglichkeit solcher Erkentnis a priori“ nachzudenken (AA XXIII, 57). Maßgeblich hinsichtlich der „ursachlichen Verbindung“, Tetens 1777, 312– 327. Vgl. Gawlick/Kreimendahl 1987, einleitend: Tetens stellt neben G. E. Schulze, Salomon Maimon und K. L. Reinhold eine Ausnahme von der allgemeinen „argumentativen Dürftigkeit der Diskussion“ dar, zeichnet sich „den drei vorher Genannten gegenüber dadurch aus, daß er bereits vier Jahre vor dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft die Bedeutung von Humes Kritik am Kausalitätsbegriff voll erkannt“ hat (84 f.). Vgl. ferner für die Analyse der Tetensschen HumeRezeption v. a. Gawlick/Kreimendahl 1987, 94, 104 f. und, zur Theologie, 122– 128.
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die daraus resultierende Freiheit „Eigenheit des Menschen“ überhaupt.⁷² Tetens zufolge ist der Mensch grundsätzlich bestrebt, selbsttätig zu sein, und findet die gegebene Voraussetzung dazu in seiner Einbildungskraft und ihrer Produktivität. Diese Bestimmung des menschlichen Proprium in der Spontaneität der Selbsttätigkeit lässt bald darauf, wie Josef Simon in seiner Studie Wahrheit als Freiheit ausführt,⁷³ die künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeit des Menschen grundsätzlich von der Explikation seiner Person her denkbar werden, und zwar als Tätigkeiten zum Zweck seiner Perfektibilität und Freiheit: Soll Humboldt zufolge „die Einbildungskraft nach Gesetzen produktiv“ gemacht werden, um „die Fülle [der] plastischen Einbildungskraft“ aufzuzeigen, so hat Tetens zuvor bereits auf die Janusköpfigkeit des Zusammenhangs gewiesen – auf das freiheitliche menschliche Tätigsein und Erkennen unter den Bedingungen einer eigengesetzlich synthetisierenden Einbildungskraft.
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Zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis: Die Ablösung der Ästhetik von der Logik bei Kant 1. Einleitung Kant beschließt die Einleitung zu seiner Kritik der reinen Vernunft (1781/87) mit der Unterscheidung der „zwei Stämme“ der menschlichen Erkenntnis: Sinnlichkeit und Verstand, „durch deren ersteren [Stamm] uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden“ (KrV A 15/B 29).¹ Die Untersuchung der Bedingungen, unter denen die Sinnlichkeit die Gegenstände für die Erkenntnis zur Verfügung stellt, soll dabei der Untersuchung des Verstandes vorgehen (vgl. ebd.). Die Transzendentale Ästhetik geht entsprechend der Transzendentalen Logik als eine selbständige Disziplin voraus. Ihre Argumentationsstrategie ist aber, wie die der Transzendentalen Logik, auf die Explikation der gegenseitigen Angewiesenheit zwischen Sinnlichkeit und Verstand gerichtet.² Die prinzipielle Unterscheidung zwischen Ästhetik und Logik als zwei selbständige Disziplinen wird erst durch den Nachweis ihrer eigenen Prinzipien a priori – Raum und Zeit für die Sinnlichkeit und die Kategorien für den Verstand – begründet, und zwar in den Ausführungen zur Transzendentalen Ästhetik und zur Transzendentalen Logik sowie durch die Explikation der Unterschiede zwischen Anschauungen und Begriffen als prinzipiell verschiedene Funktionen des Vorstellungsvermögens. Ein wesentlicher Aspekt der Ausführungen zur Transzendentalen Ästhetik ist die Schilderung der Anschauung in ihrer Funktion des unmittelbaren Beziehens Angaben in eckigen Klammern sind wie auch in den folgenden Zitaten zur Verdeutlichung des Textes von der Autorin hinzugefügt. Zu Anfang der Transzendentalen Logik hebt Kant die gegenseitige Angewiesenheit von Sinnlichkeit und Verstand anhand ihrer Funktionen besonders deutlich hervor, indem er beide Seiten charakterisiert als „die Rezeptivität der Eindrücke, wodurch die Vorstellungen empfunden werden und die Spontaneität der Begriffe, wodurch anhand dieser Vorstellungen ein Gegenstand erkannt wird“ (KrV A 50/B 74). Diese zwei Vermögen oder Fähigkeiten erfüllen nach Kant für sich einzigartige Funktionen, die weder vertauscht, noch vermischt werden dürfen, sondern sich notwendig ergänzen: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d i. sie unter Begriffe zu bringen)“ (KrV A 51/B 75).
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des Erkenntnisvermögens auf Gegenstände. Der Gegenstand als gegeben kann nach Kant, für „uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich [sein], daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere“ (KrV A 19/B 33).³ Hier soll betont werden, dass der Affekt eine Wirkung des Gegenstandes auf das Gemüt ist, d. h. dass der Affekt einen bloßen Bezug auf das Subjekt impliziert, bei dem die Vorstellungskraft nicht involviert ist. Affekte sind somit nach Kant nicht als Teil der Funktion der Sinnlichkeit zu verstehen, sondern nur als Anlass für die Bildung sinnlicher Vorstellungen. Die Funktion der Sinnlichkeit besteht vor allem in einer bestimmten Art des Vorstellens: „Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen [!] durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit“ (KrV A 19/B 33). Die auf die Vorstellungsfähigkeit bezogene Wirkung des Gegenstandes nennt Kant dann nicht mehr Affekt (bzw. ‚Eindruck‘), sondern Empfindung: „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung“ (KrV A 19 – 20/B 34). Diese feine Differenzierung, die so leicht zu übersehen ist, spielt für das Verständnis der Transzendentalen Ästhetik eine besonders wichtige Rolle. Erst durch sie lässt sich die Annahme, dass „die Sinnlichkeit Vorstellungen a priori enthalten sollte“ (KrV A 15/B 29), nachvollziehen und entsprechend die Notwendigkeit einer Transzendentalen Ästhetik als selbständige Disziplin rechtfertigen. Denn die Empfindung wird zwar von der Wirkung des Gegenstandes auf das Gemüt (also von dem Affekt bzw. Eindruck) veranlasst, erfordert aber eine der Sinnlichkeit eigene Funktion, eine solche Wirkung auf das vorstellende Subjekt zu beziehen⁴ und dadurch Vorstellungen von Objekten zu verursachen. Erst dadurch
Eine spezifische Eigenart Kants ist die Verknüpfung von epistemologischen und anthropologischen (aber nicht empirisch-anthropologischen) Perspektiven. In der Transzendentalen Ästhetik findet sich diese Verknüpfung z. B. im Bezug auf die objektive Gültigkeit der euklidischen Geometrie. Nach Kant ist die transzendentale Idealität des euklidischen Raumes, wie auch Martin (1969, 45) bemerkt, anthropologisch begründet: „Die objektive Gültigkeit der euklidischen Geometrie wird sowohl von Leibniz wie von Kant behauptet. Für Leibniz gründet diese […] auf dem Denken Gottes, für Kant gründet sie auf dem Denken des Menschen. Dann bedeutet also die transzendentale Idealität des euklidischen Raumes, daß das Sein des euklidischen Raumes in seinem Gedachtsein besteht, für Leibniz in seinem Gedachtsein durch Gott, für Kant in seinem Gedachtsein durch den Menschen“. Dies wird in den weiteren Ausführungen zur historischen Genese der kantischen Argumentation näher erörtert. Mit der Funktion der Empfindung, die Affekte auf das Subjekt zu beziehen, wird die rezeptive Funktion der Sinnlichkeit nicht vollständig ausgeschöpft. Die Empfindung wird als Vorstellung mit Bewusstsein definiert, „die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustandes bezieht“ (KrV A 329/B 376 – 7) und wird den objektiven Vorstellungen (Anschauungen und Begriffen) entgegengesetzt. Die rezeptive Funktion der Sinnlichkeit, unmittelbare Vorstellungen von Gegenständen zu erhalten, erfordert aber neben dem Bezug der Affekte auf das vorstellende Subjekt durch die Empfindung auch den unmittelbaren Objektbezug durch die Anschauung. Ei-
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können die objektbezogenen ‚empirischen Anschauungen‘ zustande kommen: „Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch“ (KrV A 20/B 34). Die Bildung von Anschauungen stellt einen zweiten Aspekt der Sinnlichkeit dar. Die Anschauung wird zwar von der Empfindung veranlasst, erfordert aber eine weitere der Sinnlichkeit eigene Funktion, die die bloße Wirkung auf das vorstellende Subjekt (die Empfindung) auf ein externes Objekt bezieht. Ohne diese weitere Funktion ist der Gegenstand nicht als Gegenstand bestimmt und ist lediglich auf seine Wirkung (bzw. auf ein Erscheinen) für das Subjekt begrenzt. Daher nennt Kant den Gegenstand in dieser Form ‚Erscheinung‘: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung“ (KrV A 20/B 34).⁵ Diese zur Bestimmung der Erscheinung erforderte Funktion seitens des
nige Kantinterpreten (vgl. Haag 2007, 33) sehen in der Anschauung eine bereits begrifflich vorbestimmte Struktur und schreiben allein der Empfindung die Rezeptivität der Sinnlichkeit und eine gewisse „Führung von außen“ zu, die der holistisch aufgefassten Spontaneität der Begriffe entgegengesetzt werden kann. Im Folgenden soll diese Ansicht etwas relativiert werden, indem dafür argumentiert wird, dass die Rezeptivität der Sinnlichkeit bei Kant notwendigerweise sowohl die Funktion der Empfindung als Subjektbezug durch die Form der Zeit als auch die Funktion der Anschauung als Objektbezug durch die Form des Raumes erfordert. Beide Funktionen konstituieren nach Kant die sinnliche Vorstellung, auch wenn sie für ihre synthetische Einheit, wie noch erörtert wird, auf die logische Funktion angewiesen sind. Die Ausführungen zur gegenseitigen Angewiesenheit von Transzendentaler Ästhetik und Transzendentaler Logik aufeinander in Kants Kritik der reinen Vernunft erfüllen dabei nur die argumentative Funktion, Sinnlichkeit und Verstand als zwei notwendige Teile der Erkenntnis zu explizieren, nicht aber ihre prinzipielle Verschiedenheit in Frage zu stellen, wie im Folgenden gezeigt wird. Das Prädikat ‚unbestimmt‘ könnte die Unbestimmbarkeit des Gegenstandes an sich oder aber seine kategoriale Unbestimmtheit in der sinnlichen Vorstellung bezeichnen (vgl. Vaihinger 1892, 32). Ich würde das Prädikat ‚unbestimmt‘ als auf einen Gegenstand angewendet nur soweit verstehen als der Transzendentale Gegenstand gemeint ist. Kant unterscheidet einen Transzendentalen Gegenstand und einen empirischen Gegenstand. Der erstere ist nach Kant der Anschauung nach unbestimmt: „Der Transzendentale Gegenstand ist, sowohl in Ansehung der inneren [der Zeit] als [auch der] äußeren Anschauung [dem Raum nach], gleich unbekannt“ (KrV A 372). Der empirische Gegenstand dagegen ist bestimmt entweder als innerer oder als äußerer, je nachdem, ob er räumlich oder zeitlich vorgestellt wird: Der empirische Gegenstand heißt „ein äußerer […] wenn er im Raume, und ein innerer Gegenstand, wenn er lediglich im Zeitverhältnisse vorgestellet wird“ (KrV A 373). Wenn Kant also sagt: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung, heißt Erscheinung“ (KrV A 20/B 34), meint er, dass vor der Bestimmung der Materie der Empfindung (der Affekte) durch die Form von Zeit und Raum der Gegenstand als solcher noch nicht gegeben ist, sondern für das Subjekt nur „erscheint“. Er wird erst durch seine Bestimmung in Raum und Zeit als wirklich vorgestellt bzw. als Gegenstand gegeben: „Empfindung ist also dasjenige, was eine Wirklichkeit [!] im Raume und der Zeit bezeichnet, nachdem [!] sie auf die eine, oder auf die andere Art [räumliche oder zeitliche] der sinnlichen Anschauung bezogen wird“ (KrV A 373 – 4).
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vorstellenden Subjektes wäre nicht erforderlich, wenn die Rezeptivität des Subjekts bloß auf das Affiziertsein des Gemüts zu reduzieren wäre. Wäre nicht von Empfindung die Rede, sondern bliebe es beim Affiziertsein, würde keine weitere Tätigkeit wie Vorstellen oder Erkennen seitens des affizierten Subjekts vorausgesetzt. Der Bezug auf die Vorstellungskraft und somit auf das Erkenntnisvermögen setzt nämlich nicht nur den von der Empfindung vermittelten Affekt voraus (als Materie sinnlicher Vorstellungen), sondern auch die zwei Funktionen des vorstellenden Subjektes, wodurch die auf das Subjekt bezogenen Affekte zum einen auf das Vorstellungsvermögen bezogen werden,⁶ und zum zweiten als zu etwas von dem Subjekt Verschiedenen gehörig vorgestellt werden. Das Objekt der Vorstellung wird so als vom vorstellenden Subjekt getrennt vorgestellt und kann dadurch als ein bestimmter Gegenstand erkannt werden. In der folgenden Argumentation wird erläutert, wie der Objektbezug durch den äußeren Sinn (den Raum) als eine subjektiv bestimmte Funktion des Gemütes genau hergestellt wird und wie die Einsicht in diese besondere Beschaffenheit des Raumes, den Objektbezug der sinnlichen Vorstellung zu ermöglichen, zur Ablösung der Ästhetik von der Logik führt. Dabei werden die Gründe expliziert, die Kant dazu veranlassen, eine von dem bloßen Subjektbezug der Affekte unabhängige Funktion vorauszusetzen, die er dann in Abgrenzung zu der von den Affekten für die Bildung von Empfindungen gelieferten Materie als die Form vorstellt, „worinnen sich die Empfindungen allein ordnen“ (KrV A 20/B 34). Dem Begriff der Form, wodurch der Materie der Empfindung (d. h. den Affekten) eine Ordnung gegeben wird, schreibt Kant das Prädikat ‚rein‘ zu: „Ich nenne alle Vorstellungen rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was [inhaltlich] zur Empfindung gehört, angetroffen wird“ (KrVA 20/B 34). Die reine Form der sinnlichen Anschauung wird von Kant dann ‚reine Anschauung‘ genannt: „Diese reine Form der Sinnlichkeit wird auch selber reine Anschauung heißen“ (KrV A 20/B 34 f.). Die Auffassung der reinen Anschauung ist ohne Einsicht in Kants Theorie des sinnlichen Objektbezugs problematisch. Wenn Kant nämlich behauptet, dass die Anschauung einerseits nur dann möglich ist, „so fern uns der Gegenstand gegeben wird“ (KrV A 19/B 33), dass andererseits die reine Anschauung aber „a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet“ (KrV A 21/B 35), dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der reinen Anschauung und ihrem Gegenstand. Wird die Anschauung als diejenige Vorstellung definiert, die sich unmit-
In den weiteren Ausführungen der Kritik wird Kant diese Funktion auch Apprehension nennen, vgl. dazu KrV A 98 – 100.
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telbar auf Gegenstände bezieht, so scheint es problematisch, die Form der Anschauung, die sich auf keinen wirklichen Gegenstand bezieht, selbst als Anschauung zu bezeichnen. Wir werden in den weiteren Ausführungen sehen, dass angesichts der Annahme reiner Anschauung der unmittelbare Gegenstandsbezug a priori derjenigen Funktion des sinnlichen Vorstellungsvermögens zu verdanken ist, die das Objekt von dem vorstellenden Subjekt trennt, nämlich der Funktion des äußeren Sinnes (des Raumes), a priori Objektbezug herzustellen. Denn erst durch diese Funktion wird die Möglichkeit eines Gegenstands der reinen Anschauung plausibel. Der vorliegende Beitrag nimmt seinen Ausgang von der doppelten Funktion der sinnlichen Vorstellung: 1. Die Funktion, sinnliche Eindrücke auf das vorstellende Subjekt zu beziehen, was durch Aufnahme der Eindrücke in den inneren Sinn geschieht und von Kant Empfindung genannt wird; 2. Die Funktion, Empfindungen von den bloß subjektiven Vorstellungen zu trennen und durch den äußeren Sinn auf ein dem Subjekt externes Objekt zu beziehen. Die These lautet, dass Kants Auffassung des äußeren Sinnes als a priori gegebene Form der Anschauung mit der Funktion, sinnliche Vorstellungen von Objekten zu ermöglichen, sich einer kontinuierlichen argumentativen Entwicklung der kantischen Raumlehre verdankt, die dazu führt, dass die Ästhetik nicht mehr wie bei früheren Autoren nur graduell, sondern auch prinzipiell von der Logik zu unterscheiden ist. Im Folgenden sollen nach einer kurzen Skizze der historischen Hintergründe die drei wichtigsten argumentativen Stufen dieser Entwicklung anhand der drei Schriften Kants Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768), seiner Inauguraldissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770) und der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) vorgestellt werden.
2. Historische Genese der Argumentation Dem Verstande bezeigt jedermann alle Achtung, wie auch die Benennung desselben als o b e r e n Erkenntnisvermögens es schon anzeigt; […]. Aber die Sinnlichkeit ist in üblem Ruf. Man sagt ihr viel Schlimmes nach: z. B. 1) daß sie die Vorstellungskraft v e r w i r r e ; 2) daß sie das große Wort führe und als H e r r s c h e r i n , da sie doch nur die D i e n e r i n des Verstandes sein sollte, halsstarrig und schwer zu bändigen sei; 3) daß sie sogar b e t r ü g e und man in Ansehung ihrer nicht genug auf seiner Hut sein könne (AA VII, 143).
Mit dieser Feststellung beginnt Kants Apologie der Sinnlichkeit in dem erkenntnistheoretischen Teil seines 1798 erschienenen Werks Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Das Erkenntnisvermögen, das 17 Jahre zuvor in der ersten Kritik aus einer transzendentalphilosophischen Perspektive (durch die Frage nach den Bedingungen seiner Möglichkeit) kritisch untersucht wurde, wird hier noch ein-
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mal aus einer bloß empirisch-psychologischen Perspektive betrachtet.Während in der Kritik der reinen Vernunft die Sinnlichkeit als eine der „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis“ eingeführt wird und ihr eigene Prinzipien zugeschrieben werden, scheint in der Anthropologie als Ausgangspunkt eine Apologie ihrer Verdienste zu genügen. Denn aus einer bloß psychologischen Perspektive kann der prinzipielle Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand nicht wirklich ermittelt werden. Beide Vermögen wurden bis zu Kants sogenannter „Transzendentalen Wende“, die diese psychologische Perspektive verlässt, als bloß graduell voneinander unterschieden. Im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts wird der Verstand allgemein als das Vermögen zu empfinden und zu denken definiert. So etwa steht im Philosophischen Lexikon von Georg Friedrich Walch von 1726 im Artikel „Verstand des Menschen“: „Wir nennen ihn [den Verstand] eine Fähigkeit der Seelen, zu empfinden und auf menschliche Art zu denken.“⁷ Sowohl das Empfinden durch die Sinne als auch das Denken werden als zwei Kräfte des Verstandes aufgefasst. In dem Artikel über die Sinne⁸ werden diese aus drei Perspektiven analysiert: aus einer physischen, aus einer logischen und aus einer moralischen. Interessant ist bei der logischen Betrachtung der Sinne, dass ihnen die Funktion sinnlicher Erkenntnis zugeschrieben wird: Die logische Betrachtung der Sinnen zeiget 1) wie die sinnliche Erkänntnis an sich beschaffen […] auch 2) was sie zur Erkänntnis der Wahrheit beytragen. Dieses ist zweyerley. Denn einmal legen sie den Grund zu allen Gedancken, folglich auch zu den wahren Gedancken des Judicii. Durch die Empfindung bekommen wir alle Ideen; die Ideen aber sind die Objecta, womit sich der Verstand beschäfftiget, ohne welchen auch das Judiccium nicht würcken kann. Wie nun der Anfang aller unserer Erkänntnis die Empfindung ist; also müssen wir auch bey derselben stehen bleiben, und dürfen keinen Beweis über dieselbige suchen, noch verlangen.⁹
Im Gegensatz zum Cartesianischen Skeptizismus erfüllen die Sinne die Funktion eines „Grund[es] der Gewissheit“: „Wenn also die Cartesianer den Sinnen ihre Gewißheit absprechen, so irren sie, und legen damit den Grund zu dem Scepticismo. Der Ursprung dieses Irrthums ist, daß man die Urtheile mit der Empfindung verwirret.“¹⁰ Es wird zwischen dem Empfinden und dem Urteil darüber streng unterschieden. Ein Irrtum kann höchstens durch ein Urteil über die
Walch 1726, 2699 – 2700. Walch 1726, 2365 – 2373. Walch 1726, 2367– 69. Der Begriff „Idee“ wird in der deutschen Frühaufklärung vorwiegend in der Bedeutung von Inhalt empirischer Empfindungen verwendet. Zum frühneuzeitlichen Kontext des Ideenbegriffs vgl. Haag 2007, 18 – 23; Perler/Haag 2010. Walch 1726, 2368.
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Empfindung bzw. durch ihre Deutung, nicht aber durch die Empfindung selbst zustande kommen. Die Empfindungen bilden die Grundlage jedes Urteils, brauchen aber im Unterschied zu den Urteilen keinen Beweis, weil sie an sich gewiss sind. Die sinnliche Erkenntnis zeichnet sich laut Walchs Lexikon durch drei Merkmale aus: 1. sie ist allen Menschen gemeinsam, 2. Sie ist unvollkommen, weil sie nur gewisse Eigenschaften, nicht aber das Wesen der Dinge erfassen kann (wofür eine höhere Erkenntnis erforderlich ist) und 3. sie ist „confus und verwirrt“, weil sie über kein ordnungsstiftendes Prinzip verfügt. Das Fehlen eines solchen ordnenden Prinzips sowie die daraus folgende Angewiesenheit auf die Urteile und Begriffe des Verstandes verdeutlichen, warum Sinnlichkeit als integraler Teil des Verstandes begriffen wurde. Auch Christian Wolff stellt in seiner Logik von 1712 Empfinden und Denken in einem engen Verhältnis zueinander dar. Empfindungen definiert er als „Gedancken von uns gegenwärtigen Dingen“.¹¹ Wolff macht auch keinen prinzipiellen Unterschied zwischen sinnlichen und verstandesmäßigen bzw. diskursiven Vorstellungen: „Einen Begrif nenne ich eine jede Vorstellung einer Sache in unseren Gedancken. Z. E. Ich habe einen Begrif von der Sonne, wenn ich mir dieselbe in meinen Gedancken vorstellen kann, entweder durch ein Bild, als wenn ich sie gegenwärtig sähe, oder durch bloße Worte“.¹² Die systematische Weiterführung der Logik durch Alexander Gottlieb Baumgarten führt von der Unterscheidung der Vorstellungen nach dem Grad ihrer Erkenntnis der Gegenstände zur Unterscheidung von zwei Erkenntnisvermögen – oberes und unteres –, wodurch entsprechend auch zwischen sinnlicher und logischer Urteilskraft differenziert wird. So führt Baumgarten angesichts sinnlicher Urteile eine neue Disziplin innerhalb des unteren Erkenntnisvermögens ein, die dazu beitragen soll, das Vermögen, über Empfindungen zu urteilen, auszubilden bzw. zu einer Kunst zu entwickeln.¹³ Diese Disziplin, die Baumgarten als Ästhetik benennt, wird von Kant auf zwei verschiedenen Ebenen weiter entwickelt. Während Kant in seiner ersten Kritik die Prinzipien der Möglichkeit solcher Urteile untersucht, sofern diese konstitutiver Teil des Erkenntnisvermögens sind, untersucht er in der dritten Kritik die Bedingungen der Möglichkeit solcher Urteile an sich, sofern diese unabhängig vom Erkenntnisvermögen möglich sind. Die wesentlichen Anregungen für die Ablösung der Ästhetik von der Logik als unabhängige Disziplin mit eigenen Prinzipien ergeben sich durch Kants Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit eines synthetischen Begriffs von
Wolff 1978, 123. Ebd. Baumgarten 1983, 56 – 57.
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Raum. Erst durch die Beschäftigung mit diesem Problem gelingt Kant die Einsicht in die Rolle der Ästhetik als eigenständiger und konstitutiver Teil des Erkenntnisvermögens. Einen wichtigen Ausgangspunkt spielt dabei die Auseinandersetzung Kants mit den Raumauffassungen von Leibniz und Newton.¹⁴ Es geht um die Frage, ob die räumlichen Strukturen, in Anlehnung an Leibniz, allein auf der Beziehung zwischen den Teilen eines Dinges (bzw. eines Dinges zu einem anderen) beruhen, oder ob ein absoluter leerer Raum, wie ihn Newton versteht, angenommen werden sollte – wie eine Art Behälter, in dem sich die Dinge befinden. Ferner stellt sich die Anschlussfrage, ob einem absoluten Raum eine von den Dingen unabhängige objektive Realität zugeschrieben werden sollte, die als ein realer Erkenntnisgrund für die synthetische Beziehung von sonst voneinander unabhängig wahrgenommenen Dingen angesehen werden kann. Kant beginnt relativ früh die Bedeutung dieser Problematik zu erkennen. Bereits 1758 stellt er in der kleinen Schrift Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe fest, dass für das Verständnis der Begriffe von Bewegung und Ruhe zuerst die Beziehung der Dinge zu räumlichen Strukturen bzw. „der Ort eines Dinges“ (AA II, 16) erforderlich ist.¹⁵ Mit der relationalen Auffassung des Raumes, so wie ihn Leibniz versteht, lassen sich räumliche Verhältnisse gut erklären. Denn für ihre Bestimmung ist nichts anderes als die Position der Dinge oder ihrer Teile zueinander erforderlich. Kant stellt aber fest, dass die relationale Raumauffassung alleine nicht ausreicht, sofern nach der Bewegung oder der Ruhe der Dinge gefragt wird; denn die Bestimmung, ob ein Ding sich in Bewegung oder in Ruhe befindet, ist abhängig von der Beziehung des relational aufgefassten Raumverhältnisses zu anderen, externen Bezugsystemen. An diesem Punkt erkennt Kant zwar das Problem, eine Lösung findet er aber erst 1768 mit der kleinen Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume, in der Kant die Frage nach einer Begründung der Möglichkeit synthetischer Urteile über den Raum behandelt. Das Ergebnis dieser Untersuchung besteht darin, dass Kant weder die leibnizsche, noch die Raumauffassung von Newton als Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile über den Raum befriedigend findet, sondern für die Be Für eine Orientierung zu Leibniz’ rationalistischer gegenüber Newtons realistischer Position vgl. Clarke 1990. Auf diesen ersten Hinweis macht auch Menzel 1911 aufmerksam: „Besonders hatte der „Neue Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe“ eine Reihe von Betrachtungen angeschlagen, die, mit der nötigen Konsequenz verfolgt, auf den Begriff des absoluten Raumes in ähnlichem Sinne führen müssen, wie es die gegenwärtige Schrift [Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume] wirklich tut“ (194). Durch die Analyse der Stellung der Mathematik in Kants vorkritischer Philosophie gibt Menzels Aufsatz überhaupt einen guten Überblick über die Entwicklung der Raumproblematik in den vorkritischen Schriften Kants und den Weg zur Bildung der kritischen Gedanken wie beispielsweise die Theorie der Phänomenalität.
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dingung ihrer Möglichkeit einen subjektiven Grund herausfindet, nämlich den Bezug der sinnlichen Wahrnehmung zur Geometrie. Mit der Schrift von 1768 wird das erste Argument (von insgesamt dreien) für die Ablösung der Sinnlichkeit von dem Verstand entwickelt, indem die Sinnlichkeit mit der Anbindung an die Geometrie eine selbständige Qualität gewinnt.Während das erste Argument die Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile über den Raum untersucht, richtet sich das zweite Argument, das sich in Kants Inauguraldissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis von 1770 befindet, auf die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit synthetischer Urteile über den Raum a priori. Das Ergebnis besteht in dem Nachweis von zwei prinzipiell verschiedenen Vorstellungsarten: die Anschauung und der Begriff. Mit dem dritten Argument schließlich, das sich in Kants Kritik der reinen Vernunft von 1781/87 identifizieren lässt, wird die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori überhaupt gestellt. Das Ergebnis besteht hier im Nachweis der wechselseitigen Abhängigkeit der zwei prinzipiell verschiedenen Vorstellungsarten Anschauung und Begriff. Im Folgenden werden die wesentlichen Aspekte dieser drei Argumente vorgestellt, die zum Nachweis der prinzipiellen Selbständigkeit der Ästhetik als Disziplin neben der Logik beitragen.
2.1 Das Argument von 1768: Geometrie als Grundlage sinnlicher Wahrnehmung Wie bereits erwähnt lässt sich ein erster Hinweis auf Überlegungen, die über die relationale Raumauffassung hinaus weisen, bereits 1758 in Ansehung der mechanischen Begriffe von Ruhe und Bewegung finden. Wenn nach der Bewegung oder der Ruhe der Dinge gefragt wird, dann reicht die relationale Raumauffassung für eine Antwort alleine nicht aus: Die Bestimmung, ob ein Ding sich in Bewegung oder in Ruhe befindet, ist vom Verhältnis des relational aufgefassten Raumverhältnisses zu anderen, externen Bezugsystemen abhängig. Diese unzureichende Erklärungskraft einer rein relationalen Raumauffassung angesichts des auf Bewegung ausgerichteten, mechanischen Raumbegriffs führt Kant zehn Jahre später in der kleinen Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768) zur Entdeckung einer von den Begriffen des Verstandes unabhängigen und prinzipiell unterschiedenen Qualität der sinnlichen Wahrnehmung. Ausgangspunkt dieser Schrift ist die Unterscheidung zweier Raumbegriffe: Lage und Gegend. Im ersten Fall handelt es sich um ein rein relational aufgefasstes Raumverständnis. Der Begriff der Lage wird als die „Beziehung eines Dinges im Raume auf das andere“ (AA II, 377) aufgefasst. So wird der Raum hier aus den bloßen Verhältnissen seiner Teile zueinander gewonnen, was ein analytisches
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Verfahren impliziert. Im zweiten Fall wird dagegen ein von den Dingen unabhängiger absoluter Raum angenommen, der als Maßstab für den synthetischen Bezug verschiedener Lagenverhältnisse aufeinander dient. Der Begriff der Gegend besteht daher „in dem Verhältnisse des Systems dieser Lagen zu dem absoluten Weltraume.“ (ebd.). Die zwei Begriffe stehen also in einem unmittelbaren Zusammenhang und man könnte sie unabhängig von der Terminologie Kants als ‚Raum erster Ordnung‘ und ‚Raum zweiter Ordnung‘ bezeichnen, wobei der erste sich auf einen Raum der Körper bezieht, der zweite aber einen reflektierten Raum, d. h. einen Raum der Räume überhaupt erfordert.¹⁶ Nach dieser terminologischen Unterscheidung stellt Kant fest, dass epistemologisch gesehen nur die erste Art von Raum (die Lage) erkennbar ist, da sie analytisch aus dem Wahrgenommenen gewonnen wird, die zweite (die Gegend) dagegen nicht, da ihre Erkennbarkeit von einer Raumvorstellung abhängt, die eine synthetische Verbindung aller Teilräume bzw. aller Lagen erfordern würde: Bei allem Ausgedehnten ist die Lage seiner Theile gegen einander aus ihm selbst hinreichend zu erkennen [d. h. analytisch zu gewinnen], die Gegend aber, wohin diese Ordnung der Theile gerichtet ist, bezieht sich auf den Raum außer demselben und zwar nicht auf dessen Örter, weil dieses nichts anders sein würde, als die Lage eben derselben Theile in einem äußeren Verhältniß, sondern auf den allgemeinen Raum als eine Einheit, wovon jede Ausdehnung wie ein Theil angesehen werden muß [d. h. synthetisch verbunden werden muss] (AA II, 377– 8).
Auf der einen Seite fehlt ein realer Grund für einen solchen synthetischen Raumbegriff wie den der Gegend; auf der anderen Seite sieht sich Kant durch theoretische Arbeiten zur Mechanik wie z. B. von Leonard Euler, die ohne den synthetischen Begriff des absoluten Raumes von Newton nicht auskommen, gezwungen, nach einer realen Begründung derartiger synthetischer Urteile über den Raum zu suchen. An diesem Punkt macht Kant einen für seine weitere Theoriebildung entscheidenden Schritt. Er sieht sein Ziel darin, die Legitimität der Annahme eines absoluten Raumes dadurch zu beweisen, dass er ihn als einen erkenntnistheoretischen Begriff auffasst, der unabhängig von der Realität der Dinge als erster Grund für eine synthetische Erkenntnis derselben betrachtet wird: daß mein Zweck in dieser Abhandlung sei, zu versuchen, ob nicht in den anschauenden Urtheilen der Ausdehnung, dergleichen die Meßkunst enthält, ein evidenter Beweis zu finden sei: daß der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe (AA II, 378).
Damit wird die von Newton gemachte Unterscheidung zwischen relativem Raum und absolutem Raum angedeutet. Zu diesem Unterschied vgl. Newton 1988.
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Damit überführt Kant die ontologische Untersuchung des Raumes in eine erkenntnistheoretische. Die Realität des absoluten Raumes wird so zu einer Bedingung für real begründete Erkenntnis, nicht Folge davon. Die von Kant vorgenommene philosophische Untersuchung wird nicht auf den diskursiven Urteilen der Metaphysik beruhen, sondern der Beweis für den absoluten Raum wird geometrisch, d. h. „in den anschauenden Urtheilen der Ausdehnung, dergleichen die Meßkunst enthält“, gesucht (ebd.). Einen solchen Beweis glaubt Kant in dem Verhältnis des wahrnehmenden Subjektes zu seinem Körper zu finden: In dem körperlichen Raume lassen sich wegen seiner drei Abmessungen drei Flächen denken, die einander insgesammt rechtwinklicht schneiden. Da wir alles, was außer uns ist, durch die Sinnen nur in so fern kennen, als es in Beziehung auf uns selbst steht, so ist kein Wunder, daß wir von dem Verhältniß dieser Durchschnittsflächen zu unserem Körper den ersten Grund hernehmen, den Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen (AA II, 378 f.).
Das wahrnehmende Subjekt bezieht also ein dreidimensionales Koordinatensystem, das aus der Geometrie entnommen worden ist, auf seinen von sich wahrgenommenen Körper und gewinnt dadurch ein Bezugssystem, an dem es die räumlichen Verhältnisse der Dinge, die es wahrnimmt, synthetisch, d. h. nicht allein aufgrund ihrer Lage, bestimmen kann. Durch dieses Beziehen einer geometrischen dreidimensionalen Struktur auf den eigenen Körper werden drei Grundbestimmungen gewonnen: Die Fläche, worauf die Länge unseres Körpers senkrecht steht, heißt in Ansehung unser horizontal; und diese Horizontalfläche giebt Anlaß zu dem Unterschiede der Gegenden, die wir durch Oben und Unten bezeichnen [1]. Auf dieser Fläche können zwei andere senkrecht stehen und sich zugleich rechtwinklicht durchkreuzen, so daß die Länge des menschlichen Körpers in der Linie des Durchschnitts gedacht wird. Die eine dieser Verticalflächen theilt den Körper in zwei äußerlich ähnliche Hälften und giebt den Grund des Unterschiedes der rechten und linken Seite ab [2], die andere, welche auf ihr perpendicular steht, macht, daß wir den Begriff der vorderen und hinteren Seite haben können [3] (AA II, 379).
Diese drei räumlichen Grundbestimmungen – oben/unten, rechts/links, vorne/ hinten – ermöglichen also erst, dass räumliche Verhältnisse nicht allein als auf ihre internen Relationen bzw. Lagen begrenzt betrachtet werden, sondern auch synthetisch durch die gefundenen Grundbestimmungen in Verhältnis zu einem externen Bezugsystem bzw. zu einer Gegend gebracht werden können. Dies erläutert Kant an dem Beispiel eines beschriebenen Blattes: „Bei einem beschriebenen Blatte z.E. unterscheiden wir zuerst die obere von der unteren Seite der Schrift, wir bemerken den Unterschied der vorderen und hintern Seite, und dann sehen wir auf die Lage der Schriftzüge von der Linken gegen die Rechte oder umgekehrt.“ (ebd.). Das Blatt in seiner internen Struktur und seinen internen
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Relationen wie z. B. Buchstaben oder Bilder, die sich auf dem Blatt befinden, bleiben an sich immer die gleichen und hängen von keinem externen Bezugsystem ab. Die Beurteilung der räumlichen Verhältnisse dieses Blattes in Bezug auf ein externes System, hier auf den Körper des wahrnehmenden Subjektes, geht aber notwendigerweise über die Beschaffenheit des Blattes an sich hinaus. Denn die Prädikate ‚oben‘ oder ‚unten‘, ‚links‘ oder ‚rechts‘, ‚vorne‘ oder ‚hinten‘ werden nur durch die Beziehung des Blattes zu dem Körper des wahrnehmenden Subjektes bestimmt und die Bestimmung durch das jeweilige Prädikat wird verändert, wenn entsprechend auch die Beziehung zu dem Bezugssystem verändert wird: aber der Unterschied der Gegenden kommt bei dieser Vorstellung [des Blattes] so sehr in Anschlag und ist mit dem Eindrucke, den der sichtbare Gegenstand macht, so genau verbunden: daß eben dieselbe Schrift, auf solche Weise gesehen, daß alles von der Rechten gegen die Linke gekehrt wird, was vorher die entgegengesetzte Gegend hielt, unkenntlich wird (ebd.).
Die synthetische Funktion des absoluten Raumes wird dadurch auf ein in den Körper des wahrnehmenden Subjektes gelegtes und daher gefühltes¹⁷ Koordinatensystem reduziert. Der absolute Raum wird zu einem geometrischen Begriff erklärt, der die Funktion der Wahrnehmung auf eine besondere Art und Weise bestimmt. Denn als Konsequenz aus der Verbindung der sinnlichen Wahrnehmung mit der geometrischen Anschauung ergibt sich eine Wahrnehmung höherer Ordnung: durch den Bezug verschiedener zweidimensionaler Wahrnehmungen des eigenen Körpers (Flächen) aufeinander wurde dem Körper eine Dreidimensionalität (oben/unten, rechts/links, hinten/vorne) verliehen. Den qualitativen Unterschied, den eine solche dreidimensionale Wahrnehmung im Unterschied zu den logischen Vorstellungen des Verstandes auszeichnet, findet Kant anhand der Entdeckung „inkongruenter Gegenstücke“ wie der linken und rechten Hand heraus. Durch eine bloß zweidimensionale Wahrnehmung bzw. durch eine bloß relationale Raumauffassung werden „inkongruente Gegenstücke“ als identisch wahrgenommen und nicht voneinander unterschieden: das gemeinste und klärste Beispiel haben wir an den Gliedmaßen des menschlichen Körpers, welche gegen die Verticalfläche desselben symmetrisch geordnet sind. Die rechte Hand ist
Den intuitiven Charakter dieses als in den Körper gelegt gedachten Koordinatensystems betont Kant mit einer anthropologischen Begründung, indem er es als Gefühl bezeichnet, das in der Natur des Menschen fest verankert ist: „Da das verschiedene Gefühl der rechten und linken Seite zum Urtheil der Gegenden von so großer Nothwendigkeit ist, so hat die Natur es zugleich an die mechanische Einrichtung des menschlichen Körpers geknüpft,vermittelst deren die eine, nämlich die rechte Seite, einen ungezweifelten Vorzug der Gewandtheit und vielleicht auch der Stärke vor der linken hat.“ (AA II, 380).
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der linken ähnlich und gleich, und wenn man bloß auf eine derselben allein sieht, auf die Proportion und Lage der Theile unter einander und auf die Größe des Ganzen, so muß eine vollständige Beschreibung der einen in allen Stücken auch von der andern gelten (AA II, 381).
Die erkenntnistheoretische Funktion, die durch die Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und geometrischer Anschauung ermöglicht wird, bringt wiederum eine qualitativ neue Komponente des sinnlichen Erkenntnisvermögens ins Spiel, die sich vom Verstand nicht bloß graduell unterscheidet, sondern Aspekte der Dinge erfassen kann, die der Verstand alleine nicht bestimmen könnte. Die synthetische Raumauffassung, die der Bezug der sinnlichen Wahrnehmung auf die geometrische Anschauung ermöglicht und die dadurch eine subjektiv bedingte Raumauffassung darstellt, erweist sich also als ein Erkenntnisinstrument, um reale Unterschiede zu erfassen, die relational bzw. analytisch nicht erfassbar wären: Es ist hieraus klar: daß nicht die Bestimmungen des Raumes Folgen von den Lagen der Theile der Materie gegen einander, sondern diese Folgen von jenen sind, und daß also in der Beschaffenheit der Körper Unterschiede angetroffen werden können und zwar wahre Unterschiede, die sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen, weil nur durch ihn das Verhältniß körperlicher Dinge möglich ist, und daß, weil der absolute Raum kein Gegenstand einer äußeren Empfindung, sondern ein Grundbegriff ist, der alle dieselbe zuerst möglich macht, wir dasjenige, was in der Gestalt eines Körpers lediglich die Beziehung auf den reinen Raum angeht, nur durch die Gegenhaltung mit andern Körpern vernehmen können (AA II, 383).
Mit diesem ersten Argument für die prinzipielle Verschiedenheit der sinnlichen Vorstellungen und deren Bezug zur Geometrie von den diskursiven Vorstellungen des Verstandes wird die Grundlage für die kantische Trennung zwischen Ästhetik und Logik gelegt.
2.2 Das Argument von 1770: Die Zwei-Welten-Theorie Die Entdeckung von Qualitäten der sinnlichen Vorstellung, die durch den Bezug der Wahrnehmung auf die Geometrie über das Vermögen der logischen Vorstellung hinausgehen, führt 1770 zu der These einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen Verstand und Sinnlichkeit. Entsprechend richtet sich das Interesse der Inauguraldissertation Kants De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis in erster Linie auf die Untersuchung des Unterschiedes zwischen 1. dem begrifflichen Denken und 2. dem anschaulichen Vorstellen: „Aliud enim est, datis partibus compositionem totius sibi concipere, per notionem abstractam intellectus [1], aliud, hanc notionem generalem, tanquam rationis quoddam problema,
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exsequi per facultatem cognoscendi sensitivam, h.e. in concreto eandem sibi repraesentare intuitu distincto [2]“ (AA II, 387).¹⁸ Dieser Unterschied stellt die Erkenntnis eines Gegenstandes angesichts ihrer zweifachen subjektiv begründeten Erzeugung aus der Natur des Erkenntnisvermögens dar. Der erkannte Gegenstand kann entsprechend auf zweifache Art vorgestellt werden.¹⁹ Seine Vorstellung kann analytisch bis zur kleinsten Teilvorstellung, d. h. bis zum Einfachen zergliedert werden oder synthetisch bis zur größten Ganzvorstellung, d. h. bis zum Weltbegriff überhaupt²⁰ erweitert werden: „In composito substantiali, quemadmodum analysis non terminatur nisi parte quae non est totum, h.e. SIMPLICI, ita synthesis nonnisi toto quod non est pars, i. e. MUNDO“ (ebd.). Durch den Unterschied zwischen Denken und Anschauen als die zwei subjektiv begründeten Erkenntnisvermögen wird der objektiven Beschaffenheit²¹ des Erkenntnisgegenstandes, synthetisch oder analytisch vorstellbar zu sein, eine zweifache Bedeutung verliehen: Vocibus analysis et synthesis duplex significatus communiter tribuitur. Nempe synthesis est vel qualitativa, progressus in serie subordinatorum a ratione ad rationatum, vel quantitativa, progressus in serie coordinatorum a parte data per illius complementa ad totum. Pari modo analysis, priori sensu sumpta, est regressus a rationato ad rationem, posteriori autem significatu regressus a toto ad partes ipsius possibiles s. mediatas, h.e. partium partes, adeoque non est divisio, sed subdivisio compositi dati (AA II, 388).
Die Zitierweise der Stellen aus der Inauguraldissertation wird wie in der Sekundärliteratur üblich auf den lateinischen Text bezogen, wodurch die besondere Terminologie, die Kant verwendet, analysiert werden kann. Diese zweifache Art der Vorstellung wird hier von Kant als das Verhältnis zwischen den Teilen einer Vorstellung und der ganzen Vorstellung selbst verstanden, später jedoch wird dieses Verhältnis als eines zwischen Form und Inhalt einer Vorstellung erklärt. Damit ist ein wichtiger Punkt angesprochen, denn die Erklärung der Möglichkeit der Form einer Vorstellung aus einem subjektiven Grund wird dann zu einer der wichtigsten Intentionen der Transzendentalphilosophie werden. Daraus, dass Kant hier einerseits die höchste synthetische Einheit einer Vorstellung ‚Welt‘ nennt, andererseits aber noch in der Titulierung einer Sinnenwelt und einer Verstandeswelt unterscheidet, ist die Hauptintention der Schrift zu entnehmen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand als zwei grundsätzlich verschiedene Vorstellungsarten darzustellen. Der Unterschied zwischen ihnen liegt, wie wir noch sehen werden, darin, dass die jeweilige synthetische Einheit bzw. Form auf unterschiedlichen Prinzipien beruht: die der Sinnlichkeit auf quantitativen, die des Verstandes auf qualitativen. Hier spreche ich von der ‚objektiven Beschaffenheit‘ des Erkenntnisgegenstandes im Gegensatz zu dem subjektiven Ursprung der Erkenntnis selbst, und beziehe mich damit auf die Entgegensetzung zwischen „den Merkmalen [das Einfache und die Welt], die zur genauen Erkenntnis des Gegenstandes gehören“ und der „doppelte[n] [d. h. begrifflichen und anschaulichen] Erzeugung desselben aus der Natur des Erkenntnisvermögen“ (AA II, 387).
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Im Denken ist demnach das synthetische und analytische Vorstellen als qualitativ zu verstehen, d. h. das Vorstellen beruht hier auf der Subordination (Unterordnung) der einzelnen Vorstellungsteile unter eine allgemeine begriffliche Vorstellung; Kant bezeichnet diese Beziehung als eine zwischen Grund und Begründetem. Das synthetische und analytische Vorstellen in der Anschauung dagegen wird als quantitativ dargestellt. Das Verhältnis der einzelnen Vorstellungsteile zu der ganzen anschaulichen Vorstellung beruht auf der Koordination (Beiordnung) der einzelnen Vorstellungsteile innerhalb der konkreten Anschauung, welche Beziehung als eine zwischen Teil und Ganzem aufgefasst wird. Den Unterschied zwischen qualitativer und der quantitativer Vorstellungsart eines Gegenstandes zeigt Kant am Beispiel der Begriffe des Stetigen und des Unendlichen. Wir haben eben gesehen, dass die Vorstellung eines Gegenstandes analytisch verfährt, um so die kleinsten Teilvorstellungen zu erreichen, oder aber synthetisch, wodurch die Vorstellung in ihrer Ganzheit erreicht wird. Im ersten Fall (des analytischen Verfahrens) wird die quantitative Vorstellung einer stetigen Größe unmöglich, da es bei dem Rückgang von der ganzen Vorstellung zu ihren Teilen keine Grenze gibt und der Prozess nie vollständig zum Ergebnis führen kann. Im zweiten Fall (des synthetischen Verfahrens) wird die quantitative Vorstellung des Unendlichen unerreichbar, da es in dem Fortgang von den Teilvorstellungen zu dem Ganzen ebenfalls keine Grenze gibt (vgl. ebd.). Kant zeigt aber, dass, obwohl eine quantitative Vorstellung des Stetigen und des Unendlichen unmöglich ist, so doch 1. ihre Begriffe durchaus denkbar sind, d. h ihre qualitative Vorstellung möglich ist, und dass 2. die Unmöglichkeit einer quantitativen Vorstellung bloß auf einer spezifischen Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens beruht: Si vero infinitum mathematicum conceperint ceu quantum, quod relatum ad mensuram tanquam unitatem est multitudo omni numero maior [1], si porro notassent, mensurabilitatem hic tantum denotare relationem ad modulum intellectus humani [2], per quem, nonnisi successive addendo unum uni, ad conceptum multitudinis definitum et, absolvendo hunc progressum tempore finito, ad completum, qui vocatur numerus, pertingere licet: luculenter perspexissent, quae non congruunt cum certa lege cuiusdam subiecti, non ideo omnem intellectionem excedere [1], cum, qui absque successiva applicatione mensurae multitudinem uno obtutu distincte cernat, dari possit intellectus, quanquam utique non humanus [2] (ebd.).
Das mathematische Unendliche kann zwar als eine Größe begrifflich vorgestellt werden, indem es als eine Menge aufgefasst wird, die größer als jede Zahl ist, der Begriff der Zahl aber dient dabei nur in seiner qualitativen Funktion einer Einheit. In seiner quantitativen Funktion einer bestimmten Zahl dagegen kann er zum Vorstellen des Unendlichen nicht verhelfen, denn die Anschauung stellt die
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einzelnen Teile in einer endlichen zeitlichen Reihe vor, in der der vollständige Begriff der Zahl überhaupt unmöglich erreicht werden kann. Durch das Beispiel der Nichtübereinstimmung zwischen dem qualitativen und dem quantitativen Vorstellen verdeutlicht Kant nicht nur den wesentlichen Unterschied zwischen den zwei grundsätzlich verschiedenen Erkenntnisvermögen (sinnlichem und intellektuellem), sondern auch die Eingeschränktheit der menschlichen Erkenntnis durch ihre spezifische subjektiv bedingte Beschaffenheit: Nam hic dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem […] nihil indigitat, nisi, quas mens ab intellectu acceptas fert ideas abstractas, illas in concreto exsequi et in intuitus commutare saepenumero non posse. Haec autem reluctantia subiectiva mentitur, ut plurimum, repugnantiam aliquam obiectivam, et incautos facile fallit, limitibus, quibus mens humana circumscribitur, pro iis habitis, quibus ipsa rerum essentia continetur (AA II, 389).
Dass die zwei Erkenntnisvermögen nicht übereinstimmen, liegt also nicht an dem Objekt, sondern ist ein subjektiv bedingter Widerstreit (reluctantia subjectiva), der dadurch zu erklären ist, dass in der Sinnlichkeit das Objekt der Erkenntnis von der rezeptiven Beschaffenheit des Subjektes, durch die Gegenwart bestimmter Objekte affiziert zu werden, abhängt (vgl. AA II, 392). Denn das Objekt kann nur dadurch sinnlich vorgestellt werden, dass es den Vorstellungszustand des Subjektes (repraesentativus subiecti) affiziert. Dabei wird die Bewegung oder die bloße Gegenwart des Objektes einer subjektiv begründeten Mannigfaltigkeit angepasst: „pro varietate subiectorum“ (ebd.). Dieses auf das vorstellende Subjekt bezogene Objekt wird dann ‚Empfindung‘ genannt und bedingt die Unterscheidung zwischen Stoff und Form der sinnlichen Vorstellung. Die Empfindung liefert ein Mannigfaltiges bzw. das subjektbezogene Objekt, das ‚Stoff der Vorstellung‘ genannt wird. Die Koordination (Beiordnung) dieses Mannigfaltigen dagegen wird ‚Form der Vorstellung‘ genannt: Repraesentationi autem sensus primo inest quiddam, quod diceres materiam, nempe sensatio, praeterea autem aliquid, quod vocari potest forma, nempe sensibilium species, quae prodit, quatenus varia, quae sensus afficiunt, naturali quadam animi lege coordinantur (ebd.).
Der Bezug der Erkenntnis auf die von Objekten affizierten Sinne durch die Empfindung bildet also nur einen Aspekt der sinnlichen Vorstellung. Kant behauptet hier, dass der zweite Aspekt – die Form der sinnlichen Vorstellung – auch ohne Sinnesempfindung angetroffen werden kann: „Ad sensualem itaque cognitionem pertinet tam materia, quae est sensatio, et per quam cognitiones dicuntur sensuales, quam forma, per quam, etiamsi reperiatur absque omni sensatione, re-
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praesentationes vocantur sensitivae“ (AA II, 393). Es werden dabei zwei formale Gründe der sinnlichen Vorstellung des Menschen, d. h. zwei formale Gründe der Anschauung unterschieden: Raum und Zeit. Sie bedingen die Möglichkeit sinnlicher Gegenstände und somit einer sinnlichen Erkenntnis, die nicht intellektuell bzw. diskursiv sein kann (vgl. ebd.). Denn erst durch Raum und Zeit als formale Gründe der Sinnlichkeit wird der unbestimmte Stoff der Anschauung zu einem bestimmten Objekt, das unmittelbar angeschaut wird (vgl. AA II, 396). Nach Kant wird nämlich mit der Empfindung nur ein Mannigfaltiges von dem Gegenstand der Sinne vermittelt, für seine Vorstellung als ein Ganzes, als ein einheitliches Objekt, wird aber ein subjektiv bedingtes Gesetz (ein formaler Grund) erforderlich, nach dem das Empfundene einander beigeordnet wird und so zu einer konkreten Gestalt geformt wird: eiusdem repraesentationis forma […] est […] lex quaedam menti insita, sensa ab obiecti praesentia orta sibimet coordinandi. Nam per formam seu speciem obiecta sensus non feriunt; ideoque, ut varia obiecti sensum afficientia in totum aliquod repraesentationis coalescant, opus est interno mentis principio, per quod varia illa secundum stabiles et innatas leges speciem quandam induant (AA II, 393).
Die sinnliche Vorstellung eines Gegenstandes erfordert, wie wir bereits gesehen haben, zwei Momente: 1. die Empfindung, die die als eine Mannigfaltigkeit aufgenommene Affiziertheit durch einen Gegenstand der Sinne dem Erkenntnisvermögen vermittelt, und 2. Raum und Zeit als der formale Grund, der das Mannigfaltige der Empfindung innerhalb einer Vorstellung koordiniert und dadurch unmittelbare Anschauung eines Objektes ermöglicht. Da die Wirkung eines Gegenstandes auf die Sinne nur seine Wirklichkeit vermittelt, nicht aber die Vorstellung dieses Gegenstandes als Gegenstand bewirken kann, wird klar, dass der durch den formalen Grund ermöglichte unmittelbare Gegenstandsbezug ein empirisch unabhängiger ist. Die Erscheinungen als der materiale Grund der sinnlichen Anschauung werden in Gegenstände des äußeren Sinnes und Gegenstände des inneren Sinnes eingeteilt, die entsprechend als Gegenstände der Physik und der empirischen Psychologie angesehen werden: „Phaenomena recensentur et exponuntur, primo sensus externi in PHYSICA, deinde sensus interni in PSYCHOLOGIA empirica.“ (AA II, 397). Der formale Grund der sinnlichen Anschauung wird dagegen angesichts der zwei Aspekte, die rein quantitativ die Gegenstände bestimmen, zum Gegenstand keiner empirischen Wissenschaft, sondern der reinen Mathematik, die den Raum in der Geometrie und die Zeit in der Mechanik als Gegenstände einer sinnlichen Anschauung darstellt und so nicht nur wahre Erkenntnis, sondern die Evidenz aller anderen Erkenntnisse begründet:
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Mathesis itaque pura, omnis nostrae sensitivae cognitionis formam exponens, est cuiuslibet intuitivae et distinctae cognitionis organon; et, quoniam eius obiecta ipsa sunt omnis intuitus non solum principia formalia, sed ipsa intuitus originarii, largitur cognitionem verissimam simulque summae evidentiae in aliis exemplar (AA II, 397 f.).
So unterscheidet Kant letztendlich zwischen 1. einer reinen Anschauung, die nur den formalen Grund umfasst und zur Mathematik gehört und 2. einer Sinnesanschauung (Erfahrung), die sowohl den formalen als auch den materialen Grund umfasst, und zur Naturwissenschaft zählt: „In omnibus scientiis, quarum principia intuitive dantur, vel per intuitum sensualem (experientiam), vel per intuitum sensitivum quidem, at purum (conceptus spatii, temporis et numeri), h.e. in scientia naturali et mathesi, usus dat methodum“ (AA II, 410). Hier werden also die formalen Gründe der sinnlichen Vorstellung, Raum und Zeit, als Prinzipien der Sinnlichkeit a priori erkannt, die zur reinen Mathematik als den Naturwissenschaften zugrundeliegende Disziplin gehören. Zum Ende von § 13 aber werden sie als die unbedingt ersten umfassenden Formen oder Bedingungen alles Sinnlichen (catholica et cuiuslibet praeterea in cognitione humana sensitivi quasi schemata et condiciones) benannt, wobei Kant den formalen Aspekt mit dem Terminus ‚Schema‘ bezeichnet (AA II, 398). Damit scheinen sowohl Raum als auch Zeit gemeint zu sein. Es ist aber interessant, dass dieser Terminus nur innerhalb des dritten Abschnittes und da wiederum nur zweimal verwendet wird: Einmal an der eben erwähnten Stelle in Bezug auf die ersten Formen und Bedingungen des Sinnlichen überhaupt (Raum und Zeit), und einmal im vierten Argument von § 15 zu den Raumausführungen. Innerhalb des § 14 Von der Zeit wird der Begriff ‚Schema‘ im Singular oder ‚Schemata‘ im Plural nicht ein einziges Mal erwähnt, im Gegensatz zu Begriffen wie ‚intuitus purus‘, ‚conditio‘ oder ‚principium primum‘, womit die Zeit ebenso wie der Raum bezeichnet wird. Die Ausführungen von § 15 stellen fünf Argumente vor, die den Status des Raumbegriffes analysieren: 1. nicht durch Abstraktion von Objekten gewonnen, sondern als Bedingung für die Möglichkeit für die Vorstellung von Objekten; 2. als intuitiv und nicht diskursiv; 3. als reine Anschauung und einzelne Vorstellung (conceptus singularis)²² an sich evi-
Der Begriff ‚conceptus singularis‘ und seine Bedeutung ist die Hauptfrage in dem Aufsatz von Wohlfart 1980, 137– 154. Da an dieser Stelle Kant die reine Anschauung als ‚conceptus singularis‘ bezeichnet, nimmt Wohlfart an, dass Raum und Zeit keine bloße Anschauungen sind, sondern Inbegriffe und zwar Vernunftbegriffe, die im Unterschied zu den Verstandesbegriffen nicht bloß den Umfang betreffen, sondern den Inhalt der Vorstellung. Ich versuche dieses Problem dadurch zu lösen, dass ich ‚conceptus‘ mit ‚einheitliche Vorstellung‘ und nicht mit ‚Begriff‘ übersetze. Dadurch kann ich unter ‚conceptus singularis‘ eine Anschauung und unter ‚conceptus pluralis‘ einen Begriff verstehen, wobei der Unterschied zwischen den beiden, wie in der Inauguraldis-
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dent; 4. als bloße Form der sinnlichen Vorstellung ideal; 5. Als subjektiv bedingter formaler Grund der sinnlichen Vorstellung. Für die besondere Stellung des Raumes gegenüber der Zeit wäre das letzte Argument näher zu betrachten. Die formal subjektive Beschaffenheit des Raumes fasst Kant als ein Schema auf, das nach einem subjektiven Gesetz verfährt, alles sinnlich Wahrnehmbare einander beizuordnen: „Spatium non est aliquid obiectivi et realis, nec substantia, nec accidens, nec relatio; sed subiectivum et ideale et e natura mentis stabili lege proficiscens veluti schema omnia omnino externe sensa sibi coordinandi.“ (AA II, 403). Mit ‚Schema‘ wird also das Verfahren nach einem Gesetz bezeichnet, wodurch alles äußerlich Empfundene einander beigeordnet wird. Mit dieser Definition können zunächst sowohl der Raum, als auch die Zeit als Schemata bezeichnet werden. Denn sowohl das letzte Raumargument, als auch das letzte Zeitargument plädieren für Raum und Zeit als einen ersten formalen Grund der Einheit der sinnlichen Vorstellung. Der Raum als reine Anschauung ist eine einzelne Vorstellung, in der alles Sinnliche in seiner Gesamtheit umfasst werden kann: „Spatium itaque est principium formale mundi sensibilis […] quod per essentiam non est nisi unicum, omnia omnino externe sensibilia complectens, adeoque principium constituit universitatis, h.e. totius, quod non potest esse pars alterius.“ (AA II, 405). Die Zeit wird ebenfalls als ein erster formaler Grund der Einheit der sinnlichen Vorstellung dargestellt, denn das Sinnliche kann entweder als nacheinander oder als zugleich vorgestellt werden: „Tempus itaque est principium formale mundi sensibilis absolute primum. Omnia enim quomodocunque sensibilia non possunt cogitari, nisi vel simul, vel post se invicem posita“ (AA II, 402). Für die Vorstellung eines Ganzen wird die zeitliche Vorstellung des Zugleichseins erfordert, die dann notwendig der räumlichen zugrunde liegen soll: „adeoque unici temporis tractu quasi involuta [Zeit als erste Voraussetzung für die sinnliche Vorstellung] ac semet determinato positu respicientia [Raum als zweite Voraussetzung], ita, ut per hunc conceptum [der Zeit], omnis sensitivi primarium, necessario oriatur totum formale, quod non est pars alterius, h.e. mundus phaenomenon“ (ebd.). Die zeitliche Voraussetzung des Zugleichseins geht nach dieser Schilderung in Bezug auf die Bildung einer sinnlichen Vorstellung der räumlichen Voraussetzung voraus und ist in diesem Sinne erster Grund der Einheit der sinnlichen Vorstellung. Der Raum aber bestimmt erst das Prinzip der Gesamtheit des Vorgestellten und damit die eigentliche Einheit der sinnlichen Vorstellung: „adeoque principium constituit universitatis, h.e. totius, quod non potest esse pars alterius.“ (AA II,
sertation geschildert wird, in dem Verhältnis der Teile der Vorstellung zu ihrem Ganzen, d. h. darin besteht, ob sie der Vorstellung subordiniert, oder zueinander koordiniert sind.
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405). In dieser seiner Funktion ist der subjektiv begründete Raum dann privilegiert als ‚Schema‘ zu bezeichnen. Und da die Empfindungen nach den in der Geometrie bestimmten Grundsätzen des Raumes zur einheitlichen Vorstellung geordnet werden und erst dadurch die Anschauung eines sinnlichen Gegenstandes ermöglicht wird, entspricht notwendig alles Empirische den Bestimmungen der Geometrie – die Gesetze der Natur stimmen also mit denen der Geometrie überein: Cum itaque nihil omnino sensibus sit dabile nisi primitivis spatii axiomatibus eiusque consectariis (geometria praecipiente) conformiter, quanquam horum principium non sit nisi subiectivum, tamen necessario hisce consentiet, quia eatenus sibimet ipsi consentit, et leges sensualitatis erunt leges naturae, quatenus in sensus cadere potest (AA II, 404).
Das fünfte Raumargument markiert dadurch einen entscheidenden Schritt in der Bestimmung des Raumbegriffes. Der Raum wird Grundlage der Wahrheit der angewandten Mathematik, aber als subjektiv begründete Grundlage nur innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung: „leges sensualitatis erunt leges naturae, quatenus in sensus cadere potest“ (ebd.). Denn, so Kant, wäre der Raum nicht subjektiv begründet: „Certe, nisi conceptus spatii per mentis naturam originarie datus esset“ (ebd.), so hätte die angewandte Mathematik nur einen eingeschränkten Gebrauch: „geometriae in philosophia naturali usus parum tutus foret“ (AA II, 405). Mit seiner Inauguraldissertation führt Kant also die Argumente von 1768 weiter, indem er die prinzipielle Verschiedenheit von Sinnlichkeit und Verstand weiter schärft und durch den Nachweis der Idealität des Raumes die Möglichkeit eines Objektbezugs a priori zu erklären versucht. Damit wird auch deutlich, dass der Theorie der Sinnlichkeit, so wie sie in Kritik der reinen Vernunft vorgestellt wird, eine sehr umfangreiche argumentative Entwicklung vorhergeht, die viele Aspekte der Transzendentalen Untersuchung vorwegnimmt und deutlich werden lässt.
2.3 Das Argument von 1781/87: Die zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis Während Kant in der Inauguraldissertation bemüht war, die prinzipielle Unterscheidung zwischen sinnlichen und verstandesmäßigen Vorstellungen zu explizieren und beide emphatisch als zwei verschiedene Welten bezeichnete, richtete er die Bemühungen in der ersten Kritik darauf, den Zusammenhang beider Vermögen angesichts ihrer Funktion für das Generieren von Erkenntnissen darzustellen. Auch hier spielen die Ausführungen zur Raumlehre eine zentrale Rolle, aber nicht
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nur innerhalb der Argumentation für die Trennung der Ästhetik von der Logik als eine eigenständige erkenntnistheoretische Disziplin, sondern auch für die Einsicht in die notwendige Angewiesenheit beider Disziplinen für die Erzeugung von Erkenntnissen. Die Ausführungen der Transzendentalen Ästhetik zur Raumlehre erfüllen ähnlich wie die aus der Inauguraldissertation zunächst die Aufgabe der Bestimmung des Raumbegriffes 1) einheitlich als reine Vorstellung der Sinnlichkeit und zwar als reine Form der empirischen Anschauung, indem er a) einerseits vom empirischen Inhalt der Anschauung und b) andererseits von diskursiven Vorstellungen des Verstandes abgegrenzt wird; und 2) in seiner doppelten Funktion nicht nur als subjektiv bedingte Form der empirischen Anschauung, sondern auch als Inhalt bzw. Objekt einer nicht empirischen Anschauung, die Produkt des mathematischen Gebrauches der Vernunft ist. Diese zwei Aufgaben werden durch zwei Erörterungen des Begriffs des Raumes ausgeführt. Durch die Metaphysische Erörterung wird der Raumbegriff gemäß 1) bestimmt; durch die Transzendentale Erörterung wird dagegen 2) erfüllt, indem die Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse des Raumes a priori in der Geometrie untersucht wird. Die Transzendentale Erörterung erfüllt zudem die Aufgabe der Begründung des in der Metaphysischen Erörterung gewonnenen Begriffes als Prinzip synthetischer Erkenntnisse a priori (KrV A 23/B 38). Damit wird gleichzeitig die Funktion dieses Begriffes innerhalb des gesamten Erkenntnisvermögens dargestellt und die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori überhaupt begründet. Es soll in diesem Zusammenhang erörtert werden, welche Funktion die Bezeichnungen ‚Form der Anschauung‘ und ‚formale Anschauung‘ erfüllen.
Die Metaphysische Erörterung Die ersten zwei Argumente der metaphysischen Erörterung des Raumbegriffes²³ beziehen sich auf die Apriorität des Raumes. Mit dem ersten Argument soll der Raum von empirisch gewonnenen Vorstellungen abgegrenzt werden und dadurch sein objektives Sein abgelehnt werden. Der erste Satz stellt entsprechend das Beweisziel²⁴ vor: „Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Er-
Hier werden die vier Argumente aus der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft betrachtet. Das in der ersten Auflage sich befindende zusätzliche Argument, das an dem zweiten Argument unmittelbar anknüpft, werde ich danach bei der Behandlung der Transzendentalen Erörterung des Raumbegriffes vorstellen. Die Struktur der einzelnen Argumente folgt in der metaphysischen Erörterung von Raum und Zeit einer bestimmten Reihenfolge. Auch wenn Kants Argumentationsstruktur aus moderner Sicht
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fahrungen abgezogen worden“ (KrV A 23/B 38). Um dies zu beweisen, weist Kant als Erstes auf die Funktion des äußeren Sinnes hin, Objekte sinnlich vorzustellen, indem die durch die Empfindung auf das Subjekt bezogene Affekte vom Subjekt getrennt werden und in räumlichen Verhältnissen angeschaut werden. Dieser Hinweis dient dazu, den Raum als notwendige Bedingung für die Möglichkeit der sinnlichen Vorstellung eines Objektes zu verdeutlichen: Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas [auf ein Objekt] außer mir [außer des Subjektes] bezogen werden, (d. i. auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde,) imgleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen (KrV A 23/B 38).
Der Beweis besteht daher aus der Behauptung, dass es gewisse Empfindungen bzw. gewisse auf das Subjekt bezogene Affekte gibt, die auf Objekte bezogen bzw. vom Subjekt getrennt werden können, genau dann wenn zuvor die Vorstellung eines Raumes vorhanden ist, gemäß derer Subjekt und Objekt als nebeneinander d. h. als an verschiedenen Orte vorgestellt werden können. Bezogen auf den ersten Satz (auf das Beweisziel) besagt diese Behauptung des Beweises, dass der Raum eine Vorstellung ist, die innerhalb des Bildungsprozesses der empirischen Vorstellung eines äußeren Objektes eine konstitutive Funktion erfüllt. Sie ist notwendigerweise vor ihr bereits vorhanden und ist als ihre formale Bedingung zu betrachten: „Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußern Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich“ (ebd.). Die Vorstellung des Raumes ist damit nicht objektiv begründet, hat aber objektive Gültigkeit. Während im ersten Argument die Priorität des Raumes vor der Erfahrung zur Abgrenzung der Vorstellung des Raumes von empirisch gewonnenen Begriffen vorgenommen wird und so seine Objektivität bestritten wird, geht es im zweiten Argument um die Explikation der konstitutiven Funktion der Vorstellung des Raumes für die Anschauung und so um den Nachweis seiner Subjektivität. Die These lautet: „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt“ (KrV A 24/B 38). Den Beweis baut Kant in
manchmal rein methodologisch für ihre Undurchschaubarkeit, das Fehlen wichtiger Prämissen und für unklare Konklusionen kritisiert wird (vgl. Tetens 2006, 59), weist sie doch ihre logische Ordnung auf. Vaihinger (1892, 156) teilt sie in drei Teile: 1. „objectum probationis“ (These); 2. „argumentum probationis“ (Beweis); 3. mit der Anfangsthese übereinstimmende Schlussfolgerung. Martin (1969, 33 u. 37) expliziert diese Einordnung ebenfalls so: 1. Beweisziel (erster Satz); 2. Argument für den Beweis (zweiter Satz); und 3. Folgerung aus dem Beweisargument (dritter Satz).
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zwei Schritten auf. Zuerst wird die Notwendigkeit der Vorstellung des Raumes für das vorstellende Subjekt aufgrund der angeblichen Tatsache behauptet, dass man sich niemals „eine Vorstellung davon machen [kann], dass kein Raum sei“ (ebd.). Im zweiten Schritt wird seine Unabhängigkeit von den vorgestellten Objekte betont: „Man kann […] gleich ganz wohl denken […], dass keine Gegenstände darin [im Raume] angetroffen werden“ (KrV A 24/B 38 f.). Bezogen auf das Beweisziel besagt dies also, dass die Vorstellung des Raumes für den empirischen Inhalt der Anschauung zwar konstitutiv ist, von ihr aber unabhängig bzw. a priori im Subjekt begründet ist: „Er [der Raum] wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendiger Weise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt“ (KrV A 24/B 39). Die ersten zwei Argumente stellen also den Raum (neben der Zeit) als Vorstellung a priori dar. Bezogen auf die am Anfang gestellte Frage: „Was sind nun Raum und Zeit?“ (KrV A 23/B 37) bedeutet dies, dass Raum (und Zeit) als subjektiv begründete „Verhältnisse der Dinge“²⁵ verstanden werden sollen. Es bleibt nun noch klar zu stellen, ob der subjektive Ursprung eine rein ästhetische Geltung oder eine rein logische Geltung hat (KrVA 23/B 37 f.). Dies ist der Ausgangspunkt für das dritte Argument. Zu beweisen ist der Anschauungscharakter des Raumes: „Der Raum ist kein diskursiver, oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung“ (KrV A 24 f./B 39). Das Beweisargument wird in drei Schritten aufgebaut, in denen der Objektbezug in der Raumvorstellung analysiert wird. Der erste Beweisteil hebt den unmittelbaren Objektbezug hervor. Während Begriffe sich durch ein Merkmal auf mehrere Objekte beziehen, die sich auch qualitativ voneinander unterscheiden können, so beziehen sich Anschauungen dagegen auf einzelne und gleichartige Objekte.²⁶ Gemäß dieser nicht explizit
Kant stellt zu Anfang der Metaphysischen Erörterung des Raumbegriffes die ontologisch formulierte Frage „Was sind nun Raum und Zeit?“ (KrV A 23/B 37) und erwägt vier mögliche Antworten, die die klassische Ontologie bieten kann, nämlich: 1. Substanz; 2. Akzidenz; 3. objektive Relation; oder 4. subjektive Relation: „Sind es [Raum und Zeit] wirkliche Wesen [1]? Sind es zwar nur Bestimmungen [2], oder auch Verhältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen auch an sich zukommen würden, wenn sie nicht angeschaut würden [3], oder sind sie solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften, und mithin an der subjektiven Beschaffenheit unseres Gemüts, ohne welche [die subjektive Beschaffenheit unseres Gemütes] diese Prädikate [Raum und Zeit] gar keinem Dinge beigelegt werden können [4]?“ (KrV A 23/B 37 f.). Mit den ersten zwei Argumenten der Metaphysischen Erörterung, die den Raum als subjektive Relation erweisen, wird die ontologische Perspektive zugleich in eine epistemische überführt. Die Voraussetzung, dass sich räumliche Vorstellungen auf einzelne (konkrete und nicht abstrakte) und gleichartige (Teile eines übergeordneten Ganzen) Objekte beziehen, als Argument
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ausgeführten Voraussetzung ist im ersten Beweisteil von der Einzelheit des Raumes (einen einigen Raumes) und seiner Gleichartigkeit (eines und desselben alleinigen Raumes) auf seinen Anschauungscharakter zu schließen. In einem nächsten Schritt wird der unmittelbare Objektbezug der Vorstellung des Raumes näher analysiert: die Beziehung der Objekte zueinander in einem Begriff besteht in ihrer Subordination zu dem Merkmal, das den Objektbezug leistet. Dagegen besteht in einer Anschauung eine direkte Beziehung der Objekte zueinander, d. h. sie sind nicht wie in einem Begriff subordiniert, sondern inordiniert bzw. innerhalb der Vorstellung zueinander koordiniert. Wenn viele Räume als Teile bzw. Objekte eines gemeinsamen Raumes so gedacht werden, dass sie nicht vorhergehen bzw. dass von ihnen, wie es in einem Begriff der Fall wäre, nicht zuerst abstrahiert worden ist, sondern dass sie im Raum aktuell vorgestellt werden, so ist dies wiederum ein Argument für den Anschauungscharakter des Raumes. Der dritte und letzte Beweisteil sieht in der Priorität und Vorrangstellung der Konstruktion der Objekte des Raumes vor der nachfolgenden Abstraktion von denselben ein Kriterium für den Anschauungscharakter der Raumvorstellung: „Er [der Raum] ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm [die Objekte, die in räumlicher Relation zueinander konstruiert werden], mithin der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, beruht lediglich auf Einschränkungen“ (KrV A 25/B 39). Wenn die Vorstellung des Raumes sich aber so verhält, wie in den drei Teilargumenten ausgeführt wurde, so schließt Kant, dass der Raum nicht nur eine reine Anschauung a priori ist, sondern dass sich darauf auch die apodiktische Gewissheit der Geometrie gründet: dafür, dass sich solche Vorstellungen von diskursiven Vorstellungen prinzipiell unterscheiden, wird ebenfalls in der Inauguraldissertation ausgeführt. Das zweite Raumargument dort beschäftigt sich mit dem Anschauungscharakter räumlicher Vorstellungen: „Conceptus spatii est singularis repraesentatio omnia [d. h. ihr gesamtes Objekt] in se comprehendens, non sub se continens notio abstracta et communis.“ (AA II, 402). Dass die räumliche Vorstellung singulär bzw. intuitiv ist, da die Teilvorstellungen der gesamten Vorstellung nicht subordiniert (non sub se), wie in einer diskursiven Vorstellung, sondern in ihr zueinander koordiniert (omnia in se) sind, wird dadurch begründet, dass mehrere Räume immer als in einer Relation zueinander (in einer Lage), zugleich aber auch als Teile eines absoluten unbegrenzten Raumes betrachtet werden: „Quae enim dicis spatia plura, non sunt nisi eiusdem immensi spatii partes, certo positu se invicem respicientes, neque pedem cubicum concipere tibi potes, nisi ambienti spatio quaquaversum conterminum.“ (AA II, 402). Der intuitive Charakter räumlicher Vorstellungen besteht nach Kant also darin, dass sie auf dem Verhältnis von Teilen und Ganzem beruhen und nicht wie diskursive Vorstellungen auf dem Verhältnis von Grund und Begründetem. Sowohl in der Inauguraldissertation als auch in Kritik der reinen Vernunft scheint aber die Argumentation, die auf den Überlegungen aus der Schrift von 1768 beruht, teilweise als bekannt vorausgesetzt zu sein, was die Metaphysische Erörterung an sich (und ohne Bezug auf frühere Texte) fragmentarisch erscheinen lässt.
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Hieraus folgt, dass in Ansehung seiner [des Raumes] eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von demselben zum Grunde liegt. So werden auch alle geometrische Grundsätze, z. E. dass in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sein, als die dritte, niemals aus allgemeinen Begriffen von Linie und Triangel, sondern aus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewissheit abgeleitet (KrV A 25/B 39).
Die Geometrie setzt also die ursprüngliche Vorstellung des Raumes als eine sinnliche Bedingung ihrer Möglichkeit voraus. Das dritte Argument hat also gezeigt, dass die Raumvorstellung über Eigenschaften verfügt, die ein Begriff nicht hat und die allein einer Anschauung eigen sind. Das nächste und letzte Argument knüpft an dem vorigen an und liefert einen letzten Beweis dafür, dass „die ursprüngliche Vorstellung vom Raume Anschauung a priori, und nicht Begriff [ist]“ (KrV B 40), indem sein intuitiver Charakter dargestellt wird.²⁷ Den Ausgangspunkt dieses Arguments bildet die Beweisthese in der A-Auflage: „Der Raum wird als eine unendliche Größe gegeben vorgestellt“ (KrVA 25) und entsprechend in der B-Auflage: „Der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt“ (KrV B 39). Obwohl die Beweisargumentationen beider Auflagen deutlich voneinander abzuweichen scheinen, werden wir sehen, dass sie beide sich der gleichen Beweisstrategie bedienen. Die erste Auflage baut ihr Beweisargument zuerst darauf auf, dass die Vorstellung des Raumes keine Größe bestimmen könnte, wenn der Raum als ein allgemeiner Begriff vorgestellt würde. Denn: „Ein allgemeiner Begriff vom Raum (der so wohl einem Fuße, als einer Elle gemein ist) kann in Ansehung der Größe nichts bestimmen“ (KrV A 25). Aus den ersten drei Argumenten wurde in Bezug auf die Objekte klar, dass durch die Vorstellung des Raumes zwei Aspekte des Objektbezuges einer Anschauung konstituiert werden: (1) Der Objektbezug ist a priori (der Raum wird nicht von den Objekten abstrahiert, sondern durch ihn werden Objekte Einige Kantinterpreten sehen in dem letzten Argument die typische Struktur – These, Beweis und Schlussfolgerung – aus den vorhergehenden Argumenten durchbrochen, da sie in dem ersten Satz, der sonst die zu beweisende These vorstellt, eine Tatsache als Prämisse für den nachfolgenden Beweis sehen. So etwa Vaihinger (1892, 235 ff.), der in der Tatsache, dass der Raum „als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt [wird]“ (KrV B 39), nur einen neuen Beweisgrund für die am Anfang des dritten Argumentes gestellte These sieht. Ich finde hingegen nicht, dass der erste Satz dieses letzten Arguments unbedingt als Tatsache betrachtet werden muss. Wir haben eben in früheren Argumentationen gesehen, dass, wenn Kant eine Tatsache einführt, er sie meistens mit einer anthropologischen Begründung stützt: es kann „nur“ so vorgestellt werden, man kann es „nur“ so denken, etc. Aus diesen Gründen werde ich versuchen, in dem ersten Satz keine direkt ausgemachte Tatsache zu sehen, sondern werde ihn, wie die ersten Sätze aus den vorhergehenden Argumenten, als eine bloße These auslegen, die es zu begründen gilt. Diese Auslegungsweise ändert aber keineswegs das Ergebnis des Argumentes, sondern betrifft ausschließlich die Struktur der Beweisführung.
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erst ermöglicht, indem sie als dem Subjekt extern vorgestellt werden); (2) Der Objektbezug ist nicht diskursiv (die vorgestellten Objekte werden einzeln und zugleich als Teile eines Ganzen vorgestellt). Mit dem vierten und letzten Argument wird nun aus der Tatsache, dass die Objekte im Raum als Größe bestimmt werden können, darauf geschlossen, dass der Raum selbst eine Anschauung ist. Denn gerade darin, dass die Objekte rein quantitativ erfassbar sind, besteht der unmittelbare Objektbezug der Anschauung.Wenn also die Vorstellung des Raumes (1) konstitutiv für den Objektbezug ist und (2) eine quantitative Bestimmung der Objekte ermöglicht, muss sie selbst quantitativ beschaffen sein,²⁸ was in der Anfangsthese behauptet wurde: „Der Raum wird als eine unendliche Größe gegeben vorgestellt“ (ebd.). Mit dem dritten Satz werden dann diese Ergebnisse zusammengefasst: „Wäre es nicht die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung [d. h. ihr prinzipiell angelegter unbegrenzter Objektbezug], so würde kein Begriff von Verhältnissen [d. h. kein Begriff von Raum] ein Principium der Unendlichkeit derselben bei sich führen“ (ebd.). Der Begriff des Raumes beruht daher notwendig auf der ursprünglich gegebenen reinen Anschauung des Raumes. Ebenso verhält sich in dem entsprechenden Argument aus der B-Auflage. Der zweite Satz stellt dasselbe Beweisargument wie in der A-Auflage vor. Es wird auf eine Eigenschaft der diskursiven Vorstellung hingewiesen, die keine quantitative Bestimmung ihrer Objekte zulässt: „Nun muß man zwar einen jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter sich enthält; aber kein Begriff, als ein solcher, kann so gedacht werden, als ob er eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthielte“ (KrV B 39 f.). In der diskursiven Vorstellung sind also die Objekte der Vorstellung nicht unmittelbar als untereinander koordiniert gegeben, sondern durch ein Merkmal auf die Vorstellung bezogen, d. h. sie sind ihr subordiniert. Deshalb können sie als solche rein quantitativ nicht erfasst werden. Durch räumliche Verhältnisse aber werden die Objekte der Anschauung, wie zu Beginn der Ausführungen zum äußeren Sinn bemerkt, hinsichtlich „ihre[r] Gestalt, Größe und Verhältnis[se] gegeneinander bestimmt, oder bestimmbar“ (KrV A 22/B 37). Das eben wird mit dem nächsten Satz des Beweisarguments behauptet: „Gleichwohl wird der Raum so [als eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthaltend] gedacht (denn alle Teile des Raumes ins Unendliche sind zugleich)“ (KrV B 40). Die Begründung in
Wie wir im anschließenden Teil über die Transzendentale Erörterung des Begriffes vom Raume sehen werden, stehen die zwei Arten von räumlichen Verhältnissen – Raum als Form der empirischen Anschauung und der vorgestellte Raum selbst als reine Anschauung – in einem engen Zusammenhang. Darauf möchte ich mich beziehen, wenn ich an dieser Stelle Funktion und Eigenschaften der räumlichen Vorstellung als impliziten Teil des Argumentes aufeinander beziehe.
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den Klammern enthält das Moment des prinzipiell angelegten Objektbezuges, der sich räumlichen Relationen verdankt. Aus der quantitativen Bestimmbarkeit der Objekte folgt wiederum notwendig die Auffassung des Raumes an sich als quantitativ beschaffen. Denn wenn die Vorstellung räumlicher Relationen ermöglicht werden soll, muss die Vorstellung des Raumes selbst diese Eigenschaften haben (er kann folglich selbst als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt werden); man kann somit auf den Anschauungscharakter der Vorstellung des Raumes schließen: „Also ist die ursprüngliche Vorstellung vom Raume Anschauung a priori, und nicht Begriff“ (ebd.). Mit den so vorgestellten Argumenten der Metaphysischen Erörterung des Raumbegriffes beantwortet Kant die am Anfang von § 2 gestellte ontologische Frage nach der Seinsweise des Raumes: Der Raum ist eine subjektiv begründete Relation der Dinge. Darüber hinaus zeigt Kant auch eine wesentliche Konsequenz dieser Antwort, nämlich die Möglichkeit der Konstruktion der Eigenschaften der reinen Anschauung des Raumes a priori, und zwar in der Mathematik. Die Befunde erläutern also nicht nur die Funktion räumlicher Verhältnisse als formale Bedingungen für die empirische Anschauung, sondern weisen auf die Möglichkeit der reinen synthetischen Bestimmung der Eigenschaften des Raumes hin. Eine solche Bestimmung leistet die Geometrie, denn sie ist, so Kant, „eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raumes synthetisch und doch a priori bestimmt“ (ebd.). Dass dies mit apodiktischer Gewissheit geschieht, begründet Kant mit einem separatem Argument in der A-Auflage der Metaphysischen Erörterung auf der Basis der im zweiten Argument ausgeführten Notwendigkeit der Vorstellung des Raumes für das vorstellende Subjekt: „Auf die Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Gewissheit aller geometrischen Grundsätze, und die Möglichkeit ihrer Konstruktion a priori“ (KrV A 24). Im Rahmen des dritten Arguments dagegen argumentiert Kant für die Möglichkeit, die Eigenschaften des Raumes a priori zu konstruieren, mittels der ursprünglichen reinen Intuitivität der Vorstellung des Raumes: „So werden auch alle geometrische Grundsätze […] niemals aus allgemeinen Begriffen […], sondern aus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewissheit abgeleitet“ (KrV B 39). Die Metaphysische Erörterung stellt also die ursprüngliche Vorstellung des Raumes in ihrer doppelten Funktion nicht nur als subjektiv bedingte und damit reine Form der empirischen Anschauung, sondern auch als Bedingung für die Möglichkeit und für die apodiktische Gewissheit der Geometrie vor, wodurch die Eigenschaften des Raumes a priori bestimmt werden können. An dieser Stelle wird aber eine terminologische Schwierigkeit sichtbar, auf die auch Vaihinger hin-
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weist.²⁹ Diese Schwierigkeit betrifft die Bedeutung des Prädikates ‚a priori‘ einerseits in Bezug auf die reine Vorstellung des Raumes, die ‚reine Anschauung‘ genannt wird, und andererseits in Bezug auf die Konstruktion der Eigenschaften des Raumes durch die Geometrie, die, wie noch gezeigt wird, durch einen neuen Moment charakterisiert wird, der ‚formale Anschauung‘ genannt wird. Wie auch aus den Hinweisen von Vaihinger klar wird, handelt es sich im ersten Fall um eine sinnliche Vorstellung a priori und im zweiten Fall um einen mathematischen Satz bzw. um ein synthetisches Urteil a priori, wodurch eine synthetische Funktion zur reinen sinnlichen Anschauung hinzutritt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass dieser Unterschied zwischen der reinen sinnlichen Vorstellung des Raumes und einem synthetischen Urteil a priori über den Raum als eine wesentliche Leistung der Ausführungen der Kritik der reinen Vernunft anzusehen ist, und dass dadurch sowohl die Autonomie der Sinnlichkeit vom Verstand, als auch ihr gegenseitiger Zusammenhang expliziert wird.
Die Transzendentale Erörterung In der Metaphysischen Erörterung des Raumbegriffes wurde rein methodologisch aus der Priorität der ursprünglichen Vorstellung des Raumes vor der Erfahrung auf die apodiktische Gewissheit der Konstruktion seiner Eigenschaften a priori (KrV AAuflage) geschlossen,³⁰ während sich aus der Intuitivität der Vorstellung des
Vgl. Vaihinger 1892, 268: „Beyersdorff, Die Raumvorstellungen, S. 37– 51, welcher besonders betont, dass die Apriorität der Raumvorstellung eine ganz andere ist, als die der mathematischen Sätze, daher diese letztere nicht aus der ersteren abgeleitet werden kann. Auf diesen wichtigen Punkt ist auch schon Comm. I, 222 aufmerksam gemacht worden: die Vorstellung ist a priori, insofern sie vor der Erfahrung vorhergeht; der Satz ist a priori, insofern er ohne Erfahrung gilt. (Darauf kommt im Wesentlichen auch Cohens Unterscheidung des metaphysischen und des transscendentalen Apriori hinaus; vgl. oben S. 152 ff.) Dass Kant diesen „Doppelsinn“ des Ausdruckes Apriori hier missbraucht hat, darauf hatte auch schon Zimmermann, Ks. Mathem. Vorurteil, 1871, S. 30 aufmerksam gemacht“. Wir werden aber in den weiteren Ausführungen sehen, dass dieser Unterschied Kant nicht entfallen sein kann, indem wir zeigen, dass er die ursprüngliche intuitive Vorstellung des Raumes a priori, die vor der Erfahrung vorgeht, als ‚reine Anschauung‘ bezeichnet, die Konstruktion der Eigenschaften des Raumes a priori in der Geometrie, die ohne Erfahrung gültig ist, dagegen durch die Ergänzung durch eine nicht-ästhetische Komponente, nämlich die ‚formale Anschauung‘ ausdrückt. Viele Kantinterpreten sehen in der Tatsache, dass Kant in der B-Auflage das Argument der Priorität der Raumvorstellung als Bedingung für die apodiktische Gewissheit der geometrischen Sätze aus der A-Auflage nicht aufgenommen hat, und stattdessen die Transzendentale Erörterung hinzugefügt hat, als eine Übernahme der deduktiven Argumentationsstrategie aus den Prolegomena, die in der Zeit zwischen den zwei Auflagen der Kritik der reinen Vernunft veröffentlicht
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Raumes die Möglichkeit dieser Konstruktion (A- und B-Auflage) ergab. In der BAuflage unternimmt Kant eine weitere Untersuchung, die er Transzendentale Erörterung nennt und die mit einer umgekehrten Argumentationsrichtung anfängt: „Ich verstehe unter einer Transzendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffes, als eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann“ (KrV B 40). Es wird nicht induktiv von der ursprünglichen Vorstellung des Raumes als Bedingung auf die Möglichkeit der synthetischen Sätze a priori der Geometrie geschlossen, wie in der Metaphysischen Erörterung, sondern deduktiv von der prinzipiell bedingten Wirklichkeit solcher Sätze auf die notwendigen Bedingungen ihrer Möglichkeit analytisch geschlossen. Daher wird 1. aufgrund der Wirklichkeit synthetischer Urteile a priori in der Geometrie nach ihrer Möglichkeit durch ein Prinzip gefragt, um 2. die ursprüngliche Vorstellung des Raumes, die in der Metaphysischen Erörterung behandelt wurde, als dieses Prinzip zu erklären: „Zu dieser Absicht wird erfordert, 1) dass wirklich dergleichen Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfließen, 2) dass diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffes möglich sind“ (ebd.). Die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori in der Geometrie ist also als Tatsache vorausgesetzt: „Geometrie ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raumes synthetisch und doch a priori bestimmt“ (ebd.). Es bleibt dann die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit zu stellen: „Was muß die Vorstellung des Raumes denn sein, damit eine solche Erkenntnis von ihm möglich sei?“ (ebd.). Die Transzendentale Erörterung gründet damit ihre Argumentation auf das analytische Verfahren der Deduktion im Unterschied zu dem synthetischen Verfahren der Induktion in der Metaphysischen Erörterung.³¹ Für die Konstruierbarkeit des Raumes und damit für die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori wird die ursprüngliche Intuitivität des Raumes als Bedingung angeführt: „Er [der Raum] muß ursprünglich Anschauung sein; denn aus einem bloßen Begriffe lassen sich keine Sätze, die über den Begriff hinausgehen, ziehen, welches doch in der Geometrie geschieht“ (KrV B 40 f.). Dieser Begründung konnten wir bereits im dritten Argument der Metaphysischen worden war. Denn dort wird wie in der Transzendentalen Erörterung und im Gegensatz zur Metaphysischen Erörterung die prinzipiell bedingte Möglichkeit synthetischer Sätze a priori in der Geometrie als Tatsache anerkannt und nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit gefragt. Und dies ist eben die wesentliche Struktur transzendentaler Argumente, aufgrund einer bestimmten Erfahrung nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Erfahrung zu fragen. Wie sich in den weiteren Ausführungen zeigt, erfüllt die Transzendentale Argumentation eine weiterreichende Funktion als bloß ein Argument aus der A-Auflage zu ersetzen und nur formell auf andere Weise darzustellen. Sie erfüllt vielmehr die Funktion, über die Transzendentale Ästhetik hinaus zu gehen, um einen Zusammenhang zur Analytik – und zwar zur Logik – festzustellen. Dazu vgl. Vaihinger 1892, 265.
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Erörterung folgen. Als nächster Schritt erfolgt die Begründung der apodiktischen Gewissheit in der Geometrie: Aber diese Anschauung muß a priori, d. i.vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes, in uns angetroffen werden, mithin reine, nicht empirische Anschauung sein. Denn die geometrischen Sätze sind insgesamt apodiktisch, d. i. mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden, z. B. der Raum hat nur drei Abmessungen; dergleichen Sätze aber können nicht empirische oder Erfahrungsurteile sein, noch aus ihnen geschlossen werden (KrV B 41).
Diese Begründung haben wir ebenfalls bereits kennengelernt, nämlich im Zusatz zum zweiten Argument aus der A-Auflage. Es stellt sich hier daher die Frage nach dem Zweck einer Transzendentalen Deduktion.³² Wenn bereits festgestellt worden ist, dass die der empirischen Anschauung zugrunde liegenden räumlichen Verhältnisse subjektiv begründet sind (zweites Raumargument) und als intuitive Vorstellung allen reinen sinnlichen Begriffen zugrunde liegen (drittes Argument), und wenn ferner daraus die Möglichkeit der Geometrie und ihre apodiktische Gewissheit erwiesen wird, dann stellt sich die Frage nach dem Zweck, diese Ergebnisse wiederum deduktiv zu ihren Voraussetzungen zurückzuführen.
Dass die Transzendentale Erörterung die Funktion einer Transzendentalen Deduktion erfüllt, wird besonders anhand der Darstellung ihrer Argumentationsstruktur deutlich. Auch durch die Analyse der Funktion der Transzendentalen Deduktion bei Kant überhaupt könnte dies bestätigt werden. Peter Baumanns z. B. definiert die Funktion der Deduktion bei Kant angesichts der Analytik der reinen Verstandesbegriffe folgendermaßen: „Die Deduktion hat zwei Seiten. Von der einen Seite bezieht sie sich auf die Gegenstände des reinen Verstandes, um die Gültigkeit seiner Begriffe „darzutun“ und „begreiflich zu machen“. Sie zeigt, inwiefern den Denkfunktionen Gegenstandsbezüglichkeit eigen ist. Diese Untersuchung gehört zum Hauptzweck der Deduktion. Sie beantwortet die Hauptfrage, was und wie viel der reine Verstand an Gegenstandsbestimmung zu leisten vermag. Von der anderen Seite fragt die Deduktion, wie das Vermögen zu denken selbst möglich ist. Diese „subjektive“ Deduktion soll im Unterschied zur „objektiven“ Deduktion die Abhängigkeit des reinen Verstandes von den Erkenntniskräften ermitteln, auf denen er beruht.“ (Baumanns 1997, 397 f.). Diese zwei Funktionen sind aber auch in der Transzendentalen Erörterung des Raumbegriffes feststellbar. Einerseits wird die Möglichkeit geometrischer Sätze durch die zugrunde liegende ursprüngliche Vorstellung des Raumes erklärt und dann die apodiktische Gewissheit aus der subjektiven Begründung dieser Vorstellung, d. h. aus ihrer Priorität vor der Erfahrung. Neben dieser „subjektiven Funktion“ kommt andererseits eine „objektive“ hinzu, wie wir noch durch die Analyse des dritten Abschnittes der Transzendentalen Erörterung sehen werden, die nämlich die Frage nach der Möglichkeit der objektiven Gültigkeit der Geometrie beantwortet. Auch andere finden eine vergleichbare Parallele zwischen der deduktiven Methode in Ästhetik und in Analytik: „die transsc. Deduktion, sowohl die etwas verkümmerte in der Ästhetik, als die ausgeführte in der Analytik, hat nichts Anderes zu ihrem Gegenstand als den Nachweis, dass wir reine Vernunfterkenntnis von allen Dingen als Erscheinungen haben können“ (Paulsen, zit. nach Vaihinger 1892, 263).
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Eine Antwort darauf kann in dem darauf folgenden dritten Absatz der Transzendentalen Erörterung gesucht werden.Wie bereits angedeutet geht es Kant in der Transzendentalen Deduktion darum, einen neuen Aspekt des Raumbegriffes über die bloße sinnliche Vorstellung hinaus herauszuarbeiten, indem angesichts der objektiven Gültigkeit von synthetischen Urteilen a priori in der Geometrie ein Zusammenhang der Transzendentalen Ästhetik mit der Transzendentalen Logik festgestellt wird. Kant fragt: „Wie kann nun eine äußere Anschauung dem Gemüte beiwohnen, die vor den Objekten selbst vorhergeht, und in welcher der Begriff der letzteren a priori bestimmt werden kann?“ (KrV B 41). In der geometrischen Konstruktion, wie bereits ausgeführt, werden die Eigenschaften des Raumes synthetisch und a priori bestimmt, d. h. der Raum selbst wird zum Objekt der Vorstellung. Hier werden aber einige Schwierigkeiten sichtbar. Ein Objekt kann nur dann vorgestellt werden, wenn es zuerst etwas von dem Subjekt Verschiedenes gibt, was auf das Subjekt bezogen worden ist, um dann wieder von dem Subjekt getrennt werden zu können. Damit aber „gewisse Empfindungen auf etwas außer mir [dem Subjekt] bezogen werden, d. i. (auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde,) imgleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muss die Vorstellung des Raumes zugrunde liegen“ (KrV A 23/B 38).Wenn Empfindungen auf etwas „in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich [das Subjekt] mich befinde“, d. h. in einem anderen Ort als das Subjekt selbst ist, bezogen werden müssen, muss die Vorstellung des Raumes allererst als formale Beschaffenheit des Subjektes vorhanden sein, d. h. das Subjekt muss selbst räumlich sein. Die Zugehörigkeit zu einem Ort und damit ein synthetischer Zusammenhang der räumlichen Verhältnisse werden zur Bedingung der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Und wenn die Eigenschaften des Raumes a priori bestimmbar werden sollen, womit der Raum zum Objekt, d. h. als außerhalb des Subjektes vorgestellt werden kann, so kann dies nur unter der Voraussetzung möglich sein, dass der Raum zugleich formale Eigenschaft des Subjektes ist. Daher lautet die Antwort auf die im dritten Abschnitt gestellte Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori: „Offenbar nicht anders, als sofern sie [eine äußere Anschauung vor den Objekten] bloß im Subjekte, als die formale Beschaffenheit desselben von Objekten affiziert zu werden, und dadurch unmittelbare Vorstellung derselben d. i. Anschauung zu bekommen, ihren Sitz hat, also nur als Form des äußeren Sinnes überhaupt“ (KrV B 41). Die objektive Gültigkeit der Geometrie beruht somit auf der subjektiven Beschaffenheit der räumlichen Verhältnisse, den prinzipiellen Bezug des Subjektes auf Objekte zu ermöglichen. Indem die Transzendentale Erörterung des Raumbegriffes die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori stellt, erfüllt sie eine äußerst
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wichtige Funktion nicht nur für die Ausführungen zur Transzendentalen Ästhetik als selbständiger Disziplin, sondern auch für ihren epistemologischen Zusammenhang mit der Logik. Sie weist nämlich nicht nur darauf hin, dass die ursprüngliche Vorstellung des Raumes objektive Gültigkeit a priori impliziert, wodurch „die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori begreiflich“ (KrV B 41) wird. Die ursprüngliche Vorstellung des Raumes ist zwar durch die Metaphysische Erörterung ihres Begriffes als reine Anschauung des Raumes dargestellt worden, reicht aber als rein und intuitiv allein nicht aus, um eine synthetische Erkenntnis a priori über die Eigenschaften des Raumes zu liefern, was nur in der Geometrie möglich ist. Denn Kant zufolge braucht sie dafür neben dem räumlich Mannigfaltigen noch eine zweite Komponente, nämlich einen qualitativen Grund der synthetischen Einheit der Vorstellung dieses Mannigfaltigen, die nur der Verstand geben kann. Deshalb konnte auch in der Metaphysischen Erörterung diese Erklärung für die Möglichkeit der Geometrie nicht geleistet werden, da dort rein induktiv aus der rezeptiven Funktion der Sinnlichkeit das Wesen der räumlichen Verhältnisse zu klären gesucht wurde. Für die Erklärung einer synthetischen Erkenntnis a priori werden aber zwei Komponente erforderlich, denn, wie Kant noch zu Anfang vorausgeschickt hat, „es [sind] zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis […], nämlich Sinnlichkeit und Verstand“ (KrV A 15/B 29). Daher ist es angesichts der Erklärung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori sowohl in der Transzendentalen Ästhetik als auch in der Transzendentalen Logik erforderlich, durch eine Transzendentale Deduktion aus dem gemeinsamen Produkt – den synthetischen Erkenntnissen a priori – die jeweiligen rein ästhetischen oder rein logischen Prinzipien zu explizieren. In der Transzendentalen Erörterung des Raumbegriffes wird nur die ästhetische Komponente für die Möglichkeit der Geometrie besonders hervorgehoben, nämlich die objektive Gültigkeit a priori der reinen Anschauung des Raumes, nicht aber die logisch bezogene Komponente, nämlich die Einheit ihrer Vorstellung. Sie ist nur implizit in der Argumentation enthalten und wird erst in den Ausführungen zur Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als formale Anschauung im Unterschied zur ästhetischen Komponente – der Form der Anschauung – marginal erwähnt.³³ Dementsprechend bemerkt Kant in der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe:
Die einzige Stelle, an der diese Differenzierung zwischen ‚Form der Anschauung‘ und ‚formale Anschauung‘ gemacht wird ist eine Fußnote zu § 26: „Der Raum, als Gegenstand vorgestellt, (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf) enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen nach der Form der Sinnlichkeit Gegebenen in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung [ästhetische Komponente] bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung [logische Komponente] aber Einheit der Vorstellung gibt.
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Der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf die Sinnlichkeit war laut der transz. Ästhetik: dass alles Mannigfaltige derselben unter den formalen Bedingungen des Raumes und der Zeit stehe [rein ästhetische Komponente der reinen Anschauung]. Der oberste Grundsatz eben derselben in Beziehung auf den Verstand ist: dass alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption stehe [ästhetische und logische Komponente] (KrV B 136).
Durch diese in der Transzendentalen Ästhetik nicht ausgeführte logische Komponente wird nicht nur die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in einer Vorstellung, wie es in der Geometrie erforderlich wird, gewährleistet, sondern auch der Zusammenhang der einzelnen Erkenntnisvermögen untereinander ermöglicht. Denn die Anschauung als Erkenntnis – und nicht bloß als formaler Aspekt der rezeptiven Funktion der Sinnlichkeit – nimmt notwendigerweise Bezug auf den Verstand, so das Argument von 1781/87. Mit dieser Skizze der Entwicklung von Kants Raumlehre sind die Argumente expliziert, die Kant dazu bewegten, die Ästhetik als eine eigenständige Disziplin von der Logik abzulösen und ihr eigene Prinzipien zuzugestehen. Durch die Transzendentale Untersuchung der Ästhetik wird zugleich eine spezifische Domäne ästhetischen Wissens entdeckt, das zwar nichts über die Gegenstände an sich auszusagen vermag, das aber „unsere Art, sie [die Gegenstände] wahrzunehmen“ (KrV A 42/B 59) untersucht und entsprechend die reinen Formen dieser dem Menschen eigentümlichen Wahrnehmungsart „vor aller wirklicher Wahrnehmung erkennt“ (KrV A 42/B 60). Die spezifische Bestimmung der ästhetischen
Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt.“ (KrV B 160 f.). Die Einheit der Vorstellung in der geometrischen Konstruktion setzt also eine Synthesis voraus, die selbst nicht sinnlich ist. Kant nennt sie an dieser Stelle formale Anschauung und behauptet damit, dass „die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt“, d. h. dass sie die Einheit der geometrischen Vorstellung gibt, soweit diese als Erkenntnis gilt und daher eine ästhetische und eine logische Komponente in sich enthält. Wie aus den weiteren Ausführungen in der Kritik der reinen Vernunft klar wird, sind mit der formalen Anschauung die Schemata der reinen sinnlichen Begriffe und der reinen Verstandesbegriffe gemeint, die alle Produkte der Transzendentalen Einbildungskraft sind, deren Synthesis zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand vermittelt. Sie ermöglichen einerseits die Vorstellung der Eigenschaften des Raumes, und somit die Anschauung des Raumes als Objekt in der Geometrie. Andererseits ermöglichen sie die Bestimmung der Zeit durch die Kategorien und somit die Anschauung der Zeit als Zustand des Subjektes. Auch wenn die Einheit dieser Anschauungen von Raum und Zeit nicht sinnlich gegeben ist, so zählt sie zur sinnlichen Vorstellung: „Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt [durch die transzendentale Zeitbestimmung]) der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung a priori zum Raume und der Zeit, und nicht zum Begriffe des Verstandes.“ (KrV B 161).
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Domäne als auf das vorstellende Subjekt und nicht auf das vorgestellte Objekt orientiert bildet auch einen wesentlichen Aspekt der Untersuchung der ästhetischen Urteilskraft und ihrer Prinzipien a priori, die Kant in seiner dritten Kritik von 1790 vornimmt.
Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb (1983): Texte zur Grundlegung der Ästhetik, hg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg: Meiner. Baumanns, Peter (1997): Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der Kritik der reinen Vernunft, Würzburg: Königshausen & Neumann. Clarke, Samuel (1990): Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/1716, hg. v. Ed Dellian, Hamburg: Meiner. Haag, Johannes (2007): Erfahrung und Gegenstand. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, Frankfurt am Main: Klostermann. Kant, Immanuel (1900 ff.): Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin [zitiert als AA mit Band- und Seitenzahl; Kritik der reinen Vernunft als KrV unter Angabe der Paginierung der beiden Erstausgaben von 1781 (A) und 1787 (B)]. Martin, Gottfried (1969): Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaft, Berlin: De Gruyter. Menzel, Alfred (1911): „Die Stellung der Mathematik in Kants vorkritischer Philosophie“, in: Kantstudien 16, 139 – 213. Newton, Isaac (1988): Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, hg. v. Ed Dellian, Hamburg: Meiner. Perler, Dominik/Haag, Johannes (2010): Ideen. Repräsentationalismus in der frühen Neuzeit, Berlin/New York: De Gruyter. Tetens, Holm (2006): Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, München: Beck. Vaihinger, Hans (1892): Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft Bd. 2, Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft [Reprint 1922]. Walch, Johann Georg (1726): Philosophisches Lexicon, Leipzig. Wohlfart, Günter (1980): „Ist der Raum eine Idee? Bemerkungen zur Transzendentalen Ästhetik Kants“, in: Kantstudien 71, 137 – 154. Wolff, Christian (1978): Vernünftige Gedanken (I) (Deutsche Logik), hg. v. Hans Werner Arndt, Hildesheim: Georg Olms.
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Der ästhetische Mensch von Baumgarten bis Schiller 1. Baumgarten Das Ziel dieses Beitrags ist – kurz gesagt – eine Diskussion der in der deutschen Philosophie von Baumgarten über Kant bis Schiller entworfenen ästhetischen Integrationsmodelle zweier verschiedener oder sogar entgegengesetzter Elemente des Menschen – seines Empfindens und seines Denkens. Wenn man aber Baumgartens Entwurf einer neuen Disziplin, sprich der Ästhetik, auch nur ein wenig kennt, könnte man sofort eine Frage stellen, die einen Einwand zur Sprache bringt: Da „ästhetisch“ soviel wie „sinnlich“ bedeutet, also nur eines der beiden zu integrierenden Elemente bezeichnet, wie kann dann die Integration selbst „ästhetisch“ sein? Die Frage trifft einen entscheidenden Punkt. Genau dieser rätselhafte Prozess, durch den sozusagen ein Teil zum Ganzen wird, ist ja ein typisches Phänomen in der Entwicklung der deutschen Ästhetik. Dies geht mit einer Bedeutungsverschiebung des Wortes „ästhetisch“ Hand in Hand: der etymologische Bezug zur Sinnlichkeit rückt in den Hintergrund, während der Bezug zum Schönen und zur Kunst in den Vordergrund tritt. Die Schönheit besteht aber – zumindest nach einer jahrhundertelangen Tradition, die für unsere Autoren noch gilt – in der Harmonie und Proportion. Eben darum kann es dazu kommen, dass die harmonische Integration entgegengesetzter Elemente eine ästhetische Angelegenheit ist. Der ästhetische Mensch ist also ein Mensch, der sein Empfinden und sein Denken in eine schöne Harmonie integrieren kann. Die eben genannten verschiedenen Bedeutungen von „ästhetisch“ sind schon bei Baumgarten anzutreffen, obwohl er dieses Wort ausdrücklich in Rücksicht auf dessen Etymologie prägt. Das geschieht bekanntlich am Ende seiner Dissertation Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735), die als eine Neubegründung der traditionellen Poetik und Rhetorik im Rahmen der Philosophie von Leibniz und Wolff angesehen werden kann. Der Ausgangspunkt dieser Neubegründung ist die graduelle leibnizwolffsche Klassifikation der Vorstellungen. Dunkel sind jene Vorstellungen, durch die ihre Gegenstände nicht wiedererkannt werden können. Klar sind nur jene, bei denen dies möglich ist. Sie können aber mehr oder weniger klar sein, je nachdem ob ihre Gegenstände nur im Großen und Ganzen oder in ihren Einzelheiten erkannt werden. Im ersten Falle heißen sie „sinnlich“, im zweiten
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„rational“. Soweit Leibniz,¹ der auf diese Weise eine reformierte Version des Rationalismus anbietet, die nicht mehr so sinnenfeindlich ist wie die eines Descartes. Baumgarten führt in der Klassifikation der Vorstellungen eine Neuerung ein, nämlich die Möglichkeit einer Steigerung der Klarheit, die sich nicht mit der Deutlichkeit oder – wie er sagt – mit der „intensiven Klarheit“ deckt. Nach ihm gibt es auch eine „extensive Klarheit“, die nicht in das Innere der Vorstellung eindringt, sondern sie von außen bereichert, indem sie z. B. Bilder und Beispiele bringt. Gerade an dieser Art von klaren Vorstellungen ist nach Baumgarten ein gutes Gedicht oder auch eine gute Rede, eine oratio sensitiva perfecta, besonders reich.² Am Ende der Dissertation geht Baumgarten einen Schritt weiter, indem er – wie gesagt – die neue Disziplin der Ästhetik entwirft. Die Logik, argumentiert er, sollte sich mir der ganzen Erkenntnis beschäftigen, sowohl mit der sinnlichen als auch mit der rationalen. Die erste vernachlässigt sie allerdings vollständig. Deswegen scheint es angebracht, die Logik auch prinzipiell auf das Feld zu begrenzen, das sie tatsächlich bearbeitet, und die Zuständigkeit über die sinnlichen Vorstellungen einer neuen Disziplin zu übertragen, die demnach den Namen „Ästhetik“ (aus dem griechischen aisthesis: Sinnlichkeit) verdient.³ Der Entwurf wird dann in dem großen (obwohl unvollendeten) Werk unter eben dem Titel Aesthetica (1. Band: 1750, 2. Band: 1758) entwickelt. Neben der grundlegenden Definition der Ästhetik als scientia cognitionis sensitivae taucht jetzt u. a. auch eine Definition auf, die die Schönheit oder genauer das „schöne Denken“ (ars pulcre cogitandi) erwähnt. Denn die Schönheit ist nichts anderes als die perfectio cognitionis sensitivae und nimmt damit die Stelle ein, die Baumgarten in den Meditationes der extensiven Klarheit zuschrieb. Die Schönheit wird aber durch einige Künste hervorgebracht, eben durch die „Künste, die man schön nennet“ (diese Wendung findet sich in der Vorlesung, in der Baumgarten seine Aesthetica auf Deutsch erläutert).⁴ Auch die schönen Künste sind also Gegenstand der Ästhetik, deren Feld übrigens noch weiter ist, da es alles fasst, was jenseits der engen Grenzen der deutlichen Erkenntnis liegt.⁵ Es handelt sich bei dem Sinnlichen ja um ein außerordentlich weites Feld, in dem sich der größte Teil unseres Lebens abspielt. Diese Feststellung liegt einigen Antworten Baumgartens auf mögliche Einwände zu Grunde. Man könnte z. B.
Vgl z. B. Leibniz 1992. Die weiteren Dichotomien seiner Klassifikationen sind für unser Thema irrelevant. Vgl. Baumgarten 1983, §§ 12 ff. Vgl. Baumgarten 1983, §§ 115 – 116. Baumgarten 1907, § 4. Vgl. z. B. Baumgarten 2009, §§ 3 – 4.
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behaupten, alles Sinnliche sei eines Philosophen unwürdig. Darauf erwidert Baumgarten (indem er einen Spruch des Terenz in variierter Form zitiert), der Philosoph sei ein Mensch unter Menschen und solle einen so großen Teil der menschlichen Erfahrung nicht als etwas betrachten, das ihm fremd ist.⁶ Auf ähnliche Weise könnte man auch einwenden, die Verworrenheit sei die Mutter des Irrtums. Mit Hinweis auf die lex continui von Leibniz antwortet Baumgarten, die Natur mache keinen Sprung aus der Dunkelheit in die Deutlichkeit: ex nocte per auroram meridies. ⁷ Die verworrene Klarheit ist jedoch nicht nur eine unausweichliche Stufe, sondern oft das Maximum, das wir Menschen anstreben können. Selbstverständlich ist die deutliche Erkenntnis besser, aber wir Menschen, endliche Wesen, können sicherlich nicht alles – und alles zugleich – deutlich erkennen. Es ist also ratsam, die deutliche Erkenntnis nur für die wichtigsten Dinge aufzubewahren. Für alles andere ist es genug, sogar besser, die nur klare Erkenntnis anzuwenden, die Erkenntnis also, für die die Ästhetik sorgt.⁸ Die Ästhetik hat nach dem pietistischen Baumgarten sogar eine religiöse Rechtfertigung und Funktion. Rigoristen könnten fordern, das Fleisch und die unteren Vermögen sollten vielmehr ausgemerzt werden.⁹ Der Versuch aber, die Sinnlichkeit zu unterdrücken, kann – so Baumgarten – keinen Erfolg haben, da sie zum Menschen gehört. Die Wirkung dieses Versuchs könnte ja in ihr Gegenteil umschlagen. Was also nötig ist, ist nicht Tyrannei, sondern Beherrschung. Indem die Ästhetik die Sinnlichkeit, die als Teil der menschlichen Natur eine Gabe Gottes ist, nicht bekämpft, sondern leitet, „trägt“ sie sogar „zum Vorteile der Gottesfurcht das Ihrige bei“, behauptet Baumgarten.¹⁰ Schon diese wenigen Hinweise auf die Ästhetik Baumgartens zeigen, dass sie weit mehr ist als eine Philosophie der schönen Kunst. Ihr Hauptzweck ist die Integration der Sinnlichkeit in den Menschen.¹¹ Wie es in der deutschen Vorlesung heißt: „Man muss die Sprache des Verstandes und der Sinnlichkeit reden können“.¹² Die Personifikation dieses Ideals ist der felix aesteticus,¹³ der erfolgreiche ästhetische Mensch bzw. der „schöne Geist“, der zugleich „auch einen guten Kopf und ein gutes Herz“ hat.¹⁴ Vgl. Baumgarten 2009, § 6. Vgl. Baumgarten 2009, § 7. Vgl. Baumgarten 2009, § 8. Vgl. Baumgarten 2009, § 12. Baumgarten 1907, § 11. Auch und genau deswegen kann sich dieser Mensch in die menschliche Gesellschaft integrieren. Baumgarten 1907, § 4. Vgl. Baumgarten 2009, § 28. Baumgarten 1907, § 28.
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2. Kant Die Ästhetik wurde aber durch die direkten Nachfolger Baumgartens (wie z. B. seinen Schüler Meier)¹⁵ auf eine Philosophie der schönen Kunst reduziert, wobei der ursprüngliche Hinweis auf die Sinnlichkeit in den Hintergrund tritt. Nur wenn man diese Transformation berücksichtigt, kann man sich die sonderbare Tatsache erklären, dass Kant am Anfang seiner ersten Kritik gerade gegen Baumgarten behauptet, dass die Ästhetik – wie die Etymologie beweist – die Sinnlichkeit betrifft (vgl. AA III, 50 Anm.). Das bedeutet aber nicht, dass Kant, ohne es zu wissen, auf Baumgarten zurückfällt, denn seine Ästhetik ist nicht psychologisch, sondern transzendental, betrifft also nicht die „sinnlichen Vorstellungen“, sondern die Prinzipien der Sinnlichkeit. Die graduelle Klassifikation der Vorstellungen fällt weg und zwischen Sinnlichkeit und Verstand öffnet sich jetzt eine Kluft, die Kant nur mit großer Mühe durch die Lehre des Schematismus zu überbrücken versucht. Ohne jene graduelle Klassifikation der Vorstellungen gibt es übrigens auch den Weg nicht mehr, der bei Baumgarten zum Thema der Schönheit führte. Insofern hat Kant darin recht, seine Position gegen die von Baumgarten abzusetzen. Umso merkwürdiger ist es dann jedoch, dass Kant in seiner dritten Kritik mit dem Adjektiv „ästhetisch“ diejenigen „Beurtheilungen“ qualifiziert, „die das Schöne und Erhabne der Natur oder der Kunst betreffen“, und ihrer transzendentalen Kritik „das wichtigste Stück“ dieses Werkes widmet (AA V, 169). Aber damit wird keine Rückkehr zu Baumgarten und zu seiner Lehre der Schönheit als Perfektion der sinnlichen Erkenntnis angedeutet (vgl. AA V § 15). Denn das Adjektiv „ästhetisch“ wird jetzt von Kant nicht so sehr auf die Sinnlichkeit, sondern vielmehr auf das Gefühl bezogen. Eigentliches Thema der Kritik ist außerdem auch nicht das Gefühl der Lust als solches, sondern die reflektierende Urteilskraft, die dieses Gefühl sozusagen leitet. Darin besteht ja der Unterschied zwischen einer psychologischen Anthropologie, die die Vermögen des Gemüts beschreibt,¹⁶ und einer transzendentalen Anthropologie, die vielmehr die oberen Erkenntnisvermögen behandelt, welche ihrerseits die Vermögen des Gemüts durch ihre Prinzipien a priori leiten (vgl. AA V § IX, mit der beigefügten Tafel). Neben der Urteilskraft gehören zu den oberen Erkenntnisvermögen der Verstand und die Vernunft, die jeweils das gesamte Erkenntnisvermögen und das
Vgl. Georg Friedrich Meier 1748 – 50. Der erste und der zweite der drei Bände dieses Werkes erschienen sogar vor der Aesthetica Baumgartens. So beispielsweise auch die Pragmatische Anthropologie in weltbürgerlicher Hinsicht (AA VII), wie schon der Bau ihrer Anthropologischen Didaktik zeigt.
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Begehrungsvermögen leiten und also jeweils für die wissenschaftliche und für die moralische Erfahrung zuständig sind. Diese beiden Erfahrungen und nicht die ästhetische Erfahrung sind für die Weltanschauung und das Menschenbild Kants ausschlaggebend. Trotzdem führt ihn die Systematik seiner Kritik zur ästhetischen Erfahrung, die eine Brücke über die Kluft zwischen Freiheit und Natur schlagen soll. Also sind auch bei Kant mindestens einige Ansätze aufzufinden, die auf den ästhetischen Menschen als vollständigen Menschen hinweisen. Gleich am Anfang der Kritik der ästhetischen Urteilskraft hebt Kant das Eigentümliche des Wohlgefallens am Schönen gegenüber dem Wohlgefallen am Guten und gegenüber dem Wohlgefallen am Angenehmen hervor. Nur das erste ist „uninteressiert“, während die beiden anderen von einem (rationalen oder sinnlichen) Interesse abhängen. Von einem anderen Gesichtspunkt her bezieht aber genau das Wohlgefallen am Schönen sowohl den vernünftigen als auch den sinnlichen Teil des Menschen mit ein. Kant verkoppelt die Dreiteilung der Arten des Wohlgefallens mit einer Dreiteilung von Wesen in Tiere, Menschen und Geister. Die Verkoppelung ist aber nicht eineindeutig: wir Menschen teilen das Wohlgefallen am Angenehmen mit den anderen sinnlichen Wesen, also mit den Tieren, und das Wohlgefallen am Guten mit den anderen vernünftigen Wesen, also mit den Geistern. Da wir – und nur wir allein – gleichzeitig sinnlich und vernünftig sind, sind wir also die einzigen Wesen, die überhaupt die Möglichkeit haben, Schönheit zu erfahren. Wenn es sich so verhält, dann kann man auch noch weitergehen und die ästhetische Erfahrung für die einzige Erfahrung halten, in der der Mensch seine vollständige Natur erfährt.
3. Schiller Diesen weiteren Schritt macht bekanntlich Schiller in seinem philosophischen Hauptwerk Über die ästhetische Erziehung des Menschen, das aber schon eine Kritik und eine Verbesserung der Moralphilosophie Kants voraussetzt.¹⁷ Schiller hatte diese (übrigens auf eine sehr sanfte und diplomatische Weise) am Ende seiner Erörterung Über Anmut und Würde vorgebracht.¹⁸ Das moralische Prinzip
Mindestens in einer Fußnote soll daran erinnert werden, dass die Ausgangsfrage des Werkes politischer Natur ist (vgl. Schiller 2000, Brief 2): Ist es möglich, die Zerrissenheit der modernen Gesellschaft zu überwinden – und wenn ja: wie? Als Beispiel einer (übrigens bewusst idealisierten) „organischen“ und schönen Menschheit gelten die Griechen (vgl. Schiller 2000, Brief 6). Die Aufgabe wäre also die Wiederherstellung jener schönen Totalität auf einem höheren Niveau (d. h. ohne die Vorteile des Fortschritts zu verlieren). Vgl. Schiller 1992, 365 – 372.
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soll ja, wie Kant behauptet, bloß durch die Vernunft festgestellt werden. Das bedeutet aber nicht, dass die Sinnlichkeit auch „bei der wirklichen Ausübung der Sittenpflicht“ keine Rolle spielen darf. Mehr noch: „Die sittliche Vollkommenheit des Menschen“ erfordert den „Anteil der Neigung“. Das geschieht in der „schönen Seele“, d. h. wenn die sinnliche Neigung so sehr durch das moralische, rationale Prinzip durchdrungen ist, dass sie spontan tugendhaft ist: „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren“.¹⁹ Kant, der übrigens auch selbst, obwohl nur gelegentlich und auf eine andere Weise, den Begriff der „schönen Seele“ im Sinne einer Verbindung von Ethik und Ästhetik benutzt hatte (vgl. AA V § 42), antwortet nicht weniger sanft und diplomatisch auf Schillers „mit Meisterhand verfaßte Abhandlung“ (AAVI, 23 Anm.). Er betont zwar wieder, die Bestimmung der Pflicht sei nur Sache der Vernunft (was übrigens Schiller nicht abgestritten hatte), stimmt jedoch mit ihm darin überein, „die ästhetische Beschaffenheit“ der Tugend kann nur „fröhlich“ sein (ebd.). Sind also Kant und Schiller im Grunde derselben Auffassung, wie beide zu verstehen geben? Jein. Was für Kant wichtig ist, ist nur die „moralische Schätzung“, die für Schiller dagegen sogar „einseitig“ ist. Die „vollständige anthropologische Schätzung“²⁰ rühmt vielmehr den ästhetischen Menschen als den vollständigen Menschen. Schiller gelangt zu diesem Ergebnis über einen „transzendentalen Weg“, der die Frage erörtert, ob der Begriff der Schönheit „aus der Möglichkeit der sinnlichvernünftigen Natur gefolgert werden“ kann und sich somit „als eine nothwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen“ lässt.²¹ Dafür, dass die vermischte „sinnlichvernünftige Natur“ des Menschen einheitlich wird, sorgen zwei einander entgegengesetzte Triebe: einerseits der materiale oder sinnliche Trieb, der danach trachtet, dass sich die Person, also der vernünftige Teil des Menschen, verwirklicht, andererseits der Formtrieb, der von der Welt zum Ewigen hinauftreibt.²² Die beiden Triebe sind entgegengesetzt, aber auch komplementär, da es „ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form“ geben kann.²³ Um dies auszudrücken, benutzt Schiller den Fichteschen Begriff der „Wechselwirkung“,²⁴ wobei man
Schiller 1992, 371. Schiller 2000, Brief 4, 15. Schiller 2000, Brief 10, 42. Vgl. Schiller 2000, Brief 12. Schiller 2000, Brief 13, 50 Anm. Schiller selbst verweist auf Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftlehre von 1794 (vgl. Schiller 2000, Brief 13, 50 Anm.).
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freilich nicht übersehen darf, dass der Erzieher der Menschen bei Fichte der Philosoph ist,²⁵ bei Schiller dagegen der Künstler.²⁶ Eine tatsächliche, glückliche Wechselwirkung der beiden Triebe würde dem Menschen „eine vollständige Anschauung seiner Menschheit“ ermöglichen.²⁷ Das geschieht, indem „ein neuer Trieb“ entsteht, der die Einseitigkeit der beiden anderen aufhebt. Eben weil er die entgegengesetzten Nötigungen aufhebt, kann er „Spieltrieb“ genannt werden.²⁸ Da der Gegenstand des Formtriebes die Form und der Gegenstand des sinnlichen Triebes das Leben ist, ist der Gegenstand des Spieltriebes die „lebendige Gestalt“. Diese aber ist die „Schönheit“.²⁹ So kommt es zum quod demonstrandum erat: „aus transcendentalen Gründen“ ist es nötig, dass, wenn „eine Menschheit existieren [soll]“, dann auch „eine Schönheit seyn“ soll.³⁰ Denn die Schönheit ist der Gegenstand des ästhetischen Spiels, also der einzigen Erfahrung, in der der Mensch seine vollständige Natur erfahren kann. Schiller formuliert es in zwei berühmten Sätzen, die insgesamt eine Gegenseitigkeit von Mensch, Spiel und Schönheit ausdrücken: „[D]er Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen“; „[D]er Mensch spielt nur,wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.³¹ Die Lehre der drei Triebe wird dann zur Lehre der vier Zustände entwickelt: passive Bestimmbarkeit, passive Bestimmung, aktive Bestimmbarkeit und aktive Bestimmung.³² Um zu verstehen, wie aus drei vier werden, genügt es zu berücksichtigen, dass der erste Zustand ein Nullpunkt ist. Der zweite Zustand ist die sinnliche Bestimmung, also das Empfinden, der vierte ist die rationale Bestimmung, also das Denken. Der dritte und vermittelnde Zustand ist der ästhetische,³³ wobei die „ästhetische Beschaffenheit“ einer Sache nach Schiller jene ist, welche „sich auf das Ganze unsrer verschiedenen Kräfte“ bezieht, „ohne für eine einzelne derselben ein bestimmtes Objekt zu seyn“.³⁴ Wenn man diese (nicht selbstverständliche) Definition zulässt, dann ist der nächste Schritt einfach: im Gegensatz
Vgl. Fichte 1966. Vgl. Schiller 2000, Brief 9. Schiller 2000, Brief 14, 56 Ebd. Schiller 2000, Brief 15, 58; vgl. Brief 25, wo aber an der Stelle der „Gestalt“ die „Form“ vorkommt. Schiller 2000, Brief 15, 59. Schiller 2000, Brief 15, 62 f. Vgl. Schiller 2000, Brief 19. Vgl. Schiller 2000, Brief 20. Man könnte diesen Zustand mit dem Schematismus Kants vergleichen, aber mit einem Schematismus, der durch die dritte Kritik ganz neu gedacht wird. Schiller 2000, Brief 20, 81 Anm.
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zur passiven Bestimmbarkeit, die eine „leere Unendlichkeit“ ist, ist die aktive, also die ästhetische Bestimmbarkeit, eine „erfüllte Unendlichkeit“³⁵, da sie „das Ganze der Menschheit“ und „jede einzelne Äußerung derselben“ – wohl nur „dem Vermögen nach“ – „in sich schließ[t]“.³⁶ Sie begünstigt „keine einzelne Funktion der Menschheit ausschließend“ oder „vorzugsweise“, sondern alle zugleich und ist in diesem Sinne „der Grund der Möglichkeit von allen“.³⁷
4. Über Schiller hinaus Durch diese Argumentation gelangt Schiller zu seiner These, nur der ästhetische Mensch sei vollständig. Forderungen, die schon bei Baumgarten auftauchten und die dieser im Rahmen der Philosophie von Leibniz geltend machte, erfüllt Schiller jetzt mit allen Kräften und auf eine komplexere Weise im Rahmen der kantischen Philosophie, deren Dualismus er aber, wie zum Teil schon Kant selbst in der dritten Kritik, aufzuheben versucht. Ist es jedoch stets schwierig, einen Dualismus aufzuheben, nachdem man ihn vorausgesetzt hat, so ist es im Falle des kantischen Dualismus noch schwieriger, da sich dieser teilweise sogar mit dem platonischen metaphysischen Dualismus vom Sinnlichen und Übersinnlichen deckt.Wenn man diese platonische Färbung des Dualismus von Kant bedenkt ist es nicht merkwürdig, dass Kant selbst und dann Schiller die Lösung im Rahmen der ästhetischen Erfahrung suchen, denn schon Platon hatte die Schönheit als die Brücke zwischen der sinnlichen Welt und der Welt der Ideen bestimmt.³⁸ Nicht zufällig ist also diese platonische (zum Teil durch den Neuplatonismus übernommene) Lehre³⁹ bei den frühromantischen und bei den frühidealistischen Philosophen besonders beliebt. Dies liegt freilich außerhalb der chronologischen Grenzen dieses Beitrags. Aber ich möchte dennoch kurz einige spätere Philosophen erwähnen, nicht nur weil sie für das Thema des vollständigen, ästhetischen Menschen von Bedeutung sind, sondern auch weil sie zugleich wichtige Momente der philosophischen Schiller-Rezeption darstellen.
Schiller 2000, Brief 21, 83. Schiller 2000, Brief 22, 85. Ebd. Und zwar in beiden Richtungen: nur weil die Schönheit die einzige Idee ist, die ihren Glanz in die sinnliche Welt mit sich bringt, kann sie auch als Weg einer Rückkehr zur Welt der Ideen wirken (vgl. Phaedr. 249d – 250e und Symp. 210a – 212a). Erst Plotin bringt z. B. die Schönheit mit der Kunst in Verbindung (vgl. Enneade V, 8).
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Als erster verdient Hölderlin zitiert zu werden, der Schiller verehrt und der ihn zugleich radikalisieren möchte.⁴⁰ Schillers Zusammenhang zwischen der Ganzheit des Menschen und der Schönheit, ja auch das ausgezeichnete Beispiel der Griechen hallen noch im Hyperion nach.⁴¹ Als zweiten möchte ich Schelling erwähnen: indem dieser die ästhetische Erfahrung als die Objektivierung der intellektuellen Anschauung darstellt, rühmt er mit Worten, die nach Schiller klingen, die Kunst, denn sie bringt „den ganzen Menschen“ zu dem „Höchsten“ – und nicht „nur gleichsam ein Bruchstück des Menschen“,⁴² wie die Philosophie es tut. Zu dieser Zeit ist Schelling noch den Frühromantikern nah, die ebenfalls das Primat der ästhetischen Erfahrung behaupteten. Das taten sie aber auf eine Weise, die zwar Schiller voraussetzt, ihn jedoch sozusagen extremisiert: man denke hier vor allem an Friedrich Schlegel.⁴³ Nach Hegel besteht der Fehler in dieser Richtung auch darin, dass der von Schiller angeführte „ganze Mensch“ im Sinne des ironischen Genies missverstanden wird:⁴⁴ Schiller habe einen entscheidenden Schritt über Kant hinaus gemacht, die Frühromantiker seien dann aber in die Irre gegangen. Gegen ihre Versuche bzw. Versuchungen gerichtet, wieder eine „Kunstreligion“ herzustellen, behauptet Hegel, die Kunst sei in der Moderne nicht mehr fähig, die höchsten Forderungen des Geistes zum Ausdruck zu bringen. Dies bedeutet aber zugleich, dass Schillers Forderung nach „Totalität und Versöhnung“ nunmehr von der Philosophie – und nicht einfach im Sinne eines Gleichgewichts der Vermögen im Individuum – weiter entwickelt werden soll. Die ästhetische Erfahrung erhält erneut einen Vorrang bei Nietzsche, der zunächst, z. B. was das Apollinische betrifft, auch unter dem Zeichen von Schiller steht.⁴⁵ Später wendet sich Nietzsche⁴⁶ gegen Schiller,⁴⁷ je mehr er den – immer
Vgl. z. B. Hölderlins Briefe an Neuffer vom 10. Oktober 1794 und an Niethammer vom 24. Februar 1796 (Hölderlin 2007). Vgl. die Reden über die Athener am Ende des ersten Buches des Hyperions (Hölderlin 1797). Im Vergleich zu Schiller räumt Hölderlin aber den Dissonanzen mehr Platz ein (vgl. den Schluss des zweiten Buches, 1799, und damit des ganzen Romans). Schelling 1985, 698. Nach dem Aufsatz Über das Studium der Griechischen Poesie (1795 – 97, Schlegel 1997), der große Ähnlichkeit mit Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795 – 96, Schiller 1992, 706 – 810) aufweist, wendet sich Friedrich Schlegel polemisch, ja sarkastisch gegen Schiller. Vgl. Hegel 1970, 83 – 99 („Historische Deduktion des wahren Begriffs der Kunst“). Vgl. Nietzsche 1988 Bd. 1, Die Geburt der Tragödie (1872). Wie zu seiner Zeit Friedrich Schlegel. Vgl. z. B. Nietzsche 1988 Bd. 6, Götzen-Dämmerung, 111, wo Schiller als „Moral-Trompeter“ definiert wird.
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noch behaupteten – Vorrang der Kunst doch im Sinne eines Vorrangs des Dionysischen denkt. Nun ist das Interesse Nietzsches nicht der ästhetische und vollständige Mensch, sondern die Kunst als Gegenbewegung zum Nihilismus und der Mensch als Brücke zum Übermenschen.⁴⁸ Auch in Anlehnung an Nietzsche versucht endlich Heidegger die Metaphysik, die Ästhetik und den Humanismus zu überwinden, bzw. zu verwinden.⁴⁹ Sein Urteil über Schiller ist aber durchaus positiv: dieser sei mit seinem Begriff des ästhetischen Zustandes als Weiterentwicklung der „Lust der Reflexion“ von Kant noch tiefer in das Wesen des „Daseins des Menschen“ vorgedrungen.⁵⁰ Mit einer guten textuellen Stütze⁵¹ behauptet Heidegger sogar, Schiller überwinde tendenziell die traditionelle metaphysische Auffassung des Menschen als animal rationale. ⁵² Wenn dem so ist, dann stellt sich der ästhetische Mensch auch jenseits einer Wechselwirkung von Sinnlichkeit und Begriff.⁵³
Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb (1907): Kollegnachschrift, in: B. Poppe, A. G. Baumgarten, Borna-Leipzig. Baumgarten, Alexander Gottlieb (1983): Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735), Hamburg: Meiner. Baumgarten, Alexander Gottlieb (2009): Ästhetik/Aesthetica (1750/1758), hg. von Dagmar Mirbach, Hamburg: Meiner. Dewey, John (1980): Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fichte, Johann Gottlieb (1966): Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), in: Werke I, Bd. 3, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Richard Schottky, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann, 23 – 68.
Vgl. z. B. die Fragmente über „den Willen zur Macht als Kunst“ in Nietzsche 1988 Bd. 13. Vgl. Heidegger 1961, vor allem den ersten Teil: Der Wille zur Macht als Kunst. Vgl. Heidegger 1961, 133 (und auch 127). Anderswo stellt Heidegger einen interessanten Vergleich an zwischen dem ästhetischen Zustand von Schiller und der von Kierkegaard beschriebenen Existenzform, die nach ihm genau das Gegenteil und „das Unwesen“ des ersteren ist: vgl. Heidegger 2005, 22. Vgl. Schiller 2000, Brief 24, 101, wo Schiller schreibt, der Mensch soll nicht nur kein „vernunftloses“, sondern auch kein „vernünftiges Thier“ sein: „er soll Mensch seyn“. Vgl. Heidegger 2005, 31. Der eben skizzierte Überblick ist lange nicht erschöpfend. Man könnte z. B. Dewey (und zwar nicht nur wegen des immerhin bedeutenden Hinweises auf Schiller in Dewey 1980, 329, Fußnote) nennen und auch Marcuse 1979, 150 – 169, wo die politische Bedeutung des philosophischen Hauptwerks von Schiller – auch mit Hinweisen auf Baumgarten und Kant – akzentuiert und aktualisiert wird.
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Fichte, Johann Gottlieb (1997): Grundlage der gesammten Wissenschaftlehre (1794), Hamburg: Meiner. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Werke Bd. 13), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Heidegger, Martin (1961): Nietzsche. Erster Band, Pfullingen: Günther Neske. Heidegger, Martin (2005): Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Marbach: Deutsche Schillergesellschaft. Hölderlin, Friedrich (1797/1799): Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Tübingen: J. G. Cotta. Hölderlin, Friedrich (2007): „Brief an Neuffer vom 10. Oktober 1794“ und „Brief an Niethammer vom 24. Februar 1796“, in: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe) Bd. 19, Frankfurt am Main: Roter Stern, 197 – 199 und 248 – 249. Kant, Immanuel (1900 ff.): Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin [zitiert als AA mit Band- und Seitenzahl]. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1992): „Meditationes de cognitione, veritate ed ideis/Betrachtung über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen“ (1684), in: Philosophische Schriften und Briefe 1683 – 1678, hg. v. Ursula Goldenbaum, Berlin: Akademie Verlag. Marcuse, Herbert (1979): Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Meier, Georg Friedrich (1748 – 50): Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften. Nietzsche, Friedrich (1988): Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: De Gruyter. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1985): System des transzendentalen Idealismus (1800), in: Ausgewählte Schriften Bd. 1, hg. von Manfred Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 395 – 702. Schiller, Friedrich (1992): Über Anmut und Würde (1793), in: Werke und Briefe Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. v. Rolf-Peter Janz, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 330 – 394. Schiller, Friedrich (2000): Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart: Reclam. Schlegel, Friedrich (1979): „Über das Studium der Griechischen Poesie“ (1795 – 97), in: Studien des klassischen Altertums, hg. von Ernst Behler (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 1), Paderborn: Schöningh, 217 – 367.
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Kants ästhetische Urteilskraft als nicht-ästhetisches Wissen und das Ende des modernen Subjekts¹ Einer der interessantesten Aspekte von Baumgartens Projekt der Ästhetik als jüngerer Schwester der Logik² liegt in einer Art „Heterogenese der Zwecke“, die in späteren Wiederaufnahmen zu konstatieren ist. Spätere Autoren, die implizit oder explizit darauf Bezug genommen haben, sind sozusagen auf produktive Missverständnisse gestoßen, indem sie das ursprüngliche Projekt in Richtungen entwickelt haben, die nichts oder wenig direkt mit Baumgarten zu tun hatten und die trotzdem die Intuition eines ästhetischen Wissens als Mittelpunkt zwischen Sinnlichkeit und Begriff mit überraschenden Ergebnissen vorangebracht haben. Mein Beitrag konzentriert sich auf Kants Überlegungen zur ästhetischen Urteilskraft in ihrer nicht-ästhetischen Valenz, nämlich überhaupt als exemplarischer Ort des „freien“, gleichzeitig aber jedermann zumutbaren intersubjektiven Konsenses.³ Das Thema hat an und für sich keinen Anspruch auf Originalität: Diese Deutung der ästhetischen Urteilskraft hat bereits eine gewichtige und sehr differenzierte Wirkungsgeschichte erfahren, von Schiller über den Idealismus bis zumindest hin zu Arendt. In dieser Studie wird allerdings ein indirekter Anschluss an das Argument versucht, d. h. es wird nicht im Sinne einer unmittelbaren und objektiven Relevanz der ästhetischen Urteilskraft für die praktisch-politische Sphäre argumentiert (wie bei Schiller und Arendt), sondern es wird gezeigt, wie Kants ästhetische Urteilskraft, in dem erwähnten Sinne gedeutet, die Grundlage einer neuen Konzeption der Subjektivität und des Wissens schafft. Es muss zugleich vorausgeschickt werden, dass ich keine Exegese Kants anstrebe, also nicht den Anspruch erhebe, durch meine Lektüre einen historisch-philologisch unanfechtbaren Kommentar der kantischen Urteilskraft anzubieten, selbst wenn die interpretierenden Teile hoffentlich als Kommentar zu manchen zentralen Passagen aus der Kritik der ästhetischen Urteilskraft dienen können. Meine Ziele können demgegenüber auf folgende Weise gefasst werden: 1. im Allgemeinen einige systematische Gewinne zu beleuchten, die mit einer Deutung von Kants ästhetischer Urteilskraft als nicht-
Für viele Hinweise danke ich Leonardo Amoroso, Serena Feloj und Michael Städtler. Vgl. Baumgarten 1961, 5, § 13. Bei diesem Versuch habe ich mich weitgehend auf Amoroso 1984 gestützt.
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ästhetischem Wissen verbunden sind; 2. genauer, zu zeigen, dass die ästhetische Urteilskraft als der Ausgangspunkt eines neuen Verständnisses der Subjektivität angesehen werden kann, selbst wenn Kant offensichtlich nicht dieses Ziel im Sinne hatte bzw. das Bedürfnis danach verspürte; 3. noch genauer, dass diese „neue“ Subjektivität intersubjektiv verfasst ist, dass also anders als bei einigen Subjektivitätsauffassungen der Moderne (einschließlich Kant) das einzelne Subjekt nicht mehr das von allen Zusammenhängen losgelöste und abstrahierende Prinzip der Philosophie und der Welt, sondern in erster Linie das Resultat intersubjektiver Interaktionen und Konstruktionen ist. In diesem Sinne zieht mein Beitrag eine Linie von Kants ästhetischer Urteilskraft zur Kritik der modernen „Philosophien der Subjektivität“, die Hegel auf explizite Weise verfolgt, und zur „Destruktion“ des modernen (d. h. cartesianisch-kantischen) Subjekts, die meines Erachtens eine hegelsche Grundlage hat: wohlgemerkt eine Linie, die nur von einem retrospektiven Standpunkt aus, von Hegel ausgehend, deutlich werden kann. Insofern kann mein Versuch, wenn man will, auch als eine hegelsche Deutung der Kernbedeutung von Kants ästhetischer Urteilskraft als nicht-ästhetisches Wissen gelesen werden. Ich werde mich erstens um eine „ent-ästhetisierte“ Lesart der Kritik der ästhetischen Urteilskraft bemühen, nicht also um die Eingrenzung einer spezifischen Disziplin, die mit dem Schönen, dem Erhabenen, dem Genie, der Kunst usw. zu tun hat, sondern um eine beschwerliche, in gewissem Maße paradoxe Prüfungsprozedur für die Möglichkeit einer subjektiven Betrachtung, die aber, jedes sowohl empirische als auch logisch-moralische Interesse beiseite lassend, in sich selbst die Grundlage besitzt, sich einer freien intersubjektiven Dimension zu öffnen.⁴ Gewiss, die ästhetische Urteilskraft hat auch mit all jenen traditionellen Themen der Ästhetik als Philosophie der Kunst zu tun. Jedoch kann und soll die Fähigkeit, ästhetische Urteile zu fällen,vor allem als schwer begreifbares Bekenntnis zu einer weitaus umfassenderen menschlichen Fähigkeit angesehen werden: nämlich jener, eine subjektive Allgemeinheit herzustellen, einen intersubjektiven Konsens, der nicht durch eine Beziehung zu Begriffen oder zu empirischen Formen gebunden ist. Man könnte sagen, dass die ästhetische Urteilskraft das Zusammenkommen von Begriff und Sinnlichkeit nur dann erlaubt,wenn sie sich dem Verweis auf beide entzieht. Dementsprechend entzieht sie sich jenem Dualismus von Logik und Ästhetik (und der einschlägigen Gegenstände), der nicht nur bei Baumgarten, sondern auch und vor allem in den ersten zwei Kritiken Kants grundlegend gewesen war. Insofern bildet sie auch, wie anschließend gezeigt werden soll, die Grundlage einer neuen Konzeption der Subjektivität und der Philosophie über-
Vgl. auch Garroni 1986.
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haupt, die dann der Idealismus – und vor allem Hegel – systematisch und wieder mit ganz anderen Ergebnissen ausführen wird. Systematisch ist daher die ästhetische Urteilskraft als nicht-ästhetisches Wissen meines Erachtens viel interessanter denn als Grundlage einer Ästhetik als spezieller Disziplin. Ich werde in den ersten drei Abschnitten des Beitrags diese Lektüre der kantischen Urteilskraft ausführen und belegen, um dann im vierten Abschnitt die Linie der Argumentation ansatzweise mit Bezug auf Hegel weiterzuführen.
1. Die ästhetische Urteilskraft ist eine Spezifikation der reflektierenden Urteilskraft, also jener, die, von einem Besonderen ausgehend, das Allgemeine finden muss. Sie drückt sich in Geschmacksurteilen, d. h. im „Vermögen der Beurtheilung des Schönen“ aus (KU 203). Bekanntlich haben diese Urteile, zumindest im ersten Moment, nichts mit dem Objekt, sondern etwas mit dem Subjekt zu tun, und zwar in Bezug auf dessen Gefühl von Lust und Unlust. Daher haben sie, zumindest unmittelbar, weder einen praktischen noch einen theoretischen Wert. Tatsächlich begrenzt die dritte Kritik immer mehr das Feld dieser rein ästhetischen Urteile und führt Begriffe wie anhängende Schönheit, das Erhabene, Schönheit als Symbol der Moral etc. ein, die alles andere als nebensächlich sind. Neben dieser progressiven Begrenzung steht eine stufenweise Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Naturschönheit weg hin zur Kunstschönheit, und die zwei Spannungsverhältnisse sind offensichtlich miteinander verbunden. Auch bei einer nur oberflächlichen Lektüre wird deutlich, dass zwischen Beginn und Ende des ästhetischen Teils der dritten Kritik weit mehr geschieht als die Darlegung einer linearen Argumentation,wie komplex diese auch sein mag. Zu Beginn erklärt Kant z. B., dass das Urteil über das Schöne streng unterschieden ist von den Urteilen über das Angenehme und das Gute, die immer ein Interesse am Dasein des Gegenstandes voraussetzten.⁵ Auch wenn sich bereits § 42 mit dem intellektuellen (und daher auch dem moralischen) Interesse am Schönen befasst, so scheint doch die Behauptung der Interesselosigkeit nicht vollständig mit den Schlussfolgerungen der Kritik der ästhetischen Urteilskraft übereinzustimmen, wo man z. B. liest, dass „der Geschmack im Grunde ein Beurtheilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen […] ist“ und dass deshalb „die wahre Propädeutik zur
„Das Geschmacksurteil [ist] bloß contemplativ, d. i. ein Urtheil, welches, indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes, nur seine Beschaffenheit mit dem Gefühl der Lust und Unlust zusammenhält“ (KU 209).
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Gründung des Geschmacks die Entwickelung sittlicher Ideen […] sei“ (KU 356). Sicher, das reine Geschmacksurteil ist an und für sich ohne Interesse, aber es scheint an diesem Punkt dennoch einen Bezug auf die moralischen Ideen vorauszusetzen. Weiterhin ist zu bemerken, dass diese letzten Definitionen des Geschmacksurteils die kantische Theorie der Kunstschönheit berücksichtigen, d. h. das Schöne, welches im Gegensatz zur Naturschönheit einen Begriff benötigt. Diese Verlagerung ist aber auch aus anderen Gründen wichtig. Weiter gegen Ende der Kritik der ästhetischen Urteilskraft schreibt Kant, dass gerade von der „Versinnlichung“ der moralischen Ideen und von der daraus resultierenden größeren Rezeptivität für das moralische Gefühl sich „diejenige Lust […] ableitet, welche der Geschmack als für die Menschheit überhaupt, nicht bloß für eines jeden Privatgefühl gültig erklärt“ (ebd.). Damit scheint die besondere, dem ästhetischen Urteil eigene Intersubjektivität schließlich ihre Grundlage in der Fähigkeit zu finden, das sinnliche Sich-Hingeben der moralischen Ideen zu rezipieren, zu beurteilen und mitzuteilen. Dieses paradoxe Sich-Hingeben der moralischen Ideen in der Form des Phänomens kann ausschließlich die Menschen angehen, da, wie Kant in einer wichtigen Passage erklärt, „Schönheit nur für Menschen [gilt], d.i., thierische, aber doch vernünftige Wesen“ (KU 210). Das, was in diesem geschlossenen Wortpaar Menschlichkeit – Schönheit (später von Schiller auf enthusiastische und folgenreiche Weise wieder aufgegriffen) zählt, ist nicht eine Art von ästhetischem – oder ästhetisierendem – Privileg der Menschheit, sondern das Faktum, dass die Schönheit das eigentümlichste, das repräsentativste Produkt eines mentalen und existenzialen Verhaltens ist, das den Menschen, und nur ihnen, eigen ist. Das Ziel der dritten Kritik ist also nicht so sehr die Bestimmung der Gebiete der Ästhetik und der Teleologie als spezifische Disziplinen, sondern vielmehr die Bedingungen für das Möglichsein der Urteilskraft zu finden,von der die ästhetische Urteilskraft einen emblematischen Fall darstellt, der aber zugleich „Verlegenheit“ erzeugt (KU 169), da sie, obgleich sie mit dem Lust- und Unlustgefühl des Subjekts zu tun hat, eine allgemeinere Bedeutung anstrebt.⁶ Diese Allgemeinheit ist weder logischer Natur, so dass sie auf einem Begriff basierte, noch moralischer Natur, so dass sie auf dem kategorischen Imperativ basierte. Sie nimmt vielmehr als Intersubjektivität Gestalt an und, genauer, als Möglichkeit, einen allgemein anerkannten Sinn in der Aktivität der besonderen empirischen Subjekte zu finden. Ein typisches Merkmal der reflektierenden Urteilskraft ist nämlich die Tätigkeit der Subjekte, die diese ausüben, da sie nicht über ein bereits gegebenes Allgemeines verfügen, sondern dieses erschließen
Kurz gesagt ist „das Ziel der Kritik der Urteilskraft […] in erster Linie ein erkenntnistheoretisches“ (Städtler 2011, 552).
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müssen. Der Ausgangspunkt ist das einzelne Subjekt, das gerade in seiner Tätigkeit des Reflektierens und Urteilens die Möglichkeit für einen allgemeinen Konsens annehmen und sich zugleich von Mal zu Mal für dessen Realisierung einsetzen muss. Insofern ist das Schicksal der ästhetischen Urteilskraft ein politisches. Zu einem Zeitpunkt, als – auch historisch (1790) – die Menschen anscheinend über kein starkes, gegebenes positives Allgemeines mehr verfügen, erhält die ästhetische Urteilskraft die Aufgabe, ein neues Allgemeines herzustellen, das diesmal nicht mehr von oben durchgesetzt wird, sondern von der konkreten Tätigkeit und Reflexion eines jeden Subjekts ausgeht.⁷ Natürlich ist diese Tätigkeit nicht in ihrem rein praktischen Sinn von freier, weil moralischer,Tätigkeit zu verstehen (in diesem Fall befänden wir uns im Bereich der bestimmenden Urteilskraft), sondern in dem der phänomenalen Handlung, die aber nicht bloß auf sich selbst bezogen bzw. privat ist. Die ästhetische Urteilskraft eröffnet den Blick auf einen öffentlichen und intersubjektiven Raum, der im Gegensatz zum praktischen Raum nur von dieser Intersubjektivität lebt. Hier muss einem drohenden Missverständnis vorgebeugt werden.⁸ Ich will auf keinen Fall behaupten, dass der intersubjektive Raum bei Kant erst von der ästhetischen Urteilskraft eröffnet würde. Natürlich stellen sowohl die – im weitesten Sinne gefasst – wissenschaftliche Erkenntnis als auch die durch die praktische Vernunft begründete Moral Räume der Intersubjektivität dar. Diese sind jedoch so verfasst, dass für ihre Begründung und Artikulierung die durch allgemeine und notwendige Gesetze gebundene Universalität identischer einzelner Subjekte zuständig ist. Mit anderen Worten: Die plurale Dimension der Intersubjektivität spielt weder eine Rolle für die Verfassung des einzelnen Subjekts noch für die der (ebenfalls einzelnen) Menschheit. Die beiden Termini stimmen miteinander in ihrer Reinheit und Einzelheit durch allgemeine Gesetze oder transzendentale Formen überein. Dagegen ist für die intersubjektive Dimension mit ihrer Empirie (dem Gefühl von Lust), die aber keine bloße tierische Empirie ist, die einzig notwendige und notwendig einzige Bedingung der Raum der subjektiven Allgemeinheit, der durch die ästhetische Urteilskraft eröffnet wird. Wenn man die Gegenüberstellung etwas zuspitzen will, so bleiben wir im ersten Fall (bei der reinen wissenschaftlichen Erkenntnis und der rationalen Moral) bei einer subjektiv verfassten Intersubjektivität stehen, während im zweiten Fall (bei der ästhetischen Urteilskraft) eine intersubjektiv verfasste Subjektivität hinzukommt bzw. sich andeutet. Dass diese Behauptung nicht abstrakt ist, zeigen Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen, die eben die Erfahrung der Französischen Revolution und Kants Theorie der ästhetischen Urteilskraft in Verbindung bringen (vgl. Schiller 2000). Ich danke Ulrich Seeberg, der mich darauf aufmerksam gemacht hat.
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Der öffentliche Raum der ästhetischen Urteilskraft besteht aber nicht an und für sich, sondern er ist, da das ästhetische Urteil immer ein einzelnes Urteil ist, ein intra- und intersubjektives Übereinkommen, welches von Mal zu Mal gefunden werden muss. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es nützlich, an die Aussage von Arendt zu erinnern, nach der „the common element connecting art and politics is that they both are phenomena of the public world“.⁹ Das läuft allerdings nicht darauf hinaus, zwischen Kunst und Politik eine objektive Verwandtschaft herzustellen. Man muss im Gegenteil darauf aufmerksam machen, dass zwischen ihnen Unterschiede existieren, da die Politik auf Interessen basiert, teils von der Moral, teils von der bloßen List, teils von der Selbstliebe etc. diktiert. Die ästhetische Urteilskraft sollte sich hingegen von diesen Interessen freihalten. Die ästhetische Urteilskraft ist eben aus diesem Grund emblematisch und nicht, weil das Schöne die oberste und totalisierende Darbietung der Wahrheit sei, die nur teilweise von Bereichen wie Wissenschaft, Ethik, Politik und Religion erfasst würde (wie es etwa in der Frühromantik heißt – man denke nur an Schellings System des transzendentalen Idealismus). Denn die ästhetische Erfahrung ist der einzige Fall, bei dem sich das Individuum mit dem eigenen Menschsein konfrontiert und dabei einen Moment lang alle anderen Faktoren für sein Urteil unberücksichtigt lässt, seien diese lediglich privater (empirischer) Natur oder von bindender (logischer oder moralischer) Allgemeinheit. Dieser reine Reflexionsbereich ist gleichzeitig zentral und grenzwertig. Zentral ist er nicht nur, weil er den Mittelpunkt jener Vermögen bildet, die den Menschen ausmachen, sondern auch,weil er ein Muster für das Funktionieren des menschlichen Urteilens ist. Und grenzwertig ist er nicht nur, weil er außerhalb des Gebiets der Erkenntnis und der Moral liegt, sondern auch, weil er der Bereich der Ausnahme, des Unerwarteten und des nicht Vorherbestimmbaren ist. Diese beiden Aspekte scheinen in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander zu stehen, und das tun sie auch. Letztlich scheint auch das Streben nach Allgemeingültigkeit eines einzelnen Urteils, welches eine subjektive Gesinnung offen darstellt, widersprüchlich zu sein. Trotzdem ist es gerade das Vorhandensein dieser Gegensätze, das die ästhetische Urteilskraft so interessant und die kantische Suche nach ihren transzendentalen Bedingungen so ergiebig macht, auch für Bereiche fern des Schönen und der Kunst. Das Wohlgefallen am Schönen legt die Möglichkeit offen für ein allgemeines, aber gleichzeitig nicht begriffliches Einverständnis. Kant nennt sie, um bei Widersprüchlichem zu bleiben, „subjektive Allgemeinheit“ (KU 212). Sie ist gerade dem Wohlgefallen am Schönen eigen: Der Urteilende „kann […] keine Privatbedingungen als Gründe des Wohlgefallens
Arendt 1968, 218.
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auffinden […], und muß es daher als in demjenigen begründet ansehen, was er auch bei jedem andern voraussetzen kann“ (KU 211). Damit ist zwar nicht gemeint, dass das ästhetische Urteil aufgrund einer tatsächlichen Intersubjektivität zustande kommt. Man kann aber wohl behaupten, dass das Streben nach Allgemeingültigkeit eines ästhetischen Urteils den Raum für eine kommunikative Intersubjektivität eröffnet. Diese Eröffnung kommt am besten zum Ausdruck in der Antinomie des Geschmacks: „Über den Geschmack läßt sich streiten (obgleich nicht disputieren)“ (KU 338). Die Möglichkeit des Streits über den Geschmack deutet auf einen Raum der Intersubjektivität hin, in dem die Subjekte miteinander umgehen nicht aufgrund objektiver Prinzipien (sonst ließe sich über den Geschmack disputieren), sondern aufgrund der nämlichen Möglichkeit der Kommunikation, d.i. der Hoffnung, dass das einzelne, private empirische Urteil Allgemeingültigkeit besitzen kann (sonst ließe sich über den Geschmack nicht einmal streiten): „Denn worüber es erlaubt sein soll zu streiten, da muß Hoffnung sein unter einander überein zu kommen; mithin muß man auf Gründe des Urtheils, die nicht bloß Privatgültigkeit haben und also nicht bloß subjectiv sind, rechnen können“ (ebd.).
2. Die ästhetische Urteilskraft ist also tatsächlich ein Übergangspunkt zwischen dem „Menschen“ der ersten beiden Kritiken und der „Menschheit“ der Kritik der teleologischen Urteilskraft, der politischen Schriften und der Philosophie der Geschichte.¹⁰ Sie ist im Besitz der „Menschen“ als konkrete Wesen, die zwischen Privatsphäre, Eigenheit des Fühlens und Wollens und unumgänglichem Bezug zu gemeinsamer Gestalt und Teleologie schwanken. Dieser Übergangspunkt ist allerdings nur frei, wenn man ihn auch frei gestalten möchte: Die ästhetische Urteilskraft entfaltet sich bei einem vorübergehenden, aber freien und spontanen Verzicht auf die eigenen Interessen und Neigungen. Die ästhetische Urteilskraft ist isoliert, weil sie exemplarisch ist, und sie ist exemplarisch, weil sie isoliert ist: Hält sie sich von Interessen fern, so wirkt sie frei und mit paradigmatischem Wert, ist sie dagegen mit Interessen und theoretischen und praktischen Ansprüchen verbunden, verliert sie diesen Wert. Wenn wir zwischen Mensch und Menschheit die Menschen und zwischen Individuum und Gemeinschaft die Intersubjektivität behandeln, so ist es eventuell möglich, sich auf dem Gebiet der konkreten Existenz zu bewegen, welche nie bloß
Vgl. Arendt 1982, 26 f.
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individuell oder bloß universell ist. Tritt der Mensch mit seinem eigenen Menschsein in Verbindung, so bedeutet dies die Entdeckung der Möglichkeit, mit seinesgleichen die Art und Weise und die Dynamik des Suchens nach dem Allgemeinen im Besonderen, nach Sinn im Konsens zu teilen. Die Lust am Schönen ist die einzige frei mitteilbare, und zwar ohne Rest und ohne Zwänge. Sie ist reine, potenzierte Mitteilung, denn durch sie teilt man nichts anderes mit als die Bedingungen für das Kommunizieren selbst in ihrer reinsten Art und Weise des Funktionierens.¹¹ Weiter heißt es, dass dies „vermittelst eines Verfahrens der Urtheilskraft, welches sie auch zum Behuf der gemeinsten Erfahrung ausüben muß“, geschieht (KU 292). Die reflektierende Urteilskraft ist also, da sie vor allem eben „Reflexion“ ist, ein Vermögen, das täglich weit und breit gebraucht wird (insofern nennt Kant im § 40 den Geschmack auch sensus communis). Die Hoffnung auf subjektive Allgemeinheit, die man exemplarisch im Geschmacksurteil antrifft, ist aber nur dann zu erfüllen, wenn es dem Subjekt gelingt, „der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde“ (KU 293). Mittels der Reflexion ist es möglich, die vermeintliche Objektivität einiger Bedingungen für das Urteil des Einzelnen auf ihren subjektiven und privaten Ursprung zu „reduzieren“. Diese Reduktion sollte zunächst transzendental und dann erst anthropologisch-empirisch definiert werden: Sie erfolgt „dadurch, daß man sein Urtheil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urtheile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälliger Weise anhängen, abstrahirt“, wobei „nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche“ zu unterstreichen ist (KU 294). Das bedeutet, dass die Läuterung der Reflexion von ihren Privatbedingungen sich nicht auf einen empirischen Sachverhalt stützt, d. h. auf die Kenntnisse a posteriori darüber, wie sich die anderen Menschen zur gleichen Frage verhalten; dieser Vorgang stützt sich stattdessen auf sich selbst, auf die Möglichkeit, eine Antwort zu erhalten, indem einfach vermieden wird, bloß private Triebfedern auf der Suche des Besonderen nach dem Allgemeinen einzuschieben. Offensichtlich ist es auch hier das Geschmacksurteil, das das Muster für das Funktionieren dieser Fähigkeit darbietet. Die reine Möglichkeit der Mitteilung und die subjektive Allgemeinheit, die dem Geschmacksurteil eigen sind, vertreten das, was man ein regulatives Ideal nennen könnte, an welches wir unsere Reflexion
„Der mit Geschmack Urtheilende [darf] die subjective Zweckmäßigkeit, d. i. sein Wohlgefallen am Objecte, jedem andern ansinnen und sein Gefühl als allgemein mittheilbar, und zwar ohne Vermittelung der Begriffe annehmen“ (KU 293).
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anpassen müssen. Das Geschmacksurteil besitzt diese unmittelbare Reinheit, da in ihm die Urteilskraft (auch wenn man von der Darstellung eines Objekts ausgeht) mit sich selbst zu tun hat, mit dem Gefühl, sich durch die einfache Betrachtung der zweckmäßigen Form von etwas belebt und befriedigt zu fühlen.
3. Die transzendentale Begründung des Geschmacksurteils hat gezeigt, dass ein reflexiver Ansatz für den Konsens zwischen Menschen möglich ist. Diese Möglichkeit ist in Kants Formulierung der drei „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ präzisiert.¹² Hier interessiert natürlich die zweite, die Urteilskraft betreffende, der zufolge man „an der Stelle jedes andern denken“ muss (KU 294). Diese Maxime hat nichts mit der Tragweite des „Vermögen[s] des Erkenntnisses“ zu tun, sondern mit der „Denkungsart“ und mit dem Gebrauch, den man vom Gedanken macht (KU 295).¹³ Es handelt sich also nicht um spezifische Objekte, sondern um eine Denkweise, die sich bereits selbst auf einen intersubjektiven (und, wenn man will, im weitesten Sinne politischen) Standpunkt begibt, da sie in der Lage ist, in und durch die Erscheinungsvielfalt der denkenden und handelnden Subjekte ihr wechselseitiges Verhalten mit Allgemeinheit zu besetzen. Die reflektierende Urteilskraft schafft einen Bereich, in dem die phänomenale Vielfalt und die Privatsphäre auf der einen Seite und die begriffliche und praktische Allgemeinheit auf der anderen sich gegenseitig erhellen. Das erlaubt uns, lediglich private Phänomene von anderen, die von (relativer) Allgemeinheit sein können, zu unterscheiden. Urteilt man, von sich selbst ausgehend, von einem weit gefassten, intersubjektiven Gesichtspunkt aus, so wird die Grenze der Privatsphäre gesprengt, ohne jedoch die Besonderheit des einzelnen Individuums zu verdrängen. Dies hat zur Folge, dass die nach dem Muster der ästhetischen Urteilskraft funktionierende Reflexion nicht nur zu urteilen erlaubt, ob das Private dem Allgemeinen angemessen ist, sondern auch, ob etwas, das sich als allgemeingültig präsentiert, dem Test der subjektiven Reflexion standhalten kann. Es handelt sich um ein kritisches Werkzeug nicht nur gegen egoistische Grenzüberschreitungen des Einzelnen, sondern auch gegen jene totalitären der Gemeinschaft.
Die, wie Kant bemerkt, „nicht hierher, als Theile der Geschmackskritik“ gehören (KU 294). Man spricht von „eine[m] Mann von erweiterter Denkungsart […], wenn er sich über die subjectiven Privatbedingungen des Urtheils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzt und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urtheil reflectirt“ (KU 295).
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Die Möglichkeit der Reflexion ist also Voraussetzung für den Konsens der Menschen hinsichtlich der öffentlichen „Objekte“ der Erscheinungswelt. Der Gebrauch und die Förderung der Reflexion sind einerseits eine Pflicht, die dem Einzelnen anvertraut ist; andererseits darf dieses Sich-Entsprechen von Besonderem und Allgemeinem nicht verhindert werden durch Eingriffe „von oben“. Da Besonderes und Allgemeines – wenn auch immer nur auf provisorische und instabile Weise – im Einklang stehen können, stellt sich die ästhetische Urteilskraft außerdem als Paradigma einer Art und Weise des Denkens dar, die „zweckmäßig“ (KU 295) ist, nicht nur im Sinne des Übereinstimmens der zwei menschlichen Erkenntnisquellen, sondern auch in einem weiteren Sinne. Dem reinen Solipsismus steht der Weitblick jener gegenüber, die sich selbst nicht als isolierten und sich selbst genügenden Teil betrachten, sondern als Weltbürger: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d.i. die Denkungsart: Sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten“ (AA VII, 130). Am Rande kann hier angemerkt werden, dass die Zweckmäßigkeit in der „pluralistischen“ Anwendung der Reflexion, die sich auf ein intersubjektives und zugleich freies Urteil stützt, parallel zu jener Zweckmäßigkeit liegt, welche die Philosophie in ihrer nicht fachspezifischen Bedeutung (als „Schulbegriff“), sondern eben in ihrer kosmopolitischen Bedeutung (als „Weltbegriff“) durchdringt. Der „Weltbegriff“ der Philosophie ist „derjenige, der das betrifft, was jedermann nothwendig interessirt“ (KrV A 839/B 867). Der ästhetische Gebrauch der Urteilskraft und der weitreichende Gebrauch der Reflexion, für die jener als Paradigma gilt, können trotz der prinzipiellen Interesselosigkeit daher mit gutem Recht als „weltbürgerlich“ definiert werden. Auch in dieser Hinsicht steht die ästhetische Urteilskraft unter dem Zeichen des Paradoxen. Indem sie als ästhetisches Wissen in ihrer Reinheit genommen wird, wird sie zum Paradigma einer Form des Wissens, die alles andere als rein ästhetisch, kontemplativ und interesselos ist.¹⁴ Wird sie aber auf Interessen bezogen, dann scheitert sie als ästhetische Urteilskraft. Von daher ist es vielleicht sinnvoller, die ästhetische Urteilskraft nicht als ästhetisches Wissen und vielleicht sogar nicht einmal als Wissen überhaupt zu betrachten, sondern als transzendentalen Ort der Erscheinung und der Deutung einer neuen Gestalt der Subjektivität, die dann, vor allem bei Hegel, in Richtungen entwickelt wird, die viel mehr
„Die Interesselosigkeit des Geschmacksurteils führt in eine Welt, die durchgängig von Interessen geleitet ist, und zwar von solchen, die zumal den Einzelnen heteronom sind; sie führt auf eine Abstraktion, die das Gegenstück derjenigen des Handelns aus Pflicht ist. Wie dieses nur feststellbar war unter zuverlässiger Abstraktion aller Neigung […] so setzt die Beurteilung des Geschmacks die tätige Negation der Interessen voraus“ (Städtler 2011, 555).
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mit der Logik (wenn auch in einem ganz neuen Sinne) als mit der Ästhetik zu tun haben werden. Diese Anregung läuft mit meinem Vorschlag zusammen, die ästhetische Urteilskraft als nicht-ästhetisches Wissen zu deuten und das wichtigste Erbe von Baumgartens Projekt nicht so sehr in den Philosophien der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts zu sehen, sondern in dem idealistischen Projekt einer antidualistischen und holistischen Form des Wissens und in einer Subjektivität, die eine „operative“ und „dynamische“ Vermittlung von Sinnlichkeit und Begriff darstellt und dabei das Zusammenkommen von „ich“ und „wir“ als grundlegend erfasst. Im letzten Abschnitt werde ich dieser Anregung noch etwas nachgehen, auch dabei natürlich ohne den Anspruch, das Thema erschöpfend zu behandeln.
4. Meiner Lektüre zufolge markiert die Kritik der Urteilskraft, und vor allem der ästhetische Teil, den Übergangspunkt von der Subjektivitätsauffassung des modernen Rationalismus zu der des Idealismus. Hegel sieht in ihr den ersten, noch ungenügenden Versuch, die „Reflexionsphilosophie der Subjektivität“¹⁵ zu überwinden, die das nicht nur vom Objekt, sondern auch von anderen Subjekten getrennte Subjekt als ihre Grundlage hatte. Moderne Philosophien des Subjekts seit Descartes nehmen Hegel zufolge das einzelne Subjekt als feste gegebene Struktur an, auf die dann philosophische Gesamtkonstruktionen aufgebaut werden. Das einzelne Subjekt ist noch in Kants kopernikanischer Revolution das Zentrum der Welt und der Ausgangspunkt der Philosophie, die sich mit den Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis, Freiheit, Handlung, Urteilskraft usw. befasst. Das ist in Hegels Augen ein notwendiger Moment der Geschichte der Philosophie und der Geschichte überhaupt, mit allen damit zusammenhängenden politischen Implikationen. Dennoch muss dieser Moment überwunden werden, da die modernen Philosophien des Subjekts letztlich zur Abstraktheit und Einseitigkeit führen, da sie auf der Grundlage eines von konkreten Bezügen losgelösten Subjekts arbeiten. Diese Einseitigkeit wird Hegel zufolge am deutlichsten in Kants Auffassung des Dings an sich. Bekannterweise kritisiert Hegel Kants zentrale erkenntnistheoretische Auffassung, nämlich dass wir nicht die Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen erkennen können, als einen grundsätzlichen Verzicht auf den
Dies geschieht bekanntlich schon in „Glauben und Wissen“ (Hegel 1802), dessen Untertitel eben lautet: „oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie“.
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menschlichen Wahrheitsanspruch, den es zu überwinden gilt. Hegel kritisiert diese kantische Auffassung auch von einem moralischen Standpunkt aus: Der kategorische Imperativ, indem er von allen empirischen Gegebenheiten und Bedingungen abstrahiert, führt Hegel zufolge zur Unmöglichkeit der moralischen Handlung im einzelnen empirischen Fall, der immer von der Universalität des „Sollens“ getrennt bleiben muss. Es interessiert uns hier nicht, ob und inwiefern Hegels Kritik unfair und vereinfachend ist.Wichtig ist hier, dass Hegel zufolge erst die Kritik der Urteilskraft einen höheren Standpunkt darstellt, der schon auf die Möglichkeit der Überwindung des Dualismus und der Entwicklung einer holistischen Konzeption der Subjektivität hinweist.¹⁶ Das dort entwickelte Konzept einer „subjektiven Allgemeinheit“ basiert nicht mehr auf dem einzelnen Subjekt als solchem, sondern auf der Möglichkeit des intersubjektiven Konsenses zwischen verschiedenen Subjekten. Schon dies deutet auf ein intersubjektiv konstituiertes Subjekt hin. In der Phänomenologie des Geistes und auf dieser Basis dann auch in seinem späteren Denken bestreitet und überwindet Hegel die Idee einer festen, gegebenen Struktur der Subjektivität als eines außerhistorischen Wesens. Nochmals in Arendts Terminologie formuliert: Hegel legt sowohl den Menschen als auch die Menschheit beiseite und stellt die Menschen in den Vordergrund seiner Philosophie.¹⁷ Er lehnt die Identifizierung des gegebenen Subjekts mit einem allgemeinen Begriff der Menschheit ab und arbeitet mit dem Terminus Medius, nämlich, so können wir sagen, mit Gestalten des menschlichen Bewusstseins. Wie er zeigt, sind diese Gestalten immer das Ergebnis eines Konstruktions- und Selbstkonstruktionsprozesses des Bewusstseins und Selbstbewusstseins (es genügt hier, an das wohlbekannte Beispiel der Dialektik von Herr und Knecht zu denken, in der gezeigt wird, wie menschliche Gestalten durch ihre Tätigkeit konstruiert werden und dass sie nicht einfach empirische Bestände eines allgemeinen menschlichen Wesens sind). Verschiedene menschliche Gestalten, sowohl individuelle als auch kollektive, werden strukturiert und identifiziert durch die Anerkennung verschiedener normativer Prinzipien (also durch das, was Hegel im Großen und Siehe auch die Erläuterungen Hegels zur Kritik der Urteilskraft in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie und in der „Historischen Deduktion des wahren Begriffs der Kunst“ in den Vorlesungen über die Ästhetik. Man könnte hier einwenden, dass es bei Hegel nicht um lebendige Individuen geht, sondern um Menschen als rohes Material des Weltgeistes. Dieser Einwand, der auf eine grundlegende Dichotomie in der Deutung der gesamten hegelschen Philosophie verweist, kann hier in seiner radikalen Tragweite nicht berücksichtigt werden. Ich will nur bemerken, dass meine Skizze der Transformation der modernen Subjektivität, die mit Kants dritter Kritik ansetzt und mit Hegel vollendet wird, im Prinzip mit beiden Lektüren der hegelschen Philosophie kompatibel ist, auch wenn natürlich jeweils mit anderen Folgen.
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Ganzen den „objektiven Geist“ nennt), die ihrerseits expliziert und begründet werden im Zusammenhang verschiedener geistiger und kultureller Konstruktionen und reflexiver Praktiken (also im Zusammenhang dessen, was Hegel im Großen und Ganzen den „absoluten Geist“ nennt). Nun es ist offensichtlich, dass eine solche Auffassung die Aneignung, zugleich aber auch den Missbrauch und die Überwindung von Kants Theorie der ästhetischen Urteilskraft impliziert. Diese setzt immer noch den Bezug auf eine formelle, wenn nicht inhaltliche Struktur des Subjekts voraus, die für die ganze Menschheit als solche gelten solle. Diese Struktur wird Kant zufolge in ihrer reinsten Art und Weise durch die ästhetische Erfahrung ausgedrückt und kommuniziert. Es ergibt sich dabei ein enger Zusammenhang zwischen den Bedingungen des Schönen und der reinen Idee der Menschheit. Schiller greift wie schon angedeutet diesen Gedanken in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen wieder auf, wo er das außerordentlich einflussreiche Projekt einer politischen Erneuerung des modernen Menschen auf dem Weg einer vollkommenen, nicht einseitigen Erziehung des Menschen durch die Kunst entwickelt. Ein gewichtiger Teil der Frühromantik setzt diesen Gedanken fort. Hegel, der Schiller und vor allem seine Briefe sehr hoch schätzt, zeigt dennoch, dass dieser Gedanke wirkungslos und obsolet für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist; das ist ein zentraler Aspekt seiner sogenannten – und oft missverstandenen – These vom Ende der Kunst.¹⁸ Gleichwohl bewahrt Hegel das Anliegen einer antidualistischen und holistischen Subjektivität als Ausgangspunkt der Philosophie und führt es fort. Auch das Subjekt behält offensichtlich eine zentrale Stelle in Hegels Philosophie, aber es ist dort kein losgelöstes, unhistorisches Subjekt mehr, sondern stellt vielmehr die Aufhebung des Subjekts der cartesianisch-kantischen Tradition dar. Es ist hier nicht möglich, diese Aufhebung hinreichend zu charakterisieren. Ich werde nur skizzenhaft zwei Aspekte erwähnen, denen zufolge das hegelsche Subjekt 1. nicht als absoluter Ausgangspunkt, sondern als Resultat einer vorigen Entwicklung und 2. als historisch und sozial verfasstes Subjekt charakterisiert werden kann. Zum ersten Punkt: Das hegelsche Subjekt ist nicht das einzelne Ich als losgelöstes Prinzip der Philosophie, wie es u. a. bei Descartes, Kant, Fichte und dem
Zu den rechts- und politikphilosophischen Implikationen der These vom Ende der Kunst sei der Verweis erlaubt auf meinen Artikel „Ende der Kunst und Rechtsphilosophie bei Hegel“ (Siani 2011) sowie auf meine ausführlichere Untersuchung Il destino della modernità. Arte e politica in Hegel (Siani 2010). Zu den Verwandlungen der Ästhetik und ihrer Rolle für den Umgang mit der Moderne von Kant über Schiller bis auf Hegel vgl. auch meine Beiträge „Kant, Schiller, Hegel e la parabola dell’estetica“ (Siani 2013c), „Hegels Genealogie der Moderne zwischen Ästhetik und Anästhetik“ (Siani 2013b) und „Das unmögliche Mosaik des Menschlichen. Zur Überwindung des Romantischen durch den Formalismus der Subjektivität in Hegels Ästhetik“ (Siani 2013a).
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jungen Schelling der Fall ist. In der Wissenschaft der Logik finden sich Ausführungen zur logischen Struktur des Ichs erst in der subjektiven Logik, also erst nach den zwei Bänden, die zusammen die objektive Logik ausmachen. Insofern wird diese Struktur ausdrücklich als Resultat der vorigen Entwicklung präsentiert. Damit verbunden ist natürlich Hegels Grundidee eines Wissens ohne Voraussetzungen. Die ganze dialektische Entwicklung basiert nicht auf einem schon vom Objekt getrennten und insofern zumindest teilweise mit Bestimmungen ausgestattetem Subjekt von Erkenntnissen und Handlungen, sondern auf dem allgemeinsten, unmittelbarsten und insofern inhaltsleersten aller Gegenstände, nämlich dem reinen Sein. Aber das nicht nur in einer logischen Perspektive; auch die realphilosophischen Gestalten der Subjektivität sind immer das konkrete Resultat und nie der Ausgangspunkt von Bewusstseinskonstruktionsprozessen. Das führt zum zweiten Punkt: Das Subjekt ist nicht nur das Resultat einer logischen Entwicklung, sondern auch von sozialen und historischen Bedingungen. Es gibt kein Subjekt als solches, sondern Gestaltungen der Subjektivität, die aus der Interaktion mit anderen Subjekten und dem umgebenden Zusammenhang resultieren, insofern also jeweils anders verfasst sind.¹⁹ Hegel bezieht sich nicht auf ein isoliertes und losgelöstes Subjekt, das das Wesen der Menschheit bzw. des Menschseins darstellt, sondern auf eine sich immer jeweils anders selbst-konstruierende und -gestaltende Subjektivität. Diese so aufgefasste dynamische Struktur der Subjektivität ist nichts anderes als der „Geist“, der bekanntlich in der Phänomenologie als „ich, das Wir ist, und Wir, das ich ist“ charakterisiert wird. Subjektivität und Intersubjektivität können also ohne einander nicht gedacht werden. Hegels Subjektivitätsauffassung ist, so will ich diese Überlegungen zusammenfassend abschließen, mit einer radikalen Infragestellung der Idee eines menschlichen Wesens oder einer menschlichen Natur verbunden. Wenn keine Identifizierung eines einzelnen transzendentalen Subjekts mit einem Wesen der Menschheit möglich ist, sondern es nur verschiedene konkrete Gestalten des Menschlichen gibt, dann gibt es kein transzendentales bzw. transzendentes Kennzeichen des Menschen, das von einem menschlichen Wesen zu reden erlaubt. Dieser Punkt, der eine grundsätzlich ausführlichere Erläuterung schuldig bleibt,²⁰ bildet nur den Terminus ad quem meines Vorschlags, Kants ästhetische Urteils-
Dieser zweite Punkt ist zentral vor allem in den Hegeldeutungen von amerikanischen Philosophen wie Terry Pinkard und Robert Brandom, aber auch für deutsche Philosophen wie Axel Honneth und Michael Quante. Für einige Ausführungen (jedoch unter einem anderen Blickwinkel) und weitere Verweise vgl. meinen Beitrag „Hegel on the self-fulfilment of philosophy as the opening of human history“ (Siani 2015).
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kraft nicht nur und nicht so sehr als die Grundlage der idealistischen, romantischen und anderen Philosophien der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts zu lesen, sondern an erster Stelle als einen der zentralen Orte der Entstehung einer neuen, wenn man will zeitgenössischen Konzeption des Subjekts und der Philosophie.
Literatur Amoroso, Leonardo (1984): Senso e consenso. Uno studio kantiano, Napoli: Guida. Arendt, Hannah (1968): „The Crisis in Culture: Its Social and Its Political Significance“, in: Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought, New York: Viking Press, 197 – 226. Arendt, Hannah (1982): Lectures on Kant’s Political Philosophy, hg. v. Ronald Beiner, Chicago: University of Chicago Press. Baumgarten, Alexander Gottlieb (1961): Aesthetica, Hildesheim: Olms. Garroni, Emilio (1986): Senso e paradosso. L’estetica, filosofia non speciale, Roma-Bari: Laterza. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1802): „Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie“, in: Kritisches Journal der Philosophie 2, 1 – 188. Kant, Immanuel (1900 ff.): Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin [zitiert als AA mit Band- und Seitenzahl; Kritik der Urteilskraft als KU (= AA V, 164 – 485); Kritik der reinen Vernunft als KrV unter Angabe der Paginierung der beiden Erstausgaben von 1781 (A) und 1787 (B)]. Schiller, Friedrich (2000): Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart: Reclam. Siani, Alberto L. (2010): Il destino della modernità. Arte e politica in Hegel, Pisa: ETS. Siani, Alberto L. (2011): „Ende der Kunst und Rechtsphilosophie bei Hegel,“ in: Hegel-Studien 46, 37 – 63. Siani, Alberto L. (2013a): „Das unmögliche Mosaik des Menschlichen. Zur Überwindung des Romantischen durch den Formalismus der Subjektivität in Hegels Ästhetik“, in: Alain Patrick Olivier/Elisabeth Weisser-Lohmann (Hg.), Kunst – Religion – Politik, München: Wilhelm Fink, 103 – 116. Siani, Alberto L. (2013b): „Hegels Genealogie der Moderne zwischen Ästhetik und Anästhetik“, in: Annemarie Gethmann-Siefert et al. (Hg.), Hegels Ästhetik als Theorie der Moderne, Berlin: Akademie, 247 – 263. Siani, Alberto L. (2013c): „Kant, Schiller, Hegel e la parabola dell’estetica“, in: Alberto L. Siani/Gabriele Tomasi (Hg.), Schiller lettore di Kant, Pisa: ETS, 147 – 166. Siani, Alberto L. (2015): „Hegel on the self-fulfilment of philosophy as the opening of human history“, in: Emilia Angelova (Hg.), Hegel, Freedom, and History, Toronto: University of Toronto Press (im Erscheinen). Städtler, Michael (2011): Kant und die Aporetik moderner Subjektivität. Zur Verschränkung historischer und systematischer Momente im Begriff der Selbstbestimmung, Berlin: Akademie Verlag.
Cristiana Senigaglia
Sinnlichkeit als Kommunikationsform des Begriffs Hegel und die Verbildlichung des Wissens
1. Der Bezug auf Kant und der Mitteilbarkeitsanspruch Kann die Sinnlichkeit eine Funktion im Bereich des Geistes und der Erkenntnis ausüben, die nicht bloß auf die Kategorisierung und Gesetzlichkeit von Phänomenen verweist, sondern hingegen auf die Qualität und Spezifizität der sinnlichen Darstellung Bezug nimmt? In der Kritik der Urteilskraft hatte Kant von einem Geschmacks- bzw. ästhetischen Urteil gesprochen, das vom Einzelnen gefällt werden konnte und doch auf der Annahme basierte, dass der mit Lust und Unlust verbundene, mittels der Sinnlichkeit hervorgerufene Gemütszustand allgemein mitteilungsfähig sei. Die Mitteilbarkeit betraf die Sphäre der Gefühle, ohne sich auf bestimmte Begriffe zu berufen, und setzte einen allgemeinen bzw. verallgemeinerungsfähigen subjektiven Zustand voraus, der durch ein Gleichgewicht und Wohlbefinden der von den Regeln befreiten Erkenntniskräfte sowie durch ihr freies Spiel erzeugt wurde. Dieser Ansicht zufolge war der Künstler durch die Fähigkeit gekennzeichnet, Ideen aufzufinden und ihnen Ausdruck zu verleihen, um „das Unnennbare in dem Gemüthszustande bei einer gewissen Vorstellung auszudrücken und allgemein mittheilbar zu machen“ (KU 317). Die damit adressierte Allgemeinheit wurde somit zu einer Gemeinschaftlichkeit gebildet, die sich als Publikum verstand und eine „allgemeine Stimme“ bildete (KU 216). Kant, der die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (AA VIII, 35) gepriesen hatte, fand in der Kunst eine Möglichkeit, eine demokratisierende Instanz wirken zu lassen, da das angesprochene subjektive Gefühl bei allen Menschen vorhanden war und zugleich durch die Verfeinerung des Geschmacks allgemein ausgebildet werden konnte. Die Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils war für Kant nur unter der Voraussetzung möglich, dass es einen Gemeinsinn gebe, was auch für die allgemeine Kommunizierbarkeit jeder Form von Erkenntnis bürgte. Da der Gemeinsinn bzw. der gemeine Menschenverstand sich an Maximen orientierte, die das autonome und kohärente Selbstdenken forderten sowie die Fähigkeit mit einbezogen, „an der Stelle jedes andern [zu] denken“ (KU 294), wurde durch die Geschmackskritik
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ebenso darauf abgezielt, eine Haltung einzunehmen und zu befördern, die die freie Subjektivität des Einzelnen mit Rücksicht auf die Anderen und daher zugleich als intersubjektiv gesinnt weiterbildete. Somit war von Kant durch die Entwicklung des in den Menschen veranlagten ästhetischen Sinnes eine Möglichkeit aufgezeigt worden, durch die Gefühle und ohne direkten Bezug auf die Erkenntnis einen allgemein betretbaren Weg zur autonomen, selbstveranlassten Selbstbildung zu weisen, die zugleich durch die Erweiterung der Perspektive und durch das Einbeziehen des Gesichtspunktes der Anderen zur Allgemeinheit führte. Hegel formuliert hauptsächlich zwei Kritiken an diesem kantischen Standpunkt, die miteinander verbunden sind. Erstens gehe es beim ästhetischen Urteil nach dem kantischen Verständnis um eine Allgemeinheit, die nur auf einer subjektiven Ebene gebildet werden könne und sich daher nicht auf die Objektivität zu beziehen vermöge.¹ Zweitens seien von Kant nur die Gefühle angesprochen worden, was nach sich ziehe, dass durch die Kunst das begrifflich nicht Erfassbare veranschaulicht und auch eine Form der Harmonie bzw. der Aussöhnung, aber keine Wahrheit dargestellt werde. Hegel hält dagegen, dass die ästhetische Ausdrucksweise einen wahrheitsgemäßen Gehalt aufzeige: „Hiergegen steht zu behaupten, daß die Kunst die Wahrheit in Form der sinnlichen Kunstgestaltung zu enthüllen, jenen versöhnten Gegensatz darzustellen berufen sei und somit ihren Endzweck in sich, in dieser Darstellung und Enthüllung selber habe.“² Hegel stimmt zwar Kant zu, dass die Kunst ein Allgemeines äußere, das noch nicht in Begriffen erfasst wird. Dies ist aber für Hegel nicht auf die Unmöglichkeit zurückzuführen, durch die Kunst eine Wahrheit zu erkennen, sondern auf die begrifflich nicht vollendete Form der Erkenntnis. Die Thematik der Mitteilbarkeit durch Sinnlichkeit und Kunst, auch wenn Hegel sich diesbezüglich nicht direkt mit Kant auseinandersetzt, wird von ihm hingegen unmittelbar rezipiert und zur Geltung gebracht. Bereits in seinen frühen Fragmenten weist er darauf hin, dass die Sinnlichkeit eine wichtige Rolle im Leben der Menschen spiele und dass durch Bilder zur moralischen und religiösen Entwicklung signifikant verholfen werde: „[D]ie religiösen Triebfedern zum Guthandeln müssen sinnliche sein, um auf die Sinnlichkeit wirken zu können“.³ Im Unterschied zu Kant vertritt der junge Hegel eine Vernunftkonzeption, die Phantasie, Herz und Sinnlichkeit in die allgemeine Vernunft und ihre Lehren harmonisch integriert, sodass ein Gleichgewicht der Kräfte im Sinne einer Polarität entstehen kann, die bezüglich des Volks mehr zur Sinnlichkeit tendiert, ohne
Vgl. dazu Dejardin 2008, 16. Hegel 1970 Bd. 13, Vorlesungen über die Ästhetik I, 82. Hegel 1970 Bd. 1, 12.
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daher die Vernunftprinzipien zu beseitigen oder außer Kraft zu setzen. Obwohl Hegel einen Unterschied zwischen Volk und Gebildeten im Prinzip nicht verleugnet, hat eine gut gelungene Integration zwischen Vernunft und Sinnlichkeit für ihn die Aufgabe, ein gemeinschaftliches Bewusstsein zu bilden, dem die künstlerischen Darstellungen allgemein zugänglich sind. In dieser Hinsicht lobt er insbesondere das Theater und die Skulptur der Griechen sowie in der Neuzeit die dramatische Darstellung Shakespeares, die die Fähigkeit aufgewiesen haben, ein allgemein verständliches und gemeinsam genießbares Kunstwerk darzustellen. Letzteres betreffend, sagt er: Die Wahrheit der Charaktere in der Darstellung durch Shakespeare hat außerdem, daß viele aus der Geschichte bekannt sind, dieselben dem englischen Volk so tief eingeprägt und für dasselbe einen eigenen Kreis von Phantasievorstellungen gebildet, daß das Volk bei Aufstellungen der akademischen Gemälde die Gegenstände desjenigen Teils, wo die größten Meister wetteifern, der Shakespearegalerie, wohl versteht und frei genießen kann.⁴
Diese Kenntnisnahme nimmt beim jungen Hegel programmatische Bedeutung an.⁵ Im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, das kurz darauf in geistigem Austausch mit Schelling und Hölderlin verfasst wird, heißt es deswegen, dass Mythologie und Vernunft sich ergänzen müssen, damit die vernünftigen Inhalte durch die ästhetische, sinnliche Darstellung allgemein zugänglich gemacht werden und eine Einheit des Verständnisses und der Kultur erzielen: Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns.⁶
Über die demokratisierende und emanzipatorische Instanz hinaus, die hier herausgelesen werden kann, setzt sich beim jungen Hegel die Ansicht durch, dass ästhetische Darstellungen vernünftige Inhalte allgemein ausbreiten können und dass sie, könnte man meinen, auch eine innere Bereicherung der vernünftigen Inhalte sowie der philosophischen Darstellung hervorrufen. Mit der Fertigstellung des Systems wird eine Hierarchisierung der Verhältnisse in Anspruch genommen. Die Funktion, die der spätere Hegel der sinnlichen
Hegel 1970 Bd. 1, 199. Vgl. Gethmann-Siefert 1984, 117 ff., 126 ff. Hegel 1970 Bd. 1, 236.
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Darstellung der Kunst zuschreibt, ist den anderen Formen des absoluten Geistes, Religion und Philosophie, untergeordnet.⁷ Dennoch behält die Kunst eine eigentümliche Funktion: Ihre Leistung besteht wesentlich darin, den Begriff in seiner wirklichen Entwicklung als konkretes Allgemeines (den Geist) „in sinnlich konkreter Form zum Gegenstande“ zu machen.⁸ Der Inhalt ist somit kein Abstraktum, sondern ein Individuelles, das sinnlich und konkret dargestellt wird; nichtsdestoweniger weist es durch seine Äußerlichkeit auf ein Inneres hin, sodass sein spezifischer Wert darin besteht, das Sinnliche zu vergeistigen und als Produkt des Geistes wahrnehmen zu lassen.⁹ In dieser Hinsicht ist die Sinnlichkeit der Kunst wesentlich höher als diejenige der Natur, da sie die Wirkung des menschlichen Geistes und seiner Tätigkeit durchscheinen lässt. Andererseits ist die Kunst eine wirksame Form der Vermittlung des absoluten Geistes (und Wissens), da sie seine Versinnlichung und Verbildlichung für die allgemeine Kommunikation¹⁰ und Verständlichkeit,¹¹ also „für uns“,¹² einsetzt. Dieser Aspekt der allgemeinen Mitteilungsfähigkeit ist auch aus einem theoretisch-spekulativen Grund unabdingbar, wie Hegel innerhalb der Vorlesungen zur Religionsphilosophie weiter erklärt, da der Künstler das Kunstwerk zwar konzipiert und zur Ausführung bringt, aber dann von ihm zurücktritt, sodass das Kunstwerk sich als Gegenstand verselbständigt, aber keine Form des Selbstbewusstseins in sich trägt. Infolgedessen wird die Seite des subjektiven Bewusstseins beim wahrnehmenden Subjekt (Zuschauer oder Publikum) aufgefordert und auf es übertragen: So ist das Kunstwerk als für die Anschauung gesetzt zunächst ein ganz gemein äußerlicher Gegenstand, der sich nicht selbst empfindet und sich nicht selbst weiß. Die Form, die Subjektivität, die der Künstler seinem Werke gegeben hat, ist nur äußerliche, nicht die absolute Form des sich Wissenden, des Selbstbewußtseins. Die vollendete Subjektivität fehlt dem Kunstwerke. Dieses Selbstbewußtsein fällt in das subjektive Bewußtsein, in das anschauende Subjekt.¹³
Vgl. Gethmann-Siefert 1984, 215. Hegel 1970 Bd. 13, 111. Diesbezüglich ist auch von einer Art der „Selbstüberwindung der Kunst“ (Raters 2005, 235 ff.) gesprochen worden, da die Kunst den Bereich des rein Schönen übersteigt. Gethmann-Siefert 1984, 388 f. Siehe dazu Pippin 2012, 12 ff. Vgl. dazu auch Gethmann-Siefert 2009, insb. 172– 174. Hegel 1970 Bd. 16, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, 137.
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Um sich zu vervollständigen, bedarf das Kunstwerk einer Ergänzung, was nur durch die Beziehung zum anschauenden Subjekt vollbracht werden kann.¹⁴ Das Kunstwerk, um seinem geistigen Inhalt gerecht zu werden, ist daher auf eine andere Subjektivität angewiesen, mit der es eine Beziehung herstellt, die vermittelt ist, aber die Fähigkeit abverlangt, den Anderen anzusprechen und sich daher verständlich zu machen. Somit erweist sich das Kunstwerk als Sein für Anderes, das aber eine Art der intersubjektiven Beziehung und des Dialogs in sich birgt und zu deren Verwirklichung führt (bzw. führen soll). Somit werden zwei Aspekte miteinander verknüpft, die die Mitteilbarkeit der Kunst zu charakterisieren gedenken: 1) einen geistigen Inhalt in einem konkreten Individuellen zu versinnlichen und zu verbildlichen, das unmittelbar rezipiert werden kann, und 2) ein intersubjektives sowie Gemeinschaft stiftendes, durch den Kunstgegenstand vermitteltes Verhältnis herzustellen, das Bewusstsein und Selbstbewusstsein anspornen oder sogar hervorrufen soll.
2. Das Eigentümliche an der Kunst als Medium Die erste Frage betrifft die Problematik, ob Hegel ungeachtet der systematischen Hierarchisierung gewisse Leistungen und Fähigkeiten der Kunst zuschreibt, die ihr ein eigentümliches Potenzial im Bereich des Wissens verleihen. Als erster Ansatzpunkt könnte daran festgehalten werden, dass die Kunst einen spezifischen Wert hat, welcher darin besteht, das Sinnliche zu vergeistigen und als Produkt des Geistes wahrnehmen zu lassen. Durch die Eröffnung dieser Möglichkeit wird zugleich eine Wiederaufwertung der Sinnlichkeit in Aussicht gestellt, die durch die Kunst neue Charakteristika erlangt und eigene Leistungen erbringt. Allgemein lässt sich feststellen, dass die Kunst die Fähigkeit aufweist, „die tiefsten Interessen der Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen.“¹⁵ Durch die sinnliche Ausdrucksweise, die unmittelbar darstellbar und kommunizierbar ist, werden die geistigen und kulturellen Anschauungen, Vorstellungen, Inhalte sowie Werte zum Ausdruck gebracht und den Anderen so mitgeteilt, dass sie veranschaulicht und allgemein zugänglich gemacht werden können. Es ist daher für Hegel kein Zufall, dass bei einigen Völkern die Kunst als Hauptform des Wissens und des Bewusstseins gilt, da die tiefgründigen Ergebnisse ihrer Erfahrung und Weisheit hauptsächlich durch die Kunst zur Äußerung gebracht und erarbeitet werden konnten. Die Sinnlichkeit
Vgl. dazu Gethmann-Siefert 2005, 33. Hegel 1970 Bd. 13, 21.
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erweist sich diesbezüglich als das vorzügliche Medium, um diese tiefgehenden, grundsätzlichen Wahrheiten darzustellen und erfassbar zu machen, ohne (und hier stimmt Hegel Kant zu) die begriffliche Erkenntnis zu fordern oder in Anspruch zu nehmen. So Hegel: Die Form der sinnlichen Anschauung nun gehört der Kunst an, so daß die Kunst es ist, welche die Wahrheit in Weise sinnlicher Gestaltung für das Bewußtsein hinstellt, und zwar einer sinnlichen Gestaltung, welche in dieser ihrer Erscheinung selbst einen höheren, tieferen Sinn und Bedeutung hat, ohne jedoch durch das sinnliche Medium hindurch den Begriff als solchen in seiner Allgemeinheit erfaßbar machen zu wollen; denn gerade die Einheit desselben mit der individuellen Erscheinung ist das Wesen des Schönen und dessen Produktion durch die Kunst.¹⁶
Die Kunst also ermöglicht und vermittelt die Erlangung des Bewusstseins in einer elementaren und unmittelbareren Form, die sich ohne die Vermittlung der begrifflichen Erarbeitung bei den Menschen prägt und sie zum bewussten Wahrnehmen veranlasst.¹⁷ Über diese generelle Konnotation hinaus verbindet aber Hegel mit der unmittelbaren Wahrnehmung der Wahrheiten durch die Kunst eine grundlegende Befähigung, die mit der grundsätzlichen Wahrheit als solcher zu tun hat. Als Wahrheit wird nämlich über die unterschiedenen Gestalten ihrer Darstellung hinaus „die Einheit des Begriffs und der Realität“¹⁸ verstanden, und dies wird von der Kunst unmittelbar geboten dank der Eigenheit ihres Mediums, die darin besteht, das Geistige durch das Sinnliche durchscheinen zu lassen. Dadurch wird somit performativ gezeigt, dass die Kluft zwischen Begriff und Realität, Geist und Wirklichkeit überwunden wird und dass die Wiederherstellung der Einheit möglich ist und im Kunstwerk tatsächlich durchgeführt wird. Auch die Art der Herstellung der Einheit ist richtungweisend, denn die Kunst ist ein „vom Menschen Gemachtes“ und ist „für den Menschen produziert“,¹⁹ wodurch der Mensch als Träger des Geistes die ihm innewohnenden Inhalte in der Äußerlichkeit realisiert. In dieser Hinsicht verweist die Sinnlichkeit der Kunst auf ein Modifiziertes und Geformtes, das über die Fähigkeit verfügt, durch das Äußere auf ein Inneres hinzuweisen und es zum Ausdruck zu bringen. Dies bewirkt zugleich eine Aufwertung der Sinnlichkeit, die eine neue Funktion und Bedeutung erlangt:
Hegel 1970 Bd. 13, 140. In dieser Hinsicht ist die Kunst bereits deswegen auch emanzipatorisch. Vgl. Angehrn 1977, 317 f. Hegel 1995, 29. Hegel 1998, 7.
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Denn diese sinnlichen Gestalten und Töne treten in der Kunst nicht nur ihrer selbst und ihrer unmittelbaren Gestalt wegen auf, sondern mit dem Zweck, in dieser Gestalt höheren geistigen Interessen Befriedigung zu gewähren, da sie von allen Tiefen des Bewußtseins einen Anklang und Wiederklang im Geiste hervorzurufen mächtig sind. In dieser Weise ist das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das Geistige in ihr als versinnlicht erscheint.²⁰
Es geht dann um eine sinnliche und bildliche Vorstellung, die das Zeichen des Geistes trägt und ihn unverkennbar ans Licht bringt. Versinnlichung und Verbildlichung des Geistes verfügen über die eigentümliche Fähigkeit, eine andere Weise des Umgangs mit dem Sinnlichen zu ermöglichen und einzuleiten, die das Geistige unmittelbar präsent und wahrnehmbar macht; andererseits wird eben wegen dieser Unmittelbarkeit und Mitteilungsfähigkeit auf ein Medium verwiesen, das performativ die Einheit zwischen Denken und Sein herstellt und wirklich, sinnlich und konkret rezipierbar macht. Unter der Perspektive der Kunst, die sich zur Aufgabe macht, durch die Sinnlichkeit „die tiefsten Interessen der Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen“,²¹ und dies durch eine Verbildlichung des Geistigen sowie eine Vergeistigung des Bildlichen ausführt, wird auch der Schein mit seinen Trugbildern um eine neue Funktion bereichert und aufgewertet. Im Allgemeinen ist der Schein der Bereich des mannigfaltigen Bestimmten, der das Wesen durch sein Nichtsein scheinen lässt und daher auch trügerisch sein kann.²² Im Fall der Kunst aber übernimmt der Schein eine geistige hochwertige Funktion, weil er eine Unterbrechung der linearen Wirklichkeit bewirkt und auf einen geistigen, über sich hinausgehenden Inhalt hindeutet: [Im] Vergleich mit dem Schein der sinnlichen unmittelbaren Existenz und dem der Geschichtsschreibung hat der Schein der Kunst den Vorzug, daß er selbst durch sich hindurchdeutet und auf ein Geistiges, welches durch ihn soll zur Vorstellung kommen, aus sich hinweist.²³
Anstatt täuschen zu können und in einer möglich verfälschten Wahrnehmung der Wirklichkeit verweilen zu lassen, schafft der Schein der Kunst den notwendigen Rahmen, damit der Bereich der Materialität und der verwendeten technischen Mittel überwunden wird und ein neues Feld entsteht: „Was also Schein an der
Hegel 1970 Bd. 13, 61. Hegel 1970 Bd. 13, 21. Vgl. Hegel 1970 Bd. 6, Wissenschaft der Logik II, 19 ff. Hegel 1970 Bd. 13, 23.
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Kunst heißt, ist, daß die gewöhnliche Realität aufgehoben ist.“²⁴ Das Allgemeine und Wesentliche, d. h. der eigentliche Inhalt des Kunstwerkes, können somit in einer individualisierten, konkret-sinnlichen und verbildlichten Weise zum Ausdruck gebracht werden, ohne dass das Publikum auf der Äußerlichkeit dieser Formen beharrt. Somit erweist sich die Kunst also in der Lage, zur Sphäre der Reflexion einzuleiten, indem sie den Inhalt (bzw. das Wesen) „für uns“ und zwar „nur im wirklichen Umgang mit der Erfahrung des Bewusstseins für das Bewusstsein erfassbar“²⁵ macht. Durch Kunst, Bild und Metapher kann der enge Horizont der sinnlich erfahrenen empirischen Welt überschritten und überhaupt die Möglichkeit wahrgenommen werden, sich zu einer geistigen Dimension zu erheben. So heißt es beispielsweise hinsichtlich der Metaphern: „Metaphern sind nur Unterbrechungen der Vorstellung, Hinübergehen in ein anderes Feld des Vorstellens“;²⁶ durch sie wird ermöglicht, auf eine bildliche Weise etwas eindrucksvoll zu vermitteln und zugleich auf dessen übertragenen Sinn hinzuweisen.²⁷ Man könnte hinzu behaupten, dass die Kunst somit dazu befähige, eine kritischere und bewusstere Haltung dem Schein gegenüber einzunehmen, die sich dann auch im Leben und in der Erkenntnis geltend mache, indem sie in die Lage versetze, den Schein der Realität in Frage zu stellen und prüfend zu hinterfragen.²⁸ Die Fähigkeit, durch den Schein hindurch über den Schein hinauszugehen, gestattet nicht nur, auf eine geistige Dimension hinaufzusteigen, sondern auch, die empirischen Grenzen der Objekte zu überschreiten und Beziehungen sowie Verbindungen unter den Dingen und insbesondere unter den Subjekten herzustellen. Dies ist für Hegel das besondere Verdienst der Malerei, denn sie stellt ihre Figuren in eine von ihr selbst in dem gleichen Sinn erfundene äußere Natur oder architektonische Umgebung hinein und weiß dies Äußerliche durch Gemüt und Seele der Auffassung ebensosehr zu einer zugleich subjektiven Abspiegelung zu machen, als sie es mit dem Geist der sich darin bewegenden Gestalten in Verhältnis und Einklang zu setzen versteht.²⁹
Die Malerei bringt die Innerlichkeit des Geistes zum äußerlichen Ausdruck und artikuliert zugleich diese Innerlichkeit in einer „Vielgestaltigkeit des äußeren Daseins“,³⁰ die das Innere in seiner Besonderheit spezifiziert und auf Bezüg-
Hegel 2004, 25. Park 2008, 133. Hegel 2004, 105. Zur Funktion der Metaphern und des figurativen Denkens siehe Rutter 2010, 149 ff. Vgl. Gethmann-Siefert 1984, 402 f. Hegel 1970 Bd. 15, Vorlesungen über die Ästhetik III, 18. Hegel 1970 Bd. 15, 23.
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lichkeiten und Verhältnisse der Figuren untereinander sowie auf die Gegenstände hinausführt. Die Tatsache, dass in der Malerei die Dreidimensionalität auf zwei Dimensionen reduziert wird, ist für Hegel kein Beweis ihrer Beschränkung, sondern ein Hinweis auf ihre Fähigkeit, sich von der tatsächlichen räumlichen Existenz loszusagen und die Verbindung zwischen Einheit des Inneren und Artikulierung des Äußeren deutlicher zu veranschaulichen und zu thematisieren.³¹ Somit ist die Malerei ebenso imstande, eine engere Beziehung zum Zuschauer herzustellen, wie andere Formen der künstlerischen Darstellung: „Der Zuschauer ist gleichsam von Anfang an mit dabei, mit eingerechnet, und das Kunstwerk nur für diesen festen Punkt des Subjekts.“³² In der Skulptur ist das Kunstwerk unabhängig vom Blickwinkel des Betrachters, in sich verschlossen und für sich selbständig. In der Malerei dagegen ist das Individuum sowohl als Dargestelltes als auch als Zuschauer nicht mehr isoliert und nach außen getrennt so wie in der Skulptur, sondern es „tritt zur mannigfaltigsten Bezüglichkeit über. Denn einerseits ist es […] in einen weit näheren Bezug auf den Zuschauer gesetzt, andererseits erhält es einen mannigfaltigeren Zusammenhang mit anderen Individuen und der äußeren Naturumgebung.“³³ In dieser Hinsicht könnte der Malerei und der Kunst im Allgemeinen das Verdienst zugeschrieben werden, die Ansätze für eine intersubjektive und dadurch zum Selbstbewusstsein führende Beziehung zu bieten³⁴ und darüber hinaus den Geist in seiner inneren Relationalität und seinem zusammenhängenden Ganzen darzustellen, der in der ganzen Mannigfaltigkeit widergespiegelt wird und somit eine Verwebung der Beziehungen sowie der Gesichtspunkte generiert. In ihrer Einbeziehung der Sinnlichkeit und insbesondere der Bildlichkeit weist die Kunst zudem die spezifische Fähigkeit auf, die Verbindung zwischen Geistigem und Sinnlichem, Innerem und Äußerem, zusammenhängender Einheit und vielfältiger Besonderheit so aufzudecken und individuell-schöpferisch darzustellen, dass es nur ihr gelingt, die Lebendigkeit und Lebhaftigkeit des Geistes zum wahrhaften Ausdruck zu bringen und dem Publikum zu übermitteln. Es ist „eben die Sache der Kunst, den Unterschied des bloß Natürlichen und des Geistigen auszulöschen und die äußere Leiblichkeit zur schönen, durch und durch gebildeten, beseelten und geistig-lebendigen Gestalt zu machen.“³⁵ Diese Lebendigkeit spiegelt sich sowohl in der Schöpfungskraft des Künstlers wider, der aus der Überfülle des Lebens und nicht aus der Überfülle abstrakter Gedanken
Vgl. Bianchi 2003, 48 f. Hegel 1970 Bd. 15, 28. Hegel 1970 Bd. 15, 34. Vgl. Rutter 2010, 68 f. Hegel 1970 Bd. 14, Vorlesungen über die Ästhetik II, 22.
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schöpfen soll, als auch in den Kunstwerken, die den geistigen Inhalt durch lebhafte Gestalten und Darstellungen wiedergeben und dies auch durch den Rückgriff auf konkrete Aspekte des Lebens bewerkstelligen können.³⁶ Der Geist in seiner Lebhaftigkeit und Lebendigkeit kann nur durch die künstlerische Darstellung intensiv und potenziert zum Vorschein gebracht werden, und es ist gleicherweise nur durch die künstlerische Darstellung möglich, dass dieser Charakter der Lebhaftigkeit und Lebendigkeit auf die Zuschauer unmittelbar einwirkt und ihr Gemüt prägt. Die Lebendigkeit und Wirksamkeit des Geistes betrifft aber nicht nur die Darstellung, sondern auch die künstlerische Tätigkeit als solche. Ein weiterer Aspekt wird somit durch die Kunst besonders veranschaulicht. Er betrifft den performativen Beweis und die Vorführung einer geistigen, vom Denken geleiteten Tätigkeit, die sich in eine praktische umwandelt, „indem [der Mensch] den Trieb hat, in demjenigen, was ihm unmittelbar gegeben, was für ihn äußerlich vorhanden ist, sich selbst hervorzubringen und darin gleichfalls sich selbst zu erkennen.“³⁷ Diese subjektive geistige Tätigkeit veranlasst ein „echte[s] Produzieren“,³⁸ das sich zu einem sinnlich konkreten Produkt entwickelt. Dadurch wird veranschaulicht und bildlich aufgezeigt, wie ein geistiger Inhalt das vorhandene Dasein durchdringt und die Wirklichkeit formt.³⁹ Durch diese bildliche Darstellung ist es daher zugleich möglich, den Prozess der Idee in ihrem Sich-Weiterbilden zur konkreten und artikulierten Wirklichkeit anzuschauen, d. h. die Idee aufzuzeigen, „insofern sie zur Wirklichkeit fortgestaltet und mit dieser Wirklichkeit in unmittelbar entsprechende Einheit getreten ist.“⁴⁰ Diese Fähigkeit des Übergangs zur produzierenden Tätigkeit hat für Hegel die Kraft und die Wirksamkeit des Ideals, das nicht auf dem abstrakten Sollen verharrt, sondern den realisierten Begriff als Ausdruck des Wollens und daher frei zum Ausdruck bringt und ihn somit durch sinnlich-bildliche Gestalten konkretisiert.⁴¹ Diese Konkretisierung impliziert eine Ausarbeitung der Beziehungen zur Außenwelt, zum Material und zu den äußeren Bedingungen, aber auch zu einer Wirklichkeit, welche Sitte, Gewohnheit und politische sowie soziale Bedingungen mit einbezieht. Durch das künstlerische Ideal wird diesbezüglich performativ
Vgl. dazu Cantillo 2008, 38 ff. Hegel 1970 Bd. 13, 51. Hegel 1970 Bd. 13, 62. Die Kunst erschließt und veranschaulicht somit die Dimension der „Poietik“ (aus dem aristotelischen Begriff der Póiesis), die konstitutiv für die Vernunft sowie für den Menschen ist. Zu diesem Aspekt siehe Riedel 1965, 46 ff., und 1982, 28 ff. Hegel 1970 Bd. 13, 104. Über die Konkretisierung des Ideals durch das Werk siehe Gethmann-Siefert 2005, 63 ff.
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darauf hingewiesen, dass die äußerlichen Bedingungen verändert und weiter gestaltet werden können. Dies erzielt eine befreiende Wirkung und deutet auf eine tatsächlich modifizierende Tätigkeit hin. Als Ideal, das sich betätigt und zur konkretisierten Wirklichkeit wird, kann es trotz seiner individualisierten Gestaltung und sogar wegen seiner subjektiven Äußerung nicht vom Umgang mit den anderen Subjekten absehen: Über die innere Abgeschlossenheit hinweg impliziert das realisierte Produkt bzw. das Kunstwerk ein Verhältnis zu den Anderen als Publikum.
3. Das Verhältnis zum Publikum Da die sinnlich-bildliche Darstellung die Kommunikation von Bedeutung visualisiert und somit erleichtert, aber zugleich auf deren geistigen Inhalt hinweist und ihn zugänglich macht, stellt sich die Kunst als eine vorrangige Form der Vermittlung zwischen Subjekten heraus. Da andererseits der geistige Inhalt durch einen „Gegenstand“, d. h. durch das Kunstwerk, übermittelt wird, ist dessen Wahrnehmung durch ein Subjekt unabdingbar. Dies macht für Hegel das Verhältnis zum Publikum unerlässlich, wobei die intersubjektive Beziehung sich auf freie und autonome Subjekte richtet, sie anspricht und auf ihre gefühlsbetonte sowie gedankliche Einbeziehung abzielt. Daraus folgert Hegel: [S]o ist das Kunstwerk selbst doch als wirkliches, vereinzeltes Objekt nicht für sich, sondern für uns, für ein Publikum, welches das Kunstwerk anschaut und es genießt. Die Schauspieler z. B. bei Aufführung eines Dramas sprechen nicht nur untereinander, sondern mit uns, und nach beiden Seiten hin sollen sie verständlich sein. Und so ist jedes Kunstwerk ein Zwiegespräch mit jedem, welcher davorsteht.⁴²
Durch die Idee eines vermittelten Zwiegesprächs zwischen Künstler und Publikum, das zugleich eine respektvolle Form der Distanz gewährt, deckt Hegel eine Form der Intersubjektivität auf, die sich den Anderen bzw. das Produkt des Anderen nicht aneignet, da das Interesse für das Kunstwerk rein theoretisch ist und nicht von der Begierde geleitet wird. Aufgrund dieses Zwiegesprächs, das zuerst auf das Gefühl abzielt, aber auf ein Geistiges hindeutet, wird der Andere als Subjekt betrachtet und gewürdigt sowie nach seinem Urteil gefragt. Darüber hinaus wird das Publikum als eine durch Subjekte konstituierte Allgemeinheit angesehen, in der vielfache Beziehungen und Interaktionen stattfinden und doch ein „gemeinsames“ Wir zustande kommt.
Hegel 1970 Bd. 13, 341.
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Da die Kunst durch Bild und Sinnlichkeit diese kommunikative Funktion des Geistigen übernimmt und seinen Adressaten als Allgemeinheit versteht, sollen ihre Performances hauptsächlich durch Verständlichkeit charakterisiert sein. Die Kunst ist nicht in erster Linie für Kenner oder Gebildete bestimmt; im Gegenteil besteht ihre Aufgabe darin, das Publikum durch ihre allgemeine Verständlichkeit zu vereinigen. Das Kunstwerk übt in dieser Hinsicht auch eine ausbildende Funktion aus, aber es darf nicht auf die reine Lehre reduziert werden, ansonsten „ist […] die sinnliche, bildliche Gestalt, die das Kunstwerk erst gerade zum Kunstwerk macht, nur ein müßiges Beiwesen, eine Hülle, die als bloße Hülle, ein Schein, der als bloßer Schein ausdrücklich gesetzt ist.“ „Damit aber“, setzt Hegel fort, „ist die Natur des Kunstwerks selbst entstellt.“⁴³ Gleicherweise darf das Moralische nicht direkt zum Inhalt der Kunst gemacht werden, weil auch in diesem Fall das Kunstwerk nur auf ein Mittel reduziert wäre und instrumentalisiert werden würde. Die ihm innewohnende ethische Komponente liegt vielmehr darin, wahrhafte Inhalte, und zwar Konflikte zwischen Besonderheit und Allgemeinheit, Sinnlichem und Geistigem, innerer Freiheit und äußerer Notwendigkeit oder zu unterschiedlichen Sphären und Momenten des Lebens (Religion, Politik, Moral etc.), zu thematisieren und ihre Vermittlung bzw. Aussöhnung als das Sich-tatsächlich-Vollbringende darzustellen, was die Lebendigkeit und die Möglichkeit des Übergangs ins Praktische (die Performativität des Ideals) ebenfalls performativ aufzeigt. Die Kunst erbringt somit auch die beachtliche Leistung, Material aus anderen Zeiten und Kulturen zu verwenden und dem Publikum zugänglich zu machen. Unter dieser Perspektive ist sie zugleich eine zentrale Möglichkeit für den interkulturellen Dialog und für das interkulturelle Verständnis. Auf der einen Seite wird dies dadurch ermöglicht, dass das Kunstwerk eine Form der Unterbrechung bewerkstelligt, die das „Hinausrücken aus der Unmittelbarkeit und Gegenwart“ befördert und sogar verlangt, um einen individualisierten Raum herstellen zu können.⁴⁴ Auf der anderen Seite weist die Kunst durch ihr sinnlich-bildliches Medium die eigentümliche Fähigkeit auf, sich fremdartigen und entfernten Themen sowie Gegenständen annähern zu können. Dies verursacht eine unvermeidbare Begegnung unterschiedlicher Zeiten, Sitten und Kulturen, die für Hegel nur durch eine „Verschmelzung der Horizonte“, um Charles Taylors Definition zu
Hegel 1970 Bd. 13, 77. Dadurch wird eine Form der Distanzbildung gewährt, die notwendig ist, um die Bewusstseinserlangung einzuleiten. Über die Bedeutung dieser Distanzbildung für die Kunst vgl. Henrich 2001, 260 ff.
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verwenden, vermittelt werden kann.⁴⁵ Wie soll dies aber bewerkstelligt werden? Hegel erwähnt dazu drei mögliche Wege: 1. eine subjektive Auffassung, welche die objektive Gestalt der Vergangenheit ausklammert und eine völlig in die eigene Zeit und Kultur transponierte Darstellung bietet; 2. eine objektive Auffassung, die sich dagegen zum Material wie die „sorgsamsten Archivare“⁴⁶ verhält und alle Partikularitäten und Äußerlichkeiten der Zeit und der Sitte getreu wiedergibt; 3. „die wahrhafte Objektivität in der Darstellung und Aneignung fremder, der Zeit und Nationalität nach entlegener Stoffe“,⁴⁷ die Hegel unbedingt vorzieht und darin besteht, daß keine der soeben betrachteten Seiten sich auf Kosten der anderen einseitig und verletzend hervortun dürfe, daß aber die bloß historische Richtigkeit in äußerlichen Dingen des Lokals, der Sitten, Gebräuche, Institutionen den untergeordneten Teil des Kunstwerks ausmache, welcher dem Interesse eines wahrhaften und auch für die Gegenwart der Bildung unvergänglichen Gehalts weichen müsse.⁴⁸
Was für Hegel dabei wichtig ist, bezieht sich auf die Tatsache, dass sekundäre, äußerliche Aspekte auch vernachlässigt und entsprechend modernisiert oder umgewandelt werden können, während die dargestellten Grundwerte der Wirklichkeit getreu wiedergegeben werden müssen. Somit ist es beispielsweise für ihn möglich, die griechischen Tragödien teilweise zu entkontextualisieren, aber es ist nicht möglich, ihre Grundwerte zu vergessen und zum Beispiel Komponenten der Reue bei ihren Figuren einzufügen, die ihrer Kultur und ihrer Mentalität total fremd wären. Werte und Grundeinstellungen sollen erhalten bleiben, weil sie wesentliche Aspekte einer Zeit oder einer Kultur übermitteln, die nicht verleugnet oder verfälscht werden dürfen. Als gelungene künstlerische Vermittlung zwischen den Kulturen führt Hegel diesbezüglich Goethes West-östlichen Divan an,⁴⁹ in dem es dem Autor gelungen sei, noch in den späteren Jahren seines freien Innern den Orient in unsere heutige Poesie hineinzuziehen und ihn der heutigen Anschauung anzueignen. Bei dieser Aneignung hat er sehr wohl gewußt, daß er ein westlicher Mensch und ein Deutscher sei, und so hat er wohl den morgenländischen Grundton in Rücksicht auf den östlichen Charakter der Situationen und
Vgl.Taylor 2009, 60. Der Begriff stammt aus der hermeneutischen Philosophie von Hans-Georg Gadamer. Hegel 1970 Bd. 13, 348. Hegel 1970 Bd. 13, 344. Hegel 1970 Bd. 13, 349 – 350. Zu Hegels Rezeption des Werks siehe Stemmrich-Köhler 1983, 388 ff., und Olivier 2008, 235 ff.
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Verhältnisse durchweg angeschlagen, ebensosehr aber unserem heutigen Bewußtsein und seiner eigenen Individualität das vollständigste Recht widerfahren lassen.⁵⁰
Bei dem Annäherungsprozess zwischen unterschiedlichen Zeiten und Kulturen sollen auch die Eigenschaften der verschiedenen Epochen und Genres berücksichtigt werden. Während zum Beispiel das Epische und das Narrative mehr Abstand zu den erzählten Fakten dulden können, ist das dramatische Werk dazu aufgerufen, sich in direkten Dialog mit dem Publikum zu setzen, da dieses durch Präsenz und lebendige Teilnahme viel mehr involviert ist und daher eine „lebendige Wirklichkeit von Situationen, Zuständen, Charakteren und Handlungen“ braucht.⁵¹ Dies beansprucht auch auf eine direktere Weise die Subjektivität des Autors, der seine Vorstellungen im Bereich der Politik, Sittlichkeit, Kunst etc. dadurch wirksamer vermitteln und eine performative Realisation seiner Ansichten dartun kann. In diesem Fall müsse der Autor – so Hegel – einerseits auf die allgemeinmenschlichen Interessen des Publikums eingehen und dabei auch eine gründlichere Umarbeitung des Materials in Kauf nehmen, andererseits seine Ansichten aber auch dann vertreten, wenn das Publikum sie nicht teilt. Konflikte mit dem Publikum sind laut Hegel nicht zu vermeiden, dennoch sei es für den Autor möglich und dabei wünschenswert, seine Ideen voranzubringen. Als Beispiel nennt Hegel Lessings Drama Nathan der Weise, mit dem der Autor seinen moralischen Glauben und sein Ideal von Toleranz auf die Bühne gebracht hat und somit dem Publikum unterbreiten konnte. Die dialektische, spannungsgeladene Beziehung zum Publikum und zu seinen Wertvorstellungen stellt eine fruchtbare Provokation und daher eine geistige Bereicherung dar, die das Bewusstsein im Publikum hervorruft und es scharfsinniger macht.
4. Die Verbildlichung in der Phänomenologie des Geistes Hegels Auffassung des Publikums trägt dazu bei, die Perspektive des „Für-uns“, die er in der Phänomenologie des Geistes eingeführt hatte, weiter zu veranschaulichen. Sie bezieht sich nicht auf eine Kollektivität von passiven Zuschauern und externen Beobachtern, sondern auf Menschen, die in einer Zeitverschiebung die Selbstdarstellung des Geistes erleben bzw. nacherleben und sich daher in einem zu dem „auf der Bühne“ handelnden Bewusstsein unterschiedlichen Be-
Hegel 1970 Bd. 13, 356. Hegel 1970 Bd. 15, 499.
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wusstseinszustand befinden. Die Perspektive des „Für-uns“ soll plausibel machen, dass die aufeinanderfolgenden Erfahrungen sowie ihre Abstand gewährende Wahrnehmung und Aufarbeitung nicht umsonst geschehen, sondern dazu verhelfen, sich zum Standpunkt des absoluten Wissens allmählich zu erheben, der durch die vorhergehenden Stationen des Bewusstseins hindurch herausgearbeitet wird. Das „Für-uns“ spielt auf eine Gemeinsamkeit an, die sich bei dem das Bewusstsein erlangenden Publikum allmählich bildet, indem die unterschiedlichen Momente allgemeine Bedeutung haben und zugleich jeden direkt ansprechen. Da es hier im Übrigen um die Erlangung der Wissenschaft und nicht um die individualisierte geistige Einstellung des dramatischen Autors geht, wird auf jede Form der persönlichen Stellungnahme wissentlich verzichtet. Hiermit werden aber von Hegel nicht alle künstlerischen Mittel abgelehnt.⁵² Da es sich bei der Phänomenologie um einen Ein- und Aufstieg in die Wissenschaft handelt, wozu die Phänomenologie zugleich eine einleitende Funktion übernimmt, werden auch hier sinnlich-bildliche Darstellungen performativ angewendet, die dazu gedacht sind, einen unmittelbareren und gleichfalls die Gefühle mit einbeziehenden Eindruck zu hinterlassen. Hegel bedient sich dramatischer Komponenten, sowohl um sein Publikum zu involvieren als auch um es darauf aufmerksam zu machen, dass die Entwicklung des Bewusstseins keine lineare, selbstverständliche und ruhige Angelegenheit ist, sondern schwerwiegende Konflikte, tragische Kollisionen sowie innere Zustände in sich birgt. Diese Dramatizität kann durch bildliche Darstellungen veranschaulicht werden, die daher verständlicher sind und sich wirkungsvoller und tiefer ins Gedächtnis einprägen, sodass sie einfühlsamer erinnert und verinnerlicht werden können. Auf diese Deutung macht übrigens Hegel am Ende der Phänomenologie selbst aufmerksam, wo er von einer „Galerie von Bildern“⁵³ spricht und damit auf die ursprüngliche metaphorische Bedeutung von „Bildung“ zurückgreift, die sich nur durch die Erinnerung und Verinnerlichung von Bildern zu vervollständigen weiß. Die Verbildlichung des Wissens, wie Hegel später in der Ästhetik erklärt, erreicht das doppelte Ziel der unmittelbareren Verständlichkeit und der lebhafteren Mitteilbarkeit. Die Kunst geht dadurch der Forderung nach, Bewusstsein zu erlangen und zu übermitteln: Das allgemeine Bedürfnis zur Kunst also ist das vernünftige, daß der Mensch die innere und äußere Welt sich zum geistigen Bewußtsein als einen Gegenstand zu erheben hat, in welchem er sein eigenes Selbst wiedererkennt. Das Bedürfnis dieser geistigen Freiheit befriedigt er, indem er einerseits innerlich, was ist, für sich macht, ebenso aber dies Fürsichsein äußerlich
Vgl. Speight 2001, 16. Hegel 1970 Bd. 3, Phänomenologie des Geistes, 590.
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realisiert und somit, was in ihm ist, für sich und andere in dieser Verdoppelung seiner zur Anschauung und Erkenntnis bringt. Dies ist die freie Vernünftigkeit des Menschen, in welcher, wie alles Handeln und Wissen, so auch die Kunst ihren Grund und notwendigen Ursprung hat.⁵⁴
Aber dieser Vorgang ist nicht so weit entfernt von den Zielen, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes verfolgte. Auch dort ging es um die Erhebung des Geistes, der nicht nur einen Weg von unterschiedlichen Stationen in ihrer Verflechtung durchläuft, sondern auch dabei dem Publikum den Prozess der Selbsterhebung des Geistes durchleben und bis zum völligen Selbstbewusstwerden nachvollziehen lässt. Da das höchste Ziel die Erkenntnis ist, kann die bildliche Vorstellung nicht als letzte und höchste Ausdrucksform zur Geltung kommen. Sie erhält nichtsdestoweniger eine wichtige dramatisierende und veranschaulichende Funktion an Passagen, die besonders wesentliche Momente kennzeichnen und die auch im Bewusstsein der Leser eine zentrale Bedeutung erlangen, weil sie gewichtige Konflikte und Einstellungen des Geistes und seiner Entwicklung wiedergeben. Dies erklärt vielleicht auch, warum in diesen fingierten Aufführungen reichliche Anspielungen auf zeitgenössische literarische Werke vorhanden sind.⁵⁵ Diese sinnlich-bildlichen Gestaltungen gewinnen auch innerhalb des Textes an Selbständigkeit und Bedeutung, sodass sie bildhaft und lebendig bestimmte seelische und soziale Zustände wiedergeben, die dann auf unterschiedliche Momente der Wirklichkeit angewendet werden können und eine (Selbst‐)Bewusstseinserlangung erzielen. Ein musterhaftes Beispiel ist in dieser Hinsicht der „Kampf der Selbstbewusstseine“, der in ein ungleiches Verhältnis mündet und durch die Beziehung zwischen Herr und Knecht klar und unmittelbar verständlich veranschaulicht wird. Das asymmetrische Verhältnis wird durch den Unterschied zwischen selbständigem und unselbständigem Sein klargestellt. Während das selbständige Sein des Herrn ihm erlaubt, sein Interesse auf die Begierde und den Genuss der Dinge zu fokussieren, zu denen er hauptsächlich eine destruktive Beziehung unterhält, sowie seine durch den positiven Ausgang des Kampfes errungene höhere Stellung auszunutzen und zu genießen, wird die Beziehung des Knechtes zum Herrn bildhaft geschildert als „seine Kette, von der er im Kampfe nicht abstrahieren konnte und darum sich als unselbständig, seine Selbständigkeit in der Dingheit zu haben erwies.“⁵⁶ Die Lebenszustände des Knechtes enthalten mehrere sinnlich-bildliche Komponenten, die auch durch Bilder geschildert werden können: Sie implizieren Abhängigkeit auch von den Dingen, die durch
Hegel 1970 Bd. 13, 52. Vgl. Speight 2001, 6 ff. Hegel 1970 Bd. 3, 151.
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harte Arbeit modifiziert, geformt und verwendbar gemacht werden müssen, Mangel an Anerkennung von Seiten des Herrn, Angst und Furcht sowohl vor dem Tode als auch vor dem Herrn selbst. Tatsächlich sieht Hegel in der Leistung der Arbeit als „gehemmte Begierde“, „aufgehaltenes Verschwinden“ und „formierende [s] Tun“⁵⁷ sowie in der tiefgründigen Erfahrung des erschütternden Zitterns und der absoluten Furcht die Gründe für die Erhebung zur echten Freiheit und Selbständigkeit des Bewusstseins von Seiten des Knechtes, und diese Perspektive enthält daher auch einen Aufruf zur sozialen sowie geistigen Emanzipation. Aber die bildhaft beschriebenen Konflikte sind nicht nur externer Art. Neben dem Verhältnis zwischen Herr und Knecht oder den Konflikten der Sittlichkeit, die hervorragend von der griechischen Tragödie aufgeführt wurden (man denke an Antigone als hegelsches Paradebeispiel für eine sittliche Kollision), werden auch innerliche Konflikte bildhaft thematisiert, die das Bewusstsein in seinem Inneren spalten und in der Verweigerung der Einheit und im Verbleiben der Entzweiung das unglückliche Bewusstsein entstehen lassen: Hierdurch ist die Verdopplung, welche früher an zwei Einzelne, an den Herrn und den Knecht, sich verteilte, in Eines eingekehrt; die Verdopplung des Selbstbewußtseins in sich selbst, welche im Begriff des Geistes wesentlich ist, ist hiermit vorhanden, aber noch nicht ihre Einheit, und das unglückliche Bewußtsein ist das Bewußtsein seiner als des gedoppelten, nur widersprechenden Wesens.⁵⁸
Das unglückliche Bewusstsein ist auch durch leicht zu veranschaulichende Merkmale gekennzeichnet: Es empfindet zutiefst den Schmerz des Lebens und des Daseins sowie die Nichtigkeit seines Tuns, es spürt das Unglück seines entzweiten Seins zwischen Wandelbarem und Unwandelbarem, wonach es sich sehnt, und seine enttäuschte Hoffnung zumindest für die Gegenwart auf Einheit und Harmonie. Andererseits ist dieses durch Einzelheit und Sehnsucht charakterisierte Bewusstsein mit einem als jenseits empfundenen Unwandelbaren konfrontiert, das auch zuerst (erstes Verhältnis) durch metaphorische und bildhafte Beschreibungen festgehalten wird: „Sein Denken als solches bleibt das gestaltlose Sausen des Glockengeläutes oder eine warme Nebelerfüllung, ein musikalisches Denken, das nicht zum Begriffe, der die einzige immanente gegenständliche Weise wäre, kommt.“⁵⁹ Auch in diesem Fall wird das Gefühl der Nichtigkeit und der Entfremdung durch Tätigkeit, Tun und Veränderung, in einem Wort durch Verwirklichung (zweites Verhältnis) zuerst in Frage gestellt und dann (drittes Ver-
Hegel 1970 Bd. 3, 153 f. Hegel 1970 Bd. 3, 163. Hegel 1970 Bd. 3, 168.
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hältnis) positiv bewältigt, aber das unglückliche Bewusstsein ist und bleibt ein sich ins Gedächtnis prägendes Bild der existenziellen Einzelheit und ihr innewohnenden Entzweiung. Die bildhafte Darstellung kommt ebenso ins Spiel, auch wenn das geschilderte Bewusstsein sich mit seiner Situation abfindet und nur von den äußeren Bedingungen seiner Lebensweise in eine widerspruchsvolle Lage gebracht wird. Das edelmutige Bewusstsein, das im Kapitel des entfremdeten Geistes und der Bildung in Erscheinung tritt, könnte durch etliche Bilder von königlichen Höfen der frühen Neuzeit ausführlich porträtiert werden. Hauptsächlich geht es hier um absolutistische Staaten, die auf einer durch den Herrscher zentralisierten und monopolisierten Staatsmacht basieren, der alle Gewalt und Entscheidungsfähigkeit auf sich überträgt. Das edelmutige Bewusstsein ist durch Gehorsam gegenüber der Staatsmacht sowie durch Selbstachtung und Ehre gegenüber sich und der eigenen Umgebung gekennzeichnet. In Wahrheit aber entbehrt das edelmutige Bewusstsein jeden Willen: Es ist das Wesen, das seine de facto entmachtete Lage akzeptiert und beschönigt, sodass seine entfremdete Existenz als eine feste, nicht modifizierbare Wirklichkeit angenommen wird. Es befindet sich in der Obhut eines fremden Willens (die Staatsmacht des unbeschränkten Monarchen), der selber beschließt, ob er ihm eine gewisse Gewalt überlassen wird. Es wird daher auf eine Oberfläche reduziert, die sich durch die Äußerlichkeit seines mondänen Lebens auszeichnet und in Wirklichkeit eine „Entsagung“ seiner Persönlichkeit erlebt. Dagegen ist der unbeschränkte Monarch der privilegierte Einzelne, er „weiß […] dadurch sich, diesen Einzelnen, als die allgemeine Macht, daß die Edlen nicht nur als zum Dienst der Staatsmacht bereit, sondern als Zierate sich um den Thron stellen und daß sie dem, der darauf sitzt, es immer sagen, was er ist.“⁶⁰ Die Abstandnahme von dieser Welt der Äußerlichkeit bedeutet aber nicht zwangsweise eine moralische Überlegenheit. Allerdings wird auch die rein moralische Sichtweise als Gegenstand einer bildlichen Darstellung aufgeführt, die ihrerseits, inspiriert durch den Hauptdarsteller eines zeitgenössischen Romans, Woldemar von Jacobi, Gestalt annimmt.⁶¹ Das Porträt des moralischen oder besser des sich moralisch fühlenden Bewusstseins,⁶² das daraus entsteht, ist die anschaulich dargestellte schöne Seele, die von hohen Beweggründen theoretisch geleitet wird, aber in Wahrheit diese nie in die Tat umsetzen kann (und es ist kein Zufall, dass diese Gestalt auch an mehreren Stellen der Ästhetik und der Vorlesungen über die Kunst erwähnt wird, wobei sie aber etwa eine nuanciertere Kon Hegel 1970 Bd. 3, 379. Zur Beziehung Hegels zu Jacobis Woldemar siehe Anzalone 2012. Über die Thematik der schönen Seele und des Verständnisses der Welteinheit durch das Gefühl siehe Pöggeler 1999, 62 ff.
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notation als Manifestation der „Sehnsüchtigkeit“⁶³ erlangt). Die von der schönen Seele erschaffene Welt ist eine Welt ohne Konsistenz, denn das Gegenständliche kommt nicht dazu, ein Negatives des wirklichen Selbsts zu sein, so wie dieses nicht zur Wirklichkeit [kommt]. Es fehlt ihm die Kraft der Entäußerung, die Kraft, sich zum Dinge zu machen und das Sein zu ertragen. Es lebt in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken; und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit und beharrt in der eigensinnigen Kraftlosigkeit, seinem zur letzten Abstraktion zugespitzten Selbst zu entsagen und sich Substantialität zu geben oder sein Denken in Sein zu verwandeln und sich dem absoluten Unterschiede anzuvertrauen.⁶⁴
Die schöne Seele ist durch Leere und Konsistenzlosigkeit gekennzeichnet, sie sehnt sich nach einer perfekten Welt, die sie nicht schaffen kann und auch nicht zu schaffen versucht. Sie ist das reine Insichsein, das sich passiv verhält, nicht handelt, sondern ein Handeln vortäuscht oder vorgibt, indem sie sich darauf beschränkt, Urteile zu fällen oder „vortreffliche Gesinnungen“⁶⁵ auszusprechen. Auch in diesem Fall wird das vorgetäuschte Tun der schönen Seele von Hegel bildlich dargestellt: [S]ein Tun ist das Sehnen, das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstande sich nur verliert und, über diesen Verlust hinaus und zurück zu sich fallend, sich nur als verlorenes findet; − in dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst.⁶⁶
Durch dieses Porträt werden nicht nur die negativen Züge kritisiert und veranschaulicht, sondern es ist zugleich möglich zu erahnen, wie sich ein praktisch wirksames Verhalten herausbilden und zum Handeln veranlasst fühlen könnte.
5. Der „Noch-nicht-Begriff“ der Kunst Wenn dann Hegels performative Verwendung der sinnlichen Darstellung genau unter die Lupe genommen wird, können der Verbildlichung des Wissens zwei Funktionen zugeteilt werden: 1. einen Begriff auf eine nicht begriffliche Weise darzustellen und mitzuteilen;
Hegel 2005, 63. Hegel 1970 Bd. 3, 483 f. Hegel 1970 Bd. 3 , 487. Hegel 1970 Bd. 3 , 484.
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etwas anzudeuten, das noch nicht Begriff ist, d. h. auf einen Gehalt hinzuweisen, der durch die Sinnlichkeit und mit Hilfe der Sinnlichkeit an begrifflicher Klarheit, Artikulation und Bedeutung gewinnen kann.
Im ersten Fall handelt es sich um einen geistigen Gehalt, der auf eine individualisierte Weise dargestellt wird und über Gefühl und unmittelbare Anteilnahme eine verständlichere Form der Kommunikation versucht. Das sinnliche Medium bietet in dieser Hinsicht der Kunst unendlich viele und vielfältige Möglichkeiten, einen geistigen Inhalt darzustellen und mitteilbar zu machen. Ihre besondere Fähigkeit, Sinn und Gefühl mit der Vernunft zu verknüpfen, gestattet ihr, Relationen herzustellen, mehrere Dimensionen zu schaffen und zugleich zu verbinden, sodass ihre Einheit und Zusammengehörigkeit performativ demonstriert wird. Hinzu kommt, dass durch die Kunst mehrere Möglichkeiten der interkulturellen Vermittlung sondiert und realisiert werden, die die Horizonte erweitern und durchlässig machen. Das potentielle, direkte Ansprechen eines breiten Publikums schafft zugleich intersubjektive sowie gemeinschaftliche Beziehungen, da sich das Kunstwerk direkt und gebührend an das Publikum wendet, nach seiner Aufmerksamkeit sowie seinem Urteil sucht und somit Respekt vor dem Anderen performativ erweist und bewahrt. Auch wenn Manipulationsversuche nicht ganz ausgeschlossen werden können, bietet der eigentümliche, von der Wirklichkeit ausgesonderte Rahmen der Kunst zumindest eine Form des Schutzes gegen die systematische und durchdringende Beeinflussung, da er eine Unterbrechung im linearen Lebensverlauf veranstaltet, die auch durch klare Grenzen definiert wird. Im zweiten Fall geht es um eine Form des Wissens und des Erkennens, die sich mit Gegenständen und Gehalten befasst, die sich noch nicht logisch artikuliert haben. Für Hegel trifft dieser Fall eher auf frühere Zivilisationen zu, da seiner Ansicht nach die moderne Fragestellung und Analyse der Problembereiche vielmehr zu allgemeinen sowie allgemeingültigen Gesetzen tendiere. Hegel betont diesbezüglich mehrmals, dass die moderne Zeit nicht mehr günstig für die Kunst sei⁶⁷ und sich mehr nach konzeptionellen Formen des Wissens richte. Man könnte aber auch die Vermutung wagen, dass in neuen Zeit- und Wissenskonstellationen die Kunst eine intuitionsreiche, richtungweisende Funktion übernehmen könne. Mit einem auf die Zukunft gerichteten Blick könnte die Hypothese aufgestellt werden, dass die Kunst nicht nur eine Verbildlichung des Wissens leiste, die unmittelbarer, lebhafter, verständlicher und leichter kommunizierbar sei, sondern auch, dass sie die Fähigkeit aufweise, in allen den Gebieten zu sondieren sowie die neuen Aspekte und Elemente zu thematisieren, die noch nicht begrifflich artiku-
Zur Frage nach dem Ende der Kunst siehe Gethmann-Siefert 1994, insb. 35 f.
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liert und ausgearbeitet worden sind, aber dennoch durch die bildliche Darstellung wirksam angegangen und mitgeteilt werden könnten.
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Hegels Auffassung von der Poesie als Endform der Kunst Die Poesie ist für Hegel die Endform der Kunst, in der die Kunst im Allgemeinen durch die Religion überwunden wird. Die These, dass die Poesie den anderen Künsten, d. h. der Architektur, der Skulptur, der Malerei und der Musik, überlegen ist, spricht von einer besonderen Hierarchisierung und Periodisierung, die Hegel zwischen die verschiedenen Kunstformen einführt. Das Kriterium für diese Hierarchisierung und Periodisierung ist offensichtlich das gleiche, nach dem Hegel die Kunst wiederum als eine der Religion und der Philosophie unterlegene Form betrachtet. Dass die Poesie eine den anderen Künsten überlegene Kunstform ist, ist auf den ersten Blick eine überraschende These; und sie wirkt noch überraschender, wenn man sie durch die These ergänzt, dass die Kunst wiederum durch die Religion und die Philosophie als weitere Phasen eines linearen Prozesses aufgehoben wird. Um was für einen linearen Prozess handelt es sich hier eigentlich? Ein linearer Prozess wohin? Der Prozess, von dem Hegel in diesem Kontext spricht, ist ein Erkenntnisprozess, und zwar ein ganz bestimmter Erkenntnisprozess, nämlich Erkenntnis des Absoluten. ¹ In einer ersten Annäherung scheint Hegel in diesem Zusammenhang die religiöse Kunst und ihre Beziehung zur eigentlichen Religion zu meinen. Unter Philosophie – aufgefasst als eine der Religion überlegene Form – würde Hegel hier also wohl Metaphysik verstehen, d. h. jene philosophische Disziplin, die schon Aristoteles „Theologie“ nannte, eben weil sie die ersten Prinzipien und Ursachen aller Dinge thematisiert. Da es einleuchtet, dass das Absolute den natürlichen Gegenstand der Religion bildet, charakterisiert Hegel in der Tat die gesamte Ebene des absoluten Geistes, d. h. die Kunst, die Religion und die Philosophie, als „Religion“ im Allgemeinen.² In Hegels Ästhetik geht es aber in erster Linie nicht um die religiöse Kunst, und noch weniger geht es darum in der Poesie, welche Hegel als die Vollendungsform der Kunst betrachtet. Die Poesiegattung, die für Hegel die Vgl. dazu Peperzak 1987. Vgl. Hegel 1970 Bd. 10, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III (1830), § 554: „Der absolute Geist ist ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität; die eine und allgemeine Substanz als geistige, das Urteil in sich und in ein Wissen, für welches sie als solche ist. Die Religion, wie diese höchste Sphäre im allgemeinen bezeichnet werden kann, ist ebensosehr als vom Subjekte ausgehend und in demselben sich befindend als objektiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist.“
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Endphase der Kunst ausmacht, ist das moderne Drama, in dessen Zentrum die Darstellung des Charakters und der Handlungen seiner verschiedenen Gestalten steht.³ Was hat das alles aber mit dem Absoluten zu tun? Was haben das Drama und seine Subgattungen – der Tragödie, der Komödie, der Satire usw. – mit Religion und Philosophie zu tun? Hegel verbindet außerdem die Kunst mit dem Absoluten als eine Erkenntnisform desselben. Aber in welchem Sinne ist die Kunst Erkenntnis? Ist Kunst nicht eher Darstellung und Ausdruck subjektiver Gefühle und Ideen – und eben nicht ein Erfassen der Realität, eben nicht eine Erkenntnisform der Wirklichkeit? Um den allgemeinen Sinn von Hegels Ästhetik und dadurch die besondere Rolle, die er darin der Poesie zuschreibt, verstehen zu können, ist es unentbehrlich, die oben gestellten Fragen zu beantworten. Ein theoretisches und exegetisches Modell zu liefern, das imstande ist, eine solche Aufgabe zu erfüllen, ist das Ziel dieses Beitrags.
1. Kunst und Phantasie Die verschiedenen theoretischen Formen des subjektiven Geistes bilden in Hegels System bekanntlich die formale Struktur der Philosophie des absoluten Geistes. Die Art und Weise, wie Hegel den theoretischen bzw. kognitiven Prozess auffasst, bildet somit die Substruktur seiner Ästhetik und bietet den Schlüssel zum Verstehen der allgemeinen Struktur derselben sowie auch der besonderen Hierarchisierung der verschiedenen Künste innerhalb der Ästhetik. Die Form, die im subjektiven theoretischen Prozess der Kunst entspricht, ist die Phantasie. Die Phantasie, d. h. Hegels formale Theorie des Symbols, des Zeichens und der Sprache ist, um es mit Hegels eigenen Worten zu sagen, die „allgemeine Grundlage aller besonderen Kunstformen und einzelnen Künste“;⁴ sie bildet insofern den Kern seiner ästhetischen Theorie. Im Anschluss an jene philosophische Tradition, die mit Kant beginnt, sowie auch an die Diagnose von zeitgenössischen Autoren wie Wilfrid Sellars und Ri-
Hegel 1970 Bd. 15, Vorlesungen über die Ästhetik III, 474: „Das Drama muß,weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden. Denn den sonstigen sinnlichen Stoffen, dem Stein, Holz, der Farbe, dem Ton gegenüber, ist die Rede allein das der Exposition des Geistes würdige Element und unter den besonderen Gattungen der redenden Kunst wiederum die dramatische Poesie diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt“. Hegel 1970 Bd. 15, 233. Zu Hegels Theorie der Phantasie siehe u. a. Bates 2004; Düsing 1991.
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chard Rorty hält John McDowell das Verhältnis von Sinnlichkeit und Begriff für das wichtigste Problem der Erkenntnistheorie.⁵ Die Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Begriff erweist sich als besonders rätselhaft, wenn man sie wie jene Philosophen als eine Beziehung zwischen Rezeptivität und Spontaneität auffasst. Der Versuch, das Phänomen der Erkenntnis anhand der Kategorien der Rezeptivität und der Spontaneität zu erklären, d. h. als eine Beziehung zwischen dem, was dem Subjekt angeblich von der Wirklichkeit gegeben ist, und dem, was vom Subjekt selbst aktiv gesetzt würde, löst einen auf den ersten Blick unauflösbaren Konflikt aus, der droht, die Erkenntnistheorie und damit die ganze Philosophie in einer „endlosen Oszillation“ zu paralysieren.⁶ Es ist eben diese Oszillation, die der postkantianische Idealismus seit Fichte durch eine sogenannte „Identitätsphilosophie“ zu lösen versucht hat. Die theoretische Herausforderung Hegels besteht demnach darin, ohne nach dem kantischen Rezeptivitätsbegriff zu greifen, das Erkennen als objektives Erkennen zu erklären, d. h. deutlicher gesagt: das Erkennen nur als Resultat der Tätigkeit des Subjekts und trotzdem als ein Erkennen der Wirklichkeit zu begründen. Dafür ist ein Paradigmenwechsel der Subjektivität nötig; im neuen Paradigma, das kein anderes als das Paradigma des absoluten Idealismus ist, ist die Subjektivität das Beziehen selbst zwischen dem einzelnen Subjekt, das sich zunächst als ein endliches Wesen versteht, und dem Objekt, das zunächst auch als ein einzelnes endliches Objekt verstanden wird und insofern zum Subjekt in einem Kausalverhältnis steht. Im Rahmen dieses neuen philosophischen Paradigmas ist das Erkennen nun der Prozess der Aufhebung jener Weise des Sich-Verstehens des Subjekts sowie auch der Verwandlung der ontologischen Unmittelbarkeit und Einzelheit des Objekts. In dieser sowohl objektiven als auch subjektiven Welt, in der es also nicht mehr verschiedene Sachen in gegenseitiger kausaler Beziehung gibt, braucht man nicht mehr zu erklären, wie die Beziehung zwischen Objekt und Subjekt zustande kommt, wie das Erkennen also überhaupt möglich ist; trotzdem muss man dabei doch immer noch erklären, wie sinnliche und begriffliche Inhalte sich aufeinander beziehen – allerdings nicht mehr anhand der Begriffe von Rezeptivität und Spontaneität. Eben in diesem Zusammenhang erweisen sich Hegels Theorie der Einbildungskraft und, innerhalb dieser, seine Theorie der Phantasie als überraschend aktuell. Die Phantasie ist für Hegel nämlich nicht, wie es im Paradigma des Realismus der Fall ist, das Vermögen, sich bloß subjektive, phantastische Kunstprodukte einzubilden, sondern eine Tätigkeit, die produktiv, aber nichtsdestoweniger ein Moment des Erkenntnisprozesses im eigentlichen Sinne ist.
Vgl. McDowell 1994. Siehe auch McDowell 1999 u. 2003. McDowell 1994, 9, 15, 23, 114 et passim.
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Die erste Subform der allgemeinen Form der Einbildungskraft ist für Hegel die reproduktive Einbildungskraft, deren erster Akt das freiwillige Reproduzieren der Bilder durch das Subjekt im idealen Raum seiner eigenen Subjektivität ist; innig verbunden mit der Reproduktion sind für Hegel die Abstraktion und die Assoziation der Bilder und der abstrakten Vorstellungen.⁷ Indem das Subjekt zwei Inhalte, seien sie Bilder oder allgemeine Vorstellungen, miteinander assoziiert, bezieht es sie aktiv aufeinander anhand eines dritten Inhalts, den diese beiden Inhalte zu einem bestimmten Grad gemeinsam haben. Das Subjekt assoziiert nämlich verschiedene Inhalte wegen einer oder mehrerer Bestimmungen, die sie selber haben. Die Assoziation ist somit nicht ein völlig freies Beziehen des Subjekts, sondern eine Tätigkeit, die sowohl subjektiv als auch objektiv ist; es handelt sich dabei sozusagen um eine Bewegung „der Sache selbst“. Der dritte Inhalt, der die Assoziation ermöglicht, ist eine Vorstellung, die jeweils allgemeiner ist als die Inhalte, die auf ihr als Grund assoziiert werden; durch diese allgemeinere Vorstellung überwindet der Geist zunächst einmal die anfangs völlige Beziehungslosigkeit der sinnlichen Inhalte. Wie wir schon seit Heraklit und Platon wissen, ist das Sinnliche nämlich einzeln und einzig. Die objektive Vermittlung der Assoziation findet also nur zwischen der Bestimmung statt, anhand derer das Subjekt verschiedene Inhalte aktiv assoziiert, und jener in ihnen vorhandenen Bestimmung, durch die sie assoziiert werden. Die Mehrheit der Bestimmungen, die jeden assoziierten Inhalt als solchen bestimmten Inhalt bilden, bleibt somit noch außerhalb der Assoziation selbst, eben weil diese Bestimmungen dabei mit keinen anderen Bestimmungen vermittelt werden. In der Assoziation verharren insofern die Inhalte, die das Subjekt erkennt, im Grunde weiter in ihrer eigenen Besonderheit. Die Phantasie bedeutet einen weiteren Schritt in der Vermittlung des Einzelnen und des Allgemeinen, des Sinnlichen und des Begrifflichen; und sie bedeutet diesen Schritt, indem das Subjekt durch ihre spezifischen Akte – nämlich durch das Symbolisieren und das Bezeichnen – einen Inhalt einem anderen Inhalt subordiniert und ihn zu dessen Ausdruck und zu dessen Darstellung macht.⁸ In der Assoziation stehen die verschiedenen assoziierten Inhalte auf derselben Ebene und sind nur dem allgemeineren Inhalt untergeordnet, auf dessen Grund sie miteinander assoziiert werden. Obwohl mit der Assoziation tief verbunden, führt das Subjekt in der Phantasie ausdrücklich eine Hierarchie zwischen den Inhalten ein, die es dabei aufeinander bezieht. Das Symbolisieren und das Bezeichnen fügen also etwas hinzu, was in den Beziehungen der bloßen Assoziation nicht
Vgl. Hegel 1970 Bd. 10, §§ 455 – 456. Vgl. Hegel 1970 Bd. 10, §§ 457– 458.
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vorhanden ist, nämlich die Unterordnung eines der bezogenen Inhalte als eines Akzidentellen, dessen Funktion nunmehr nur darin besteht, den Inhalt auszudrücken, dem er untergeordnet wird.⁹ Diese neue Art, Inhalte aufeinander zu beziehen, impliziert eine größere Negativität und Idealisierung der Inhalte, die am Anfang des theoretischen Prozesses dem Geist als fremd und selbständig gegeben sind. Im Symbol und im Zeichen wird ein Inhalt, wie bereits gesagt, vom Geist darauf reduziert, Ausdruck und Darstellung eines anderen Inhalts zu sein; der letztere, d. h. die Bedeutung, scheint nun durch den Inhalt, der ihn symbolisiert und bezeichnet.¹⁰ Vom Standpunkt der Logik Hegels aus bildet somit der Übergang von der Assoziation zur Phantasie den Übergang von den Kategorien und der Beziehungsart der Seinslogik, in der die Bestimmungen sogar in ihren Beziehungen aufeinander in ihrer bloßen Identität mit sich selbst bleiben, zu den Kategorien und der Beziehungsart der Wesenslogik. Der Inhalt, der eine Bedeutung symbolisiert bzw. bezeichnet, verliert für Hegel seine eigene Besonderheit, indem seine Bestimmtheit nunmehr darin besteht, die Bestimmtheit der Bedeutung auszudrücken; die Bestimmtheit der Bedeutung verliert im Gegenzug auch ihre eigene Besonderheit, wenn sie zur Bedeutung eines Symbols bzw. eines Zeichens wird, weil sie bedeutet, eben indem sie von einem anderen Inhalt ausgedrückt wird. Dieses Kreisverhältnis weist auf Hegels semantische Theorie hin: Die Bedeutung ist für Hegel nämlich eine in sich unbestimmte Vorstellung, die sich erst durch den Inhalt bestimmt, der sie ausdrückt und expliziert. Bedeutung und Ausdruck korrelieren so miteinander und bilden eine Totalität, eine erste Form des Schlusses. In diesem Schluss wird dem Inhalt, der als Bedeutung fungiert, seine Sinnlichkeit völlig abgestreift; obwohl wir z. B. kein Bild und deshalb auch keine eigentliche Vorstellung von Dinosauriern haben, können wir ohne Probleme auf sie durch ein Symbol – z. B. durch die Zeichnung einer gigantischen Echse – oder durch ein Zeichen – durch die Laute des Wortes „Dinosaurier“ – hinweisen. Dies zeigt eindeutig, dass die Vorstellung, die durch die Phantasie in die Bedeutung eines Symbols oder eines Zeichens verwandelt wird, von der bloß abstrakten Vorstellung der reproduktiven Einbildungskraft spezifisch verschieden ist. Die abstrakte Vorstellung ist das unmittelbare Produkt der Abstraktion aus einem sinnlichen Bild; sie kann sich daher – als Folge des Restvorhandenseins der Charakteristika des Sinnlichen in ihr – nur durch eine Synthese auf etwas Sinnliches beziehen, d. h. konkreter gesagt: durch das wiederholte Vorkommen des gleichen sinnlichen Inhaltes, mit dessen Bestimmtheit die abstrakte Vorstellung in ihrem Ursprung und Entstehen verbunden ist. Die
Vgl. Hegel 1970 Bd. 10, § 456 Zusatz. Vgl. ebd.
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Vorstellung, die als Bedeutung eines Symbols oder eines Zeichens fungiert – wir können sie von nun an „Bedeutungsvorstellung“ nennen –, kann dagegen selber, d. h. auf ihrer eigenen ideellen, nicht-sinnlichen Ebene, den einzelnen Inhalt enthalten, der dem Geist anfangs in der Anschauung als ein sinnlicher Inhalt erscheint; in der Phantasie verlässt der Geist also die Sinnlichkeit überhaupt, aber entfernt sich deshalb nicht von der wirklichen Welt.¹¹ Die Phantasie offenbart damit, dass die Sinnlichkeit nur eine Form des Inhalts, eine bloße Erscheinungsart desselben ist, und nicht der eigentliche Inhalt, nicht die Welt in ihrer eigenen Bestimmtheit. Innerhalb der Phantasie unterscheidet Hegel wiederum das Symbol und das Zeichen als zwei aufeinanderfolgende Momente des einen geradlinigen Negativierungs- und Idealisierungsprozesses, der die Erkenntnis als solche definiert. Der Grund für diese Hierarchisierung, den Hegel im Rahmen seiner Darstellung der Philosophie des subjektiven Geistes ausdrücklich ausführt, ist die in der Bezeichnung stattfindende Befreiung von der Bestimmtheit des Inhaltes, der die Bedeutung ausdrückt. Im Symbol hat die Bestimmtheit, die das Subjekt einer anderen Bestimmtheit als deren Bedeutung unterordnet, nämlich noch eine inhaltliche Verbindung zu derselben: So symbolisiert z. B. der Löwe das Königreich durch die Kraft und Majestät, die beiden Inhalten gemeinsam sind. Diese Gemeinschaftlichkeit lässt die Nähe der Symbolisierung zur Assoziation erkennen; in der Bezeichnung dagegen verbindet das Subjekt beide Inhalte, d. h. die Bedeutung und ihren Ausdruck, frei aus sich selbst: Es gibt ja nur ein bloß subjektives Verhältnis zwischen dem Königreich und der Lautsequenz des Wortes „Königreich“. Indem die Bezeichnung einen Inhalt unter einen anderen Ausdruck ohne jedes Hegel 1970 Bd. 4, Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse (1808 ff.), 52: „Die konkrete Vorstellung wird überhaupt durch das Wortzeichen zu etwas Bildlosem gemacht, das sich mit dem Zeichen identifiziert. (Das Bild wird ertötet, und das Wort vertritt das Bild. […] Die Sprache ist Ertötung der sinnlichen Welt in ihrem unmittelbaren Dasein, das Aufgehobenwerden derselben zu einem Dasein, welches ein Aufruf ist, der in allen vorstellenden Wesen widerklingt.)“/Hegel 1970 Bd. 10, § 462 Anmerkung: „Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solches Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung.“ Siehe auch Hegel 1994, 215: „Der Name ist das Dasein der Vorstellung, wie diese Sache nicht ist auf unmittelbare sinnliche Weise, sondern im Reiche der Intelligenz. […] Zunächst wird der Gegenstand in der Intelligenz als Bild aufbewahrt, das Bild hat die sinnliche unmittelbare Qualität, wie der Gegenstand sie hat. Der Name ist eine zweite Weise des Sinnlichen, wie es von der Intelligenz produziert ist. Der Name ist das Dasein dieses Inhaltes, daß wir das Bild gar nicht bedürfen, das Bild des Inhaltes nicht vor uns zu bringen brauchen. Caesar ist längst vorbei, als Name hat er sich erhalten.“/Hegel 1994, 218: „[…] die Namen sind keine Bilder, und doch haben wir den ganzen Inhalt, indem wir den Namen vor uns haben.“/Hegel 1994, 219: „Der Inhalt, den wir bei dem Namen haben, ist, was wir den Sinn nennen (dazu brauchen wir das Bild nicht), dessen wir uns bewußt sind, den wir ganz vor uns haben.“
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objektive Verhältnis subsumiert, ermöglicht sie die Reflexion der Subjektivität in sich selbst, die Reflexion in ihre eigene Innerlichkeit, so dass das Subjekt von nun an die verschiedenen Bedeutungsvorstellungen miteinander, d. h. horizontal vermitteln kann. Im Zeichen wird die Tätigkeit, einen Inhalt durch einen anderen auszudrücken, abstrakt für sich: Das Beziehen der Inhalte aufeinander ist jetzt die reine negative Macht des Geistes über den Inhalt überhaupt;¹² deshalb ist die Bezeichnung eine abstrakt freie, d. h. eine willkürliche Tätigkeit der Subjektivität.¹³ In diesem völlig immanenten und ideellen Vermittlungsraum kann nun das System der Bedeutungen, d. h. die Sprache entstehen.¹⁴
2. Kunst und Poesie Nachdem wir die Grundideen von Hegels Theorie der Phantasie analysiert haben, können wir jetzt seine These von der Kunst als einer Form von Erkenntnis und in diesem Zusammenhang seine These von der Poesie als Endform der Kunst genauer verstehen. Wie wir gerade gesehen haben, erscheint die Sprache in Hegels Philosophie nach der assoziierenden Einbildungskraft und der Symbolisierung in der Zeichen produzierenden Phantasie. Genau an der Stelle, an der die Sprache in der Struktur der Philosophie des subjektiven Geistes erscheint, findet sich das Kriterium für die Hierarchisierung und Periodisierung der Poesie innerhalb der Struktur der Ästhetik und weiterhin der Ästhetik innerhalb der allgemeinen Struktur der Philosophie des absoluten Geistes. Während die Architektur, die Skulptur, die Malerei und die Musik ihre Bedeutungen durch sinnliche Inhalte ausdrücken, tut es die Poesie durch die Sprache. Das Material zum Ausdruck der Bedeutung, das die
Vgl. Hegel 1970 Bd. 10, § 457 Anmerkung: „Die Phantasie ist der Mittelpunkt, in welchem das Allgemeine und das Sein, das Eigene und das Gefundensein, das Innere und Äußere vollkommen in eins geschaffen sind. Die vorhergehenden Synthesen der Anschauung, Erinnerung usf. sind Vereinigungen derselben Momente; aber es sind Synthesen; erst in der Phantasie ist die Intelligenz nicht als der unbestimmte Schacht und das Allgemeine, sondern als Einzelheit, d. i. als konkrete Subjektivität, in welcher die Beziehung-auf-sich ebenso zum Sein als zur Allgemeinheit bestimmt ist. Für solche Vereinigungen des Eigenen oder Inneren des Geistes und des Anschaulichen werden die Gebilde der Phantasie allenthalben anerkannt; ihr weiter bestimmter Inhalt gehört anderen Gebieten an. Hier ist diese innere Werkstätte nur nach jenen abstrakten Momenten zu fassen. – Als die Tätigkeit dieser Einigung ist die Phantasie Vernunft, aber die formelle Vernunft nur, insofern der Gehalt der Phantasie als solcher gleichgültig ist, die Vernunft aber als solche auch den Inhalt zur Wahrheit bestimmt.“ Vgl. Hegel 1970 Bd. 10, § 457 Zusatz. Vgl. Hegel 1970 Bd. 10, § 459.
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Poesie benutzt, ist somit nicht der Stein, die Farbe oder der Ton, sondern das Material ist bei ihr auch eine Bedeutungsvorstellung.¹⁵ Als allgemeiner Raum der gegenseitigen Vermittlung aller Bedeutungsvorstellungen ist die theoretische Form der Sprache die Teilung in sich selbst (das Ur-teilen) des Erkenntnisinhaltes überhaupt. Das bedeutet für Hegel einen qualitativen Sprung der Poesie gegenüber den restlichen Künsten.¹⁶ Der Stein, die Farbe und der Ton kommen in der Poesie nämlich wieder vor, aber nicht mehr als eigentliche sinnliche Inhalte, sondern als reine Bestimmtheiten, d. h. als Bedeutungen:¹⁷ So können in der Musik z. B. die wirklichen Laute einer Flöte das Gefühl der Freude ausdrücken; in der Poesie ist dagegen die Vorstellung bzw. die Bestimmtheit des Tons der Flöte – nicht die sinnlichen Töne selbst – dasjenige, was die Freude ausdrückt. Hegel charakterisiert das Wort daher als das „bildsamste Material“¹⁸ und meint, dass die Poesie, indem sie die Sprache selbst als ihr spezifisches Material benutzt, die
Hegel 1970 Bd. 15,, 229: „Bei dieser Zurückziehung des geistigen Inhalts aus dem sinnlichen Material fragt es sich nun sogleich,was denn jetzt in der Poesie, wenn es der Ton nicht sein soll, die eigentliche Äußerlichkeit und Objektivität ausmachen werde. Wir können einfach antworten: das innere Vorstellen und Anschauen selbst. Die geistigen Formen sind es, die sich an die Stelle des Sinnlichen setzen und das zu gestaltende Material, wie früher Marmor, Erz, Farbe und die musikalischen Töne, abgeben.“/Hegel 1970 Bd. 15, 236: „Wir haben gesehen, daß in der Poesie das innere Vorstellen selbst sowohl den Inhalt als auch das Material abgibt.“ Hegel 1970 Bd. 15, 224: „Denn einerseits enthält die Dichtkunst wie die Musik das Prinzip des Sichvernehmens des Inneren als Inneren, das der Baukunst, Skulptur und Malerei abgeht; andererseits breitet sie sich im Felde des inneren Vorstellens, Anschauens und Empfindens selber zu einer objektiven Welt aus, welche die Bestimmtheit der Skulptur und Malerei nicht durchaus verliert und die Totalität einer Begebenheit, eine Reihenfolge, einen Wechsel von Gemütsbewegungen, Leidenschaften, Vorstellungen und den abgeschlossenen Verlauf einer Handlung vollständiger als irgendeine andere Kunst zu entfalten befähigt ist.“/Hegel 1970 Bd. 15, 230: „Die redende Kunst hat deswegen in Ansehung ihres Inhalts sowohl als auch der Weise, denselben zu exponieren, ein unermeßliches und weiteres Feld als die übrigen Künste. Jeder Inhalt, alle geistigen und natürlichen Dinge, Begebenheiten, Geschichten, Taten, Handlungen, innere und äußere Zustände lassen sich in die Poesie hineinziehen und von ihr gestalten.“ Hegel 1970 Bd. 15, 321: „In dieser Rücksicht ist es erstens einerseits die Form der äußeren Realität, in welcher die Poesie die entwickelte Totalität der geistigen Welt vor der inneren Vorstellung vorüberführt und dadurch das Prinzip der bildenden Kunst in sich wiederholt, welche die gegenständliche Sache selber anschaubar macht.“/Hegel 1970 Bd. 15, 275 f.: „Was in den bildenden Künsten die durch Stein und Farbe ausgedrückte sinnlich sichtbare Gestalt, in der Musik die beseelte Harmonie und Melodie ist, die äußerliche Weise nämlich, in welcher ein Inhalt kunstgemäß erscheint, das kann, wir müssen immer wieder darauf zurückkommen, für den poetischen Ausdruck nur die Vorstellung selber sein.“ Hegel 1970 Bd. 15, 239. Vgl. auch 230: „Dieser verschiedenartigste Stoff […].“
Hegels Auffassung von der Poesie als Endform der Kunst
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Totalität der Kunst ist:¹⁹ Durch die vollständig immanente Idealität der Sprache verfügt die Poesie nämlich über alle Mittel der anderen Künste – und weiterhin über viele mehr, die sich aus materiellen Gründen von keiner Kunst in der Wirklichkeit behandeln lassen.²⁰ Die Kunst ist die anfängliche Art des Geistes, die anscheinend fremde Selbständigkeit der Objekte gegenüber der Subjektivität durch die Idealisierung ihrer Sinnlichkeit aufzuheben. Das Erkennen darf für Hegel nicht als passiv verstanden werden, sondern als grundsätzlich aktiv;²¹ das Erkennen ist für Hegel eben eine Hegel 1970 Bd. 15, 224: „Die Poesie nun, die redende Kunst, ist das dritte, die Totalität, welche die Extreme der bildenden Künste und der Musik auf einer höheren Stufe, in dem Gebiete der geistigen Innerlichkeit selber, in sich vereinigt.“/Hegel 1970 Bd. 15, 234 f.: „In der gleichen Weise verhält es sich mit dem Umstande, daß die Poesie die Totalität des Inhalts und der Kunstformen in sich aufzunehmen imstande ist. […] Wie vollständig deshalb auch die Poesie die ganze Totalität des Schönen noch einmal in geistigster Weise produziert, so macht dennoch die Geistigkeit gerade zugleich den Mangel dieses letzten Kunstgebiets aus.“ Hegel 1970 Bd. 15, 232 f.: „Bei der Wichtigkeit nämlich, welche die sinnliche Seite in den bildenden Künsten und der Musik erhält, entspricht nun, der spezifischen Bestimmtheit dieses Materials wegen, auch nur ein begrenzter Kreis von Darstellungen vollständig dem besonderen, realen Dasein in Stein, Farbe oder Ton, so daß dadurch der Inhalt und die künstlerische Auffassungsweise der bisher betrachteten Künste in gewisse Schranken eingehegt wird. […] Die Poesie nun streift sich von solcher Wichtigkeit des Materials überhaupt in der Weise los, daß die Bestimmtheit ihrer sinnlichen Äußerungsart keinen Grund mehr für die Beschränkung auf einen spezifischen Inhalt und abgegrenzten Kreis der Auffassung und Darstellung abgeben kann. Sie ist deshalb auch an keine bestimmte Kunstform ausschließlicher gebunden, sondern wird die allgemeine Kunst, welche jeden Inhalt, der nur überhaupt in die Phantasie einzugehen imstande ist, in jeder Form gestalten und aussprechen kann, da ihr eigentliches Material die Phantasie selber bleibt“./Hegel 1970 Bd. 15, 237– 238: „Da sie nun aber, ihrer sprachlichen Äußerung unerachtet, am meisten von den Bedingungen und Schranken frei ist, welche die Besonderheit des Materials den übrigen Künsten auferlegt, so behält die Poesie die ausgedehnteste Möglichkeit, vollständig alle die verschiedenen Gattungen auszubilden, welche das Kunstwerk unabhängig von der Einseitigkeit einer besonderen Kunst annehmen kann, und zeigt deshalb die vollendeteste Gliederung unterschiedener Gattungen der Poesie. […] Denn die Natur des Poetischen fällt im allgemeinen mit dem Begriff des Kunstschönen und Kunstwerks überhaupt zusammen, indem die dichterische Phantasie nicht wie in den bildenden Künsten und der Musik durch die Art des Materials, in welchem sie darzustellen gedenkt, in ihrem Schaffen nach vielen Seiten hin eingeengt und zu einseitigen Richtungen auseinandergetrieben wird, sondern sich nur den wesentlichen Forderungen einer idealen und kunstgemäßen Darstellung überhaupt zu unterwerfen hat.“ Vgl. Hegel 1970 Bd. 8, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I (1830), § 226 Zusatz: „Die Endlichkeit des Erkennens liegt in der Voraussetzung einer vorgefundenen Welt, und das erkennende Subjekt erscheint hierbei als eine tabula rasa. Man hat diese Vorstellung dem Aristoteles zugeschrieben, obschon niemand von dieser äußerlichen Auffassung des Erkennens entfernter ist als gerade Aristoteles. Dies Erkennen weiß sich noch nicht als die Tätigkeit des Begriffs, welche es nur an sich ist, aber nicht für sich. Sein Verhalten scheint ihm selbst als ein passives, in der Tat ist dasselbe jedoch aktiv.“
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Art von Konstruieren. Im Unterschied aber zu Autoren wie z. B. Nietzsche oder Rorty, welche die Einheit von Kunst und Erkenntnis in einem subjektivistischen und skeptischen Sinn verstehen,²² ist das Erkennen für Hegel ein objektives Konstruieren, eben ein Konstruieren von Objektivität:²³ Es gibt für Hegel nämlich keinen Dualismus zwischen Objektivität und Konstruktivismus, zwischen Erkenntnis und Kunst. Die Kunst expliziert den Begriff der Sachen auf eine in stärkerem oder geringerem Maße bildliche Art; sie ist insofern für Hegel eine legitime Realisierung des Begriffs des Erkennens. Im Unterschied zu den anderen Künsten verinnerlicht und idealisiert die Poesie durch die Sprache die bildliche Darstellungsweise, die für die Kunst im Allgemeinen spezifisch ist.²⁴ Dieser Umstand verleiht der Poesie – und dies unabhängig von den besonderen Objekten bzw. Themen, von denen die verschiedenen Poesiegattungen jeweils handeln – eine besondere Stellung unter den Künsten: Die konstruktive Fähigkeit im Allgemeinen, d. h. die Fähigkeit, gegebenenfalls Theorien zu bilden, die der menschliche Geist in der Poesie offenbart und entfaltet, ist wesentlich größer als in den anderen Künsten. Das Absolute ist für Hegel das Bewusstwerden, dass die Subjektivität als Einheit des Objekts und des Subjekts an sich unendlich ist. Deutlicher gesagt: Das Absolute ist die menschliche Vernünftigkeit, die sich ihrer selbst bewusst wird und sich als das ideelle Bilden ihrer spezifischen Objektivität, ja ihrer eigenen Welt verwirklicht. Der Übergang vom sinnlichen Vorhandensein des Objekts zu seinem rein ideellen Dasein im Subjekt erfolgt im Element der Sprache, ohne dass sich das Subjekt dafür von den Bedeutungen seiner Sprachzeichen entfernen muss; er findet als eine innere Bewegung der Sprache selbst statt, als eine mehr oder weniger explizite Form des Schlusses. Die Sprache hebt den Gegensatz zwischen der Subjektivität des Geistes und der Objektivität der Welt auf, und sie hebt ihn eben deshalb auf, weil sie die Welt in sich selber enthält und entfaltet. Das Be-
Siehe dazu Boghossian 2006; Hacking 1999; Sokal/Bricmont 1998; McCormick 1996. Vgl. Hegel 1970 Bd. 10, § 444: „Der theoretische sowohl als praktische Geist sind noch in der Sphäre des subjektiven Geistes überhaupt. Sie sind nicht als passiv und aktiv zu unterscheiden. Der subjektive Geist ist hervorbringend; aber seine Produktionen sind formell. Nach innen ist die Produktion des theoretischen nur seine ideelle Welt und das Gewinnen der abstrakten Selbstbestimmung in sich.“ Hegel 1970 Bd. 15, 228: „Durch diese Erfüllung nämlich mit geistigen Vorstellungen wird der Ton zum Wortlaut und das Wort wiederum aus einem Selbstzwecke zu einem für sich selbständigkeitslosen Mittel geistiger Äußerung. Dies bringt nach dem, was wir schon früher feststellten, den wesentlichen Unterschied von Musik und Poesie hervor. Der Inhalt der redenden Kunst ist die gesamte Welt der phantasiereich ausgebildeten Vorstellungen, das bei sich selbst seiende Geistige, das in diesem geistigen Elemente bleibt und, wenn es zu einer Äußerlichkeit sich hinausbewegt, dieselbe nur noch als ein von dem Inhalte selber verschiedenes Zeichen benutzt.“
Hegels Auffassung von der Poesie als Endform der Kunst
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greifen als Vollendungsform der Sprachtätigkeit ist das Medium, in dem das Sinnliche und das Begriffliche als vollständig idealisierte Aspekte der begriffenen Inhalte integriert werden. Obwohl die Poesie im Gegensatz zur Religion und zur Philosophie beim bildlichen Ausdruck ihrer Inhalte bleibt, bewegt sie sich schon in dem an sich prosaischen Element der Diskursivität;²⁵ eben dadurch ist sie die Endform der Kunst als symbolmäßiger Realisierung des Absoluten, d. h. als figurativer Vereinigungstätigkeit des Objektiven und des Subjektiven, des Sinnlichen und des Begrifflichen.
Literatur Bates, Jennifer Ann (2004): Hegel’s Theory of Imagination, Albany: State University of New York Press. Boghossian, Paul (2006): Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism, New York: Oxford University Press. Düsing, Klaus (1991): „Hegels Theorie der Einbildungskraft“, in: Franz Hespe/Burkhardt Tuschling (Hg.), Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Beiträge zu einer Hegel-Tagung in Marburg 1989, Stuttgart: Frommann-Holzboog, 297 – 320. Hacking, Ian (1999): The Social Construction of What?, Cambridge: Harvard University Press. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1994): Vorlesungen über die Philosophie des Geistes (Berlin 1827/28. Nachgeschrieben von Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter), hg. v. Franz Hespe u. Burkhard Tuschling (Vorlesungen Bd. 13), Hamburg: Meiner. McCormick, Peter (Hg.) (1996): Starmaking: Realism, Anti-Realism, and Irrealism, Cambridge: MIT Press.
Hegel 1970 Bd. 15, 234– 235: „Nur durch diesen Gang der Betrachtung ergibt sich dann auch die Poesie als diejenige besondere Kunst, an welcher zugleich die Kunst selbst sich aufzulösen beginnt und für das philosophische Erkennen ihren Übergangspunkt zur religiösen Vorstellung als solcher sowie zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens erhält. Die Grenzgebiete der Welt des Schönen sind, wie wir früher sahen, auf der einen Seite die Prosa der Endlichkeit und des gewöhnlichen Bewußtseins, aus der die Kunst sich zur Wahrheit herausringt, auf der anderen Seite die höheren Sphären der Religion und Wissenschaft, in welche sie zu einem sinnlichkeitsloseren Erfassen des Absoluten übergeht. […] Dadurch löst sie [die Poesie] aber die Verschmelzung der geistigen Innerlichkeit und des äußeren Daseins in einem Grade auf, welcher dem ursprünglichen Begriffe der Kunst nicht mehr zu entsprechen anfängt, so daß nun die Poesie Gefahr läuft, sich überhaupt aus der Region des Sinnlichen ganz in das Geistige hineinzuverlieren.“ Vgl. auch Hegel 1970 Bd. 15, 272: „Indem sich nämlich die Poesie rein im Bereiche des innerlichen Vorstellens aufhält und nicht darauf bedacht sein darf, ihren Gebilden eine von dieser Innerlichkeit unabhängige äußerliche Existenz zu verschaffen, so bleibt sie dadurch in einem Elemente, in welchem auch das religiöse, wissenschaftliche und sonstige prosaische Bewußtsein tätig sind, und muß sich deshalb hüten, an jene Gebiete und deren Auffassungsweise heranzustreifen oder sich mit ihnen zu vermischen.“
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McDowell, John (1994): Mind and World, Cambridge: Harvard University Press. McDowell, John (1999): „Scheme-Content Dualism and Empiricism“, in: Lewis Hahn (Hg.), The Philosophy of Donald Davidson, Chicago/Lasalle: Open Court, 87 – 104. McDowell, John (2003): „Hegel and the Myth of the Given“, in: Wolfgang Welsch/Klaus Vieweg (Hg.), Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht, Paderborn: Wilhelm Fink, 75 – 88. Peperzak, Adriaan (1987): Selbsterkenntnis des Absoluten. Grundlinien der Hegelschen Philosophie des Geistes, Stuttgart: Frommann-Holzboog. Sokal, Alan/Bricmont, Jean (1998): Fashionable Nonsense: Postmodern Intellectuals’ Abuse of Science, New York: Picador.
2. Teil Phänomenologische Perspektiven: Kant, Husserl und Merleau-Ponty
Astrid Wagner
Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ – Kants Ästhetik im Lichte von Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung Eine Antwort auf die Frage, was ästhetische Erfahrung ausmacht, ist die, dass es darin zu einem freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand komme. Es ist die Antwort Kants, zumindest ein Teil seiner Antwort. Im ästhetischen Urteil, so seine These, unterliegen wir nicht in gleicher Weise dem Zwang eines begrifflichen Netzwerkes wie beim subsumierenden logischen Urteil. Man kann sogar zeigen, dass reflektierende Urteilskraft und eine gewisse Freiheit der Imagination erforderlich ist, um dieses Netzwerk zu etablieren, zu erweitern und den semantischen Gehalt der Begriffe zu stiften.¹ Begriffe sind weder naturgegeben noch entstehen sie aus dem Nichts. Sie sind Produkte des menschlichen Entwicklungsprozesses und des spezifisch menschlichen Weltbezugs. Sie strukturieren und synthetisieren, aber um bedeutungsvoll zu sein, bedürfen sie eines sinnlichen Gehaltes, dessen Formierung zumindest teilweise einer vor-begrifflichen Logik des Ästhetischen unterliegt. Diese schwer zu fassende Logik ist im Werk Kants angelegt. Sie wird aber nur deutlich, wenn man das gesamte Spektrum der Funktionen der Einbildungskraft betrachtet. Mag es in der Kritik der reinen Vernunft noch so erscheinen, als sei jede sinnliche Gestaltbildung auf eine Synthetisierung der Empfindungen nach Maßgabe von Verstandesregeln zurückzuführen, so bricht die Kritik der Urteilskraft diese Logik des Schematismus auf, indem sie unter dem erklärungsbedürftigen Terminus des ‚Schematisierens ohne Begriffe‘ auf eine eigene Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft verweist, die gerade im ästhetischen Erlebnis deutlich werde. Merleau-Ponty schreibt hierzu im Vorwort der Phänomenologie der Wahrnehmung: In der Kritik der Urteilskraft hat Kant selbst schon eine Einheit von Einbildungskraft und Verstand, eine Einheit auch der Subjekte vor dem Objekt gesehen; in der Erfahrung des Schönen z. B. erfahre ich zwischen Sinnlichem und Begriff, zwischen mir und Anderen einen Einklang, der selbst ohne Begriff ist. Hier ist das Subjekt kein universaler Denker eines Systems streng verbundener Gegenstände, kein Setzungsvermögen, welches das Mannig-
Vgl. hierzu ausführlich Wagner 2008. Der vorliegende Text stellt eine Zusammenfassung einiger zentraler Abschnitte dieses Buches dar.
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faltige, um eine Welt zu bilden, dem Verstandesgesetz unterwirft; vielmehr entdeckt und fühlt es sich selbst als Natur […]. Eignet jedoch dem Subjekt eine solche Natur, dann ist die verborgene Kunst der Einbildungskraft auch Bedingung der kategorialen Aktivität, und in ihr muß nicht nur das ästhetische Urteil, sondern auch die Erkenntnis noch gründen […].²
Mit dem durch Husserl inspirierten Konzept der fungierenden Intentionalität entfaltet Merleau-Ponty einen Zusammenhang, in dem die von Kant nur angedeuteten Funktionen der Einbildungskraft im Schematisieren ohne Begriffe in eine phänomenologische Perspektive überführt werden. Dies kann angesichts der Verschiedenheit der beiden Ansätze nicht ohne Kritik geschehen. Drei Kritikpunkte sind zu prüfen, die Kants Konzeption im Kern treffen könnten: der erste bezieht sich auf empiristische Auffassungen von Wahrnehmung als einem Konglomerat aus Empfindungsdaten, der zweite richtet sich gegen ein intellektualistisches Verständnis der Wahrnehmung als Urteil, der dritte beklagt den fehlenden Weltbezug des transzendentalen Subjekts. Die Rede von ‚reiner Empfindung‘, so Merleau-Ponty, impliziere die Vorstellung einer absoluten Verhältnislosigkeit und Identität mit dem eigenen Zustand. ‚Reine Empfindung‘ wäre eine Empfindung ohne qualifizierten Inhalt. In der phänomenalen Erfahrung findet sich nichts, was diesem Begriff entspräche. Vielmehr ist, wie die Gestaltpsychologie zeigt, das Einfachste, was der Mensch sinnlich auffassen kann, eine Figur, so klein sie auch sei, auf einem Untergrund. Diese basale Struktur von Figur und Hintergrund, nicht aber ein theoretisches Konstrukt wie das der ‚Empfindungsdaten‘, müsse als Grundlage des Wahrnehmungsphänomens angesehen werden, als diejenige „notwendige Bedingung, unter der überhaupt ein Phänomen als Wahrnehmung angesprochen zu werden vermag“.³ Selbst die Wahrnehmung des eigenen Zustands, zum Beispiel im Fall von Schmerzen, impliziert immer schon ein Verhältnis. Man versteht sich nicht als identisch mit seinem Zustand, z. B. ist man in der Lage, den Schmerz zu lokalisieren. In phänomenaler Hinsicht ist der Begriff der reinen Empfindung somit unsinnig. Wird bereits das Konzept der Empfindungsdaten als problematisch angesehen, so gilt das konsequent auch für eine Zusammensetzung der Wahrnehmungsgegenstände aus diesen. Umriss, Gestalt, Figur und phänomenaler Sinn müssten dann als eine Summe von Lokaldaten konzipiert werden, die nur durch Übung im schnellen Übergang von einer Empfindung zur nächsten erfassbar wären. Diese Beschreibung des Wahrnehmungsprozesses ist jedoch mit den Erkenntnissen der Gestalttheorie und der phänomenologischen Psychologie un-
Merleau-Ponty 1966, 14 f. Merleau-Ponty 1966, 22.
Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“
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vereinbar, denen zufolge auch in sehr einfachen Fällen von Wahrnehmung die Struktur eines Ganzen den einzelnen Elementen erst ihre Besonderheit verleiht und immer auch Komponenten relevant sind, die nicht als ‚Empfindungsdaten‘ gegeben sind. Vielmehr müsse man von einer Eigengesetzlichkeit des Wahrnehmungsfeldes ausgehen, in dem Mehrdeutigkeiten, Unbestimmtheiten, Schwankungen und Einflüsse des Zusammenhangs eine konstitutive Rolle spielen.⁴ Das Konzept der Empfindungsdaten sieht Merleau-Ponty ebenso wie die Rede von ‚Qualitäten‘ als Elementen des Bewusstseins in dem Glauben an die Existenz einer unabhängigen und objektiven Welt begründet. Diese wissenschaftliche Weltauffassung werde auf die ihr zugrunde liegende ‚vorwissenschaftliche‘ Wahrnehmungswelt projiziert. Selbst den in der Wahrnehmungspsychologie so wichtigen Begriff der ‚Aufmerksamkeit‘ stellt er in diesen Zusammenhang. Sobald man das Konzept verwende, um die charakteristische Unbestimmtheit und Dynamik des Wahrnehmungsfeldes als Folgeerscheinung fehlender Aufmerksamkeit zu qualifizieren, habe es keine andere Funktion als die einer „hypothetische[n] Hilfskonstruktion, erfunden, das Vorurteil der objektiven Welt zu retten“, die Annahme einer fertig vorliegenden Welt äußerer oder innerer Tatsachen, die es nur richtig zu erfassen gilt.⁵ Stattdessen sollte Unbestimmtheit als grundlegendes Charakteristikum des Wahrnehmungsphänomens anerkannt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint der klassische Begriff der Empfindung zusammen mit den ihn integrierenden Konzepten (Sinnesdatum, Empfindungsqualität, Sinnesreiz, Impression) als Spätprodukt eines gegenstandstheoretischen Denkens in der zweifelhaften Absicht der Begründung einer objektiven Wissenschaft der Subjektivität. Merleau-Ponty zufolge kommt es einem Kategorienfehler gleich, wenn man die phänomenale Wahrnehmungswelt mit den Kategorien der wissenschaftlichen Welt analysiert. Begeht auch Kant einen solchen Fehler, wenn er die Gesetzmäßigkeit der Welt der Erscheinungen durch einen Rückgang in die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu ergründen sucht? Anhand von zwei Punkten sei verdeutlicht, dass dies nicht der Fall ist.
Es sei angemerkt, dass Merleau-Ponty sich an diesem Punkt nicht nur von diversen empiristischen Konzeptionen von Wahrnehmung als Empfindung, sondern auch von den frühen und mittleren Auffassungen des von ihm hoch geschätzten Edmund Husserl absetzt, der hinsichtlich des intendierenden Bewusstseins (noesis) eine Unterscheidung zwischen intentionalen Bewusstseinszuständen und bloßen Empfindungsdaten als deren ‚Träger‘ vornimmt. Merleau-Ponty 1966, 24. Es muss allerdings angemerkt werden, dass Merleau-Ponty diesem ‚Missbrauch‘ des Konzepts der Aufmerksamkeit ein neues Verständnis von Aufmerksamkeit entgegensetzt, das er an späterer Stelle entwickelt: vgl. Merleau-Ponty 1966, 50 ff.
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Erstens unterscheidet Kant deutlich zwischen Wahrnehmung und Erfahrung. Und nur im Kontext der Erfahrung verwendet er den Begriff der Welt. Diese Erfahrungswelt ist aber weder ‚vorobjektiv‘ noch ‚vorwissenschaftlich‘. Konzepte wie Kausalität oder Wechselwirkung sind darin zu Recht integriert. Zweitens vertritt er keinen empirischen Konstruktionalismus und keine Sinnesdatentheorie, sondern eine kritische, transzendentalphilosophische Perspektive. Dies schließt ein, dass es in Wahrnehmung und Erfahrung keine ‚uninterpretierten‘ Empfindungen geben kann. Sein Begriff der ‚Empfindung‘ entspringt einer konzeptuellen und heuristischen Trennung materialer und formaler Aspekte, die in der phänomenalen Wahrnehmung unauflösbar verwoben sind. Ein so bewusster Umgang mit dem Empfindungsbegriff hält die Möglichkeit einer Verbindung z. B. zu gestaltpsychologischen Überlegungen offen und könnte, in Anlehnung an eine Formulierung Kurt Koffkas, als Produkt einer transzendentalphilosophischen ‚Einstellung‘ aufgefasst werden: Die Empfindungen sind also gewiß Kunstprodukte, aber doch auch nicht willkürlich, sie sind diejenigen letzten Unterganzen, in welche die natürlichen Gestalten durch ‚analytische Einstellung‘ zerfallen können. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet tragen sie also zur Kenntnis der Gestalten bei […].⁶
Merleau-Ponty fordert für das Verständnis des Wahrnehmungsprozesses einen umwälzenden Perspektivwechsel von einer Sicht, in der die Gestalthaftigkeit unserer Wahrnehmung als bloßes „Resultat einer geistigen Chemie“⁷ angesehen wird, hin zu einer phänomenologischen Reflexion und einer Analyse der Bewusstseinsstrukturen, die die ursprüngliche Ganzheit und Sinnhaftigkeit der Phänomene zum Ausgangspunkt nimmt und die menschliche Welt in ihrer Bedeutung als ‚Kulturwelt‘ erfassbar macht. Gefühle und intentionale Einstellungen erscheinen dann nicht mehr als bloß introspektive Gegebenheiten, die wir auf Gegenstände unserer Wahrnehmung projizieren, wenn wir von einer ‚traurigen Melodie‘, einem ‚widerlichen Farbton‘ oder einer ‚eleganten Bewegung‘ sprechen. Die Wahrnehmungsgegenstände selber verfügen in dieser Perspektive über phänomenale Charaktere, die mit unserem begrifflichen Denken, mit Kontext, Situation, kulturellem Hintergrund, menschlichem Handeln, Fühlen und Wollen unauflösbar verwoben sind. Jede noch so einfache Wahrnehmung, so Merleau-Ponty in Aufnahme einer Husserlschen Unterscheidung, enthält nicht nur ein ‚reelles‘, sondern auch ein ‚intentionales‘ Moment, einen noch nicht explizit entwickelten Sinnhorizont, der
Koffka 1925, 548. Merleau-Ponty 1966, 43.
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auf der Grundlage eines empiristischen Empfindungsbegriffs nicht erfasst werden kann. In einer Reihe von Argumentationen führt er aus, dass die Wahrnehmung von Ganzheiten, von organisierten Strukturen, von Figuren auf einem Untergrund auf der Basis der Idee der Zusammensetzung aus einzelnen, feststehenden, punktuellen Impressionen nicht erklärbar sei, weder unter Zuhilfenahme von Konzepten der Kontiguität und Ähnlichkeit, noch unter Bezugnahme auf assoziative Kräfte, noch durch Modelle der Gedächtnis- oder Erinnerungsprojektion.⁸ Diese anti-empiristische Argumentation enthält bereits die Grundgedanken einer Kritik an der intellektualistischen Auffassung von Wahrnehmung als einer Form des Urteilens auf der Basis von Empfindungen, einer Art logischen Schlusses, dessen Prämissen die Empfindungen wären. Merleau-Ponty macht deutlich, dass Urteilen und Wahrnehmen streng zu unterscheiden sind, dass der Akt des Sehens, Hörens und Fühlens nicht mit dem Wahrnehmungsurteil gleichgesetzt werden kann. Er veranschaulicht dies mit Kippfiguren und Wechselbildern, bei denen das Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten des Sehens das ‚Umkippen‘ der Figuren oder, wie Wittgenstein sagen würde, den ‚Aspektwechsel‘ nicht willentlich herbeiführen kann. Bestünde eine vollständige Abhängigkeit der Wahrnehmung vom Urteil, so müsste es möglich sein, instantan auch zu sehen, was man urteilend denkt; z. B. müsste in der Abbildung einer zöllnerschen Täuschung das Wissen um die Parallelität der Linien diese auch unmittelbar parallel erscheinen lassen. Aber nicht das Urteil, sondern erst die Fixierung eines bestimmten Punktes in der Bildmitte ermöglicht es dem Betrachter, die Linien parallel zu sehen.⁹ Fasst man die Wahrnehmung als Urteil auf, geht die konstitutive Leistung des Wahrnehmungsaktes gerade verloren. Diese erschließe sich vielmehr erst unter Berücksichtigung der Eigendynamik des phänomenalen Feldes: […] es ist eben dies das phänomenale Wesen des Wahrnehmungsaktes, die Konstellation des Gegebenen mit dem es verbindenden Sinn in eins schöpferisch erst entstehen zu lassen: nicht bloß den Sinn zu entdecken, den es hat, sondern ihm einen Sinn erst zu geben.¹⁰
Diese ‚schöpferische Sinngebung‘ vollziehe sich nicht nach den Regeln der Urteilsstruktur, nicht propositional oder prädikativ, sondern nach den Regeln einer eigenen ‚Wahrnehmungssyntax‘, die jeder objektiven Beziehung bereits als Grundlage diene.
Vgl. Merleau-Ponty 1966, 35 – 42. Vgl. Zöllner 1860, 2– 110 sowie Zöllner 1861, 2– 114. Zöllner 1861, 58.
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Abb. 1: Zöllnersche Täuschung
Kant scheint mit seiner Rede von Wahrnehmungsurteilen im Zielpunkt dieser Kritik zu stehen. Und doch machen seine Überlegungen zum ästhetischen Urteil deutlich, dass er die Grenzen einer rein urteilslogischen Perspektive erkannt hat und einen Weg sucht, die kreative Rolle der Einbildungskraft verständlich zu machen. Zu diesem Zweck verlässt er bewusst die Ebene des Urteils und hebt den ästhetischen Gemütszustand ins Blickfeld. Bei Kant ist es die Starrheit einer an der Urteilstafel orientierten Analyse ästhetischer Erfahrung, die den Blick für das ‚bloß empfindbare Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand‘ und damit für eine Eigengesetzlichkeit der ästhetischen Wahrnehmung öffnet.¹¹ Bei Merleau-Ponty ist es die Kritik an der
Diese ‚Eigengesetzlichkeit‘ rückt allerdings erst mit der Kritik der Urteilskraft explizit ins Zentrum des kantischen Interesses. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass auch in der Anthropologie, in der die Leistungen und Funktionen der Einbildungskraft breit thematisiert werden, von einer Strukturierung der sinnlichen Erscheinung ausgegangen wird, die nicht notwendig schon einer expliziten Urteilsstruktur unterliegt. Deutlich wird dies zum Beispiel in Kants Stellungnahme zur Frage der Möglichkeit einer Täuschung durch die Sinne, worin eine Verwechslung des ‚Subjektiven der Vorstellungsart‘ mit dem Objektiven der Erfahrung zur Erklärung für die mögliche Falschheit der Urteile herangezogen wird: „Die Sinne betrügen nicht. Dieser Satz ist die Ablehnung des wichtigsten, aber auch, genau erwogen, nichtigsten Vorwurfs, den man den Sinnen macht; und dieses darum, nicht weil sie immer richtig urtheilen, sondern weil sie gar nicht urtheilen; weshalb der Irrthum immer nur dem Verstande zu Last fällt.“ (AA VII, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 146). Diese Überlegung deckt sich mit der Auffassung Merleau-Pontys, der
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Konstanzhypothese, an der Annahme einer punktuellen Entsprechung und konstanten Verknüpfung zwischen Reiz und elementarer Wahrnehmung, die den Weg frei macht für eine neue Perspektive auf die sinnliche Konfiguration der Phänomene und eine Analyse des Intentionalen. Die Schwierigkeiten der Konstanzhypothese zeigen sich, sobald man die phänomenale Seite der Wahrnehmung ernst nimmt. Sie lassen sich gut anhand einer bekannten Kontrast-Täuschung, dem Szintillierenden Gitter, darstellen.¹²
Abb. 2: Szintillierendes Gitter
Gäbe es die in der Hypothese geforderte Konstanz der Verknüpfung von Reiz und Wahrnehmungselement, ließe sich nicht erklären, warum die Knoten des Netzgitters bei der Bewegung der Augen über das Bild mal weiß aufleuchten, mal schwarz erscheinen und mal schwarz mit einer weißen Umrandung sichtbar sind, und dies nicht in beliebiger Abfolge, sondern in Abhängigkeit von der Fokussierung des Blicks. Merleau-Ponty würde nicht sagen, dass es in Fällen von ‚optischer Täuschung‘ zu einer ‚falschen Wahrnehmung‘ kommt. Vielmehr ‚sind‘ im Falle der zöllnerschen Täuschung die Linien als Wahrnehmungsobjekte gegeneinander geneigt,
zufolge die Wahrnehmung in ihrer Phänomenalität nicht der prädikativen Unterscheidung von wahr und falsch unterliegt. Bei diesem Effekt handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Hermann-Gitters (vgl. dessen Beschreibung in Hermann 1870) oder auch Hering-Gitters (vgl. Hering 1920). Man nennt die Grafik in der neueren Literatur Scintillation Grid oder Szintillierendes Gitter (vgl. hierzu Ehrenstein/ Lingelbach 2002, 262– 268).
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‚wechseln‘ die Knotenpunkte des Gitters als Wahrnehmungsobjekte ihre Farbe. Wahrnehmungsphänomene lassen sich eben, so seine Auffassung, nur im Rahmen einer Analyse von Feldfunktionen verständlich machen. Diese darf jedoch nicht so verstanden werden, als beziehe sie sich auf introspektiv erfassbare Bewusstseinsgegebenheiten: „Dieses Feld der Phänomene ist keine „Innenwelt“, die „Phänomene“ selbst sind keine „Bewußtseinszustände“ oder „psychischen Tatsachen“ […].“¹³ Die phänomenale Perspektive unterläuft die Trennung von Leib als Äußerlichem und einer als Innerlichkeit definierten Subjektivität. Stattdessen wird die perzeptive Erfahrung in den Funktionen des lebendigen und in jeder Wahrnehmung mitpräsenten Leibes verankert. Nicht irgendein Körper in der Welt steht im Zentrum der Betrachtung, sondern der eigene Leib, ich selbst als lebendiger Organismus. Der so verstandene phänomenale Leib lässt sich weder in einer naturwissenschaftlichen Erklärung durch Kausalketten noch in einer psychologischen Analyse innerer Befindlichkeiten erschöpfend erfassen. Irritierende Phänomene wie die des Phantomgliedes, der Doppelempfindungen oder der kinästhetischen Empfindungen machen deutlich, dass eine Beschreibungsebene gefunden werden muss, die als gemeinsamer Bezugspunkt für die je für sich unvollständigen physiologischen und psychologischen Erklärungen fungieren kann.¹⁴ Sie lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass das Verständnis der Wahrnehmungsphänomene einer Perspektive bedarf, die Leiblichkeit und Bewusstsein nicht in eine Objekt- und Subjektseite auftrennt und separaten Erklärungsmustern unterwirft. Damit gerät zugleich auch die klassische Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Komponenten in der Wahrnehmung ins Wanken. So bin ich selbst mein Leib, zumindest in dem Maße, in dem ich einen Erwerb mein Eigen nenne, und umgekehrt ist mein Leib wie ein natürliches Subjekt, wie ein vorläufiger Entwurf meines Seins im ganzen. So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in Wirklichkeit gibt.¹⁵
Merleau-Ponty 1966, 81. Am Beispiel des Phantomgliedes sei dies kurz verdeutlicht: Die lebhafte Empfindung eines Phantomgliedes, wie sie bei vielen Arm- oder Beinamputierten auftritt, beruht einerseits auf der physiologischen Bedingung des Fortbestandes interozeptiver Reize, andererseits ist sie psychologisch motiviert durch bestimmte traumatische Erlebnisse, deren Erinnerung das Phänomen immer wieder auslösen oder verstärken kann. Merleau-Ponty 1966, 234.
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Wenn Merleau-Ponty vom Leib als ‚natürlichem Subjekt‘ spricht, sollte das nicht im Sinne eines expliziten oder objektive Erfahrung konstituierenden Selbstbewusstseins verstanden werden.¹⁶ Vielmehr bedinge die Leiblichkeit die Form unseres Zur-Welt-seins, ‚verankere‘ uns in der Welt, eröffne Situationen, die ein Verhalten erfordern. Der Begriff des Verhaltens wird ausgedehnt bis in den Bereich der instinktiven Reaktionen und Reflexe.¹⁷ Schon daran wird deutlich, wie der Rekurs auf die Strukturen des phänomenalen Feldes und in einem zweiten Schritt auf den existenziellen Modus des ‚Zur-Welt-seins‘ die klassische Entgegensetzung von Leib und Seele, Materie und Bewusstsein, unterläuft. Tief liegende intentionale Muster und Sinnstrukturen werden so bereits in dem üblicherweise physiologisch beschriebenen Bereich körperlicher Reflexe ‚diagnostiziert‘. Die ihm eigene präobjektive Sicht unterscheidet das Zur-Welt-sein von jedem Prozeß dritter Person,von jederlei Modus der res extensa,wie auch von jederlei cogitatio, jeder Erkenntnis in erster Person: so vermöchte es zwischen „Psychischem“ und „Physiologischem“ eine Brücke zu schlagen.¹⁸
Diese ‚präobjektive‘ Sicht ist immer schon intentional, motiviert und erfordert eine Ausrichtung auf die Welt, eine Form von Aufmerksamkeit, deren Wirken nunmehr neu definiert ist durch die Schaffung, Konkretisierung und Präzisierung eines perzeptiven Feldes. Die durchgängige Intentionalität der Wahrnehmung ist gekoppelt mit Formen des Verhaltens in der Welt und motiviert die Motorik des Leibes dergestalt, dass sich ‚Bewegungsgewohnheiten‘ herausbilden, die an unseren alltäglichen Handgriffen, an dem sicheren Gang durch Türen und über Treppen oder am Steuern eines Fahrzeugs durch den Straßenverkehr ablesbar sind. Bewegungsgewohnheiten prägen und erweitern das Körperschema individuell und konstituieren den ‚habituellen Leib‘ in Abhängigkeit von häufig auftretenden situativen Erfordernissen. So lässt sich erklären, dass auch nicht mehr vorhandenen Gliedern instinktiv eine Funktion im Zusammenhang der Gesamtmotorik des Leibes zugeordnet wird, die sie nicht mehr übernehmen können, dass das fehlende Bein des Amputierten im Vollzug eines habituellen Verhaltensansatzes als fungierender Bestandteil des Körpers gefühlt wird.¹⁹ Diese auf unseren Die Idee eines absolut konstituierenden Selbstbewusstseins und alles durchleuchtenden Cogito wird im weiteren Verlauf des Werkes einer harschen Kritik unterzogen. Dies geschieht in expliziter Aufnahme und Weiterentwicklung der Ergebnisse aus MerleauPontys erster großer Monographie, veröffentlicht unter dem Titel Die Struktur des Verhaltens (La structure du comportement, Merleau-Ponty 1942). Merleau-Ponty 1966, 104. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „unser Leib in sich gleichsam zwei unterschiedliche Schichten trägt, die des habituellen und die des aktuellen Leibes.“ Und er
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existenziellen Weltbezug rekurrierende Erklärung für Phänomene wie das des Phantomgliedes eröffnet gleichermaßen Bezüge zu physiologischen und psychologischen Erklärungsansätzen, schließt die klaffende Lücke zwischen einem objektiv naturwissenschaftlichen Verständnis des Leibes und einer Interpretation der Leiberfahrung als komplexes Gefüge psychischer Zustände und innersubjektiver Projektionen. Die präobjektive Ebene der Wahrnehmung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Kants Idee einer freien Funktion der Einbildungskraft. Im Schematismus der Kategorien wird deutlich, dass die in den ‚Analogien der Erfahrung‘ entfalteten Prinzipien systematisch gesehen den Übergang von einer ‚präobjektiven‘ Ebene der Wahrnehmung zur Objektivität der Erfahrungswelt markieren, zur expliziten Setzung von Gegenständen und zur Bestimmung ihrer Verhältnisse nach Kausalgesetzen. Sollte die Besonderheit ästhetischer Erlebnisse etwas mit der Möglichkeit zu tun haben, die objektive Erfahrungsperspektive mit ihren begrifflich erfassten Objekten und unter Regeln gebrachten Verhältnissen zu distanzieren, zu suspendieren und selber zum Gegenstand der Reflexion zu erheben, so ist gerade diese vorobjektive, ‚primordiale‘ Ebene der Wahrnehmung von entscheidender Bedeutung. Betrachten wir also Merleau-Pontys Auslegung der Struktur des phänomenalen Feldes und des schon der primordialen Wahrnehmung inhärenten Sinnzusammenhangs. Dazu gilt es, den Leib als Medium und Angelpunkt der Wahrnehmung unserer Lebenswelt zu entfalten. Unser Verhältnis zu den Gegenständen der Lebenswelt ist immer vermittelt durch die Sinne, deren Funktionen unterschiedliche perzeptive Felder mit je eigenen Gesetzmäßigkeiten konstituieren. Diese perzeptiven Fehler stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind ineinander verschränkt und wirken wechselseitig aufeinander ein. Dies lässt sich vor allem an synästhetischen Phänomenen nachweisen und es ist gerade die Kunst, die sich solche Wirkungen zunutze macht. Demjenigen, der sich auf ein synästhetisches Erlebnis einlässt, eröffnet sich eine Welt, der die gewohnte Stabilität unserer natürlichen Erfahrungswelt fehlt und in der räumliche und zeitliche Effekte und die verschiedenen perzeptiven Felder auf irritierende Art sinnlich fühlbar miteinander verschränkt sind, so dass beispielsweise Töne den Blick vibrieren lassen können. Je mehr man sich auf bestimmte Anregungszustände der Sinne einlässt, um so eher ist man in der Lage, Synästhesien zu erleben. Aber auch in der alltäglichen führt erklärend weiter aus: „Die aus dieser verschwundenen hantierenden Gesten bleiben in jener erhalten, und die Frage, wie ich mich im Besitz eines Gliedes fühlen kann, das ich in Wirklichkeit nicht mehr besitze, ist schließlich die Frage, wie der habituelle Leib den aktuellen Leib zu gewährleisten vermag.“ (Merleau-Ponty 1966, 107).
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Wahrnehmung sind synästhetische Restphänomene erhalten. Frühe Stummfilme, deren Bildfolge eigentlich zu langsam ist, um Bewegungswahrnehmungen zu erzeugen, können so mit auditiven Rhythmen in Wechselwirkung treten, dass die einzelnen Bilder durch musikalische Untermalung verschmelzen. Auch können Töne die Wahrnehmung von Farben auf verschiedene Weise modifizieren.²⁰ Die synästhetischen Effekte lassen sich verstärken durch Einnahme halluzinogener Drogen, wie die dichterischen Werke von Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud oder Aldous Huxley (Autoren, die ihre Rauscherfahrungen nach Absinthexzessen, Haschisch- oder Meskalin-Experimenten literarisch verarbeiteten) eindrucksvoll belegen.²¹ Diese Werke sind hier von Interesse, weil sie als eine Reflexion auf die Bedingungen der künstlerischen Kreativität selbst, mithin auf die Grundlagen der Wahrnehmung und die Möglichkeiten der sprachlichen Darstellung besonders dichter Wahrnehmungserlebnisse verstanden werden können
Merleau-Ponty stützt sich in seinen Ausführungen zur Synästhesie (Merleau-Ponty 1966, 264– 275) vor allem auf psychologische Studien der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts (Gelb, Goldstein, Werner, Zietz u. a.), eine der intensivsten Phasen der Synästhesie-Forschung. Auch die zahlreichen, vor allem den Verhältnissen und Wechselwirkungen von Farbe und Ton gewidmeten Studien von Georg Anschütz, die Merleau-Ponty überraschenderweise unerwähnt lässt, wurden in dieser Zeit publiziert (zum Beispiel die Grundlagenbände Farbe-Ton-Forschungen, Anschütz 1927 ff.). Erst seit wenigen Jahren ist das Phänomen der Synästhesien wieder verstärkt in den Fokus der Forschung getreten. Während die diesbezüglichen Forschungen des frühen 20. Jahrhunderts vor allem auf Fragestellungen der Psychologie bezogen waren, wird das Thema in der neueren Forschung aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven untersucht. Hier sei nur auf einige ausgewählte Publikationen neueren Datums verwiesen: 1. im Bereich der Musikwissenschaft und Musikpsychologie (de la Motte-Haber 1999); 2. in den Bereichen der Psychologie, Gehirnforschung und klinischen Psychiatrie (Emrich/Schneider/Zedler 2002); 3. im Bereich der Semiotik (Posner/ Krampen/Schmauks 2002); 4. in allgemeiner Darstellung (Adler 2002). Trotz des Aufschwungs der Wahrnehmungsphilosophie und der möglichen Relevanz für ästhetische Studien ist das Thema in der Philosophie nur spärlich bearbeitet. Einer der wenigen, die sich philosophisch mit diesen Phänomenen beschäftigt haben, ist Theodor W. Adorno (Adorno 1967). Der experimentelle Umgang mit Drogen in der Absicht, ein tieferes Verständnis der Wahrnehmung zu erlangen und dieses dichterisch zu nutzen, war zunächst vor allem dem künstlerischen Geist der Romantik geschuldet. Die literarische Verarbeitung von Rauschphänomenen findet sich zum Beispiel bei E.T.A. Hoffmann. Explizit widmete sich der literarische Kreis um Charles Baudelaire der dichterischen Umsetzung von Rauscherfahrungen (Verlaine, Rimbaud u. a.). Eines der eindrucksvollsten Produkte dieses Schaffens ist das in Baudelaires Les Fleurs du Mal (1857) enthaltene Sonnett „Correspondances“, das in lebhaften Metaphern synästhetische Erlebnisse sprachlich umsetzt und angesichts dessen man von einer synästhetischen Grundlage der Metaphorik sprechen möchte. Ein literarisches Zeugnis synästhetischer Erfahrungen geben auch Aldous Huxleys auf Meskalin-Experimente zurückgehende Essays The Doors of Perception (1954) und Heaven and Hell (1956).
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und zum Teil explizit so intendiert sind. Sie zeichnen sich nicht zufällig durch eine außergewöhnlich expressive Sprache und hohe Metapherndichte aus. Für Merleau-Ponty sind die Synästhesien in zwei Hinsichten wichtig: Erstens sind sie ein deutliches Zeichen für eine holistisch zu beschreibende primordiale Einheit der Sinnesempfindung, die der Teilung in einzelne Sinnesfelder vorgängig ist. So lassen sich in Abhängigkeit davon, wie weit man sich von der primordialen Ebene objektivierend distanziert oder umgekehrt auf sie einzulassen vermag, unterschiedliche Empfindungstypen unterscheiden: im Bereich der Farben beispielsweise von der klar definierten Oberflächenfarbe eines Gegenstandes, über die eher diffuse umgebende atmosphärische Raumfarbe, bis hin zur Farbe, die als Vibrieren des eigenen Blicks empfunden wird, oder schließlich zu einer nicht mehr im engeren Sinne einer Qualität als Farbe zu qualifizierenden Empfindung der Modifikation des eigenen leiblichen Zustandes. In der Kunst ist die gesamte Bandbreite dieser Empfindungsformen realisiert, teilweise explizit thematisiert und experimentell erprobt. So spielen die beiden letztgenannten Varianten eine wesentliche Rolle in den mit chromatischen Strukturen, Übergängen und Zuständen spielenden, ‚vibrierenden‘ Ölbildern von Mark Rothko, die atmosphärische Raumfarbe hingegen in pointillistischen Bildern von Georges Seurat oder in den atmosphärisch dichten Gemälden Jan Vermeers, die Oberflächenfarbe besonders deutlich in den Südseebildern von Paul Gauguin. Für die Musik ließe sich eine ähnliche exemplarische Liste erstellen. Zweitens benutzt Merleau-Ponty die Synästhesien, um zu zeigen, dass die ihrer eigenen ‚Logik‘ folgenden Sinnesfelder einer Synchronisation bedürfen, die durch tief liegende Funktionen des Leibes gewährleistet wird und im Zuge der leiblichen Orientierung in der Welt erlernt wird. So erklärt sich, dass blind Geborene, die nach einer Operation das Sehvermögen erlangt haben, die ‚Logik‘ des Blicks und die Koordination der verschiedenen Sinnesfelder erst erlernen müssen, erst erfahren müssen, dass man beispielsweise Lichtstrahlen nicht ertasten kann, was bedeutet, dass sie ein adäquates Wahrnehmungsverhalten in Auseinandersetzung mit der Lebenswelt erproben und entwickeln müssen. Diese pragmatische Komponente, die menschliche Wahrnehmung an praktische und affektive Stellungnahmen eines lebendigen Subjekts zur Welt koppelt und damit als intentional auszeichnet, ist im Werk Merleau-Pontys nicht zu unterschätzen. Will man verstehen, was es heißt wahrzunehmen, wodurch in der Wahrnehmung die Identifikation von Gegenständen erfolgt und wie sie verbunden ist mit der expliziten Setzung, Beschreibung und Beurteilung von Objekten, will man verstehen, wie die primordialen Leiberfahrungen und die präobjektive Wahrnehmung zusammenhängen mit der Wahrnehmung der uns vertrauten menschlichen Kulturwelt, so gilt es, den Übergang vom phänomenalen zum transzen-
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dentalen Feld zu vollziehen.²² Dies geschieht explizit im dritten Teil der Phänomenologie der Wahrnehmung. Merleau-Ponty kombiniert also die phänomenologische Feld- oder Strukturanalyse mit einer transzendentalphilosophischen Perspektive, die er in Anknüpfung an Husserl mit dem Terminus ‚radikale Reflexion‘ belegt. Sie ist radikal, insofern sie sich in allen Überlegungen der eigenen Perspektivität, der Verankerung in einem individuellen Subjekt, bewusst zu bleiben bemüht und indem sie sich der Setzung eines absoluten Bewusstseins oder eines transzendentalen Subjekts strikt verweigert. Und damit ist zugleich der Hauptkritikpunkt MerleauPontys an der kantischen Philosophie benannt, dass nämlich das transzendentale Ich letztlich ein ‚weltloses‘ Subjekt bezeichne, dessen Zusammenhang mit der Grunderfahrung des leiblichen Zur-Welt-seins, gar in einem sozialen Kontext, schwerlich zu konstruieren sei.²³ Und so macht er es sich zur Aufgabe, den transzendentalphilosophischen Teil seiner Phänomenologie der Wahrnehmung im Kontext des Zusammenhanges von Ich und Welt, als eine Reflexion auf die Bedingungen des Zur-Welt-seins zu entfalten. Merleau-Pontys Kritik an Kants Konzeption des transzendentalen Subjekts ist aus seiner Perspektive durchaus berechtigt, denn die ursprüngliche Einheit der Apperzeption fungiert in der Tat als eine der „allgemeine[n] Bedingungen der Möglichkeit einer Welt für ein Ich überhaupt“²⁴ und geht damit deutlich über die individuelle Perspektive eines bestimmten reflektierenden Ich hinaus. Aber das für Kant so grundlegende „ich denke“ ist mehr als nur eine allgemeine Bedingung der Selbstzuschreibung möglicher mentaler Zustände überhaupt, sondern es ist ein fungierender Akt der Verbindung, der „alle meine Vorstellungen [muss] begleiten können“ (KrV B 131) und damit im konkreten Fall immer schon bezogen auf individuelle, inhaltliche Vorstellungen und Zustände. Die Trennung der ‚reinen‘ oder ‚ursprünglichen Apperzeption‘ vom konkreten empirischen Selbstbewusstsein ist eine transzendental-logische und heuristische.²⁵ Macht man die Leistungen der produktiven und vor allem der freien, subjektiv reflektierenden Einbildungskraft stark, so wie es in der Kritik der Urteilskraft erfolgt, wird der vorgebrachte Kritikpunkt noch deutlicher aufgefangen. In Entfal-
Vgl. Merleau-Ponty 1966, 84. Vgl. Merleau-Ponty 1966, 84– 88, § 16: Das Feld der Phänomene und die Transzendentalphilosophie. Merleau-Ponty 1966, 86. Es sei darauf verwiesen, dass Kant an keiner Stelle behauptet, dass das „ich denke“ auch faktisch alle Vorstellungen des Subjekts notwendig und immer begleite. Dies ist der Grund, warum Merleau-Ponty in Aufnahme eines Heidegger-Zitats konstatiert: „Wohl lautet die erste Wahrheit: „Ich denke“, vorausgesetzt aber, daß man darunter versteht: „Ich bin zu mir“, indem ich zur Welt bin.“ (Merleau-Ponty 1966, 463).
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tung der dort angelegten Perspektive könnte man erwidern: Es ist die Einbildungskraft, kraft derer wir immer schon ‚zur Welt sind‘.Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, dass im Zentrum der transzendental-phänomenologischen Passagen der Phänomenologie der Wahrnehmung eine Analyse der Zeitlichkeit steht, auf der die anderen Kapitel des Schlussteils, dem Bewusstsein und der Freiheit gewidmet, systematisch aufruhen. Merleau-Ponty möchte die „[…] in jedem Begriff der Zeit schon vorausgesetzte Zeit in statu nascendi, im Ursprung ihres Erscheinens selbst, zur Auslegung bringen, eine Zeit, die nicht Gegenstand unseres Wissens, sondern eine Dimension unseres Seins ist.“²⁶ So betrachtet er die Zeit weder als absolute, noch als Eigenschaft der Gegenstände, noch als immanenten Gegenstand des Bewusstseins, sondern als Form des Engagements des Subjekts in der Welt, immer in Bildung begriffen, niemals vollständig konstituiert, letztlich als den Vollzug des Lebens selbst. Dies ermöglicht, das Phänomen der Zeit bis in die Ebene der primordialen Wahrnehmung und der Leiblichkeit hinein bzw. aus dieser heraus verständlich zu machen. Ausgangspunkt ist die gegenwärtige Zeiterfahrung, beschrieben als ein Präsenzfeld, in dem sich die Horizonte von Vergangenheit und Zukunft überlagern bzw. als sukzessiv sich überlagernde, das Präsenzfeld ständig modulierende Abschattungen präsent sind, als ein ‚Geflecht von Intentionalitäten‘. Die intentionalen Horizonte von Vergangenheit und Zukunft sind nicht als explizite Erinnerungen und bewusste Projektionen zu verstehen. Ins Gedächtnis gerufene Vorstellungen und auf Induktion gestützte Prognosen sind natürlich möglich, aber sie basieren bereits auf dem Phänomen des lebendigen Zeitvollzugs, das MerleauPonty zu erfassen sucht. Die vergangenen Momente der Zeit bleiben präsent in der aktuellen Gegenwartserfahrung, modifizieren und prägen sie, sind noch ‚im Griff‘, ebenso wie die unmittelbaren Erwartungshorizonte als ein ständiges und unmittelbares ‚Ausgreifen‘ aus der aktuellen Situation auf die Zukunft hin angesehen werden können. Die Zeit wird beschrieben als eine einzige vorrückende, zentrifugale Bewegung, als ein ‚Ablaufsphänomen‘, das nicht durch explizite Verknüpfungen einzelner Phänomene erklärt werden kann, sondern als dichtes Netz von Retentionen und Protentionen, die in einer Gesamtbewegung des Überganges einander permanent modulieren. [D]ie „Synthesis“ der Zeit ist eine Übergangssynthese, die Bewegung eines sich entfaltenden Lebens, und sie ist auf keine Weise zu vollziehen denn durch das Leben dieses Lebens […]. Allein die Zeit als ungeteilter Andrang und Übergang vermag die Zeit als Mannigfaltigkeit des
Merleau-Ponty 1966, 472.
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Nacheinander zu ermöglichen, am Ursprung aller Innerzeitlichkeit liegt eine konstituierende Zeit.²⁷
Dies ist das Phänomen der ‚erlebten‘ Zeit, und diese Zeit, so die zentrale These, ist nicht zu trennen von der Subjektivität selber. Subjektivität ist Zeitlichkeit – Zeit ist Subjektivität. Die so verstandene Subjektivität ist keine absolute Spontaneität, welche Zeit erst konstituiert, sondern umgekehrt wird Zeit verstanden als Grundlage der Spontaneität. In der Zeit als ‚passiver Synthesis‘ gründet der Zusammenhang der vorgefundenen Dichte unseres leiblichen Erlebens, des Sichbefindens in Situationen, mit dem immer schon bestehenden Engagiertsein in diesen, mit der fungierenden Intentionalität, die jeder gelebten Zeit, jedem Zeitvollzug bereits einen Sinn verleiht. Das als Zeitlichkeit qualifizierte Subjekt ist notwendig leiblich in der Welt verankert. Indem es in Situationen engagiert ist, vollzieht es die Zeit, erlebt es Zeit. Und das intentionale Geflecht der zeitlichen Dimensionen ist nichts anderes als sein eigener Lebenszusammenhang, der sich in Form einer ‚Übergangssynthese‘ immer neu entfaltet und konstituiert. Hier schließt sich nun der Kreis und man ist zurückverwiesen auf die in der Leiblichkeit gründende primordiale Ebene der Wahrnehmung. Und es erweist sich als kohärent, dass Merleau-Ponty den Leib als eine Art ‚natürliches Subjekt‘ auffasste, das sich der reflexiven Subjekt-ObjektTrennung hartnäckig widersetzt. In der primordialen Wahrnehmung koinzidieren Sein und Bewusstsein im Präsenzfeld der Gegenwart, man könnte auch sagen als Bewusstsein der Gegenwart. So verstandenes Bewusstsein geht immer schon einher mit einer individuellen Situierung in der Welt, ist immer auch ein ‚Sein zu …‘, ist von Grund auf intentional.²⁸ Nun ist auch erklärbar, dass Wahrnehmungsgegenstände vor jeder objektiven Betrachtung und Setzung von Kausalbezügen strukturiert, gestalthaft und identifizierbar sind. Die räumlichen und zeitlichen Horizonte, Retentionen und Protentionen, gewährleisten die Identität der Gegenstände in der Wahrnehmung, die mittels der Horizonte auch dann noch präsent bleiben, wenn sie nicht mehr im
Merleau-Ponty 1966, 481. Vor diesem Hintergrund ist Merleau-Ponty in der Lage, selbst das schwierige Problem der Selbstaffektion des Bewusstseins in Angriff zu nehmen, die Frage, „wie ein denkendes und konstituierendes Subjekt sich selbst in der Zeit setzen oder erfassen kann“ (Merleau-Ponty 1966, 484).Werden Subjektivität und Zeitlichkeit miteinander identifiziert, so erscheint das Problem als lösbar, denn die Zeit erweist sich in transzendental-phänomenologischer Perspektive als Urtypus jedes Selbstverhältnisses und jedes in Erscheinung Tretens. Sie ist Affizierendes als Andrang und Aufspringen auf eine Zukunft hin; und sie ist zugleich Affiziertes als entfaltete Reihe von Gegenwarten.
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aktuellen Sinnesfeld liegen. Diese Horizontstruktur ist bereits in den Funktionen des Leibes und der verschiedenen Sinnesfelder wirksam (und lässt sich phänomenologisch zum Beispiel an der ‚Logik‘ des Blicks aufzeigen).²⁹ Hier eröffnet sich erneut ein Bezug zu Kant. Die ‚passive Synthesis‘, die der Horizontstruktur bereits in den sinnlichen Funktionen der Wahrnehmung korrespondiert, ist auch bei Merleau-Ponty eine Synthesis der Apprehension, die jeder intellektuellen Synthese zur Hervorbringung bestimmter objektiver Zeitverhältnisse und Beziehungen von Gegenständen unter dem Gesichtspunkt der Kausalität, (also der systematischen Einsatzstelle der ‚Analogien der Erfahrung‘,) schon zugrunde liegt. Entsprechend ist davon auszugehen, so das Fazit Merleau-Pontys, dass jede begriffliche Setzung bereits auf einer ‚fungierenden Intentionalität‘ aufruhe, ein für das Verhältnis von Sinnlichkeit und Begriff wichtiger Zusammenhang. Der thetischen oder Akt-Intentionalität zugrunde liegend als ihre Bedingung der Möglichkeit fanden wir eine vor aller These und allem Urteil schon am Werke seiende fungierende Intentionalität – als einen „Logos der ästhetischen Welt“, „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“, die, wie eine jede Kunst, sich zu erkennen gibt nur in ihren Ergebnissen.³⁰
Diese ‚fungierende Intentionalität‘ konzipiert Merleau-Ponty, Heidegger folgend, als Transzendenzbewegung des Subjekts. Paradigma dieser Transzendenz ist die Wahrnehmung, aber letztlich haben alle Bewusstseinsakte ihre Grundlage in der Dichte des Präsenzfeldes der sinnlichen Wahrnehmung und der leiblichen Weltbezüge. Bewusstsein ist niemals reine Intimität oder Immanenz, sondern immer ein aktives Transzendieren.³¹ Und jede begriffliche Erfassung, jede Interpretation der Empfindungen, jedes explizite Urteilen ist letztlich motiviert durch die dichte Struktur der perzeptiven Felder, durch die Konfiguration der Phänomene, wie sie der leiblichen Orientierung auf die Welt hin entspringt – auf eine Welt, die sich darbietet als offenes, gestaltbares, aber keineswegs beliebiges Feld von Bezügen. Die Lösung aller Transzendenzprobleme liegt in der Dichtigkeit der vorobjektiven Gegenwart, in der wir unsere Leiblichkeit, unsere Sozialität und die Präexistenz der Welt finden, d. h. aber den Ansatzpunkt aller irgend legitimen „Erklärungen“ – und in eins die Grundlage unserer Freiheit.³²
Vgl. hierzu Merleau-Ponty 1966, 91– 96. Merleau-Ponty 1966, 488. Vgl. hierzu Merleau-Ponty 1966, 429. Merleau-Ponty 1966, 492.
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David Espinet
„Êtres de fuite“ – Der Ereignischarakter ästhetischer Ideen bei Kant, Merleau-Ponty und Proust Von einigen wenigen Stellen einmal abgesehen,¹ ist der Begriff des „Ereignisses“ in Kants Philosophie zumindest auf der terminologischen Oberfläche des Textes abwesend. Gleichwohl lassen sich auf operativer Ebene zahlreiche Momente kantischer Ereignissensibilität aufweisen. Besonders deutlich wird diese in Kants Kritik der Urteilskraft und den darin entwickelten Konzeptionen des Schönen, des Geschmacks- und Reflexionsurteils und der ästhetischen Idee. Im Folgenden möchte ich mit Blick auf diesen Zusammenhang zeigen, dass – und wie – sich der Ereignischarakter des Schönen in dem, was Kant „ästhetische Ideen“ nennt, bündelt. Soviel vorab: Sind meine Überlegungen stichhaltig, dann bestünde ein Ereignis im kantischen Sinne darin, dass etwas durch die Vernunft als ihr zugehörig anerkannt wird, ohne dass der Verstand das Konstituierte antizipieren noch in seiner Möglichkeit restlos transparent machen könnte. Um die begrifflichen Klärungen, die ich Kants dritter Kritik entnehme, deskriptiv zu unterlegen, beziehe ich Reflexionen Marcel Prousts in die Überlegungen mit ein. Damit ist nicht gesagt, dass Proust einfach nur die kantische Ästhetik applizieren würde; er bestätigt sie aber doch in wesentlichen Punkten.² Von Merleau-Ponty stammt das Diktum: „Keiner ist weiter gekommen als Proust bei der […] Beschreibung einer Idee, die nicht das Gegenteil des Sinnlichen ist, sondern seine Tiefe“.³ Der Aufsatz gliedert sich in fünf Teile: in einem ersten Abschnitt zeige ich, dass die Konzeption des freien, uninteressierten Wohlgefallens bei Kant als eine radikale Form der vorintentionalen Offenheit verstanden werden kann. Der zweite Abschnitt erörtert, inwiefern diese Offenheit die subjektive Bedingung dafür ist, dass reale Sinnereignisse wie ästhetische Ideen Subjekten erscheinen können. In einem dritten Abschnitt gehe ich der Frage nach, ob ästhetische Ideen als Sinnereignisse das Korrelat einer leiblichen Vernunft voraussetzen, was positiv beantwortet wird. Der vierte Teil zeichnet unter dem Titel des „transzendentalen
Vgl. KrV A 450/B 478; eine weitere Stelle findet sich in KrV A 199/B 244; Text der Kritik der reinen Vernunft (KrV) nach Kant 1998. Die Verwandtschaft der proustschen Ästhetik und der kantischen Konzeption des Geschmacksurteils haben beispielsweise Recki 2010 und Carbone 2001, 151– 170 hervorgehoben. Merleau-Ponty 1986, 195.
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Versteckspiels“ die Schwierigkeiten nach, die für Kants Fassung der Transzendentalphilosophie aus der unvermeidlichen leiblichen Mitbestimmung der Vernunft entstehen. Um die von Kant aufgezeigte Schwierigkeit produktiv zu wenden, führe ich im letzten Teil Kant und Merleau-Ponty eng in Bezug auf die Verleiblichung der Vernunft, indem ich die Attraktionskraft ästhetischer Sinnereignisse, die diese auf die Vernunft ausüben, mit Merleau-Ponty als „umschriebene Abwesenheiten“ umreiße. Bei allen Unterschieden, die zwischen Kant und MerleauPonty zweifelsohne bestehen, erweist sich Merleau-Pontys Bestimmung der ästhetischen Idee als „umschriebene Abwesenheit“, die von einem intrinsischen Differenzverhältnis von Sinn und Sinnlichkeit ausgeht, als verträglich mit Kants Annahme einer prinzipiellen Heterogenität von Sinnlichkeit und Verstand. Nimmt man Merleau-Pontys Beschreibungen zu Hilfe, wird verständlich, wie Kants Konzeption der ästhetischen Idee die Differenz von Begriff und Anschauung zwar nicht zu überwinden, aber doch zu versöhnen vermag.
1. Freies Wohlgefallen und Offenheit des Subjekts Das Axiom kantischer Ästhetik, wonach Urteile über das Schöne „ohne alles Interesse“ (KU 211)⁴ seien, führt direkt zum Thema: An der Uninteressiertheit, mit der man dem Schönen nur begegnen kann, wenn man es nicht prinzipiell verfehlen möchte, lässt sich eine Offenheit für Ereignishaftes ablesen. Diese Offenheit besteht darin, dem Schönen intentional nicht vorzugreifen. Nur was nicht vollständig im Bereich des Erwartbaren liegt, kann den Charakter eines Ereignisses annehmen. Genau diesen Sachverhalt umreißt Kants Theorie des Geschmacksurteils: denn bei der ästhetischen Uninteressiertheit handelt es sich um eine Einstellung, die eine praktische und theoretische Vorgriffigkeit bändigt. Wir urteilen dann „ohne Rücksicht auf den Gebrauch oder einen Zweck […] in Ansehung der Erkenntnis“ (KU 242). Ganz gleichgültig wird im Geschmackurteil also, ob etwas pragmatisch, ethisch oder epistemisch erstrebenswert, ob es annehmlich, ob es moralisch gut ist, sogar als was es erscheint sowie ob tatsächlich etwas materialiter vorhanden oder bloß als Erscheinung gegeben ist. In phänomenologischen Termini: Geschmacksurteile erfolgen aus einer umfassenden Ausklammerung der Wert- und Seinssetzungen aller Art. Das uninteressierte Wohlgefallen, das wir am Schönen haben, erweist sich so als losgelöst von dem, was wir
Text der Kritik der Urteilskraft (KU) nach Kant 2009.
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bestimmen, bewerten oder besitzen möchten. Im Geschmacksurteil gilt: „Das Schöne […] gefällt“ allein „für sich selbst“ (KU 244). Vom Schönen her wird deutlich, dass das „Wohlgefallen“ (KU 204), das Kant beschreibt, keine bloße Autosuggestion des Subjekts meint; dass also ästhetische Ideen, die durch ihre Schönheit ästhetisch werden, nicht bloße ‚Einbildungen‘ (Illusionen) sind, sondern Eigenständigkeit – Proust würde sagen: die „Realität“⁵ von „unsichtbaren Wirklichkeiten“⁶ – besitzen; Swanns alter ego, Marcel, beschreibt seine Begegnung mit der petite phrase musicale de Venteuil, dem kleinen musikalischen Motiv Venteuils, das die ganze Recherche durchzieht, einmal so: „Wundervoller noch als ein junges Mädchen trat die kleine Phrase mir entgegen. […] Meine Freude, sie wiedergefunden zu haben, wuchs noch an unter dem so freundschaftlich vertrauten, überzeugenden, schlichten Ton, mit dem sie sich an mich wandte, ohne dabei das Schillern seiner Schönheit weniger spielen zu lassen.“⁷ Die kleine Phrase kommt auf Swann zu, indem sie ihre Schönheit selbst präsentiert, und „führte […] ihn […] einem edlen, unbegreiflichen und klar umrissenen Glück entgegen“.⁸ Swann vergleicht die phrase mit einer schönen „Vorübergehende[n], die er nur kurz gesehen hat“, die ihn indes „mit der Vorstellung einer neunen Schönheit beschenkt, die seine Empfindungsfähigkeit bereichert“.⁹ Von der „Musik“, die Swann hört, geht ein wahrhafter Stoß aus, als sei „in der seelischen Verödung, an der er litt, sozusagen die Entstehung neuer Substanz bewirkt“ worden, so dass er „von neuem den Wunsch und fast die Kraft in sich verspürte, seinem Leben neue Weihen zu geben“.¹⁰ Zurück zu Kant. Zwar handelt es sich beim Wohlgefallen am Schönen um ein affektives „Lebensgefühl“, durch welches sich das „Subjekt […] selbst fühlt“ (KU 204). Und tatsächlich verwendet Kant mehr Aufwand darauf, die „Wirkung“ (KU 219), die das Subjekt durch das Schöne erfährt, als dieses Schöne selbst zu beschreiben. Gleichwohl kann es sich dabei um keine rein autoaffektive „Belebung“ (ebd.) handeln, wie Prousts Beschreibung nahe legt. Und tatsächlich ist eine solche auch für Kant nicht ohne motivierenden Außenbezug denkbar. Bereits in der Widerlegung des Idealismus aus der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 lesen wir: „Denn sich einen äußeren Sinn bloß einzubilden, würde das Anschauungsvermögen, welches durch die Einbildungskraft bestimmt werden soll, selbst vernichten“ (KrV B 277). Was wie das Schöne selbst belebend
Proust 1994, 306. Proust 1994, 307. Vgl. auch Proust 2002, 277– 282. Proust 2000, 354 (Übers. verändert, D. E.). Proust 1994, 305 (Übers. verändert, D. E.). Proust 1994, 306. Proust 1994, 307.
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wirkt, muss in seiner Selbstgegebenheit auf ein vorintentionales Korrelat verweisen, von dem aus die Intention mitgestiftet wird. Sonst würde sich das Subjekt nur an sich selbst beleben, wozu die Vernunft in der Erzeugung dialektischen Scheins trefflich in der Lage wäre – aber keine Erfahrung schöner Dinge machen würde. Kant selbst unterstreicht die Wichtigkeit eines solchen gegenständlichen Korrelats: „Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern er ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.“ (KU 236; kursiv D. E.). Mit der Annahme eines Schönen selbst macht sich auch bei Kant also ein gewisser Realitätssinn geltend. Wenn Kant betont, dass ich in Bezug auf die „Existenz des Gegenstandes“ denkbar „gleichgültig“ (KU 205) sein muss, um diesen als belebend zu erfahren, so heißt dies nur, dass ich nicht an der Existenz des schönen Dings interessiert sein darf, um es schön finden zu können. Dies heißt nicht, dass die schönen Dinge wie bloße Hirngespinste keine reale Eigenständigkeit hätten. Ganz im Gegenteil, weil diese keineswegs nur illusionäre Konstruktionen ohne tatsächliches Eigenleben sind, können sie ansprechen und mir etwas von ihnen mitteilen, ja sogar etwas über mich selbst. So notiert Kant einmal am Rande: „[D]ie schöne[n] Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe“ (AA XVI, Logik, 127). Dass die schönen Dinge dem Menschen seine Situation anzeigen, impliziert eine gegenständliche Eigendynamik, bei der die Dinge zu Ereignisdingen im emphatischen Sinne werden dadurch, dass ich an ihnen eine Erfahrung mache, die von ihnen kommt und mich zugleich selbst betrifft. Denn meist passt der Mensch nicht in seine Welt, sondern ist damit beschäftigt, die äußeren Lebensumstände an die eigene Bedürfnisökonomie anzupassen. Umso weniger das Subjekt nun dem Eigenleben der Dinge vorgreift, umso mehr hat es auch die Möglichkeit, es mit dem Schönen selbst zu tun zu bekommen. Die belebende Wirkung, die in der Begegnung mit schönen Dingen eintritt, besteht auf der Subjektseite darin, dass mir in Bezug auf Schönheit meine eigene Existenz als leibliches, epistemisches und ethisches Wesen gleichgültig wird. Das Ereignis des Schönen selbst zeigt sich dann in einer befreienden Wirkung sui generis: zumindest für Augenblicke entkommt das Subjekt dem eisernen Netz der cura sui, von dem es leiblich, epistemisch und sittlich meist umspannt wird.¹¹ Kant nennt diesen Zustand bekanntlich „freies Wohlgefallen“ (KU 210, kursiv D. E.). Proust, de son côté, beschreibt diesen Zustand, bei dem man aus der Neigungsökonomie und Verstandeslogik ausschert, so: Dass die theoretische Vernunft auch bei Kant von einem Interesse der Selbsterhaltung umgetrieben wird, hat Manfred Sommer überzeugend gezeigt, vgl. Sommer 1988; vgl. dazu weiterhin Blumenberg 2007, 56 f. Zu einer Phänomenologie der rationalen Selbsterhaltung des cogito vgl. Husserl 1999, 347– 352.
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Und oft, wenn der nüchterne Verstand in Swann allein die Oberhand gewann, wollte er nicht länger so viele geistige und gesellschaftliche Interessen diesem eingebildeten Vergnügen opfern. Sobald er aber die kleine Phrase hörte, wusste sie den nötigen Freiraum in ihm zu öffnen [savait rendre libre en lui l’espace qui pour elle était nécessaire], die Proportionen seiner Seele veränderten sich; ein Randbereich [marge] darin blieb einem Genuß vorbehalten, der, statt rein individuell zu sein wie jener der Liebe, sich Swann wie eine den konkreten Dingen überlegene Wirklichkeit aufzwang. Solch ein Verlangen nach einem unbekannten Reiz weckte die kleine Phrase in ihm, ohne ihm dabei etwas Bestimmtes als Erfüllung zu geben, daß die Seelenbezirke Swanns, in denen die kleine Phrase die Sorge um materielle Interessen, alle menschlichen und allgemeinen Erwägungen ausgelöscht hatte, leer und offen dalagen und es ihm freistand, den Namen Odettes in sie einzutragen.¹²
Kant fasst diese vorintentionale Offenheit des Betrachtens, die vom Schönen ermöglicht wird, indem es in ein freies Wohlgefallen versetzt, das alle Sorgen auslöscht, folgendermaßen: Weil das Geschmackurteil „kein Erkenntnisurteil (weder ein theoretisches noch praktisches)“ sei, sei die „Kontemplation“ des Schönen auch „nicht auf Begriffe gerichtet“ (KU 209).¹³ Auch Proust lässt Swann erkennen, dass die kleine Phrase „ohne Bedeutung [sans signification]“ ist, „weil sie sich unserem Verstand entzieht“.¹⁴ Anstatt einer univoken Bedeutung spricht Swann ein vielseitiger, mehrdeutiger Sinn an, der offen für weitere Einschreibungen bleibt, gerade weil er „sich unserem Verstand entzieht“.¹⁵ Aus solcher begrifflichen Flüchtigkeit des Schönen, aus dessen eigentümlicher „Unbegrifflichkeit“ also,¹⁶ ergeben sich mit Kant mindestens vier Momente der vorinten-
Proust 1994, 344 (Übers.verändert, D. E.). Die zentrale Passage findet sich im Original in Proust 1987, 233. Vgl. auch KU 215: „Wenn man Objekte bloß nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren.“ Proust 1994, 345. Die Parallelen zu Paul Valérys objet ambigu, „das zweideutigste Ding der Welt“, das den armen Sokrates zu „unendlichen Überlegungen“ (Valery 1990, 48) nötigt, sind offenkundig. Blumenberg geht dem Topos mehrfach nach, vgl. Blumenberg 2001a, 2001b. Vgl. dazu auch Hans Blumenbergs Fragment gebliebene Theorie der Unbegrifflichkeit; mit Blick auf Kants Theorie des Symbols beschreibt Blumenberg dort die formbindende und sinngenerierende Kraft von unbegrifflichen Ausdrücken wie Symbolen oder (absoluten) Metaphern: „Ausdrücke, die weder durch Zeigen noch durch Ersetzungsregeln definiert werden können, haben naturgemäß eine große Variationsbreite ihrer Bestimmtheit in individuellen und sozialen Kontexten. In dem Minimum an standardisierter Bestimmtheit und dem Maximum an zusätzlicher Bestimmbarkeit liegt ihre Disposition dafür, imaginatives und wertendes Material an sich zu ziehen und erst dadurch sich zu spezifizieren. Darauf beruht auch die ganz besondere Geschichtsfähigkeit von Symbolen, daß sie für sich und zunächst nichts bedeuten, aber gerade dadurch Bedeutung anzunehmen imstande sind.“ (Blumenberg 2007, 56). Hier deutet sich an, dass von Kants Bestimmung der ästhetischen Idee ein Weg in die Geschichtlichkeit des Denkens führt,
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tionalen Offenheit: (1) Die konkrete Partikularität des Geschmacksurteils, (2) dessen subjektive und damit auch leibliche Situativität, (3) die liberale Allgemeinheit des Geschmacksurteils sowie (4) die bloß indirekte Mitteilbarkeit des Schönen. „Geschmacksurteile“ sind also (1) stets „einzelne Urteile“ (KU 215),¹⁷ die zudem auf einzelne Dinge gehen: nur „die Rose, die ich anblicke“, ist „schön“, darf als ein reines Geschmacksurteil gelten; „Rosen überhaupt sind schön“ hingegen ist „ein auf einem ästhetischen gegründetes logisches Urteil“ (ebd.). Dieser konstitutiven konkreten Partikularität des Urteils entspricht (2) dessen leibliche Situativität: „Man will“, wenn es um Geschmack geht, so betont Kant, „das Objekt seinen eigenen Augen unterwerfen“ (KU 216), nicht aber Schönheit aus zweiter Hand erfahren. Was man selbst erblickt und als schön beurteilt hat, kann (3) keinen Anspruch auf logische, wohl aber auf „ästhetische Allgemeinheit“ (KU 215) haben. Diese enthält ein „subjektives Prinzip, welches nur durch Gefühl und nicht durch Begriffe“ bestimmt, „was gefalle oder mißfalle“. Diese liberale Allgemeinheit, die Ausdruck von „Gemeinsinn“ (KU 238), aber nicht logisch-objektiver Verbindlichkeit ist, „sinnt nur jedermann diese Einstimmung an“, etwas Bestimmtes ebenfalls schön zu finden. Was derart (4) „ohne Vermittlung durch Begriffe“ (KU 216, kursiv D. E.) auskommt, ist auch nicht geradewegs erkennbar. Es fehlen beim Schönen nicht nur die Worte, sondern gleich die Begriffe, so dass es für den Verstand nicht erkennbar und der Gemütszustand, der dem Geschmacksurteil entspricht, nur indirekt mitgeteilt werden kann. Denn erkannt und mitgeteilt wird nur das „Verhältnis der Vorstellungskräfte zueinander“ (KU 217), die „Stimmung“ als Ausdruck der „Proportion“ (KU 238) der Erkenntniskräfte. Nur dieser subjektinterne „Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen“ lässt „sich allgemein mitteilen“ (KU 217).¹⁸ Das Ereignis des Schönen selbst enthält einen sinnlichen Sinnüberschuss, der sich der Mitteilbarkeit entzieht. Das „Gefühl“ ist „allgemein mitteilbar“ (KU 293), nicht jedoch das Schöne selbst, was nicht heißt, dass es deshalb bloß schematisch erfahren würde. Ganz im Gegenteil und in Prousts Worten: Das Schöne selbst ist „unsagbar und überdeutlich zugleich“.¹⁹ Diese Ambivalenz zeigt sich umso deutlicher, je mehr man das Schöne auf den Begriff zu bringen, also zu erkennen versucht.²⁰
weil ästhetische Ideen „sich“ dadurch „spezifizieren“, dass sie „imaginatives […] Material an sich ziehen“. So auch in KU 285. Dies ist gemäß Kant tatsächlich die einzige Lust, „welche allein allgemein mitteilbar ist“ (KU 306). Proust 2000, 355. Zur Unsagbarkeit ästhetischer Ideen vgl. Makkreel 1990, 122. Was in Geschmacksurteilen eigentlich immer nur mitgeteilt werden kann, ist ein gleichsam deiktisches Hinzeigen mit dem Sinn: ‚Höre, schau hin oder spüre, wie schön dies hier ist!‘ Was
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Was man vielfach als eine unsachgemäße „Subjektivierung der Ästhetik“ missverstanden hat,²¹ möchte ich vielmehr als die sachgerechte Zurücknahme von subjektiv-intentionaler Übergriffigkeit deuten.²² Kantische Rezeptionsästhetik zeigt präzise, unter welchen intentionalen Bedingungen allein sich das Schöne selbst – indirekt, d. h. subjektiv – konkret zeigen kann; und wie das Subjekt intentional an sich halten muss, um dem Schönen gerecht zu werden. Kants Kritische Philosophie zeigt zumindest in der Kritik der Urteilskraft, wie innerhalb der Subjektrationalität oder, vielleicht genauer mit Proust gedacht, an ihrem „Randbereich“ sich ein intentionaler Freiraum für die Erfahrung des Schönen auftut. Indem Kants Kritische Philosophie zumindest hier das sinnantizipatorische Vermögen des Verstandes in seine Schranken verweist, wahrt sie auch die kritische Grenze der intentionalen Übergriffigkeit. Dadurch öffnet sich aber ein Verständnis der Bedingungen der Möglichkeit einer Konfiguration, für die logische Unbestimmtheit konstitutiv ist.
2. Ästhetische Ideen als figurale Sinnereignisse Um das Schöne zu erkennen, muss die Vernunft begrifflich an sich halten. Es ist der schönen Form wesentlich, dass sie sich selbst und darin als kategorial ungeformt zeigt, d. h. „ohne dass wir ihr einen Zweck […] als nexus finalis zum Grunde legen“ (KU 220). Was sich derart vorintentional zeigt, hat die Form einer „Zweckmäßigkeit […] ohne Zweck“ (ebd.). Hält man diese Annahme an den phänomenal erfahrbaren Sachverhalt, verliert sie ihre Paradoxie. Kants Formel besagt nur, dass etwas in sich selbst stimmig erscheint, ohne dass man aufgrund objektexterner Zweckvorgaben sagen könnte, weshalb. Kant führt dies aus an den Beispielen „schöner Blumen, eines schönen Ameublements, einer schönen Aussicht“ (KU 233). Am sinnfälligsten wird die Zweckmäßigkeit ohne Zweck aber in jener Kunst, die nicht mimetisch arbeitet und die Kant noch nicht kennen konnte. Man sollte dessen eigene Beispiele nicht unterschätzen, wenn Kant „Zierarte (Parerga)“ (KU 226), „Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen
mitgeteilt wird, ist nicht ein bestimmter Sachgehalt (den muss man schon unvertretbar selbst erfahren), sondern nur die „unbestimmte[…], aber doch vermittelst des Anlasses der gegeben Vorstellungen einhellige[…] Tätigkeit, die zu einem Erkenntnis überhaupt gehört.“ (KU 219). Gadamer 1990, 48 – 87. Eine hermeneutische und phänomenologische Rehabilitierung der ästhetischen Theorie Kants haben in neuerer Zeit insbesondere Makkreel 1990, 2 und Figal 2010, 53 – 76 vorgeschlagen. Bereits Heidegger bewertet um 1936 Kants Konzeption des Geschmacksurteils ungewohnt zustimmend, vgl. Heidegger 1996, 109; dazu Espinet 2014.
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oder auf Papiertapeten“ (KU 229) und dergleichen nennt. Mit solchen Beispielen trifft Kant etwas, das augenscheinlich auch – und besonders – für abstrakte Kunst seit dem 20. Jahrhundert (wie auch für Naturschönheit) ganz unmittelbar gilt: schöne Formen – z. B. der späte Cézanne, Pollocks Drippings oder Rothkos Farbfelder, aber auch Matisses ornamentale Kunst – „bedeuten […] für sich nichts; sie stellen nichts vor“, bringen „kein Objekt unter eine[n] bestimmten Begriff“ (ebd.). Zweckfreie Formen sind, wie auch die von Kant erwähnte „Musik ohne Text“, genau aus diesem Grund „freie Schönheiten“ (ebd.; kursiv D. E.). Tatsächlich scheint es so, als ob Kant etwas suchte, „das er in den ihm bekannten Werken der bildenden Kunst nicht finden konnte“²³ und das in der nicht mimetischen Kunst sehr viel eher angetroffen würde.²⁴ Mit der Bedingung logischer Bedeutungslosigkeit beschreibt Kant nun aber eine Einklammerung, die Sinn nicht nur ausschließt, sondern im selben Zug der Bedeutungseinklammerung ein Sinnereignis eigner Art erst zulässt. Dieser ereignishafte Sinn des Schönen, genauer, die subjektive Antwort auf das schöne Sinnereignis, das umso schöner ist, desto unerwarteter es auftritt, hat den Charakter eines offenen Entwurfs: „[I]n Entwürfen der Einbildungskraft“ zeige „der Geschmack […] seine größte Vollkommenheit“ (KU 242; kursiv D. E.) – man darf sich hinzudenken: in Entwürfen des Verstandes weniger. Man muss den Begriff des „Entwurfs“ bei Kant in diesem Zusammenhang genauer betrachten. Denn bereits die Zeichnung, vielleicht das Protomedium allen Entwerfens, spielt in der dritten Kritik eine paradigmatische Rolle: Zeichnung und Komposition sind für Kant der eigentliche Quell von Kunstschönheit, die dieser konfigural und nicht material verstehen möchte. Nicht der „Reiz der Farben oder angenehmer Töne“ mache das Kunstschöne aus, sondern das „Spiel der Gestalten“, also das spiele-
Figal 2010, 69. Zwar verschwindet der Nachahmungsgedanke bei Kant nicht vollständig, denn auch das neue Regeln schaffende Ausnahmetalent muss für Kant einen Begriff der Gegenstände haben, die dargestellt werden und die gleichsam das symbolisch formbare Material bilden. Das gelungene Kunstwerk geht aus dem „glücklichen Verhältnis“ hervor, das darin besteht „zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzusuchen, und andererseits zu diesen den Ausdruck zu treffen“ (KU 317). Aber Mimesis ist bei diesem Transformationsprozess nicht wesentlich, sondern nur die notwendige Voraussetzung, wie insbesondere im §59 deutlich wird, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Nur soviel: der Künstler muss die Richtigkeit der Darstellung, z. B. des menschlichen Leibes beherrschen, also einen empirischen Begriff des Menschen – dessen „Normalidee“ – haben, (KU § 17), die er z. B. mit der Vernunftidee der Freiheit in Verbindung bringt, um diese dann, man denke z. B. an Delacroixs Die Freiheit führt das Volk (1830), in einen sinnlichen Ausdruck zu fügen. Dieser ist dann nicht mehr mimetisch, sondern symbolisch und bezieht sich „auf einen ganz anderen Gegenstand“ als jener, der im empirischen Begriff des menschlichen Leibes anschaulich vor Augen steht, nämlich auf die Freiheit.
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rische Konfigurieren von unintentionalen Formen gleichsam unterwegs zu sich selbst. Wenn also Kant die „Zeichnung“ und die „Komposition“ als „den eigentlichen Gegenstand des Geschmacksurteils“ (vgl. KU 225) bezeichnet, dann hat er gerade keine geschlossene Form im Blick, die man wie die Umrisslinien eines Motivs nur noch ausmalen müsste.Vielmehr handelt es sich um eine spielerische, entwürfliche Form. Entwürfe im Allgemeinen loten konfigurale Möglichkeiten aus, sie sind Realisierungen auf Widerruf. Hier ist etwas vorweggenommen von dem, was Lyotard und Deleuze „das Figurale“ nennen, das sie scharf vom Figurativen, d. h. Mimetischen abgrenzen.²⁵ Dem Figuralen nun, anders als dem Figurativen, inhäriert eine form- und sinngenerierende Überschüssigkeit. Dem entspricht, dass Entwürfe mit Blick auf das, was sie (vielleicht) einmal wirklich ermöglichen werden, Spielräume für zahlreiche Realisierungen offen lassen. Dass nicht alle Entwürfe realisierbar sind, gehört zu ihrem Möglichkeitssinn und Überschusscharakter. Das Entwurfsvermögen der Einbildungskraft, ihre Freiheit, besteht nun nicht wie jene der theoretischen Vernunft darin, dass univoke Regeln schematisch entworfen, umgesetzt und begrifflich transparente Zusammenhänge oder geometrische Konstruktionen, sozusagen fertige Baupläne oder epistemische Passepartouts hergestellt würden. Hierbei gälte gemäß Kants Diktum der ersten Kritik, dass „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (KrV B XIII).²⁶ Entwürfe der Einbildungskraft hingegen durchschaut die Vernunft nicht restlos. Sie entziehen sich gewissermaßen der rationalen Zentralperspektive. Günter Figal hat die realisierten Entwürfe der schöpferischen Einbildungskraft deshalb treffend als „dezentrale Ordnungen“ beschrieben, die „sich nicht ohne weiteres, gleichsam auf einen Blick erkennen lassen“,²⁷ welche also keinen totalisierenden Zugriff erlauben. So bemerkt Swann, dass die kleine
Vgl. Lyotard 1971, 211 und Deleuze 2002, 12. Zum Figuralen als Ereignis vgl. Lyotard 1971, 21– 26, 217– 219. Eine genauere Lektüre dieser Passage aus der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft müsste indes darauf hinweisen, dass Kant gleichwohl erwähnt, dass bei der Konstitution der „Prinzipien“ und „beständigen“ bzw. „notwendigen Gesetze“ ein Suchen im Spiel ist. Wie der „Richter“, der die Wahrheit stets vor dem Hintergrund bestehender Gesetze sucht, so „bedarf“ auch die Vernunft des „vorher entworfenen Plane[s]“ (KrV B XIII), der ihr die Leitlinien empirischer Forschung aufreißt. Gleichwohl darf die Vernunft diese Prinzipien nicht blind auf Erfahrung anwenden, sondern muss dabei über ein kompliziertes Verfahren der Applikation gehen, wie Kants Lehre vom Schematismus zeigt. Selbst hier kommt die Vernunft nicht ohne die Dimension eines ergebnisoffenen Suchens aus, ganz so wie der Richter, der zunächst klären muss, ob eine Straftat vorliegt, bevor das Gesetz Anwendung finden darf. Mitnichten beinhaltet das Gesetzt a priori, dass eine Straftat vorliegt noch wer verurteilt werden soll, was niemals vorab, sondern nur a posteriori zu regeln ist. Figal 2010, 72.
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Phrase, die er aufmerksam hört, eine „dunkle Oberfläche“²⁸ entgegenhalte, eine „Form“, die „nicht vernunftmäßig aufgelöst werden“²⁹ könne. Die Zergliederung der Phrase – Swann lässt sich nach der Aufführung das betreffende Motiv mehrmals vorspielen – führt ihn nicht zu dem, was an der dunklen Oberfläche zu hören war, zur „Phrase selbst“.³⁰ Statt ihrer findet er den „geringen Abstand zwischen den fünf Noten“ und die Empfindung von […] fröstelnder Süße“,³¹ bewirkt durch das Wiederholen zweier dieser Noten. Was er nun hört, wenn er den Verstand auf die kleine Phrase richtet, so muss er feststellen, sind „schlichte Werte, durch die er für ein bequemeres Verständnis die geheimnisvolle Wesenheit ersetzte“.³² Hält also die Vernunft begrifflich nicht an sich, versucht sie statt dessen zu verstehen, gleichsam nachzumessen, d. h. auf univoke Begriffe zu bringen, was da schön ist, dann entzieht sich der schöne Gegenstand. Das schöne Ding ent-eignet sich gewissermaßen. Wieder haben wir die radikal partikulare Struktur des Geschmacksurteils vor uns. Man kann das schöne Ding nicht allgemein erfassen, festhalten und mitteilen. Aus diesem Grund sind Geschmacksurteile die beste Gewähr dafür, dass wir es mit schönen Dingen – und nicht schönen Illusionen – zu tun haben. Es muss dieses schöne Ding da geben, damit ich genötigt werden kann, ihm Schönheit zuzusprechen, und ich muss es selbst hören, sehen oder lesen, damit ich in freien Entwürfen der Einbildungskraft darauf antworten kann, ja muss. Diese unvertretbare Freiheit ist deshalb auch keine, die ganz ohne Realitätssinn wäre und bloße Chimären produzieren würde. Eher ist es ein visionärer Realitätssinn, der Kraft seines spielerischen Wesens mögliche Konfigurationen sieht. Kant nennt diese visionären Entwürfe der Einbildungskraft, die ein Höchstmaß an noetischer Varianz und Produktivität zulassen, indem sie zugleich die noetische Transparenz unterbrechen, ästhetische Ideen: [U]nter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. (KU 313 – 314).
Proust 1994, 507. Proust 1994, 505. Ebd. (Übers. verändert, D. E.). Ebd. Ebd. Für eine ausführlichere Phänomenologie des Hörens ästhetischer Ideen bei Proust vgl. Espinet 2009, 241– 248.
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Ästhetische Ideen können von Kunst- oder Naturdingen (vgl. KU 320), von Bildern, Geschichten, Steinen etc. angeregt werden, sofern sie schön (und vielleicht sogar, sofern sie hässlich) erscheinen. Weil diese Ideen nicht auf einen einzelnen klaren Gedanken zu bringen sind, reicher und modulierter als logische Strukturen des Verstandes erscheinen, können sie im Kunstwerk zum Ding werden. Sie sind ideal schon das, was das Ding real ist, nämlich sinnlich. Weil sie zugleich ideal sind, erweisen sich ästhetisch konfigurierte Ideen als Spielräume der Freiheit. Man könnte ästhetische Ideen deshalb auch „Kon-figurale“ nennen, da sie in ihrer unentscheidbaren Zwitterstruktur aus Sinn und Sinnlichkeit einen Zwischenraum mannigfaltiger kreativer Permutationen und Distributionen eröffnen,³³ bei welchen Freiheit und Natur,Vernunft und Sinnlichkeit sich gegenseitig konfigurieren.
3. Sinnereignis und sinnliche Vernunft Kant erklärt die Freiheit der konfigurierenden Einbildungskraft damit, „daß“ diese nun „ohne Begriffe schematisiert“ (KU 287, kursiv D. E.).³⁴ Das heißt erstens, dass die Einbildungskraft „produktiv und selbsttätig“ (KU 240), „schöpferisch“ (KU 315) und damit eigenmächtig schematisiert. Als solche ist sie „Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen“ (KU 240), die alles „Steif-Regelmäßige“ der „Symmetrie“ (KU 242) des Verstandes hinter sich gelassen haben, wovon Kant sagt, dass solches in ästhetischen Angelegenheiten ohnehin nur „lange Weile“ (KU 243) mache. Indem die Einbildungskraft nicht more geometrico nach Verstandeskategorien schematisiert,³⁵ und gleichwohl synthetisiert, artikuliert sie eine spezifische Freiheit, die „Freiheit vom Gesetze der Assoziation“ (KU 314).³⁶ Dadurch verlässt die Einbildungskraft aber nicht die sinnliche und damit leibliche Erfahrungsebene, sondern geht von dieser geradezu aus. Denn Kant beschreibt nun mit der Einbildungskraft in der dritten Kritik ein spontanes Vermögen zur „Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt“ (ebd.). Die wirkliche Natur, das ist die ganze Fülle der ersten und zweiten
Zur Kreativität der Einbildungskraft als einer schöpferischen Umbildung vgl. KU 314, sowie Makkreel 1990, 120. Dies ist möglich, weil das „Geschmacksurteil […] auf einem Gefühle“ beruht, das durch die „sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzesmäßigkeit“ (KU 287) entsteht. Dies ist bestritten worden beispielsweise von Gregor 1985, 195 oder von Beck 1978, 56. Kant meint damit die „Analogien der Erfahrung“, d. h. die Erfahrungsgrundsätze der Beharrlichkeit, der Sukzession und der Simultaneität, vgl. KrV A 176 – 218/B 218 – 265.Vgl. dazu auch Lyotard 1991, 87.
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Natur, der sinnlich-empirischen Erfahrung wie auch des kulturell gewachsenen Formenschatzes, aus der die Einbildungskraft schöpft, um dessen Elemente selbsttätig neu zu synthetisieren und so mit neuen schönen Formen weiter anzureichern. Dass die Einbildungskraft frei von Begriffen schematisiert, genauer: ohne sich an diesen zu orientieren, heißt dann zweitens, dass die Einbildungskraft eigentlich gerade nicht mehr schematisch vorgeht. Fällt die Dominanz des Begriffs, fällt auch alles Schematische von den Entwürfen der Einbildungskraft ab. Denn „in ästhetischer Absicht“ ist „die Einbildungskraft frei“, eine „neue Regel“ zu stiften, „die aus keinen vorhergehenden Prinzipien oder Beispielen hat gefolgert werden können“. Aus einem solchen Sinnereignis, dessen Herbeiführung „keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann“ (KU 316 f.), gehen keine empirischen oder reinen Schemate hervor, sondern ästhetische Ideen.³⁷ Diese sind ereignishafte Konfigurale, die, obzwar unbestimmter und offener als Schemata, zugleich konkreter und differenzierter als diese sind, realisieren sich ästhetische Ideen doch in einer „Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen“ (KU 316) oder „Nebenvorstellungen“ (KU 315), die sehr viel spezifischer als die reinen Formen der Anschauung Raum und Zeit sind.³⁸ Kant nennt hier beispielsweise ikonographische „Attribut[e] des mächtigen Himmelskönigs […] Jupiter“, der als „Adler“ einen „Blitz“ in seinen „Klauen“ (ebd.) hält. Gemeint ist mit diesem durchaus missverständlichen Beispiel weniger die allegorische Versinnbildlichung einer bestimmten Idee, die dann kaum noch Interpretationsspielräume anbietet (man denke an die Justitia mit ihrer Waage), sondern Kant möchte vielmehr die ästhetische Möglichkeit beschreiben, aus sinnlichen Medien eine unabschließbare Pluralität an Vorstellungsoptionen hervorgehen zu lassen, um so eine „Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen“ zu eröffnen (ebd.).³⁹ Als solche sind ästhetische Ideen offene Formen, die bewegliche Konfigurationen aufreißen, in welchen die Veränderung die Regel und die Regel die Variation, ja das Neue ist. Denn dass mit ästhetischen Ideen neue Regeln entworfen werden, heißt nichts anderes, als dass die beschriebene Produktivität dauerhaft für den Rezipienten Letztere sind vielmehr normative Elemente bei der weiteren Sinngenesis. Zur Spezifikationsfunktion der Einbildungskraft in diesem Kontext vgl. auch Makkreel 1990, 53 – 58. An dieser Stelle sei an Goethes berühmte Abgrenzung des Symbols von der Allegorie von 1807 erinnert: „Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so daß der Begriff im Bilde immer noch begränzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sey. Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgeprochen doch unaussprechlich bliebe“ (Goethe 1993, 207).
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freigesetzt wird. Die Unabsehbarkeit der möglichen Denkanregungen bringt es mit sich, dass die möglichen Sinnereignisse nicht antizipiert werden können. Darin sind ästhetische Ideen Ereignisfelder möglicher neuer Regeln. Deshalb beschreibt Kant Kunstwerke gerade darin als „musterhaft“, dass sie nicht nur zu epigonalen „Nachahmung“ führen, bei der der „Geist des Werks […] verloren gehen“ muss, sondern zum zündenden Moment für die „Nachfolge für ein anderes Genie“ werden können, „welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird“, wodurch die Kunst sogleich „neue Regeln bekommt“. Neu sind diese Regeln nicht nur, weil sie sich in der „Abweichung von der gemeinen Regel“ (KU 318) konstituieren. Streng genommen handelt es sich um Regeln der Unnachahmlichkeit, die für das Ausnahmetalent zum Anlass eigener Produktion werden, bei welchen ein Unnachahmliches auf ein anderes Unnachahmliches antwortet.⁴⁰ Ein beredtes Zeugnis davon gibt Joaquim Gasquets Bericht eines gemeinsamen Besuchs im Louvre mit Cézanne.⁴¹ Dass die Einbildungskraft ohne Begriffe eigenmächtig schematisiert, heißt darüber hinaus drittens auch, dass sich die Konstitutionsrichtung umkehrt: Bei der „freie[n] und unbestimmt-zweckmäßige[n] Unterhaltung der Gemütskräfte mit dem, was wir schön nennen“, ist „der Verstand der Einbildungskraft, und nicht diese jenem zu Diensten“ (KU 242; kursiv D. E.). Bei dieser Umkehrbewegung handelt es sich tatsächlich um ein bemerkenswertes Umschlagereignis. Der Verstand, der die freien Formen nicht versteht, muss gleichwohl im Dienste der Einbildungskraft Einheitssynthesis leisten, nicht nur, weil die Vernunft Wohlgefallen am Betrachten solch epistemisch, pragmatisch und sittlich uninteressanter ästhetischer Ideen hat; sondern auch deshalb, weil der Verstand ästhetische Ideen nicht so recht von den reinen Vernunftideen unterscheiden kann, die ebenfalls eine gewisse Unverständlichkeit mit sich führen (Freiheit des Menschen, Unsterblichkeit der Seele, Existenz Gottes, Totalität der Welt). Im Unterschied zur „Unbegreiflichkeit“ beispielsweise der Freiheit, die die Vernunft immerhin in ihrer Unbegreiflichkeit „begreift“ (AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 463), erweist sich die Unbegreiflichkeit der ästhetischen Idee selbst als unbegreiflich. Denn weshalb sollten einige partikulare sinnliche Erfahrungen nicht unter die Prämisse fallen, dass das Sinnlich-Gegenständliche für den Verstand epistemisch zumindest de jure rationalisierbar ist, wenn es stimmt, dass Erscheinungen in aller Regel kategorial synthetisiert werden können? Weil ästhetische Ideen nicht synthetisierbar sind wie sinnliche Erkenntnisse im Allgemeinen, verwickeln jene das
So bezeichnet Kant an einer Stelle den Transformationsprozess, zu dem das Genie fähig ist, als „das Unnachahmliche seines Geistesschwungs“ (KU 318). Vgl. Gasquet/Cézanne 1978.
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Denken in eine „lange Unterhaltung mit der Betrachtung“ (KU 243). Dies geschieht, weil dieser Ideentyp dem kategorisierenden Verstand eine sinnliche Oberfläche präsentiert, die diesem aber verschlossen bleibt. Anders auch als Vernunftideen indes erhalten ästhetische Ideen ihre Tiefe und Undurchdringlichkeit aus dem Sinnlichen. Darin gerade liegt ihr Reichtum an spezifischen „Nebenvorstellungen“, die „nicht die Darstellung eines gegebenen Begriffs selber ausmachen“ (KU 315). Kant selbst betont dies, wenn er die ästhetische Idee das „Gegenstück […] von einer Vernunftidee“ nennt, „welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann“ (KU 314). Umgekehrt dazu also ist die ästhetische Idee das Feld einer offenen Pluralität verwandter Anschauungen, welchen kein Verstandes- und letztlich auch kein reiner Vernunftbegriff (Idee) adäquat sein kann. Was Kant hier bei der Analyse des Gegenstandsbereichs des Geschmacksurteils entdeckt, ist die eigentümliche Differenzierungskraft des Einbildungsvermögens, das in der ersten Kritik unter dem Blickwinkel objektivitätsermöglichender Erkenntnisstrukturen nicht weiter thematisiert werden konnte, bei welchen der transzendentale Dreh- und Angelpunkt nur die beiden reinen Formen der Anschauung Raum und Zeit sowie die kategorial gebundene Spontaneität des Verstandes waren: ausgeblendet musste also bleiben, was „an den Erscheinungen […] niemals a priori erkannt wird, und welches daher den eigentlichen Unterschied des Empirischen von dem Erkenntnis a priori ausmacht, nämlich die Empfindung (die Materie der Wahrnehmung)“, weil „diese es eigentlich sei, was gar nicht antizipiert werden kann“ (KrV A 167/B 208 f.). Zumindest im Bereich der ästhetischen Ideen nun entdeckt Kant die Produktivität dessen, was Merleau-Ponty als das „Eigentümliche des Sehens“ als Chiffre des Sinnlichen überhaupt beschreibt: die „Oberfläche einer unerschöpflichen Tiefe zu sein“.⁴² Auf eine solche „unerschöpfliche Tiefe“ muss sich die denkende Vernunft (qua Verstand) einlassen, wenn ihr die Einbildungskraft ästhetische Ideen vorlegt.
4. Sinnliches Sinnereignis und transzendentales Versteckspiel Doch diese Aufwertung des (anders als Raum und Zeit) unantizipierbaren Sinnlichen stiftet einige Verwirrung innerhalb der fein austarierten transzendentalen Hierarchie;⁴³ dies nicht deshalb, weil die Einbildungskraft die Vernunft offen vor
Merleau-Ponty 1986, 188. Es kommt zu einer Art „Deregulierung“; vgl. dazu Lyotard 1991, 97.
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den Kopf stoßen würde, sondern eher durch eine angenehme Verschiebung der Verhältnisse, die durchaus Wohlgefallen auslöst. Wenn die Vernunft es mit ästhetischen Ideen zu tun hat, konstituiert sie mit einem Mal nicht mehr, sondern spielt. Dadurch, dass die Einbildungskraft etwas hervorbringt, was wie eine Vernunftidee aussieht (obwohl es sinnlich konfiguriert ist), handelt es sich um eine Art Versteckspiel, bei dem die Vernunft nicht recht bemerkt, dass sie plötzlich nur noch spielt und nicht konstituiert. Die Vorstellungen der Einbildungskraft treten gleichsam auf einer Bühne auf, die jene wie Vernunftideen aussehen lässt. Die Aufgabe der Einbildungskraft ist ja gerade nicht mehr zu schematisieren, sondern zu präsentieren und zu individuieren. Dabei bleibt subjektiv betrachtet alles in bester Ordnung. Die „subjektive Zweckmäßigkeit in der freien Übereinstimmung der Einbildungskraft zur Gesetzlichkeit des Verstandes“ vermittelt der Vernunft den Eindruck eines Erkenntnisurteils, nur dass diese „Übereinstimmung“ eine „freie“, d. h. „ungesuchte, unabsichtliche“ (KU 317 f.), man darf auch sagen: unintentionale und damit keinem Interesse der Vernunft dienende ist. Anders formuliert: die Einbildungskraft legt dem Verstand ein Kuckucksei. Sie jubelt der Vernunft qua Verstand etwas unter, worüber dieser nachzudenken hat, ohne doch durch sein Brüten zur Eindeutigkeit der logischen, kategorialen oder praktischen Erkenntnis zu gelangen. Kant selbst bekräftigt diesen coup de théâtre durch die Vorstellungen der Einbildungskraft: Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen, einerseits darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendes wenigstens streben und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt. (KU 314; kursiv D. E.)
Deutlicher: ästhetische Ideen streben wenigstens über die Erfahrungsgrenze hinaus (wollen aber nicht von der Sinnlichkeit loskommen, bestehen sie doch aus eminent sinnlichen Nebenvorstellungen) und sie suchen der Darstellungsform der intellektuellen Ideen nahezukommen (die sie als sinnliche Konfigurale aber nicht sind), was ihnen immerhin den Anschein objektiver Realität reiner Ideen gibt (die sie indes nicht haben). Und Kant fügt hinzu: Vorstellungen der Einbildungskraft könne man „andererseits und zwar hauptsächlich“ Ideen nennen, „weil ihnen als inneren Anschauungen kein Begriff völlig adäquat sein kann“ (ebd.; kursiv D. E.). Die Formulierung verdient Beachtung: ästhetische Ideen sind innere Anschauungen! Was derart anschaulich gegeben ist, muss mehr beinhalten als nur den inneren Sinn der Zeit. Diesen Überschusscharakter ästhetischer Ideen in Bezug auf die reinen Formen der Anschauung hat beispielsweise Rudolf Makkreel herausgearbeitet: „Here there is an excess on the side of what Kant calls „the full inner intuition of imagination“ for which understanding cannot find a determinate
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concept“.⁴⁴ Selbst karikatureske Nebenvorstellungen wie Blitz und Adler sind sinnlich, kulturell und geschichtlich hochkomplexe Elemente, die aus der bloßen Sukzessivität der Zeit und der Extensionalität des Raumes nicht hervorgehen können. Da es sich bei diesen inneren Anschauungen aber auch nicht um empirische Schemate handeln kann, die keine Ideen sind, bleibt nur die Annahme, dass ästhetische Ideen sehr spezifische transzendentale Formen für schöne Dinge sind, also bereits als innere Anschauungen die Unnachahmlichkeit der wirklichen schönen Dinge zumindest virtuell enthalten. Offenkundig ringt Kant um die systematische Stellung ästhetischer Ideen. Um den Zugang zu ästhetischen Ideen adäquater zu beschreiben, bedarf es einer leiblich gefassten Vernunft, die sich auf die sinnlichen Konfigurationen der Einbildungskraft einzulassen vermag, kurz: eine leiblich fungierende Rationalität, die die Einbildungskraft als Teil ihrer selbst anerkennt.⁴⁵ Anders bliebe unverständlich, wie die ästhetische Ideen samt ihrem Geflecht an sinnlich, kulturell und geschichtlich geprägten „Nebenvorstellungen“ rational zugänglich werden, ganz zu schweigen von den wirklichen schönen Dingen, die (wie die Kunstwerke) aus ästhetischen Ideen entspringen oder (wie Naturschönes) durch ästhetische Ideen als schön erkannt werden; nur im Kontakt von Idee und Sinnlichkeit können ästhetische Ideen jene Spezifikation gewinnen, die sie zu individuellen Ideen macht, so individuell wie die Dinge selbst, deren Schönheit sie konfigurieren. Anders kann nicht plausibel werden, weshalb Kunstwerke und Naturdinge mehr als bloße Darstellung einiger weniger Vernunftideen sind. Ästhetische Ideen sind nicht einfach verkleidete Vernunftideen, sondern eigenständige Individuen. – Man kann es leicht sehen oder hören: es sind immer einzelne und unverwechselbare Werke oder Dinge, die viel zu denken geben, nicht (nur) die wenigen abstrakten Ideen, die darin auch entdeckt werden können. Kant selbst legt dies vielleicht nahe, wenn er betont, dass die Kunst nicht nur die transzendentalen Vernunftideen zu „versinnlichen“ suche, sondern „auch das,was zwar Beispiele in der Erfahrung findet, z. B. den Tod, den Neid und alle Laster, imgleichen die Liebe, den Ruhm“, so aber, dass diese „über die Schranken der Erfahrung hinaus […] sinnlich“ gemacht werden, um so neue Anschauungen hervorzubringen, „für die sich in der Natur kein Beispiel findet“ (KU 314). Kant kommt mit der Benennung
Makkreel 1990, 119. Makkreel zitiert aus KU 343: „So wie an einer Vernunftidee die Einbildungskraft mit ihren Anschauungen den gegebenen Begriff nicht erreicht, so erreicht bei einer ästhetischen Idee der Verstand durch seine Begriffe nie die ganze innere Anschauung der Einbildungskraft“ (kursiv D. E.). Eine ähnliche Lesart vertritt auch Lyotard 1991, 86 – 89. Eine umfassende Studie zur Verleiblichung des Idealen bei Kant bietet Nuzzo 2008, insbesondere 268 – 314. Der spezifische Zusammenhang ästhetischer Ideen bleibt indes marginal, wird aber doch in seiner systematischen Tragweite benannt (vgl. dazu Nuzzo 2008, 273).
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solcher spezifischer Konfigurale zumindest in die Nähe des phänomenalen Sachverhalts, dass es stets unverwechselbare, „gänzlich voneinander unterschiedene“⁴⁶ Individualitäten sind, an welchen, genauer: als welche sich ästhetische Ideen zeigen. So viele Werke, so viele ästhetische Ideen – und einige konfigurieren gleich einen ganzen Schwarm dieser eigentümlichen Ideen. Es ist auch nicht so, dass zwei Werke, die beispielsweise die Idee der Freiheit versinnbildlichen, dieselbe ästhetische Idee präsentieren, allein deshalb nicht, weil jedes Konfigural von Sinn und Sinnlichkeit durch die Mannigfaltigkeit des Sinnlichen und die große Zahl an denkbaren Ideen jeweils sehr verschieden von allen anderen Permutationsmöglichkeiten ist. Doch wie gelingt es einer Vorstellung der Einbildungskraft, die Vernunft sinnlich zu beleben, d. h. zu verleiblichen? Kants Antwort lautet bekanntlich: Dadurch, dass der „Geist“ als „das belebende Prinzip im Gemüte“ durch einen „Stoff“ – allesamt in diesem Kontext unterbestimmte Termini – „die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt“ (KU 313), um dadurch das „Gemüt zu beleben“ (KU 315). Was „Geist“, „Stoff“ und deren „belebende Wirkung“ auf das „Gemüt“ genauer meinen, bleibt mit den begrifflichen Mitteln, die uns Kant bietet, schwer fassbar – zumindest dann, wenn man dem transzendentalen Versteckspiel einen positiven Sinn abgewinnen möchte. Merleau-Pontys späte Leerstellenphänomenologie, wie man sie nennen könnte, führt hier einen Schritt weiter. Attraktion üben ästhetische Ideen auf die Vernunft zu einem wesentlichen Teil dadurch aus, dass sie einen noetischen Sogeffekt auslösen, bei dem eine gleichsam verdichtete Leere im Sinnlichen selbst zur Ausdeutung reizt. Dies setzt bei einem Grundaxiom kantischer Philosophie an, bei der Heterogenität von Sinn und Sinnlichkeit.
5. Die Attraktionskraft ästhetischer Ideen auf die Vernunft Kants Konzeption der ästhetischen Idee erfordert zumindest eine Justierung der Heterogenitätsthese aus der ersten Kritik, wonach Sinnlichkeit und Verstand „sich“ zwar im Erkenntnisgegenstand epistemisch „vereinigen […], doch ihren Anteil“ – ontologisch – „nicht vermischen“ (KrV A 51/B 75). Was sich vereinigt, ohne sich zu vermischen, das liegt gewissermaßen hauteng an. Nun lassen Kants Ausführungen zur ästhetischen Idee gerade nicht zu, dass diese Ideen ihre genuin sinnliche Beschaffenheit wie ein Kleid angelegt bekommen, so dass ein idealer Kern von sinnlichen Schichten ummantelt würde. Ästhetische Ideen sind für Kant Proust 1994, 505 (Übers. verbessert, D. E.).
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Gegenstände innerer Anschauung, eigenständige Konfigurationen von Idealität und Sinnlichkeit, die Kraft der ihr eigentümlichen Sinnüberschüssigkeit das Denken intensiv anregen: „Thinking, which is a function of reason, is here occasioned by an excess of intuitive content that cannot be contained within the concepts of the understanding.“⁴⁷ Weil diese Wirkung eine Wirkung des Sinnlichen auf die Vernunft ist, muss man sie – aus transzendentaler Sicht – ein ‚Ereignis’ nennen, denn eigentlich dürfte es so etwas gar nicht geben: echte Ideen, die sinnlich bewirkt werden. Wenn es nun stimmt, dass die Vernunftfunktion des Denkens durch innere Anschauungen motiviert wird, muss die Vernunft auch mit Kant sinnlicher gefasst werden, als es dessen eigene Systematik zumindest an der Oberfläche nahe legt. Von einem solchen Desiderat der Versinnlichung der Vernunft, die nicht als deren Naturalisierung missverstanden werden darf, öffnet sich philosophiegeschichtlich betrachtet ein weites Feld insbesondere der phänomenologischen Erweiterungen und Radikalisierungen (zum einen der transzendentalen Ästhetik im engen Sinne der Kritik der reinen Vernunft und im erweiterten Sinne der Kritik der Urteilskraft). Neben Husserls Erweiterung der transzendentalen Ästhetik hin zu einer Phänomenologie des Leibes und Merleau-Pontys radikalisierender Rezeption eben dieses Ansatzes im Frühwerk⁴⁸ geben vor allem Merleau-Pontys späte Ausführungen zur ästhetischen Idee bei Proust Anlass, auch Kants Konzeption der ästhetischen Idee vor dem Hintergrund leibphänomenologischer Prämissen zu interpretieren.⁴⁹ Die kantische Einsicht, wonach ästhetische Ideen primär sinnlich konfiguriert sind und dem Verstand deshalb eine unlösbare Aufgabe stellen, reformuliert Merleau-Ponty, als er über die idée musicale bei Proust nachdenkt, indem er festhält: Es „lassen sich diese unsichtbaren Wesen und Ideen nicht wie jene der Wissenschaft von den sinnlichen Erscheinungen loslösen“.⁵⁰ Es lassen sich gerade diese Ideen nicht von ihrer ästhetischen Gegebenheit wie ein Kleid loslösen, weil sie nur als sinnliche Ideen kon-figuriert werden können, d. h. dass das Sinnliche in die Idee, und die Idee in das Sinnliche hineinfiguriert wird, so dass sie sich in der Erscheinung nicht nur „gleichsam einander begegnen“ (KrV A
Makkreel 1990, 121 (kursiv D. E.). Vgl. Husserl 1963, 173; Husserl 1952, 55 – 97 u. 143 – 161; Merleau-Ponty 1945. Die Parallelen zwischen den drei Konzeptionen Kants, Prousts und Merleau-Pontys sind offenkundig. Eine präzise und äußerst instruktive Studie zu diesem Thema findet sich bei Carbone 2001, 151– 170. Carbone kommt zum Ergebnis, dass Merleau-Pontys Reflexion, die häufig ablehnend auch in Bezug auf die Kritik der Urteilskraft verfährt, „aurait en somme pu trouver pour sa propre réflexion sur le ‚lien de la chair et de l’idée’ […], un interlocuteur plus proche et plus stimulant qu’elle ne l’aurait pensé“ (Carbone 2001, 170). Merleau-Ponty 1986, 196.
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92/B 124; kursiv D. E.), sondern tatsächlich kreuzen. Diese „Ideen“ zumindest, so Merleau-Ponty, „würden nicht besser von uns erkannt, wenn wir keinen Leib und keine Sinnlichkeit hätten; sie wären dann unzugänglich“.⁵¹ Dem stimmt auch Kant zu, der erklärt, dass „Schönheit nur für Menschen“ möglich sei, also für „vernünftige Wesen, aber auch nicht bloß als solche (z. B. Geister), sondern zugleich als tierische“ Wesen (KU 210). Nur dem Zwitter eines tierischen, d. h. leiblichen Vernunftwesens, wie es der Mensch ist, sind auch die Zwitterwesen ästhetischer Ideen zugänglich, nämlich als Differenzerfahrung ganz eigener Art. Genau diese beschreibt Merleau-Pontys Leitmetapher des Chiasmus, der eine Berührungs-, aber keine Fusionsfigur darstellt, auch wenn Merleau-Ponty über dem Kreuzungspunkt zuweilen die voneinander wegstrebenden Linien zu vergessen scheint, welche doch gerade aus dem Schnittpunkt der Indifferenz einen Chiasmus hervorgehen lassen. Anders als im Fokus seiner Ontologie des wilden Seins, die auf einen sinnlichen Monismus zielt (soweit uns dies die fragmentarische Textlage überhaupt absehen lässt), bringt Merleau-Pontys chiastische Ontologie, die eine Leerstellenphänomenologie impliziert, eine bemerkenswerte Variante der kantischen Heterogenitätsthese. Beeinflusst durch Proust beschreibt Merleau-Ponty die ästhetische Idee als eine „abscence circonscrite“,⁵² als präzise „umschriebene Abwesenheit“. Gemeint ist der sinnliche Schattenriss, die sinnlich unsichtbare Anwesenheit der Idee innerhalb der sinnlichen Präsenz des Wahrgenommenen. „Wir sehen die Ideen nicht, wir hören sie nicht, nicht einmal mit dem Auge des Geistes oder mit dem dritten Ohr: und doch sind sie da, hinter den Tönen oder zwischen ihnen“. Die ästhetische Idee der petite phrase de Venteuil zeige sich deshalb nur indirekt als eine „Furche“, die das Sinnliche durchziehe, als eine „gewisse Höhlung, eine gewisse Abwesenheit, eine Negativität, die nicht nichts ist, da sie sehr genau begrenzt ist auf diese fünf Noten, zwischen welchen sie sich herausbildet“.⁵³ Weil diese Idealität strictu sensu nicht direkt hörbar ist, kann sie das Sinnliche organisieren und beleben. Zu denken nun gibt das Sinnliche gerade aufgrund dieser ihm eingeschriebenen lateralen „Negativität, die nicht nichts ist“, sondern ein noch unbestimmtes Etwas im Wartestand. Man darf sich die belebende Krafteinwirkung der ästhetischen Idee auf die Vernunft als eine Attraktion durch eine gewisse Leere dessen, was im Sinnlichen noch zu denken bleibt,vorstellen. Der Sinn der ästhetischen Idee ist, so lassen sich Merleau-Pontys Beschreibungen lesen, wie ein Unterdruck, der gleichsam das Denken und damit
Merleau-Ponty 1986, 196, Übers. verändert, D. E. Merleau-Ponty 1964, 196. Merleau-Ponty 1986, 197.
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die Vernunft anzieht.⁵⁴ Dieser unsinnliche Unterdruck wird mit den Mitteln der Sinnlichkeit hergestellt, er entsteht im hör- oder sichtbaren Material selbst. Was derart anzieht, zieht an, weil es sich dort sinnlich zugleich entzieht. Indem Swann versucht, dem Sinn, der sich diakritisch „zwischen den fünf Noten“⁵⁵ sinnlich anbietet, mit den Mitteln des Verstandes analytisch habhaft zu werden, muss er feststellen, dass der Sinn ihm entweicht. Das ist deshalb so, weil sich der Sinn ästhetischer Ideen nur lateral in unintentionaler Aufgeschlossenheit zeigt, die ohne Erkenntnis- und Handlungsinteresse die Sache selbst hervorkommen lässt. In einer Anverwandlung von Prousts Wort möchte ich ästhetische Ideen deshalb als „êtres de fuite“,⁵⁶ als Fluchtwesen, bezeichnen: wie Albertine, die selbst (und gerade) als Gefangene für Marcel unbeherrschbar und darin begehrenswert bleibt, flieht die ästhetische Idee aus den Fängen der rationalen Fixierung. Diese Analogie mit dem individuellen Personal der Recherche ist von Proust gewollt: er nennt die mehrdeutigen, bedeutungsflüchtigen musikalischen Motive an einer Stelle „phrases fugitives“.⁵⁷ Diese Intentionalitätsflüchtigkeit ist es, die ein belebendes Wohlgefallen an einer „neuen Schönheit“⁵⁸ mit sich bringt. Kantisch gedacht handelt es sich bei dieser Paradoxie um eine belebende, weil produktiv gewendete Antinomie der Vernunft. An der Analysesituation nun, bei der Swann die ästhetische Idee entweichen muss, wird zweierlei deutlich: zum einen ist die ästhetische Idee ein chiastisches Differenzgebilde, in dem sich Sinn und Sinnlichkeit berühren oder kreuzen, ohne sich doch letztlich zu vermischen, ohne dass also Sinn auf die Sinnlichkeit (und umgekehrt) zurückgeführt werden kann; zum anderen kann die Sinndimension der ästhetischen Idee gleichwohl nicht an der Sinnlichkeit vorbei, also intentional Wollte man diesen Gedanken systematisch weiterführen, müsste man sagen, dass es dieser Sinn ist, der als Vernunftattraktion meinen Leib ins Geschehen mit hineinzieht, dass also die Vernunft letztlich Teil der Leerstelle oder Offenheit wäre, die wie ein Vakuum zwei sinnliche Ebenen – die schönen Dinge und meinen Leib – zusammenhält. In diese Richtung weist eine ähnliche Metapher, die Merleau-Ponty für den chiastischen Kreuzungspunkt autoaffektiver Leiberfahrungen gebraucht: Berühre oder höre ich mich, dann kommt es nicht zu der von Husserl beschriebenen „Doppelempfindung“ (Husserl 1952, 147), die eine reine autoaffektive Selbstpräsenz wäre, sondern zu einem „Hiatus“ zwischen der berührenden und der berührten Hand; hier macht sich geltend, dass „ich niemals zu einer Koinzidenz [komme]“ (Merleau-Ponty 1986, 194; Übers. verändert, D. E.). Was sich so zwischen dem aktiven und dem passiven Leibpol auftut (Berühren und Berührtwerden, Sprechen und Hören, etc.), sei aber keine „ontologische Leere“, sondern „der Drucknullpunkt zwischen zwei festen Körpern, der bewirkt, daß sie wechselseitig aneinander haften“ (Merleau-Ponty 1986, 194 f.), also zwei Seiten desselben Seins sind. Proust 1994, 505. Proust 1988, 600 (Stelle in der Übersetzung: Proust 2000, 127). Proust 1987, 206 (Stelle in der Übersetzung: Proust 1994, 306). Proust 1994, 306.
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direkt durch den Verstand, erfasst werden, sondern zeigt sich nur lateral, indem man sich auf die sinnliche Präsenz und Partikularität der Erfahrung einlässt, um so gewissermaßen an der Idee vorbei- und auf das Gesamtkonfigural hinzuhören. Die Idee entzieht sich, wenn man sie rein zu fassen versucht, und ist da, wenn man sie frei lässt, sinnlich zu erscheinen. Der Vorzug einer solchen Leerstellenphänomenologie ist, dass die hermeneutische Dynamik, der intellektuelle Sog, der von mehrdeutigen Objekten wie Kunstwerken ausgeht,verständlicher wird als dies durch eine einseitig präsenzorientierte Theorie des Sinns möglich wäre, von dem man nicht wüsste, wie er noch sinnlich konfiguriert werden könnte oder dies überhaupt bräuchte.⁵⁹ Auch darin bleibt Merleau-Ponty auf den letzten Seiten des Nachlasstextes über Das Sichtbare und das Unsichtbare der Kritischen Philosophie Kants verpflichtet: die Heterogenität von Sinn und Sinnlichkeit wird nicht eingeschmolzen. Und obwohl Merleau-Ponty der Sinnlichkeit als ausgezeichnetem Ort der Sinnpräsentation den Vorrang gibt, führt dies nicht dazu, dass der Sinn, der nur im Sinnlichen erfahrbar ist, sinnlich naturalisiert würde. Eine grundsätzliche Differenz von Sinn und Sinnlichkeit bleibt bestehen. Dies gilt zumindest für die phänomenologische Beschreibung, die (von Merleau-Ponty durchaus uneingestanden) stets schon jenseits eines präobjektiven wilden Seins ansetzen muss, nämlich teilweise im Medium des Begriffs. Für leibliche Vernunftwesen, die dem Denken nicht im Sinnlichen entkommen, sondern dieses ganz im Gegenteil „viel zu denken veranlasst“ (KU 314; kursiv D. E.), ist eine solche Ontologie der vorgängigen Indifferenz eines elementaren wilden Seins, wie sie Merleau-Ponty zuweilen träumt, verschlossen. Wie eine solche Vermischung ontologisch aussehen sollte, davon lässt sich, wenn überhaupt, nur lateral handeln. Man müsste beschreiben, wie die undifferenzierte Einheit von Sinn und Sinnlichkeit war, bevor sie in eine phänomenologisch einholbare Struktur, d. h. Differenz zerfällt. Diese begriffliche Grenze des Sinns im Sinnlichen wird deshalb bei Kant anders als bei MerleauPonty mit den Mitteln der Rationalität abgeschritten, so aber, dass Kant ein transzendentales Umschlagmoment, bei dem die Vernunft sinnlich spielt, anerkennt.
Der Preis, den Merleau-Ponty für das Primat des Sinnlichen indes entrichtet, wodurch der Sinn gewissermaßen in die Abstände zwischen den sinnlich anwesenden Elementen abgedrängt wird, ist hingegen, dass Sinn als sinnliche Leerstelle tendenziell unterbestimmt bleibt. Die eigene Realität und Fülle des Sinns, von der Proust immer wieder schreibt, bleibt damit nur negativ fassbar. Zu neueren Konzeptionen der Positivität eines genuin sinnlichen Sinns der Kunst vgl. Deleuze 2002, Mersch 2002 oder Figal 2010. Alle diese Positionen integrieren auch einen Aspekt der Negativität.
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Durch die Unfixierbarkeit der Schönheit selbst begreift die Vernunft ihr leibliches, d. h. endliches Wesen, und dies unverstellter als im Ungang mit Verstandeserkenntnissen. Während diese nämlich die Endlichkeit des Vernunftsubjekts eher eskamotieren, da sie von der Vernunftidee einer vollständigen und unendlichen Bestimmbarkeit prospektiv angetrieben werden, sind Geschmacksurteile frei von solcher Teleologie. Die schöne Zweckmäßigkeit ohne Zweck durchkreuzt die antizipatorisch-epistemischen Verstandesintentionen sowie die praktischen Vernunfthoffnungen. Schönheit gibt es nicht prospektiv, sondern nur im Augenblick. Schönheit kann sich erst dadurch zeigen, dass dem sinnlichen Sinnhaften keine totalisierende Perspektive regulativer Vernunftideen übergestülpt wird, die in eine Zukunft vorgeblich vollkommener Bestimmtheiten reichen. Während das Erkenntnisinteresse, sittliche Pflichten oder pragmatische Interessen dazu auffordern, Methoden, Maximen und Pläne zu entwerfen, durch die wir die Erfahrung formen (Erkenntnisurteile) oder gar darauf einwirken (sittliche, hypothetisch-pragmatische und kategorische Imperative), erweisen uns die schönen Dinge die „Gunst“ (KU 210), für Augenblicke zugleich vernünftig und leiblich sorglos sein zu dürfen. Dann ist es so, dass Vernunft und Leib, ohne in Interessenskonflikte miteinander zu geraten, „in die Welt passen“. Antizipierbar ist solche Gunst nicht, sie ereignet sich als transzendentale Befreiung, durch welche die Sensibilität fürs Sinnliche zu ihrem vernünftigen Recht kommt.
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Michela Summa
Ein sinnloses Gewühl? Die Hypothese des Chaos und ihre Implikationen bei Kant und Husserl Die Bestimmung der Rolle der Sinnlichkeit in ihrem Verhältnis zum begrifflichen Denken ist zentral für die Analyse des Verhältnisses zwischen Husserl und Kant, und dies insbesondere in Bezug auf deren Verständnis der Transzendentalphilosophie und der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung und Erkenntnis. Trotz der Anerkennung der „einzigartigen Genialität“ Kants¹ äußert sich Husserl nämlich kritisch sowohl gegenüber Kants Verständnis des Umfangs der transzendentalen Ästhetik als auch gegenüber der damit verbundenen Theorie der sinnlichen Erfahrung.² Diese Kritiken münden oft in eine allgemeinere Beurteilung der kantischen Transzendentalphilosophie, die formell und konstruktiv angelegt sei, und betonen somit den Kontrast zum rein deskriptiven Verfahren der Phänomenologie.³ Die Rolle der Sinnlichkeit und ihr Verhältnis zum begrifflichen Denken lassen sich sowohl bei Kant als auch bei Husserl anhand des Problems der sinnlichen Regelmäßigkeit oder sinnlichen Ordnung durchdenken. Die leitenden Fragen der vorliegenden Untersuchung, die wir sowohl an Husserls als auch an Kants Texte richten werden, beziehen sich gerade auf dieses Problem und können folgendermaßen formuliert werden: Lässt sich eine immanente und von höheren kognitiven Leistungen unabhängige Regelmäßigkeit im sinnlichen Bereich anerkennen? Ist diese Regelmäßigkeit nur aposteriorisch festzulegen oder stellt sie vielmehr einen wesentlichen Zug der Erfahrung dar, ohne den keine Erkenntnis möglich wäre? Welche Implikationen hat die jeweilige Auffassung der sinnlichen Regelmäßigkeit für das kantische und husserlsche Verständnis der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung und Erkenntnis? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich a contrario argumentieren und das Problem der Regelmäßigkeit im sinnlichen Bereich bei Kant und Husserl anhand der Hypothese ihres Mangels, d. h. anhand der Hypothese des Chaos,
Husserl 1952, 30. In den Cartesianischen Meditationen betont Husserl z. B., dass die Betrachtungen über Raum und Zeit in der Transzendentalen Ästhetik der ersten Kritik zwar auf ein „noematisches Apriori hinzielen“ und somit den Raum für eine eigentliche Phänomenologie der Konstitution eröffnen, aber nur in „außerordentlich beschränkter und nicht abgeklärter Weise“ (Husserl 1950a, 173). Vgl. diesbezüglich vor allem Husserl 1956, 208 f. u. 350 f. sowie Husserl 1974, 296 – 298 u. 447 f.
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verfolgen. Diese Analyse ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen ermöglicht uns die Überlegung zur Regelmäßigkeit bzw. zur Annehmbarkeit oder Unannehmbarkeit des Chaos im sinnlichen Bereich, einige Aspekte der phänomenologischen Kritik an Kant zu hinterfragen. Zum anderen, und theoretisch wichtiger, wird uns die Revision einer solchen Kritik ermöglichen, das Problem der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung und Erkenntnis nicht anhand des Gegensatzes zwischen beiden Positionen, sondern vielmehr mit Husserl und Kant erneut zu erörtern. Unsere Fragestellung bezüglich der Regelmäßigkeit oder Ordnung im sinnlichen Bereich lässt sich an drei Aspekten der husserlschen Kritik an Kant genauer erklären, die in der phänomenologischen Literatur von verschiedenen Autoren aufgenommen wurden. Der erste Aspekt betrifft die Bestimmung der Regelmäßigkeit im sinnlichen Bereich als a priori oder aber a posteriori. Bezüglich der Empfindungen oder der „Materie“ der Erscheinungen spricht sich Kant sehr deutlich für die These aus, dass sie nur a posteriori gegeben sein können und dass nur die Formen des inneren und äußeren Sinnes konsequenterweise das Apriori in der transzendentalen Ästhetik ausmachen (KrV B 34/A 20). In diesem Sinne scheint Kant das Apriori eben formal zu verstehen, d. h. als bezogen auf die Formen und nicht auf die „Materie“ der Erscheinungen.⁴ Husserl besteht stattdessen darauf, dass es ein „materiales Apriori“ gibt, das sich nicht formalisieren lässt und eben die Gesetzmäßigkeit des Zusammenhanges von Inhalten ausmacht.⁵ Diesbezüglich ist aber zunächst fraglich, ob Kant und Husserl mit Form und Formalisierung dasselbe meinen.⁶ Und ferner stellt sich die Frage, ob Kants Bemerkungen bezüglich der sinnlichen Regelmäßigkeit nur als empirisch zu verstehen sind oder ob sie einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben. Letzteres würde implizieren, dass die materiellen eidetischen Gesetze im Sinne Husserls zwar nicht thematisch, aber möglicherweise operativ auch bei Kant zu finden sind. Der zweite Aspekt betrifft den Zusammenhang zwischen Subjektivität und Apriori. Husserl kritisiert diesbezüglich Kants Position, nach der das Apriori auf den Strukturen der menschlichen Subjektivität beruht und daher a parte subjecti bestimmt wird. Damit verbindet sich die bekannte Anthropologismuskritik, die sich vor allem auf die Lehren des intellectus archetipus, des Dings an sich und der Vermögen des menschlichen Gemüts richtet.⁷ Kurz formuliert: Für Husserl im-
Vgl. dazu Kern 1964, 55 f. und De Palma 2001. Vgl. Husserl 1984, 255 f. Ich werde dieses Problem in diesem Aufsatz nicht ausführlich diskutieren können. Für eine genauere Diskussion vgl. Summa 2014b, Kapitel 2. Vgl. dazu Husserl 1956, 208 f. u. 357 f.
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pliziert die Bestimmung des Apriori anhand von subjektiven Strukturen (also anhand der faktischen menschlichen Vermögen) eine Begrenzung des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit und somit auch eine letztendlich kontradiktorische Relativierung des Apriori selbst. Dagegen versteht Husserl die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Apriori, das für ihn gleichbedeutend mit den eidetischen Gesetzen ist, als Gültigkeit für jedes mögliche und auch nur denkbare Subjekt.⁸ In diesem Sinne lässt sich das Apriori nicht anhand der faktischen Strukturen der Subjektivität bestimmen, sondern muss a parte objecti bestimmt werden, d. h. anhand der Strukturen des Erscheinenden als solchen. Für die Frage nach der Regelmäßigkeit bedeutet dies eine unterschiedliche Auffassung der Ursprungsstätte der Ordnung: Während die Regelmäßigkeit bei Kant erst in den Leistungen der transzendentaler Apperzeption zu finden ist, gründet sie sich bei Husserl auf die innere Selbststrukturierung von sinnlichen Inhalten.⁹ Der dritte Aspekt der husserlschen Kritik schließlich betrifft das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand oder Sinnlichkeit und begrifflichem Denken. Husserl versteht dieses Verhältnis anhand einer geschichteten Architektonik der Erfahrung.¹⁰ Innerhalb dieser Architektonik bezeichnet die Sinnlichkeit einen autonomen Bereich der Konstitution, der durch eine selbstständige Regelmäßigkeit gekennzeichnet ist und als solcher für das begriffliche und prädikative Denken als fundierend gilt. Dagegen ist die Sinnlichkeit bei Kant ein heteronomer Bereich der Erfahrung, denn seine Gesetzmäßigkeit kann erst aus den Kategorien des Verstanden gerechtfertigt werden. Damit verbindet sich der berühmte Gegensatz zwischen der Idee einer Fundierung von Erfahrung und Erkenntnis von unten bei Husserl und der Idee ihrer Rechtfertigung von oben bei Kant.¹¹ Bei der Betrachtung der Positionen von Kant und Husserl bezüglich der Regelmäßigkeit der Erfahrung soll besonders die Tragweite dieser Gegenüberstellung überprüft werden. Dabei werde ich die These vertreten, dass die beiden Herangehensweisen der Fundierung von unten und der Rechtfertigung von oben sich nicht notwendigerweise wechselseitig ausschließen. Die Betrachtung der Hypothese des Chaos soll es uns im Folgenden ermöglichen, die Tragweite dieser drei Aspekte der husserlschen Kritik an Kant zu
Vgl. Husserl 1950b, 51– 52 u. Husserl 1974, 255 (Fußnote). So ist z. B. die These berühmt geworden, nach der die Gesetze der Perspektivität der Wahrnehmung auch für Gott gelten müssten, wenn sich Gott überhaupt als wahrnehmendes Subjekt verstehen ließe. Vgl. Husserl 1976, 350 f. Vgl. dazu Costa 1999 u. 1998, De Palma 2001 und Pradelle 2000, 2012. An anderer Stelle habe ich versucht, diesen Begriff auch für Kants Auffassung des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Analytik anhand des Beispiels des Raumes anzuwenden. Vgl. dazu Summa 2014a. Diese Kritik ist besonders für die Argumentation von Pradelle 2000 grundlegend.
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überprüfen. Sowohl bei Kant als auch bei Husserl verbindet sich nämlich die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis mit dieser Hypothese, die als kontrafaktisch zu betrachten ist. Angenommen, dass es de facto eine gewisse Regelmäßigkeit in den Erscheinungen gibt, so stellt sich die Frage, ob Erfahrung und Erkenntnis noch möglich wären, wenn die Erscheinungen unregelmäßig, d. h. chaotisch, gegeben wären. Die Implikationen dieser Hypothese verbinden sich mit den drei erwähnten Aspekten der Kritik Husserls. Wir werden uns nämlich jeweils fragen müssen: (1) Gilt die erwähnte Regelmäßigkeit nur de facto oder ist sie als eine notwendige Bedingung der Erfahrung und der Erkenntnis anzusehen? (2) Lässt sich diese Regelmäßigkeit entweder a parte subjecti oder a parte objecti bestimmen? (3) Lässt sich diese Regelmäßigkeit innerhalb der Sinnlichkeit begründen oder braucht sie die begrifflichen Leistungen des Verstandes? Die Konsequenzen, die Kant und Husserl jeweils aus der Hypothese des Chaos ziehen, scheinen zunächst die erwähnten Unterschiede zwischen ihren Positionen zu bestätigen, insbesondere aber den Gegensatz zwischen einer Rechtfertigung der Erkenntnis von oben (bei Kant) und ihrer Fundierung von unten (bei Husserl).¹² Dennoch bietet die aufmerksame Analyse der Hypothese des Chaos auch Anhaltspunkte, um diese strikte Gegenüberstellung zu hinterfragen. Ziel meiner Argumentation ist es daher zu bestimmen, inwiefern die Konsequenzen, die wir aus Husserls und Kants Betrachtungen der kontrafaktischen Hypothese des Chaos ziehen können, uns einen neuen Blick auf die Konzeptionen der Strukturen der Erfahrung und ihrer Möglichkeitsbedingungen bei beiden Denker eröffnet. Zu diesem Zweck werden im ersten Abschnitt die Stellen in der Kritik der reinen Vernunft diskutiert, in denen die Hypothese vom Chaos auftaucht. Die Auslegung dieser Stellen ist von der Annahme geleitet, dass das Chaos sich aus einem Mangel an Synthesis ergeben würde und dass es daher möglich ist, verschiedene Stufen des Chaos in Zusammenhang mit den Synthesen, die Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet, anzuerkennen. Dieses Muster wird im zweiten Abschnitt auch für die Analyse der Hypothese vom Chaos bei Husserl angewendet. Wir werden uns dabei vor allem auf die Erwägung der Möglichkeit eines generalisierten Chaos konzentrieren, die von Kant in der ersten Kritik nicht thematisiert wird. Anhand der Unterscheidung zwischen der prinzipiellen
Das wurde von Pradelle prägnant formuliert: „On voit toute la différence qui sépare chez Kant et Husserl l’affirmation selon laquelle les intuitions sensibles doivent être conformes aux conditions de la synthèse: chez le premier, cela signifie que les catégories prescrivent „d’en haut“ (von oben an) aux intuitions une affinité transcendantale qui les rendent susceptibles d’être synthétisées; chez le second, qu’il y a faillite de l’expérience si les intuitions s’écoulent regellos, de sorte que la règle d’unification est toujours prescrite „d’en bas“ (von unten auf) par les contenus sensibles“ (Pradelle 2000, 59).
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Denkbarkeit eines solchen generalisierten Chaos und seiner effektiven Unrealisierbarkeit wird sich zeigen, dass Husserls Argumentation sich letztendlich auf das Faktum der Welterfahrung stützt. Dieses Faktum ist aber nicht als bloß empirische Tatsache zu betrachten, sondern birgt eine apriorische Notwendigkeit in sich, die sich mit dem Apriori der Korrelation deckt. Zum Schluss sollen die Implikationen der Überlegungen zur Hypothese des Chaos in Bezug auf die drei oben erwähnten Aspekte von Husserls Kritik an Kant diskutiert werden.
1. Die Hypothesen des Chaos in der Kritik der reinen Vernunft Als Teil der Argumentation für die apriorischen Bedingungen der Erkenntnis soll die Hypothese des Chaos in der Kritik der reinen Vernunft in enger Verbindung mit Kants Auffassung der Synthesis betrachtet werden. Wenn Synthesis nämlich das Prinzip der Ordnung und der Einheitsbildung ist, dann entsteht das Chaos aus einem Mangel an Synthesis. Im Folgenden möchte ich die These vertreten, dass die Hypothese des Chaos sich im Zusammenhang mit den drei Synthesen, die Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet, verstehen lässt. Im Deduktionskapitel der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bemerkt Kant, dass die einzelnen Vorstellungen nicht als „ganz fremd“, „isoliert“ oder „getrennt“ voneinander auftreten können, wenn Erkenntnis überhaupt möglich sein soll. Denn Erkenntnis ist gerade „ein Ganzes, verglichener und verknüpfter Vorstellungen“ (KrV A 97). Daraus folgt, dass Erkenntnis nur aus der Verbindung von Spontaneität und Rezeptivität entstehen kann und dass eine Synthese schon der Synopsis der Anschauungen entsprechen muss.¹³ Spontaneität wird daher als der Grund einer dreifachen Synthesis betrachtet, „die notwendiger Weise in allem Erkenntnis vorkommt: nämlich, der Apprehension der Vorstellungen, als Modifikationen des Gemüts in der Anschauung, der Reproduktion derselben in der Einbildung und ihrer Rekognition im Begriffe“ (KrVA 97 f.). Die erste Synthese, die der Apprehension, ist zur einheitlichen Anschauung der sinnlichen Mannigfaltigkeit erforderlich (vgl. KrV A 99). Die zweite Synthese, die der Reproduktion, bezieht sich auf die empirischen Gesetze der Assoziation, die es uns zum Beispiel ermöglichen, die Vorstellung eines Anwesenden mit der Vorstellung eines Abwesenden zu verbinden. Der a priori Grund dieses empirischen Gesetzes ist die
„Wenn ich also dem Sinne deswegen, weil er in seiner Anschauung Mannigfaltigkeit enthält, eine Synopsis beilege, so korrespondiert dieser jederseits eine Synthesis und die Rezeptivität kann nur mit Spontanität verbunden Erkenntnisse möglich machen“ (KrV A 97).
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rein transzendentale Synthese der Einbildungskraft (vgl. KrV A 101 f.). Die dritte Synthese, die der Rekognition, ermöglicht die Bestimmung des Gegenstandes und somit seine eigentliche Erkenntnis durch die Einheit des Begriffs (vgl. KrV A 103 ff.). Obwohl Kant den Zusammenhang zwischen diesen drei Synthesen und dem Chaos (also dem Mangel einer oder mehrerer der Synthesen) selbst nicht explizit diskutiert, kann eine Prüfung dieses Zusammenhangs fruchtbar für die Beleuchtung der Vielschichtigkeit der Hypothese des Chaos und ihrer Konsequenzen sein. Die erste Stelle, die ich hier betrachten möchte, ist der Paragraph 13 der Deduktion, der sich auf den Zusammenhang zwischen den Kategorien des Verstandes und dem Gegenstand der Anschauung konzentriert. Das Chaos, das in diesem Zusammenhang in Betracht kommt, entspricht dem Mangel der dritten Synthese, nämlich der Synthese der Rekognition. In diesem Kontext bemerkt Kant zunächst, dass eine Diskrepanz in der Art und Weise besteht, wie die Formen der Anschauung (Raum und Zeit) einerseits und die Kategorien des Verstandes andererseits auf Gegenstände bezogen sind. Wie in der Transzendentalen Ästhetik begründet, müssen Raum und Zeit sich notwendigerweise auf Gegenstände beziehen, da sie die apriorischen Formen aller Anschauungen sind, ohne welche keine Einheitsbildung überhaupt möglich wäre. Nur dank der reinen Formen der Sinnlichkeit kann nämlich ein „Gegenstand“ – oder besser: das Objekt der empirischen Anschauung – als solcher erscheinen. Das ist aber nach Kant für die Kategorien nicht der Fall: Die Kategorien des Verstandes dagegen stellen uns gar nicht die Bedingungen vor, unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben werden, mithin können uns allerdings Gegenstände erscheinen, ohne dass sie sich notwendig auf Funktionen des Verstandes beziehen müssen, und dieser also die Bedingungen derselben a priori enthielte. (KrV B 122/ A 89).
Kant verdeutlicht diesen Gedanken am Beispiel der Kategorie der Kausalität.Wenn Erscheinungen den Einheitsbedingungen des Verstandes nicht nachkommen würden, wären wir mit einer Verwirrung konfrontiert, die die Erkenntnis einer synthetischen Gesetzmäßigkeit (in diesem Beispiel der kausalen Gesetzmäßigkeit) unmöglich machen würde. In diesem Fall wären die Begriffe von Ursache und Folge leer oder bedeutungslos (KrV B 123/A 90 f.). Nichtsdestoweniger betont Kant anschließend, dass Erscheinungen auch ohne diese begriffliche Einheit unserer Anschauung „Gegenstände“ darbieten würden. Aus diesen Bemerkungen lassen sich zwei Thesen entnehmen. Einerseits behauptet Kant, dass ein chaotisches Agglomerat von Erscheinungen sich aus der mangelnden Einheit der Kategorien des Verstandes ergeben würde. Alles läge
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nämlich, wie Kant schreibt, in Verwirrung. Andererseits aber würden Erscheinungen „nichts destoweniger unserer Anschauung Gegenstände darbieten, denn die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise“ (ebd.). Trotz des Mangels an der begrifflichen Synthesis der Rekognition wäre daher die Anschauung von Gegenständen noch möglich.Wie kann sich diese Anschauung aber rechtfertigen, wenn wir annehmen, dass alle Erscheinungen ohne Leistung der Kategorien in Verwirrung lägen? Um diese Frage zu beantworten müssen wir zunächst betonen, dass die Anschauung eines Gegenstandes noch nicht die Erkenntnis desselben enthält und dass der „Gegenstand“,von dem hier die Rede ist, konsequenterweise nicht als der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis betrachtet werden kann. Denn Erkenntnis beruht notwendigerweise sowohl auf der Anschauung als auch auf dem Begriff (KrV B 125 ff./A 92 ff.), und in diesem Fall fehlt die zweite Bedingung. Es kann sich daher in diesem Fall nur um den unbestimmten Gegenstand (oder Erscheinung) handeln, von dem Kant am Anfang der Transzendentalen Ästhetik in Bezug auf die empirische Anschauung spricht (KrV B 34/A 20). Dieser Gegenstand soll, wie Michel Fichant betont, als das ob-jectum, d. h. als das „Gegenüber“, einer Anschauung betrachtet werden, das aber noch nicht im strengen Sinne objektiviert oder durch den Begriff bestimmt ist.¹⁴ Ohne Leistung der Kategorien des Verstandes würden wir daher zwar unbestimmte Gegenstände anschauen. Dennoch wäre eine solche Anschauung an sich weder Erkenntnis noch Bestimmung eines Gegenstandes. Aber bedarf die Anschauung von unbestimmten Gegenständen nicht selbst einer gewissen Regelmäßigkeit? Wenn das der Fall ist, wie die zitierten Anmerkungen Kants suggerieren, dann entsteht aus der mangelnden Leistung des Verstandes kein generalisiertes Chaos. Selbst ohne die einheitliche Ordnung der Kategorien bleibt nämlich eine minimale Ordnung der Sinnlichkeit übrig, die die Anschauung von unbestimmten Gegenständen ermöglicht.Vor der Diskussion der Implikationen dieser These soll eine andere Stelle in der Kritik der reinen Vernunft in Betracht gezogen werden, in der die Hypothese des Chaos in anderer Hinsicht erwogen wird. Die zweite Hypothese des Chaos wird von Kant nach der Unterscheidung der dreifachen Synthese in der ersten Auflage der Kritik erörtert. Dieses Chaos entsteht aus dem Mangel der zweiten Synthese, d. h. der Synthese der Reproduktion durch die Einbildungskraft. Kant verdeutlicht diese Hypothese am Beispiel der Erscheinungen des Zinnobers. Würden die Erscheinungen des Zinnobers regellos aufeinander folgen, zum Beispiel wäre der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald
Vgl. Fichant 1997.
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leicht, bald schwer, dann könnte die empirische Einbildungskraft die Vorstellung des Rotes nicht mit derjenigen der Schwere assoziieren (vgl. KrV A 100 f.). Aus dem Mangel der Synthese der Reproduktion würde sich daher ein Chaos ergeben, das sowohl die Erkenntnis als auch die Einheitsbildung der Vorstellungen eines unbestimmten Gegenstandes unmöglich machen würde. Daher müssen Erscheinungen auch in diesem Fall einer beständigen Regel der Verknüpfung unterworfen sein. Die Synthese der Reproduktion kann aber ihre Leistung nur dann vollziehen, wenn Erscheinungen nicht regellos sind und das bedeutet, dass die grundlegende Regelmäßigkeit im Nacheinander und im Zusammenhang der Erscheinungen als Bedingung für die empirische Synthesis der Reproduktion gilt (vgl. KrVA 100).Wie Kant in der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe detaillierter ausführt, ist diese Regelmäßigkeit der Assoziation der empirische und subjektive Grund der Reproduktion. Ohne diese Regelmäßigkeit bliebe nur ein regelloser Haufen von Vorstellungen: Weil aber, wenn Vorstellungen, so wie sie zusammen geraten, einander ohne Unterschied reproduzierten, wiederum kein bestimmter Zusammenhang derselben, sondern bloß regellose Haufen derselben, mithin gar kein Erkenntnis entspringen würde; so muss die Reproduktion derselben eine Regel haben, nach welcher eine Vorstellung vielmehr mit dieser, als einer andern in der Einbildungskraft in Verbindung tritt. Diesen subjektiven und empirischen Grund der Reproduktion nach Regeln nennt man die Assoziation der Vorstellungen (KrV A 121).
Außer dem empirischen und subjektiven Grund der Assoziation bedarf die Reproduktion aber auch eines objektiven und apriorischen Grundes: die Affinität der Erscheinungen, die auf der Einheit der Apperzeption beruht.¹⁵ Nach Pradelle ist dies beispielhaft für die kantische Vorgehensweise.¹⁶ Im Gegensatz zu Humes Assoziationismus, der ausschließlich auf der empirischen Affinität beruht, besteht Kant nämlich auf der Notwendigkeit einer transzendentalen Affinität und Kontinuität, die erst „von oben“ gerechtfertigt ist, nämlich durch die Einheit der transzendentalen Apperzeption. Das, was dem Chaos der Erscheinungen vorbeugt, ist nach Pradelle daher eine durchgängige subjektive Einheit und nicht (wie es bei Husserl den Fall ist) eine Regelmäßigkeit, die die Zusammenhänge von sinnlichen Inhalten als solchen betrifft. Diese These scheint aufgrund der kantischen Betonung der Notwendigkeit eines objektiven Grunds der Regelmäßigkeit (Affinität), die ihrerseits auf der Einheit der Apperzeption gründet, legitim zu sein. Nichtsdestoweniger möchte ich
Vgl. KrV A 122; dazu auch KrV B 123/A 90 und A 100 – 114. Vgl. Pradelle 2000, 56 f.
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hier anhand der Unterscheidung von verschiedenen Schichten der Regelmäßigkeit und des Chaos eine etwas andere Interpretation der kantischen Überlegungen vorschlagen. Aus der Betrachtung der beiden erwähnten Hypothesen geht nämlich hervor, dass die Annahme des Chaos in diesen beiden Formen schwerwiegende Konsequenzen für die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis hat. Wenn Erkenntnis überhaupt möglich sein muss, dann können die Erscheinungen nicht völlig regellos sein. Sie müssen vielmehr durch eine wenn auch basale Regelmäßigkeit organisiert sein. Diese Regelmäßigkeit basiert auf den Formen des inneren und äußeren Sinnes und auf den dreifachen Synthesen der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition. Die Beziehung zwischen diesen drei Synthesen lässt sich als Fundierung betrachten: ohne die Einheit der Apprehension keine Reproduktion und keine Rekognition.¹⁷ Die hier vertretene Interpretation gründet sich daher auf die Idee, dass verschiedene Schichten des möglichen Chaos in Zusammenhang mit der dreifachen Synthese zu unterscheiden sind. Erstens würde die basale Form eines generalisierten Chaos von Empfindungen aus dem Mangel an der Synthese der Apprehension entstehen. In diesem Fall wäre keine Anschauung möglich. Es ist an sich bemerkenswert, dass Kant diese Hypothese nicht als eine konkrete Möglichkeit anzunehmen scheint und sie grundsätzlich nicht diskutiert. Der Grund dafür kann einerseits in den epistemologischen Prioritäten der Argumentation der Kritik der reinen Vernunft liegen: Eine der fundamentalen Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis besteht nämlich darin, dass Rezeptivität immer mit Spontanität verbunden ist (vgl. KrV A 97). Andererseits aber bedeutet dies, dass dieses generalisierte Chaos für Kant undenkbar ist, wobei aufgrund der völligen Unregelmäßigkeit des sinnlichen Bereichs selbst keine Erscheinungen möglich wären. Das bedeutet wiederum, dass die Synopsis und die Formen des äußeren und inneren Sinnes als erste und unhintergehbare Form der Regelmäßigkeit anzusehen sind. Zweitens ergibt sich das Chaos bezüglich der Assoziation aus dem Mangel an der Synthese der Reproduktion durch die Einbildungskraft. Das zeigt sich im Beispiel des Zinnobers. Wäre dieses Chaos der Fall, dann hätten wir keine Mög-
Wie Makkreel (1990, 26 f.) betont ist dies sicherlich nur eine der Herangehensweisen Kants. Einerseits erkennt Kant nämlich diese Fundierung der Synthesis der Rekognition von unten an. Andererseits betont er aber, nachdem er die Begriffe als die Kategorien identifiziert hat, dass alle formale Einheit in der Synthesis der Einbildungskraft und in ihrer empirischen Anwendung auf die Kategorien gründet. Der „zirkuläre Prozess“, der von dieser doppelten Behauptung angedeutet wird, zeigt an, wie wir genauer sehen werden, dass der Gegensatz zwischen „von oben“ und „von unten“ qualifizierungsbedürftig ist und dass beide Betrachtungsweisen sich nicht notwendigerweise wechselseitig ausschließen.
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lichkeit, sinnliche Erscheinungen miteinander zu assoziieren. Assoziation ist sicherlich für Kant durch die Affinität der transzendentalen Apperzeption gerechtfertigt. Dennoch scheint sie auch eine Regelmäßigkeit der Erscheinungen selbst vorauszusetzen. Drittens bezieht sich eine begrenztere Form des Chaos auf den Mangel an der Synthesis der Rekognition. In diesem Fall würden wir nämlich noch unbestimmte Gegenstände und die Zusammenhänge der Erscheinungen assoziativ erfahren. Dennoch könnten wir solche Erscheinungen nicht unter die Einheit eines Begriffs subsumieren, d. h. wir könnten Gegenstände nicht erkenntnismäßig bestimmen. Das ist zum Beispiel der Fall bei der Sukzession von Erscheinungen ohne kausalen Zusammenhang, die Kant im Paragraph 13 der Deduktion erörtert. Die Ergebnisse dieser Bemerkungen von Kant können daher in einer Art und Weise zusammengefasst werden, die die eindeutige Idee einer Rechtfertigung von oben in Frage stellt. Selbst ohne die vereinheitlichende Aktivität des Verstandes, d. h. ohne Kategorien und ohne Synthese der Rekognition, hätten wir nach dem Gesagten nämlich eine Regelmäßigkeit der sinnlichen Erscheinungen, die auf der Synopsis der Anschauung und auf der Synthesis der Einbildungskraft beruht.¹⁸ Die Synthese der Reproduktion ist ihrerseits auf einer fundamentalen Form der raum-zeitlichen Regelmäßigkeit gegründet, die als Bedingung für die Assoziation gilt. Beide Formen der Regelmäßigkeit sind die Bedingungen für jede weitere Stufe der Erkenntnis. Diese Betrachtungen verweisen auf das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Vermögen und relativieren die erwähnte phänomenologische Kritik an Kant. Laut dieser Kritik würde Kant sich ausschließlich auf eine Rechtfertigung der Erkenntnis von oben konzentrieren und das Problem ihrer Fundierung von unten vernachlässigen. Die Hypothese des Chaos mit seinen möglichen Auswirkungen auf die Auffassung der Struktur von Erfahrung und Erkenntnis verweist aber auf die notwendige wechselseitige Beziehung zwischen der Fundierung von unten und der Rechtfertigung von oben. Wenn Kant in seinen Betrachtungen nämlich ausdrücklich erklärt, dass er von unten anfangen will, dann bezieht er sich zwar auf das empirische Moment der Sinnlichkeit (vgl. KrV A 119). Dennoch erkennt er auch die Notwendigkeit einer Ordnung innerhalb dieses empirischen Gebiets an und zeigt, wie eine solche Ordnung sich auf die Einheit der Apperzeption stützt (vgl. KrV A 122). Demgemäß lässt sich die sinnliche Ordnung als die Bedingung für jede Erkenntnis (von unten) verstehen, obwohl das rechtfertigende Prinzip der
Wie Kant betont, ist die Synthese der Apprehension mit der der Reproduktion „unzertrennlich verbunden“ (vgl. KrV A 102).
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Erkenntnis a priori durch die Einheit der Apperzeption (von oben) bestimmt werden muss.
2. Husserl und das Chaos der sinnlichen Inhalte Husserl formuliert die Hypothese des Chaos an verschiedenen Stellen in seinem Werk, wie z. B. in den Logischen Untersuchungen, im Schlusswort zu den Vorlesungen über Ding und Raum, in Ideen I und in einigen Beilagen zum Haupttext des ersten Teils der Vorlesung über Erste Philosophie in Husserliana VII. Der Text der Beilage XX der Husserliana VII ist in unserem Zusammenhang darum von besonderer Bedeutung, weil Husserl hier die Hypothese des Chaos in Auseinandersetzung mit Kant erörtert. Konkret wird diese Hypothese mit Bezug auf die zwei „aposteriorische[n] Fragen transzendentaler Art“ betrachtet, die Kant zugeschrieben werden.¹⁹ Diese Fragen lauten: (1) Wie muss die Welt gestaltet sein, damit sie der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist? (2) Wie muss Erkenntnis strukturiert sein, damit die Welt ihr Korrelat sein kann? Beide Fragen sind aposteriorische Fragen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens gehen sie aus der Tatsache hervor, dass wir die Welt erfahren, und untersuchen dann die Bedingungen ihrer Erkenntnis. Zweitens betreffen sie nicht die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt, sondern nur die Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis.²⁰ Die Idee des Chaos betrifft zunächst die zweite Frage und scheint daher mit der Anthropologismuskritik, die Husserl gegen Kant erhebt, verbunden zu sein. Nach dieser Kritik, die sich vor allem gegen Kants Auffassung der Vermögen des menschlichen Gemüts, des intellectus archetipus und des Dings an sich richtet, seien Kants Auffassung des Apriori und der Transzendentalphilosophie letztendlich auf die Strukturen der menschlichen Subjektivität gegründet.²¹ Das geht deutlich aus Husserls Deutung der Kopernikanischen Wende Kants hervor, die wir in der folgenden Passage aus dem Text Kants kopernikanische Umdrehung und der Sinn einer solchen kopernikanischen Wendung überhaupt entnehmen können:²² […][Kant] hat […] die ganze somatisch-psycho-physische Verwurzelung der anschauenden und denkenden Erkenntnis, die er überall voraussetzt, nicht zum transzendentalen Thema gemacht und ist dadurch in einen schillernden Anthropologismus verfallen, der arge metaphysische Konsequenzen hatte und von Anfang an schon den Begriff des Apriori, die
Husserl 1956, 383. Vgl. ebd. Für eine genauere Betrachtung dieser Kritik bezüglich der erwähnten Aspekte der Philosophie Kants siehe Summa 2014b, Kapitel 2. Husserl 1956, 288.
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transzendentalen Vermögensbegriffe, den Begriff der transzendentalen Apperzeption in ein unwissenschaftliches Dunkel versetzt. In einer Beziehung muss man sagen, Kant hat das Problem zu einfach gestellt, dadurch dass er das ganze System korrelativer und unabtrennbar zusammengehöriger Probleme noch nicht erkannt hat. Und eben daher kommt gerade ein Milieu tiefsinniger Unklarheit, das sich über das ganze System verbreitet und das zur reinen Klarheit zu bringen bisher niemand vermocht hat.
Die anthropologistischen Voraussetzungen im Denken Kants unterminieren nach Husserl gerade den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, die das Apriori kennzeichnen müssen. Die echte Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Apriori, die Husserl gleichsam als gleichbedeutend betrachtet, dürfen nicht mit der allgemeinen Gültigkeit, die für jedes menschliche denkende Subjekt gilt, verwechselt werden, weil eine solche Gültigkeit nur das Ergebnis einer empirischen Generalisierung ist.²³ Vielmehr bedeuten Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit die prinzipielle Undenkbarkeit des Anders-Seins von eidetischen Gesetzen, die für jedes mögliche und auch nur denkbare Subjekt gelten müssen. Bezüglich der Hypothese des Chaos fragt sich Husserl in der erwähnten Beilage XX, ob die sinnliche Ordnung der Erfahrung nur auf die faktischen Strukturen der Vermögen der menschlichen Subjektivität zurückzuführen sei. Das formuliert Husserl durch die Hypothesen von „Quallenmenschen“: Wäre der Mensch etwa eine Qualle, so hätte er keine Wissenschaft. dumpf ineinanderfließende Empfindungen, Gefühle usw., ein Chaos ohne bestimmte Artikulation, ohne die Bewusstseinsunterschiede intellektiver Art, wie wir sie aus unserem Leben kennen, usw. – nun, dann wäre die Welt, aber sie wäre nichts für uns Quallenmenschen.²⁴
In diesem Zusammenhang stellt sich daher die Frage, ob die Ordnung oder die Artikulation von Empfindungen, Gefühlen usw., die die Konstitution einer Welt „für uns“ ermöglichen, nur auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass wir als Menschen mit bestimmten sinnlichen und kognitiven Vermögen ausgestattet sind. Wie wir sehen werden, wird Husserl in seiner Antwort die Annahme der faktischen Vermögen des Menschen als Grundlage für die Ordnung der Erfahrung zwar ablehnen. Dennoch verweist er auch auf das grundlegende Faktum der Welterfahrung oder der Korrelation zwischen Subjekt und Welt. Wie wir anhand der Thematisierung des besonderen Status dieses Faktums sehen werden, hat die Hypothese des Chaos wichtige Auswirkungen auf Husserls Auffassung der Faktizität in der Erfahrung und vor allem in der sinnlichen Erfahrung.
Vgl. Husserl 1956, 359. Husserl 1956, 383.
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Zuerst aber wollen wir die Ausführungen über diese Hypothese weiter verfolgen. Wie aus der zitierten Stelle hervorgeht, betrifft die Hypothese des Chaos grundlegend die Möglichkeitsbedingungen der Welterfahrung. Husserl entwickelt seine kontrafaktische Hypothese mit einigen Gedankenexperimenten weiter.Wäre zum Beispiel unser Gesichtsfeld chaotisch von der Farbe Rot gefüllt, dann könnten wir keine visuelle Gestaltungen wahrnehmen. Und selbst wenn visuelle Unterscheidungen gegeben wären, hätten wir höchstens ein Nacheinander von Lichtflecken ohne Einheitsbildung,was die Apprehension von Gegenständen oder auch nur von Gestalten unmöglich machen würde. Wenn unsere Empfindungen ferner ohne jeden strukturellen Zusammenhang gegeben wären oder aufeinander folgten, zum Beispiel wenn unsere haptische und visuelle Empfindungen unregelmäßig in der Koexistenz oder in der Sukzession erlebt wären, dann könnten wir solche Empfindungen auch nicht miteinander assoziieren.Wir könnten daher zum Beispiel nicht die haptischen Empfindungen der Rauheit oder der Glätte mit bestimmten visuellen Erscheinungen verbinden. Auch in diesem Fall wären die Identitätssynthesis und daher die Konstitution eines Dinges verhindert, denn alles, was wir hätten, wäre ein Strom von unverbundenen Empfindungen. Zusammenfassend: Wäre Chaos in diesen unterschiedlichen Formen der Fall, dann hätten wir keine Erfahrung von der Welt. Anhand dieser Bemerkungen erweisen sich die erwähnten Hypothesen vom Chaos als a posteriori unannehmbar, denn sie kollidieren eben mit unserer Erfahrung der Welt.²⁵ Dennoch betont Husserl anschließend, dass diese Bemerkungen auch einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben und daher auch ein apriorisches Gesetz einschließen. Das faktische Vorkommen der Regelmäßigkeit von Empfindungen exemplifiziert mit anderen Worten ein Wesensgesetz der Erfahrung, das als Grundlage für jede mögliche Erkenntnis anzusehen ist.²⁶ Wie Husserl ferner schreibt:²⁷ […] die Phänomenologie [lehrt uns] Wesensartungen der Erkenntnis kennen, und in Korrelation die in ihnen sich konstituierende Welt. Kennt man diese Korrelationen und hat man die bezüglichen Wesenszusammenhänge studiert, so kann man auch für empirisch-transzendentale Erwägungen (und echt transzendentale) absolut sichere Aussagen gewinnen, Übertragungen von Apriorischem auf Empirisches, z. B. dass Dinge im Natursinn nicht erkennbar wären ohne eine Sinnlichkeit, die gewisse Bedingungen erfüllt, ohne sinnliche Inhaltsgruppen von der Art der visuellen, taktuellen und motorischen, und auftretend in
Vgl. Husserl 1956, 384. „In solchen empirischen Überlegungen steckt aber auch Apriorisches, das man zu sehen bekommt, sobald man den Gesichtspunkt der transzendentalen Phänomenologie gewonnen hat.“ (Husserl 1956, 384). Husserl 1956, 385.
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diskreten Abhebungen und wieder in kontinuierlichen Vermittlungen wie die, die wir in phänomenologischer Reflexion vorfinden […]. Dass, sage ich, solche Bedingungen erfüllt sein müssen als Bedingungen der Möglichkeit von Dinggegebenheit, das ist a priori begreiflich, das hängt an Wesensgründen, die an der Korrelation von Wahrnehmungserkenntnis und dinglicher Gegenständlichkeit liegen und die auf das empirische Faktum menschlicher Erkenntnis nur übertragen werden.
Die Bedingungen, die die Sinnlichkeit erfüllen muss, damit Erfahrung und Erkenntnis überhaupt möglich werden, basieren daher nicht bloß faktisch auf der empirischen Ausstattung der jeweiligen erfahrenden Subjektivität. Sie sind vielmehr a priori, weil sie eben eine Gesetzmäßigkeit ausmachen, deren Gegenteil widersinnig wäre und die daher für jedes mögliche und auch nur denkbare welterfahrende Subjekt gültig sein muss. Unter diesen Bedingungen stehen auch die Selbststrukturierung und die Regelmäßigkeit der sinnlichen Inhalte, ohne welche die Möglichkeit der Erfahrung als Ganzes zusammenbrechen würde.²⁸ Diese Behauptung soll aber nicht bedeuten, dass die Hypothese vom Chaos undenkbar ist. Im Gegenteil versucht Husserl schon seit den Logischen Untersuchungen die Denkbarkeit dieser Hypothese zu überprüfen und ihre Konsequenzen zu ziehen. In den Logischen Untersuchungen tritt die Hypothese des Chaos in Zusammenhang mit der sogenannten Reduktion auf die reellen Bestände des Aktes auf. Diese Reduktion ist eine regressive und gleichsam „ent-synthetisierende“ Operation, die zur Rechtfertigung der Erkenntnis vollzogen wird. Es handelt sich dabei wieder um eine kontrafaktische Hypothese, nämlich um die Hypothese des Abbaus aller Synthesen, woraus sich der reine sinnliche Stoff der Wahrnehmung ergeben müsste.²⁹ Diese abstrahierende Operation ist rechtfertigend, denn kein Aktmoment (Materie, Qualität und Auffassungscharakter) kann mit der besonderen Gegebenheit der sinnlichen Inhalte in Konflikt stehen. Daher ist die abstraktive Betrachtung dieser Schicht der Erfahrung notwendig, um die Kohärenz der weiteren Schichten zu rechtfertigen. Nichtsdestoweniger behauptet Lohmar, dass ein Chaos von sinnlichen Inhalten sich aus dieser Reduktion ergeben würde.³⁰ Diese Reduktion oder Abstraktion aller Synthesen würde nämlich einen Strom oder ein Rauschen von Empfindungen und sinnliche Felder übrig lassen. Auf dieser Basis aber wäre keine Apperzeption möglich. Das Hauptproblem der Reduktion auf die reellen Bestände liegt daher gerade in dieser Implikation des Chaos sinnlicher Inhalten. Würde sich ein solches Chaos nämlich
Vgl. dazu Costa 1998 u. 1999 und De Palma 2001, die diese innere Regelmäßigkeit der sinnlichen Inhalte besonders hervorheben. Eine ähnliche These wird von Pradelle 2000 u. 2012 auch vertreten, aber gleichzeitig kritisch hinterfragt. Vgl. Husserl 1984, 368 u. 411 f. Vgl. dazu Lohmar 2002 u. 2012. Vgl. Lohmar 2012.
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einstellen, dann würde die Reduktion ihr eigenes rechtfertigendes Ziel verfehlen. Unter diesen Umständen könnten eben die Auffassung und die Gegenstandskonstitution nicht gerechtfertigt werden, was im Widerspruch zur Ausgangsformulierung steht, nach der die Reduktion auf die reellen Bestände eben die Erkenntnis rechtfertigen sollte.³¹ Die These, dass die Auflösung aller Empfindungen in ein bloßes Gefühl zumindest eine denkbare Möglichkeit ist, wird auch im Schlusswort von Ding und Raum formuliert. Hier betont Husserl aber auch, dass die Verwirklichung einer solchen Möglichkeit die Auflösung der Welterfahrung und unserer selbst als Weltsubjekte implizieren würde.³² Die Hypothese des Chaos der Empfindungen scheint somit der Annahme einer Möglichkeit der Weltvernichtung in den Ideen I zu entsprechen.³³ Durch das Gedankenexperiment der Weltvernichtung meint Husserl in diesem Text zu beweisen, dass das absolute Bewusstsein ein von der wirklichen Existenz der Welt unabhängiges Prinzip der Sinnkonstitution ist: „Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Seins, dass es prinzipiell nulla „re“ indiget ad existendum“.³⁴ Für das absolute Bewusstsein bedeutet die Vernichtung der Welt sicherlich eine Modifikation, die sich eben im Sinne der Hypothese des Chaos verstehen lässt. Die Weltvernichtung impliziert nämlich, dass „in jedem Erlebnisstrom (dem voll, also beiderseitig endlos genommenen Gesamtstrom der Erlebnisse eines Ich) gewisse geordnete Erfahrungszusammenhänge und demgemäß auch nach ihnen sich orientierende Zusammenhänge theoretisierender Vernunft ausgeschlossen wären.“³⁵ Wie lässt sich aber die Denkbarkeit des Chaos der Empfindungen mit der in der Beilage XX der Husserliana VII vertretenen These, dass eine gewisse Ordnung der Sinnlichkeit ein apriorisches Gesetz bildet, kohärent verbinden? Die Feststellung, dass die konstituierenden Leistungen des absoluten Bewusstseins trotz der Weltvernichtung und der Auflösung der Erfahrungszusammenhänge in einem Chaos erhalten bleiben müssten, läuft darauf hinaus, dass ein Prinzip der möglichen Ordnung auch im hypothetischen Fall des generalisierten Chaos erhalten bleiben muss. In Ideen I scheint dieses Prinzip eben nicht innerhalb der Selbstorganisierung der sinnlichen Inhalte zu liegen, sondern vielmehr in den konstitutiven Leistungen des absoluten Bewusstseins. Dies scheint zunächst
Um in ihren Ansprüche kohärent zu bleiben sollte diese Reduktion nach Lohmar „begrenzter“ sein und im Abbau nicht auf die bloßen sinnlichen Inhalte zurückgehen, sondern auf die Materie des Aktes (vgl. Lohmar 2012). Vgl. Husserl 1973, 288. Vgl. Husserl 1976, 103 ff. Vgl. Husserl 1976, 104. Husserl 1976, 104.
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zu darauf hinzuweisen, dass die Spannung zwischen einer Fundierung der Regelmäßigkeit der Erfahrung von unten und ihrer Rechtfertigung von oben nicht nur bei Kant, sondern auch bei Husserl zu finden ist oder aber, dass der Gegensatz „von oben“ versus „von unten“ das Problem der Regelmäßigkeit nicht völlig erklären kann. Diese Bemerkung verbindet sich ferner mit einer in der Beilage XX der Husserliana VII formulierten These, nach der die Möglichkeit der Auffassung auch im Fall des Chaos prinzipiell, d. h. wesensgemäß, nicht ausgeschlossen sein dürfte. Denn in diesem Fall ginge nicht nur die Welterfahrung verloren, sondern auch die Wesensstruktur des Bewusstseins selbst, was Unsinn wäre.³⁶ Die Überlegungen zur Hypothese des Chaos scheinen daher zwischen zwei Problemstellungen zu schwanken: einerseits der Idee, dass ein Prinzip der Ordnung innerhalb der sinnlichen Inhalte gegeben sein muss, und andererseits der Idee, dass ein solches Prinzip erst in den aktiven Leistungen des absoluten Bewusstseins zu finden ist. Dennoch können wir diese Spannung wenn auch nicht überwinden, so zumindest besser verstehen, wenn wir die Frage nach der Rechtfertigung, die allen Gedankenexperimenten der Hypothese des Chaos zugrunde liegt, genauer formulieren. Diese Frage richtet sich in erster Linie auf die minimalen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Erfahrung und dann Erkenntnis überhaupt möglich werden. Das generalisierte Chaos ist in diesem Sinne zwar denkbar, aber sicherlich nicht als eine konkrete Möglichkeit zu betrachten, sondern nur als kontrafaktische Hypothese oder als eine prinzipiell leere Möglichkeit, deren Verwirklichung letztendlich zu einem Widerspruch führen würde, wenn sie so weit geht, die Möglichkeit der Auffassung selbst auszuschließen. Die Auffassung selbst ist aber nicht als ein rein spontan-subjektives Prinzip der Ordnung anzusehen, denn ihre Möglichkeit beruht ihrerseits auf einer wenn auch minimalen Regelmäßigkeit der sinnlichen Gegebenheit. Zusammenfassend: Trotz der Erfahrbarkeit eines „begrenzten“ Chaos, das sich zum Beispiel aus dem Mangel an bestimmten höheren Formen der Synthesis ergeben würde, und trotz der prinzipiellen Denkbarkeit des generalisierten Chaos ist Letzteres nur eine leere und keine aktualisierbare Möglichkeit. Das erkennt Husserl selbst explizit in seinen späten Texten zur Lebenswelt an: Die Weltvernichtung ist keine aktualisierbare Möglichkeit, denn die Welt ist in der Regelmäßigkeit ihrer Erscheinungsweise der allgemeine Boden für jede mögliche Erfahrung. Gäbe es eine solche Regelmäßigkeit nicht, dann wäre die Erfahrung selbst aufgelöst, was zu einem Widerspruch für jede phänomenologische Analyse führen würde.³⁷ Die Welterfahrung in ihrer korrelativen Struktur ist in diesem Sinne keine bloß em-
Vgl. Husserl 1956, 389. Vgl. Husserl 2008, 255 f.
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pirische Tatsache, sondern hat die Notwendigkeit eines Faktums. Die sinnliche Ordnung, die der Welterfahrung zugrunde liegt, ist ebenso als Faktum zu verstehen, d. h. als eine konkrete und nicht weiter erklärbare notwendige Gegebenheit, deren Gegenteil unmöglich ist.³⁸ Angesichts des Faktums der Welterfahrung kann das Chaos nicht generalisiert sein: Eine wenn auch minimale Form der Regelmäßigkeit muss in allen Fällen prinzipiell erhalten sein. Denn ohne eine solche basale Regelmäßigkeit wäre auch die Möglichkeit der subjektiven Auffassung ausgeschlossen und das, wie wir gesehen haben, ist für Husserl nicht annehmbar.³⁹ Das bedeutet, dass diese minimale, sei es auch nur raum-zeitliche und assoziative Form der Regelmäßigkeit schon auf der rein sinnlichen Ebene gegeben sein muss. Sinnliche Inhalte müssen so organisiert sein, dass sie die Möglichkeit der Auffassung zulassen, denn sonst wäre vom Bewusstsein selbst keine Rede mehr, was selbstverständlich für eine Wissenschaft des Bewusstseins einen Selbstwiderspruch impliziert. Sicherlich ist eine solche basale Regelmäßigkeit keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung der Erkenntnis. Aus diesen Bemerkungen zur Hypothese des Chaos in Husserls Denken können wir die folgenden Konsequenzen ziehen, die auch für den Vergleich mit Kant bedeutsam sind. Zunächst zeigen die vorhergehenden Analysen, dass eine basale zunächst raum-zeitliche Konfiguration der sinnlichen Inhalte als Möglichkeitsbedingung für jede Auffassung und Welterfahrung gilt. In Kants Terminologie übertragen würde diese basale Ordnung sowohl die Synopsis der Sinnlichkeit als auch die Synthese der Apprehension miteinbeziehen. In diesem Sinne scheint die Rede von einer Fundierung von Erfahrung und Erkenntnis von unten bei Husserl trotz der nicht eindeutigen Ergebnisses der Hypothese der Weltvernichtung wohl gerechtfertigt zu sein. Diese basale Ordnung aber reicht nicht bis zur Gegenstandskonstitution, für die eine Identitätssynthese erforderlich ist. Diese ist keine kategoriale Synthese, sondern scheint vielmehr der Synthese der Reproduktion zu entsprechen, die Kant der Einbildungskraft zuschreibt. Diese Synthese wird von Kant als Grundlage für die Assoziation angesehen und daher auch für die Identifizierbarkeit eines Gegenstandes trotz seiner verschiedenen Erscheinungsweisen oder Eigenschaften (z. B. des Zinnobers als schwer und rot). Nach Husserl gehört diese Synthese dem Bereich der sinnlichen Erfahrung an und ermöglicht die Konstitution eines und desselben Gegenstandes durch seine unterschiedlichen Erscheinungen hindurch.
Zur Unterscheidung von Tatsache und Faktum vgl. Husserl 1976, 98. Zur Bedeutung dieses Begriffs für die Auslegung von Husserls transzendentaler Ästhetik vgl. Summa 2014b. Vgl. Husserl 1973, 289 u. Husserl 1956, 389.
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Das bedeutet, dass das basale Niveau der raum-zeitlichen Organisation der sinnlichen Inhalte durch eine höhere synthetische Leistung zum Zweck der Gegenstandskonstitution ergänzt werden muss. Zur Erkenntnis im eigentlichen Sinne ist dann eine weitere synthetische Leistung erforderlich. Diese wird nach Husserl durch das Urteil und die Generalisierung geleistet. Mutatis mutandis würde dies der kantischen Synthesis der Rekognition durch Begriffe entsprechen. In diesem Sinne hat die Regelmäßigkeit der sinnlichen Inhalte, die sicherlich als fundierend für die höheren Konstitutionsstufen gilt, auch bei Husserl einen begrenzten Umfang und muss durch höhere Leistungen zum Zweck der Konstitution von Gegenständen und a fortiori für die eigentliche Erkenntnis ergänzt werden.
3. Schlusswort Wir können zum Schluss die Implikationen der parallelen Analyse von Kants und Husserls Positionen zum Chaos hinsichtlich der drei zentralen Fragen erklären, die wir in der Einleitung formuliert haben: (1) das Problem des Zusammenhanges zwischen dem Bereich des Empirischen und dem Apriori; (2) das Problem des Gegensatzes zwischen einer subjektiven versus einer objektiven Stiftung der Ordnung und (3) das Problem des Zusammenhanges zwischen den niederen und den höheren Schichten der Erfahrung, oder zwischen der Ästhetik und der Analytik. Auf den ersten Blick scheint die Hypothese des Chaos den Abstand zwischen Husserls und Kants Positionen, und somit Husserls Kritik an Kant, in Bezug auf diese drei Punkte zu bestätigen. Eine genauere Überlegung zu den Implikationen dieser Hypothese eröffnet aber den Spielraum für einen fruchtbareren Austausch zwischen beiden Positionen mit Bezug auf die Bedingungen von Erfahrung und Erkenntnis. (1) Wie lässt sich die Hypothese des Chaos im Zusammenhang zur Bestimmung der Möglichkeitsbedingungen a priori verstehen? Ist die Regelmäßigkeit im Bereich der sinnlichen Erfahrung eine bloß empirische Tatsache oder aber zählt sie zu den apriorischen Bedingungen? Sowohl Husserl als auch Kant betonen, dass die sinnliche Regelmäßigkeit in erster Linie eine empirische zu sein scheint. Diese Regelmäßigkeit ergibt sich nämlich aus der Beobachtung der gegebenen Ordnung, die unsere Erfahrung de facto charakterisiert. Husserl betont aber auch explizit, dass aus dieser Beobachtung der empirischen Regelmäßigkeit auch apriorische Gesetze einer strukturellen oder wesensmäßigen Regelmäßigkeit zu entnehmen sind. Obwohl Kant diese These
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nicht ausdrücklich formuliert, haben die vorhergehenden Analysen gezeigt, dass eine gewisse Regelmäßigkeit im Bereich des Sinnlichen auch bei ihm als Voraussetzung für höherstufige Synthesen anzusehen ist. So hätten wir zum Beispiel keine „unbestimmten Gegenstände“ und keine Assoziation ohne diese primäre Regelmäßigkeit. Die Faktizität, die in beiden Fällen im Spiel ist, scheint daher – mit Husserl zu sprechen – nicht die Faktizität einer bloßen Tatsache zu sein. Sie bezieht sich vielmehr auf ein notwendiges Faktum – das Faktum der Welterfahrung in ihrer korrelativen Struktur. Dieses Faktum enthält eine Notwendigkeit,weil wir nur auf dessen Grundlage Hypothesen über die Struktur der Erfahrung formulieren können, deren Konsequenzen dem Faktum der Erfahrung selbst nicht widersprechen dürfen. (2) Stammt die Ordnung der Erfahrung aus einer subjektiven Leistung oder lässt sie sich vielmehr auf einen „objektiven“ oder proto-objektiven Grund zurückführen? Bezüglich des Gegensatzes zwischen einem objektiven und einem subjektiven Grund der Regelmäßigkeit der Erfahrung scheint zunächst die Kluft zwischen den Positionen Husserls und Kants nicht überbrückbar zu sein. Während Husserl den sinnlichen Inhalten eine eigentümliche materiell-apriorische Regelmäßigkeit zuschreibt, behauptet Kant, dass die Regelmäßigkeit der Assoziation von sinnlichen Inhalten nur den empirischen und subjektiven Grund der Reproduktion ausmacht. Auch in diesem Zusammenhang lässt sich aber der strikte Gegensatz einigermaßen revidieren. Zwar findet der Begriff des materialen Apriori in Kants Denken keinen Platz. Die Anerkennung der Regelmäßigkeit von sukzessiven sinnlichen Erscheinung (z. B. die sinnlichen Qualitäten des Zinnobers) lässt sich aber auch in Kants Texten aufzeigen. Diese Regelmäßigkeit ist noch nicht diejenige, die aus den Kategorien des Verstandes und aus der Einheit der transzendentalen Apperzeption stammt. Darüber hinaus läuft die Betonung des Gegensatzes zwischen der Begründung der Regelmäßigkeit a parte objecti (bei Husserl) und a parte subjecti (bei Kant) auch Gefahr, zentrale Aspekte der husserlschen Argumentation zu verfehlen. Wie deutlich aus der Diskussion der Thesen, die Husserl in der Beilage XX der Husserliana VII formuliert, hervorgeht, lässt sich die Regelmäßigkeit der Erscheinungen weder allein objektiv noch subjektiv bestimmen. Sie ist vielmehr eine Regelmäßigkeit der Korrelation zwischen der subjektiven und der objektiven Seite von Erfahrung und Erkenntnis.⁴⁰ Das bedeutet, dass es keine Gesetze der Erfahrung geben kann, die außerhalb einer solchen Korrelation stehen oder nur eine ihrer Seiten exklusiv betreffen.
Vgl. Husserl 1956, 385.
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(3) Lässt sich die Unterscheidung zwischen einer Fundierung der Regelmäßigkeit der Erfahrung von unten und ihrer Rechtfertigung von oben anhand der vorhergehenden Analysen neu formulieren? Wie wir mehrmals betont haben, kritisiert Husserl Kants mangelhafte Auffassung der konstitutiven Leistungen, die schon im Bereich der sinnlichen Erfahrung zu finden ist. Kant sei es nach dieser Kritik nicht gelungen, eine selbstständige Theorie der Wahrnehmung zu entwickeln. Er habe stattdessen Wahrnehmung immer nur mit Bezug auf höhere kognitive Leistungen aufgefasst. Diese Kritik, wie wir ebenfalls angedeutet habe, wurde innerhalb der phänomenologischen Tradition aufgenommen und durch den Gegensatz zwischen einer Fundierung der Regelmäßigkeit der Erfahrung von unten bei Husserl und ihrer Rechtfertigung von oben bei Kant weiterentwickelt. Die Diskussion der Hypothese des Chaos in ihren verschiedenen Formen hat gezeigt, dass dieser Gegensatz nicht so drastisch anzusehen ist, wie Husserl ihn oft schildert. Obwohl Ausgangspunkte und Ziele von Husserls und Kants Erörterungen zum Chaos und zur Ordnung in der Erfahrung in mehreren Hinsichten verschieden sind, erkennen beide Denker an, dass eine Regelmäßigkeit innerhalb des sinnlichen Bereichs gegeben sein muss, die mindestens bis zu einem bestimmten Punkt unabhängig von höheren kognitiven Leistungen ist. Nicht nur für Kant, sondern auch für Husserl genügt diese basale Ordnung nicht für die Erkenntnis im eigentlichen Sinne. Nichtsdestoweniger dient sie als Grundlage für alle weiteren synthetischen Leistungen. Die vorhergehenden Analysen erlauben uns schließlich, das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand oder prädikativem Denken mit Husserl und Kant neu zu denken. Die beiden Seiten dieses Verhältnisses müssen nicht als zwei gleichsam „getrennte“ Bereiche angesehen werden. Beide Denker erkennen stattdessen Vermittlungsmomente oder Zwischenbereiche der Synthese an, die weder dem Bereich der raum-zeitlichen sinnlichen Ordnung allein noch dem Bereich des Verstandes oder des prädikativen Denkens zugehören. Diese Vermittlungsmomente sind zum Beispiel die Synthese der Reproduktion bei Kant oder die Identitätssynthese bei Husserl. Obwohl die Idee einer Schichtung der Erfahrung und der Erkenntnis sich bei beiden Denkern aufzeigen lässt, sollen die verschiedenen Momente daher nicht als getrennt verstanden werden, sondern vielmehr als nichtunabhängige und kooperierende Momente des Ganzen der Erfahrung. Das impliziert ferner, dass die Betrachtung der Leistung jeder Schicht für sich genommen immer eine abstraktive ist. Die abstraktive Analyse ist sicherlich theoretisch gerechtfertigt, denn sie erlaubt es, den Umfang und die Grenzen jedes Erfahrungsmoments zu beleuchten. Sie muss aber auch um die Betrachtung des Zusammenspiels zwischen den verschiedenen Momenten ergänzt werden, was uns erst ermöglichen kann, die Komplexität und die Dynamik der (sinnlichen und kognitiven) Erfahrung als Ganze zu erfassen.
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Ästhetik, Wissen und Chaos Die symbolische Erkenntnis der ästhetischen Idee bei Husserl und Kant
1. Husserls Kritik: von unten vs. von oben Die ästhetische Erkenntnis zielt in Kants ursprünglicher Fassung darauf ab, die im Raum und in der Zeit vorhandenen Phänomene mithilfe der Sinnlichkeit zu erfassen. In der Kritik der reinen Vernunft beschreibt die transzendentale Ästhetik bekanntermaßen die Tätigkeit der Sinnlichkeit in der Beschaffung des empirischen Materials, welches dann mittels der Verstandeskategorien weiterverarbeitet wird. Husserl äußert sich ablehnend gegenüber den Grundlagen der transzendentalen Ästhetik Kants und schlägt – in den zwischen 1923 und 1924 gehaltenen Kursen, welche im VII. Band der Husserliana (Erste Philosophie) erschienen sind – eine beim Begriff der Erfahrung anhebende kritische Prüfung der Philosophie vor. In diesen Schriften tritt die Dichotomie von unten – von oben auf,¹ welche oftmals in schematischer und vielleicht oberflächlicher Weise verwendet wird, um die unterschiedlichen Auffassungen des Erfahrungsbegriffs in der kantischen Theorie und in der Theorie Husserls darzustellen. Husserl kritisiert Kants Theorie, weil diese die Erfahrung von oben ordne, und zwar durch die Anwendung der leeren Verstandeskategorien auf die empirische Mannigfaltigkeit; die Phänomenologie müsse – im Gegensatz dazu – die Erkenntnis von unten her begründen, nämlich ausgehend von der Regelmäßigkeit und den Strukturen, welche der sinnlichen Erfahrung eigen sind. Im Folgenden möchte ich hingegen zeigen, wie es möglich ist, zwischen der kantischen Philosophie und der Philosophie Husserls eine Parallele herzustellen, welche die Dichotomie von unten – von oben überwindet; dies ist nämlich durchaus möglich, sofern man von einer Lektüre der dritten kantischen Kritik ausgeht.² In diesem Aufsatz untersuche ich daher das ästhetische Urteil und seine Beziehung zur Erkenntnis. Kant macht überaus deutlich, dass das ästhetische Urteil ein reflektierendes Urteil ist und dass es daher klar zu trennen ist vom Urteil der logischen Erkenntnis,
Vgl. Snyder 1995; Pradelle 2000; De Palma 2001; Prauss 1981; Melle 1983, 35 – 48; Eley 1981; Ehrlich 1923; Lohmar 2003. Vgl. Feloj 2013.
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welches in der ersten Kritik untersucht wurde; nichtsdestotrotz ist es möglich, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem ästhetischen Urteil und der Erkenntnis im Allgemeinen, wie einige Forscher gezeigt haben.³ In diesem Aufsatz möchte ich mich insbesondere auf die ästhetischen Ideen konzentrieren und die Frage untersuchen, ob bei Kant eine Erkenntnis symbolischer Art auszumachen ist. Eine Untersuchung der Beziehung zwischen der Erkenntnis und dem ästhetischen Urteil hat notwendigerweise den Erfahrungsbegriff zum Ausgangspunkt. Die Einheit der empirischen Mannigfaltigkeit, die in der Kritik der reinen Vernunft das logische Urteil garantiert, entspricht der Einheit der Erfahrung in der dritten Kritik, welche – Kants Ausführungen in den beiden Einleitungen zufolge – als das zentrale Thema der Kritik der Urteilskraft betrachtet werden kann.⁴ Dennoch hat meine Argumentation nicht die Regelmäßigkeit der Erfahrung zum Ausgangspunkt, die Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft behauptet (vgl. KU 186 – 187), sondern die Unordnung der Welt. Tatsächlich erweist sich das Motiv des Chaos als besonders fruchtbar für eine Gegenüberstellung von Kant und Husserl, da es uns in die Lage versetzt, in Bezug auf die Begriffe der Erfahrung und der Erkenntnis bei beiden Autoren einige grundlegende Aspekte – der profunden Distanz wie auch der Ähnlichkeit – zu erfassen. Das Motiv des Chaos kann darüber hinaus verknüpft werden mit dem Themenfeld der ästhetischen Ideen und mit der symbolischen Erkenntnis, für die diese zuständig sind; das Chaos und die ästhetische Erkenntnis erlauben es schließlich, in der kantischen Philosophie eine Beziehung zur Erfahrung zu etablieren, welche man mit den Worten Husserls als von unten definieren könnte. Daher ist meine Abhandlung in zwei Teile untergliedert: Im ersten Teil untersuche ich das Thema der Unordnung der Welt und bewerte die Chaoshypothese, welche für Kant möglich, für Husserl lediglich denkbar ist. Die Analyse der Unordnung der Welt wird es mir erlauben, eine Parallele zwischen Kant und Husserl herzustellen, welche über die Dichotomie von oben – von unten hinausgeht und die Erörterung der kantischen Ästhetik einleitet. Von den erzielten Ergebnissen ausgehend werde ich im zweiten Teil des Aufsatzes eine Lesart der in der Kritik der Urteilskraft vorgebrachten Ordnung der Erfahrung vorstellen, und zwar eine phänomenologische Lesart. Ich werde die kantische Theorie der ästhetischen Ideen und ihre Beziehung zur Erkenntnis untersuchen. Es soll allerdings schon jetzt klargestellt werden, dass das Ziel dieses
Vgl. unten Fußnoten 30 und 31. Vgl. die 1790 publizierte Einleitung (KU 171– 199) und die Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (AA XX, 193 – 251).
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zweiten Teils nicht darin bestehen wird, lediglich eine Lücke in Husserls Interpretation der kantischen Philosophie zu füllen, welche die Kritik der Urteilskraft nicht in vertiefter Weise würdigt. Vielmehr soll gezeigt werden, dass Kants Behandlung der Erfahrung nicht ausschließlich von oben erfolgt, was deutlich wird durch den Status der ästhetischen Ideen sowie durch deren Zusammenhang mit der Erkenntnis überhaupt. Das Ziel dieses Aufsatzes besteht also nicht darin, einen Beitrag zum Fortschritt der Husserl-Studien zu leisten, sondern in einer phänomenologischen Lesart der kantischen Ästhetik. Eine phänomenologische Perspektive versetzt uns nämlich in die Lage zu begreifen, dass die kantische Theorie der Erkenntnis auch die ästhetische Erkenntnis umfasst, welche von ausschließlich empirischer Natur ist. In der dritten Kritik besteht die Hauptsorge Kants nicht darin, eine klare Trennung von a priori und a posteriori durchzuführen, sondern darin, die Möglichkeit einer Anwendung des Übersinnlichen auf das Sinnliche aufzuzeigen. Dies führt zu einer Neufassung des Erfahrungsbegriffes, in deren Rahmen wesentliche Merkmale der ästhetischen Erkenntnis bestimmt werden.
2. Über das Chaos: Kant vs. Husserl Husserls Urteil, das Kant eine Theorie der Erfahrungserkenntnis von oben zuspricht, geht von der in der Kritik der reinen Vernunft dargelegten Definition der Synthese aus, die eng mit dem Problem des Chaos und der Unordnung der Welt verbunden ist.⁵ In der ersten Kritik behauptet Kant, dass keine einzige Vorstellung vollständig von anderen isoliert und abgetrennt auftreten kann. Das erfahrene Mannigfaltige wird bekanntermaßen stets räumlich und zeitlich geordnet durch die Sinnlichkeit, noch bevor die Verstandeskategorien auf es angewendet werden. Der Erkenntnisprozess ist daher ein synthetischer Vorgang; „[d]ieses Gesetz der Reproduction setzt aber voraus: daß die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen seien, und daß in dem Mannigfaltigen ihrer Vorstellungen eine gewissen Regeln gemäße Begleitung oder Folge statt finde“ (KrV A 100).⁶
Vgl. Lohmar 1993, 111– 141. In der Transzendentalen Analytik schreibt Kant: „Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einer hinzuzuthun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntniß zu begreifen. Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit)“ (KrV B 103/A 77).
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Die Möglichkeit von Erkenntnis verdankt sich so der Verbindung zwischen der Rezeptivität der Sinnlichkeit und der Spontaneität des Verstandes, und sie wird garantiert durch die Einheit der transzendentalen Apperzeption. Husserls Idee, welche die kantische Auffassung der Erkenntnis als eine Theorie des von oben betrachtet, findet sich hier also zunächst bestätigt, und ebenso findet sich der Vorwurf des Anthropologismus bestätigt, welcher der Transzendentalphilosophie gemacht wird.⁷ Kant zieht allerdings an anderer Stelle die Möglichkeit in Betracht, dass sich eine Erkenntnis auch in nicht synthetischer Form einstellt. Schon im § 13 der Transzendentalen Deduktion diskutiert Kant die Möglichkeit, dass die reinen Formen der Sinnlichkeit, also Raum und Zeit, nicht mit den Verstandeskategorien zusammenpassen, da wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein [könnten], daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände, und alles so in Verwirrung läge, daß z. B. in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der Synthesis an die Hand gäbe und also dem Begriffe der Ursache und Wirkung entspräche, so daß dieser Begriff also ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung wäre. Erscheinungen würden nichts destoweniger unserer Anschauung Gegenstände darbieten, denn die Anschauung bedarf der Functionen des Denkens auf keine Weise (KrV B 123/A 91).
Während Raum und Zeit also sicherlich Formen jeder Anschauung sind, so sind die Kategorien dies hingegen nicht. Die Begriffe könnten fehlen und die Erscheinungen könnten sich dem Verstand in einem Durcheinander ohne Regeln präsentieren; die Objekte würden dann dem Subjekt ohne jeden Bezug zu den Kategorien erscheinen. Kant schließt, dass die Kategorien keine notwendige Bedingung für das Auftreten von Objekten in der Anschauung sind:⁸ Die Kategorien des Verstandes dagegen stellen uns gar nicht die Bedingungen vor, unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben werden; mithin können uns allerdings Gegenstände erscheinen, ohne daß sie sich nothwendig auf Functionen des Verstandes beziehen müssen, und dieser also die Bedingungen derselben a priori enthielte (KrV B 122/ A 89).
Die Erfahrung kann also in Form eines Durcheinanders eintreten, welches es unmöglich macht, in der Apprehension der Phänomene eine synthetische Regel – wie die Kausalität – zu erkennen. Eine Form der – wenngleich nicht begrifflichen –
Vgl. Husserl 1956, 386. Vgl. La Rocca 2004.
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räumlich-zeitlichen Ordnung ist dennoch stets möglich, auch im chaotischsten Zustand der Natur. In der Kritik der reinen Vernunft legt Kant also dar, dass – falls die Phänomene nicht den Bedingungen der begrifflichen Einheit entsprechen – die Darstellung der Gegenstände in unserer Anschauung dennoch möglich wäre (vgl. KrV B 123/A 90 f.). In der Ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft jedoch spielt die Möglichkeit, dass sich keine Ordnung der Erfahrung einstellt und sich das Subjekt einer chaotischen Natur gegenübersieht, eine evidente Rolle (vgl. AA XX, 193 – 251). Indem er die Möglichkeit des Chaos aufrechterhält, scheint Kant die Kritik zu überwinden, die Husserl an der von oben ausgehenden Richtung seiner Erkenntnislehre geübt hat. Tatsächlich sieht Kant voraus, dass das Subjekt sich in einer Situation wiederfinden könnte, die es ihm unmöglich macht, die eigenen Verstandeskategorien „von oben“ anzuwenden, und dass eine chaotische und ungeordnete Erfahrung auftreten könnte, wenngleich durch die Minimalordnung des Raumes und der Zeit vermittelt. Die phänomenologische Theorie einer Erkenntnis von unten, also innerhalb der Erfahrung, ist sicherlich noch weit entfernt. Meiner Ansicht nach ist dennoch die Möglichkeit, dass Anschauung und Kategorien auch nicht miteinander übereinstimmen können und dass es nichtsdestotrotz eine Vorstellung vom Objekt geben kann, ein erster Beweis dafür, dass die Dichotomie von unten – von oben die Komplexität eines Vergleiches von Husserl und Kant nicht angemessen wiedergibt. Die von Kant angenommene Möglichkeit einer lediglich räumlich-zeitlichen und nicht begrifflichen Ordnung der Erfahrung sorgt in der Tat für eine Annäherung der Sichtweisen Kants und Husserls. Andererseits ist Kants Behauptung einer Möglichkeit der empirischen Unordnung sehr weit entfernt von dem, was Husserl im Bezug auf das Chaos behauptet. Zunächst einmal bezieht sich Husserl auf ein allgemeines Chaos, in welchem es nicht möglich ist, wie auch immer geartete Regeln aufzufinden; Kant hingegen vertritt die Ansicht, dass auch im chaotischen Zustand der Natur stets die Möglichkeit gegeben ist, eine Anschauung des natürlichen Mannigfaltigen zu besitzen. Die Erfahrung kann Kant zufolge nämlich immer vom Subjekt aufgenommen und daher entsprechend den Formen von Raum und Zeit geordnet werden. Nicht einmal in der Analytik des Erhabenen, wo die Erfahrung beschrieben wird anhand ihrer „mehr chaotischen und unregelmäßigen“ Formen, treten für die subjektiven Vermögen Schwierigkeiten in der Apprehension auf. Das Chaos, auf das Kant sich bezieht, ist also nicht allgemein und total, sondern bezieht sich einzig und allein auf den Vorgang der Synthese, und zwar sowohl anlässlich des logischen Urteils als auch – wie wir sehen werden – in der Formulierung des ästhetischen Urteils.
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Husserl vertritt stattdessen eine Auffassung von Chaos, die keinerlei Erkenntnis zulässt. Die Chaoshypothese wird von Husserl in Beziehung zur kantischen Philosophie formuliert, und zwar am Schluss von Ding und Raum ⁹ sowie in der Beilage XX der Husserliana VII. Für unsere Zwecke aber ist es nicht allzu sinnvoll, Husserls Chaosbegriff zu analysieren; stattdessen soll untersucht werden, in welcher Weise Husserl sich der von Kant ausgearbeiteten Möglichkeit des Chaos bedient, um die Schwierigkeiten einer Philosophie aufzuzeigen, die auf der Suche nach den apriorischen Bedingungen der Erfahrung ist. In der Beilage XX nimmt Husserl an, dass der kantische Erkenntnisprozess auf einer strengen Übereinstimmung der Konfiguration der Natur mit der Möglichkeit objektiver Erkenntnis basiert.¹⁰ Doch was passiert, so fragt sich Husserl, wenn diese Übereinstimmung wegfällt? Ist es möglich, eine Natur zu denken, welche nicht von strenger Kausalität beherrscht wird? Während die transzendentale Logik die Grundlagen einer möglichen Natur enthält, aber nichts von einer tatsächlichen Natur, so ist die Rationalität für Husserl gegeben durch den Zusammenhang zwischen tatsächlichem Bewusstsein und empirischer Wissenschaft.¹¹ Das tatsächliche Bewusstsein sortiert die unendlichen phänomenologischen Möglichkeiten, skizziert eine Vorstellung der Natur, welche an die mathematische Wissenschaft geknüpft ist, und bildet die Natur als rationalen Kosmos.¹² Ohne die Tätigkeit des tatsächlichen Bewusstseins wäre die Welt für uns nichts: Wäre der Mensch etwa eine Qualle, so hätte er keine Wissenschaft. dumpf ineinanderfließende Empfindungen, Gefühle usw., ein Chaos ohne bestimmte Artikulation, ohne die Bewußtseinsunterschiede intellektiver Art, wie wir sie aus unserem Leben kennen, usw. – nun, dann wäre die Welt, aber wäre nichts für uns Quallenmenschen.¹³
Obwohl für Husserl die Chaoshypothese a posteriori unmöglich ist,¹⁴ da wir, wenn die Natur sich in einem Zustand des generellen Chaos befände, die Welt und die Dinge der Welt überhaupt nicht erfahren könnten, so bedeutet dies sicherlich nicht, dass die Chaoshypothese nicht denkbar wäre. Wie Husserl am Schluss von Ding und Raum schreibt, ist im Gegenteil das Chaos vorstellbar und seine Konsequenzen sind vorhersehbar: Es würde die Auflösung sämtlicher Sinneseindrü Husserl 1973, 288 – 291. Husserl 1956, 383. Vgl. Husserl 1956, 392. Vgl. Husserl 1956, 394. Husserl 1956, 383. Im selben Text schreibt Husserl, dass sich in dieser Aktualität eine apriorische Wahrheit verbirgt, die die sinnliche Ordnung betrifft.
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cke in eine verworrene Menge mit sich bringen, unsere Erfahrungswelt würde sich auflösen, so wie wir selber und die anderen Subjekte.¹⁵ Unser tatsächliches Bewusstsein zeigt also, wie die Natur dem Subjekt stets gemäß einer – wenn auch minimalen – Ordnung erscheint. Bezüglich des Vergleichs zwischen Kant und Husserl führt die Chaoshypothese also zu einer für beide Autoren gültigen Schlussfolgerung: Die Erfahrung setzt eine räumlich-zeitliche Gliederung ihrer sinnlichen Inhalte voraus, welche die Apprehension und die Anschauung der Welt ermöglicht. Ohne diese grundlegende Ordnung befänden sich die Sinneseindrücke in einem vollkommenen Chaos und jede Art der Erfahrung wäre unmöglich. Sicherlich kann es vorkommen, wie Kant bemerkt, dass die Verstandeskategorien sich nicht an die empirische Welt anpassen und die Erfahrung sich dennoch als durch die räumlichen und zeitlichen Formen der Anschauung geordnet erweist. Diese Möglichkeit wird in der Kritik der Urteilskraft untersucht, in welcher das Subjekt herausfindet, dass es eine Erfahrung erfasst, die nicht mittels der Verstandeskategorien erkannt werden kann. In der Ästhetik bestätigt sich also das, was Kant in der Transzendentalen Deduktion vorweggenommen hatte: Die empirische Mannigfaltigkeit passt nicht zusammen mit den Begriffen des Verstandes. Meiner Ansicht nach ist dies eine von unten ausgehende Legitimation der Erfahrung.¹⁶
3. Die ästhetische Idee In einer Abhandlung über das Chaos in der kantischen Philosophie unter Einbeziehung des ästhetischen Urteils liegt der Verweis auf das Gefühl des Erhabenen unmittelbar nahe. Tatsächlich nimmt Kant in der Analytik des Erhabenen Bezug auf all jene Naturphänomene, die nicht auf eine Verstandesordnung zurückzuführen sind und die die Einbildungskraft zwar aufnehmen kann – und somit auf die Formen des Raumes und der Zeit zurückführen kann –, jedoch ohne sie verstehen zu können. Die im Zusammenhang mit dem Erhabenen beschriebenen Phänomene stimmen in der Tat perfekt mit der kantischen Definition des Chaos überein. Dennoch werde ich das Erhabene in meiner Untersuchung nicht berücksichtigen, da das Ziel meiner Untersuchung, wie einleitend bemerkt, lediglich darin besteht zu zeigen, warum eine Interpretation, welche die kantische Philosophie als eine von oben erlangte Auffassung der Erfahrung begreift,verkürzt ist. Zu diesem Zweck ist es gewiss notwendig, im Bereich der Erkenntnistheorie zu verbleiben, zumal
Vgl. Husserl 1973, 288. Vgl. Summa 2013.
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Husserls Kritik an der kantischen Philosophie um Kants Erkenntnisbegriff kreist, welcher eben von oben konzipiert sei. Das Gefühl des Erhabenen kann allerdings in keiner Weise mit der Erkenntnis verbunden werden: einerseits, weil es sich einzig und allein auf die Gemütslage des Subjekts bezieht, andererseits, weil das Urteil, aus dem es hervorgeht, gar nicht einem Objekt ein Prädikat zuweist.¹⁷ Allerdings kann, wie ich weiter unten zeigen werde, bezüglich des Urteils über das Schöne eine Form der ästhetischen Erkenntnis ausgemacht werden, die sogar die ästhetischen Ideen einschließen kann. Dieses Vorgehen, eine Erkenntnis ästhetischer Art zu bestimmen, stellt sich meiner Ansicht nach als bedeutsam heraus, da Kant in der Kritik der Urteilskraft der von Husserl ausgearbeiteten Theorie der Erfahrung näherzustehen scheint und einige Fragen aufwirft, die von der Phänomenologie später wieder aufgegriffen werden. Die Perspektive der Kritik der Urteilskraft ist zwar sicherlich jene des reflektierenden Urteils und nicht die des logischen Urteils; es handelt sich also nicht um Ausführungen über Verstandeserkenntnis der Natur. Bei der Bearbeitung des Problems der Erfahrung und beim Vorbringen der Chaoshypothese sieht Husserl sich aber einem Problem gegenüber, welches identisch ist mit jenem der Kritik der Urteilskraft: Es handelt sich um das Problem der Anwendung, also der Applikation der vor der Erfahrung a priori existierenden Strukturen. Husserl hat sich über die dritte kantische Kritik selten geäußert, und daher habe ich nicht vor, bei Husserl Überlegungen aufzuspüren, die niemals angestellt worden sind; ebenso wenig ist es meine Absicht, auf einen Mangel in seiner Analyse des kantischen Denkens hinzuweisen. Ich glaube vielmehr, dass eine Lektüre der wichtigsten Problemstellungen der Kritik der Urteilskraft vor dem Hintergrund der Kritik Husserls wirkungsvoll wäre, um eine phänomenologische Interpretation der kantischen Ästhetik auszuarbeiten. Das Ziel, welches Kant sich in der dritten Kritik setzt, besteht nicht darin, das Erkennen auf der Basis der Einheit des Subjekts zu garantieren, sondern eher darin zu zeigen, dass die Erfahrung einheitlich ist.¹⁸ In der Kritik der Urteilskraft muss das Subjekt – anhand einer Dynamik, die man fast schon als phänomenologisch bezeichnen könnte – die unendliche Vielfalt der Naturphänomene begreifen, ausgehend von den jeweils einzelnen Erfahrungen mit diesen. Die Einheit der empirischen Mannigfaltigkeit ist dennoch so wechselhaft, dass sie nicht vom Verstand begriffen werden kann, welcher „in seiner transscendentalen G e s e t z g e b u n g der Natur von aller Mannigfaltigkeit möglicher empirischer Ge Vgl. Feloj 2012, 177– 187. Wie Kant in der Einleitung schreibt: „Verstand und Vernunft haben also zwei verschiedene Gesetzgebungen auf einem und demselben Boden der Erfahrung, ohne daß eine der anderen Eintrag thun darf“ (KU 175).
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setze“ abstrahiert (AA XX, 210). Diese Dynamik wird von Kant deutlich zum Ausdruck gebracht in der Ersten Einleitung. Meiner Ansicht nach machen zwei Elemente die Distanz zwischen der Ersten Einleitung und der Kritik der reinen Vernunft deutlich und erlauben eine Lesart des kantischen Erfahrungsbegriffs aus phänomenologischer Sicht. Erstens legt Kant dar, dass für den Aufbau einer synthetischen Einheit als System die transzendentalen Gesetze, die apriorisch und objektiv sind, nicht ausreichen, da sie die Erfahrung nur ermöglichen gemäß den Prinzipien der synthetischen Einheit der Phänomene. Stattdessen wird ein finales Prinzip benötigt, welches die empirischen Gesetze unter sich vereint und so eine empirische Einheit der Erfahrungen begründet. Zweitens wird die systematische Einheit der Erfahrung nicht in objektiver Weise begründet – wie es geschieht, wenn die Kategorie das Phänomen umfasst – sondern lediglich in subjektiver Weise. Die Erfahrung konfiguriert sich nur als System gemäß den empirischen Gesetzen, weil das Subjekt in der Natur eine Zweckmäßigkeit wahrnimmt gegenüber seinem eigenen Erkenntnisvermögen.¹⁹ Die Zweckmäßigkeit ist also gewiss ein Prinzip der Vermögen des Subjekts, aber es muss in der Natur aufgefunden werden. Die Einheit der Natur, welche es erlaubt, das Chaos der natürlichen Vielfalt zu überwinden, ist daher keine transzendentale Einheit, die durch die Rückführung der Mannigfaltigkeit auf einen Begriff erzielt würde, sondern eine empirische Einheit, die es erlaubt, die Gesamtheit der Erfahrung anhand des Prinzips der Zweckmäßigkeitzu denken (vgl. AA XX, 205). Die phänomenologische Theorie der Erfahrung, die in der Beilage XX im Zusammenhang mit dem Thema der Unordnung der Welt dargelegt wird, ist meiner Ansicht nach nicht weit entfernt von den Ausführungen in der Ersten Einleitung. Die Natur, welche unserem Verstand gegenüber erscheint, wird nicht von einer rigorosen Kausalität dominiert, und unser Verstand bringt sie nur auf eine ungefähre Regelhaftigkeit, die nur den Begriff der Natur im allgemeinen absteckt.²⁰ Kant überwindet also die in der Kritik der reinen Vernunft angenommene von oben ausgehende Perspektive und nähert sich der dynamischen, von unten ausgehenden an, die auch Husserl untersucht.²¹ Es ist im Übrigen eben die Definition des reflektierenden Urteils, die diese Evolution im kantischen Denken nahelegt: Während das logisch-determinierende Urteil von den universellen Kategorien ausgehend das Einzelne suchte, sucht nun das reflektierende Urteil die universellen Formen auf der Grundlage des empirischen Einzelnen.
Kant schreibt an Beck (4. Dezember 1792), dass die Urteilskraft die Anpassung der Natur an unserer Verständnisvermögen begründet (vgl. AA XI, 394). Vgl. Husserl 1956, 392. Vgl. Kern 1964, 150 – 178; Marini 1969, 73 – 90.
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Die ästhetischen Ideen können als paradigmatisch angesehen werden für diese Haltung Kants in Bezug auf das Erkennen der empirischen Welt. Dies stellt sich als recht offensichtlich heraus, wenn man bedenkt, dass das Hauptanliegen der dritten Kritik in der Anwendung besteht, also in der Applikation der Idee auf die Erfahrungswelt oder – mit den Worten Kants – im Übergang von der Natur zur Freiheit. Die Stelle im kantischen Schrifttum, an der das Bemühen, das Denken auf die Erfahrung anzuwenden, am offensichtlichsten in Erscheinung tritt, ist in der Tat die Theorie der ästhetischen Ideen, dargelegt in den §§ 44– 60 der Kritik der Urteilskraft. Die hier vorgestellte Dynamik bettet die Beziehung von Einbildungskraft und Vernunft ein in die ästhetische Perspektive der Kritik der Urteilskraft; anfangs gibt es keine Übereinstimmung zwischen Idee, Begriff und Erfahrung: In der Theorie der ästhetischen Ideen kann die Idee der Totalität der Vernunft nicht durch die Apprehension der Anschauungen befriedigt werden, und andererseits kann die unendliche Vielfalt der Natur nicht vollkommen unter der Idee des Subjekts versammelt werden.²² Auch in der Perspektive Husserls besteht die Anwendung in der Applikation des Ideellen auf die Empirie und sieht ein bloßes Überstülpen des Rasters des Apriori auf das Raster des Empirischen nicht vor: Eine perfekte Identität sei in der Tat unmöglich, da die eidetischen Gesetze sich in den Gesetzen der Welt manifestieren, ohne dass der Begriff von der Anschauung perfekt ausgefüllt würde.²³ Die kantische Theorie der ästhetischen Ideen kann also an Husserls Überlegungen zur Lebenswelt wirkungsvoll angenähert werden, weil sie die Synthese von Sinneserfahrung und Gedanken, den Ursprung der Beziehung zwischen Subjekt und Welt, ausdrückt. Husserls Entwurf der Lebenswelt sieht nämlich die Welt als „Einheit einer geistigen Form“ an und zeigt die tiefgehende Durchdringung von Welt und Geist auf.²⁴ In gleicher Weise offenbaren die ästhetischen Ideen die Möglichkeit, in der empirischen Welt Formen idealen Charakters aufzufinden, die in einem symbolischen Prozess zum Ausdruck kommen. Die ästhetischen Ideen sind darüber hinaus eng mit dem Geist des Subjekts verknüpft, der in der Kontemplation belebt wird, und gleichzeitig sind sie fest verbunden mit der empirischen Mannigfaltigkeit, die ihren Ausdruck ermöglicht. Ich bin daher der Meinung, dass eine Interpretation der ästhetischen Ideen Kants als Ausdruck eines symbolischen Prozesses das Wesen der Lebenswelt darlegt. Wie ich im zweiten Abschnitt gezeigt habe, deutet die Möglichkeit der Unordnung der Welt sich an – wie Husserl in der Beilage XX darlegt – in der Dynamik,
Wie in der Analytik des Erhabenen. Vgl. Husserl 1956, 390. Franzini 2004, 139.
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die es der Erkenntnis ermöglicht, die Natur zu bilden, und diese Möglichkeit gründet sich auf die Tatsache, dass die Bestandteile der reinen Erkenntnis apriorische Möglichkeiten enthalten, die Natur zu bilden.²⁵ Es ist daher eine Welt im Zustand des Durcheinanders denkbar, in welcher die Erscheinungen sich als den Verstandesfunktionen nicht konform erweisen. Die kantische Definition der ästhetischen Idee scheint genau auf dieses Problem zu antworten: [U]nter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann (KU 314).
In der Theorie der ästhetischen Ideen wird die Distanz zwischen Empirischem und Apriori auf der einen Seite radikalisiert und auf der anderen Seite anders aufgelöst als im logischen Schematismus. Einerseits unterscheidet sich die ästhetische Idee zwar von der Vernunftidee, da sie von der sinnlichen Erfahrung ausgeht und die von der Einbildungskraft aufgenommene, extrem reichhaltige Materie darstellt; andererseits zeigt die ästhetische Idee die ästhetisch unbegrenzte Ausdehnung des Verstandesbegriffs. Auf dieses Weise stellt sich ein Ungleichgewicht ein zwischen den Vermögen der Einbildungskraft und des Verstandes, das zu einer besonderen Durchdringung von Sinnlichem und Apriori führt. Die Disharmonie von Einbildungskraft und Verstand drückt also jene Gelegenheit aus, bei der das Apriori des Verstandes nicht länger in der Lage ist, die Komplexität der Erfahrungswelt zu erfassen, und es wird erforderlich, von einem Begriff der Natur als Mechanik zu einer Auffassung der Natur als Kunst – geordnet nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit – überzugehen. Wie Kant im § 49 schreibt, läuft das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand jedoch auf eine Einigung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem hinaus; die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet (KU 316).
Husserl schreibt: „Vielleicht, daß sich das Bewußtsein ändert (seine Wesensgestaltungen sind ‚ewig‘, sind apriorisch, aber nicht seine faktischen Gestaltungen), daß die Natur, sei es durch Medien des Zufalls, sei es stetig, übergeht in neue Naturen“ (Husserl 1956, 393).
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Die ästhetische Idee erweist sich also als eigentümlicher Begriff: Obgleich sie dem Eidetischen angehört, ist sie vollkommen in die empirische Welt versenkt, sie nimmt nicht Bezug auf die von den Formen der Sinnlichkeit und von Verstandeskategorien strukturierte und geordnete Erfahrung, sondern präsentiert die tatsächliche Erfahrung des Subjekts. Mittels einer Sprache symbolischer Art gelingt es ihr daher, den Geist mit der Mannigfaltigkeit der von der Einbildungskraft gelieferten Vorstellungen zu verbinden. Könnte also diese Eigenart der ästhetischen Idee an Husserls Analyse der Beziehung von Tatsache und Wesen erinnern? Die ästhetische Idee drückt die von der Urteilskraft realisierte Vermittlung zwischen Apriorischem und Tatsächlichem aus, und zwar nicht dank eines Primats des Ersteren über Letzteres, sondern durch eine Dynamik der Reziprozität, einen Übergang. Das Apriori der ästhetischen Idee ist also das Apriori einer Tatsache und erinnert an das phänomenologische Apriori: Form und Stoff in Einem.²⁶ Darüber hinaus bildet das von der ästhetischen Idee vorgestellte sinnliche Material – wie Kant darlegt – nicht den Inhalt eines Begriffs; es handelt sich vielmehr um ein symbolisches Vorstellen, das dem des logischen Schematismus bloß analog ist. Man kann selbst behaupten, dass die empirische Mannigfaltigkeit, auf der die ästhetische Idee sich beziehet, von Raum und Zeit nicht geordnet ist, sondern als chaotische erfahrt ist; es ist so die kategoriale Erfassung gehindert. Die Beziehung von objektiver und subjektiver Ebene ist daher völlig anders als die in der Kritik der reinen Vernunft vorgebrachte und von Husserl analysierte. In der Theorie der ästhetischen Ideen können der Anthropologismus und der Psychologismus, die Husserl Kant vorwirft, durchaus vorliegen, aber die ästhetischen Ideen deuten darauf hin, dass auch Umstände existieren, unter denen die Vermögen des Subjekts nicht von oben auf das Objekt angewandt werden. Die ästhetischen Ideen erinnern also an die Lebenswelt Husserls: Wie in der Lebenswelt kann in der Theorie der ästhetischen Ideen das Reich der „‚anonym‘ gebliebene[n] subjektive[n] Phänomene“ erschlossen werden.²⁷ Der Beziehung zwischen Subjektivem und Objektivem sowie zwischen Empirischem und Apriori ist auch jene zwischen Ästhetik und Analytik zuzuordnen,²⁸ welche nicht so sehr als Teile der Kritik der reinen Vernunft zu verstehen sind, sondern als verschiedene Weisen, sich der Erfahrung zu nähern. Im reflektierenden Urteil werden diejenigen Funktionen, welche in der transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit übernimmt, meistens der Einbildungskraft anvertraut; doch die Erfahrung, die in der dritten Kritik in ihrer chaotischsten und unor-
Vgl. Bisin 2012, 83 – 88. Husserl 1976, 114. Vgl. Summa 2013.
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dentlichsten Form auftritt, wird organisiert mittels des subjektiven Prinzips der Zweckmäßigkeit und nicht so sehr durch die starre Formalität von Raum und Zeit. Ebenso wendet der Verstand, der seine eigenen kategorisierenden Funktionen aufrechterhält, nicht die Begriffe auf die Erfahrung an, sondern begrenzt die Einbildungskraft, indem er seine eigene Regelhaftigkeit vorschreibt. Es ist also die Vernunft, die den Weg durch die Kritik der Urteilskraft weist, und zwar weder nur die praktische noch allein die theoretische, sondern die Vernunft überhaupt, die alle Funktionen des Subjekts enthält. Es verwirklicht sich auf diese Weise eine Verflechtung von Ästhetik und Analytik, von Erfahrung und Denken. Von dieser Grundlage ausgehend schreibt Kant im § 59, dass die Idee intuitiv werden kann durch eine symbolische Vorstellung, wobei sie die ihr eigene ideelle Natur beibehält, obwohl sie mit der Erfahrung grundlegend verknüpft ist (vgl. KU 351 ff.). Die Einbildungskraft übt in Bezug auf die ästhetischen Ideen eine komplexe Tätigkeit aus: Sie versucht der Idee eine Vorstellung zu geben, und dieser Versuch gelingt ihr, indem sie ein Sinnesobjekt ausmacht, das auf symbolische Art auf die Idee verweist. Die Tätigkeit der Einbildungskraft kann deshalb in diesem Fall als eine Form der Befragung der Möglichkeiten der Erfahrung gelten. Auf dieser Basis haben einige Interpreten die Hypothese aufgestellt, dass eine Verbindung bestehen könnte zwischen der Tätigkeit der Einbildungskraft und der Epoché Husserls.²⁹ In der Tat erlaubt die Einbildungskraft den Übergang von der Vielfalt der kontingenten Formen zur Identität des Objekts; sie ist ein „Sehen als“, ein Auf-Abstand-Bringen der Erfahrung, die ihrer symbolischen Bedeutung gemäß betrachtet wird und deshalb dem ideellen Übersinnlichen analog wird. Die symbolischen Bilder sind dennoch keine einfachen Zeichen, die auf eine zusätzliche Ebene verweisen würden, sondern Erfahrungswegstrecken der Erfahrung, die auf derselben Ebene die ästhetische Vorstellung, das Bild und das Denken verknüpfen. Der ästhetische Schematismus wird also zu einer Verbindung von Logischem und Prä-Logischem, von Apriori und Aposteriori, eine Begegnung zwischen Lebenswelt und Funktionen der Subjektivität, welche das Sich-Verflechten von Ästhetik und Analytik unterfüttert.
4. Gibt es eine Erkenntnis symbolischer Art? Auf der Grundlage der soeben skizzierten Beschreibung der ästhetischen Ideen und ausgehend von der möglichen Verbindung der ästhetischen Ideen mit der
Vgl. Garroni 1998, 313 – 324; Franzini 2004, 142; Bisin 2006, 249; Depraz 1998, 29 – 56; Gigliotti 2001, 25 – 61.
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Lebenswelt Husserls frage ich nun, ob eine Verknüpfung des ästhetischen Schematismus mit einer eigenen Form der Erkenntnis denkbar wäre und ob diese Art der Erkenntnis an die von Husserl beschriebene Erkenntnis von unten angeglichen werden könnte. Um eine Antwort auf diese Frage zu formulieren, wird es notwendig sein, zuallererst die Beziehung zwischen ästhetischem Urteil und Erkenntnis auszumachen und dann in einem zweiten Schritt festzulegen, welche Form der Erkenntnis durch die ästhetischen Ideen erlangt werden könnte. Bekanntermaßen unterstreicht Kant in der Definition des reflektierenden Urteils die Distanz, die es vom logischen Urteil trennt. Das ästhetische Urteil erkennt demnach dem Objekt kein Prädikat der Erfahrung zu, und es ist kein synthetisches Urteil a priori. Das bedeutet allerdings nicht, dass es nicht mit dem Erkennen verknüpft wäre; Kant selbst legt nämlich dar, dass das ästhetische Urteil ein auf die Erkenntnis im Allgemeinen gerichtetes Urteil ist, das vom Verhältnis zwischen den Erkenntnisvermögen ausgehend formuliert wird und – wenngleich es von den Kategorien unabhängig ist – auf unbestimmte Begriffe Bezug nimmt. In der Ersten Einleitung schreibt Kant außerdem deutlich, dass die Einbildungskraft eines der „Erkenntnißvermögen der Urtheilskraft“ ist (AA XX, 224). Man kann also von einer ästhetischen Erkenntnis sprechen, die in Beziehung steht zum Gefühl des Gefallens und des Missfallens und nicht zum Verstand (wie bei der logischen Erkenntnis) und die sich auf die Tätigkeit der Einbildungskraft in ihrem freien und produktiven Gebrauch gründet. In Bezug auf das Schöne schreibt Kant daher: Sollen sich aber Erkenntnisse mittheilen lassen, so muß sich auch der Gemüthszustand, d. i. die Stimmung der Erkenntnißkräfte zu einer Erkenntniß überhaupt, und zwar diejenige Proportion, welche sich für eine Vorstellung (wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird) gebührt, um daraus Erkenntniß zu machen, allgemein mittheilen lassen: weil ohne diese als subjective Bedingung des Erkennens das Erkenntniß als Wirkung nicht entspringen könnte (KU 238).
Die Tätigkeit der Einbildungskraft mündet also in einen Schematismus ohne Begriff, der in der Theorie der ästhetischen Ideen eine Erkenntnis des Objekts in symbolischer Weise skizziert.Verschiedene Interpreten haben die enge Korrelation von ästhetischem Schematismus und Erkenntnis herausgestellt,³⁰ auch aus einer phänomenologischen Perspektive.³¹ Die Theorie der ästhetischen Ideen, die den ästhetischen Schematismus ohne Begriff skizziert, bringt eine besondere Form der
Vgl. Makkreel 1994; Young 1988, 152; Lee 2004, 208; Rajiva 2006, 114– 126; La Rocca 1999, 260; Goudeli 2003, 208; Marcucci 1990, 17; Garroni 1976, 91. Vgl. Centi 200, 279 – 281 u. Gigliotti 2001, 34.
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Bezugnahme der Einbildungskraft auf einen „unbestimmten Begriff“ hervor, das heißt auf die Möglichkeit der Prädikation im Allgemeinen und somit auf die Erkenntnis überhaupt. ³² Auf diese Weise kann Kant von einem Schematismus auch in Bezug auf die ästhetische Erfahrung sprechen: Der „objektive“ Schematismus der ersten Kritik und der „subjektive“ und begriffslose der dritten Kritik besitzen dieselbe Grundlage: die Urteilskraft im Allgemeinen, die – sowohl für das bestimmende als auch für das reflektierende Urteil – die Einigkeit von Einbildungskraft und Verstand erfordert. Die ästhetische Erfahrung nimmt also in der dritten Kritik einen kognitiven Wert an und erlangt eine bedeutende Rolle in der Erkenntnis überhaupt. Die ästhetische Erkenntnis ist gewiss eine empirische Erkenntnis, die ihren Ausgang nimmt beim Einzelnen der Erfahrung und die eine Unterwerfung unter die Allgemeinheit des Verstandesbegriffes in keiner Weise vorsieht.Wenn die ästhetische Erfahrung einen Wert offenbart im Sinne der „kognitiven“ Seite, dann nicht weil sie eine subjektive Bedingung der empirischen Erkenntnis wäre, sondern – im Gegenteil – weil sie das Objekt zum Gegenstand einer anderen Art von Erfahrung macht.³³ Tatsächlich enthält das Geschmacksurteil etwas unbedingt Ästhetisches, das nicht in den Verstandesprinzipien enthalten sein kann; nichtsdestoweniger besitzt das ästhetische Urteil auch eine epistemologische Natur. Neben die logische, auf die Verstandeskategorien gegründete Erkenntnis stellt Kant also die ästhetische Erkenntnis, die verwirklicht wird im freien Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes und die sich auf das Gefühl des Subjekts bezieht: Es handelt sich dabei gewiss nicht um eine Erkenntnis von oben. ³⁴ In Bezug auf die ästhetischen Ideen äußert sich diese besondere Art der Erkenntnis in noch einmaligerer Weise. Erstens weil die ästhetischen Ideen – wie wir gesehen haben – der unendlichen Vielfalt der empirischen Mannigfaltigkeit entspringen und den paradigmatischen Fall darstellen, in welchem der Verstandesbegriff nicht in der Lage ist, die Erfahrung zu begreifen. Zweitens weil die ästhetischen Ideen eine symbolische Beziehung bestimmen, die das Objekt des ästhetischen Urteils an die ideelle Welt bindet. Es handelt sich also um ein Einzelurteil, in welchem die Ebene des Sinnlichen und des Übersinnlichen zur Vermischung gelangen in einem Schematismus ohne Begriff. Bezüglich der ästhetischen Idee könnte man also – anders als bei der Vernunftidee – nicht nur von ästhetischer Erkenntnis sprechen, sondern auch von symbolischer Erkenntnis. Zwar behauptet Kant explizit, dass „[e]ine ästhetische Idee […] keine Erkenntniß
Vgl. La Rocca 1999, 261. Vgl. La Rocca 1999, 263 – 264. Vgl. Gigliotti 2001, 34– 36.
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werden [kann], weil sie eine Anschauung (der Einbildungskraft) ist, der niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann“ (KU 342); dennoch scheint es, dass Kant sich hier auf die logische Erkenntnis bezieht und nicht auf die Erkenntnis im Allgemeinen. Im § 49, in welchem Kant die ästhetischen Ideen definiert, finden sich tatsächlich diverse Bezugnahmen auf den Bereich der Erkenntnistheorie: Die Einbildungskraft, die die Idee hervorbringt, wird als „productives Erkenntnißvermögen“ angesehen, und das Genie, das für die ästhetischen Ideen empirischen Ausdruck findet, ist das Talent des Subjekts „im freien Gebrauch seiner Erkenntnißvermögen“ (KU 312– 319). Darüber hinaus definiert Kant bei der Beschreibung des Symbols dieses als eine intuitive Vorstellung und legt dar: Wenn man eine bloße Vorstellungsart schon Erkenntniß nennen darf (welches, wenn sie ein Princip nicht der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes ist,was er an sich sei, sondern der praktischen, was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll, wohl erlaubt ist): so ist alle unsere Erkenntniß von Gott bloß symbolisch (KU 353).
Es scheint also vollkommen legitim zu sein, von einer symbolischen Erkenntnis in der Theorie der ästhetischen Ideen zu sprechen: Es handelt sich um eine intuitive Erkenntnis, die eine Vorstellung verwirklicht, indem sie von der Erfahrung in ihrem Chaos und ihrer Unordnung ausgeht, und die mittels der Verstandesbegriffe keinen synthetischen Abschluss findet. Diese Form der ästhetischen Erkenntnis, die – durch die ästhetischen Ideen – auch eine symbolische Äußerung vorsieht, leistet Widerstand gegen die psychologistischen Interpretationen der Kritik der Urteilskraft, die Kant vorwerfen, sein ästhetisches Denken intellektualisiert zu haben, sowie gegen jene Interpretationen, die davon ausgehen, dass die transzendentale Urteilskraft in jedem Fall von oben angewandt werde. Eine recht bekannte Lesart der kantischen Ästhetik stammt von Victor Basch, der – indem er Hermann Cohens Text Kants Begründung der Aesthetik ³⁵ wiederaufgreift – zu zeigen versucht, dass Kants größter Fehler darin bestanden hätte, der Erkenntnis einen höheren Stellenwert eingeräumt zu haben als dem Sinnlichen.³⁶ Diese „Intellektualisierung der Sinnlichkeit“ würde Kants Theorie der Ästhetik zu nichts anderem machen als zu einer „Subjektivierung“ der objektiven Theorien Leibnizens und Baumgartens.³⁷
Cohen 1889. Vgl. Basch 1896, 55. Weitere psychologistische Lesarten sind die von Hermann Mörchen und Walter Biemel (vgl. Mörchen 1970, 1 u. Biemel 1959, 79).
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Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet offenbart die epistemologische Natur des ästhetischen Urteils stattdessen, dass Kant eine nicht bloß logische und verstandesmäßige Auffassung der Erkenntnis besaß, sondern auch eine ästhetische und empirische. Nicht nur die erkenntnishafte Natur des Urteils über das Schöne scheint der Kritik Husserls zu entgehen, welche auf eine lediglich von oben ausgehende Erkenntnis der empirischen Mannigfaltigkeit gerichtet ist; auch die Möglichkeit des Chaos und die Verknüpfung der ästhetischen Idee mit der Erkenntnis erlauben eine Interpretation von Kants ästhetischem Urteil aus einer phänomenologischen Perspektive. Ohne den geringsten Zweifel sind Husserl und Kant durch eine unüberbrückbare Distanz voneinander getrennt: Wie in der Ersten Einleitung deutlich wird, sind die empirischen Gesetze, die der Natur ihre Regelmäßigkeit verleihen, das Ergebnis des Bedürfnisses vonseiten des Subjekts, das natürliche Chaos zu ordnen. In Übereinstimmung mit der Kritik Husserls scheint also die kantische Perspektive im Psychologismus gefangen zu sein; sie geht von Bedürfnissen des Bewusstseins aus und gründet sich auf wenig klare Voraussetzungen bezüglich der Subjektivität.³⁸ Die Absicht Kants, die Wissenschaft von der Natur ausschließlich a priori zu begründen, offenbart sich daher als dogmatische Voraussetzung, die Husserl in seiner Phänomenologie ablehnt. Dennoch erkennt Husserl selbst an, dass die Natur mittels der Erfahrung einem denkenden Ich gegeben ist, welches dem Material der Sinneseindrücke Objektivität verleiht,³⁹ und in der Theorie der ästhetischen Ideen scheint sich die Distanz zwischen Husserl und Kant zu verringern; wenngleich sie offenbar ideellen Charakter hat, nimmt die ästhetische Idee ihren Ausgang bei der Erfahrung – oder besser: in der Erfahrung. In der Theorie der ästhetischen Ideen scheint sich also das zu verwirklichen, was Husserl in Bezug auf das Verhältnis von Objektivem und Subjektivem aufzeigt: Das Subjekt wirkt nicht auf die sinnlichen Inhalte durch die apriorischen Begriffe, das heißt von oben, sondern es agiert in diesen, von unten. In Wirklichkeit verschwindet der Gegensatz von oben – von unten in der Theorie der ästhetischen Ideen: Da keine begriffliche Synthese erzielt werden darf und da das reflektierende Urteil es erfordert, dass das Universelle stets vom empirisch Einzelnen aus gefunden wird, ist das Subjekt beständig eingetaucht in seine tatsächliche Erfahrung. Die Erfahrung ist also kein Ort, den man von oben oder von unten aus erreichte, sondern man befindet sich in ihm als Subjekt, das zu einem Objekt in Beziehung steht, und die kategorisierenden Funktionen werden hier nicht auf die empirische Mannigfaltigkeit angewandt.
Husserl 1956, 401. Vgl. Husserl 1956, 398 und Kern 1964, 286 – 292.
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Eine Betrachtung der ästhetischen Ideen im Lichte von Husserls Kritik an der kantischen Philosophie erlaubt es also, einen wichtigen Untersuchungsweg auszumachen. Tatsächlich ermöglicht sie uns, die ästhetischen Ideen als privilegierten Ort zu betrachten, in welchem sich die Vermittlung von Natur und Freiheit realisiert; diese Vermittlung, die die Urteilskraft mittels eines Überganges bewerkstelligt, eröffnet die Möglichkeit einer gegenseitigen Durchdringung von Sinnlichkeit und Denken, Aposteriori und Apriori auf demselben Gebiet der Erfahrung. Indem Kant die in den ersten beiden Kritiken kontinuierlich vorhandene Sorge um die Trennung von Apriori und Aposteriori aufgibt und das Thema der Anwendung in Angriff nimmt, arbeitet er ein Sich-Verflechten von Erfahrung und Denken aus, welches Husserls Gegensatz von unten – von oben nicht länger rechtfertigt.
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Husserls Lehre von den sinnlichen und kategorialen Anschauungen Der sinnliche Überschuss des Sinnbildungsprozesses und seine doxische Erkenntnisform
1. Einleitung In den folgenden Überlegungen wird der Frage nachgegangen, welchen Status die Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Begriff in der Philosophie Husserls hat und inwiefern sie für die Herausarbeitung eines ästhetischen Wissens fruchtbar gemacht werden kann. Husserl formuliert in den Ideen I das „Prinzip aller Prinzipien“ für die Philosophie, „daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ‚Intuition’ originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt […].“¹ Eine Anschauung ist also die subjektive Erscheinungsweise eines Gegenstandes: Etwas erscheint mir „als“ etwas, d. h. das Selbstsein der Sache ist nicht ein ‚an-sich’ Sein, sondern eine „subjektive[], situationsgebundene[] Gegebenheitsweise.“² Es gibt eine Korrespondenz zwischen der Gegebenheitsweise – dem ‚Wie’ des Erscheinens – und dem Gegenstandsart bzw. dem Gegenstandssinn – dem ‚als Was’ der Gegenstand vermeint ist. Sinnliche und kategoriale Anschauungen konstituieren die Form der Gegenständlichkeit: die sinnliche aus den „Auffassungsstoffen“, die kategoriale aus den „Auffassungsformen“. Sie sind nicht getrennte Bereiche in der husserlschen Phänomenologie, sondern sind durch ein Fundierungsverhältnis ³ aufeinander bezogen: Laut den Logischen Untersuchungen ist eine kategoriale Anschauung⁴ ein
Husserl, Hua III/1, 43. Vgl. Held 1985, 15. Vgl. Husserl, Hua XIX/2, 661. Vgl. Held 1985, 17: Die Phänomenologie geht in ihrem Sinngehalt vom „ursprünglichen ‚leibhaften‘ Erscheinen dessen, worüber sie Aussagen macht“, aus. „Ohne Einsicht (‚intuitio‘, ‚Anschauung‘), die durch ihre Sachnähe und damit Sachhaltigkeit ‚einleuchtet‘ (‚Evidenz‘), bleibt das philosophische Denken ein leeres Argument und Konstruieren.“ Kants Grundsatz, „Begriffe ohne Anschauung sind leer“, gilt immer noch. In den Logischen Untersuchungen erfahren die Begriffe
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durch eine sinnliche Wahrnehmung fundierter intentionaler Akt; in der kategorialen Anschauung erfüllen sich die „kategorial geformten Bedeutungen“.⁵ Im Unterschied zur sinnlichen Anschauung ist die kategoriale Anschauung durch einen „Überschuss in der Bedeutung“ charakterisiert, denn „nur die in []einem ‚Begriff‘ vereinten Merkmalbedeutungen terminieren in der Wahrnehmung“.⁶ In seinen späteren Überlegungen erkennt Husserl aber, dass das Kategoriale auf das Nicht-kategoriale, auf das Vorprädikative bzw. die passive Synthesis hinweist. Im Folgenden wird daher die These vertreten, dass diese Anerkennung einer passiven, vorkategorialen, ursprünglichen Sinnstiftung und die darauf aufbauende sich stets fortbildende Sinnbildung des identischen Gegenstandes im kontinuierlichen Wahrnehmungsverlauf dem Gegenstand einen sinnlichen Überschuss aufprägt, den die kategoriale Wahrnehmung nicht einzulösen vermag. Diesem Überschuss liegen spezifische Wissensformen zugrunde, die nicht mehr ganz im Sinne Husserls, sondern in Anknüpfung an Platons Politeia als eikasía (Vermutung: den Bildern, eikones, entsprechend) und pístis (Hinnahme, Überzeugung) bestimmt werden können. Im letzten Teil des Vortrages wird schließlich ein auf dem Boden der Lebenswelt aufbauendes Fundierungsverhältnis zwischen ästhetischem und wissenschaftlichem Wissen vorgeschlagen.
2. Sinnliche und Kategoriale Anschauungen Als Einführung zum Thema sei gesagt, dass das ästhetische Urteil – über das Schöne – für Husserl kein Reflexionsurteil, sondern die Zuschreibung eines
„Wahrnehmung“ und „Anschauung“ eine Erweiterung (vgl. Husserl, XIX/2, § 45 und 46, 670 – 676). Da die stofflichen wie die kategorialen Formen der Bedeutungen ihre Erfüllung in der Wahrnehmung oder Anschauung finden, bezeichnet Husserl „jeden in der Weise der bestätigenden Selbstdarstellung erfüllenden Akt als Wahrnehmung, jeden erfüllenden Akt überhaupt als Anschauung und sein intentionales Korrelat als Gegenstand“ (Husserl, Hua XIX/2, 671). So gehören Inbegriffe, unbestimmte Vielheiten, Allheiten, Anzahlen, Disjunktiva, Prädikate (das Gerecht-sein), Sachverhalte zu ‚Gegenständen‘, die Akte, durch sie als gegeben erscheinen, zu ‚Wahrnehmungen‘.“ (Husserl, Hua XIX/2, 672). Der Begriff der Wahrnehmung wird auch auf die Imagination erweitert, wodurch das Wahrgenommene Objekt der Einbildung ist. Der „erweiterte Wahrnehmungsbegriff“ bezeichnet im weitesten Sinn auch „allgemeine Sachverhalte“, die „eingesehen“ bzw. „erschaut“ werden; im engeren Sinn wird „individuelles, also zeitliches Sein“ gemeint (Husserl, Hua XIX/2, 673). Husserl unterscheidet weiterhin zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung, „je nachdem […] ein realer oder idealer Gegenstand“ gemeint ist (Husserl, Hua XIX/2, 674). Husserl, Hua XIX/2, 671. Husserl, Hua XIX/2, 660.
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Prädikats zu einem Gegenstand ist. Für Husserl sind die Kategorien gegenständliche Kategorien, die nicht auf unseren Erkenntniskräften beruhen. Bei Husserl trägt die Welt selbst die Prädikate, nicht meine Seele: „Am Gegenstand selbst finde ich das Schöne“.⁷ Die Kategorien, hier z. B. des Schönen, sind bei Husserl keine sinnlichen Begriffe, sondern dasjenige, was wir durch die kategoriale Anschauung erfassen, die ihrerseits durch die sinnliche Anschauung fundiert ist.Wie ist dieses Entsprechungs- bzw. Fundierungsverhältnis zwischen sinnlichen und kategorialen Anschauungen zu verstehen? In der VI. Logischen Untersuchung geht Husserl zunächst von einem Parallelismus zwischen dem „bedeutenden Meinen und dem erfüllenden Anschauen“ aus. Der Ausdruck sei „ein bildartiges Gegenstück der Wahrnehmung“,⁸ so dass jedem Ausdruckselement ein entsprechendes Anschauungsmoment entspricht, durch das sich die Bedeutung des Ausdrucks erfüllen kann. Husserl behauptet: „Wer Köln selbst kennt und demgemäß die wahre Eigenbedeutung des Wortes Köln hat, besitzt in dem jeweiligen aktuellen Bedeutungserlebnis ein der künftig bestätigenden Wahrnehmung genau Entsprechendes.“⁹ Dies jedoch ändert sich, wenn wir keinen Eigennamen als Beispiel nehmen, sondern den Ausdruck „weißes Papier“. Dieser Ausdruck enthält (ebenso wie die einfachen Worte „Papier“ und „weiß“ in den Ausdrücken „das Papier ist weiß“ oder „dieses weiße Papier“) einen „Überschuss in der Bedeutung“ gegenüber der Erscheinung. „Weißes“ – sagt Husserl weiterhin – „weiß seiendes Papier“.¹⁰ Dieser Bedeutungsüberschuss ist einerseits darauf zurückzuführen, dass Termini wie das Sein und das Nichtsein, „das Ein und das Das, das Und und das Oder, das Wenn und das So, das Alle und das Kein, das Etwas und Nichts, die Quantitätsformen und die Anzahlbestimmungen“ kein „mögliches objektives Korrelat“ in der sinnlichen Anschauung finden und daher nicht erfüllt werden können.¹¹ Andererseits verdankt sich dieser Bedeutungsüberschuss der Tatsache, dass die Intention des Wortes „weißes“ sich nur „partiell“ mit dem Farbenmoment des erscheinenden Gegenstandes deckt. Das erscheinende „weiße Papier“ wird hier als weiß erkannt, als „weiß seiendes Papier“. Hier finden wir nicht nur die Form „Sein“ wieder, sondern die partielle Erfüllung des Begriffes „weiß“ in der sinnlichen Wahrnehmung. Hier scheint Husserl den Parallelismus zwischen dem Meinen und dem Anschauen zunächst zu verwerfen.
Husserl, Hua IV, 14. Husserl, Hua XIX/2, 658 f. Husserl, Hua XIX/2, 659. Husserl, Hua XIX/2, 660. Husserl, Hua XIX/2, 667.
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An diesen Schwierigkeiten erkennt Husserl, dass die Idee eines bildlichen Ausdrucks „unbrauchbar“ ist,¹² um das Verhältnis zwischen Bedeutungen und Anschauungen zu beschreiben. Mit der Einführung des Begriffes der „kategorialen Wahrnehmung“ wird der Parallelismus jetzt nicht zwischen „den Bedeutungsintentionen der Ausdrücke und ihnen entsprechenden bloßen Wahrnehmungen, sondern zwischen den Bedeutungsintentionen und jenen in Wahrnehmungen fundierten Akten“¹³ wieder hergestellt. Eine kategoriale Wahrnehmung ist ein intentionaler Akt, der „auf Grund aktueller Wahrnehmung vollzogen“ wird und in dem sich nicht nur die Bedeutungselemente, die einer sinnlichen Wahrnehmung korrespondieren, sondern auch die kategorialen Formen erfüllen.¹⁴ Laut dieser Auffassung finden selbst Bedeutungselemente wie das Ist, das Und oder das Oder ihre Erfüllung in der Wahrnehmung. Der Grund liegt darin, dass sie jetzt nicht für sich selbst, sondern als Bestandteile der genannten verknüpfenden oder formenden Akte betrachtet werden, die einer erfüllenden Anschauung zugeordnet werden können. Husserl ist nämlich von der „wesentliche[n] Gleichartigkeit der Erfüllungsfunktion“ in diesen Fällen überzeugt:¹⁵ Die Ausdrücke „dieses weiße Paper“ und „dieses Papier ist weiß“ sind äquivalent und entsprechen der Aussage: „ich s e h e , dass dieses Papier weiß ist“.¹⁶ Als Anschauungen gelten also nicht nur schlichte sinnliche Wahrnehmungen, sondern auch alle Akte, die „den kategorialen Bedeutungselementen dieselben Dienste leiste[n] wie die bloße sinnliche Wahrnehmung den stofflichen“.¹⁷ Auf diese Weise erhält der Anschauungsbegriff einen „sehr erweiterten Sinn“,¹⁸ denn er umfasst jetzt ganze Sachverhalte. Es handelt sich hier nicht um eine Umdeutung der Begriffe: Jeder erfüllende Akt wird als Wahrnehmung bzw. Anschauung und sein intentionales Korrelat als Gegenstand bezeichnet.
Husserl, Hua XIX/2, 663. Husserl, Hua XIX/2, 661. Husserl, Hua XIX/2, 660. Husserl, Hua XIX/2, 671. Husserl, Hua XIX/2, 660. Husserl Hua XIX/2, 671. Vgl. 665: Husserl unterscheidet zwischen „Form und Stoff des Vorstellens“ bzw. zwischen den „stofflichen resp. formalen Bestandstücken der Bedeutungsintentionen“. In den Bedeutungen wird von der Qualität die Materie unterschieden, welche uns sagt, „als was, als wie bestimmte und gefaßte, die Gegenständlichkeit in der Bedeutung gemeint ist.“ Im kategorialen Gegensatz wird nicht von Materie, sondern von „Stoff“ gesprochen. Damit ist die „intentionale Materie oder auch [der] Auffassungssinn“ gemeint. Husserl, Hua XIX/2, 666.
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Sinnliche und kategoriale Anschauungen (oder Wahrnehmungen) sind folglich durch ein Fundierungsverhältnis aufeinander bezogen:¹⁹ Eine kategoriale Wahrnehmung, in der sich die „kategorial geformten Bedeutungen“ erfüllen, ist ein intentionaler Akt, der durch eine sinnliche Wahrnehmung fundiert ist.²⁰ Die „‚kategorialen Gegenstände‘ oder ‚Gegenstände des aktiven Intellekts‘“ werden zu „originaler Erfahrung“ nur in Ich-Aktionen gebracht und vom Ich erzeugt.²¹ Sie sind wesentlich auf die sinnlichen Gegenstände bezogen; denn sie „bestätigen sich in der Wahrnehmung“, was für Husserl heißt, „dass sie auf den Gegenstand selbst in seiner kategorialen Formung bezogen sind“.²² Die Wahrnehmung findet ihre Erfüllung in diesen „formenden Akten“. Der Gegenstand ist „nicht bloß gedacht, sondern eben angeschaut bzw. wahrgenommen“.²³ Beide, sinnliche und kategoriale Wahrnehmungen, konstituieren die Form der Gegenständlichkeit, die erstere aus den „Auffassungsstoffen“, die zweite aus den „Auffassungsformen“. Der Unterschied zwischen den beiden Formen der Anschauung drohte zu verwischen,²⁴ wäre die kategoriale nicht durch einen „Überschuss in der Bedeutung“ charakterisiert: „Das Papier wird als weiß, oder vielmehr als weißes erkannt, wo wir, die Wahrnehmung ausdrückend, sagen weißes Papier. Die Intention des Wortes weißes deckt sich nur partiell mit dem Farbenmoment des erscheinenden Gegenstandes es bleibt ein Überschuß in der Bedeutung, eine Form, die in der Erscheinung selbst nichts findet, sich darin zu bestätigen.“²⁵ Dasselbe gilt für das Wort „Papier“ in den Ausdrücken dieses weiße Papier und dieses Papier ist weiß. Dieser Überschuss kennzeichnet die Differenz zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung; denn „nur die in seinem ‚Begriff‘ vereinten Merkmalbedeutungen terminieren in der Wahrnehmung; auch hier ist der ganze Gegenstand als Papier erkannt, auch hier eine ergänzende Form, die das Sein, obschon nicht als einzige Form, enthält. Die Erfüllungsleistung der schlichten Wahrnehmung kann an solche Formen offenbar nicht hinanreichen“.²⁶ Hier wird der Wahrnehmungssinn als Sachverhalt begrifflich festgesetzt bzw. gestiftet: Der Begriff findet
Vgl. Husserl, Hua XIX/2, 661: Es handelt sich um den genannten Parallelismus „zwischen den Bedeutungsintentionen und jenen in Wahrnehmungen fundierten Akten“. Husserl, Hua XIX/2, 671. Vgl. Husserl, Hua XXXIX, 38: „Definition: Gegenstände von einem gegenständlichen Sinn, der zu originaler Erfahrung nur in Ich-Aktionen gebracht werden kann, die nicht bloß rezeptiv sind, sondern die Gegenständlichkeit ihrer besonderen Artung nach allererst erzeugen, heißen ‚kategoriale Gegenstände‘ oder ‚Gegenstände des aktiven Intellekts‘.“ Husserl, Hua XIX/2, 660. Husserl, Hua XIX/2, 671. Vgl. Husserl, Hua XIX/2, 709. Husserl, Hua XIX/2, 660. Ebd.
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keine vollkommene Erfüllung in der sinnlichen Wahrnehmung, die immer nur ein Ungefähres bietet. Dieser Bedeutungsüberschuss wird allererst durch die „als“Struktur ermöglicht: Während die einzelnen Wahrnehmungen bzw. Sonderwahrnehmungen zu einer einheitlichen Wahrnehmung „als“ des einen und selben Gegenstandes in einer synthetischen Verbindung verschmelzen, baut sich die Bedeutung von etwas als etwas, „als wirklich“ und „selbst gegeben“ auf die erstere auf.²⁷ Dies bedeutet, dass jede Gegenstandserfassung eine Als-Struktur bzw. eine kategoriale Form enthält. Wichtig ist es zu bemerken, dass es sich hier um keine synthetische Verbindung zwischen den sinnlichen und kategorialen Formen geht – wie bei Kant –, sondern um einen Fundierungszusammenhang, in dem beide Formen ihre Selbstständigkeit bewahren. Wie L. Tengelyi bemerkt, zieht Husserl nicht die naheliegende Schlussfolgerung, dass der sich gleich bleibende Gegenstand sich im stetigen Wahrnehmungsverlauf in seinem Sinn stets fortbildet, während die kategoriale Wahrnehmung jenem einen feststehenden „sinnlich uneinlösbare[n] Überschuss“ an Sinn aufprägt. Im Verlauf der Wahrnehmung bildet sich eine bewegliche, veränderliche „Als-Struktur“ – das Papier wird als weißes Papier, ja überhaupt als Papier erkannt –, während die kategoriale Wahrnehmung durch eine feststehende „Als-Struktur“ gekennzeichnet ist. Dabei unterscheiden sich beide durch ihren Ursprung: Die veränderliche Als-Struktur entsteht aus einer synthetischen Verbindung von Sonderwahrnehmungen, während die statische Als-Struktur mit einem Fundierungszusammenhang verbunden ist.²⁸ Der „Wahrnehmungssinn“²⁹ wird somit begrifflich festgesetzt. Die logischen Kategorien sind also „Formen einer Sinnstiftung“, die einen „sich fortbildenden Sinn“ nicht ausschöpfen können. Selbst die phänomenologische Analyse der sechsten Logischen Untersuchung
Husserl Hua XIX/2, 678. Was mit dieser Selbigkeit gemeint ist, ist die Einheit der Identifizierung, d. h. keine Identität, die erst durch einen Bewusstseinsakt „gegenständlich wird“. Vgl. Husserl Hua XIX/2, 674 f.: „Im Sinn der engeren ‚sinnlichen‘ Wahrnehmung ist ein Gegenstand direkt erfaßt oder selbst gegenwärtig, der sich im Wahrnehmungsakte in schlichter Weise konstituiert. Damit ist aber folgendes gemeint: Der Gegenstand ist auch in dem Sinne unmittelbar gegebener Gegenstand, dass er, als dieser mit diesem bestimmten gegenständlichen Inhalt wahrgenommene, sich nicht in beziehenden, verknüpfenden und sonstwie gegliederten Akten konstituiert, die in anderen, anderweitige Gegenstände zur Wahrnehmung bringenden Akten fundiert sind. Sinnliche Gegenstände sind in der Wahrnehmung in einer Aktstufe da […].“ Dagegen konstituieren Kategorien „neue Objektivitäten […]; es erstehen Akte, in denen etwas als wirklich und als selbst gegeben erscheint, derart, daß dasselbe, als was es hier erscheint, in den fundierenden Akten allein noch nicht gegeben war und gegeben sein konnte.“ Tengelyi 2009, 113. Husserl Hua XIX/2, 150.
Husserls Lehre von den sinnlichen und kategorialen Anschauungen
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erfasse diesen Sinn nicht. Deshalb stellt Tengelyi fest, dass Husserl „keinen anderen Begriff von Gegenstand als einen kategorialen“ kennt.³⁰
3. Die passive Synthesis Wir haben erwähnt, dass der kategoriale Sinnbildungsprozess durch die Bildung eines Bedeutungsüberschusses gekennzeichnet ist. Denn im Unterschied zu dem feststehenden kategorialen Anschauungssinn, der keine vollkommene Erfüllung in der Wahrnehmung findet und daher einen Bedeutungsüberschuss darstellt, bildet sich im Wahrnehmungsverlauf ein sich stets bereichernder bzw. verarmender sinnlicher Anschauungssinn, der vom kategorialen Anschauungssinn nicht völlig erfasst werden kann und somit einen sinnlichen Sinnüberschuss hervorbringt. Der Ursprung dieses von Tengelyi hervorgehobenen sinnlichen Sinnüberschusses liegt m. E. nicht in im Bereich des Prädikativen, sondern im vorprädikativen Bereich. Ich vertrete in diesem Zusammenhang die in der Einführung erwähnte These, dass Husserls Anerkennung eines passiven, vorkategorialen Sinnstiftungsprozesses und die damit verbundene, sich stets fortbildende Sinnbildung des identischen Gegenstandes im kontinuierlichen Wahrnehmungsverlauf dem Gegenstand einen vorkategorialen sinnlichen Sinnüberschuss aufprägt, den die kategoriale Wahrnehmung nicht einzulösen vermag. Für diese These spricht Husserls Auffassung, dass sinnliche Gegenstände als vorgegebene „Substrate von Prädikaten“ verstanden werden müssen, die vor dem Erfassen ursprünglich schon „da“ sind:³¹ Der passiven Sphäre entspricht ebenfalls ein Gegenstand, der als abgehobene Einheit hyletischer Merkmale aufzufassen ist. In seinen späteren Überlegungen erkennt Husserl, dass das Kategoriale auf das Nicht-kategoriale, auf das Vorprädikative bzw. die passive Synthesis hinweist. Der Ursprung der Kategorien liegt nicht erst in einer aktiven Synthesis, wie in den Logischen Untersuchungen behauptet wird,³² sondern bereits auf einer vorprädikativen Ebene und damit außerhalb der Diskursivität; denn die Kategorien entspringen ursprünglich als „Substrate von Prädikaten“ einer passiven Synthese und bilden die Grundlage des Begriffs. Schon in der Passivität findet diese „fortschreitende Sinnesschöpfung“³³ bzw. „Sinnbildung“ (im Sinne M. Richirs)³⁴ statt,
Vgl. Tengelyi 2009, 113. Husserl, Hua XXXIX, 36 f.Vgl. Husserl, Hua XI, 36: „Die ursprüngliche, normale Wahrnehmung hat den Urmodus ,seiend, geltend schlechthin‘, es ist das die schlechthinnige, naive Gewißheit. Der erscheinende Gegenstand steht in unbestrittener und ungebrochener Gewißheit da.“ Vgl. Husserl, Hua XIX/2, 670. Husserl, Hua XXXI, 25.
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die dem Gegenstand im stetigen Wandeln der Anblicke einen sinnlichen Sinnüberschuss verleiht. Die Intentionalität erweitert sich in der passiven Sphäre um das „Moment des Strebens“, das in der Sphäre des prädikativen Denkens als „Wille[] zur Erkenntnis“ und in den Stufen der vorprädikativen Erfahrung als „Interesse“, „Ichzuwendung“ und als ein „tendenziöses Fortstreben zu immer neuen Gegebenheitsweisen desselben Gegenstandes“ auftritt.³⁵ Diese Tendenzen werden von Erwartungsintentionen hinsichtlich der in jeder Wahrnehmungsphase ungesehenen Seiten des Gegenstandes begleitet, deren Erfüllung sich „in eins“ mit der Befriedigung des Interesses vollzieht.³⁶ Das Interesse ist „die Triebkraft der aktiven Objektivierung, der ‚Erkenntnis‘, und ist darum ‚Erkenntnisinteresse‘ genannt“.³⁷ Dies bedeutet, dass die Intentionalität interessenbedingt ist. Dieses Erkenntnisinteresse führt zur Thematisierung seines Gegenstandes: Die Ichakte haben ein Thema, den Gegenstand als Substrat und Zentrum des Interesses. Der Ursprung ist die Apperzeption einer konkreten Situation,³⁸ in der ein Begriff – eine logische Kategorie – verdeutlicht werden kann, der allererst durch diese Auffassung gegründet wird. So verweist das Kategoriale auf das Nichtkategoriale, auf das Vorprädikative bzw. auf die passive Synthesis,worin „eine ursprüngliche Sinnesformung konstituiert wird, […] eine Sinnesformung, vermöge deren die Worte Subjekt und Bestimmung ursprünglich ihre Bedeutung gewinnen“.³⁹ Auf der vorprädikativen Ebene decken sich allererst ein Gegenstand und seine Bestimmungen durch eine „eigenartige Identifizierung“, die keine diskursive ist, und gewinnen so einen Sinn.⁴⁰ Im
Richir 2001, 82; vgl. 83: „Man kann ohne Übertreibung sagen, daß Husserl ausgehend von der Wahrnehmung immer mehr die Faktizität des Sinns entdeckt hat – eines sich bildenden und zu bildenden Sinns als Seinssinn und als zu seiender Sinn, der sich nicht auf Eindeutigkeit zurückzuführen läßt, die zwar Begriff oder Bedeutung immer unterstellen, aber nie einlösen.“ Vgl. Husserl, EU, 92 f. Ebd. Husserl, Hua XXXI, 17. Das Interesse wird von einem eigenen Gefühl begleitet, der Freude an der Bereicherung des Horizontes. Vgl. Husserl, Hua XI, 336: Mit „Apperzeptionen“ sind intentionale Erlebnisse gemeint, die „in sich etwas bewusst haben als perzipiert, was nicht in ihnen selbstgegeben ist (nicht vollkommen) […]. Apperzeptionen transzendieren ihren immanenten Gehalt“, d. h. sie verweisen auf die möglichen Erfüllungssynthesen innerhalb eines Gegenstandshorizontes. Husserl, Hua XXXI, 20. Vgl. Husserl, Hua XXXI, 22 f.: Es findet eine „ganz eigenartige Synthesis der Identitätsdeckung“ statt. „Es ist nicht totale Identität, wie wenn wir synthetisch von einer Vorstellung zu anderen Vorstellungen im Bewusstsein desselben Objekts übergehen und aktiv es selbst mit sich selbst identifizieren. Vielmehr ist es eben eine eigenartige Identifizierung, eben diejenige, in der ein Gegenstand und seine Bestimmung sich decken, in der ursprünglich das Bewusstsein des Sinnessubstrats und Bestimmung (Eigenheit) erwächst. Doch muss beigefügt werden, dass eine
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Vorkategorialen findet ein Sinnbildungsprozess statt, aus dem eine Sinnstiftung hervorgeht.⁴¹ Die Kategorien gründen sich ursprünglich auf passiv synthetisierte Substrate von Eigenheiten; der auf diese Weise gebildete Gegenstand, der noch keine Züge einer aktiven Leistung trägt, ist eigentlich ein notwendiger „Grenzbegriff, eine Abstraktion“. Alles, was uns je affiziert, bildet nämlich schon eine sozusagen „blinde“ Einheit konstitutiver Merkmale.⁴² Die Quelle, aus der die Prädikate schöpfen, sind die Gefühle.⁴³ Doch die primitivste Entwicklungsreihe vollzieht sich unabhängig von allen aktiven Gefühlsleistungen und beginnt bei den hyletischen Daten, die sich in der „lebendigen Gegenwart“ miteinander als „affektive hyletische Einheiten“ homogen verflechten.⁴⁴ Die Konstitution der typischen Gegenstandsstruktur als abgehobener Einheit erfolgt dank der Verhältnisse von Affinität, Kontinuität und Kontrast, wobei die Gesetze der Assoziation die Vereinheitlichung allererst ermöglichen.⁴⁵ „Affektion“ ist im Prinzip ein „Vollzugsmodus der Objektivation“, eine aktive Leistung, durch die ein bewusster Gegenstand einen „bewusstseinsmäßigen Reiz“ auf das Ich ausübt.⁴⁶ Diese „objektivierende Affektion“, worin das Ich ein „erkennendes Ich“ ist, ist von der dabei vorausgesetzten „Gefühlsaffektion“, worin das Ich ein „fühlendes Ich“ ist, zu unterscheiden.⁴⁷ Es kann nämlich nicht alle Affektion infolge einer Weckung durch andere Affektionen entstanden sein: Ursprünglich begegnet uns eine voraffektive Einheitsbildung, eine durch einen „affinen Zusammenhang“ gegliederte Einheit, die als „Nullfall der Weckung“ zu bezeichnen ist und die sich im „Unbewussten“ abspielt.⁴⁸ Denn ohne jedwede aktive Ichbeteiligung, also in der Passivität, fungiert die Affektion als ein objektivierender Modus niederster Stufe: Die Affektion entsteht im Spiel zwischen einem Reiz, den die Objekte ausstrahlen, und der dadurch geweckten Gefühlszuwendung. Ein „fühlendes“, „passives“ Bewusstsein unterliegt einem Streben, einem Begehren und einem Fliehen als
Modifikation der betreffenden Deckung auch schon passiv erfolgen muss, schon wenn die passive Affektion des S und die des α im passiven Ich zusammentreffen oder auch bei wachem Ich“. Erst in der „diskursiven Aktivität vollzieht sich aber eine aktive Synthesis der Identifikation zwischen S und α, und sie fundiert die aktive Erfüllung der thematischen Intention.“ Vgl. Tengelyi 2007, insbesondere Kap. IX, „Erfahrungssinn und kategorialer Ausdruck“, 186 – 195. Vgl. Husserl, Hua XXXI, 15. Vgl. Husserl, Hua XXXI, 7. Vgl. Husserl, Hua XI, 160 ff. Vgl. Husserl, Hua XI, 159. Vgl. Husserl, Hua XI, 148. Vgl. Husserl, Hua XXXI, 9. Vgl. Husserl, Hua XI, 153 f.
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Modus des Strebens nach dem Objekt der Zuwendung. Die Erfüllung dieses Strebens, das in der passiven Synthese eine der Intentionalität parallele Rolle spielt, bringt Entspannung und Freude mit sich.⁴⁹ Dies bedeutet m. E., dass Husserl nicht nur einen kategorialen Begriff des Gegenstandes kennt, sondern auch einen vorkategorialen „Grenzbegriff“: der Gegenstand wird als eine aus der Verflechtung hyletischer Daten abgehobene Einheit verstanden, die durch die passive Gefühlszuwendung eines auf Reize antwortenden, fühlenden Ich entsteht. Die Kategorien sind also keine Vernunfteinsicht, die nachträglich auf die Gegenstände reflektiert, sondern sind ursprünglich in einer passiven Synthese als Substrate von Eigenheiten gegründet, die als Motivationsgrundlage zur Bildung des Begriffs fungieren. Diese ursprüngliche „schöpferische Aktivität“ einer „fortschreitenden Sinnesschöpfung“ hat den „Charakter der Einheit einer Selbstgebung“,⁵⁰ d. h. der faktischen Vorgegebenheit. Auf dieser passiven Ebene zeichnet sich m. E. eine sinnlich affektive Überschussstruktur ab: Wie oben erläutert entsteht aus der sinnlichen Wahrnehmung der Verhältnisse von Kontinuität, Affinität und Kontrast zwischen sich verflechtenden hyletischen Daten eine Entwicklungsreihe, die dem „Gegenstand“ einen sinnlichen Überschuss aufprägt, zumal diese hyletische Einheit sich fortschreitend an anschaulichem Gehalt bereichert, während sie „begrifflich“ fest als abgehobene Einheit erfasst wird. Erst wenn dieser passiv konstituierte Gegenstand aktiv durch eine „vollbewusste Zielsetzung und Zwecktätigkeit“⁵¹ intentional erfasst wird, vollzieht sich die aktive Objektivierung, die den Gegenstand „im eigentlichen Sinn“ ergibt; einen Gegenstand, der „mit sich selbst Identisches [ist] und […]ursprünglich konstituiert [ist] als thematischer Gegenstand für ein Ich in identifizierender Aktivität.“⁵² Das Fortstreben nach neuer Erkenntnis ist mit einem Interesse an der Bereicherung des Gegenstandes verbunden. So wird der Sinnesgehalt des Gegenstandes bereichert, teils durch die fortdauernde Wahrnehmung, teils durch die „Weckung seiner dunklen Horizonte“. Es ist dieser „Wille zur Erkenntnis“,⁵³ diese bewusste teleologische Ziel- und Zwecksetzung, die erstmals die Horizonte der unendlichen Abschattungsmannigfaltigkeit des Gegenstandes und die damit verbundene Unmöglichkeit vollständiger Erfüllung eröffnet.
Husserl, Hua XXXI, 8 f. Vgl. Husserl, Hua XXXI, 25: „Es ist eine fortschreitende Sinnesschöpfung, eine fortschreitende Gegenstandskonstitution, und zwar eine ursprüngliche und selbstgebende, eben im Verlauf der wirklich schöpferischen Aktivität.“ Husserl, Hua XXXI, 16. Husserl, Hua XXXI, 25. Husserl, Hua XXXI, 17.
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Es zeichnen sich auf diese Weise drei verschiedene Überschuss-Strukturen ab: Der sich stets bereichernde, affektiv-sinnliche Überschuss gegenüber der Erfassung als abgehobene Einheit im vorkategorialen Bereich hebt sich deutlich ab von dem feststehenden Bedeutungsüberschuss einerseits und von dem sich verändernden sinnlichen Überschuss andererseits – wobei die letzteren beiden Überschüsse dem kategorialen Bereich angehören. Es wird somit ersichtlich, dass im vorkategorialen wie im kategorialen Bereich sowohl die Erfassung als abgehobene Einheit sowie die logischen Kategorien einen Sinn begrifflich zu stiften versuchen, ohne den sich fortbildenden sinnlichen Sinn ausschöpfen zu können. Es verbleibt eine sich ständig verändernde Differenz zwischen Sinnlichkeit und Begriff, die den angestrebten Parallelismus in Frage stellt.
4. Ästhetisches Wissen Wir haben erwähnt, dass die Intentionalität durch ein Streben gekennzeichnet ist, das in der Sphäre der vorprädikativen Erfahrung als Interesse und in der des prädikativen Denkens als „Wille zur Erkenntnis“ auftritt. Das Interesse ist die Triebkraft der aktiven sowie der passiven Objektivierung, so dass die Intentionalität interessenbedingt und -getrieben ist. Dieses Interesse wird von der Erwartung begleitet, die ungesehenen Seiten des Gegenstandes zu erfassen, deren Erfüllung mit der Befriedigung des Interesses zusammenfällt. Was bedeutet hier Erkenntnis für Husserl? Erkenntnis besteht in der Deckungssynthese zwischen einer Bedeutungsintention und einem anschaulichen Akt desselben Wesens, wodurch das im Bedeuten Gemeinte mit dem in der Anschauung präsentierten Gegenstand identifiziert wird. Die Erkenntnis ist also ein synthetischer Vollzug, in dem zwei Vorstellungen eines Gegenstandes – die reinen Bedeutungsintentionen und die reinen Anschauungen – sich decken. Aus der Übereinstimmung bzw. „Deckung“ von Gemeintem und Gegebenen erwächst die Erkenntnis; keineswegs ist allerdings die direkte Anschauung eines Gegenstandes als Erkenntnis zu bezeichnen. Erst wenn die Anschauung zur Erfüllung einer Bedeutungsintention dient, trägt sie einen Erkenntniswert.⁵⁴ Husserl unterscheidet weiterhin zwei Arten der Erkenntnissynthese: eine partielle, wenn sich z. B. die Bedeutungsintention durch eine Anschauung erfüllt, die mehr oder weniger enthält, „als zu ihrer Erfüllung vonnöten ist“, oder eine totale, wenn sie sich Vgl. Husserl, Hua XIX/2, 571: „[Es ist] evident, daß es im Prozeß der Erfüllung die Bedeutungsintention des Ausdrucks ist, die sich ‚erfüllt‘ und dabei mit der Anschauung zur ‚Deckung‘ kommt, und daß somit die Erkenntnis als das Ergebnis des Deckungsprozesses diese Deckungseinheit selbst ist.“
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völlig decken.⁵⁵ Die partielle Erkenntnissynthese ist folglich durch einen Überschuss oder ein Mangel an Anschaulichkeit gegenüber der Begrifflichkeit gekennzeichnet. Dieser Bereich der partiellen Erkenntnissynthese, worin der Anschauungsgehalt den Maßstab für die Weise der Erfüllung der Intention liefert,verdient näher beleuchtet zu werden, wenn es um die Bestimmung eines ästhetischen Wissens geht. Nicht mehr ganz im Sinne Husserls, sondern in Anknüpfung an Platon im X. Buch der Politeia (vgl. 602a f.) und im Sophistes (vgl. 233a f.) kann der Unterschied zwischen zwei verschiedenen ästhetischen Wissensformen festgesetzt werden, die durch eine partielle Erkenntnissynthese begründet werden: Der sinnliche Überschuss im Sinnbildungsprozess ergibt eine doxische Erkenntnisform, die unsere alltäglichen Erfahrungen bestätigen (pístis) oder ihnen widersprechen (eikasía) kann,⁵⁶ während die Sinnstiftung aufgrund des Bedeutungsüberschusses ein epistemisches Wissen ergibt, das den Hintergrund unseres gewöhnlichen Verhaltens bildet. Die zwei Erkenntnisarten, eikasía (Vermutung) und pístis (Hinnahme, Überzeugung) unterscheiden sich je nach dem Grad der Sicherheit, mit dem sie die Wirklichkeit wahrnehmen:⁵⁷ Eikasía ist die unsichere Erkenntnisart, weil sie Scheingebilde wahrnimmt, die Abbilder der Gegenstände der pístis sind. Die pístis ist der Wahrnehmungsglaube: Ihre Gegenstände, Urbilder, Spiegelbilder oder wahrhafte Bilder, existieren so, wie sie wahrgenommen bzw. „erfahren“ werden, im Sinne Husserls. Denn die apperzeptive Auffassung von etwas als etwas ist immer von Erwartungsintentionen begleitet: Sehen wir die Vorderseite eines farbigen Gegenstandes, so erwarten wir „eine Farbe“ auf der Rückseite. Es sind
Husserl, Hua XIX/2, 578. Vgl. Wieland 1982, 201– 208: Das Liniengleichnis (509d ff.) in der Politeia ist als Unterscheidung sowohl von Gegenstandsbereichen als auch von Formen des Wissens und des Erkennens zu verstehen. Die erste Teilung unterscheidet zwischen dem Sichtbaren (Wahrnehmung) und dem Denkbaren (Denken). Innerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Welt sind Realitätsstufen und entsprechenden Wissensformen zu unterscheiden: Im Bereich der Abbilder die eikasía, im Bereich der soliden Dinge die pístis. Eikasía kann als eine Gestalt der Meinung verstanden werden, die nicht zwischen Urbild und Abbild zu unterscheiden weiß. Die eikasía kann das Abbild als solches nicht erfassen und deshalb nicht zwischen Urbild und Abbild innerhalb der Sinneswelt unterscheiden. Sie kann die Abbilder nicht als Abbilder erkennen, so dass sie der Täuschung ausgesetzt ist. Die pístis dagegen ist zu dieser Unterscheidung fähig; sie ist imstande, das Bild als Bild zu erfassen und ist deshalb frei von Zweifel. Vgl. Ross 1951, 67 f.: „Eikasía means here ‚apprehension of images’ (eikones), i. e. of shadows and reflections […]. Eikasía in its ordinary sense (=‚conjecture’) is a consciously insecure attitude towards its objects, pístis an attitude which, whether well or ill grounded, is free from hesitation. Eikasía and pístis as used here by Plato are distinguished […] by a smaller or greater actual security in their grasp of reality“.
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„naive“,⁵⁸ „empirische, primitive Gewissheiten“ im Spiel, die „Spielräume offener Möglichkeiten“⁵⁹ auf sich beziehen. Diese Offenheit besagt, dass der Gegenstand keine feststehende Essenz hat: Die Eigenschaften können sich offen gestalten, jedoch als eine von den vielen möglichen Besonderungen eines allgemeinen Typus, der als allgemeiner Inhalt einer Erwartung in der Auffassung vorgezeichnet ist.⁶⁰ Werden unsere Erwartungen erfüllt, hat sich unser Wahrnehmungsglaube (pístis) bestätigt; werden sie jedoch enttäuscht, so entsteht ein „Widerstreit“⁶¹ zwischen unseren Erwartungen und dem neuen Sinngehalt des Gegenstandes. Die Negation des erwarteten Gegenstandssinnes „erhält den Charakter des nicht so, vielmehr anders“,⁶² so dass der Gegenstand erneut expliziert und zu „aktualisierter“ Erkenntnis gebracht werden muss.⁶³ Die eikasía als unsichere Erkenntnisart, die zum Widerspruch zwischen Vorzeichnung und selbstgegebenem Anschauungsgegenstand führt, drückt sich in einer Widerlegung der vorgefassten Überzeugungen und im Auftreten des Neuen aus. Diese Erfahrung der Durchkreuzung einer Erwartung überkommt uns als eine Überraschung und gibt uns etwas Neues zu verstehen bzw. zu erleben, dessen Sinn als Überschuss der bestehenden Begrifflichkeiten noch gestiftet werden soll. Diese Sinnstiftung, die den Charakter eines Ereignisses hat, ermöglicht uns eine neuartige Erfahrung, ein „ästhetisches Erlebnis“ im Sinne Gadamers,⁶⁴ der uns dem Gewohnten entrückt. Zugleich aber bezieht uns dieses Erlebnis auf das Ganze unserer Lebenswelt zurück, denn die Welt ist nicht eine Totalität von etablierten Sachverhalten oder Dingen, sondern ein Zusammenhang von beweglichen und sich verändernden Sinnbildungen. Beide Erkenntnisformen, die doxische und die epistemische, bilden folglich die spezifisch ästhetische Wissensform. Wie verhält sich die ästhetische Wissensform gegenüber dem wissenschaftlichen Wissen? Auf diese Frage kann hier nur in Umrissen eingegangen werden. Husserl hat sich der Frage nach dem Verhältnis von Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis in der Krisis-Abhandlung gewidmet. In diesem Sinne führt Husserls phänomenologischer Anspruch („Wir wollen auf die ‚Sachen selbst’ zurückgehen“)⁶⁵ zu den Phänomenen bzw. zur Erfahrung der Art und Weise ihres Erscheinens. Das Ziel dieses Rückgangs, die Lebenswelt, die auf die konkrete
Husserl, EU, 105. Husserl, Hua XI, 47. Vgl. Husserl, Hua XI, 43. Husserl, EU, 95, 227. Husserl, EU, 95. Husserl, EU, 144. Vgl. Gadamer 2010, 75. Husserl, Hua XIX/2, 10.
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Problematik der Erfahrung verweist, hat in ihrer Anschauungsgebundenheit den Charakter einer Fundierung des wissenschaftlichen Wissens. Denn in seiner KrisisAbhandlung wirft Husserl der Wissenschaft vor, ihren eigenen Ursprung, die Lebenswelt, vergessen zu haben, wodurch jegliche Lebensnähe verloren gegangen sei. Diesen lebensweltlichen Ursprung wiederzugewinnen bedeutet hier, das ästhetische Wissen als Bestandteil der lebensweltlichen Grundlage zu betrachten, auf der die Wissenschaften ihr spezifisches Wissen aufbauen können. Ein Fundierungsverhältnis soll somit angestrebt werden, das die spezifischen Wissensformen in ihrer Eigenart respektiert, jedoch zugleich aufeinander bezieht, so dass der Abgrund zwischen Ästhetik und Wissenschaft überwunden werden kann. Die Ästhetisierung des Überschusses der Sinnlichkeit gegenüber der Begrifflichkeit erzeugt somit ein spezifisches ästhetisches Wissen, das heutzutage durch die Überschreitung der klassischen, vitruvianischen Ästhetik entsteht. Der Kunstcharakter der hier zu analysierenden Raumkunst besteht darin, dass der Zusammenhang von Räumlichkeit, Bewegung und Leib hinterfragt wird. Dabei werden die Formen verfremdet, übersteigert, erodiert, bis sie ihre eigenen Grenzen zum Formlosen hin überschreiten. In der Eröffnung einer Auseinandersetzung zwischen dem Ästhetischen und dessen Exzess wird die herkömmliche Stabilität der Begriffe berührt, geöffnet, zersetzt; dabei werden die normalen Ordnungen zersprengt: Ein Wissen, das sich nicht in bestehenden Begrifflichkeiten, sondern eher in sinnlichen Erfahrungen ausdrücken lässt.⁶⁶
Literatur Derrida, Jacques (1987): Psyché. Inventions de l’autre, Galilée: Paris. Eisenman, Peter (1984a): „The futility of objects: decomposition and process of differentiation“, in: Lotus International 42, 63 – 75. Eisenman, Peter (1984b) „The end of the classical“, in: Perspecta: The Yale Architectural Journal 21, 154 – 173. Gadamer, Hans-Georg (2010): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Siebeck. Held, Klaus (1985): „Einleitung“, in: Edmund Husserl, Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I, hg. von Klaus Held, Stuttgart: Reclam, 5 – 53. Husserl, Edmund (1952): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Husserliana Bd. IV), hg. von Marly Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff.
Vgl. Derrida 1987; Eisenman 1984a und 1984b; Vidler 1992; Schumacher 2010 sowie verschiedene Ausgaben der Architekturzeitschrift Architectural Design.
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Husserl, Edmund (1966): Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918 – 1926 (Husserliana Bd. XI), hg. von Margot Fleischer, Den Haag: Martinus Nijhoff. Husserl, Edmund (1972): Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (EU), hg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg: Meiner. Husserl, Edmund (1977): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch. Allgemeine Einführungen in die reine Phänomenologie, 1. Halbband: Text der 1.–3. Auflage (Husserliana Bd. III/1), hg. von Karl Schuhmann, Den Haag: Martinus Nijhoff. Husserl, Edmund (1984): Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (Husserliana Bd. XIX/2), hg. von Ursula Panzer, Den Haag: Martinus Nijhoff. Husserl, Edmund (2000): Aktive Synthesen: Aus der Vorlesung „Transzendentale Logik“ 1920/21. Ergänzungsband zu „Analysen zur passiven Synthesis“ (Husserliana Bd. XXXI), hg. von Roland Breeur, Dordrecht: Kluwer. Husserl, Edmund (2008): Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution, Texte aus dem Nachlass (1916 – 1937) (Husserliana Bd. XXXIX), hg. von Rochus Sowa, Dordrecht: Springer. Richir, Marc (2001): Phänomenologische Meditationen: Zur Phänomenologie des Sprachlichen, übersetzt von Jürgen Trinks, Wien: Turia + Kant [Französisches Original: Méditations phénomenologiques, Grenoble: Millon 1992]. Ross, David (1951): Plato’s Theory of Ideas, Oxford: Clarendon Press. Schumacher, Patrick (2010): The Autopoiesis of Architecture. A New Framework for Architecture, Hoboken: John Wiley & Sons. Tengelyi, Lázló (2007): Erfahrung und Ausdruck, Dordrecht: Springer. Tengelyi, Lázló: (2009): „Husserls Lehre von den kategorialen Anschauungen“, in: Rudolf Bernet/Antje Kapust (Hg.), Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, Paderborn: Wilhelm Fink, 107 – 114. Vidler, Anthony (1992): The Architectural Uncanny. Essays in the Modern Unhomely, Cambridge: MIT Press. Wieland, Wolfgang (1982): Platon und die Formen des Wissens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
3. Teil Anwendungen: Musik, Religion und die Wissenschaften
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Zwischen Genetik und klassischer Musik: Zur Philosophie sinnlichen Wissens 1. Einleitung Was ist sinnliches Wissen? Ich möchte dieser Frage nachgehen. Dabei geht es mir nicht um disziplinäre Schubladen, wie etwa Ästhetik als Fach des kunstschönen Gegenstandes oder wissenschaftliche Bildgebung als Methode zur Erforschung „natürlicher“ Gegenstände. Dem Impuls der neueren Forschungen zu Rethinking Epistemology ¹ folgend möchte ich ästhetisches Wissen als Wissensform neben anderen begreifen, wobei ich im weiten Sinne des Wortes von „Wissen sinnlicher Form“ sprechen möchte.² Auch wenn Ästhetik mit der Lehre des Kunstschönen
So lautet der Titel der ersten beiden Bände zur Reihe Berlin Studies in Knowledge Research, einem Projekt des Innovationszentrums Wissensforschung der TU Berlin (Abel/Conant 2012), in dem sich Grundlagentexte zum Forschungsstand der Wissensphilosophie und Epistemologie versammelt finden. „Knowledge research plays a fundamental role in all processes of human perception, speech, thought, and action. The fluid function of the triangular relation between an individual, other persons, and the world always already involves and presupposes indispensable forms of knowing.“ (Abel 2012, 1). Günter Abel spricht hier Grundgedanken an, die uns im Fortgang weiter begleiten werden: Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Wissen; der Status des Erkennens als Prozess und Aktion; die Rolle verschiedener Wissensformen im Kontext der Verbindung aus Individuum, anderen Menschen und Welt. Ich deute letztere Verbindung im Sinne der zu entwickelnden Konzeption einer Hermeneutischen Epistemologie als 1PP (Individuum, Selbstvollzug, Standpunkt der persönlichen Erfahrung), 2PP (andere Menschen, soziales Feedback, Rolle der Spiegelneuronen) und 3PP/1PPP/3PPP (Welt als Ineinander aus Beobachterstandpunkt [3PP], sozialem und kulturellem Horizont [1PPP] und universalisierbaren Aussagen bzw. Naturgesetzen [3PPP]). Nach Abel muss Wissensforschung das Zusammenspiel folgender Wissensformen thematisieren und reflexiv einholen: knowing-how vs. knowing that; begriffliches vs. nicht-begriffliches Wissen; implizites vs. explizites Wissen (Abel 2012, 3 u. 33 ff.). Ich werde dieser Heuristik nicht ganz folgen, sondern die fünf Wissensformen Sensomotorik, Sinnlichkeit, Emotionalität, Propositionen und philosophische Reflexion unterscheiden. Dabei bette ich diese in eine Heuristik leiblicher Grund- und Horizontalperspektiven ein, wobei das Dreieck „Individuum-Anderer-Welt“ (siehe auch Abel 2012, 12 u. 21) eingeschlossen ist, aber auch weiter ausdifferenziert im Sinne einer Epistemischen Perspektivität transformiert wird. Weiterhin arbeite ich im Folgenden Bezüge zur gegenwärtigen Wissenschafts-, Technik- und Musikphilosophie ein. Siehe zur Sinnlichkeit als Wissensform in der Musik die in Kooperation mit dem Zentrum Innsbruck Media Studies entstandenen Vorstudien Funk 2011 und Funk 2012, sowie der in Ko-
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assoziiert wird, und insofern ästhetisches Wissen als epistemischer Sonderfall der bildenden oder musischen Künste erklärbar wäre, bleibt zu fragen: Gibt es allgemeine sinnliche Wissensformen, die leiblich-organisch und kulturell eingebettet menschliches Erkennen und Handeln prägen? Mit dieser Frage verbinde ich bereits Vorannahmen. Zuerst gehe ich davon aus, dass Sinnlichkeit eine leiblich-sensorische Basis hat, die natürlich-evolutionär und „genetisch“³ geprägt ist. Damit verbunden steht beim Menschen immer auch die Annahme einer eng verzahnten kulturellen Evolution. Der menschliche Leib wie auch der leibliche Geist sind gleichermaßen Natur- wie Kulturprodukte.⁴ Wir kultivieren unsere organisch-sinnlichen Potenziale durch Bildung. Einige Beispiele seien genannt: – Gehörbildung im Musikunterricht in der Schule bis hin zur professionellen auditiven Ausbildung an Konservatorien oder Musikhochschulen;⁵ operation mit der Universiteit Tewente (Enschede, Niederlande) und Hogeschool Gent (Belgien) entstandene Entwurf zur Epistemologie musikalischer Gesten Funk/Coeckelbergh 2013. Wenn wir von „Gen“ sprechen oder von „Genom“ oder „Genetik“, begeben wir uns in einen Raum sprachlicher Unschärfe. Die phänomenalen Bedeutungsschichten dieser Worte sind konstituiert durch instrumentelle Praxis – einen Aspekt der Wissenschaftsphilosophie, auf den ich zu sprechen kommen werde. „Genes as we know them today are still imprecise objects.They owe their existence more than to any theory to the practices and instruments that helped bring the new biology into being.“ (Rheinberger 2010b, 159). Hans-Jörg Rheinberger fokussiert diesen Umstand, indem er die Unschärfen unseres Forschens zwischen „Genomen“ und „Phänomenen“ als Konstitution einer organisch eingebetteten Ganzheit ausweist.Was wir erforschen ist nicht nur ein reines Naturprodukt, welches simple Informationen trägt oder sich auf eine statische Polypeptidkette reduzieren ließe. Er schreibt: „We are farther than ever from being able to define „the gene“ as a simple constitution of DNA and an informationcarrier for a simple polypeptide chain. […] Yet the time has come to treat genomes and phenomes as two halves of an embodied whole.“ (Rheinberger 2010b, 166). Bernhard Irrgang legt diese beiden Seiten der Medaille einer synoptischen Naturalisierung menschlich-leiblicher Geistigkeit zugrunde und arbeitet sie auf der Grundlage impliziten Umgangswissens in einer Doppelgliederung aus (vgl. Irrgang 2007). Man vergleiche hierzu auch die Forschungsergebnisse Friedemann Schrenks zur Paläoanthropologie. Der Autor deutet die Entstehung des modernen Homo Sapiens auf der Basis von Werkzeugverwendung, wobei kulturelle und natürliche Evolution untrennbar ineinandergreifen (Schrenk 2008, 77, 99 u. 122). Die Verschränkung kultureller und natürlicher Evolution verweist auf jene Formen materieller und technischer Phänomenkonstitutionen, die auch Rheinberger für die Forschungen zum Gen reklamiert (siehe Anm. 3). Nicht nur in der modernen Biologie, sondern in der Menschheitsgeschichte deutlich früher lassen sich materielltechnische Umgangsformen als Bindeglied zwischen Kultur und Natur in der menschlichen Evolution ausweisen (vgl. Irrgang 2008b, 55 ff.; Müller-Beck 2008, 18 ff., 28 u. 30). „Denn ganz gleich, ob ihr Schwerpunkt im praktischen oder theoretischen Bereich liegt – allen Musikerinnen und Musikern ist eines gemeinsam: ein aufmerksames Hören und das ständige Bemühen, dieses zu verfeinern.“ (Kaiser 2009, XI). „Wie dabei sinnliches und kognitives Hören und Wissen (das in jeder Kunst immer zugleich sinnliches Wissen ist) ineinandergreifen, soll
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wissenschaftliche Bildinterpretation, etwa das Ausdeuten astronomischer Visualisierungen von Radiowellenteleskopen; aber auch das akustische Interpretieren, etwa des knackenden Geigerzählers; oder medizinische Bildinterpretationen bei der Auswertung von Visualisierungen der Röntgenapparate oder Kernspintomographen als Bestandteile wissenschaftlicher und medizinischer Ausbildung;⁶ das alltägliche Lernen des Umgangs mit technischen Oberflächenstrukturen, beispielsweise das haptische und visuelle Handhaben von Touchscreens bei Fahrkartenautomaten oder Smartphones; vielleicht bald auch das verbalsprachliche Umgehen mit Servicerobotern.⁷
Eine so breite Fragestellung mit sinnlichem Wissen zu assoziieren ist geboten, weist doch die Transformation der Aisthesis aus ihren altgriechischen Bedeutungsschichten heraus und hin zur modernen Ästhetik Elemente einer allgemeinen sinnlichen Erkenntnislehre auf.⁸ Diese gehen über bildende Künste oder Musik im engeren Sinne hinaus. Vor diesem Hintergrund möchte ich die Begrifflichkeit und Möglichkeiten sinnlichen Wissens erörtern. Die Bedeutung von Werk und Wirken Baumgartens oder Kants werde ich aber nicht weiter darstellen,⁹ sondern im Fokus soll eine gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit der Rolle sinnlichen Wissens in der Genetik und klassischen Musik stehen. Ich werde hierzu allgemeine Aspekte einer Philosophie des Wissens betrachten und die Konzepte des propositionalen Wissens und des impliziten Wissens einführen. Daran anschließend stelle ich die Konzepte der Hermeneuti-
systematisch, historisch und in unterschiedlichen musikalischen Gattungen erfahrbar werden.“ (Kaiser 2009, XVI). Es ist bemerkenswert, dass der Experte für Musiktheorie Ulrich Kaiser von „sinnlichem Wissen“ spricht. Die Formulierung ist richtig gewählt, wie ich im folgenden Beitrag darlegen möchte. Siehe hierzu exemplarisch die Überblicksdarstellung von Don Ihde (2009), wie auch die weiteren Studien in Ihde 1998. Epistemologisch lässt sich zunächst begründen, dass menschlich-kommunikative Kompetenzen grundsätzlich nicht von Robotern ersetzt werden können (vgl. Janich 1999, 19). Aber „it becomes evident that human-like robots may have a profound impact on the nature of our communication“ (Nishida 2009, 107). „The core capability for some service and personal robots is to interact with the user in a natural language.“ (Nishida 2009, 108). Und: „In current human-robot relations, we can observe a shift from talking about robots and about human-robot relations to talking to robots.“ (Coeckelbergh 2011, 63). Schneider 2005, 23 – 25. Siehe hierzu die Arbeiten im vorliegenden Band, die sich ausführlich mit den Entwicklungen sinnlicher Erkenntnis in der Ästhetik bei Baumgarten, Kant und Hegel beschäftigen (besonders die Beiträge von Amoroso, Espinet, Ferreiro, Mihaylova, Seeberg, Sellhoff, Senigaglia, Siani und Wagner).
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schen Epistemologie und des Epistemischen Perspektivismus vor, wobei ich eine Heuristik aus drei Grundperspektiven und drei Horizontalperspektiven skizziere und mit vier Eigenschaften die Charakteristika menschlichen Erkennens zusammenfasse. Der darauf folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Kompetenz zur Perspektiven-Synaisthesis und weist sinnliches Wissen auf Grundlage der vorangestellten Überlegungen als eine von fünf Wissensformen aus. Anhand der Genetik wird im nächsten Schritt die Rolle des „Wissens sinnlicher Form“ in der Praxis der Laborforschung der Lifesciences dargestellt. Als Beispiel dient die Entdeckung der DNA-Doppelhelix-Struktur durch Watson, Crick und Franklin. Auch die Wissenschaftsphilosophie im 20. Jahrhundert wird dabei rekonstruiert. Mein Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zur Philosophie der Musik und zur Vergleichbarkeit biologischer Laborforschung mit (klassischer) Musik.
2. Allgemein: Die Frage nach Wissen Die Frage nach Wissen ist in einer ersten Annäherung verbunden mit der Frage nach Sprache. Zunächst ganz allgemein, eben als unbestimmte Frage verstanden. Fragen wir etwa bestimmt, was die hinreichenden und notwendigen Bedingungen des Begriffs „Wissen“ sind, dann haben wir immer schon in Anspruch genommen, diese mit den Mitteln der Zeichensprache eindeutig fixieren zu können. Geprägt von dieser Einstellung sind analytische Debatten zur Erkenntnistheorie, in denen Strukturen „wahrer, gerechtfertigter Meinung“ als propositionales Wissen verhandelt werden.¹⁰ Das ist eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite finden sich Den Locus Classicus dieser Debatten stellt Edmund Gettiers Text „Is Justified True Belief Knowledge?“ dar (Gettier 1963), in dem die platonischen Dialoge Theaitetos und Menon als Quelle der „traditionellen Konzeption des Wissens“ ausgewiesen werden (Baumann 2006, 33 ff.). Die Zuschreibung der Form „S weiß, dass p“ verweist auf jenen propositionalen Gehalt p des Wissens einer Person S, der der Form propositionalen Wissens zugrunde liegt. Diesem „Wissen, dass“ (theoretisches Wissen) ist ein „Wissen, wie“, das Peter Baumann mit Blick auf Michael Polanyi auch als „praktisches Wissen“ bezeichnet, entgegengestellt. Beide Wissensformen verweisen aufeinander und setzen sich voraus, jedoch ohne aufeinander reduzierbar zu sein. Darum ist nach Baumann propositionales theoretisches Wissen der alleinige Gegenstand der Erkenntnistheorie (Baumann 2006, 30 f.). Außerdem gesteht der Autor eine dritte Wissensform zu, die des „Wissens, wie etwas ist“. Auch jene entfällt dem Fokus der Erkenntnistheorie, wird aber als eigenständiger Wissensbereich anerkannt (vgl. Baumann 2006, 33). Ich denke, Peter Baumann erkennt zu Recht, dass „Wissen, wie etwas ist“ mit Fertigkeiten verbunden ist, aber über „praktisches Wissen“ hinaus reicht. So gilt etwa für Musik: „Ausdruck ist nicht Darstellung, die Musik stellt nicht dar, was der Fall ist, so wie die anderen Künste und konstatierende Sprache durch Konstruktion von Vorstellungen tun, sondern wie es ist (so und so) zu sein.“ (Luckner 2007, 39). Hierin finden wir nach meiner Interpretation den Ansatzpunkt für „Wissen sinnlicher Form“, und weil dieses
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Ansätze, die pragmatisch orientiert Wissen als einen umweltbezogenen Umgang, als (technische, leibliche) Praxis, deuten. Diese Erkenntnisleistungen sind zum einen oft nicht mehr sprachlich eindeutig einholbar – wir können sie nicht eindeutig in Worte verpacken¹¹ – und zum anderen überhaupt erst die Grundlage sprachlicher und leiblich-gestischer Artikulation, wie auch von Kreativität.¹² In der neueren Erkenntnisphilosophie werden diese Wissensprozesse als implizites Wissen¹³ ausgewiesen, womit Formen sozialer Praxis, Gestik, Werkzeugverwendung und leiblich-sensorischer Bewegungsabläufe verbunden sind. Hinzu tritt die Auseinandersetzung mit Faktoren kultureller Einbettung. Es geht also nicht nur um ein irgendwie an sich vorhandenes körperliches Wissen, sondern um ein kultur-spezifisches und situiertes Praxiswissen auf der Basis organisch-sensorischen wie leiblichen Umgehens.¹⁴ Diese nicht-propositionalen Wissenshorizonte bilden die Grundlage theoretischen Erkennens, sind also nicht als streng dualistischer Gegenpol zu propositionalem Wissen zu verstehen. Würde dies so gesehen, dann könnte die Frage „Was ist sinnliches Wissen?“ in einen aporetischen methodischen und begrifflichen Dualismus führen – denjenigen zwischen praktischem und theoretischem
Wissen nicht Gegenstand der analytischen Erkenntnistheorie ist, reicht diese auch nicht hin, um jene Wissensform philosophisch-reflexiv zu betrachten. Zu den Grenzen und der Unzulänglichkeit des Gettier-Problems für gegenwärtige Wissensforschung siehe auch Abel 2012, 14 f. u. 20. „I shall reconsider human knowledge by starting from the fact that we can know more than we can tell.“ (Polanyi 2009, 4). In den neueren Forschungen zur Kreativität spielt dieser Ansatz ebenfalls eine grundsätzliche Rolle, womit auch der Anspruch einer Öffnung der Philosophie für die Betrachtung nicht-propositionalen Wissens einher geht (Mahrenholz 2011a, 242 f.). „Included among these neglected forms [of traditional and contemporary epistemology] are knowing-how, non-conceptual knowledge, and implicit knowledge.“ (Abel 2012, 5 u. zu Kreativität und implizitem Wissen 39). Ein Terminus, der von Michael Polanyi entworfen wurde und den die deutsche Übersetzung von The Tacit Dimension trägt. Bedeutsam ist, dass Polanyi sich selbst nicht auf eine andere Tradition beruft als etwa Edmund Gettier. Beide Autoren veröffentlichen ihre Entwürfe Mitte der 1960er Jahre und reklamieren Platons Menon als eine wesentliche Quelle (vgl. Gettier 1963, 121 und Polanyi 2009, 22 f.). Nur erblickt Gettier das Grundproblem in der Analyse der Rechtfertigungsbedingungen einer wahren Meinung und Polanyi setzt bei Platons Problem des Anfangs und der Startintuition einer Rechtfertigung an. Diese Intuitionen entziehen sich dem formal-analytischen Zugriff und erscheinen als ein implizites Vorverständnis bzw. Vorwissen (siehe auch Abel 2012, 38 ff.). Die Philosophie der Alltagssprache und des alltäglichen Umgehens im Frühwerk Martin Heideggers und im Spätwerk Ludwig Wittgensteins erhält hierbei eine wesentliche Bedeutsamkeit in der konzeptuellen Neubestimmung menschlichen Erkennens als eingebetteter Praxisform (Rentsch 2003, 15 f.; siehe auch Anm. 22). Besonders Heidegger dient dabei mit Sein und Zeit (1927) als Ideengeber einer Epistemologie leiblich-technischer Praxis (vgl. Heidegger 2006, §§ 14– 18 und §§ 39 – 44; weiterhin Corona/Irrgang 1999; Irrgang 2001).
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Erkennen.¹⁵ Fragen wir also: Lässt sich sinnliches Wissen versprachlichen und (wie eindeutig) lassen sich unsere Wahrnehmungen sinnvoll beschreiben? Dann führt der einfache Dualismus zwischen praktischem und theoretischem Wissen in folgende Sackgasse: Entweder ist sinnliches Wissen ein leiblich-sensorischer Erkenntnisprozess, der mit der ersten ungelehrten Greifbewegung oder dem ersten Kauen und Schreien des Kleinkindes beginnt (implizites Wissen); oder aber „sinnliches Wissen“ ist ein Begriff, den wir analytisch oder mit den Mitteln epistemischer Modallogiken auf seine notwendigen und hinreichenden Rechtfertigungsbedingungen untersuchen könnten. Beide Fälle wären zunächst unvereinbar, legten sie doch ein je vom Anderen geschiedenes Maß an. Einmal würden sensorisch-leibliche Prozesse als sinnliches Wissen postuliert, im entgegengesetzten Fall würde eine sprachphilosophische und logische Analyse formuliert. Die eigentliche Herausforderung liegt nun aber darin, hier nicht mit einem plumpen Dualismus zu operieren und zwei vermeintlich unvereinbare Diskurse parallel und isoliert als Feigenblatt eines weltanschaulichen Grabens zwischen Phänomenologie/Hermeneutik und Analytischer Philosophie anzuerkennen. Mit den Worten Günter Abels formuliert liegt das Problem darin, das „Amalgam“,¹⁶ in welchem sich menschliche und kulturell-soziale Erkenntnisprozesse verdichten, philosophisch-reflexiv einzuholen. Ein solcher vorschnell eröffneter Dualismus zwischen explizit und implizit lenkt aber die Aufmerksamkeit eher davon ab. Ich gehe demnach im Folgenden nicht von einem Bereich impliziten und einem davon streng getrennten Bereich expliziten Wissens aus, sondern ich versuche „Wissen sinnlicher Form“ vor dem Hintergrund eines philosophischen Konzeptes Epistemischer Perspektivität und Hermeneutischer Epistemologie zu begreifen.
3. Epistemische Perspektivität und Hermeneutische Epistemologie Tatsächlich verweisen die meisten Ansätze zu einer Epistemologie impliziten Wissens auch nicht auf einen strengen und dualistischen Gegensatz zu proposi „It is absolutely essential, in my view, that we free ourselves from the stranglehold of this whole dichotomy [knowing that as fundament of knowing how or knowing how as fundament of knowing that]“ (Abel 2012, 4). Ich beziehe mich hier auf die von Günter Abel in seinem Eröffnungsbeitrag und in der Diskussion nach meinem Vortrag zur Tagung Ästhetisches Wissen: Zwischen Sinnlichkeit und Begriff (TU Berlin, 20.–22. Februar 2013) gebrauchte Metapher, mit der er die komplexe Verwobenheit menschlicher Erkenntnis- und Wissensprozesse bzw. Wissensformen zum Ausdruck bringt.
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tionalem Wissen, sondern suchen nach denjenigen – eben impliziten – Grundlagen, die propositionales Erkennen und Artikulieren zuallererst ermöglichen. Ich möchte daher einen Ansatz vorschlagen, der sich als „Hermeneutische Epistemologie“ bezeichnen lässt. Dabei geht es weniger um eine klassische Texthermeneutik in der Tradition Friedrich Schleiermachers, sondern im Anschluss etwa an Dewey und Heidegger um eine „pragmatisierte Hermeneutik“¹⁷ bzw. „expanded hermeneutics“¹⁸ oder „material hermeneutics“¹⁹ und „Technikhermeneutik“.²⁰ So wie dieser philosophische Ansatz sich nicht (nur) an der Kompetenz zur Textinterpretation orientiert, fixiert er sich epistemologisch gleichfalls nicht (nur) auf die Analyse propositionalen Wissens. Leiblich-sinnliche Erkenntnisvollzüge, und damit verbunden auch das pragmatische Interpretieren technischer bzw. leiblich-materieller wie auch sozialer und kultureller Umwelten, erhalten eine grundsätzliche epistemische Bedeutsamkeit als Gegenstand philosophischer Reflexionen. Um das „Amalgam“ menschlichen Erkennens in seiner Struktur differenziert zu erfassen, sind Konzepte klassischer Hermeneutik auch im Ansatz Hermeneutischer Epistemologie von tragender Bedeutung. So zum einen der Perspektivismus, nach dem sich Interpretations- und Interaktionsperspektiven innerhalb je konkreter Horizonte verdichten.²¹ Erkenntnis wird demnach nicht als isolierter statischer Punkt bestimmt, sondern als verständnisgeleiteter Prozess und als Aktion.²² Erkenntnisprozesse sind selber wieder
Vgl. Jung 2002, 135, 143 ff., 151 ff., 159; Joisten 2009, 200. So auch der programmatische Buchtitel von Ihde 1998. Vgl. Verbeek 2005, 121– 146. Hans Poser (2012, 327; auch Poser 2004, 190) verortet Bernhard Irrgang als Impulsgeber eines solchen Ansatzes (vgl. Irrgang 1996, pp. 56 ff.). Zum Überblick der aktuellen Diskussion siehe auch Irrgang 2009b, 7 ff. Vgl. Jung 2002, 133 f., 148; Joisten 2009, 199 – 202. „Knowledge is an activity which would be better described as a process of knowing.“ (Polanyi 1969, 132). Dieser Deklaration von Wissen als aktives Prozessphänomen folgen etwa auch die Autoren Francisco J.Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch, die damit den enactive approach verbinden. Jene für die Kognitionswissenschaften grundlegende Theorie bringt auch Einsichten über die Rolle sinnlichen Wissens und die Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Sensomotorik auf den Punkt: „In a nutshell, the enactive approach consists of two points: (1) perception consists in perceptually guided action and (2) cognitive structures emerge from the recurrent sensorimotor patterns that enable action to be perceptually guided.“ (Varela/Thompson/Rosch 1997, 173). Alva Noë entwickelt diesen Gedanken weiter und baut auf der gleichen Prämisse auf: „Perceptual experience acquires content thanks to our possession of bodily skills. What we perceive is determined by what we do (or what we know how to do); it is determined by what we are ready to do. In ways I try to make precise, we enact our perceptual experience; we act it out.“ (Noë 2004, 1). Wissensprozesse und Kompetenzen (Skills) grundieren die Einsicht in den Praxischarakter unseres (sinnlichen) Erkennens (wovon instrumentelle Praxis nicht ausgenommen ist; siehe Anm. 3).
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streng situativ eingebettet und nicht von Horizonten des Vorwissens²³ – getragen durch materiell-leibliche, technisch-instrumentelle, wie auch sprachliche oder gestische kulturelle Kontexte – zu trennen.²⁴ Diese horizontal eingefassten Erkenntnisprozesse, die das „Amalgam“ menschlichen Wissens durchwirken, lassen sich als konkrete Perspektivenkonstellationen ausweisen. Was bedeutet Perspektive? Die Frage nach Epistemischer Perspektivität ist verbunden mit der Frage nach der Möglichkeit objektiven Wissens und Erkennens.²⁵ Die philosophischen InFragen des Bewusstseins sind dem nachgeordnet oder lenken die Aufmerksamkeit eher sogar noch vom eigentlichen Problem ab. Im Anschluss an die Umgangsthese und Pragmatik des umweltbezogenen Umgangs in der Fundamentalontologie im Frühwerk Martin Heideggers reklamiert Bernhard Irrgang eine vergleichbare Prämisse für die Theoriebildung der neueren Phänomenologie: „Kompetenzen sind also aus der Perspektive der Postphänomenologie der Schlüsselbegriff für menschlich-leibliche Geistigkeit, die bis in die Emotionalität hineinreicht und nicht Selbstbewusstsein oder logisches Schlussfolgern. Implizite und explizite Kompetenzen geistiger Art ermöglichen nicht nur Praxis, sondern ein Sich Verständigen Können über Praxis schon vor der expliziten Sprachfähigkeit […].“ (Irrgang 2009a, 61). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt etwa auch Will Small: „[…] the agent’s knowledge is of what is happening, or what is going to happen, in the world; it is not knowledge merely of his state of mind. This knowledge is practical: it is the cause of what it understands […]“ (Small 2012, 223). Und weiterhin: „Cognition in intention amounts to knowledge in intention because intention and intentional action presuppose general knowledge how to do things, which comes in two kinds, procedural knowledge how and skill. The calculative structure of intentional action–of doing B by doing A–and the structure of procedural knowledge–knowledge that one can do B by doing A–presuppose the possibility of basic action, and that basic action is the exercise of skill.“ (Small 2012, 224). Außerdem spielt der Aspekt epistemischer Aktivität eine Rolle im Konzept der Epistemischen Perspektivität nach Martina Plümacher: „Epistemic perspectivity is a manifestation of goal-directed, selective epistemic activity.“ (Plümacher 2012, 163). Thomas Rentsch hat hierfür die Bezeichnung „Situationsapriori“ vorgesehen (Rentsch 1999, 68 ff.; Rentsch 2003, 75 ff.). Vgl. Polanyi 1969, 128 und Varela/Thompson/Rosch, 172 f.; siehe auch die Analysen zum leiblichem Umgehen in kulturell und technisch-sozial signierten Kontexten in Irrgang 2009a. Vgl. Plümacher 2012, 155 ff. Hierbei wird auch die Verbindung zwischen Endlichkeit des menschlichen Erkennens und einer Skepsis an den Möglichkeiten objektiven Wissens ersichtlich. Die Autorin fährt fort: „An all-inclusive perspective on the entirety of human knowledge and cognition is not possible for us as finite beings. […] Our understanding of reality unfolds and enriches itself in the diversity of our perspectives on reality. If we lacked integrative perspectives on perspectival knowledge, and if the individual items of knowledge could not be perspectivally thought-through and connected with each other, our knowledge of reality would break down into single isolated pieces.“ (Plümacher 2012, 167). Die integrativen Perspektiven perspektivischen Wissens bzw. Erkennens – oder anders und mit den Worten Bernhard Irrgangs gesagt, die Kompetenzen im Umgang mit Perspektivität (vgl. Irrgang 2009a, hier etwa 69 ff.) – sind als Prozesse von Bedeutung. Darum gilt auch: „Epistemic perspectivity does not lead to relativism.“ (Plümacher 2012, 157).
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terferenzen zwischen Wissen bzw. Erkennen und Perspektivität finden im 18. Jahrhundert Vorläufer. Zum einen geht es um die Prägung bestimmter epistemischer Wertungen und Aussagen durch jeweilige subjektive und kulturell getragene Interessen. Zum anderen wird aber auch hier „Perspektive“ als „point of view“, als „Standpunkt“ verstanden.²⁶ Im weiten Sinne des Wortes beschreibt Epistemische Perspektivität die gerichtete Aufmerksamkeit und Fokussierung von Wahrnehmung auf etwas Bestimmtes. Wir blenden gezielt Wahrnehmungen aus, um uns auf bestimmte Geräusche, Lichtsignale oder Wortlaute zu konzentrieren. Die Orientierung und Interpretation der Objekte unserer Aufmerksamkeit spielen hierbei eine grundsätzliche Rolle.²⁷ Diskursive Interaktionen stellen Herausforderungen an die Fähigkeiten zum Wechseln des Standpunktes. Dabei wird implizit und prä-theoretisch ein knowing how im Umgang mit Standpunkten eingeübt und angewendet.²⁸ Hier liegt der Ansatzpunkt für ein Umgangswissen auf der Ebene impliziten Erkennens. Wir verstehen es, uns im Umgang mit Selbst- und Fremdwahrnehmung zu orientieren, was Ausdruck genuin menschlicher Erkenntnisprozesse ist.²⁹ Im Folgenden assoziiere ich „Perspektivität“ aber nicht weiter mit Disziplinarität oder Lehrbuchwissen,³⁰ sondern baue auf einer Klassifikation leiblicher Perspektiven auf.³¹ Hierbei sind zunächst die Grundperspektiven zu rekonstruieren: 1PP: Wir sprechen von der „Ersten-Person-Perspektive“, wenn wir den Vollzug meinen. Es ist der persönliche Standpunkt und Interaktionsfokus aus dem heraus wir je singuläre Handlungen vollziehen und erleben. 2PP: Von der „Zweiten-Person-Perspektive“ sprechen wir im Zusammenhang mit anderen Menschen,³² womit interexistenzielle Vollzüge in der Wechselwirkung zwischen „Ich“ und „Du“ gekennzeichnet sind. Die 1PP ist ohne den Standpunkt des Anderen (2PP) nicht möglich; es handelt sich um den je konkreten Spiegel, der in Interaktion durch eine andere
Vgl. Plümacher 2012, 156; weiterhin zum historischen Verhältnis zwischen Erkennen und Perspektivität Plümacher 2010. Vgl. Plümacher 2012, 157 ff. „It is a peculiarity of epistemic perspectivites that they are often not directly thematized.“ (Plümacher 2012, 159). Siehe auch Anm. 25. Siehe auch Anm. 22. Vgl. Plümacher 2012, 168. Ich folge dem Entwurf Bernhard Irrgangs (2009a, 108 ff.), wobei ich die Ausarbeitung mit Ergebnissen der neueren Studien zu Rethinking Epistemology verbinde und außerdem modifiziere. Ob und wie diese durch autonom agierende (humanoide) Roboter gegeben oder gewandelt wird, ist Gegenstand entsprechender Debatten der Technikphilosophie (vgl. exemplarisch Coeckelbergh 2011; Gallagher 1996; Irrgang 2008a; Janich 2012).
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Person gegeben wird.³³ Es ist quasi der Feedbackpool, mit dem die Erkenntnisprozesse der 1PP interagieren und die Entdeckung der Spiegelneuronen stellt einen naturwissenschaftlichen Beleg hierfür dar.³⁴ 3PP: Mit der „Dritten-Person-Perspektive“ ist der Beobachterstandpunkt verbunden, welcher oft als „neutral“, auch „entleiblicht“ und „objektiv“ angenommen wird. Dieser Standpunkt prägt das Ideal positiver logisch eineindeutiger Naturerkenntnis und ist ähnlich einer göttlichen Draufsicht zu verstehen. Tatsächlich sind unsere Beobachtungen aber immer in kulturelle Horizonte eingebettet und nicht vom je konkreten persönlichen Vollzug (1PP) zu trennen (Praxis der Laborforschung, wissenschaftliche Bildinterpretation usw.). Die 3PP verweist in ihrem epistemischen Geltungsanspruch auf eine der folgenden Horizontalperspektiven, die der 3PPP.
Diese Grundperspektiven sind immer realisiert in Horizontalperspektiven: 1PPP: „Erste-Personenperspektive-Plural“ bezeichnet genau jenen kulturellen Horizont, also den Tellerrand unserer sprachlichen, gestischen, religiösen, sozialen, aber auch technischmateriellen Prägungen. Diese sind immer auch von Sittlichkeit und Moralität durchzogen, auch wenn sich Ethik eher am Ideal Kontext-enthobener universalisierbarer Argumentationen orientiert. Wir sind als Individuen nicht ohne jenen gemeinschaftlichen Horizont, auch wenn dieser manchmal auf Grund seiner Nähe uns entzogen oder ungreifbar erscheint.³⁵
„[…] epistemic agency is an irreducibly social affair dependent upon individuals sharing out responsibility for their beliefs interpersonally.“ (McMyler 2012, 284). „I will argue that a speaker’s testimony provides an addressee with a reason for belief that genuinely parallels the kind of reason for action provided by one paradigmatic kind of secondpersonal reason for action, the reason for action provided by a speaker’s command. If this is right, then the philosophical significance of address and of second-person actually spans the divide between theoretical and practical reason. The interpersonal relations involved in addressing authoritative reasons to a hearer play a genuine role in both theoretical and practical rationality.“ (McMyler 2012, 261). Ich stimme dem zu. Das Konzept der 2PP leistet einen Beitrag zur Etablierung einer Epistemologie jenseits eines Grabens zwischen praktischem und theoretischem Wissen. Die multiperspektivischen Interferenzen menschlicher Wissensprozesse sind deutlich komplexer. In seinem Werk Grundsätze der Philosophie der Zukunft hat Ludwig Feuerbach in den 1840er Jahren die Bedeutung des „Du“, der konkreten anderen Menschen, und sinnlich-leiblicher Lebenspraxis philosophisch-reflexiv freigelegt (vgl. Feuerbach 1983, §32, § 36, §§50 ff.) und fungiert damit auch als Ideengeber eines solchen Ansatzes. „Alluding to Wittgenstein, we can express it like this. To describe the phenomenon of language we must describe a practice and not a group of individuals, no matter of what kind. This negative characterization already contains a positive one. […] With them [judgments of type S that are timegeneral and also have a general subject] I describe, not a set of utterances of which my utterance is an element, but rather a practice that I exemplify with this statement. If I do this, then I speak, not about or for a group, but rather articulate the general form whose exemplar or ‘bearer’ I am.“ (Haase 2012, 254). Die 1PPP bildet den Rahmen jener Formen, für die wir je konkret stehen. Matthias Haase fährt fort: „This line of thought does not yet explain in what way judgments of type
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2PPP: Als „Zweite-Personenperspektive-Plural“ wird der kulturelle Horizont bezeichnet, der als Hintergrundprägung besonders durch die je konkrete Fremderfahrung der 2PP durchscheint. Es sind jene Unterschiede, die wir besonders stark am Spiegel kulturell divergierend geprägter Werte, Gesten oder Sprachen konkreter anderer Personen erfahren, und die in der starken Form jenen Kulturschock auslösen können, der eintritt, sobald wir unseren genuinen Horizont (1PPP) zugunsten der 2PPP aufgeben. Das ist etwa der Fall, wenn wir durch Reisen in unbekannte menschliche Welten eintauchen und damit Fremdheit nicht nur durch Einzelindividuen, sondern als völlig unvertrautes Spiegelbild menschlicher Gemeinschaften erfahren.³⁶ 3PPP: Die „Dritte-Personenperspektive-Plural“ stellt der 2PPP übergeordnete, es ließe sich sagen „tanskulturelle“, Rahmen dar. Es ist so zum einen jener Horizont, der mit dem Ideal kultur- und kontextenthobener, universalisierbarer Argumentationen die Ethik oder das Erkenntnisideal transdisziplinärer Forschung prägt (also da, wo über Fach-, aber auch Sprach- und Kulturgrenzen hinaus, quasi „globalisiert“ an Problemen geforscht wird). Auf der anderen Seite orientieren sich gleichfalls transnationale Organisationen oder politische, juristische und ökonomische Ordnungssysteme wie die UNO oder NGOs in diesem Rahmen.
S express knowledge. We have only seen that it must be so. And we have identified an assumption that makes it impossible to comprehend how it can be so – namely, the assumption that the relevant ‘we’ relates me to a group of which I am a member. […] To make a judgment of this kind [type S] means to understand oneself, in virtue of the form of one’s judgment, as an exemplar of something general, of which there are also other exemplars.“ (Haase 2012, 255) Diese von Wittgenstein und Stanley Cavell geprägte Analyse einer pragmatischen Negativität bzw. Entzogenheit implementiert der Autor zu Recht in seine Ausführungen der 1PPP, die sich wiederum sinnvoll mit den Studien und Arbeiten von Thomas Rentsch zur Sprachpraxis nach Wittgenstein und Heidegger (Rentsch 2003) sowie zur Negativität und praktischen Vernunft verbinden lassen (Rentsch 2000). Bei der 2PPP folge ich ausdrücklich nicht der Deutung Bernhard Irrgangs, der diese als Institutionalität ausweist. Ich würde diese der 3PPP zuordnen und die 2PPP nicht den Institutionen zuweisen, sondern eben jenen menschlichen Welten, die es jenseits der eigenen Welt noch gibt. Das ist nicht abstrakt als Modallogik zu verstehen, sondern sinnlich-praktisch hinsichtlich sprachlicher oder sittlicher Alterität. Das reicht hinein bis in Bereiche technischer, handwerklicher oder künstlerischer Kompetenzen, die ja etwa in Indien auf einem anderen tradierten Horizont aufbauen als etwa in Deutschland. Ein solcher 2PPP-Horizont kann nun indirekt erfahrbar werden in der Begegnung mit einem konkreten Menschen der anderen Kultur, etwa einem indischen Meister der Ragamusik, der in Europa seine Klangtechniken, Spielgefühl und spirituelle Bedeutungen lehrt. Was uns begegnet ist nicht nur der andere Mensch (2PP), sondern ein Horizont anderer Formen (Interpretationen) des Umgehens. Außerdem begegnet ein solcher Horizont stärker, wenn wir etwa selbst nach Indien reisen und die andere Kultur nicht mehr nur durch eine Person vermittelt erfahren, sondern in diese selber eintauchen. Nach Jahren der Gewöhnung können die kulturell-horizontalen Interferenzen so weit gehen, dass wir die ursprünglich fremde Kultur (2PPP) als eigenen Horizont anzuwenden lernen und somit zur vertrauten 1PPP gestalten.
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In das Perspektivenmodell sind weiterhin normative, institutionelle und andere Aspekte eingewoben. Im Folgenden soll es aber nur um eine Epistemologie sinnlichen Wissens gehen. Darum halten wir fest, dass menschliches Erkennen: 1. Aktivität, Interaktion und Prozess ist;³⁷ 2. immer sozial und materiell³⁸ eingerahmt ist, womit kulturell³⁹ eingebettete Leiblichkeit, Sprache und Technikgebrauch verbunden sind; 3. sich als leiblicher Erkenntnisprozess innerhalb situativ je konkreter Perspektivenkonstellationen verdichtet („amalgamiert“); 4. in seiner Grundstruktur als die Kompetenz zur Perspektivenermächtigung ausgewiesen ist, die in pragmatisch je angemessenen Kompetenzen zur Synaisthesis der Grund- und Horizontalperspektiven besteht.
„Rather, such knowledge must be viewed as a process and a state – as an embodiment of pragmatic abilities and as a phenomenon – whose various roles we must elucidate and clarify.“ (Abel 2012, 16). Natürlich gibt es auch statische Wissenszustände oder Informationsbestände. Nur stellen jene ganz bestimmte Ausschnitte aus den Horizonten menschlichen Erkennens dar, nämlich die der „Form theoretischen Wissens“ innerhalb der Perspektiven 3PP und 3PPP. Summa summarum bleibt das Gesamtamalgam des Erkennens prozessual, weil selbst der geltungskriteriale Status expliziten oder logisch-formalen Wissens immer eingebettet ist in Praxen des Rechtfertigens, Beweisens, Durchdenkens usw. Durch die Kompetenz zur Perspektiven-Synaisthesis (siehe nächster Abschnitt) bleibt Erkennen im Ganzen ein multiperspektivisch getragenes Prozessphänomen. „But critical knowledge research does not go on to commit what I would like to call the practice-centric fallacy, which consists in the further claim that knowledge is nothing but the performance of practical skills and which maintains that knowledge can ultimately be equated with actions.“ (Abel 2012, 26). Ich stimme Abel zu und eben dadurch, dass Wissensprozesse nicht die Reduzierbarkeit von „Wissen theoretischer Form“ auf andere Wissensformen erzwingen, greifen die Konzepte der Hermeneutischen Epistemologie und Epistemischen Perspektivität dieses Gebot konstruktiv auf. Insofern sind auch Wissen bzw. Erkennen und Aktion bzw. Prozess nicht dasselbe (vgl. ebd.). Der Grund ist wieder ein perspektivischer und getragen von „Wissen philosophisch-reflexiver Form“, wenn auf die Geltung bestimmter Wissensansprüche sinnkritisch reflektiert wird. Dieses amalgamiert dann perspektivische Prozesse des Selbstvollzuges (1PP) und des mit anderen darüber Nachdenkens und Debattierens (2PP) im Horizont einer bestimmten Sprachpraxis (1PPP), mit dem Anspruch, die Geltungsansprüche universal darzulegen (3PP) und im besten Fall kulturübergreifend zu formulieren (3PPP). „First, we must take account of other subjects/agents (i. e. we must consider the social dimension of epistemology). And second, we must take account of the material constitution of the world knowledge discloses (i.e. we must consider the material dimension of epistemology).“ (Abel 2012, 27). „Note, however, that these investigations [knowledge research] must undoubtedly take place from the perspective and within the framework of historical and cultural meaning and sense.“ (Abel 2012, 19). Ich stimme dem zu und greife darum auf ein perspektivisches Horizontmodell der 1PPP, 2PPP und 3PPP zurück, durch welche kulturelle und interkulturelle Bedeutungen der Wissensprozesse konstituiert werden.
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4. Kompetenz zur Perspektiven-Synaisthesis und Wissensformen Was sind angemessene Kompetenzen zur Synaisthesis der Grund- und Horizontalperspektiven? Als „genuine Synästhesie“ werden im engen Wortsinn notwendige Verbindungen sinnlicher Wahrnehmungen bezeichnet, die bei jedem Menschen vorhanden sind, jedoch nur von wenigen aufmerksam realisiert werden. Es gibt so zum Beispiel Menschen, die den Geschmack von Kaffee notwendig mit einem roten Fleck in ihrem visuellen Wahrnehmungsbereich verbinden. Das ist selten, kommt aber vor und verweist auf häufigere Formen der Synästhesien und intermodalen Analogien.⁴⁰ „Gefühlssynästhesien“ sind ein Beispiel hierfür. Damit ist etwa die Assoziation zwischen musikalischen Klängen und Emotionen gemeint.⁴¹ Entscheidend ist, dass solche Verbindungen oft im sensorisch-kognitiven Hintergrund ablaufen, wir diese also meistens nicht „bewusst“ bzw. aufmerksam realisieren.⁴² Und doch prägen sie menschliches Erkennen. Die Kompetenzen zu Verbindungen von Wahrnehmungen, motorischen Bewegungen, Emotionen oder Propositionen – zur Synaisthesis – sind perspektivisch getragen. Wir setzen die drei genannten Grundperspektiven (1PP, 2PP, 3PP) und die drei Horizontalperspektiven (1PPP, 2PPP, 3PPP) je konkret ineinander verwoben um, wobei wir synaisthetische Prozesse realisieren. Menschliches Erkennen ist die Ermächtigung zur Kompetenz der Perspektiven-Synaisthesis.
Als „genuine Synästhesie“ wird die unveränderliche und feste Kopplung, also Verbindung, verschiedener Sinne bezeichnet (vgl. Haverkamp 2006, 33; Haverkamp 2009, 3 f., 113 u. 247– 255). Auf der anderen Seite sieht Michael Haverkamp „intermodale Verknüpfungen“ ganzheitlich und betrachtet im weiten Verständnis alle möglichen Verbindungen (Haverkamp 2006, 33; Haverkamp 2009, 4 u. 113 ff.). Siehe hierzu auch Emrich 2010, 22. Vgl. Emrich 2010, 25. „Der Neurologe Richard Cytowic glaubt, dass die Hauptstelle im Gehirn, in der synästhetische Verbindungen stattfinden, der Hippocampus ist, der an sich schon als Hauptzentrum für linguistische Prozesse und das Formen von Emotionen identifiziert wurde. Er schätzt, dass nur eine von 2000 Personen Synästhesie bewusst wahrnimmt, aber dass fast jeder Mensch Synästhesie auf einem un- oder vorbewussten Niveau hat.“ (Day 2006, 24). Ähnlich wie Day bemerkt auch Haverkamp: „Die genuin-synästhetischen Wahrnehmungsphänomene vermitteln trotz ihrer Seltenheit eine Vorstellung von den verborgenen Möglichkeiten des menschlichen Sinnesapparates. Hier liegt die Vermutung nahe, dass elementare Verbindungen der Sinne bei vielen Menschen gegeben sind, in der Regel jedoch nicht ins Bewusstsein dringen, sondern unbewusst wesentliche Vorgaben für die Gestalterkennung liefern. […] Bleuler (1913) nimmt an, dass synästhetische Prozesse bei allen Menschen ablaufen, jedoch nur selten ins Bewusstsein dringen.“ (Haverkamp 2006, 48).
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Hermeneutische Epistemologie und Epistemische Perspektivität begründen somit keinen Relativismus und verbleiben auch nicht allein auf der Ebene deskriptiver Heuristik. Vielmehr wird der Anspruch kantischer Philosophie sinnkritisch eingeholt. Was für Kant die newtonsche Physik, das ist heute Genetik, Biotechnologie und synthetische Biologie. Der sinnkritische Anspruch besteht dabei in einer Transformation des Cartesischen Erbes: cogito sum als philosophisches Fundament zur Begründung menschlicher Erkenntnis.⁴³ Ich kann mein eigenes Zweifeln nicht bezweifeln und bin so auf das „Ich denke“ zurückgeworfen. So bemerkt auch Kant: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können […].“ (KrV B 132). Jenes Vermögen – ich würde sagen, die „Kompetenz“ – zur Verbindung des Mannigfaltigen ist hiermit assoziiert: Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen,welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist (KrV B 135 f.).
Was Kant als „Einheit der reinen Apperzeption“ auslegt, würde ich als synaisthetische Verbindung bezeichnen. „Die transzendentale Einheit des Selbstbe-
Um der Argumentation des René Descartes in den Meditationes de prima philosophia (1641) vor dem Hintergrund Hermeneutischer Epistemologie und Epistemischer Perspektivität in aller Kürze gerecht zu werden, seien jene Meditationen als implizite Auseinandersetzung mit Perspektivität gedeutet. Was der Autor leistet ist die Begründung einer bestimmten Wissensform, die der philosophischen Reflexion,vor dem Hintergrund eines konkreten perspektivischen Ausschnittes. Das von Sinnlichkeit und Körperlichkeit isolierte (Descartes 2009, 24 u. 27) Cogito verweist auf den Selbstvollzug (Descartes 2009, 28 u. 30) und somit auf die Unbezweifelbarkeit der Erste-PersonPerspektive (1PP). Dieses bettet er von Sinnlichkeit, Emotionen, Sensomotorik und Propositionen befreit allein in „Wissen philosophisch-reflexiver Form“ ein. Descartes sichert damit nicht nur den Status der Philosophie gegenüber einer radikalen Skepsis. Er legt damit das Fundament einer perspektivisch getragenen und methodisch geschulten wissenschaftlichen Forschung. Mit seinem Gottesbeweis (Descartes 2009, 39 – 57) versucht Descartes die Geltung universalisierbarer Wissensansprüche zu grundieren, wobei er den Horizont der Dritten-Person-Plural (3PPP) entdeckt. Unabhängig davon, ob Descartes den Gottesbeweis für seine Argumentation wirklich braucht und ob der starke Substanzdualismus zwischen res cogitans und res extensa nur zirkulär als Prämisse eingeführt und dann wieder begründet wird, so sichert er doch die Eckpunkte des perspektivischen Spektrums menschlicher Erkenntnisprozesse ab. Das Fundament besteht in einem Nachweis, dass „Wissen philosophisch-reflexiver Form“ eine genuine Wissensform darstellt, die im „Amalgam“ aus Perspektiven und Wissensformen selber ein unhintergehbar eigenständiger Teil wissenschaftlichen Forschens darstellt. Philosophische Reflexion ist somit keine Wissenschaft neben anderen, sondern ist Voraussetzung jeder Forschung überhaupt.
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wusstseins“ wird so zur Bedingung der Möglichkeit organischer und – mit aller Vorsicht in Anbetracht des schwer zu definierenden und leicht zu missbrauchenden Wortes – „epigenetisch-prozessualer“ Einheit, durch die Kompetenz, Perspektiven und Wissensformen im Umgang mit natürlicher, sozialer und kultureller Umwelt ineinander zu führen. Was ich hier als Kompetenz zur Perspektiven-Synaisthesis vor dem Hintergrund einer Heuristik verschiedener Grund- und Horizontalperspektiven einführe, stellt eine Transformation jenes Cartesischen und kantischen Anspruchs vor dem Hintergrund organischer Selbstorganisation⁴⁴ verschiedener Wissensformen dar. Hiermit soll es möglich werden, „Wissen sinnlicher Form“ unter Berücksichtigung des aktuellen naturwissenschaftlichen Forschungsstandes philosophisch so einzulösen, dass der Anspruch kritischer Reflexion erhalten bleibt. Es geht dabei nicht um biologistische oder sozialdarwinistische Weltbilder, sondern um einen kritischen und reflektierten Umgang mit der Geltung unseres Wissens. Das Fallbeil der Skepsis, der grundsätzlichen Bezweifelbarkeit unseres objektiven Erkennens, ist auch heute stetiger Begleiter philosophischer Reflexion – einschließlich der Reflexion wissenschaftlichen Forschens. Ein weiteres Theoriestück ist somit zu ergänzen, das der „Wissensformen“. Die perspektivische Verbindung und Assoziation durchsetzt das „Amalgam“ entsprechend genuiner Erkenntnisformen. An diesem Punkt bekommen wir sinnliches Wissen am klarsten zu greifen. Zunächst stellt Sensomotorik eine Erkenntnisform dar, also das Wissen um gelingende leibliche Bewegungen. Aber schon der erste Griff des Kleinkindes ist von je konkret verbundenen Wahrnehmungen nicht zu trennen. Das Berühren eines Gegenstandes stellt einen Assoziationsprozess zwischen Körperbewegung, Haptik und visueller, manchmal auch akustischer, Rückkoppelung dar. Diese ist dann wiederum perspektivisch aufgebrochen: der sensorische Selbstvollzug (1PP) ist gespiegelt am Feedback der Mutter (2PP), also etwa an ihrer Körperbewegung und ihren Worten. Eingerahmt ist dies in den kulturellen Horizont der Verbal- und Körpersprache, aber auch der umgebenden Materialität, wie Kleidung, Spiel- und Werkzeug, Wohnräumen usw. Eine Entfaltung der konkreten Interferenzen zwischen Selbstorganisation und epigenetischen Entwicklungen, wie auch Formen der rückgekoppelten Kausalität und Emergenz muss ich an dieser Stelle offen lassen. Es würde mehr als einen eigenständigen Aufsatz erfordern, um jene Begriffe adäquat zu entwickeln und mit differenziertem Blick mit Kant und über Kant hinaus auszuformulieren. Besonders für das Konzept der Selbstorganisation bzw. Autopoiesis ist ja die Kritik der Urteilskraft (1790) ein wegweisendes Werk. Die Transformationen, die im 20. Jahrhundert etwa bei Maturana und Varela stattgefunden haben, wie auch die Herausforderung, die darwinsche und Kant noch unbekannte Evolutionstheorie angemessen philosophisch für unsere Zeit zu reformulieren, begründen aber auch eine über das Werk und Wirken Kants weit hinausreichende Auseinandersetzung mit der modernen Biologie.
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(1PPP). Ein Beispiel hierfür sind die chinesischen Stäbchen, die materiell eine konkrete Esskultur repräsentieren. Auf der anderen Seite lernen Kinder in Europa zuerst das Essen mit Löffel, Messer und Gabel, den entsprechenden Worten und Tischsitten. Sensomotorik und Sinnlichkeit sind eng ineinander verzahnt.⁴⁵ Getragen von den Perspektivenkonstellationen setzen die synaisthetischen Kompetenzen bei der Verbindung von Bewegung und Wahrnehmung grundsätzlich ein, wobei mit emotionaler Rückkoppelung eine dritte Erkenntnisform gegeben ist.⁴⁶ Viertens tritt dem das propositionale Erkennen hinzu: Zeichen, Symbole, Formeln usw.Wie bereits dargelegt ist diese Wissensform Gegenstand analytischer Erkenntnistheorie und epistemischer Logik. Weiterhin ist die philosophisch-reflexive Erkenntnisform davon zu unterscheiden, die selber wieder auf geltungskriteriale Möglichkeiten menschlichen Erkennens und Wissens abzielt. Sie ist verbunden mit dem Anspruch und Status einer philosophischen Erkenntnislehre.⁴⁷ Ich schlage demnach eine Heuristik aus fünf Wissensformen vor:⁴⁸ 1. Sensomotorik = „Wissen sensomotorischer Form“ 2. Sinnlichkeit = „Wissen sinnlicher Form“ 3. Emotionalität = „Wissen emotionaler Form“ 4. Propositionen = „Wissen propositionaler Form“ 5. Philosophische Reflexion = „Wissen philosophisch-reflexiver Form“ Diese kommen nicht getrennt vor, auch wenn wir sie mit je unterschiedlichen Worten belegen können. Sie durchwirken in verschiedenen Formungen und perspektivischen Konstellationen menschliches Erkennen. Frage: Was ist sinnliches Wissen? Antwort: Eine perspektivisch getragene Erkenntnisform neben den vier anderen. Frage: Was ist ästhetisches Wissen? Antwort: Im engen Sinne des Wortes die je konkreten „Amalgamierungen“ (aus den Grundperspektiven, Horizontalperspektiven und Erkenntnisformen) künstlerischer oder musischer Praxis. Im weiten Sinne des Wortes: Ästhetisches Wissen ist synaisthetisches Wissen, also allgemein-menschliche Kompetenz zum Assoziieren bzw. Verbinden von und Umgehen mit den Perspektiven und Erkenntnisformen.
Vgl. Piaget 1980, 32 ff. u. Irrgang 2009a, 72– 79; siehe auch Anm. 22. Vgl. Irrgang 2009a, 61; siehe auch Anm. 22. Hierfür stellen gleichfalls die von Hinderk M. Emrich beschriebenen Gefühlssynästhesien einen Beleg dar (siehe Anm. 40 und 41). Vgl. Flach 1994, 88 ff. Zur allgemeinen Bedeutung der Heuristik nicht aufeinander reduzierbarer Wissensformen für Wissensforschung siehe Abel 2012, 10 u. 12.
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Logische Verifikation und Wahrheit gelten für ein Stück des Kuchens: Für die Facetten der propositionalen Erkenntnisform in den Fragmenten der 3PP und 3PPP. Dass diese aber immer vom Selbstvollzug (1PP), konkreten anderen Menschen (2PP) und dem sozialen, normativen und leiblich-materiellen Rahmen der 1PPP eingebettet sind, verweist auf die tragende Rolle pragmatischer Verifikationen: wiederholter gelingender Umgang. Gleiches gilt für Kompetenzen zur Synaisthesis: in Prozessen des Versuch und Irrtum ermächtigen wir uns horizontal eingefasster Wissensprozesse; Dispositionen entfalten sich in leiblich-kultureller Praxis.
5. Sinnliches Erkennen in der Genetik Im Folgenden soll die Rolle sinnlichen Erkennens anhand eines Beispiels der Lifesciences illustriert werden. Weite Bereiche der Wissenschaftsphilosophie sind von einem Physiozentrismus getragen; orientieren sich also am Methoden-, Begriffs- und Experimentalideal der neuzeitlichen bzw. modernen Naturwissenschaft der Physik.⁴⁹ Dies mag auch für Bereiche der aktuell geführten Techno-
Exemplarisch sei etwa verwiesen auf den fünften und sechsten Abschnitt des Discours de la Méthode (1637) des René Descartes, in welchem der Autor den Blutkreislauf als allgemeinste Bewegung des Lebens mechanistisch und materialistisch vor dem Hintergrund seiner Trennung in res extensa und res cogitans diskutiert. Der menschliche Körper wird dabei als Automat bzw. sich bewegende Maschine gedeutet, auch wenn Descartes die wohl angemessenere Rekonstruktion von William Harvey zu Gunsten einer falschen Erklärung des Blutkreislaufes hinten anstellt (vgl. Descartes 2011, 73 – 103; Wohlers 2011, XXXVI). Auch die Ausführungen zur Physik im sechsten Abschnitt des Discours oder im Fragment Le Monde (1633) deuten auf eine auch durch Galileo Galilei angeregte Fixierung der Physik als Idealtypus moderner Naturwissenschaft hin (Descartes 1989), vor dem Hintergrund der Mathematik. „Gegenüber allen Veränderungen zuvor ist diese Epoche [das 17. Jahrhundert von Descartes bis Newton] von einschneidender Bedeutung für das moderne Weltbild. Alle animistischen Spuren aus der Physik werden entfernt, es findet eine Entseelung und Entbiologisierung, eine Entpsychologisierung der materiellen Dynamik statt.“ (Kornwachs 2013, 44). Wurde für Immanuel Kant die newtonsche Mechanik zu einem Vorbild und Themenfeld, so geriet die Kritik an der damit verbunden Auffassung von Raum und Zeit in Verbindung mit der Relativitäts- und Quantentheorie seit den 1920er Jahren zu einem philosophischen Hauptthemenfeld des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus (vgl. Stöltzner/Uebel 2006, LXVIII-LXIX). Nicht nur die neuen Erkenntnisse der Physik des 20. Jahrhunderts, sondern auch die Suche nach einer Einheitswissenschaft vor dem Hintergrund der Übersetzbarkeit einer jeden Sprache empirischer Einzelwissenschaften, auch der Sozialwissenschaften, in die Sprache der Physik prägte das Wirken etwa Rudolf Carnaps und Otto Neuraths (vgl. Stöltzner/Uebel 2006, LXff.). Auch Carl-Friedrich von Weizsäcker suchte noch in den 1970er Jahren die Einheit der Natur in der Einheit physikalischer Erfahrung (von Weizsäcker 2002, 11 ff. u. 129 ff.).
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science-Diskussion gelten,⁵⁰ wobei auf der anderen Seite die Fragen, Probleme und Praxen der neuen Biologie immer stärker in den Fokus geraten. Das ist insbesondere an der Nahtstelle zwischen einem philosophischen Verständnis klassischer Naturwissenschaften und einer Epistemologie der Ingenieurwissenschaften der Fall.⁵¹ Auf der einen Seite entsteht mit der Physik seit der frühen Neuzeit der Idealtypus experimenteller Naturforschung, der auch die Genese der Ingenieurwissenschaften im 18. Jahrhundert prägt. Auch wenn der Übergang von der Alchemie zur modernen Chemie hier nicht vergessen werden darf, so ist doch die Rolle der Physik leitend für das epistemische Selbstverständnis der ersten Ingenieure. Ein Beispiel ist die Schulung in Fragen der Ballistik. Denn die ersten Ingenieure, etwa im Frankreich des 17. Jahrhundert oder die Künstleringenieure der norditalienischen Renaissance sollten ihr Wissen häufig im Dienste der Obrigkeit bzw. des Stadtstaates zur Verbesserung der Kriegsführung entfalten. Hierbei erfährt der Ingenieurstand eine epistemisch an der Physik ausgerichtete Grundjustierung. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden grundsätzliche Weichenstellungen statt. Zum einen geht mit der Relativitäts- und Quantentheorie eine Verdrehung technisch-lebensweltlichen Erkennens und wissenschaftlich-theoretischen Erkennens einher. Den Grundstein liefert Albert Einstein, der mit der allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie Anfang des 20. Jahrhunderts rein theoretisch die Möglichkeit zur ingenieurtechnischen Anwendung der Kernspaltung vorweg nimmt.⁵² Es ist alles andere als selbstverständlich, dass zuerst eine
So stellt etwa im Entwurf von Don Ihde Galileo mit seinem Teleskop den Locus Classicus einer philosophischen Analyse wissenschaftlichen Instrumentengebrauchs dar. Eine philosophische Verankerung finden seine Analysen mit Beispielen aus der Physik in den sogenannten GalileoParagraphen der unvollendet gebliebenen Krisis-Schrift Edmund Husserls. Husserl entwirft in diesem Werk die Lebenswelt-These, arbeitete sich aber ebenfalls an der Verbindung aus Mathematik und empirisch-physikalischer Naturforschung seit der frühen Neuzeit ab (Ihde 1990, 34 ff., 42 ff. u. 217; siehe auch Anm. 54 und Anm. 78). Die Entwicklung einer Wissenschaftstheorie der Ingenieurwissenschaften stellt nach wie vor ein Desiderat dar, dessen Bearbeitung in den vergangenen Jahren von mehreren Autoren forciert wurde (vgl. Banse et al. 2006; Irrgang 2010; Kornwachs 2012; Poser 2012, 312– 331). Und zur Realisierung in den USA während der 1940er Jahre bemerkt Klaus Kornwachs: „Das Manhatten-Projekt war das erste Projekt, sowohl in der Wissenschafts- wie auch in der Technikgeschichte, das interdisziplinäre Grundlagenforschung (Physik, Chemie, Mathematik, Metallurgie etc.) mit technologischer Entwicklung (Produktion im industriellen Stil geeigneter Isotope von Uran und Plutonium) zur gleichen Zeit unter dem Regime eines strikten Zeitplans und eines politisch wie strategisch definierten Ziels verband.“ (Kornwachs 2013, 56). Für die 1940er Jahre lässt sich auch das Wirken der Raketenforscher und -techniker in Peenemünde (Deutschland) um Wernher von Braun ergänzen. Hier wurden ebenfalls Grundlagenforschung und technologische Entwicklung unter einem strengen (kriegsbedingten) Zeitplan und Bündelung von
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physikalische Theorie vorliegt, bevor Ingenieure und/oder Techniker bzw. Handwerker diese lebensweltlich-praktisch umsetzen. Im Bereich des Bauingenieurwesens finden sich viele Beispiele von Kirchendächern oder Kuppeln wie dem Pantheon in Rom, Brücken, Tragwerken, Bogenkonstruktionen usw., die ohne entsprechende statische Theorien gebaut wurden. Erfahrungswissen, implizites Wissen und Imagination stellt die Basis hierfür dar.⁵³ Mit Dampfkesseln ist es ebenfalls so. Auch hier brauchte es Jahrzehnte, um mit einer thermodynamischen Theorie befriedigend erklären zu können, was da in der Praxis irgendwie zumeist funktionierte. Nun verdreht sich im 20. Jahrhundert nicht nur das Verhältnis zwischen sogenanntem „lebensweltlichem“ Erfahrungswissen⁵⁴ und naturwissenschaftlichen Theorien. Auch der epistemische Horizont der Ingenieurkultur verschiebt sich. So wie Kirchendächer oder riesige Kuppeln vor Jahrhunderten mit Erfahrungswissen dauerhaft gebaut werden konnten, so kann seit ca. 12.000 Jahren bis heute auf der Basis „lebensweltlichen“ Erfahrungswissens erfolgreich gezüchtet werden.⁵⁵ Vermutlich konnten die Relativitäts- und Quantentheorie zu Beginn/Mitte des 20. Jahrhunderts noch die Aufmerksamkeit der Wissenschaftsphilosophie so stark fesseln, dass quasi durch die wissenschaftshistorische Hintertür die Rezeption und experimentelle Weiterführung von Gregor Mendels Kreuzungsversuchen mit Erbsen eine epistemische Revolution einleitete, die bis heute nachwirkt. Ende des 19. Jahrhunderts emanzipiert sich die Genetik bzw. Vererbungslehre als eigenständige experimentelle Naturwissenschaft. Der Klostergarten in Brünn darf insofern als Freiluftlaboratorium gesehen werden, in Folge dessen die ersten theoretischen Sätze zur Vererbung (die Mendelschen Regeln) ausformuliert wurden.⁵⁶ Hiermit ist die zweite Hintertür verbunden, durch welche methodische,
Ressourcen aus Industrie, Staat und Hochschulen forciert (siehe hierzu die ausführliche Darstellung in Pulla 2006). Beide Beispiele stehen paradigmatisch für die Verwebungen und Vernetzungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das „Amalgam“ wissenschaftlichen und technologischen Entwickelns wie Forschens durchwirken. Siehe hierzu auch die Ausführungen und Beispiele in Ferguson 1993, Irrgang 2004a und Vincenti 1990. Husserl 2012, 111 ff. „Explizit sind die Vererbungsregeln lange nicht bekannt, dennoch scheint eine Art von Umgangswissen mit evolutionären Prozessen vorhanden zu sein.“ (Irrgang 2008b, 74). „Züchtung ist wie jedes technische Handeln erprobend und basiert auf Versuch und Irrtum.“ (Irrgang 2008b, 77). „Erst Gregor Mendel entwickelte ein theoretisches, d. h. ein wissenschaftliches Wissen um die Vererbbarkeit von biologischen Merkmalen. Zuvor wurde jahrtausendelang technologisches Wissen im Sinne einer Kunst angewandt.“ (Irrgang 2008b, 73). „In diesem Bereich erfolgte eine Verwissenschaftlichung erst sehr spät, denn die Grundlagen der Genetik waren bis Gregor Mendel unbekannt.“ (Irrgang 2008b, 78) „Die Mendelgenetik war
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begriffliche und forschungspraktische Probleme die Bühne der Laborforschung betreten. Diese betreffen zum einen die unmittelbaren Ansätze in der Wissenschaftsphilosophie selber, die sich den neuen Konzepten der biologischen Wissenschaften stellen müssen. Zum anderen stellt die Physik-orientierte Grundierung der Ingenieurwissenschaften nun nicht mehr den alleinigen Horizont der naturwissenschaftlichen Facetten des Ingenieurwissens dar. Mit dem Bioingenieur, der Gentechnik und der Molekularbiologie⁵⁷ ist eine neue Verbindung aus technischer Anwendung, Laborpraxis und theoretischen Wissensformen seit den 1970er Jahren zu beobachten.⁵⁸ Eine weitere grundsätzliche Katalysierung erfährt dieser Prozess mit dem Entstehen der Synthetischen Biologie und den damit verbundenen wissenschaftsphilosophischen und ethischen Herausforderungen. Auch die forschungspraktischen (im wahrsten Sinne des Wortes) Synthesen zwischen Naturwissenschaft und Ingenieurkunst bzw. Ingenieurwissenschaft sind hierbei von Bedeutung.⁵⁹ Ich möchte damit die These verbinden, dass nicht nur bei Prozessen der Bildinterpretation, sondern schon in der Praxis der Bioingenieurkunst selber, also beim technologisch-hantierenden Arbeiten mit Instrumenten im Labor, sinnliches Wissen als eigenständige Erkenntnisform im „Amalgam“ der Genetik nicht nur eine periphere Rolle spielt. Das Feld der sogenannten „Lifesciences“ erweist sich nicht als Randgebiet wissenschaftsphilosophischer Arbeiten, sondern als eine philosophische Zentralaufgabe der Gegenwart. Und innerhalb dieser Zentralaufgabe tritt uns der Status von „Wissen sinnlicher Form“ genuin vor die Augen. Ich
eine experimentelle Genetik, allerdings noch keine Laborgenetik. Vor der Zeit der DrosophilaForschung hatte die Genetik im großen und ganzen keinen Zugang zum Labor, doch der Garten kann wie ein Labor behandelt werden.“ (Irrgang 2004b, 288). „Molecular biology is a hybrid science combining experimental systems from biophysics, biochemistry, and genetics, among others. It uses a great diversity of model organisms in its search for biological functions at the molecular level.“ (Rheinberger 2010b, 157). „In the late 1970 s […], molecular biologists had to get used to the idea that eukaryotic genes consisted of modules and that after transcription „introns“ had to be cut out and „exons“ spliced together if a functional message was to emerge. This insight was one of the first significant scientific by-products of recombinant DNA technology.“ (Rheinberger 2010b, 162 f.). Zahlreiche Aussagen von Protagonisten der Synthetischen Biologie verweisen in eine Richtung, die das Konstruieren neuartiger Lebensformen als „eine Art ‚Hybrid‘ zwischen ‚alter‘ naturwissenschaftlicher und technischer bzw. ingenieurwissenschaftlicher Forschung“ sieht (Münk 2011, 117). Die Zugangsweisen der Biologie zu ihren Forschungsobjekten sind hochdifferenziert und vielfältig, wobei sich hier nach Hans J. Münk „wohl die schwierigsten neuen Fragestellungen der SB“ ergeben. Die 2003 durch Bernhard Irrgang formulierte These, dass mit den Eintritt in die synthetische Phase ein Paradigmenwechsel der Biologie verbunden sei, gewinnt nach Münk nun zunehmend an Bedeutung. Demnach folge die Biologie nun einer ihr bislang tendenziell fremden Leitvorstellung, der der Ingenieurkunst (vgl. ebd.).
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möchte nun anhand eines berühmten Beispiels aus der Geschichte der Genetik des 20. Jahrhunderts exemplarisch, nicht jedoch mit Anspruch auf Vollständigkeit, darlegen, wie sinnliches Wissen als Erkenntnisform in der biologischen Laborforschung eine genuine Rolle spielt.
6. Die Lifesciences und das Modell der DNA Der Terminus „Lifesciences“ umschließt eine Anzahl von Disziplinen, transdisziplinären Projekten und institutionellen Neujustierungen, die im Feld zwischen Molekulargenetik, Biochemie und Biophysik, Biomedizin, personalisierter Medizin, Umwelttechnik, Genetik und Epigenetik auf Kompetenzen der Bio- und Gentechnologien aufbauen.⁶⁰ Dabei ist die wissenschaftliche Praxis der Laborforschung ähnlich technologisch geprägt wie auch die ingenieurtechnische Praxis der Biotechnologen. Die Anwendung von Restriktionsenzymen zur gezielten Rekombination der DNA stellt ein Beispiel hierfür dar.Voraussetzung dafür ist jedoch erst einmal ein gereiftes Verständnis der DNA auf der molekularen Ebene. Tragend für die Genese unseres kulturellen Horizont- und naturwissenschaftlichen Expertenwissens der Lifesciences sind so die in den 1950er Jahren entstandenen Arbeiten von Francis Crick und James D.Watson zu Aufbau, Struktur und Wirkungsweise der DNA-Doppelhelix. Ohne die röntgenspektrographischen Vorarbeiten Rosalind Franklins wären diese so nicht denkbar und es ist sinnvoll, sich hier die Forschungsschritte und Arbeitsweise der Wissenschaftler zu vergegenwärtigen. An deren Ende stand nicht nur eine grundsätzliche Leistung im Horizont unserer wissenschaftlichen Weltanschauung, sondern auch ein Potenzial von Handlungsmöglichkeiten, das sich mit der aktuellen Biotechnologie oder Synthetischen Biologie wohl gerade erst zu entfalten beginnt. Im Weiteren soll es um jene Entdeckung der DNA-Doppelhelix Struktur durch James D. Watson und
Die Lifesciences sind geprägt durch eine Reihe neuerer Forschungsergebnisse und Kompetenzen: „Das Klonen von Säugetieren 1997, die Stammzellforschung 1998 und die Erkenntnis der Bedeutung nichtcodierender DNA und RNA im Jahre 2002 haben eine neue Sicht der Entwicklung von Leben vorbereitet. […] So ist der Organismus als sich entwickelnde, jeweils momentan realisierte Struktur im Horizont des genetischen Codes als Steuerungsprogramm und Umwelt als gestaltendem Realisierungsfaktor im Sinne der Neoepigenesiskonzeption zu verstehen.“ (Irrgang 2012, 354; siehe auch Irrgang 2008b, 304). Hinzu tritt das Können der synthetischen Biologie und Bioingenieurkunst, das durch die Gentechnologie vorbereitet wurde (vgl. Irrgang 2012, 354; siehe auch Irrgang 2008b, 304).
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Francis H. C. Crick gehen – einer kulturellen Zäsur.⁶¹ Ich rekonstruiere den Prozess dabei den Ausführungen von Rolf Knippers folgend. Denn auch ihm zufolge gilt: „ihre Arbeit vom 25. April 1953 ist das herausragende Datum in der Geschichte des Gens. Dort findet sich das Bild der Doppelhelix, die zur Ikone der Biologie wurde“.⁶² Nicht nur das Bild der Doppelhelix als Topos einer Epoche des wissenschaftlichen Umgangs mit Leben gibt uns Hinweise zur Rolle sinnlichen Wissens. Mehr noch ist der Forschungsprozess der beiden Wissenschaftler von Bedeutung. Im Frühjahr 1951 sah Watson erstmalig Beugungsmuster von Röntgenstrahlen, mit denen DNA-Fäden durchleuchtet wurden. „Was er sah, war kein Durcheinander, sondern eine klare Anordnung von Flecken und Strichen, und ihm viel sofort ein, dass Rückschlüsse auf die Struktur der DNA möglich sein müssten.“⁶³ Auf der anderen Seite war Crick der Strukturforschung verschrieben und beschäftigte sich seit 1949 mit theoretischen Methoden, „mit deren Hilfe sich aus der Beugung von Röntgenstrahlen plausible Informationen über die Anordnung von Atomen in großen Molekülen herauslesen lassen.“⁶⁴ Zunächst finden wir zwei Aspekte angesprochen: die Interpretation wissenschaftlicher Bilder und die Einbettung in theoretische Methoden, durch welche sich die Bildinterpretationen sinnvoll auf naturwissenschaftliche Aussagen beziehen können. Dem trat ein drittes Moment hinzu: Watson und Crick wollten die Struktur der DNA erforschen und hierfür brauchten sie [vor allem] ordentliche röntgenkristallographische Bilder von DNA-Fasern […] [und die] bis dahin publizierten Röntgenbeugungsdiagramme waren zu ungenau, um als Basis für vernünftiges Modellbauen zu dienen.⁶⁵
Drittens geht es um Technik – Technik einmal verstanden als Technologie und technisches Wissen im Hervorbringen von wissenschaftlichen Visualisierungen. Es kann ja immer nur das sinntragend interpretiert werden, was auch klar abgebildet wird. Mikro- und Makrokosmos sind technisch-instrumentell zu erschließen und eröffnen uns so einen Phänomenbereich im Mesokosmos. So lautet eine Grundthese des Technoscience-Ansatzes. Die Wahrnehmungswelten, etwa des menschlichen Auges, werden technisch transformiert, was Ausdruck eines tech „Die Entdeckung der Struktur der Erbsubstanz DNA vor fünfzig Jahren war eine kulturelle Zäsur. Mit ihr begann der Aufstieg der Biologie zur Leitwissenschaft unserer Zeit.“ (Irrgang 2012, 353; siehe auch Irrgang 2008b, 304). Knippers 2012, 88. Knippers 2012, 84. Knippers 2012, 85. Ebd.
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nologischen Wissens ist. Wissenschaftliche Instrumente eröffnen sinnliche Phänomene zur wissenschaftlichen Interpretation. Und Technik im weiteren Sinn bezieht sich auch auf das Modellbauen. Die Interpretation der Röntgenbeugungsdiagramme verweist auf die sinnliche Praxis des experimentellen „Bastelns“,⁶⁶ also den Versuch, das 2D-Bild in eine angemessene und begründete 3DForm zu übertragen. Prozesse des Versuch und Irrtum gehören dazu und verweisen auf Formen des sinnlichen, sensomotorischen und somit handwerklichtechnischen Wissens in Prozessen des wissenschaftlichen Forschens. Rosalind Franklin spielte bei der Herstellung der entsprechend präzisen DNABilder für die weiteren Entwicklungen eine wichtige Rolle. „Das half beim Modellbauen.“⁶⁷ Als dadurch die Struktur der Doppelhelix für DNA-Fäden rekonstruiert werden konnte schlossen sich weitere Unklarheiten an. So etwa die Frage nach der Lage der Basen beider Stränge zueinander. Als Vor-„Wissen propositionaler Form“ standen Watson und Crick hierzu Chargaffs Regeln zur Verfügung. Am wichtigsten ist die damit verbundene Einsicht, dass „das prozentuale Verhältnis von Adenin […] gleich dem von Thymin [ist], und das Verhältnis von Guanin gleicht dem von Cytosin, oder kurz: A = T und G = C“.⁶⁸ Wie lässt sich dieses „Wissen propositionaler Form“ in Beziehung zur handwerklich-experimentell und visuell-interpretierend erschlossenen Struktur der Doppelhelix setzen? Im Horizont dieses sinnlichen, sensomotorischen und propositionalen Vorwissens wurde wieder im Dienste der Wissenschaft „gebastelt“. Rolf Knippers schreibt hierzu: Um das zu klären, hatten Watson und Crick in der Werkstatt ihres Instituts Metallplatten in Form der vier Basen bestellt. Sie wollten ein DNA-Modell bauen und die Metallplatten als Basen einfügen. Aber die Werkstatt brauchte Zeit, und Watson wurde ungeduldig. So schnitt er sich die Formen aus Pappe aus. Er legte die Basen aus Papier auf eine flache Tischplatte, bewegte sie hin und her und probierte verschiedene Möglichkeiten für Paarungen aus.⁶⁹
„Dabei brachte die letzte entscheidende Einsicht in die Doppelhelixstruktur das technische Modellbauen. Die beiden Autoren [Watson und Crick] machten ein einfaches räumliches Modell der DNA-Struktur, wie die Dombaumeister von ihren Kuppeln, um daran zu erproben, welche Modellvorstellung sich als tragfähig erweisen könnte. Dabei zeigte sich, dass technische Handgriffe viel besser waren als hochkomplizierte Berechnungen, die im Hinblick auf die Raumstruktur der DNA erst rund zehn Jahre später überhaupt möglich waren. Diese wichtige Rolle eines technischen Modells konterkarierte das damalige Wissenschaftsverständnis und führte dazu, dass Watson und Crick lange von ihren Kollegen nicht recht ernst anerkannt wurden.“ (Irrgang 2004b, 289) Knippers 2012, 86. Knippers 2012, 87. Ebd.
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Knippers verweist nun selber auf eine Visualisierung in seiner Darlegung zur Geschichte der Genetik, aus der erkennbar wird, dass die Adenin-Thymin und Guanin-Cytosin Paare, verbunden durch die jeweiligen Wasserstoffbrücken, geometrisch ähnliche Formen aufweisen.⁷⁰ Was der Autor in seinem Buch visualisiert, hat Watson beim „basteln“ entdeckt und damit nicht nur Chargaffs Regeln weitergeführt, sondern auch rückwirkend sinnlich bestätigt.⁷¹ Was zeigt dieser Forschungsprozess? In der Wechselwirkung theoretischer Forschungsmethoden, methodisch orientierter technischer Bilderzeugung und Bildinterpretation, sinnlich-sensomotorischer Experimentalvollzüge und praktischem, eher handwerklich-künstlerischem, Bastelns verdichten Wissensprozesse und Wissensformen einander zu einem perspektivisch unterlegten „Amalgam“, auf dessen Oberfläche eine der wirkmächtigsten wissenschaftlichen Leistungen des 20. Jahrhunderts zum Vorschein kommt. Hier treffen nicht nur verschiedene Wissensformen und Horizonte des je konkreten Vorwissens aufeinander. Gerade auch die Momente der Kooperation zwischen Watson und Crick (auf die eine oder andere Weise auch mit Rosalind Franklin) verweisen auf die 2PP als Spiegel des wissenschaftlichen Selbstvollzuges (1PP). Ohne damit die Leistung der beteiligten Wissenschaftler ins Lächerliche ziehen zu wollen, sei es auch so gesagt: Das gemeinsame spielerische Basteln, so wie es sich seit der Kinderkrippe als Form der interexistenziellen Weltermächtigung kultiviert, als sozial geteiltes Umgehen mit einer Umwelt, bildet auch eine Grundlage wissenschaftlichen Forschens. Vorausgesetzt ist aber – und dabei schlummert im Vergleich zwischen Kinderkrippe und Wissenschaft eine unhintergehbare Einsicht –, dass wir Wissenschaften als eine methodisch kultivierte Blüte menschlicher Neugier, als irgendwie naives und trotzdem Problem-induziertes Forschen betrachten. Natürlich ist ja Wissenschaft nicht nur ein Spiel mit Bauklötzen, aber Theorie ohne Sinnlichkeit ist leer, wie auch Sinnlichkeit ohne Theorie blind bleibt.⁷²
Siehe auch die graphischen Illustrationen in Knippers 2012, 88 f. und die molekulargenetischen Hintergrundinformationen sowie weiteren bildlichen Darstellungen im Lehrbuch Molekulare Genetik (Knippers 2006, 9 – 35). Hier lässt sich der Forschungsprozess und Prozess des Findens wissenschaftlicher Erkenntnisse auch mit den Begriffen rückgekoppelter Kausalität und der Selbstorganisation von Wissen beschreiben, wie sie etwa in der Emergenztheorie auf der Basis impliziten Wissens (Polanyi 2009, 29 ff.) und darauf aufbauend in einer kritischen Hermeneutik im Anschluss an Humberto Maturana und Francisco Varela, an die Evolutionäre Erkenntnistheorie und in Fortführung der Unterscheiding in „Tatsachenwissenschaften“ und „Vernunftwissenschaften“ bzw. „quid facti“ und „quid juris“ nach Leibniz und Kant entworfen wird (vgl. Irrgang 2014). Hier greift auch der kantische Imperativ zur Kritik der reinen Vernunft (1781/87): „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV B 75/A 51). Diese Aussage sollte aber nicht so verstanden werden, dass wir nur sinnliches Wissen auf der einen Seite und
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„Wissen sinnlicher Form“ ist genuin in das „Amalgam“ wissenschaftlichen Forschens implementiert. Es wird weiterhin gespiegelt an und eingebettet in „Wissen propositionaler Form“, etwa Chargaffs Regeln. Jene Regeln verweisen auf die 3PP und 3PPP. Denn diese sollen ja überzeitlich und unabhängig vom Ort gültig sein. Auf dieser Annahme aufbauend begründet Watson nicht nur seinen Selbstvollzug (1PP) beim Basteln. Er verdichtet das „Amalgam“ aus Perspektiven und Wissensformen in einer gelingenden (Erkenntnis‐)Praxis, durch welche Chargaffs Regeln weiterhin bestätigt werden. „Wissen sinnlicher Form“ ist nicht ohne die tragenden Perspektiven und den Vollzug der anderen Wissensformen zu erklären. Es spielt dann aber in Prozessen wissenschaftlichen Forschens eine grundsätzliche Rolle und sinnliches Erkennen ist nicht auf die Wissensform wissenschaftlicher Theorien zu reduzieren oder zur Verifikations- und Falsifikationsmagd zu degradieren. Auch im Basteln entsteht neues. Was sagen die Wissenschaftsphilosophen dazu?
7. Zur Wissenschaftsphilosophie der Laborforschung und sinnlichen Praxis im 20. Jahrhundert Neben den eher physikorientierten Ansätzen des Wiener Kreises der 1920er und 1930er Jahre oder Karl R. Poppers Logik der Forschung (1934)⁷³ erscheint besonders Gaston Bachelard ab den 1920er Jahren als Vertreter einer Wissenschaftsphilosophie der Forschungspraxis. Den sinnlichen Unterschied zwischen Alltagswahrnehmungen und technisch bzw. technologisch aufbereiteten wissenschaftlichen Wahrnehmungen, etwa in Laboren, weist er als „phénoménotechniques“ in seinen philosophischen Arbeiten aus. Durch Techniken werden Phänomene allererst sinnlich zugänglich und damit auch beobachtbar. Bachelard formuliert seine Gedanken nicht ohne die entsprechende Kritik am cartesischen Subjekt-
theoretisches Wissen auf der anderen hätten. Wichtiger ist schon die Freilegung einer Unterscheidung in quid iuris und quid facti, die in der Durchführung einer transzendentalen Deduktion den geltungskriterialen Status von „Wissen philosophisch-reflexiver Form“ begründet (vgl. KrV B 116 – 129). Das Reflektieren auf die Geltungsmöglichkeit sinnlicher oder theoretischer, weiterhin auch emotionaler oder sensomotorischer Erkenntnisprozesse ist selber Ausdruck einer philosophisch-reflexiven Wissensform. Popper 1994.
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Objekt-Dualismus.⁷⁴ Damit tritt der Autor als Vordenker jener Ansätze der Technoscience auf, die etwa durch Don Ihde, Andrew Pickering, Bruno Latour oder Donna Haraway vertreten werden⁷⁵ bzw. als Technowissenschaft (Alfred Nordmann) diskutiert⁷⁶ und im Konzept des Technoresearch (Bernhard Irrgang) weiterentwickelt wurden.⁷⁷ Diese Ansätze haben auch der wissenschaftsphilosophischen Berücksichtigung sinnlicher Erkenntnisprozesse Vorschub geleistet, weil der Fokus nicht nur auf der Genese und Rechtfertigung wissenschaftlicher Theorien liegt, sondern auch auf kulturell eingebetteter und technisch-instrumentell geprägter Forschungspraxis. Neben Bachelard treten hier auch Edmund Husserl mit Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (ab ca. 1935),⁷⁸ Hugo Dingler mit seinen Aufsätzen zur Methodik (ab 1936 veröffentlicht)⁷⁹ und Ludwik Fleck seit den 1930er Jahren in Erscheinung. Fleck entwirft sein Werk Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935)⁸⁰ mit Blick auf ein medizinisches Beispiel, dem diagnostischen, therapeutischen und präventiven Umgang mit der Syphilis-Erkrankung zu verschiedenen Zeiten. Eine Hinwendung zur Forschungspraxis ist damit verbunden, wie auch die Einsichten in paradigmatische historische und soziale Einbettungen wissenschaftlichen Forschens. Für Thomas S. Kuhn wird der Paradigmen-Begriff und -Wechsel zu einem Kernproblem in The Structure of Scientific Revolutions (1962),⁸¹ einem Werk, das für Ian Hacking selber wiederum in Representing and Intervening (1983)⁸² paradigmatisch die Wende der Wissenschaftsphilosophie zur Forschungspraxis verkörpert.⁸³
Vgl. Rheinberger 2012, 290; zu „Phänomenotechniken“ nach Bachelard siehe auch Rheinberger. 2007, 40 ff. und Rheinberger 2010a. Vgl. Ihde/Selinger (Hg.) 2003. „Mit dem Begriff ‚TechnoWissenschaft‘ soll dagegen ausgedrückt werden, dass in ihr Technik und Wissenschaft untrennbar verbunden sind und nicht einmal mehr begrifflich auseinander gehalten werden können. […] Es handelt sich hier um keine Disziplin oder Gattung wissenschaftlicher Arbeit, sondern um eine hybride Form und somit Symptom für einen grundlegenden Wandel der Wissenschaftskultur.“ (Nordmann 2005, 210). Vgl. Irrgang 2008b, 264 ff. Husserl 2012; hier besonders auch der Galileo-Paragraph § 9 a-l. Dingler 1987. Fleck 1980. Deutsche Übersetzung: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Kuhn 2007). Deutsche Übersetzung: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften (Hacking 1996). Hans-Jörg Rheinberger urteilt allgemein über diese Bewegung: „Die Vorstellung von Wissenschaft als Prozess löste [im 20. Jahrhundert] die zwanghafte Sicht auf Wissenschaft als System ab.“ (Rheinberger 2007, 9). Hier verortet er den Ansatzpunkt für seinen Entwurf einer historischen Epistemologie. Rheinberger „geht davon aus, dass die Historisierung der Epistemologie den ent-
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Neben der zunehmenden Fokussierung wissenschaftlicher Forschungspraxis und historisch-sozialer Einbettung stehen auch eine Überwindung der PhysikOrientierung⁸⁴ der Wissenschaftsphilosophie und die Auseinandersetzung mit den biologischen Wissenschaften. Der Band zur Wissenschaftstheorie der Biologie (1999)⁸⁵ von Peter Janich und Michael Weingarten stellt sich dieser Herausforderung, wie auch der Entwurf Bernhard Irrgangs Von der Mendelgenetik zur Synthetischen Biologie (2003), der sich im Anschluss an Janich und Weingarten und über diese hinaus einer Epistemologie der Laboratoriumspraxis Biotechnologie (so der Untertitel) zuwendet.⁸⁶ Weiterhin untersucht Hans-Jörg Rheinberger anhand konkreter Fallstudien die Epistemologie des Konkreten (2006) mit Blick auf Modellorganismen und biologische Forschungsinstrumente.⁸⁷ Die wissenschaftsphilosophische Reflexion und theoretische Auseinandersetzung mit Formen der sinnlichen Forschungspraxis sind jenen Ansätzen immanent. Sinnliches Wissen ist als konkrete Wissensform neben anderen vor allem auch als eine Facette technischer Praxis bedeutsam, und damit gleichsam für wissenschaftlich-instrumentelles Experimentieren und Laborforschung. Hinter diese Einsicht können wir nicht mehr zurückkehren: es gibt kein isoliertes, standpunktloses und kontextenthobenes Theorie-Wissen, auf das sich wissenschaftliches Forschen allein reduzieren lässt. Ebenfalls, und das muss aber auch betont werden, gibt es eine konkrete theoretisch-propositionale Wissensform, die in bestimmten Perspektivenkonstellationen wissenschaftlichem Forschen inhärent ist. Insofern behalten analytische Debatten zu Erkenntnistheorie oder epistemische (Modal‐)Logiken ihre Berechtigung, jedoch darf sich Philosophie – will sie wirkliche Reflexion bleiben – scheidenden Beitrag des vergangenen Jahrhunderts zur Transformation der Philosophie der Wissenschaften darstellt“ (Rheinberger 2007, 10) und subsumiert „unter dem Begriff der Epistemologie […] die Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird.“ (Rheinberger 2007, 11). „Historisierung der Wissenschaftsphilosophie“ und „Epistemologisierung der Wissenschaftsgeschichte“ sind gleichzeitig Kennzeichen und „Bewegungen, die sich unter dem Begriff der historischen Epistemologie zusammenfassen lassen“ (Rheinberger 2007, 13). Zwei Umstände sind für Hans-Jörg Rheinberger bedeutsam: zum einen die Überwindung der klassischen Physik und zum anderen die Einsicht, dass eine Einheitswissenschaft fehlt. „Dies Letztere – dass es nämlich der Dynamik der Wissenschaften offensichtlich keinen Abbruch tat, wenn sie sich nicht vereinheitlichen ließen, sondern dass diese plurale Verfasstheit vielmehr zu den Bedingungen ihrer sich überstürzenden modernen Entwicklung zu gehören schien – hat auf Dauer die vielleicht noch größere Sprengkraft entfaltet.“ (Ebd.). Janich/Weingarten 1999. Irrgang 2003. Rheinberger 2006.
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nicht darauf beschränken. Denn entscheidend ist nicht die Bearbeitung einzelner Wissensformen, sondern das Untersuchen der Verbindungen und Interferenzen zwischen Wissensformen und Standpunkten. Es wird wohl auch nur so eine wirklich aussagekräftige Wissenschaftsphilosophie inter- und transdisziplinären Forschens zu entwerfen sein.
8. Sinnliches Erkennen und Musikphilosophie Eine philosophische Beschäftigung mit Molekularbiologie, Genetik oder Gentechnik auf der einen Seite und Musik auf der anderen ist nicht nur Selbstzweck im Dienste einer Illustration des Status sinnlichen Wissens. Den Konzepten der Hermeneutischen Epistemologie und der Epistemischen Perspektivität folgend ist ein solches Zirkulieren zwischen verschiedenen Fächern bzw. Phänomenbereichen der Erarbeitung philosophischer Theoriebildung selber förderlich. Natürlich muss ein Biologe kein guter Musiker sein und umgekehrt ein Musiker kein Experte der Genetik. Aber beide sind gleichermaßen auf ihre Weise Meister im Umgang mit Experimentalsystemen, Instrumenten, Techniken, Wahrnehmungen, Emotionen und komplexen theoretischen bzw. begrifflich-propositionalen Wissenshorizonten; und last not least sind wohl beide auch mit philosophischen Problemen beschäftigt. Die Frage ist gar nicht die nach Unterschieden bzw. Gemeinsamkeiten der Interpretation wissenschaftlicher Bilder im Biologielabor und der Interpretation musikalischer Notentexte oder Tabulaturen im Proberaum. Die Frage ist: Was setzen wir voraus, wenn wir diesen Vergleich anstellen? Antwort: Dass es sich um kompetente Menschen handelt, die hier etwas tun. Praxis und Kompetenz sind der Ansatzpunkt; nicht etwa eine statische Ontologie bzw. Definition von „Biologie“ und „Musik“; auch keine institutionelle oder hochschulpolitische Schubladenanalyse der verschiedenen Lehrpläne oder Mittelzuweisungen der beiden „Fächer“; gleichsam keine Ontologie der Restriktionsenzyme oder des Klaviers; zuletzt ebenfalls nicht der Anspruch, alle Bücher aus beiden Bereichen gelesen zu haben, deren Aussagen sich dann in vollständigen Tabellen gegenüberstellen ließen (mit einem x bei „Übereinstimmung“ und einem o bei „Unterschied“). Die Vergleichbarkeit liegt darin, dass es sich um menschliche Kompetenzen und perspektivisch getragene Wissensprozesse handelt, also etwas, das prinzipiell jeder lernen kann. Dass nicht jeder gleichermaßen talentiert oder gebildet ist, steht dem nicht entgegen. Und so ist das Nachdenken über das Erlernen eines Musikinstrumentes nicht nur eine musikphilosophische Herausforderung im engen Sinne des Wortes. Zur Musik als Herausforderung der Philosophie bemerkt etwa Georg Mohr:
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In einem noch weitergehenden Sinne als es bei vielen anderen Themenbereichen akademischer Philosophie der Fall ist, ist die Musik sowohl vitaler Teil des menschlichen Alltags als auch Gegenstand hoch spezialisierter Wissenschaft.⁸⁸
Die Analogie zur Genetik und Züchtung liegt auf der Hand: Ist der Umgang mit Evolution als Züchtung seit Jahrtausenden Bestandteil des menschlichen Alltages, so ist der Umgang mit Evolution im biologischen Labor gleichsam Gegenstand hoch spezialisierter Wissenschaften. In beiden Fällen liegt ein „Amalgam“ aus Wissensprozessen zugrunde, das einen Umgang mit „Leben“ ermöglicht. Nur gehen wir ja beim Musizieren irgendwie auch mit „Leben“ um, auch wenn das Phänomen hinter dem Wort „Leben“ dann anders perspektivisch getragen wird. In der Musik entwickeln wir Standpunkte zum Leben,wie wir uns auch in der Genetik genuiner Standpunkte hierzu ermächtigen. Beides äußert sich in (gelingender) Praxis. Im Musizieren – und in vielen anderen Künsten, Handwerken, Wissenschaften usw. – kultivieren wir unsere eigene Natur. Wir tun etwas mit uns und anderen Menschen, das auf uns und andere Menschen rückwirkt. Epigenetik, vielleicht so etwas wie ein – metaphorisch gesprochen – „Gedächtnis“ im Genom, das die Gen-Expression entsprechend bestimmter Formen des Umgangs mit der Umwelt „erinnern“ kann, ist ein möglicher direkter Verweis zwischen Musik und organischer Entwicklung. Das Erlernen von Musikinstrumenten basiert ja auch auf Jahren der Übung von Körperbewegungen, dem Verinnerlichen von Wahrnehmungen und Emotionen, aber auch dem Ermächtigen sozialer Horizonte und einem differenzierten Verständnis theoretischer Strukturen. Letzteres tritt insbesondere in Formen der Harmonielehre, Tabulaturen und Notationen zu Tage. Vielleicht ist es darum auch sinnvoll, die Naturwissenschaft der Genetik mit klassischer Musik in Analogie zu führen. Denn die adäquate und stilistisch angemessene Interpretation musikalischer Noten vor dem Hintergrund bestimmter Epochen, aufführungspraktischer Herausforderung und Spieltechniken illustriert die Bedeutung propositionalen Wissens bei der Verwebung verschiedener Wissensformen. Auf der anderen Seite steht die Rockmusik oder der Jazz hier nicht außen vor. Was unterscheidet einen Molekularbiologen, der in seinem Laboratorium experimentiert, verschiedene Formen der Bildgebung ausprobiert oder mit Restriktionsenzymen gemäß dem Motto trial and error herumtüftelt, von einem Rock-Gitarristen, der in einem Proberaum mit Effektgeräten und Verstärkern verschiedene Klangwelten entwirft? Was das Protokoll im Labor, das ist die Notenskizze im Proberaum. Innerhalb der „Form sinnlichen Wissens“ mag im Proberaum wohl der Klang eine wichtigere Rolle spielen als im Labor. Das mag ein
Mohr 2011, 1318.
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Unterschied sein, der jedoch nicht den Status sinnlichen Wissens als genuine Wissensform neben anderen herabmindert. Fragen wir nach Jazz: Was unterscheidet eine Jazzimprovisation, bei der Musiker ein Leadsheet interpretieren, von Watson und Crick, die bastelnd ein Röntgenbild von Rosalind Franklin interpretieren? Ein Jazz-Leadsheet gibt relativ grob (verglichen mit Notationen klassischer Musik) Akkordfolgen und Themen vor, die von den Musikern mit viel Raum für eigene Interpretationen umgesetzt werden. Oft sind diese Visualisierungen so allgemein gehalten, dass die Musik von verschiedensten Instrumenten gespielt werden kann. Was aber doch als kleinster gemeinsamer Nenner steht sind einige theoretisch eindeutig aussprechbare Strukturen, wie das Verhältnis zwischen Einzelakkorden innerhalb bestimmter Kadenzen (etwa II-V-I) und ihre Substituierbarkeit (wonach also bestimmte Akkorde einer Folge durch andere ausgetauscht werden, ohne den Song „falsch“ klingen zu lassen). Gleiches gilt für Chargaffs Regeln und das Basteln mit den Molekülen, wie weiter oben beschrieben. Das theoretische Vorwissen wird in den Prozess einer technischen Praxis sensomotorisch eingearbeitet, wobei die angemessene Deutung einer 2-D-Visualisierung (Leadsheet oder Franklins Röntgenbild) den Status sinnlichen Wissens innerhalb des Erkenntnis- und Anwendungsprozesses materiell repräsentiert. Wie Wissenschaftsphilosophie, so wirft auch die Musikphilosophie hier Fragen unmittelbarer Grundlagenforschung auf: Schließlich vermag die Musikphilosophie als eine auf einen bestimmten Gegenstandsbereich bezogene Teildisziplin der Philosophie auch der philosophischen Grundlagenforschung (Ontologie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie) Impulse zu geben. Die Berücksichtigung der in der Musikphilosophie thematischen Phänomene kann den Horizont und den Erklärungswert philosophischer Grundlagentheorien erweitern.⁸⁹
Das betrifft so auch die Notwendigkeit der philosophischen Reflexion sinnlichen Wissens und die Anwendung eines weiten Wissensbegriffs.⁹⁰ Musik führt uns so quasi in uns selbst hinein, macht uns mit Seiten unseres eigenen Wissens und eigener Wissensformen bekannt, zu denen wir bislang keinen Zugang hatten. Um eine Art schlagartig erweiterten Selbstkontakt.⁹¹
Mohr 2011, 1321; zu Interferenzen zwischen Philosophie und Musik siehe auch Bowie 2007, 5 f. „This broad and foundational domain of knowledge is an entirely familiar element of both our everyday lives (e. g. our everyday practices and know-how) as well as the arts and sciences.“ (Abel 2012, 2). Es ist jene Breite, die auch Georg Mohr für den musikalischen Alltag wie die hohe Spezialisierung wissenschaftlicher Beschäftigung mit Musik attestiert. Mahrenholz 2011b, 1344.
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Dieser Zugang ergibt sich aus bestimmten Standpunkten zum „Leben“, die wir uns in einer genuinen „Amalgamierung“ perspektivisch getragener Wissensformen erarbeiten. Methodisch wird hierbei eine Aufwertung der Alltagspraxis eingeholt, weil das Erarbeiten jener Standpunkte nicht durch bestimmte Theorien alleine ersetzbar ist.Wir müssen es sinnlich-praktisch tun und dadurch auch mit „Wissen sinnlicher Form“ in einer spezifischen Weise umgehen lernen. Tun wir dies durch klassische Musik, dann wird „Wissen sinnlicher Form“ Theorie-betont amalgamiert. Das Ausprägen sinnlichen Wissens (wie auch der anderen Wissensformen in diesem Bereich) erfolgt streng ausgerichtet an den Grenzen und Freiräumen vorgegebener Notationen. In anderen Musikformen kann das „Amalgam“ aber unterschiedlich aussehen, etwa in improvisationsstarker indischer Ragamusik. Für die Ebene philosophischer Theoriebildung bedeutet dies: Die Rekursinstanz der lebensweltlichen Alltäglichkeit anstelle reduktionistischer Konstrukte qualifiziert die Analysen von Heidegger und Wittgenstein in unterschiedlicher Weise als Tiefenhermeneutik, weil die übergroße Nähe dieser Rekursinstanz dialektisch mit einer wesentlichen Ferne und Verdecktheit verbunden ist.⁹²
Das Wesentliche ist manchmal so nahe, dass wir es schnell übersehen. Und das können wir für eine Epistemologie sinnlichen Wissens von Heidegger und Wittgenstein lernen. Hier schließt sich dann auch der Bogen zum Anliegen dieses Beitrages. Eine Verengung auf die Analyse propositionalen Wissens reicht nicht hin, das lernen wir auch selber von einer Philosophie der Musik: So ist die klassische Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie referenztheoretisch fixiert auf Begriffsgebrauch und optisch wahrnehmbare Gegenstände, das Verstehen musikalischer Wahrnehmungen hingegen wird systematisch ausgeblendet. Hier ist ein Nachholbedarf, der nicht nur die Disziplin der Musikphilosophie betrifft, sondern auch den Horizont philosophischer Zugangsweisen zu Dimensionen menschlichen Erfahrens und Verstehens, die sich nicht auf Sehen und Begriffsgebrauch reduzieren lassen. Es ist an der Zeit, auch hierzulande sich wieder verstärkt der Musikphilosophie zuzuwenden.⁹³
Georg Mohr formuliert diese Aussage auch bezugnehmend auf die großen Gestalten deutschsprachiger Musikphilosophie (Nietzsche, Schopenhauer usw.) und das Ein- bzw. Abbrechen akademischer Musikphilosophie nach dem Tod Theodor W. Adornos.⁹⁴ Ich denke, eine solche Zuwendung sollte nicht unter dem Banner der Musikphilosophie erfolgen, nur um dann rekonstruktiv im Nachhinein die
Rentsch 2003, 16; siehe auch Anm. 14. Mohr 2011, 1317. Vgl. Mohr 2011, 1317, 1324; siehe auch Cadenbach 2007, 184.
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Bedeutung der Musikphilosophie für philosophische Grundlagenforschung zu betonen. Eine solche Zuwendung muss auch aus dem Windschatten alter Überväter ausscherend erfolgen können, und zwar ausdrücklich als philosophische Grundlagenforschung. Jene ist dann als Brennpunkt zwischen Wissenschafts-, Technik- und Musikphilosophie einzulösen.⁹⁵ Ich habe dies mit dem vorliegenden Beitrag versucht unter Darlegung Hermeneutischer Epistemologie und Epistemischer Perspektivität, auch im Interesse einer zeitgemäßen Wissensforschung. Dabei ist es primäres Anliegen, den Status sinnlichen Wissens als perspektivisch getragene Wissensform neben anderen herauszustellen, unabhängig davon, ob es sich um Genetik oder Musik handelte.
Exemplarisch sei auf zwei Gegenwartsautoren verwiesen, die eine solche Synopsis versucht haben. Bezeichnend ist, dass beide den bereits beschriebenen Ansätzen der Technoscience bzw. Technowissenschaft angehören; also jenen Entwürfen, in denen vor allem die technologische Einbettung wissenschaftlichen Forschens untersucht wird. Am ausführlichsten tritt Don Ihde in Erscheinung, der mit Listening and Voice. Phenomenologies of Sound (1976) ein umfangreiches Buch allein zu den Wechselwirkungen zwischen Laborforschung, wissenschaftlichen und musikalischen Instrumenten vorgelegt hat. Einige Kerninhalte beziehen sich auf die leibliche Einbettung und technische Transformation wissenschaftlicher wie musikalischer Wahrnehmungen. Mit Maurice Merleau-Ponty werden phänomenologische Wahrnehmungstheorien zur Analyse der Produktion wissenschaftlichen wie musikalischen Wissens fruchtbar gemacht: „And while my interest in the role of instruments in the philosophy of technology often tended toward particular attention to scientific instruments, their role in the production of knowledge often could be seen in both comparison and contrast to the role of instruments in producing music.“ (Ihde 2007, xii). Ein Unterschied besteht aber in der Aktualität. Wo in den Wissenschaften immer die neuesten Geräte zum Einsatz kommen müssen, ist es in der Musik sogar manchmal geboten, teilweise Jahrhunderte alte Instrumente zu gebrauchen (Ihde 2007, xiiif.). Auch die Bedeutung der Aufnahmetechniken und der elektronischen Musik stellt Ihde heraus, mit Blick auf die kulturellen Wechselwirkungen (in der Art und Weise des Musikkonsums, des Entstehens von Pop- und Jugendkulturen usw.) (Ihde 2007, 227 ff.). Wo Wissenschaft als kulturelle Praxis erscheint, wird auch Musik entsprechend gedeutet. Einen anderen Entwurf legt Alfred Nordmann vor, der experimentell die Einspielung einer Schubert-Sonate mit technowissenschaftlichem Fertigkeitswissen vergleicht: „Weder um epistemisches Wissen und die Festlegung einer wahren und gerechtfertigten Überzeugung geht es in dieser Forschung, noch um Dingwissen oder das verlässliche Funktionieren eines Geräts. Wie stark sich technowissenschaftliches Fertigkeitswissen gleichermaßen von wissenschaftlichem Wissen und handwerklichem Können unterscheidet, lässt sich vielleicht verdeutlichen, indem die Aneignung und der Nachweis grundlegender Fertigkeiten als ein Typ objektiven Wissens charakterisiert wird, das sich nicht nur in technowissenschaftlichen Publikationen, sondern beispielsweise auch in Einspielungen klassischer Musik nachweisen lässt.Was für die Konstrukteure der Nanogitarre gilt, das lässt sich auch für eine Schallplattenveröffentlichung des Pianisten Alfred Brendel sagen, der damit den Nachweis eines Klavierspiels einer Schubertsonate produziert: Hier wird nicht nur eine Fertigkeit demonstriert, sondern auch ein neuer Blick eröffnet und ein neues Phänomen etabliert, das objektiv gegeben, kommunizierbar und lehrbar ist, das Hör-, Handlungs- und Erwartungsmuster erzeugt.“ (Nordmann 2011, 575).
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9. Schluss Stand die Tagung im Februar 2013 unter dem Titel „Ästhetisches Wissen: Zwischen Sinnlichkeit und Begriff“, dann muss ich einmal sagen „Ja“ und einmal „Nein“. „Nein“, der einfache Dualismus zwischen sinnlichem Wissen (implizitem Wissen) und begrifflichem Wissen (propositionalem Wissen) reicht nicht aus, um den Status sinnlichen Erkennens in der Genetik und klassischen Musik darlegen zu können. Durch die Brille der wissenschafts-, technik- und musikphilosophischen Gegenwart betrachtet stellen sich die Prozesse menschlichen Erkennens in den jeweiligen Bereichen als komplexer dar; Wissen mit einem solchen Dualismus zu beschreiben geht am eigentlichen Problem vorbei. Und darum auch „Ja“, denn wie ein hermeneutisches Zirkulieren spielt sich jenes Erkennen als aktiver Prozess zwischen verschiedenen Perspektiven, Standpunkten und Wissensformen rekursiv ab. In der Tat geht es um das „Zwischen“. Ich habe hierzu die Konzepte Hermeneutische Epistemologie und Epistemischer Perspektivismus skizziert durch je drei Grund- und Horizontalperspektiven, innerhalb derer fünf Wissensformen synaisthetisch situiert werden. Situieren meint das spezifische Ineinanderweben zu je genuinen Praxisformen, das ein erkennendes Umgehen abhängig vom Kontext ermöglicht. Sinnliches Wissen ist dabei eine von fünf Wissensformen und somit Teil einer philosophischen Heuristik, nach welcher sich Erkennen beschreiben lässt. Anhand der Genetik und der klassischen Musik habe ich versucht, dies zu exemplifizieren. Dabei diente mir die Entdeckung der Struktur der DNADoppelhelix als Beispiel aus verschiedenen Gründen: 1. Hier lässt sich demonstrieren, wie sinnlich-handwerkliche Praxis nicht das Gegenteil von Wissenschaft ist, sondern ein genuiner Bestandteil, auch bei der Erzeugung und Rechtfertigung wissenschaftlicher Theorien. 2. Ich habe mich für ein Beispiel aus der Genetik entschieden, nicht weil es in physikalischen oder chemischen Experimenten weniger sinnlich-pragmatisch zuginge, oder weil das Bild der DNA-Doppelhelix nunmehr schon fast zu einem Topos der wissenschaftlichen Weltanschauung und des Begriffs „Leben“ seit den 1950er Jahren erwachsen ist. Es geht mir vordergründig um das Spiegeln wissenschaftlichen Forschungswissens und wissenschaftsphilosophischer Reflexion. Denn es sind besonders die Lifesciences, die Genetik und Epigenetik, durch welche wir sinnlich erkennend sinnliches Erkennen (immer in Wechselwirkungen mit den anderen Wissensformen) thematisieren und somit eigentlich gar keinen Sonderfall der Wissenschaftsphilosophie mehr verhandeln. Wir verhandeln vielmehr grundsätzliche anthropologische Fragen: Was ist der Mensch? Wie erkennt der Mensch den Menschen?
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Es ist also gar nicht so abwegig, sinnliches Wissen auch in den Naturwissenschaften zu vermuten. Vielmehr ist dieses tatsächlich als allgemeine menschliche Wissensform anzuerkennen. Das gebietet dann auch der Vergleich mit klassischer Musik, wenn diese nämlich auch als konkrete Kompetenzform verstanden wird, anstatt sie auf Notentexte zu verengen. Auf der anderen Seite bietet sich das Beispiel der klassischen Musik eben wegen der starken Notenorientierung an. Denn auch hierbei wird die Verflechtung propositionalen Wissens (Notensemantik, Harmonielehre), technischer Praxis (Sensomotorik, Sinnlichkeit), aber auch sozialer Horizonte (Emotionalität) und vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch etwas genuin philosophisch-reflexives erkennbar. Auch Musizieren trägt und reflektiert, vielleicht eher auf einer non-verbalen Ebene,⁹⁶ menschliche Gesellschaften. Damit sind alle fünf Wissensformen eingeholt: Propositionen, Sensomotorik, Sinnlichkeit, Emotionalität und Reflexion. Musik ist ein Spiegel unseres Wissens menschlicher Welten, wie auch die Genetik ein Spiegel unseres Wissens menschlicher Welten sein kann. Wo erstere auch der Philosophie einen Spiegel vorhält, erzwingt letztere eben philosophisch kompetent und um das neue (sinnliche) Wissen der Genetik bereichert in den menschlichen Spiegel zu schauen. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen, wir müssen ja unsere Standpunkte zu uns selbst bilden können. Die zukünftigen philosophischen Herausforderungen bei der weiteren Bestimmung menschlichen Erkennens, und besonders von „Wissen sinnlicher Form“, werden eher aus den Lifesciences und der neuen Biologie herrühren, als aus der Physik. Denn Konzepte wie organische und epigenetische Selbstorganisation, Selbstorganisation kulturell eingebetteter und perspektivisch getragener
Andreas Luckner weist darauf hin, dass Helmuth Plessner hierzu wenig rezipierte Ausarbeitungen zur Doppelschichtigkeit der Sprache und Einschichtigkeit der Musik vorgelegt hat. „Der Unterschied, der mit der Einschichtigkeit der Musik angesprochen ist, liegt darin, dass der musikalische Laut nicht auf etwas Außermusikalisches verweist.“ (Luckner 2007, 43). Dieser Gedanke müsste aber noch hinsichtlich der Möglichkeit von Programmmusik oder Musik als Träger von Ritualen, Kirchenmusik oder einfach und schlicht Musik als Ausdruck von leiblichem Wissen präzisiert werden. Es scheint ja doch Ebenen zu geben, bei denen Musik auf etwas Außermusikalisches verweist. So etwa auf Sakrales und Spirituelles in der Praxis der Kirchenmusik, oder auch einfach und schlicht auf einen Fluss in Bedřich Smetanas Moldau. Dem hier vorgeschlagen Ansatz der Hermeneutischen Epistemologie und des Epistemischen Perspektivismus folgend sind sowohl Musik als auch Sprache fünfschichtig (entsprechend der fünf Wissensformen) und multiperspektivisch horizontal eingefasste Praxisformen. Der Unterschied zwischen Musik und Sprache besteht dann in der je konkreten „Amalgamierung“ und Verdichtung der Standpunkte (Grundperspektiven), Horizontalperspektiven und Einzelkompetenzen. Darum ist es ja auch nicht hinlänglich, von „der“ Sprache oder „der“ Musik zu sprechen. Beide Phänomenbereiche bzw. Praxisformen sind hoch binnendifferenziert mit Übergangsbereichen.
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Wissensformen, oder rückgekoppelte Kausalität bzw. organische Emergenz werfen heute wohl ähnlich grundsätzliche Fragen den Status unserer Beobachterstandpunkte betreffend auf wie in den 1920er Jahren die Relativitäts- und Quantentheorie. Dafür können wir durch und mit Musik lernen. Und das Kultivieren der Kompetenz zur Perspektiven-Synaisthesis, dem Verbinden-Können verschiedener Standpunkte und Erkenntnisformen zu einem pragmatisch gelingenden „Amalgam“ ist nur ein Beispiel. Viel grundlegender gilt wohl auch: Wer musiziert und forscht wird seine Außenwelt nicht bezweifeln, er wird natürlich und kulturell zugleich Umgehen…
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Klang und Geist: Über neuere Untersuchungen zu einem hegelschen Problem In diesem Beitrag versuche ich zuerst, ein wesentliches Problem herauszupräparieren, über das Hegel nachdenkt, wenn er die Musik im Rahmen seiner Ästhetik bespricht. Dieses Problem und die Grundlagen, auf denen es entsteht, sind auch für die heutige philosophische Beschäftigung mit der Musik bemerkenswert. Ich beziehe anschließend eine mittelneue und einige ganz neue Theorien auf diese Problemlage, um zu zeigen, welche Möglichkeiten zu ihrer Lösung bedacht worden sind und wie sie sich zu anderen Ansätzen musikphilosophischer Arbeit verhalten. (Ich betone, dass diese Theorien auf ein hegelsches Problem bezogen sind, nicht aber auf Hegel selbst. Er wird in ihnen gar nicht genannt.)
1. Hegels Problem Hegels Problem können wir folgendermaßen umreißen: Wir möchten das, was der Musik eigentümlich und wesentlich ist, herausfinden, und beginnen darum mit einer Untersuchung des Klanges. Insofern diese Untersuchung einige spezifische Differenzen zu anderen Medien herausarbeitet, ist sie eine ontologische Untersuchung. Ihr entspricht eine phänomenologische oder (proto‐)epistemologische Untersuchung: Wir fragen, auf welche eigentümliche Weise wir Klänge erfahren. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen scheinen sich aber nicht in gewisse Voraussetzungen einfügen zu lassen, von denen wir in der Philosophie der Kunst im Allgemeinen ausgehen. Die wichtigen Differenzen des Klanges bestehen darin, dass er erstens nicht die Räumlichkeit und Gestaltetheit der Medien der bildenden Künste hat. Zweitens hat er aber auch nicht die Zeichenfunktion der gesprochenen Sprache, die mit dem Klang zunächst das Moment teilt, zeitliche Äußerung zu sein. Die Zeitlichkeit der gesprochenen Sprache ist in ihrer Bedeutung aufgehoben; die Zeitlichkeit des Klanges ist dagegen etwas unaufhebbar Vergängliches.¹ Eben diese Bestimmun Die besondere Bindung der musikalischen Klänge an ihren zeitlichen Verlauf und die daraus folgende Eigenart der Rede von musikalischem „Sinn“ – dass nämlich dieser Sinn nicht aus der Zeit heraustrennbar ist, in der seine sinnliche Verwirklichung stattfindet – ist auf verschiedene Weise formuliert worden. Helmuth Plessner, terminologisch vermutlich von den kunstontolo-
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gen – Vergänglichkeit und Gestaltlosigkeit – teilt die sinnliche Erscheinung des musikalischen Klanges mit „der in sich selbst gleichfalls unbestimmten Empfindung, die zur festen In-sich-Bestimmtheit ihrer noch nicht hat fortzugehen vermocht“.² Hegel sucht hier eine Entsprechung zwischen der ontologischen Bestimmung des Klanges – eines Ereignisses in der Außenwelt – und einer innerlichen Bewegung, einer Erscheinungsweise des Geistes, um herauszufinden, welcher geistige Inhalt jenem Stoff oder Medium eigentümlich sein kann. Die Erfahrung, die wir von Klängen haben, erfährt eine gleichartige Abgrenzung. Bildende und sprachliche Künste präsentieren sich objektiv, nämlich als dargestellter Gegenstand oder als ausgesprochene Bedeutung. Das Subjekt steht zu ihnen im „Verhältnis der Anschauung“.³ In der Musik aber fällt dieses Unterscheiden [des Subjekts von dem,was es objektiv anschaut] weg. Das Ich ist nicht mehr von dem Sinnlichen selbst unterschieden, die Töne gehen in meinem tiefsten Innern fort. Die innerste Subjektivität selbst ist in Anspruch genommen und in Bewegung gesetzt.⁴
Hegel betont das Eindringende der Klänge gegenüber ihrer Äußerlichkeit. Dies tut er, weil er den Klang als Äußerung von vornherein in eine besondere Beziehung zum Inneren stellt. Das Innerliche gewinnt im Klang einen äußeren Ausdruck. Dies
gischen Werken Nicolai Hartmanns und Roman Ingardens angeregt, schreibt von der „Einschichtigkeit“ der Musik im Gegensatz zur „Doppelschicht“ der Sprache (Plessner 1982c, 473). – Andreas Luckner (2007, 45) führt diese Ansicht unter den Titeln der „Isochronie“ und „Hyperchronie“ weiter aus und erklärt am Phänomen der Wiederholung, dass sprachliche Wiederholung stets eine Redundanz ist, da sie auf einen zeitenthoben (hyperchron) gegebenen Sinn zugreift, ohne diesem weiter etwas hinzuzufügen, während musikalische Wiederholung den musikalischen Sinn erst gestaltet, indem sie die Zeit selbst gestaltet. Werden einige Takte Musik wiederholt, sind sie in der Wiederholung nicht mehr dieselben. Seiner Ansicht nach muss eine Ontologie der Musik über eine Ontologie des Klanges hinaus auf eine grundlegende Bestimmung des Begriffs „Rhythmus“, also der Gliederung der Zeit selbst, hinauslaufen (Luckner 2007, 48 f). – Rainer Cadenbach zieht die Grenze zwischen sprachlicher und musikalischer Zeitlichkeit und den entsprechenden Sinnbegriffen, indem er herausarbeitet, dass Sprachsinn zwar in irgendeinem sinnlichen Medium – als gesprochene oder auf beliebige Weise geschriebene Äußerung – verwirklicht werden muss, aber gleichgültig gegen die bestimmte Weise der Verwirklichung ist. Darum ist er übersetzbar. Diese Gleichgültigkeit gilt für die Musik nicht (vgl. Cadenbach 1978, 72). Die Beziehung zwischen Sinn und Versinnlichung muss darum im Fall der Sprache „gewußt“ werden, während sie im Fall der Musik einem „erlebnishaften ‚Vollzug‘“ offen ist (Cadenbach 1978, 74 u. 68). Die Frage, wie ein solcher Vollzug genauer verfasst ist, wird vor allem zum Schluss der gegenwärtigen Studie in den Vordergrund rücken. Hegel 1998a, 43. Hegel 1998b, Z. 48. Hegel 1998a, 263.
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gilt bereits für den Bereich des bloßen Materials – Metall, Holz oder Stein geraten in Schwingungen und geben einen Klang von sich, der von ihrer inneren Qualität zeugt –, besonders aber für die Äußerung des Menschen in seiner Stimme. Der Klang ist nicht so sehr eine beharrende Eigenschaft eines Dinges oder eines Lebewesen; vielmehr ist er von einem Ereignis veranlasst – Stoß, Reibung, Luftströmung; oder von einer Gemütsbewegung –, das eine klangliche Äußerung hervorruft. Er ist darum selbst von der Art des Ereignisses. So erfahren und verstehen wir ihn auch: er ist etwas, das uns ereignisartig affiziert; etwas, das uns bewegt. Die Bewegung des Subjekts ist aber zunächst, als einfache Regung in der Seele, nur eine unbestimmte Empfindung,⁵ da ihr keinerlei objektiver Gehalt und keinerlei Intentionalität zukommt. So kann Hegel sagen: Zwar scheint Musik, wenn sie einen sprachlich oder anderweitig bestimmten Inhalt begleitet, eine bestimmte Empfindung zum Inhalt zu haben. Aber wenn wir von der sprachlichen Bestimmung absehen wollen, finden wir: Dieser Inhalt als solcher [= „Situationen der Freude, des Schmerzes etc.“] ist der Musik nicht eigentümlich; er ist in dem elementarischen Prinzip, der reinen Innerlichkeit des leeren Ich selbst, nicht vorhanden. […] Es ist ein tönendes Vernehmen ohne bestimmte Vorstellungen und Inhalt.⁶
Wie kann ein Hörer sich nun gegenüber so etwas Vergänglichem und Gestaltlosem verhalten? Zwei Verhaltensweisen kennzeichnet Hegel als unangemessen: Einerseits ein „theoretisches“, gelehrtes Hören; andererseits, willkürliche Assoziationen und „Träumereien“ zu den Klängen zu bilden.⁷ In beiden Fällen ziehen wir etwas heran, das dem Wesen der Musik nicht entspricht. Im einen Fall nehmen wir das musikalische und empfindende Geschehen aus seinem Ablauf heraus und rücken es in den Raum und die Zeit des denkenden Subjekts. Was wir hören, betrifft nicht mehr nur unsere „elementarische“ Innerlichkeit, sondern wir stellen es vor, erinnern es und machen uns ein „Bild“ von ihm,⁸ oder wir bringen es auf den Begriff, indem wir es in technische Beschreibungen und Schemata pressen. Hierbei bleibt Empfindung ist „In sich finden“ (Hegel 1994, 69). In der Enzyklopädie erfährt sie in § 399 ihre systematisch erste Bestimmung: Die wache Seele „findet […] die Inhaltsbestimmtheiten ihrer schlafenden Natur, welche als in ihrer Substanz an sich in derselben sind, in sich selbst, und zwar für sich. Als Bestimmtheit ist dies Besondere von der Identität des Fürsichseins mit sich unterschieden und zugleich in dessen Einfachheit einfach enthalten, – Empfindung.“ Hegel 1996, 204. Vgl. Hegel 1998b, Z. 350 – 355; Hegel 1996, 218. Vgl. Hegel 1970, §§ 451 f.
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das wesentlich Empfindungshafte der Musik beiseite, denn dieses ist an das Verhältnis geknüpft, das sowohl zwischen dem Klang als auch zwischen der Empfindung und ihrer jeweiligen Zeitlichkeit besteht. Dieses Verhältnis zur Zeitlichkeit ist nicht gleichgültig wie für die Sprache und das begriffliche Denken (vgl. Anm. 1). Für das denkende, theoretische Subjekt bleibt von der Musik aber nur das, was der Form der bildlichen – man denke an eine grafische Schematisierung der Musik – oder begrifflichen Auffassung entspricht. Im anderen Fall der willkürlichen Assoziationen und „Träumereien“ lassen wir uns von den unbestimmten Empfindungen dazu stimulieren, der Musik gar nicht mehr recht zuzuhören und uns vielmehr mit unseren subjektiv-willkürlichen Einbildungen zu beschäftigen. Hegel denkt über eine dritte Möglichkeit nach. Sie ist eine Art von innerem Nachvollzug. Anerkennend berichtet er von der Begeisterung durch eine gewisse Art von Musik, die er „das freie Ergehen im Singen“ nennt.⁹ Dieser Gedanke tritt erst in der Vorlesung von 1826 auf und ist vermutlich auf Hegels Erlebnis von Rossinis Opern in der Aufführung italienischer Sänger in Wien zwei Jahre zuvor zurückzuführen.¹⁰ In diesen Aufführungen hört er „ein Hinreißen […] der bewußtlosen Seele, wie die Nachtigall. Dies gewährt erst eine eigentliche Befriedigung […] es ist die freie Seele des Individuums, die man da vor sich ergehen sieht.“¹¹ 1829 gesteht er sogar – möglicherweise, nachdem er Paganini gehört hatte¹² – der sonst sehr kritisch betrachteten Instrumentalmusik diese Fähigkeit zum „freien Ergehen“ zu: Kunststücke, wenn sie unwillkürlich und an ihrem Ort sind, sind großartig. […] Da ist die höchste Spitze musikalischer Gewalt. Ein äußeres Werkzeug wird zu einem vollkommen beseelten Organ, wir haben vor uns das innere Komponieren und Produzieren der genialen Phantasie. Die Gegenwart des Produzierens ist allein in der Musik möglich.¹³
Diese Gedanken sind recht skizzenhaft, aber es ist möglich, sie zuzuspitzen, indem wir sagen: Hegel teilt hier seinen Eindruck darüber mit, was eine ‚absolute‘ Musik sein könnte. Er hört hier das Wesen des musikalischen Klanges verwirklicht, indem die ‚geistige‘ Produktion – die man sonst als Komposition bezeichnen würde –, die materiale Produktion – sonst als Interpretation von der Komposition getrennt – und das Hören in einen Zeitverlauf zusammenfallen. Die Unmittel Hegel 1998b, Z. 368. Hierüber gibt Alain Olivier in seinen Einleitungen zu Hegel 1998b (18) und Hegel 1996 (199) kurz Auskunft. Seine ausführlicheren historischen Untersuchungen (Olivier 2003) waren mir zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages nicht zugänglich. Hegel 1998b, Z. 381– 385. Vgl. Olivier an den in Anm. 10 angegebenen Stellen. Hegel 1996, 220.
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barkeit der Äußerung des Klanges aus einer „Seele“ heraus und die Unmittelbarkeit der Wirkung des Klanges – das Zusammenfallen des Subjekts und des sinnlichen Klangobjekts –, und damit das Wesen der Musik sind in einer solchen improvisatorischen Darbietung in ihrer reinsten Form verwirklicht. Die absolute Musik ist der Jazz, der Free Jazz womöglich.¹⁴ Es ist aber klar, dass die Musik sich, wenn sie so begriffen wird, gegen einen Grundsatz der allgemeinen Kunstphilosophie sperrt, wie Hegel sie exponiert. Dieser Grundsatz ist, dass wir in der modernen Epoche die Kunst, ohne anachronistisch zu sein, nur angemessen erfassen, indem wir über sie nachdenken – indem wir „Kenner“ werden –, und nicht, indem wir uns vor ihr andächtig oder ergriffen verhalten.¹⁵ Angesichts dieses Ausgangspunktes ist die zentrale Frage: Wie könnte das Denken in oder an die Musik kommen, ohne sich in den beschriebenen Weisen unangemessen zu verhalten? Die Schwierigkeit, die wir betrachten, lässt sich so formulieren: Das Wesen der Musik ist die reine Innerlichkeit. Indem diese Innerlichkeit sich aber zum Denken entwickelt, verlässt sie die Zeit, in der die Musik und ihr Klang notwendig verlaufen. Das Denken und das Verstehen sind der reinen Musik fremd. Gedacht und verstanden werden „Inhalte“, und die „Musik hat […] ihren Inhalt nicht in sich selbst“.¹⁶ Das heißt:Wenn wir mit einer Ontologie des Klanges beginnen, gelingt es uns nicht, die Entwicklung des „subjektiven Geistes“ einzuholen. Wir bleiben auf den Stufen des unmittelbaren Gefühls und der unentwickelten Sinnlichkeit und gelangen nicht zur Anschauung, zur Vorstellung und zum Begriff, vielleicht nicht einmal zum Bewusstsein.
2. Zugänge zu Hegels Problem Hegels Lösung ist es bekanntlich, zu sagen: Die reine Musik ist als Kunst unvollkommen; ihre Funktion für den Kunstbetrieb der Moderne ist „begleitend“, vor allem in der Verbindung mit der Poesie als Lied oder Musikdrama. Ihre „Inhalte“ empfängt sie dort von Texten. Die ontologische Bestimmung, die bisher den Ausgangspunkt gebildet hat, führt dagegen zu einer Abstraktion, bei der von den inhaltlichen Beiträgen abgesehen wird, die Texte und Kontexte leisten. Allgemein betrachtet ist dieses Problem der Abstraktion mancherorts bekannt. Man könnte sagen, dass die ontologische Rede von der Musik als Klang nur Diesen Einfall und seine ontologischen Folgen verfolge ich in meinem Beitrag zur Festschrift zum 70. Geburtstag Günter Sommers (Dworschak 2013). Hegel 1998a, 6 u. 17. Hegel 1998a, 270.
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den musikalischen Stoff bespricht: dasjenige also, woraus man Musik im Sinne von Stücken oder Werken erst macht. Rainer Cadenbach schlägt darum vor, eine Ontologie der Musik von einer Ontologie des (Kunst‐)Werks zu trennen, denn es könnte sich ja ergeben, daß das Musikwerk einem Gegenstandsbereich zuzuordnen ist, dessen Gegebenheitsweise auf ganz andere Weise konstituiert wird als die der Musik selbst; es könnte sich herausstellen, daß Musikwerke selbst keine Musik „sind“, sondern sie „fordern“ […].¹⁷
Geradeso allgemein ist dieses Problem vielen Autoren auch nicht bekannt. Dies trifft vor allem auf die unzähligen empiristisch-positivistischen Versuche zu, Musik und ihren Sinn durch ein bloßes Hören ohne kontextuelle oder geschichtliche Kenntnisse bestimmen zu wollen. Solche Versuche sind vor allem in der „philosophy of music“ sehr häufig, die der sich als „analytisch“ bezeichnenden Tradition entstammt. Namentlich Peter Kivy – um einen unter vielen zu nennen – hat es zu einem seiner Hauptargumente gemacht, dass aus der inhaltlichen Unbestimmtheit des musikalischen Stoffes eine gleichartige Unbestimmtheit für die aus einem solchen Stoff gewobenen Werke direkt abgeleitet werden könne. Diese Bemerkungen zu Werken führen allerdings bereits einen Schritt zu weit, indem ein zweites Prinzip behauptet wird, nämlich gerade der Werkbegriff, der die Form für den musikalischen Stoff mitbringt. Dies lädt dazu ein, die bisherige Exposition ganz abzulehnen, indem man jene Hälfte des Problems, die aus der ontologischen Untersuchung des Klangs besteht, für unberechtigt oder wenigstens untergeordnet erklärt. Man kann bestreiten, dass es für die Untersuchung einer Kunst relevant ist, mit der Untersuchung ihres sinnlichen Stoffes zu beginnen. Stattdessen sollte man beispielsweise mit der Untersuchung ihrer Formen beginnen. Dies ist der Weg zu einem Formalismus, der, wenn man ihn ganz schematisch nimmt, auf ein Problem hinausläuft, das wir als das Negativ des hegelschen Problems fassen können: Reine Musik ist ein Gegenstand des Erkennens oder der Anschauung, und die Bewegung, die die Musik in uns auslöst, ist der Musik fremd. Die Bewegung ist „pathologisch“.¹⁸ Das Problem betrifft aber die Verbindung zwischen dem musikalischen Stoff und dem musikalischen Werk. In Hegels Augen wird die Musik erst Teil eines Werkes, indem das Werk sich durch andere Medien – durch Sprache, eine Bühnendarbietung u. dgl. – bestimmt. Dagegen sei es ein „Unglück“,¹⁹ dass die
Cadenbach 1978, 85; siehe auch 79. Vgl. z. B. Hanslick 1854, 5. Hegel 1998b, Z. 336.
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selbständige (Instrumental‐)Musik sich allein zu Werken fortentwickeln und aus sich heraus gehaltvoll werden wolle. Angesichts dessen, dass die von Hegel beklagte Entwicklung aber in und nach seiner Zeit zu einer Kunstform geführt hat, die durchaus nicht immer für defizitär gehalten wurde, lohnt es sich, unter ihren eigenen Voraussetzungen zu fragen, wie man dem skizzierten Problem der Beziehung zwischen musikalischem Stoff und musikalischem Werk – und damit einer Form des Denkens – begegnen könnte. Dies bedeutet auch, das theoretische oder gelehrte Hören, das Hegel stirnrunzelnd bespricht, genauer daraufhin zu untersuchen, wie es sich zu der unmittelbaren Bewegung der Empfindung verhalten kann. Es gibt schließlich gute Gründe, die besondere sinnliche Verwirklichung und Wirkung der Musik für wichtig zu halten;²⁰ die gerade angesprochene formalistische Richtung droht gerade diesen Aspekt zu übersehen. Dann ist man aufgerufen, zu überlegen: Muss die Ontologie des Klanges sich im Aufweis der Vergänglichkeit und Gestaltlosigkeit erschöpfen? Oder kann der gestaltlose Klang in einer ihm gemäßen Erfahrung nicht doch Gestalt gewinnen? Wenn ja: Ist es möglich, die Erfahrung einer Klanggestalt mit Formen des Denkens – Verstehens, Begreifens, Vorstellens – in Verbindung zu bringen? Anders gesagt geht es darum zu überlegen, ob das Hören nicht zugleich als empfindend und als betrachtend oder erkennend – zugleich als affektiv und als kognitiv – aufgefasst werden sollte. Wenn wir Hegels Freude über die virtuose Improvisation ernst nehmen, heißt das auch, zu fragen, ob der Nachvollzug, mit dem wir solch eine Musik begleiten, nicht von dem Zeitverlauf der „elementar“ bewegten Innerlichkeit zu den bildlichen und gedanklichen Formen der Vorstellung führen kann. Dies ist ein Fragenkomplex, der uns im Folgenden begleiten wird. Es ist bemerkt worden, dass Hegel selbst Ressourcen zur Vermittlung der elementaren Innerlichkeit und Sinnlichkeit mit der Reflexion anbietet, sie aber in der Philosophie der Kunst nicht ausnutzt.²¹ Diese Ressourcen finden wir vor allem in der „Philosophie des subjektiven Geistes“ in Teil III der Enzyklopädie. Zu sehen ist erstens, dass Hegel dort auch die weniger entwickelten Stadien des Geistes – mit der unmittelbaren Empfindung beginnend – aus der Perspektive des entwickelten Geistes betrachtet.²² Er kann davon sprechen, dass die Empfindung eine Form oder ein Verhältnis des Geistes zu sich ist, und dass alle möglichen geistigen Inhalte (der Religion, der Moral) in sie eintreten können; abzustreiten ist lediglich,
Ein Grund ist, dass man eine Antwort auf die Frage suchen sollte:Warum gibt es Musik nur aus Klängen, nicht aus Farben oder Aromen? Ein anderer Grund ist die Intuition, dass musikalische Klänge in der Tat eine sehr eigentümliche Verbindung zu Empfindungen und Gefühlen haben. Hervorzuheben ist vor allem Kulenkampff 1987. Vgl. Hegel 1970, §§ 400 f. u. a.
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dass sie als Empfindungen etwas begründen könnten.²³ Andersherum muss er davon ausgehen, dass Empfindungen verleiblicht und geäußert werden müssen; dass sie also eine Gestalt gewinnen; und dass das Subjekt sie „in Besitz“ nehmen und in ideeller Form in sich aufbewahren kann und muss.²⁴ Es wäre lohnend, den Schritten, die Hegel für den subjektiven Geist allgemein durchgeht, mit dem Gedanken an die Musik zu folgen und zu fragen, wie die Dialektik des Inneren und Äußeren, Seelischen und Leiblichen, des Realen, Einzelnen und des Ideellen für ein Verständnis des „Geistes“ der Musik fruchtbar gemacht werden könnte. Ich will Hegel aber an dieser Stelle verlassen und einige Positionen referieren, die – ohne explizit auf Hegel einzugehen – den eben vorgeschlagenen Weg oder Stücke von ihm gehen. Indem wir diesen Weg gehen, verzichten wir freilich darauf, einen ganz anderen Anfang zu wählen: anstatt des Anfangs beim Elementaren oder Stofflichen den Anfang bei der ausgebildeten Praxis einer Kunst und ihres Verstehens. Ich will also nicht behaupten, dass der hier eingeschlagene Weg von allein zu einer umfassenden Musikphilosophie führe, sondern lediglich einen gesonderten Aspekt betrachten, dem allerdings in der gegenwärtigen und auch vergangenen musikphilosophischen Forschung großes Gewicht zukommt. Dieser Aspekt des Sinnlich-Stofflichen, Elementaren wäre mit der Stellung der Musik im Ganzen der menschlichen Praxis des Denkens und der Kunst in eine Balance zu bringen; hier vernachlässige ich letztere.
3. Helmuth Plessner: Musikalisches Hören und leibliche Haltung Im Rahmen des etwas hermetisch anmutenden Systems der Einheit der Sinne (1923 veröffentlicht) hat Helmuth Plessner Ansätze für eine Musikphilosophie entwickelt, die kaum bemerkt worden sind, obwohl sie äußerst scharfsinnig durchgeführt sind. Diese Ansätze sind Teil einer „Kritik der Sinne“:²⁵ Plessner fragt nach den Zusammenhängen zwischen den Modalitäten der sinnlichen Wahrnehmung, der jeweils in ihnen anzutreffenden Weise der Gegenständlichkeit und den Sinngehalten, die sie erschließen. Umgekehrt sucht er herauszufinden, wie und ob bestimmte Arten von Sinngehalten oder geistigen Leistungen an bestimmte Formen der Sinnlichkeit geknüpft sind. Für diese Untersuchung versucht er,
Vgl. Hegel 1970, § 447. Vgl. Hegel 1970, § 403. Plessner 1980, 16.
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menschliche Praktiken zu nutzen, die eine bestimmte Form von Sinnesmodalität und Sinngehalt isoliert oder rein darbieten.²⁶ Zu diesen zählt er neben der Sprache²⁷ und der Geometrie die Musik. Wie Hegel beginnt Plessner mit einer Untersuchung wesentlicher Qualitäten des Klanges. Eine seiner Ausgangsfragen hierfür ist, warum die Musik an Töne gebunden ist – warum ein „Farbklavier“ oder ein Film aus abstrakten geometrischen Formen uns nichts vermittelt, was der Bewegung, der Spannung oder den Impulsen gleichkommt, die die Musik ausmachen. Plessner antwortet, dass dies am jeweiligen Wesen der Klänge und der Farben liege. Er spricht wie Hegel die Ungegenständlichkeit der Klänge an. Dies ist aber nicht ausreichend. Auch Farben, die für sich dargeboten werden, könnten wir in dem Sinne als ungegenständlich wahrnehmen, dass wir nichts als eben den Farbwert an ihnen erkennen. Ein zweiter Schritt ist nötig, der ebenfalls an Hegel erinnert: wir müssen die Wirkung des Klanges auf unser Empfinden in Betracht ziehen. Eine solche Wirkung haben freilich auch Farben, die statisch vor uns liegen. Wenn wir uns in einem grünen, blauen oder gelben Zimmer befinden, wird in uns eine leicht veränderte Stimmung bewirkt. Diese Wirkung ist aber „rein zuständlich“²⁸ und prinzipiell nicht von der Wirkung unterschieden, die statisch präsentierte, einzelne Klänge auf uns haben: etwa wenn wir auf die Wirkung eines einzelnen Akkords oder die Klangfarbe eines Instrumentaltons aufmerksam sind. Erst ein dritter Schritt gibt näheren Aufschluss über die eigentümliche Wirkungsmöglichkeit der Musik, nämlich die Beziehung der Klänge auf ihren zeitlichen Verlauf. Farben sind nur statisch.²⁹ Wenn wir aufeinander folgend reine Farben präsentieren, entsteht kein sinnvoller Zusammenhang zwischen ihnen: es gibt nichts zu verstehen. Folgen von Klängen verstehen wir aber, sagt Plessner.Wie ist das möglich, und was heißt das? Es ist wesentlich, dass wir Musik selbst als Bewegung hören; eine Folge von Farben können wir dagegen nicht als Bewegung sehen. Diese Bewegung ist nun das, was wir verstehen können, und zwar dadurch, dass sie zu Ausdrucksbewegungen einlädt, die ihr adäquat sind: Ein Spiel von Gesten entfaltet sich […] Indem wir ihnen [= den tönenden Figuren] nachgehen und uns bis zu einem gewissen Grade […] mit ihrem Spiel identifizieren, sehen wir uns, wenn auch nicht immer in körperlicher Auswirkung, zu Bewegungen und Impulsen veranlaßt,
Vgl. Plessner 1980, 152– 155. Es mag seltsam erscheinen, die Sprache in einer Untersuchung der Sinnlichkeit abzuhandeln. In der Tat ist die Sprachtheorie, die Plessner in der Einheit der Sinne umreißt, der vielleicht problematischste Teil des Werkes; hier kann ich aber nicht darauf eingehen. Plessner 1980, 251. Vgl. Plessner 1980, 231.
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welche im gewöhnlichen Leben als Ausdrucksfolgen oder Voraussetzungen das Erleben, Denken, Handeln nach allen seinen Richtungen begleiten. Es gibt ja nicht nur die eigentlichen Ausdrucksbewegungen der Affekte, nicht nur die engbegrenzte Schematik unserer Handlungen und physischen Zweckbewegungen, sondern die vielfältig differenzierten Haltungsformen der Liebenswürdigkeit, Großzügigkeit, des Stolzes, des Zögerns, des ‚Apropos‘, ‚Wie gesagt‘ usw., die aufzuzählen unmöglich ist.³⁰
Der Kürze wegen möchte ich davon absehen, Plessners Ausführungen zu referieren, in denen er sagt, wieso zu Klängen – und nur zu ihnen – eine sinnadäquate Leibeshaltung oder Ausdrucksbewegung möglich ist, und stattdessen jenes verstehende Hören selbst besprechen. Um deutlich zu machen, dass diese Weise zu hören ein Verstehensvorgang ist, grenzt Plessner sie von leiblichen Reaktionen auf andere Bewegungstypen ab. Sehen wir einem Seiltänzer zu, so erfahren wir eine „Identifizierung“³¹ mit ihm und empfinden Anspannung und dergleichen. Dies ist aber eine bloße Reaktion und keine Deutung eines Sinngehaltes, wie es das Hören der Musik als Bewegung, Gestik oder Haltung sein soll. Nicht in allen Fällen ist es ein Verstehen, wenn man mit einer Bewegung mitgeht oder sie nachahmt. Und nicht alle Fälle, in denen wir Bewegungen verstehen, entsprechen der Weise, in der wir Musik verstehen. Letzteres gilt für Bewegungen, die wir als Elemente von Handlungen verstehen: In diesem Fall bringen wir die Bewegung unter den Begriff eines Handlungstyps und der entsprechenden Zweckgerichtetheit. Die Bewegungen der Musik bringen wir jedoch nicht so unter einen Begriff. Musik zu verstehen richtet sich auf einen Sinngehalt, der nicht von seiner sinnlichen Verwirklichung abgetrennt werden kann. Diese Art von Sinngehalt, die Plessner „Thema“³² nennt, ist gleichartig mit dem Sinngehalt mimischen, gesti-
Plessner 1980, 241. Plessner 1980, 225. Plessner führt in der Einheit der Sinne systematisch zentrale Begriffe gewöhnlich ohne nähere Erläuterungen über ihre Quelle oder über jene Wortverwendungen an, die er selbst im Sinn hatte. „Thema“ ist ein besonders eklatanter Fall, der zu eingehenderen Textstudien einlädt, die ich hier nicht leisten kann. Einige Mutmaßungen seien gestattet: Die zentrale Bedeutung thematischen Sinnes für den Aufbau der Einheit der Sinne (siehe hierzu Anm. 35 zu „Proportion“) lässt an die Unterscheidung zwischen thematischen und unthematischen Bewusstseinsgehalten denken, die in der Phänomenologie früh eine Rolle spielt; die Beziehung zwischen dieser Redeweise und Plessners Verwendung ist jedoch sehr locker und beschränkt sich darauf, dass Thema das bedeutet, worauf das Bewusstsein ‚ausdrücklich‘ gerichtet ist, gleichgültig, von welcher Form es näherhin ist. Nicht gleich von der Hand zu weisen ist ferner ein möglicher Bezug auf die musiktheoretische Bedeutung von „Thema“. Es ist das prägnante Hauptcharakteristikum eines Musikstückes und Stoff für dessen Entwicklung. Gerade jene Eigenschaften der Prägnanz, Ge-
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schen und stimmlichen Ausdrucks. Solche Ausdrucksformen verstehen wir nicht, indem wir hinter ihnen nach einer Bedeutung suchen.Vielmehr spielen sie sich „in der Schicht des leiblichen Verhaltens“ ab, in der eine „ursprüngliche Einheit“ zwischen Physischem und Psychischem, zwischen Leib und Geist herrscht.³³ Das „Thema“ ist ein geistiger, idealer oder Sinn-Gehalt, der von der Art ist, dass er vollkommen in einem sinnlichen Medium verwirklicht werden kann.³⁴ Zugleich aber weist Plessner darauf hin, dass diese Versinnlichung, die er als „Formung durch Proportion“³⁵ bezeichnet, „bei aller Bestimmtheit doch […] allgemeiner oder formaler Natur ist“.³⁶ Das Thema ist ein Gehalt, der verschiedene sinnliche Medien sowie „psychische und physische Verhältnisse und Gestalten“ verknüpft.³⁷ So wie es sich im Medium des Klanges darbietet, ist das Thema also offen dafür, in entsprechend geformten Bewegungsvorstellungen nachvollzogen
stalthaftigkeit und Ganzheit (vgl. Schilling-Wang 1998) finden sich in Plessners Themabegriff wieder. Plessner 1982a, 103. Plessner 1980, 178. Ebd. Auch „Proportion“ zählt zu den etwas rätselhaften terminologischen Entscheidungen in der Einheit der Sinne. Blicken wir in Plessners Habilitationsschrift von 1920 (Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft, Plessner 1981), so zeigt sich, dass jener Begriff in reichhaltigen systematischen Bezügen steht, die in der Einheit der Sinne verborgen sind. Er kommt von dem Gedanken der Empfindung der Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte her, der in Kants Theorie des ästhetischen Urteils eine zentrale Stelle einnimmt. Mit Proportion ist eine solche Zusammenstimmung gemeint. Plessner versucht jedoch, diese Zusammenstimmung nicht nur im Sinne Kants in der Empfindung merkbar werden zu lassen, sondern er möchte auch eine äußere Entsprechung für sie herstellen, indem er behauptet: „Nun gibt es einen Begriff von der Totalität eines Zusammenstimmens aller Komponenten unseres Wesens, unbestimmt, wozu sie zusammenstimmen sollen und was das für ein Zweck sein mag […] d. i. der Begriff der Haltung.“ (Plessner 1981, 246). Diese, als „ausdrucksvolle Zwecklosigkeit“ verstanden, zeigt „eine Harmonie der Vermögen, aber nicht in der Empfindung einer allgemeingültigen Lust, sondern in der objektiv beurteilbaren Erscheinung des Körpers.“ (Plessner 1981, 248). Nur angedeutet werden kann hier, dass die Proportion der Haltung ferner die Erscheinung eines als „Würde“ bezeichneten Zusammenstimmens des „Ganzen [der] Existenz“ eines Menschen sein soll (Plessner 1981, 246 f.) und schließlich im Zusammenstimmen ein tragender Grund für die anderen Formen des menschlichen Verstehens und Verhaltens – des sprachlichen und begrifflich-zweckmäßigen – gesucht wird. Eine entsprechende fundierende Stellung des thematischen Sinnes und der ihm korrelierten „prägnante[n] Anschauung“ ist auch in der Einheit der Sinne (Plessner 1980, 83 u. 192 ff.) beibehalten. Man kann sagen, dass Plessner in seinen Schriften der 1920er Jahre aus einer zuerst wissenschaftstheoretischen und methodologischen Überlegung heraus den Gedanken entwickelt, eine Art von ‚ästhetischem Wissen‘ sei für das Interesse reflexiver Erkenntnis grundlegend. Es wäre ein vielversprechendes Unternehmen für Studien ästhetischen Wissens, jene Schriften historischkommentierend aufzuarbeiten. Plessner 1980, 188. Ebd.
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zu werden.³⁸ Dieser Nachvollzug spielt sich „in der Schicht des Verhaltens und Benehmens“ ab,³⁹ die eine Schicht ist, in der intersubjektives Verstehen auf nichtoder vorsprachliche Weise stattfindet, nämlich in „Haltungen, Verhaltungen“.⁴⁰ Abstrahiert von bestimmten Situationen, in denen sie sich abspielen, erweisen sich solche Haltungen und Bewegungen als verständlich, während sie deutungsoffen bleiben; Plessner schreibt sogar hyperbolisch von einer „sinnvolle[n] Leere“.⁴¹ Das Eigenartige der Musik lässt sich so zusammenfassen, dass ihre Klänge in einer deutungsoffenen Situation „mit uns umgehen“.⁴² Plessner stimmt mit Hegel darin überein, dass das eigentlich musikalische Verstehen in einem solchen Nachvollzug stattfinde. Wir sollen uns „an das im Erleben genießend Verstandene“ halten. Davon kommen wir ab, wenn wir uns den „technischen Unterlagen“ zuwenden.⁴³ Auch ein formalistisches oder schematisierendes Hören hält Plessner ebenso wie Hegel für höchstens halb musikalisch.⁴⁴ Hegels These, Musik sei eine Kunst der abstrakten Innerlichkeit, finden wir hingegen bei Plessner stark modifiziert. Er weist uns darauf hin, dass die Innerlichkeit der Empfindung nicht ohne eine sinnlich auffassbare Äußerung gedacht werden darf. Das sagt auch Hegel in § 401 der Enzyklopädie, ohne es für die Musik in Betracht zu ziehen. Indem Plessner aber, wie skizziert, über die problematische Beziehung zwischen dem Innerlichen und der Äußerung im Ausdruck und im Klang ausführlicher nachdenkt, kann er den Begriff des thematischen Sinns entwerfen, der für ihn das Herz des Ästhetisch-Künstlerischen ist. Hegel sieht im Aufnehmen „selbständiger“ Musik eine Abstraktheit, die darin besteht, dass man von Inhalten und Bedeutungen absieht, als ob sie vorher im Kopf wären und erst daraus zu verdrängen seien. Plessner fasst diesen Gedanken umgekehrt und positiv als „Offenheit“ für Deutungen, die erst noch zu schaffen sind, und er besteht darauf, dass gerade diese Deutungsoffenheit das Wesen ästhetischen Sinnes ausmacht. Das Verstehen eines solchen Sinnes ist nicht unvollkommen, weil es nicht begrifflich ist; Plessner nimmt es vielmehr als Beitrag, um einen umfassenden Begriff des Verstehens selbst erst zu erarbeiten. Die Untersuchung nimmt also eine umgekehrte Richtung: sie versucht, aus der Intuition, dass wir Musik verstehen, etwas für die Erkenntnistheorie und Hermeneutik zu gewinnen, anstatt letztere vorauszusetzen.
Vgl. auch Plessner 1980, 241. Plessner 1982b, 197. Plessner 1982a, 123. Plessner 1980, 188. Plessner 1982b, 198. Plessner 1980, 184. Plessner 1980, 187 f.
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Die neueren Untersuchungen, die anfangs kurz angesprochen wurden, können dazu dienen, den Zusammenhang zwischen Empfinden, Wahrnehmen und Verstehen der Musik noch etwas genauer zu begreifen. Ich möchte sie auf ihre Beiträge zu zwei Bereichen befragen: zu dem Begriff des Inneren und der Empfindung oder des Gefühls; und zu dem Problem des schematischen oder, wie Hegel sagt, „gelehrten“ Hörens.
4. Intermodalität und Gefühl Hegel betont, dass im Hören die Empfindung auf besondere Weise angesprochen wird, indem das Gehörte ins Innere des Subjekts eindringt. Es scheint eine Übereinstimmung zwischen Hören und Empfinden zu geben. Eine solche Art von Übereinstimmung, bei der derselbe Gegenstand – hier die Musik – unterschiedliche Bereiche der Wahrnehmung anspricht, kann man als Intermodalität bezeichnen. Ein Typ der Intermodalität im musikalischen Hören, der bei Plessner zentral ist, verknüpft das Hören mit der Kinästhesie, d. h. der Wahrnehmung der leiblichen Bewegung. In einem anderen wesentlichen Typen sind Hören und Tastwahrnehmung aufeinander bezogen. Tom Cochrane hat dargelegt, inwiefern diese Beziehung zu der Intuition beiträgt, dass Musik eine Kunst der Empfindung und des Ausdrucks ist. Indem die Tastwahrnehmung ein hautnah leiblicher Vorgang ist, vermittelt sie in besonders direkter Weise affektiv-emotionale Qualitäten; und wenn das Hören mit dem Tasten nah verwandt ist, mag dies ein Hinweis darauf sein, dass es selbst ein ähnliches affektiv-emotionales Potential hat.⁴⁵ Diese Verwandtschaft ist erstens darin begründet, dass im Klang stoffliche Qualitäten erfahrbar werden, die wir im wörtlichen Sinn anfassen können: Rauhigkeit, Glätte, Fülle, Gewicht; ebenso wie dynamische Qualitäten, die aus den Bewegungen und Kontakten stofflicher Körper entstehen: aus Reibung, Schwingung, Schlag. Solche Qualitäten beschreiben Kräfte, die ursprünglich leiblich erfahrbar sind. Zweitens schreibt Cochrane: The way that feelings structure experience is not in terms of discrete disconnected objects so much as ongoing actions and textural contrasts. Similarly sound […] is understood in terms of continuous streams of movement.⁴⁶
Vgl. Cochrane 2010, 202. Ebd.
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Er spricht hier an, dass wir Klänge als fortlaufende Ereignisse begreifen, ein Ereignis aber selbst ein multimodales Gebilde ist, das die genannten Arten von stofflichen und dynamischen Qualitäten ebenso wie Klänge und Geräusche sowie mögliche Bezüge zu unseren eigenen leiblichen Fähigkeiten umschließt. Wichtig ist nun, dass der Berührungssinn Qualitäten erfasst, die wir an uns und zugleich an einem Gegenstand spüren. Der Berührungssinn liegt an der Schwelle zwischen Subjekt und Objekt.Wenn wir ihn in einen Zusammenhang mit dem Gehör bringen, können wir genauer erläutern, inwiefern das Gehör und die Empfindung in einer vergleichbaren Zwischenstellung sind: Wir scheinen von Klängen in Empfindungen versetzt zu werden, die zugleich als Eigenschaften der Klänge beschrieben werden können. Die Empfindung oder das Gefühl ist eine innerliche Affektion ebensosehr wie eine gegenstandsgerichtete Wahrnehmung. Cochrane spricht von „arousal“, dessen Funktion es im Hören ist: „to track the expressive qualities of the music“.⁴⁷ Das Gefühl, von dem eben die Rede ist, darf nicht mit den voll ausgebildeten Emotionen – Wut, Freude, womöglich Hoffnung oder Verzweiflung – verwechselt werden, über die man zumeist spricht, wenn man den Gefühlsbezug der Musik erklären möchte. Im Unterschied hierzu ist es vielversprechend, einen elementareren Gefühlsbegriff näher zu untersuchen und die Probleme zu klären, die ihm anhängen – besonders inwiefern er tatsächlich eine Wahrnehmung und nicht nur eine Projektion auf den Gegenstand ist. Trifft aber der Ansatz zu, dass wir Klänge wesentlich intermodal hören, folgt daraus für die Onto- oder Phänomenologie: Ein Klang ist nie nur ein Klang; vielmehr können wir gar nicht anders, als ihn unter Aspekten der Stofflichkeit, der Bewegung, der Kraft und auch der affektiven Qualität zu hören. Alles andere wäre eine Abstraktion. Die taktilen oder affektiven Qualitäten, über die wir bisher gesprochen haben, sind allerdings Angelegenheiten von Parametern, die in der Musik als sekundär gelten: Klangfarbe, Artikulation, Dynamik. Insofern gehören sie zu dem Bereich, ohne den Musik nicht sein kann, der sie aber auch nicht zu dem macht, was sie ist. Letzteres wäre das, was die Form der Musik bildet und was im eigentlichen Sinn den Gegenstand Musik – wenigstens auf der Ebene dieses Aufsatzes – ausmacht: Melodien und Rhythmen. Diesen Formen⁴⁸ gegenüber gelten die sekundären
Cochrane 2010, 195. Die Rede von „Formen“ ist vielschichtig und in der Musik notorisch schwierig. An dieser Stelle ist sie recht anspruchslos und betrifft die Bildung wahrnehmbarer Gestalten. Solche Gestaltformen kann man wiederum als Stoff für eine höhere Ebene der musikalisch-künstlerischen Arbeit ansehen, nämlich für die umfassende formale Ordnung in einem Werk und für die Reflexion des Künstlers auf die in jenen Gestalten angelegten strukturellen oder wirkungsbezogenen Potentiale.
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Parameter als lediglich materiale und akzidentelle Eigenschaften. Die Formen der Melodie und des Rhythmus können wir nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Stofflichkeit oder der Dynamik betrachten; und wenn, dann handelt es sich um eine auf bestimmte Weise geformte Stofflichkeit und Dynamik. Wenn wir nun unseren wahrnehmenden Zugang zu diesen Formen ansprechen, gerät die unmittelbare Affektivität und die bei Hegel und Plessner auffällige Betonung des zeitlichen Verfließens in die Schwebe; der Akzent verlagert sich vom Fluss der Zeit auf die Auffassung dessen, was in diesem Fluss ist.
5. Nachvollzug und musikalische Form Der Begriff des Nachvollzugs, den wir bei Plessner eher lose und unterminologisch verwendet haben, hat in jüngster Zeit Karriere als einer der Grundbegriffe der Musikphilosophie gemacht. In englischer Sprache finden wir an seiner Stelle „sympathy“ als Zentralbegriff für das musikalische Verstehen⁴⁹ und „simulation“ (bei Tom Cochrane oder Charles Nussbaum, zu dem wir gleich kommen). Um die systematische Bedeutung des Nachvollzuges zu erfassen, richten wir unsere Aufmerksamkeit zuerst auf die meines Wissens fundamentalste Untersuchung des Begriffes. Sie stammt von Susanne Herrmann-Sinai. Ihr Ausgangspunkt ist Kant, dessen Schwierigkeiten, mit Musik begrifflich zu arbeiten, den zentralen Gedanken Hegels sehr ähnlich sind. Kant beschreibt Klänge als gehalt- und gestaltlos, und er beschreibt, dass sie unser Gemüt in Bewegung versetzen. Am ersten Punkt hält Herrmann-Sinai fest. Den zweiten kritisiert sie, denn Kant nehme an, dass wir durch Klänge so bewegt werden, wie ein Scheunentor vom Wind bewegt wird.⁵⁰ Gegen eine solche mechanische Wirkung der Musik setzt sie den Gedanken, dass wir auf irgendeine Weise tätig sein müssen, wenn wir Musik nachvollziehen. Diese Weise nennt sie „co-praesentatio“. Sie ist der einzige Weg für uns, wie wir die gestaltlos vergehenden Klänge vorstellen oder in irgendeiner Weise erkennen können. Im Gegensatz zu Hegel sagt sie, dass wir uns in diesem Mitvollzug nicht durch uneinholbar einzelne Zeitpunkte in der abstrakten Innerlichkeit bewegen oder bewegt werden. Vielmehr ist es gefordert, dass wir verschiedene Co-Präsentationen „als gleich erfassen“ können. Wir müssen sie als „Repräsentanten desselben Sukzessionstyps bestimm[en]“.⁵¹ Herrmann-Sinai fasst diese Typen als „musika-
Scruton 1997. Vgl. Herrmann-Sinai 2009, 900 f. Herrmann-Sinai 2009, 904.
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lische Formen“ oder Formbegriffe: Wir hören einen musikalischen Ablauf als eine Art von Kadenz, als einen Dreiertakt oder dergleichen. Hier ist die Rede von Begriffen oder von Schemata zeitlicher Abläufe, nach denen wir unsere Wahrnehmung zeitlicher Abläufe strukturieren. Es scheint aber nützlich, solche Schemata nicht ausschließlich als musikalisch-technische Begriffe aufzufassen (letzterer Auffassung scheint Hegel in seiner Kritik des „gelehrten“ Hörens zuzuneigen). Dass wir Musik nicht nur registrierend hören, sondern dass wir in dieses Hören Modelle einbringen, die ihr Struktur und Sinn verleihen, ist häufig gesagt worden. Matthias Vogel führt als elementare Fälle solcher Modelle Metaphern auf, die fundamentalen leiblichen Erfahrungen entspringen: Puls, Atmung, Anspannung.⁵² Wenn wir im Hören solche Modelle anwenden, dann verstehen wir die Musik auf eine elementare Weise. Die Anwendung solcher Modelle, die wir aus der Erfahrung gewinnen, unterscheidet unser Verständnis von bloßem Aufzeichnen oder mechanischem Reproduzieren.⁵³ Das Verhältnis einer solchen Verstehensweise zu seinem Gegenstand besteht darin, „seine Form tätig zu erfassen“.⁵⁴ Nach Cochranes Thesen zur Intermodalität hatten wir gesagt: Ein Klang ist nie nur ein Klang. Nach Vogels Bemerkungen ist dieser Satz zu erweitern: Hören ist nicht nur Hören; auch nicht nur ein Fühlen im Hören; sondern eine anspruchsvolle Tätigkeit, zeitliche Erfahrungen zu gliedern. Dieser Aspekt der Tätigkeit ist in der ursprünglichen Formulierung des Problems nicht in den Vordergrund getreten; es war vielmehr unklar, welche Art von Tätigkeit ein Subjekt überhaupt an die Musik heranbringen kann. Hierauf geht Alexander Becker ein, wenn er Wahrnehmung von Erfahrung unterscheidet. Wahrnehmung sei etwas Einfaches, Erfahrung etwas Komplexes, und es ist der zweite Begriff, den wir verwenden sollten, um zu sagen, was wir von der Musik haben. Becker geht hier wie Vogel von der Intuition aus, dass wir Musik nicht nur registrieren, sondern im Hören über sie hinausgehen. „Musik scheint gerade dadurch erfahrbar zu werden, daß man […] die Musik mit Nicht-Musikalischem zusammenbringt“: mit „Gesten, Körperbewegungen, Emotionen, Raumvorstellungen“.⁵⁵ Was heißt es genau, Musik zu erfahren? – Zum einen heißt es, ihre gestalthafte Form zu erfassen. Dies können wir mit musiktechnischen Begriffen tun.Wichtig ist aber eine zweite Ebene: den Sinn dieser Form zu erfassen. Sinn heißt, eine Antwort finden zu können auf die Frage, warum gewisse musikalische Formen, Ereignisse
Vgl. Vogel 2007, 327. Vgl. Vogel 2007, 316 – 325. Vogel 2007, 359. Becker 2007, 267 f.
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etc. eintreten.⁵⁶ Eine solche Antwort liegt für Becker wie für Vogel im Finden von Modellen, durch die wir die Musik als zusammenhängend, als „Ganzes“ erfahren. Diese Modelle sind leibliche Erfahrungen, wie Vogel sie genannt hat; sie sind Gesten; sie können aber auch – musikhistorisch ist dies sehr bedeutend – rhetorische und narrative Strukturen sein.⁵⁷ Solche Modelle kennen wir bereits als Sinneinheiten; darum wird Sinn gestiftet, wenn wir sie anwenden. Fragen wir noch einmal, wie diese Tätigkeit möglich ist, wenn wir vom elementaren Hören ausgehen. In Plessners Fall waren wir auf eine Analyse des musikalischen Verstehens gestoßen, in der die Modelle, durch die Musik für uns sinnvoll erscheint, vornehmlich als Leibeshaltungen beschrieben sind. Dieses Verstehen erschien als ein sehr natürlicher Prozess, der nicht viel Reflexion erfordert. In den letzten Jahrzehnten haben sich Psychologie und Kognitionswissenschaften ausführlicher mit diesem Problem beschäftigt, und zwar unter der Fragestellung, ob nicht unsere gesamte Welterfahrung und auch unser Denken ursprünglich nach elementaren Modellen geformt werden, die wir aus der leiblichen Erfahrung und Wahrnehmung beziehen. Dies sind einfache räumliche Beziehungen – oben und unten, vorwärts und rückwärts, miteinander und gegeneinander –, Folgen von Ereignissen und Handlungen usw. So sagen wir: ein Gedanke folge aus einem anderen; stehe einem anderen gegenüber; sei übergeordnet; bewege sich im Kreis; man gehe in Gedanken zurück; usw.⁵⁸ Die Musikphilosophie erfasst zunehmend diese Forschungen, indem sie fragt, wie solche Modelle unser musikalisches Hören bestimmen. Es ist eine grundlegende Beobachtung nicht nur über das unbefangene Hören, wie es etwa in Plessners gestischem Nachvollzug gedacht ist, sondern auch über das theoretische Reden über die Musik, das sich aus einem solchen Hören teilweise entwickelt und auch auf es zurückwirkt, dass es sich nicht rein erhält, sondern zum Zweck der Gliederung und Formung Modelle aus dem Bereich des leiblichen Verhaltens wie auch aus anderen Bereichen der kulturellen Praxis und der Weltkenntnis einbezieht. Wir besprechen kurz die Darstellung der fundamentalen Prozesse in dieser Bezugnahme, die Charles Nussbaum in seinem Buch The Musical Representation versucht.⁵⁹
Vgl. Becker 2007, 289. Vgl. Becker 2007, 290, Anm. 28. Vgl. z. B. Nussbaum 2007, 46; 54. Zu verweisen ist auch auf den Gebrauch solcher Modelle im höherstufigen Kontext der Musiktheorie und Interpretation; als wichtige Arbeiten zur Methodenreflexion seien Hatten 2004, Redmann 2002 und Spitzer 2004 genannt.
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Wenn wir über den Titelbegriff „Representation“ nachdenken, können wir ein Problem auf den Punkt bringen, das uns über weite Strecken begleitet hat: die Frage nach dem Inner- und dem Außermusikalischen. Es war ein wesentlicher Teil des hegelschen Problems, dass das Hören selbständiger Musik abstrakt ist und keinen haltbaren Bezug auf weltliche, außermusikalische Gehalte herstellen kann; geschieht letzteres doch, so geht es auf Kosten der Aufmerksamkeit auf das eigentlich Musikalische. Man scheint die Wahl zwischen dem Inner- und dem Außermusikalischen zu haben. Die kurz genannten Auskünfte von Vogel und Becker weisen darauf hin, dass diese Gegenüberstellung nicht als scharfe Trennung beibehalten werden kann. Nussbaum folgt demselben Gedanken, indem er beide Aspekte in dem Begriff der Repräsentation verknüpft. Sie ist einerseits die Vorstellung, die wir von der Musik haben. Wie können wir diese Vorstellung aber zustande bringen? Nussbaum sagt: indem wir den musikalischen Ablauf als Bewegung auffassen. Das impliziere, dass wir sie so ordnen, wie wir Bewegungen ordnen. Wir legen einen – je nach unserer Aufmerksamkeit und Kenntnis mehr oder weniger bewussten – mentalen Plan von der Musik an und schaffen ein „mental model“.⁶⁰ Für Handlungen und Bewegungen bilden wir Modelle, in denen untergeordnete Bewegungen in eine zielgerichtete Struktur integriert sind. Die Modelle, die wir von der Musik bilden, repräsentieren auf formal ähnliche Weise die Integration einfacherer musikalischer Strukturen in umfangreichere, zielgerichtete Bewegungen.⁶¹ Diese Modelle beschreibt Nussbaum als offen und formal. Sie sind nicht als solche erfahrbar, sondern nur in ihrer Anwendung auf Vorstellungen, die sie zugleich mit bilden. Im Falle der Modelle, die wir auf die Musik anwenden, spricht Nussbaum von virtuellen Szenarien und Objekten. Diese sind „the nonconceptual contents of the musical mental models“.⁶² Entweder stellen wir uns unsere eigene Bewegung in dem virtuellen Szenario vor: die Musik gleicht einem Raum oder einer Landschaft, die uns leicht passierbar, weit, unübersichtlich, eng usw. erscheinen. In diesem Raum treffen wir Elemente, Gegenstände, Texturen usw. an. Oder „the musical virtual object presents itself as an animate object that is to be
Nussbaum 2007, 46 ff. Der Gedanke einer hierarchischen Strukturierung sollte, so wichtig er zweifellos für die Musik ist, mit Vorsicht genossen werden, insofern die kognitionswissenschaftlich geneigte Musikphilosophie ihn oft als empirisch verifiziertes Dogma wiederzugeben scheint, ohne zu sehen, dass die „wissenschaftliche“ Grundlegung dieses Gedankens in der „generative theory of tonal music“ von Fred Lerdahl und Ray Jackendoff weitgehend eine Ausarbeitung schenkerscher Theoriebildung in psychologischen und informationstheoretischen Termini ist und weniger eine methodisch sichere empirische Untersuchung. Zur Kritik an dieser Theorie und Methode siehe Bradter 1998. Nussbaum 2007, 48.
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understood empathetically via simulation“:⁶³ Wir finden uns in die Musik versetzt, wobei wir sie nicht nur als eine Person vorstellen können, sondern als jede Art von beweglichem Objekt oder als jede Art von Vorgang. Die „musikalische Repräsentation“ ist nun eine Vorstellung von der Musik, die die Musik – so Nussbaums These – zugleich als Darstellung virtueller Szenarien oder Objekte auffassen muss. Wir können vom Musikalischen nur kraft etwas „Außermusikalischem“ eine Vorstellung gewinnen. Dabei ist es wichtig zu bemerken: Wir haben „procedural or ‚pragmatic‘ representations rather than ‚semantic‘ or declarative representations“.⁶⁴ Diese Darund Vorstellungen beschreiben und bedeuten nicht, sondern sie werden tätig nachvollzogen.⁶⁵ Musik motiviert uns unvermittelt – das heißt: ohne Semantik, und ohne einen Kontext anzugeben – zur Konstruktion solcher Modelle, die zuerst formal bleiben, indem sie durch Gegensätze, Ähnlichkeiten, Unter- und Überordnung, verschiedene Bewegungsweisen u. ä. strukturiert sind, ohne anzugeben, was genau entgegengesetzt oder untergeordnet ist. Dies weist auf ein Denken und Verstehen hin, das sich nicht im Medium des Begriffs abspielt, sondern im Medium des Nachvollzugs, das aber zum begrifflichen Denken überleiten kann, und zwar auf dem Weg der Metapher. Nussbaum schreibt: „all successful metaphor […] depends on the mesh or ‚invariance‘ of mental models“.⁶⁶ Das heißt: Ein mentales Modell kann aus unterschiedlichen „Feldern“ oder auf unterschiedliche „Felder“ bezogen werden, zum Beispiel auf Landschaften, Wetterereignisse, Gesprächssituationen oder Handlungsverläufe. Indem wir wahrnehmend mit Modellen operieren, die für den Bezug auf derartige Felder offen sind, gebrauchen wir Metaphern, die das begriffliche Denken mit der Musik in Berührung bringen.
6. Schlussfolgerungen Wenn wir die Gedanken Vogels, Beckers und Nussbaums zusammenfassend auf das ursprüngliche Problem beziehen, können wir sagen: Wenn wir unsere Wahrnehmung der Musik nach solchen Modellen strukturieren, verhalten wir uns nicht gelehrt. Wir wenden nicht nur schematische Formbegriffe an, sondern wir wenden Begriffe an, die Bereiche unserer weltlichen Erfahrung strukturieren. Wir ziehen sie aber nicht an den Haaren herbei, sondern wir können sie anwenden,
Nussbaum 2007, 64. Nussbaum 2007, 70. Vgl. Nussbaum 2007, 104. Nussbaum 2007, 123.
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weil die Musik selbst aufgrund ihrer zeitlichen und klanglichen Form sich dazu anbietet. Auf Plessner zurückgreifend können wir sagen, dass die Musik solchen Modellen offen ist. Diese Offenheit füllen wir mit Vorstellungen und Deutungen. Darüber, ob diese jeweils angemessen sind, muss freilich die Reflexion entscheiden. Auf dem hier beschrittenen Weg sollte es erst einmal darum gehen zu zeigen, wo die Reflexion über die Musik ihren Stoff gewinnt. Indem aber, wie gesagt, ein bestimmter Anfang – nämlich bei elementaren Aspekten der musikalischen Erfahrung im Klang, in der Empfindung und im unmittelbaren Nachvollzug – für die Untersuchung gewählt wurde, mussten andere Quellen der Reflexion über die Musik beiseite bleiben, die in praktischen und sozialen Formen des Umgangs mit ihr zu finden sind: in der Auffassung der Musik als Teil eines Kunstsystems, als Aspekt gesellschaftlicher Identifikation oder als Element bestimmter Situationen wie der Feier oder der religiösen Zeremonie. Hier tritt die Haltung zur Kunst in ihr Recht, die Hegel als die „gründliche Kenntnis“ über „die Technik, die historische Gelegenheit und eine Menge äußerer Umstände“ bezeichnet.⁶⁷ Erst wenn die Reflexion über den Umgang mit Musik und die Reflexionen über ihre fundamentalen klanglichen, ontologischen, phänomenologischen und strukturellen Aspekte zusammenspielen, lässt sich eine vereinfachende Betrachtung vermeiden.
Literatur Becker, Alexander (2007): „Wie erfahren wir Musik?“, in: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 265 – 313. Bradter, Cornelius (1998): Die Generative Theorie der Tonalen Musik. Grundlagen und Entwicklungsimpulse durch F. Lerdahl und R. Jackendoff, Münster: Lit. Cadenbach, Rainer (1978): Das musikalische Kunstwerk. Grundbegriffe einer undogmatischen Musiktheorie, Regensburg: Bosse. Cochrane, Tom (2010): „A Simulation Theory of Musical Expressivity“, in: Australasian Journal of Philosophy 88, 191 – 207. Dworschak, Thomas (2013): „Durch Hegels Ohr das Schlagzeug in der frei improvisierten Musik belauschen“, in: Oliver Schwerdt (Hg.), Jubelheft für Baby. Festschrift zum 70. Geburtstag Günter Sommers, Leipzig: Euphorium, 119 – 125. Hanslick, Eduard (1854): Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig: Weigel (Nachdruck mit einem Vorwort von Markus Gärtner, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010). Hatten, Robert S. (2004): Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes. Mozart, Beethoven, Schubert, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press.
Hegel 1998a, 17.
Klang und Geist: Über neuere Untersuchungen zu einem hegelschen Problem
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Fábio Mascarenhas Nolasco¹
Hegels negative Charakterisierung der Musik: Zahlenverhältnisse und instrumentale Äußerlichkeit 1. Einleitung
In Hegels Seinslogik, besonders im Quantitätsabschnitt, finden wir eine negative Charakterisierung der Mathematik. Die Zahl erscheint dort als die äußerste Bestimmung, die das reine Denken annehmen kann. Insofern das reine Denken sich durch die Zahl oder Zahlenverhältnisse selbst darstellt, setzt es sich in eine völlig äußerliche Beziehung zu sich selbst. Das reine Denken erreicht mit der Bestimmung der Zahl nichts anderes als „die abstrakte Bestimmung der Äußerlichkeit selbst“; die Zahl ist „der reine Gedanke der eigenen Entäußerung des Gedankens“.² Die Zahl als der allgemeine Gegenstand der Mathematik oder die mathematische Form des Denkens überhaupt mag vielleicht vernünftigerweise als das Medium gewählt worden sein, durch das die wissenschaftliche Kulturpraxis die Wahrheit über die Dinge und auch die Wahrheit des Wissens selbst zu erkennen versucht hat (man denke an Leibniz). Aber die Zahl muss, so Hegel, aufgehoben bzw. überwunden werden, wenn das reine Denken schon die Gelegenheit erhalten hat, sich ein eigentümlicheres Medium zu erwerben: einen ‚rein geistigen Ausdruck‘, d. h. die begriffliche, dialektische Bestimmung. Die Zahlenverhältnisse bieten höchstens einen äußerlichen systematischen Zusammenhang von abstrakten Zeichen, deren Systemhaftigkeit abstrakt selbstbezüglich ist (man denke z. B. an die Characteristica Universalis). Diese Zeichen oder Charaktere werden jedoch so behandelt, als ob sie Symbole für andere, reale Dinge sein könnten. Und
Ich danke Prof. Marcos Müller, dem Betreuer meines Dissertationsprojekts in Brasilien, für seine geduldige Beratung. Dieser Aufsatz ist auch Prof. Christoph Asmuth zu verdanken, weil er mich so freundlich während meines Semesteraufenthaltes an der TU Berlin empfangen hat und auch weil mich sein Seminar „Über das Hören“ in die philosophischen Auffassungen zur Musik eingeführt hat. Außerdem möchte ich Anisha Vetter, Gabriel Valadão, Eva Schneider und besonders Peter Remmers für die Korrekturen der Übersetzung dieses Textes, den ich ursprünglich auf Englisch geschrieben und vorgestellt habe, danken. Last, but not least, möchte ich der ‚Forschungsstiftung des Bundesstaats São Paulos’ (Fundação de Amparo à Pesquisa do Estado de São Paulo – FAPESP) für das Stipendium, das meinen Aufenthalt in Berlin ermöglicht hat, meine Dankbarkeit ausdrücken. Hegel 1970a, 244.
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die am weitesten ausgearbeiteten Gestaltungen abstrakter Charaktere – mathematische Modelle – wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts von vielen Denkern geschaffen, die damit sehr vernünftige und praktische Ansprüche erhoben. Aber all diese Versuche können nach Hegel nicht zu einem guten Ziel führen, da die wesentlich äußerliche Bestimmtheit solcher Zeichensysteme es unmöglich macht, ein reales Verhältnis zu irgendetwas anderem außer sich selbst darzustellen. Sie sind selbstbezügliche Äußerlichkeit und stellen daher höchstens ein abstraktes und unvollendetes System der Selbstbezüglichkeit dar. Das ist so, weil nur der Begriff ein wahrhaftes Zeichen seiner selbst sein kann.³ Allein die begriffliche Bestimmung kann eben so weit gehen und darstellen, dass die Zahl, wie schon gesagt, „der reine Gedanke der eigenen Entäußerung des Gedankens“ ist.⁴ Allein die begriffliche Bestimmung ist das mit sich selbst versöhnte reine Denken, weil es aus der abstrakten Entäußerung seiner selbst zu sich zurückgekehrt ist. Der Begriff beinhaltet beides, sowohl die Entäußerung seiner selbst als auch die Rückkehr zu sich selbst. Der Begriff ist damit konkrete Selbstbezüglichkeit: eine Selbstbezüglichkeit, die die Aufgabe des Überwindens der ersten abstrakten und äußerlichen Selbstbezüglichkeit vollzogen hat. Die Zahl, in strengen hegelschen Termini, ist die Negation der Unmittelbarkeit der Sinnlichkeit, während der Begriff wiederum die Negation dieser Negation ist. Vor diesem Hintergrund einer intensiven und radikal kritischen Einstellung gegenüber der Mathematik findet sich nun in den Vorlesungen über die Ästhetik eine negative Charakterisierung der Musik. Es wäre in der Tat überraschend, wenn die Kritik am modernen Pythagoreismus nicht zu irgendeiner Art negativ gefärbter Auseinandersetzung mit der Musik geführt hätte. Keine andere künstlerische Form scheint ein so wesentliches Verhältnis zur Mathematik zu haben wie die Musik: Der Architekt mag mit Proportionsregeln u. ä. zu tun haben, so wie der Maler wohl durch Geometrie die Gesetze der Perspektive beherrscht, aber keiner dieser Künstler hat als unmittelbares Element seiner Kunst etwas Abstrakteres und dem Wesen der Zahlen Analogeres als die Töne und ihre Verhältnisse zueinander. Auch ist keine andere Kunst so wesentlich durch die Bedingungen eines äußeren In-
Hegel schließt so den Quantitätsabschnitt ab: „Wenn Zahlen, Potenzen, das mathematisch Unendliche und dergleichen nicht als Symbole, sondern als Formen für philosophische Bestimmungen und damit selbst als philosophische Formen sollen gebraucht werden, so müßte vor allem ihre philosophische Bedeutung, d. i. ihre Begriffsbestimmtheit aufgezeigt werden. Geschieht dies, so sind sie selbst überflüssige Bezeichnungen; die Begriffsbestimmtheit bezeichnet sich selbst, und ihre Bezeichnung ist allein die richtige und passende. Der Gebrauch jener Formen ist darum weiter nichts als ein bequemes Mittel, es zu ersparen, die Begriffsbestimmungen zu fassen, anzugeben und zu rechtfertigen.“ (Hegel 1970a, 386). Hegel 1970a, 244.
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struments bestimmt: Der Maler mag wohl manchmal Lineal und Zirkel benutzen, aber seine wesentlichen Instrumente sind keine anderen als der Bleistift, der Farbpinsel, die Farben und Linien selbst; der Musiker jedoch muss sich im Wesentlichen mit Proportionen und Disproportionen auseinandersetzen, die zwischen den Tönen erklingen, und da er nicht nur abstrakt mit diesen Elementen arbeitet, muss er sich auch ganz wesentlich mit der äußeren Gestaltung von Musikinstrumenten auseinandersetzen. Musik nimmt in Hegels Darstellung des „Systems der einzelnen Künste“ eine mittlere Position ein. Sie ist das negative Moment zwischen der Unmittelbarkeit der bildenden Künste und der Versöhnung der Kunst mit sich selbst, der Poesie, genau so, wie die Kritik des mathematischen Denkens, die im Kapitel der Quantität in der Seinslogik zu finden ist, die negative mittlere Position zwischen der Unmittelbarkeit der Qualität und der Versöhnung der „Ontologie“⁵ mit sich selbst im Maß einnimmt. Die Poesie ist also ebenso die Versöhnung der Kunst mit sich selbst wie der Begriff die Versöhnung des reinen Denkens mit sich selbst ist. Diese Analogie weiterführend könnte in der Beziehung des Musikers zu seinem äußeren Instrument die sinnlich verkörperte Darstellung dieses logischen Verhältnisses des reinen Denkens zur Kategorie der Quantität gesehen werden. Man könnte sich das so vorstellen, dass das reine Denken sich selbst mit den quantitativen Verhältnissen konfrontiert, genau so wie der Musiker sich gleichzeitig mit der abstrakten Äußerlichkeit der Tonverhältnisse und der konkreten Äußerlichkeit der materiellen Bedingungen seines Instruments auseinandersetzt. Der die Behandlung der Musik abschließende Abschnitt in den Vorlesungen über die Ästhetik behandelt das Thema der „künstlerischen Exekution“.⁶ Da die letzten Teile in Hegels Darstellungen immer etwas Spezielles beinhalten, nämlich den Moment des Werdens, des Aufhebens, der Negation der Negation, so ist hier sicherlich zu erwarten, dass die Erörterung der körperlichen Beziehung des Musikers zu seinem Instrument das Wesentlichste von Hegels Auffassung der Musik enthält. Mit derselben Ausrichtung auf die wesentliche Rolle der „Exekution“ für die Betrachtung der Musik macht Ernst Bloch in den ersten Kapiteln seiner Philosophie der Musik darauf aufmerksam, dass man der ungebildeten Technik der Troubadoures, und nicht allein „den bloß verständigen Versuchen der damaligen Harmonisten“⁷ die Entstehung der modernen symphonischen Musik zu verdanken hat. Dies deutet darauf hin, dass für das Hervorbringen der modernen Harmonie Ontologie ist hier in Anführungsstriche gesetzt, weil die im Maßabschnitt erreichte Versöhnung der Ontologie mit sich selbst eben die Aufhebung ihrer selbst bedeutet. Vgl. Hegel 1970b, 218 – 222. Bloch 1974, 8.
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auch technische Fachkenntnisse außerhalb der Schule verantwortlich waren. In Analogie auf die Naturwissenschaften angewandt könnte man z. B. die Fachkenntnis der Benutzung eines Fernrohrs für das Hervorbringen der modernen Wissenschaft und besonders der Infinitesimalrechnung verantwortlich machen. Man sagt zwar nichts neues, wenn man die Wichtigkeit des Fernrohrs für die moderne Revolution der Wissenschaften betont. Aber der Hinweis darauf, dass die Entfaltung z. B. der Infinitesimalrechnung nicht nur historisch, sondern auch logisch, d. h. wesentlich von den technischen Arbeiten abhängig war, die in die Entwicklung und Benutzung der Fernrohr geflossen sind, könnte unsere Analogie plausibel machen.⁸ So radikal diese Analogie zunächst auch erscheinen mag – ich möchte sie im Folgenden näher beleuchten, um sie klarer zu machen. Ich werde daher einige Aspekte der Verhältnisse zwischen Mathematik und Musik, Zahl und Ton, Kalkül und Technik darstellen, die aus Hegels Philosophie hervorgehen.
2. Formale und materielle Bestimmung des Tons: Äußerlichkeit und Unvollständigkeit Als eine auf die unmittelbare mathematische Gestaltung der Zeitmaße der Musik folgende zweite Kategorie stellt Hegel das abstrakte analytische Element der modernen Harmonie vor, das Element der Töne. Töne werden gewöhnlich als der „künstlerische Ausdruck von Empfindungen“ aufgefasst. Betrachtet man die Töne jedoch mit Rücksicht auf ihre besondere Qualität als bloße Töne, dann merkt man schnell, dass „der Ton als bloßer Ton […] inhaltlos“ ist.⁹ Jeder einzelne Ton für sich
Die mit der Entwicklung des Fernrohrs verbundenen Fachkenntnisse bestehen in einer interessanten Verbindung reinen mathematischen Denkens (in Gestalt von Dioptrik und Optik) mit dem technischen Herstellungsprozess der optischen Linsen. Dass beide Seiten aber getrennt von einander und besonders der rein mathematische Aspekt dieser Arbeit als unabhängig gedacht wird, muss aus geschichtlicher Perspektive als Wirkung, nicht aber als Ursache der wissenschaftlichen Arbeiten Galileis, Descartes’, Newtons und Leibniz’ angesehen werden. Diese Betrachtungsweise entspricht Hegels Absicht, das reine Denken gegenüber der Idee der Absolutheit von der mathematischen Reinheit zu befreien. Die Kategorien der Quantität und des Erkennens (die zwei Momente in der Wissenschaft der Logik, in denen Hegel die Mathematik ausführlich behandelt) lassen sich nicht ohne ihre wesentliche Verbindung zur Äußerlichkeit denken. Die Reinheit der Mathematik ist damit, gemäß der Wissenschaft der Logik, durchaus abstrakt (im hegelschen Sinne des Wortes), da sie ihre geschichtliche und wesentliche Wechselwirkung zwischen reinem Denken und fremder Äußerlichkeit vor sich selbst versteckt. Eine vollständige Erklärung dieser These kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Hegel 1970b, 159.
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genommen ist selbstständig und hat somit keinen bestimmten Inhalt.¹⁰ Gleichzeitig aber ist er etwas formal Bestimmtes und genau diese formale Bestimmtheit setzt einen Ton unmittelbar in Beziehung zu anderen Tönen. Allein in der unmittelbaren Beziehung zu anderen Tönen kann ein Ton „Sinn, Bedeutung und Ausdruck“ erreichen: „Die Zusammenstellung verschiedener Töne zu bestimmten Verhältnissen ist daher etwas, wenn auch nicht dem Wesen des Tons Widerstrebendes, doch aber erst Gemachtes und nicht sonst schon in der Natur Vorhandenes.“¹¹ Und dieses „Gemachte“ ist den äußerlichen Bedingungen eines Instruments angepasst. „Dieser Äußerlichkeit des Verhältnisses wegen beruht die Bestimmtheit der Töne und ihrer Zusammenstellung in dem Quantum, in Zahlverhältnissen“.¹² Die „Grundlage der Musik“ besteht aus „Gleichheit, Ungleichheit usf., überhaupt die Verstandesform, wie sie im Quantitativen herrschend ist.“¹³ Durch die äußerliche Bestimmtheit, die abstrakte Proportion oder Disproportion zwischen den verschiedenen Tönen gelingt es jedoch dem Musiker, die freie Innerlichkeit des Zuhörers an seine künstlerischen Absichten heranzuführen. Die ästhetische Erfahrung des Musikhörens ist etwas so Reines, etwas so den innerlichen Tiefen Angehörendes, dass sie letztlich als eine Erfahrung der Innerlichkeit mit sich selbst betrachtet werden kann: „Das einfache Selbst“ soll „sich in der Musik als Inneres objektiv werden“.¹⁴ Ziel des künstlichen Äußeren der Musik ist es also, im einfachen Selbst – im reinen hörenden Subjekt – ein Selbstgefühl oder Selbstbewusstsein zu schaffen.¹⁵ Zwar wird die „bloß unbestimmte Veränderung“ des einfachen Selbst, d. h. die Bewegung des reinen Selbst vor dem Hören eines Musikstückes zunächst durch das unmittelbare Verständnis der zwischen den Tönen erzeugten Proportionen und Disproportionen gebrochen; das einfache Selbst wird daher auch durch die unmittelbare Anerkennung der Tonverhältnisse geleitet und bestimmt, wodurch es sich aus jener ersten unbestimmten Veränderung wieder erfasst, d. h. sich selbst anerkennt. Das „Selbst ist das Beisichselbstseiende, dessen Sammlung in sich […] das Ich, welches in dieser Diskretion [der verschiedenen Töne] seiner selbst sich erinnert und sich darin wiederfindet, von dem bloßen Außersichkommen und Verändern befreit.“¹⁶ Aber diese Anerkennung und Befreiung kann aufgrund der
Vgl. Hegel 1970b, 160. Ebd. Hegel 1970b, 160 f. Hegel 1970b, 161. Hegel 1970b, 164. Vgl. Hegel 1970b, 160 f. Hegel 1970b, 165.
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Bedeutungslosigkeit des verwendeten Mediums bzw. der quantitativen Diskretion der Töne nicht vollständig sein. Der Genuss, den man durch Musik erleben kann, ist nur der einer abstrakten Selbstanerkennung des einfachen Selbst, weil die musikalische Entwicklung nur quantitativ das bricht, was die unmittelbar qualitative „Kontinuität“ des einfachen Selbst war.¹⁷ Eine Erfahrung findet statt, allerdings nur eine zufällige: Wenn nun aber viele Töne aufeinanderfolgen und jeder für sich eine von dem anderen verschiedene Dauer erhält, so ist an die Stelle jener ersten leeren Unbestimmtheit umgekehrt auch nur wieder die willkürliche und damit ebenso unbestimmte Mannigfaltigkeit von besonderen Quantitäten gesetzt.¹⁸
Eine Identität oder Einheit des Ichs mit sich selbst findet durchaus statt, allerdings nur eine, die „doch als bloße Identität am Äußerlichen zunächst nur äußerlicher Art bleiben kann.“ Die reine Innerlichkeit wird beim Hören von Tonverhältnissen in „geistige Punkte“ zersplittert, und ein solcher geistiger Punkt fasst sich selbst im Ton als die Entäußerung seines Selbst. „Das Innerliche nämlich ist als Subjekt dieser geistige Punkt, der im Tönen als seiner Entäußerung sich vernimmt.“¹⁹ Diese geistigen Punkte werden jedoch nur durch das Medium mathematischer Verhältnisse entäußert,wodurch das Selbstgefühl oder Selbstbewusstsein, das daraus entspringen kann, nur ein abstraktes sein kann. Trotzdem kann Musik die wunderschönsten Empfindungen hervorrufen, besonders solche, die Schopenhauer dazu führten, der Musik innerhalb der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten des Willens die höchste Stellung zuzuweisen. Nach Hegels negativer Charakterisierung stellt sich jedoch die Frage: Wie kann ein Musiker aus einfachen, abstrakten und äußerlichen Verhältnissen solch konkrete Ebd. „Abstrakte Kontinuität“ ist die durch die Diskretion der Töne geschaffene Kontinuität. Quantitative Verhältnisse machen das Element der musikalischen Kontinuität aus, weswegen Hegel sie „abstrakte Kontinuität“ nennt. Andererseits ist die ursprüngliche Kontinuität des Ichs als „unbestimmte“ bezeichnet, sie könnte aber auch qualitativ genannt werden. Außer der Musik sollen zwar auch andere Kunstformen eine Art Bruch der unbestimmten Kontinuität des Ichs leisten, aber diese anderen Arten von Brüchen sollten eher ‚qualitativ‘ genannt werden, weil sie nicht, so wie die Musik, durch das diskrete Medium der Proportionen konstituiert sind. Diese hegelsche Betrachtungsweise lässt z. B. vermuten, dass der moderne geometrische Konstruktivismus, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Mode in den bildenden Künsten wurde, eben ein Versuch war, die Musik als quantitative Ausnahme im Verhältnis zu den anderen Kunstformen abzulösen, zumal dieser Konstruktivismus sich um eine Art quantitativer Zersplitterung des unbestimmten Ichs auch für die bildende Künsten bemühte. Ebd. Hegel 1970b, 174.
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und erhabene Ergebnisse hervorbringen? Die Antwort auf diese Frage ist nach Hegel nicht in den abstrakten mathematischen Verhältnissen zwischen den Tönen zu finden, sondern in der konkreten Beziehung des Musikers zu seinem Instrument. Diese Beziehung ist der konkrete Ausdruck dessen, was abstrakt als das Verhältnis zwischen der qualitativen Kontinuität des einfachen Selbst und der quantitativen Diskretion der Töne betrachtet wurde. Die mathematische Beziehung zwischen den Tönen ist so äußerlich gegenüber der qualitativen Kontinuität des Selbst, wie die Gestaltung z. B. einer Gitarre oder eines Klaviers äußerlich und unmittelbar fremd für die natürliche Bestimmtheit der Finger oder Hände des Musikers ist – und ebenso äußerlich wie die Natur der Zahl gegenüber dem reinen Denken. Nichtsdestotrotz ist der Musiker fähig, melodische Klänge daraus hervorzubringen, ebenso wie der geniale Mathematiker schöne Gedankendinge aus den starren Zahlen und algebraischen Symbolen hervorbringen kann. Hegels Versuch, eine Versöhnung der Musik mit sich selbst herzustellen, zeigt sich im Begriff der Melodie – dem Wesen der Musik –, der „die höhere poetische Seite der Musik“, das Moment der Identität der Musik mit sich selbst einführt. Die Melodie ist die „Grundlage für die erst wahrhaft freie Entfaltung und Einigung der Töne“,²⁰ sie ist Freiheit gegenüber den mathematischen Bestimmtheiten der Harmonie, des Taktes, des Rhythmus. Diese frühen Elemente sind nichts anderes als formale Abstraktionen (Faktoren) der Melodie. Harmonie, Takt und Rhythmus haben als isolierte Elemente keine „musikalische Gültigkeit“;²¹ Melodie allein ist „ein in sich totales und abgeschlossenes Ganzes“²² und somit das unmittelbare Element der künstlerischen Exekution. Nur als diese Bewegung, die nicht ins Unbestimmte hinausläuft, sondern in sich selbst gegliedert ist und zu sich zurückkehrt, entspricht die Melodie dem freien Beisichsein der Subjektivität […].²³
Die Melodie eröffnet für Hegel demnach die Möglichkeit, dass die Subjektivität nach der Überwindung der äußerlichen Notwendigkeit der abstrakten und mathematischen Diskretion der Töne wieder zu sich selbst findet – gegen die Äußerlichkeit der Harmonie und die äußerliche Natur des Instruments. Erst indem die Melodie zu sich selbst zurückkehrt, als Hervorbringung der zunächst unbestimmten musikalischen Absicht gegen – und durch – die fremde Äußerlichkeit der Gestaltung des Instruments und die Diskretion der Töne; erst indem sie sich
Hegel 1970b, 185. Hegel 1970b, 187. Hegel 1970b, 189. Hegel 1970b, 190.
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gegen ihre widersprüchliche Beziehung zu Harmonie, Takt und Rhythmus durchhält, als Rückkehr zu sich selbst in Freiheit, gegen und durch (mathematische) Notwendigkeit; erst dann ist der Widerspruch, den die Musik hervorbringt, in ihr selbst aufgelöst. Erst die Melodie, und nicht irgendein sinnloses harmonisches und rhythmisches Spiel, kann einen geistigen Inhalt hervorbringen. Nur die geistige Einfachheit einer Melodie kann die technischen und mathematischen Schwierigkeiten überwinden und dem Zuhörer, dem einfachen Subjekt, eine wahrhafte künstlerische und geistige Erfahrung ermöglichen – weil die Melodie dem geistigen Inhalt der Worte am nächsten steht. Die Melodie drückt die Sprache des Geistes aus, sie ist quasi so bedeutungsvoll wie die Worte selbst. Die Melodie ist es, was den Musiker zur abstrakten Arbeit mit seinem Instrument zwingt. Und die Abstraktheit der Arbeit des Musikers besteht eben darin, durch die diskreten Äußerlichkeiten des Mediums, der Töne und des Instruments, die vorausgesetzte geistige Einheit der Melodie wieder hervorzurufen. Aber die Unbestimmtheiten der Töne, wenn auch durch die geistige Einheit der Melodie versöhnt, bestimmen die Musik dazu, wesentlich unvollständiger geistiger Ausdruck zu sein. Deswegen bleibt Hegels Einstellung zur Musik negativ: [W]ie sehr die Musik auch einen geistigen Inhalt in sich aufnimmt und das Innere dieses Gegenstandes oder die inneren Bewegungen der Empfindung zum Gegenstande ihres Ausdruckes macht, so bleibt dieser Inhalt, eben weil er seiner Innerlichtkeit nach gefaßt wird oder als subjektive Empfindung wiederklingt, unbestimmter und vager, und die musikalischen Veränderungen sind nicht jedesmal zugleich auch die Veränderung einer Empfindung oder Vorstellung, eines Gedankens oder einer individuellen Gestalt, sondern eine bloß musikalische Fortbewegung, die mit sich selber spielt und dahinein Methode bringt.²⁴
Obwohl die Musik einen geistigen Inhalt hat, ist dieser Inhalt noch unbestimmt und vage. Aus diesem Grund konnte (und kann) Musik niemals bestimmte Gefühle, Vorstellungen, Gedanken oder individuelle Gestalten hervorbringen. Für Hegel war Musik immer eine bloß musikalische, selbstbezügliche Bewegung. Es gibt daher keine wahrhafte Methode hinter dem musikalischen Schaffen. Wegen der Abstraktheit der Diskretion der Tonverhältnisse kann man Hegel zufolge nie begreifen, weshalb diese oder jene Werke so aufregende Gefühle hervorbringen können; der Kern der Sache bleibt allen, Komponisten, Musikern und Zuhörern, ein verstecktes, tief liegendes intuitives Geheimnis, das vielleicht nur der Körper selbst des Musikers erklären könnte. Da die durch die Beziehungen der Töne erzeugten Proportionen und Disproportionen von Hegel nur als Mittelposition für die geistige Wiederanerkennung
Hegel 1970b, 186.
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des Selbst durch sich betrachtet werden, ist leicht einzusehen, dass sie ihre Aufgabe nie bewältigen können, da sich diese Wiederanerkennung nur dann vollziehen könnte, wenn bestimmte Vorstellungen,Worte, hervorgebracht würden. Diese These zur Unfähigkeit der Musik wird im Text der Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (Berlin 1823) weiter unterstützt: „Wie die Empfindung den Inhalt des Geistes begleitet, so ist die Musik als ihr Ausspruch das Begleitende von Zeichen der Vorstellungen, von Worten. Die Rede schließt sich an die Musik, und dies ist ihre ursprüngliche Bestimmung.“²⁵ Das Wort ist daher, Hegels eigenem Ausdruck folgend, die „Bestimmung der Musik“. Man sollte in diesem Kontext nicht vergessen, dass der Begriff ‚Bestimmung‘ bei Hegel noch stark von theologischer Bedeutung geprägt ist (determinatio). Das Wort muss dann gleichzeitig als das ursprüngliche Ziel und das unerreichbare Schicksal der Musik angesehen werden. Aus diesem Grund setzt Hegel den Begriff der begleitenden Musik als erstes, unmittelbares Bild der Musik. Dieses erste Moment entäußert sich, logisch und geschichtlich, durch die moderne Entwicklung der polyphonen Musik, der Harmonie und des wohltemperierten Klaviers, im Begriff der instrumentalen Musik. Dieses zweite Moment der logischen, geschichtlichen und dialektischen Entfaltung des Begriffs der Musik bringt den musikalischen Anspruch auf Selbständigkeit ans Licht: Die Musik will sich von den Grenzen der Worte abstrahieren und sich auf ihre „eigenen“ Elemente konzentrieren, d. h. auf Takt, Harmonie und reine Melodie. Doch dagegen spricht Hegel: Doch kann Sie [die Musik] auch selbständig werden, und dies ist besonders in der neueren Zeit, die architektonische Gebäude der Harmonie aufstellt, die nur den Kenner befriedigen. Bei keiner Kunst ist dies so der Fall, daß nur ein verständiges Studium die Befriedigung gewährt. Die Musik hat mit der Architektur die Gleichheit, daß sie ihren Inhalt nicht in sich selbst hat; und wie die Architektur einen Gott erfordert, so die Subjektivität der Musik einen Text, Gedanken,Vorstellungen, die als bestimmter Inhalt nicht in ihr sind. Die redende Kunst nun ist es, welche diese Erfüllung gibt. Der Ton [verbindet sich] mit einem geistigen Inhalt als solchen. Die unselbständige Musik ist nur begleitend. Je selbständiger sie wird, desto mehr gehört sie nur dem Verstande an und für den Kenner ist und dem Zweck der Kunst ungetreu wird.²⁶
Man sieht, dass Hegels Beschränkung der Musik auf die Ebene der Worte auch einen polemischen Aspekt enthält. Wenn Hegel „das Musikalische“ vom Horizont der geistigen Sinnhaftigkeit aus betrachtet, dann wird das Verhältnis zwischen den Tönen oder die Natur eines Tons überhaupt als ein Verhältnis zwischen
Hegel 1998, 270. Ebd.
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Zeichen angesehen, die eigentlich für etwas Anderes stehen müssen. Damit aber weist der Horizont der Sinnhaftigkeit, vor dem Hegel das musikalische Schaffen betrachtet, die Musik in die Schranken, Ausdruck bestimmter, sinnvoller Gefühle oder Begriffe sein zu müssen – was sie definitiv nicht vermag. Obwohl der Musiker mit den Tonverhältnissen seine Gefühle oder Ideen auszudrücken versucht, bleibt das Element der Töne unfähig, ein passendes Ausdrucksmittel von Gefühlen oder Ideen zu sein, da die individuellen Elemente der Musik Zeichen sind, die nicht als bestimmte Zeichen von etwas Anderem als sich selbst fungieren können. Der Ton als solcher kann für Hegel kein passendes Symbol für etwas sein, weder für ein Gefühl, noch für einen Begriff: Der Ton als Ton kann für Hegel nur ein abstraktes Symbol seiner selbst sein – und somit ist er inhaltslos. Diese abstrakte, selbstbezügliche Qualität des tonalen Elements ist für Hegel eben das, was seinen negativen Charakter ausmacht. Da die Töne – wie die Zahlen – nur diskret selbstbezüglich sind, kann die musikalische Form die Verabsolutierung ihrer selbst nicht erreichen, nach der sie sucht, vor allem nicht im Falle instrumentaler, selbständiger Musik. Das tonale Element ist daher eine ‚schlechte‘ Form von Selbstbezüglichkeit, da es damit nicht gelingt, einen vollständigen Selbstbezug herzustellen, d. h. es handelt sich um ein künstlerisches Ausdrucksmittel, das nicht in der Lage ist, den vollständigsten, höchsten Ausdruck der Kunst ans Licht zu bringen. Könnte sich die Melodie von dem tonalen Element und von der Harmonie befreien, dann würde es der Musik vielleicht gelingen, das allgemeine Element ihrer Freiheit und den Status der absoluten Kunst zu erlangen. Hegel jedoch schließt diese Möglichkeit vollständig aus. Allein die Poesie ist die Verwirklichung dieses Triebes zu absoluter künstlerischer Freiheit, weil ihr Element, für Hegel die Worte, wesentlich geistig ist.²⁷
Nicht die Sprachlichkeit im Allgemeinen, sondern Worte als ihr Element konstituieren für Hegel die Poesie. Erst die moderne Revolution der Poesie seit dem späten 19. Jahrhundert führte durch den Einfluss Baudelaires, Mallarmés und anderer Dichter dazu, dass sich die Poesie vom geschlossenen Element der Worte befreit und dem weiteren Feld der Sprachlichkeit im Allgemeinen gewidmet hat. Das Wort-Element wies eine Art der Bestimmbarkeit auf, die von modernen Dichtern beiseitegelegt wurde.
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3. Identität zwischen technischer Reproduzierbarkeit und der Verabschiedung von Sinnhaftigkeit Der bereits oben angedeutete, in der Musik hervorgebrachte Widerspruch scheint sich in folgender Frage auszudrücken: Wie kann ein sinnloses, abstraktes, grundlegend quantitatives selbstbezogenes Spiel überhaupt geistigen Inhalt besitzen? Dieser wesentliche Widerspruch der musikalischen Form erreichte mit dem Hervortreten rein instrumentaler Musik seine Spitze. Wie konnte dann aber diese neue Form der Kunst, diese jüngste Blume des modernen Rationalismus, überhaupt einen Anspruch auf die Hervorbringung tiefster geistiger künstlerischer Gefühle erheben? Hegels Verteidigung der Allgemeinheit der Poesie gegenüber der Abstraktheit der Musik kann, genau wie seine Kritik der mathematischen Bestimmtheit der Naturwissenschaften, als Folge eines „politischen Motivs“ gedeutet werden, das er mit Goethe teilte: als vielleicht letzten Versuch, die vom mathematischen und instrumentalen Denken unvermeidliche Vereinnahmung des kulturellen Lebens aufzuhalten. Dieser von Hegel und Schelling vertretene Standpunkt, nach dem die poetische Form als allgemeine Bestimmung aller Künste die höchste Stellung einnimmt, gründet aber auf einem anthropologischen Aspekt.Wenn der Horizont der geistigen Sinnhaftigkeit der Poesie Voraussetzung und Schicksal für jede Kunstform sein soll, so folgt daraus, dass z. B. die mythologischen Strukturen einer bestimmten Kultur ihre materiellen Vollzüge – ihre Riten,Wohnformen, die Regeln der Eheschließung, der musikalischen Harmonie der Lieder etc. – erklären können. Das bedeutet, dass die Sinnhaftigkeit der Narrative einer Kultur, die Sinnhaftigkeit ihrer Gedichte bzw. des Wort-Elements²⁸ (man denke an die Bedeutung des griechischen Wortes ‚Mythos‘) den Sinn ihrer anderen, nicht durch Worte ausgemachten Produkte erklären könnte. Das Wort-Element (bzw. die Mythologie) enthält somit den Grund aller anderen Kulturprodukte. Die Sinnhaftigkeit des Wort-Elements ist dann vorauszusetzen, wenn irgendeinen Sinn aus anderen kulturellen Produkten erkannt und deren Stelle im sinnvollen System der be-
Jede traditionelle Kultur produziert verschiedene Arten von Objekten, einige aus materiellen Stoffen, andere aus nicht-materiellen Elementen, z. B. Worten. Aber derartige nicht-materielle Objekte, z. B. mythologische Narrative, eröffnen die Möglichkeit, den Grund aller anderen Objekte auszudrücken. Dieses Verhältnis wurde eben mit der Modernisierung der Gesellschaften radikal verkehrt. Vgl. dazu Habermas 1968, 65 – 73.
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stimmten Kultur nachvollzogen werden soll. Eine in die gleiche Richtung zielende anthropologische Methodologie, die großen Einfluss auf das gesamte Spektrum der Nachkriegs-Geisteswissenschaften ausgeübt hat, wurde zwischen 1934 und 1939 vor allem von Lévi-Strauss entwickelt, zu einer Zeit, als der junge Forscher den Lehrstuhl für Soziologie in der kurz zuvor gegründeten Universität von São Paulo besetzte.²⁹ Doch selbst wenn die allgemeine Gültigkeit der bedeutungsvollen poetischen oder mythologischen Form nützlich für den Versuch war, die indigenen Kulturen Südamerikas besser zu verstehen, verliert eine solche Methodologie andererseits ihre Wirksamkeit bei dem Versuch, jede künstlerische oder technische Produktion einer Kultur, die bereits in das Zeitalter der industriellen Reproduzierbarkeit ihrer selbst eingetreten ist, zu erklären. Man denke an Walter Benjamin: Insofern die Künste das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit erreicht haben, ist die vereinte poetische Form (Wort, Mythos, geistige Sinnhaftigkeit) nicht länger als ein gültig vorausgesetzter Horizont beizubehalten, um die Entwicklung der Künste zu beurteilen. Das Kunstwerk hat seine Aura verloren: „[D]ie technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitärem Dasein am Ritual.“³⁰ Die Künste haben sich sodann, im Verlauf des 19. Jahrhunderts, durch „die [große, umfassende] Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe,“³¹ die mit der Industrialisierung West-Europas eingetreten ist, von der geistigen Geschlossenheit des Wort-Elements, des Mythos emanzipiert. Kultur entfaltete sich nicht länger durch geistige Medien allein, sondern durch kolonisierende nicht-geistige Medien, mit einem Wort: durch Industrie. Die Einheit und Bestimmtheit der Poesie, der Logik, des Geistes verlieren ihre Fähigkeit, die Reproduktion ihrer selbst der Kultur zu vermitteln. Benjamins berühmter Text ist der Aufgabe gewidmet, den emanzipatorischen Aspekt dieser Veränderung für das Kunstwerk zu betonen. Adorno hat dagegen in seinen Betrachtungen zum Jazz die negativen, kolonisierenden Aspekte dieses Umstands dargestellt. In jedem Fall bleibt, positiv oder negativ, festzuhalten: die Entfaltung der modernen europäischen Kultur hat zum Verlust des sinnhaft vereinten Wort-Elements als Grund (Voraussetzung und Schicksal) der Selbstreproduktion der Kultur geführt.
Die erste Universität in der Geschichte Brasiliens wurde 1934 in São Paulo mit der Einladung vieler junger französischer Professoren gegründet, u. a. Claude Lévi-Strauss, Fernand Braudel und Roger Bastide. Benjamin 1974, 442. Benjamin 1974, 439. Von einer „großen Liquidation“ ist in der ersten Fassung des Textes die Rede, von einer „umfassenden Liquidation“ in der dritten Fassung (Benjamin 1974, 478).
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Lévi-Strauss bereiste Brasilien 1934, die erste Fassung von Walter Benjamins Text wurde 1935 veröffentlicht. In der damals noch nicht vollständig industrialisierten Gesellschaft Brasiliens konnte man ausgehend von der Rekonstruktion bedeutungsvoller mythologischer (poetischer) Strukturen noch Sinn und Bedeutung in den vielen künstlerischen und technischen Produktionen der indigenen Völker finden. Diese Methodologie konnte allerdings nicht zur Interpretation der europäischen Gesellschaft zur selben Zeit dienen, da die industrielle Reproduktionsform keine poetische Einheit bot: Sie bot keinen anderen Sinn als den industriellen. Daraus wird ersichtlich, dass jene grundlegende anthropologische Wahrheit, die Hegel dazu geführt hatte, seine Polemik gegen die Selbständigkeit der instrumentalen Musik (oder gegen die Herrschaft der Mathematik über das ganze Spektrum der Wissenschaften) zu entfalten, mit der umfassenden Liquidierung der Traditionswerte, die sich mit der Industrialisierung Europas vollzogen hat, ihre kritische Geltung verloren hat. Lévi-Strauss hat die indigenen Kulturen Südamerikas erforscht, um diese anthropologische Wahrheit wieder lebendig zu machen. Benjamin, der in Europa geblieben war, bestätigte mit dem oben zitierten Text, dass die Voraussetzung eines vereinten Wort-Horizonts nicht mehr genügend Geltung hatte, um angemessene Beurteilungen der weiteren Entfaltung der Künste zu ermöglichen. In dem Moment, in dem die neue Musik alles Streben nach umfassender Sinnhaftigkeit aufgab, als sie von dem Ziel abließ, bedeutungs- und sinnvoll zu sein sowie Gefühle oder Ideen auszudrücken, überwand sie dadurch zugleich die Notwendigkeit des Systems der klassischen tonalen Kategorien und die Suche nach synthetischer Totalität in der Melodie.³² Erst dann konnte Musik zu dem werden, was Hegel für unmöglich hielt: ein absoluter Ausdruck der Kunst – jenseits sentimentaler, begrifflicher und nur instrumenteller Bestimmung, die reine Erforschung des Musikalischen überhaupt, eine Selbstbezogenheit, die nicht mehr nur abstrakt und mathematisch ist, da die Überwindung der klassischen tonalen Kategorien zur Überwindung der ausschließlich mathematischen Bestimmtheit der Harmonie führte. Diese Überwindung der vorhergehenden tonalen Kategorien befreite den Musiker jedoch nicht unmittelbar von der Äußerlichkeit mathematischer Verhältnisse. Ernst Bloch argumentierte 1925 in seiner äußerst interessanten Abhandlung „Über das mathematische und dialektische Wesen der Musik“ gegen die damalige Tendenz, das Wesen der Musik erneut in mathematischen Verhältnissen zu suchen:
Vgl. Asmuth 2007.
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Die Zeit einer Musikalischen Erneuerung gibt sich zugleich als die Zeit der Versuche technisch-rationaler Art; und so liegt dem Musikwillen zum Ungekannten formale Betrachtung zunächst näher als eine Psychologie oder selbst Metaphysik, die scheinbar immer wieder unter den romantischen Lichtkegel zwingt.Wie die neue Malerei mit Haß gegen den Ausdruck begann, wie sie Würfel, Dreieck, Zylinder statt des Abendfriedens und anderer sogenannter Seele betonte, so kehrt auch die neue Musik zu den ‚direkten Faktoren‘ zurück, untersucht die noch subjektfremden Möglichkeiten der Tonphysik schlechthin; ohne Absicht bis auf weiteres, auch ohne Aussicht, hier neue ‚indirekte Faktoren‘, Tonmetaphysiken zu gründen. Es überrascht also nicht,von hier aus ebenfalls mathematische Neigungen am Werk zu sehen, ja Versuche, durch einen mathematisch überformten gleichsam in sich selber transzendental gemachten Formalismus die psychologische, geschichtsphilosophische oder metaphysische, auf jeden Fall aber seelische Hermeneutik der Musik durch eine mathematische zu ersetzen.³³
Mit Blick auf diese Situation, in der das mathematische Denken ein weiteres Mal versuchte, das Wesen der Musik zu kolonisieren, stellt Bloch in seinem Artikel dar, wie sehr Musik seit jeher durch diesen Streit, nicht aber durch dessen Lösung konstituiert ist. Zur Veranschaulichung dient die Gegenüberstellung der Fuge von Bach und der Sonate Beethovens: erstere eine mathematische, architektonische Kompositionsform, letztere freier, geschichtlicher oder dialektischer, eine organische Form der musikalischen Bewegung. Nach Bloch besitzt die Sonate Beethovens einen Freiheitscharakter im Gegensatz zur mathematischen Bestimmtheit, die die Grundlage der Komposition der Fuge bildet. Beethovens Sonate ist für Bloch ein entscheidender Moment der Selbstbestimmung im musikalischen Streit.³⁴ Bloch verteidigt daher trotz der formalen Kunsttendenzen jener Zeit die Auffassung, dass „nicht die Mathematik also, sondern die Dialektik das Organon der Musik ist“,³⁵ weil die Dialektik der Streit selbst, und nicht irgendeine einseitige Auflösung ist. Vom Standpunkt des heutigen musikalischen Verständnisses wäre die Verteidigung der Dialektik, mit ihrer syllogistischen Qualität, als Organon der Musik problematisch, denn Musik hat zusammen mit vielen anderen Formen der ge-
Bloch 1974, 268. Bloch 1974, 279: „Der Hauptsatz der Sonate ist derart eine Kadenz allergrößten Stils, ja ein Syllogismus; der bekräftigte Sieg ihres Themas, nachdem die Durchführung, die Sphäre der Differenz ihr genetisches Werk getan hat, entspricht mutatis mutandis durchaus dem konkreten Ergo des logischen Schlußes. Der Syllogismus aber ist die erste Form der dialektischen Methode, so wie diese selbst genau die nochmals nachgedachte Methode des Prozesses selber ist, diesen in Musik und Philosophie immer stärker intensivierend. Die angelangte Musik schließlich liegt rein erst hinter der Sonate, ist Ontologie von Musik, die Subjekt-Objekt-Identität endlich mit voll benennender Sprache in ästhetischer Sphäre nahelegend.“ Bloch 1974, 278.
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genwärtigen Kunst seit langem von allen sinnvollen, syllogistischen Absichten abgelassen. Mit der in der Industrialisierung hervorgebrachten großen Liquidation der Traditionswerte und mit der Emanzipation der Künste von dem geistig vereinten Horizont des Wort-Elements (des Begriffs) haben sich die musikalischen Elemente zunächst von der Aufgabe befreit, Ausdrucksmittel für bestimmte Vorstellungen oder Gefühle zu sein, und sich damit auch von der allgemeineren Absicht, sinnhaft, d. h. syllogistisch, zu sein, emanzipiert. Mit der Atonalität erreichte die musikalische Form ihre vollständige Unabhängigkeit von der Mathematik, von Begriffen oder Gefühlen. Sie gewann dadurch ihre vollständige und konkrete Selbstbezüglichkeit und somit auch ihre vollständige „Sinnlosigkeit“. Die Künste haben sich vom Horizont der Sinnhaftigkeit im Allgemein emanzipiert, entsprechend der Sinnlosigkeit der Selbstreproduktion der industriellen Gesellschaft. Abschließend möchte ich noch einmal hervorheben, dass es eben der vorindustrielle Zustand des Zeitalters Hegels war, der jener anthropologischen Wahrheit, nach welcher das geistige Wort-Element vorausgesetzt werden musste, um die Sinnhaftigkeit der Produkte jener sinnhaften Kultur zu interpretieren, noch theoretische Geltung und Wirksamkeit erlaubte. Auf der anderen Seite aber sind die künstlerischen Produktionen des industriellen Zeitalters, das sich gerade nach Hegels Tod in West-Europa radikalisiert hat, daher notwendig von der Sinnlosigkeit der entsprechenden Form gesellschaftlicher Reproduktion vorausgesetzt. Sie können nur vor dem Hintergrund ihrer vollständigen Sinnlosigkeit Sinn und Bedeutung haben. Somit darf dieser Verzicht auf Sinnhaftigkeit nicht als etwas nur Negatives verstanden werden. Er stellt auch eine Möglichkeit dar, einen neuen Sinn für etwas zu schaffen. Sinnlosigkeit ist sogar zur Bedingung einer neuen Sinnhaftigkeit geworden. Ein Horizont der Sinnlosigkeit ist daher Bedingung sowohl für die Freiheit und Autonomie jeder Kunstform, als auch für eine nichtkonservative Kunstkritik. Benjamin zeigte bereits in seinem Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920), dass die Voraussetzung der Vollständigkeit bzw. Sinnhaftigkeit jedes Kunstwerkes eine Bedingung des romantischen Begriffs der Kunstkritik war. Heutzutage ist dagegen ein Horizonts der Sinnlosigkeit, verstanden als Unvollständigkeit des Sinns, zur Bedingung gegenwärtiger Kunstkritik geworden. Daran anschließend kann man im Hinblick auf die zeitgenössische Kunstproduktion vorsichtig annehmen, dass im Zuge der Entwicklung einer gewissermaßen nach-begrifflichen, nach-geistigen Zeit die Künste davon befreit werden, nur als ästhetische Mittel für begriffliches (mathematisches oder dialektisches) Denken zu dienen. Damit entsteht vielleicht erstmals die Möglichkeit einer ästhetischen Selbsterfahrung des Denkens, das sich so nicht nur als vor-begriffliches, sondern vielmehr als nach-begriffliches ästhetisches Wissen zeigen könnte.
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Literatur Asmuth, Christoph (2007): „Was bedeutet Musik? Eine kritische Untersuchung musikalischer Referenz“, in: Ulrich Tadday (Hg.), Musikphilosophie, München: Richard Boorberg Verlag, 70 – 86. Benjamin, Walter (1974): „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften I, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 431 – 510. Bloch, Ernst (1974): „Über das mathematische und dialektische Wesen in der Musik“, in: Zur Philosophie der Musik, hg. von Karola Bloch, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 267 – 279. Habermas, Jürgen (1968): Wissenschaft und Technik als ‚Ideologie‘, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970a): Wissenschaft der Logik I, in: Werke Bd. 5, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970b): Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Werke Bd. 15, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1998): Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho), hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert (Vorlesungen Bd. 2), Hamburg: Meiner.
Damián Jorge Rosanovich
Sinnlichkeit und Volksreligion beim jungen Hegel In seiner Schrift „Fragmente über Volksreligion und Christentum“ (1793 – 1794) thematisiert Hegel zwei grundsätzliche Fragen in Bezug auf den Sinnlichkeitsbegriff. Zum einen setzt er sich mit der Verstandesphilosophie in Zusammenhang mit Funktion und Bedeutung der Sinnlichkeit auseinander. In diesem Kontext ist für Hegel die Relevanz der Sinnlichkeit maßgeblich, die als ein ästhetisches Wissen interpretiert wird. In der Volksreligion spielt Sinnlichkeit eine wichtige Rolle, weil sich diese Religion auf Bilder, Phantasien und visuelle Zeremonien gründet. Deshalb lehnt Hegel die Verstandesphilosophie ab, welche die Sinnlichkeit unterschätzt. Zum anderen findet die Debatte um die Bedeutung der Sinnlichkeit ‚in sich selbst‘ statt. Der junge Hegel behauptet, dass die Sinnlichkeit nicht nur eine Bedeutung in Bezug auf die Volksreligion oder die Volkserziehung hat, sondern auch in sich selbst. Tatsächlich ist die Sinnlichkeit die Grundlage für die Welt der Phantasien und Bilder, und sie sollte in ihrer Beziehung zur Vernunft und nicht gegen die Vernunft gerichtet interpretiert werden. In den folgenden Abschnitten soll diesen beiden Punkten nachgegangen werden, um folgende zwei Fragen zu beantworten: (a) in welcher Beziehung stehen die Konzepte der Sinnlichkeit und des Verstandes zueinander, und (b) welche Bedeutung hat die Sinnlichkeit in Bezug auf die Volksreligion (d. h. Phantasie und Zeremonien)?
1. Einleitung In der vorliegenden Arbeit beschäftigen wir uns mit dem Begriff der Volksreligion im Werk des jungen Hegels. Die Volksreligion wird insbesondere in seiner Abhandlung Fragmente über Volksreligion und Christentum thematisiert. Obgleich man dieses Thema nicht in den Hauptwerken Hegels finden kann, kann es zum Verständnis der Entwicklung seiner Philosophie (im Besonderen seiner politischen Philosophie) beitragen. Der Begriff der Volksreligion ist in einer noch herauszuarbeitenden Weise mit der Tradition der „religion civile“ (Zivilreligion) verbunden.¹ Das Hauptproblem ist folgendes: Wo zieht ein bestimmtes Gemein-
Zur geschichtlichen Perspektive der „Zivilreligion“ vgl. Beiner 2011; Walther 1996, 25 – 61 und Gatti 2008.
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wesen oder eine Gesellschaft die Grenze zwischen dem, was religiös ist und dem, was es nicht ist? Diese Frage behandelt das Konzept der Volksreligion. Dabei war das Thema zu Zeiten der konfessionellen Kriege im 16. und 17. Jahrhundert selbstverständlich sehr umstritten. Man sollte nicht vergessen, dass die zwei bedeutendsten Texte der frühmodernen Staatstheorie vor dem Hintergrund von konfessionellen und Bürgerkriegen entstanden sind. Wir beziehen uns auf Les Six Livres de la République (1576) von Jean Bodin, die im Kontext der Bartholomäusnacht geschrieben wurden (1572), und auf den hobbesschen Leviathan (1651), der im Kontext des englischen Bürgerkriegs (1642– 1649) geschrieben wurde. Aus diesem Grund kann die Neutralisierung religiöser Konflikte als die Hauptaufgabe der frühmodernen Staatstheorie angesehen und mit den Gedankengängen von Hobbes, Spinoza und in gewisser Hinsicht auch Locke in Zusammenhang gebracht werden. Wie Manfred Walther zusammenfasst: „Sie setzen voraus, dass der Prozess der Trennung von Religion und Politik bereits im Gange und dass er irreversibel ist, und sie sind daher bestrebt, bewusst und systematisch die jenseitige Legitimation politischer Ordnungsmuster (weiter) zu destruieren und durch rational-funktionale Ordnungsmuster zu ersetzen“.² Im 17. Jahrhundert findet daher die Debatte statt, ob eine politische Ordnung ohne religiöse Grundlagen begründet werden könnte. In der Diskussion kristallisieren sich Positionen heraus, welche diese Ordnung ohne religiöse Grundlage verteidigen,³ sowie auch Positionen, die dem widersprechen. Ein prominenter Vertreter letzterer ist z. B. Rousseau, der behauptet, dass „noch nie ein Staat gegründet worden ist, dem die Religion nicht als Grundlage gedient hätte“.⁴ Wir beabsichtigen, die Position des jungen Hegel darzustellen, der an eine religiöse Renovierung als eine Voraussetzung für eine politische Renovierung denkt.⁵ Die folgenden Überlegungen gliedern sich in drei Teile: Zunächst erfolgt eine kurze Darstellung von Hegels Volksreligionsbegriff im Verhältnis zu anderen Religionen, um darauf aufbauend das hegelsche Verständnis von Volksreligion in sich selbst darzulegen. Zum Schluss folgt eine kurze Zusammenfassung der entwickelten Ideen. Die Hauptthese des Beitrags lautet, dass Hegels Verständnis von Sinnlichkeit – in seinen Manuskripten aus den Jahren 1793/94 – als eine gnoseologische
Walther 1996, 29. Der Hauptrepräsentant dieser Theorie ist Pierre Bayle, der in seinen Pensées diverses sur la comète [1680] die Möglichkeit einer Atheistenrepublik diskutiert hat. Vgl. Bayle 1911, §§ 102– 113. Rousseau 1977, 200. Zur Auseinandersetzung des jungen Hegels mit Kant und Fichte um die Sinnlichkeit vgl. Bondeli 1997, 51– 72 u. 102– 115.
Sinnlichkeit und Volksreligion beim jungen Hegel
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Voraussetzung und Rechtfertigung der Volksreligion zu verstehen ist, ohne welche die Religiosität keine Grundlage hätte.
2. Volksreligion und Verstandesphilosophie Die Fragmente über Volksreligion und Christentum stellen die Beschaffenheit und die Verfasstheit der Volksreligion dar, indem sie den Einfluss der Verstandesphilosophie auf die Religion ablehnen. Hegel wehrt sich speziell gegen die Idee, die Religion könne moralisiert werden. Für Hegel sind Religion und Moralität zwei verschiedene Quellen der Normativität, die ein Individuum dazu anleiten, ein tugendhafter Bürger zu sein. Wenn aber die Religion zu einer moralischen Instanz reduziert wird, verliert man viele unterschiedliche Aspekte, die nur in einer Religion enthalten sind. Vor allem kann eine beliebige Religion nicht automatisch eine sittliche Renovierung schaffen. In diesem Zusammenhang unterscheidet der junge Hegel zwischen zwei verschiedenen Religionsarten, der objektiven und der subjektiven Religion: α) Unter objektiver Religion verstehe ich dies ganze System von dem Zusammenhange unserer Pflichten und Wünsche mit der Idee von Gott und der Unsterblichkeit der Seele – und ist also auch Theologie zu nennen, wenn diese sich nicht bloss mit der Erkenntnis des Daseins und der Eigenschaften Gottes beschäftigt, sondern dies in Beziehung auf die Menschen und die Bedürfnisse ihrer Vernunft tut […] β) Sofern diese Theorie nicht bloß in Büchern existiert, sondern die Begriffe von Menschen begriffen, die Liebe zur Pflicht und die Achtung vor dem moralischen Gesetz (sofern sie durch die Idee verstärkt werden) empfunden werden, sofern ist die Religion subjektiv.⁶
Hegel rückt dabei das Konzept der Tugend in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, besonders die Idee einer tugendhaften Gemeinschaft, die sich durch die Religion herauskristallisieren kann. Die objektive Religion wird gewissermaßen mit der Verstandesphilosophie verbunden, da sich der Verstand für rationale Erklärungen der religiösen Erscheinungen interessiert. Im Gegensatz dazu findet man die subjektive Religion, die in den Herzen der Menschen wohnt. In den Untersuchungen des jungen Hegels geht es um die Abwesenheit tugendhafter Beziehungen zwischen den Individuen und den Gesetzen, was letztendlich eine Organismuslosigkeit in der politischen Ordnung impliziert. Die objektive Religion trägt zu einer Verstärkung dieses Problems der mangelnden Innerlichkeit der Menschen und der atomistischen Verbindungen zwischen den Bürgern in der
Hegel 1970a, 70 f.
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Gesellschaft bei.⁷ Die objektive Religion wird als eine Sammlung von Pflichten von „außen“ wahrgenommen, während die subjektive Religion innerlich empfunden wird. Die Beziehungen zwischen den Individuen und deren Pflichten sind in beiden Religiositätsarten asymmetrisch. In der objektiven Religion sind die Pflichten abstrakte Gebote oder Befehle, deren direkte Beziehung zu den Individuen sich aus äußeren Umständen herleiten. Denn die Individuen müssen jene Verbindung zu sich erst selbst interpretierend herstellen, wobei diese Interpretation durch die Vernunft realisiert wird. Laut Hegel legt der Verstand (d. h. die Aufklärung) in diesem Kontext jede Irrationalität als bloßen Aberglaube oder Fetischismus aus. Tatsächlich interpretiert der Verstand die Volksreligion als Aberglaube, weil ihre Traditionen und Gewohnheiten (z. B. Zeremonien, Volksfeste) seinem Urteil zufolge irrational sind. Im Gegensatz dazu steht bei der subjektiven Religion eine Intensivierung der Beziehungen zwischen Gesetz und Individuum im Mittelpunkt, weil sie eine Gesinnung in den Bürgern erzeugt.⁸ Die Gesinnung wird zur subjektiven Basis für eine zivile und religiöse Tugend, weil sie ein Substrat für Gehorsam und Anerkennung des Individuums im Gesetz darstellt. In diesem Sinne ist die subjektive Religion der Grund für die Einheit zwischen jener „inneren“ Gesinnung und der objektiven Anerkennung des Gesetzes durch den Bürger. Erst dank dieser Einheit kann das Individuum tugendhaft sein,⁹ weil es nicht erst alles mit dem Verstand analysieren muss, sondern als Individuum zu spontanen Entscheidungen befähigt wird, ohne über jede Facette des Handelns nachdenken zu müssen. Zwar ist das Handeln somit spontan, aber nicht irrational.¹⁰ Für Hegel ist nicht entscheidend, dass der Verstand eine wichtige Rolle in den Entscheidungsprozessen spielt, sondern dass das Privileg oder die Vorherrschaft des Verstandes in der Rationalisierung der
Die sogenannte „Krise“ seiner Zeit wird von Hegel so charakterisiert: „Jetzt braucht die Menge, die keine öffentliche Tugend mehr hat, die weggeworfen im Zustande der Unterdrückung lebt, andere Stützen, anderen Trost, um eine Entschädigung für ihr Elend zu haben, das sie nicht zu vermindern wagen kann, – die innere Gewissheit des Glaubens an Gott und Unsterblichkeit muss durch äussere Versicherungen, durch Glauben an Menschen ersetzt werden, die mehr davon wissen zu können von sich die Meinung zu erregen wussten“ (Hegel 1970a, 99). „Dieser Zweck ist bei den Religionen aller Völker deutlich, sie haben alle das miteinander [gemein], daß sie sich immer darauf beziehen, die Gesinnung hervorzubringen,welche kein Objekt bürgerlicher Gesetze sein kann, – und sie sind besser oder schlechter, je nachdem sie, um diese Gesinnung, die Handlung gebiert, welche teils den bürgerlichen, teils den moralischen Gesetzen angemessen ist, hervorzubringen, je nachdem die Religion [mehr] mit ihren Schrecken auf die Einbildungskraft und durch diese auf den Willen, oder mehr durch moralische Triebfedern wirken will.“ (Hegel 1970b, 137 f.); vgl. Bourdin 2006, 179. Vgl. Lukács 1973, 148 ff. Zur Handlungstheorie vgl. Quante 1993, Kap. 1.
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Religion liegt. Mit anderen Worten: Hegel hinterfragt die Idee, dass alles durch eine causa efficiens erklärt werden muss. Die Religion greift in Aspekte ein, die durch das Nutzenkalkül oder den Verstand nicht nachvollzogen werden können.¹¹ Ihre Bedeutung formuliert Hegel folgendermaßen: „Wirkung der Religion ist Verstärkung der Triebfedern der Sittlichkeit durch die Idee von Gott als moralischem Gesetzgeber – und Befriedigung der Aufgaben unserer praktischen Vernunft in Ansehung des von ihr uns gesetzten Endzwecks, des höchsten Guts“.¹² Die (subjektive) Religion verfügt darüber hinaus über einen Aspekt, der nicht durch Moral oder Gesetz ersetzbar ist. Klaus Düsing erläutert: „Die subjektive Religion ist nach Hegel in der Bestimmung der Gefühle der Inbegriff der Triebfedern zu sittlichen Handlungen; nur durch subjektive Religion fühlt sich der Mensch veranlasst, das als sittlich Erkannte auch praktisch auszuführen“.¹³ Die subjektive Religion vereinigt also die verschiedenen getrennten Elemente in einer Gemeinschaft. Jede Person fühlt sich als Mitglied dieser Religion, weil sie dies von innen heraus fühlt. Solch eine Religiosität ist keine Reihe von Geboten oder Pflichten, die vom Himmel fallen und die von den Personen unbewusst befolgt werden müssen, sondern ein inneres Bedürfnis. Andernfalls wäre diese Religion kein spontaner Ausdruck des Menschen.
3. Die Bedeutung der Sinnlichkeit für die Volksreligion Sind die Individuen „bessere“ Personen, wenn sie klüger sind? Wie Hegel schon feststellte, impliziert Klugheit keine moralischen Folgen. Man könnte dem noch hinzufügen, dass aus einer pessimistischen Anthropologie – d. h. der Annahme, Individuen seien von Natur aus böse – herausgelesen werden könnte: Je klüger die Menschen, desto gefährlicher sind sie. Denn je intelligenter sie wären, desto mehr intellektuelle oder symbolische Werkzeuge stünden ihnen zur Verwirklichung ihrer Bosheit zur Verfügung.Wie kann man daher ein System von Voraussetzungen zur Erschaffung einer tugendhaften Gesellschaft bestimmen? Die Religion, wie oben bereits dargestellt, beinhaltet Elemente, welche durch die Geschichte und die ‚Rationalität‘ nicht abgedeckt werden. Das erste Moment ist die Sinnlichkeit: „Erschrecken wir also nicht, wenn wir zu finden glauben müssen, dass Sinn-
Hegel behauptet: „Aufklärung des Verstands macht zwar klüger, aber nicht besser“ (Hegel 1970a, 21). Hegel 1970a, 88. Düsing 1977, 31.
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lichkeit das Hauptelement bei allem Handeln und Streben der Menschen ist; wie schwer ist es zu unterscheiden, ob bloße Klugheit oder wirkliche Moralität der Bestimmungsgrund des Willens sei“.¹⁴ Die Sinnlichkeit stellt hierbei keine Opposition des Verstandes dar, sondern ein Komplement. Durch die Sinnlichkeit entstehen Bilder, welche vom Verstand lediglich als Aberglauben abgetan würden. Für Hegel ist entscheidend, dass die Volksreligion von jedem Mitglied des Volkes anerkannt wird. Deswegen muss die Volksreligion sich in einfachen Worten, Zeichen und Gesten ausdrücken, wodurch die Individuen eine spontane Identifizierung erlangen können. Die Volksreligion ermöglicht eine Gesinnung im Volk, die als innere Grundlage für die Normativität der Pflichten funktioniert.¹⁵ Diese Gesinnung ist der Schlüssel, der den Übergang von einer „Pflicht“ zu einer tugendhaften Handlung verwirklicht. Außerdem ist die Gesinnung die Basis für Spontanität, weil die Volksreligion ihren Ausdruck in den Gefühlen wiederfindet. So behauptet Hegel: Bei einer Volksreligion besonders ist es von der grössten Wichtigkeit, dass Phantasie und Herz nicht unbefriedigt bleiben, dass die erste mit grossen, reinen Bildern erfüllt und in dem letzteren die wohltätigeren Gefühle geweckt werden. Dass beide eine gute Richtung erhalten, ist um so wichtiger bei der Religion, deren Gegenstand so gross, so erhaben ist, wo beide sich zu leicht selbst Wege bahnen oder sich irreleiten lassen, entweder dass das Herz, durch falsche Vorstellungen und seine eigene Bequemlichkeit verführt, sich an Aussendinge hängt oder in niedrigen, falschdemütigen Gefühlen Nahrung findet und damit Gott zu dienen glaubt, – oder dass die Phantasie Dinge als Ursache und Wirkung verknüpft, deren Aufeinanderfolge bloss zufällig ist, und sich gegen die Natur außerordentliche Wirkungen verspricht.¹⁶
Es ist wichtig zu bemerken, dass Hegel nicht gegen den Verstand argumentiert. Er privilegiert das Herz, die Gefühle und die Phantasien als Medium für den Ausdruck der Volksreligion, aber er macht darauf aufmerksam, dass eine solche Religiosität ihre Risiken („die Irrationalität“) hat. Im Vergleich zu Rousseau, der in seinem Gesellschaftsvertrag die Zensur als Werkzeug zur Erhaltung der positiven oder tugendhaften Sitten vorsieht, schlägt Hegel keine feste Maßnahme des Staates vor, um Risiken der Volksreligion zu vermeiden. Dies mag damit zusammen hängen, dass Hegel in den Fragmenten noch keine Staatstheorie zu entwickeln versucht. Dennoch ist anzumerken, dass er die Volksreligion als die Antriebskraft erkennt,
Hegel 1970a, 10. Zur die Bedeutung der „Gesinnung“ bei Hegel vgl. Bourdin 2006, 179 ff.; Won 2002, Kap. 6. Hegel 1970a, 31.
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welche die „Triebfedern der Sittlichkeit“ verstärkt.¹⁷ Durch die Volksreligion werden die sozialen und sittlichen Bindungen verstärkt, um die antike Tugend der Republik wiedergewinnen zu können. In der Tat gibt die Religion der Moralität einen neuen „Schwung“ und einen neuen, stärkeren Damm, der sie „gegen die Gewalt der sinnlichen Antriebe“ schützt.¹⁸ Infolgedessen ist für Hegel die Volksreligion eine subjektive Religion, die auf drei Elementen basiert: (a) Phantasie, (b) Herz und (c) Sinnlichkeit. Während die Sinnlichkeit die subjektive Voraussetzung für die Vorstellungen (öffentliche Feste, Volksfeste, usw.)¹⁹ der Volksreligion ist, ist das Herz die emotive Bedingung dafür. Übrigens sind Phantasien das Medium, das eine spontane Vermittlung zwischen den Pflichten und den besonderen alltäglichen Situationen ermöglicht, in denen das Individuum ethisch handeln soll. Hegels Auseinandersetzung mit der Verstandesphilosophie expliziert sich hier in einem gnoseologischen, aber auch politischen Sinn. Die Ablehnung des Privilegiums des Verstandes in Bezug auf die sittliche Handlung ist eine Fortsetzung der hegelschen Gleichsetzung zwischen Verstand und Nutzenkalkül (vgl. z. B. seine spätere Debatte mit der Naturrechtsschule). Durch die Bedeutung des Herzens, der Phantasie und der Sinnlichkeit werden die Normen internalisiert. Die Beziehung zwischen Gesetz und Individuum ist darüber hinaus auch eine spontane, weil Normen empfunden und nicht nur verstanden werden. Diese Empfindung bildet gewissermassen die Grundlage für die Anerkennung der Normen durch die Individuen. Das impliziert aber nicht, dass der junge Hegel sich romantischen Motiven zuwendet. Hegel teilt hier nicht die Ansicht einer Vermittlungslosigkeit. In der Tat behauptet er, dass die Vermittlung²⁰ (in diesem Fall zwischen Individuen, Normen und Religiosität) die Grundlage für die Vollkommenheit und Rechtschaffenheit des tugendhaften Bürgers ist. Sowohl soziale als auch religiöse Pflichten werden von der Einheit zwischen der Gesinnung und der Sinnlichkeit unterstützt. Die hegelsche Philosophie präsentiert daher eine Auffassung gegen die Vermittlungslosigkeit zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Unter dem
Düsing behauptet, dass der Staat dieses Risiko (die Irrationalität der Volksreligion) regeln muss: „Die Volksreligion soll nach Hegel zwar den einfachen Grundsätzen der sittlichen Vernunft entsprechen; sie soll aber zugleich Einbildungskraft und Gefühl in Mythen mit schönen bildhaften Vorstellungen befriedigen, um allgemein wirksam sein zu können, sie soll also insofern ästhetische Religion sein. Ebenso muss die Volksreligion zu einer politischen Religion werden, die das sittliche Leben der Einzelnen in einem staatlichen Gemeinwesen gestaltet“ (Düsing 1977, 31). Hegel 1970a, 12. Vgl. Hegel 1970a, 40 f. Zum Vermittlungsbegriff beim jungen Hegel vgl. Niel 1945, Kap. 2.
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Sittlichkeitsbegriff entwickelt der reife Hegel eine Darstellung von juristischen, geschichtlichen, alltäglichen, moralischen und religiösen Aspekten, jedoch kann man diese Entwicklung in den Fragmenten noch nicht finden. Obwohl man keine klare Darstellung dieses Begriffs beim jungen Hegel vorfinden kann ist es bereits möglich, eine ähnliche Struktur in der Volksreligion zu entdecken. Zwar formuliert der junge Hegel keine Staatstheorie, aber man kann ihm bereits in den Fragmenten einen Aufhebungsversuch für die Vermittlungslosigkeit durch die Volksreligion zugestehen. Wie die Sittlichkeit die Grundlinien der Philosophie des Rechts vermittelt, ist in der Tat die Volksreligion die Vermittlung zwischen den Normen (positives Gesetz und religiöse und moralische Pflichten) und den Handlungen der Individuen. Jede tugendhafte Handlung hat als Basis die Gesinnung des Individuums, und diese Gesinnung ist nur möglich aufgrund der Rolle, die die Sinnlichkeit in den Vorstellungen der Volksreligion einnimmt. Auf diese Weise bildet die Volksreligion eine Übereinstimmung zwischen objektiven und subjektiven Aspekten. Auf der einen Seite sakralisiert solch eine Religiosität Aspekte des alltäglichen Lebens, die in der Volksreligion Zeremonien genannt werden. Solche Zeremonien und Volksfeste sind das Milieu, das eine Verinnerlichung der Normen ermöglicht. Andererseits verwirklicht aber die Volksreligion die Gesinnung, die eine tugendhafte Beziehung zwischen Individuen, Autorität und Normen gewährleistet.
4. Schluss Der junge Hegel geht von einer Auseinandersetzung zwischen objektiven und subjektiven Religionen aus, um die Ansätze der Verstandsphilosophie zu kritisieren. In den Fragmenten über Volksreligion und Christentum wird die Volksreligion als eine Vermittlung zwischen Normen, Pflichten und Individuen thematisiert. In der Tat ist die Volksreligion eine subjektive Religion, weil sie sich auf die Bedeutung des Herzens, der Phantasie und der Sinnlichkeit gründet. Durch eine solche Religiosität werden „Pflichten“ empfunden, während bei objektiven Religionen solche Beziehungen nur verstanden werden. Die Rolle der Sinnlichkeit ist dafür maßgeblich, weil Zeremonien und Volksfeste eine sinnliche Grundlage benötigen. Solch eine Religion ist von vornherein eine öffentliche Religion, da das Volk an gemeinsamen Ritualen teilnimmt. Durch die Gesinnung verbindet eine öffentliche Religion den privaten Raum des Bürgers mit der Öffentlichkeit, die Pflichten mit den tugendhaften Handlungen, das rationale Verständnis der Normen mit der Sinnlichkeit und Phantasie des Volkes. Aufgrund der Volksreligion kann das Individuum fühlen, dass es in einer wirklichen Gemeinschaft lebt und nicht in einer Nebeneinanderstellung von verschiedenen zugestandenen Mög-
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lichkeiten und willkürlichen Verboten. Die Volksreligion ermöglicht einen spontanen Übergang zwischen Pflicht und Gehorsam, sie vereinfacht eine Verinnerlichung der Gesetze in den Mitgliedern, die in einem Gemeinwesen zusammenleben, und sie gibt dem Individuum die Möglichkeit, einer Allgemeinheit anzugehören. Solche religiöse Formen sind die Voraussetzungen, auf denen eine Gesellschaft basiert. Zwar tragen sie in sich selbst eine eigene Bedeutung, aber ihre Wichtigkeit ist nicht nur reduziert auf ‚Funktion‘ und ‚Nützlichkeit‘ im Bezug auf eine politische Ordnung. Die Absicht Hegels besteht in einer reinen Betrachtung der politischen Ordnung im Staat unter der Voraussetzung, dass solch einer Ordnung ethische Werte zugrunde liegen. Der Staat ist demnach kein bloßes Milieu, um das private Eigentum und die Sicherheit des Individuums zu garantieren. Hegel sucht eine sittliche Anerkennung der politischen Ordnung durch den Bürger, nicht eine utilitaristische Verbindung zwischen den Individuen und dem Staat. In diesem Kontext ist die Religion ein hypokéimenon, eine Basis, deren Werte keine Beziehung zum Nutzenkalkül und den Leistungen der Wirtschaft haben. Das impliziert nicht, dass Hegel eine politische Manipulation der Religion vorsieht. Die strukturelle Beschaffenheit der Volksreligion ist die einer Normativitätsquelle, welche die sozialen und politischen Verbindungen stärkt. Dieses credo minimum ist die niedrigste Sozialitätsstufe, die ein Bürger aufweisen muss, um ein tugendhafter Bürger sein zu können.
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Damián Jorge Rosanovich
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4. Teil Postmoderne Perspektiven
Andreas Jacke
Berühren und Begreifen Ein Vergleich zwischen zwei Vermittlungsvorgängen in den philosophischen Ansätzen von Derrida und Hegel „Erst jenseits der Unmittelbarkeit des Empfindens und der äußerlichen Gegenstände ist die echte Wirklichkeit zu finden.“ (Hegel)¹ „Statt findet, um zu ersetzen und weil es ersetzt – durch die Tatsache, daß es ersetzt, und in der Absicht zu ersetzen: Statt findet durch Ersetzung: das Stattfinden ersetzend.“ (Derrida)²
Am Anfang sei hier erwähnt, dass Walter Benjamin Berthold Brechts episches Theater als eine Form der Unterbrechung gekennzeichnet hat.³ Und Ähnliches gilt seiner Ansicht nach für alle Zitate: „Einen Text zitieren schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen“,⁴ schreibt Benjamin. Unterbrechungen im epischen Theater richten sich demnach gezielt gegen die theatralische Illusion, gegen jede lineare Narration. Sie lösen den Betrachter aus dem dramatischen Verlauf und zwingen ihn, anstatt sich unterhalten zu lassen, zur Reflexion. Aus Texten zu zitieren heißt demnach Sätze aus ihrem bisherigen Verlauf herauszulösen, um sie in einen neuen Kontext zu stellen. Ein solches Experiment einer ungewöhnlichen Verknüpfung soll hier mit zwei Begriffen von Hegel und Derrida durchgeführt werden. Auf die Seite von Derridas Philosophie der Dekonstruktion gehört die Berührung – auf die Seite von Hegels System das Begreifen. Ich verstehe dabei unter Begreifen etwas mehr als das Wort im gewöhnlichen deutschen Sprachgebrauch hergibt: Ich verknüpfe es, wie es schon häufiger geschehen ist, mit dem Begriff (Logos), der in Hegels Denken die eigentliche philosophische Bewegung ausmacht. Es geht ihm darum, die Dinge auf den Begriff bringen zu wollen. „Das Element des Wahren ist der Begriff“.⁵ Dieses auf den Begriff bringen wollen hat eine Qualität, die Jacques Lacan durch seine Hervorhebung der symbolischen Ordnung stets markiert hat. Aber auch Derrida steht als jemand der stets mit Worten operiert natürlich der Qualität von Begriffsbildungen nicht konträr gegenüber. Vielmehr versucht er den Logozentrismus durch seinen eigenen Ansatz zu ergänzen. Er versucht dieses Zentrum,
Hegel 1970b, 22. Derrida 2007, 282. Vgl. Benjamin 1991, 521. Benjamin 1991, 536. Hegel 1970a, 5 [Inhaltsverzeichnis].
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welches der ausschließliche Vorrang eines begrifflichen Verstehens wäre, aufzulösen, ohne dazu in eine Opposition zu treten. Berühren und Begreifen sind demnach für Derrida keine Gegensätze. Ein weiterer Blick zur Seite sei mir kurz gestattet. Obwohl es naheliegend wäre, wenn es um das Berühren geht, auch Sigmund Freuds Überlegungen zur Berührungsangst innerhalb der Zwangsneurose einfließen zu lassen, werde ich diesen ganzen Schwarm von Argumenten und Überlegungen hier auslassen. Darüber findet man sehr viel in Totem und Tabu (1913). Es gibt ein Berührungstabu innerhalb des Zwangs, das sehr weitreichende Folgen hat. Ich werde dieser psychoanalytischen Spur aber hier nicht weiter nachgehen, weil sie wegführen würde von meinem eigentlichen Thema, dem Unterschied und den Gemeinsamkeiten zwischen dem Berühren und Begreifen. Ein Beispiel für den gemeinten Zusammenhang entnehme ich dem allgemeinen Verständnis, und zwar in einer sehr saloppen Form. Es handelt sich um den Mythos von Marilyn Monroe, den ich bereits in einem anderen Text ausführlicher beschrieben habe.⁶ Es gab über das Phänomen Monroe immer wieder die Aussage, dass wir nicht begreifen können, wie sie das macht, eine solche enorme Wirkung zu erzielen. Und zugleich fühlten sich viele Zuschauer gerade von dieser Filmschauspielerin sehr berührt. Der Mythos, der um Monroe geschmiedet wurde, lässt sich also konkret in die Formel bringen: Gerade weil sie uns so sehr, so tief berührt können wir nicht verstehen warum! Das Berühren, in dem Wort schwingt Rührung mit, also eine hochgradig emotionale Relation, steht ganz klassisch in einem Gegensatz zum Begreifen. Die Rührung zählt zur Romantik – das Begreifen ist ein Postulat der Aufklärung. In der Berührung findet eine Verschmelzung mit dem Gegenstand statt, das Begreifen setzt immer eine Distanz zu seinem Gegenstand voraus. Berühren ist intim – Begreifen, Erfassen ist distanziert. Berühren heißt demnach sehr Nahe kommen – während Begreifen immer etwas von Beherrschen, an sich Reißen hat. Zugleich bedeutet Begreifen aber auch introjizieren, in sich aufnehmen, eben Verstehen. Im Greifen von Be-greifen steckt auch die Variante des Angreifens mit drin. Begreifen heißt also auch umfassen, in den Griff bekommen, während das Berühren eher den Kontakt betont, die körperliche Nähe und das Fühlen, Erfühlen.
Jacke 2013, 206 ff.
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1. Heideggers Hand Unser Greiforgan ist primär die Hand. Wir erfassen die Dinge mit der Hand. Hier setzt nicht nur Heideggers Wortwahl von der Vor- und Zuhandenheit ein, sondern, wie Derrida betont, in seiner gesamten Philosophie privilegiert Heidegger die Hand. Heidegger wendet sich damit auch gegen Hegel. Für Heidegger ist die Hand kein Instrument, das nur als Werkzeug dient, um im Durchgang durch den Geist sich selbst aufzuheben. Hegel hebt im Grunde durch die Arbeit am Begriff sogar den sinnlichen Akt des Begreifens auf, behauptet Derrida in seinem Aufsatz Heideggers Hand. ⁷ Wenn man genauer hinschaut hebt sich also das Begreifen bei Hegel im Begriff selbst auf. Es löst sich ab von jeder sinnlichen Erfahrung. Die Hand, die Heidegger denkt, ist anders. „Die Hand denkt, bevor sie gedacht wird, sie ist Denken, sie ist ein Gedanke, sie ist das Denken“.⁸ Die Hand wird hier also nicht als ein Instrument des Begreifens gedacht, sondern Derrida assoziiert sie mit seinem Begriff der Gabe, „einer Gebung, welche – wenn so etwas möglich ist – geben würde, ohne etwas zu nehmen. Wenn die Hand auch ein Greiforgan*⁹ ist – niemand kann das ableugnen –, so hat sie doch nicht darin ihr Wesen; dieses ist nicht das Wesen der Hand beim Menschen.“¹⁰ So kommentiert Derrida Heideggers Ansatz. Dieser Ansatz scheitert jedoch daran, dass Heidegger das Denken der Hand unbedingt wieder mit der menschlichen Sprache, dem Logos verbindet. Für ihn hat das Tier deshalb auch keine Hand: „Nur ein Wesen, das spricht, d. h. denkt, kann die Hand haben und in der Handhabung Werke der Hand vollbringen“ zitiert Derrida Heidegger.¹¹ Heidegger denkt demnach also die Hand niemals unabhängig von der Sprache und sogar, wenn man wie Derrida genauer hinschaut, auch nicht unabhängig vom gesprochenen Wort, von dem Heidegger direkt allerdings nie spricht.¹² Er bleibt damit in der Tradition des Logo- und Phonozentrismus. Auf der anderen Seite gesteht er allerdings zu, dass die Seinsfrage und die Möglichkeit des Begriffs von Sein „aus dem vorbegrifflichen Seinverständnis“ kommen.¹³ Er denkt so zwar das Sein im Horizont vorbegrifflicher Erfahrungen – er denkt jedoch die Berührung durch oder mit der Hand nicht als solche, sondern immer die Hand im Handeln im Sinne eines Handwerks. Die Zuhandenheit begreift das Vorhandene. Eine Denkfigur wie die folgende ist aber schon bei Heidegger vorstellbar:Was mich Vgl. Derrida 2005, 63. Derrida 2005, 62. * Ein Sternchen bedeutet durchgehend: im Original deutsch. Derrida 2005, 63 f. Derrida 2005, 66. Vgl. Derrida 2005, 75 u. 77. Zit. aus Derrida 1976, 212.
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rührt, kann ich nicht begreifen, weil es sich mir durch seine Andersheit im Zugriff entzieht. Derrida hat zwar hervorgehoben, dass die Figur des „Sein lassen“ bei Heidegger einen deutlichen Bezug zur Philosophie des Anderen bei Levinas aufweisen kann.¹⁴ Dennoch fehlt bei Heidegger gerade die Dimension des Anderen. Seine Fundmentalontologie bleibt in der „Selbstgenügsamkeit des Seins befangen“.¹⁵ Für Levinas ist die Zeit der Andere, weil sie unvorhersehbare Ereignisse enthält, die uns mit einer völligen Andersheit konfrontieren.¹⁶ Derrida folgt darin weitgehend Levinas und setzt diese Dimension des Anderen in seiner eigenen Philosophie permanent fort. Er unterlässt es jedoch, die Metaphysik des Gesichts bei Levinas weiterzuführen. Sie taucht in seinen umfassenden Überlegungen zur Berührung nicht einmal auf.
2. Der Vorrang des Berührens bei Nancy und Aristoteles Derridas Buch über die Berührung Berühren, Jean-Luc Nancy (2000) ist demnach auch nicht Levinas, sondern Nancy gewidmet. Dieser enge Freund nimmt darin für Derrida eine Schlüsselrolle ein unter den Phänomenologen. Für Nancy stellt das Berühren im künstlerischen Akt eine höhere Qualität dar als das Begreifen. Er beschreibt den Zusammenhang etwas umständlich für den Vorgang des Schreibens: Wer „schreibt, der berührt nicht, indem er anfaßt, in die Hand nimmt, begreift,* sondern er berührt, indem er sich richtet, sich sendet an die Berührung eines Draußen, Entwendeten, Auseinandergerückten, Angespannten.“¹⁷ In der Berührung liegt der Akzent auf dem In-Kontakt-treten, nicht auf dem Verstehen. Und dennoch ist zugleich das Berühren selbst ein Verstehen. Und diese Art, diese Form von Verständnis wird gern vergessen. Wird man also sagen können das Berühren geht dem Begreifen unbedingt voraus? Das Begreifen ist eine zweite Bewegung nach dem Berühren. Das Berühren wird rasch als oberflächlich verstanden, weil es scheinbar nur die Sinne prägt, aber den Gegenstand nicht kognitiv versteht. Das Berühren ist mit der Sinnlichkeit konnotiert, das Verstehen mit dem Geist. Den Dualismus zwischen diesen beiden Bereichen wollten Heidegger, Derrida und Nancy auflösen. Jeder auf seine Art, doch niemals unabhängig voneinander.
Vgl. Derrida 1976, 208. Stegmaier 2009, 32. Vgl. Stegmaier 2009, 33. Nancy 2003, 20.
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Für Nancy ist das Berühren immer gerichtet auf den Körper eines fremden Anderen. Und dabei ist es bereits das Berühren selbst, welches den Gegenstand erfasst: Der Körper ist keine reine einfache Außenseite/Oberfläche gegenüber dem Sinn, nicht als irgendwie geartete, intakte unberührbare Materie in einer unwahrscheinlichen Transzendenz eingemeißelt, die in dieser dichtesten Unmittelbarkeit eingeschlossen wäre.¹⁸ Der Körper ist selbst der Sinn. Er ist nicht der Träger des Sinns. Er ist der Teil des Sinns. Gegen Hegels Vorstellung einer Fleischwerdung des Sinns, die sich konkret an die Figur von Christus heftet, erklärt Nancy: „Der Körper des Sinns ist keinesfalls die Fleischwerdung einer Idealität des Sinns: Er ist im Gegenteil das Ende dieser Idealität, folglich das Ende des Sinns“.¹⁹ Inwiefern? Welchen Sinn hat der Körper? „Der Körper exponiert, einfach und absolut, den Einbruch des Sinns, der die Existenz konstituiert.“²⁰ Der Körper ist! Dieser Satz lässt sich in Paraphrase lesen zu Heideggers berühmten Ausspruch, dass die Sprache das Haus des Seins ist. Doch während Heideggers Satz auf das Begreifen, die Begriffe, die Symbole, eben auch hier erneut auf die Sprache abzielt, ist bei Nancy nun die Rede von einem anderen Haus, dass die Existenz beherbergt, dem Körper. Und der Körper wird zunächst und in seiner existenziellen Dimension durch das Berühren bereits begriffen. Es gibt also ein Begreifen, das im Berühren selbst stattfindet. Ein Begreifen, das der Körper selbst wäre dadurch, dass er existiert. Er wird begriffen, weil er ist. Man könnte hinzufügen: weil er endlich ist. Was ist das für ein Körper, der mit dem Berühren so eng verknüpft ist? Er ist ein Zwischenraum, ein Aufbruch und er ist radikal und offensichtlicher als alles Andere der Zeitlichkeit unterworfen. „Der Körper ist das Exponiert-Sein des Seins“, schrieb Nancy.²¹ Er beinhaltet das Werden und den Tod. Deshalb sind das Denken und der Körper nicht zwei getrennte Ebenen. Sie berühren sich für Nancy gegenseitig. Derrida erläutert in seinem Buch über das Berühren den folgenreichen Diskurs, den Aristoteles in der Philosophiegeschichte über dieses Motiv hinterlassen hat. Dem Berühren kam so seit der antiken Philosophie stets eine exponierte Stellung zu. Das Berühren ist für Aristoteles keine Sinneswahrnehmung unter anderen. Es ist vielmehr das entscheidende Sinnesorgan. Der Tastsinn stiftet eine Sinneinheit. Er fasst die anderen Sinne zusammen. In dem Buch des Aristoteles Über die Seele (eigentlich besser übersetzt als Über die Psyche) erläutert der griechische Philosoph den Zusammenhang zwischen Körper und Geist. Die Seele
Vgl. Nancy 2003, 25. Nancy 2003, 25. Nancy 2003, 26. Nancy 2003, 34.
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ist für ihn kein eigenständiges Wesen, das unabhängig vom Körper existiert. Die Seele ist dessen Form. Sie verhält sich wie das Augenlicht zum Auge. Aristoteles betont vor allem die Gegenwärtigkeit der Seele (Psyche). Ihm geht es um das Umschlagen in die Lebendigkeit, das der Körper ist. Dieser Punkt ist es auch, in dem sich die Seele in der konkreten Berührung verifiziert. Besonders wichtig erscheint Derrida die Priorität des Tastsinns, ohne den es für Aristoteles keine andere Sinneswahrnehmung geben kann.²² Das Berühren hat demnach schon früh einen Sonderstatus. Damit wird die Stellung des Sehens, die alle unsere Metaphoriken über den Erkenntnisvorgang prägen, zumindest etwas beiseite geschoben. Heidegger hat sich dieser Metaphorik in Bezug auf die Wahrheit immer wieder bewusst bedient.²³ Das Berühren ist aber bei Aristoteles wichtiger als das Sehen. Es geht nicht nur dem Begreifen, sondern auch dem Sehen voraus. Es hat das Sehen erst ermöglicht. Es gibt demnach laut Derrida eine „‚taktilistische’ oder ‚haptozentrische’ Tradition“, die bis zu Husserl reicht.²⁴ Eine Tradition, die also bis in die Phänomenologie hinein reicht. Und die Phänomenologie hat sich nicht durchgängig von den Strukturen, die diesem tradierten Denken einer Privilegierung der Berührung innewohnen, in seinen metaphysischen Strukturen verabschiedet. Im Gegenteil: Sie bleibt über weite Strecken in dem aristotelischen Ansatz involviert. Das Hauptproblem dabei ist, dass es zu dieser Tradition gehört, dem Berühren den Stellenwert eines unmittelbaren Erfassens, einer unmittelbaren Erfahrung zuzuschreiben. Ohne Unterbrechung, ohne Bruch und ohne Zwischenraum. Das Begreifen wird bei Hegel zur Arbeit am Begriff. Es löst sich so von einem unmittelbaren, sinnlichen Vorgang ab. Es wird aufgehoben im kognitiven Begreifen. Es ist damit weit davon entfernt, einfach nur ein haptischer Vorgang zu sein. Vielmehr besteht die wirkliche Leistung in einem kognitiven Prozess, an dessen Anfangspunkt die taktile Wahrnehmung stand. Ästhetisches Wissen wäre demnach ein Wissen, das sich zunächst durch die Berührung im Körper abspeichert, bevor es dann in einem zweiten Vorgang durchgescannt und analysiert wird. Erst dieser zweite Prozess führt zum Begreifen eines Kunstwerks. Dabei werden aber Körper und Geist getrennt betrachtet. Es gibt einen Schnitt, der der Schnitt des Leib/Seele Problems im abendländischen Denken wäre. Ich werde im letzten Abschnitt noch zeigen, wie anders die Auffassungen von Nancy und Derrida sind, die im Berühren selbst bereits einen Bruch markieren, eine Unterbrechung auf-
Vgl. Derrida 2007, 33. Vgl. Heidegger 1993, 147. Derrida 2007, 56.
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zeigen wollen. Doch bevor ich diesen Punkt konkret ausführe, möchte ich zunächst Hegels Verständnis des Begreifens aus der Perspektive Derridas vertiefen.
3. Das Begreifen und die Aufhebung bei Hegel (in der Interpretation von Derrida) Derrida benutzt in Glas (Totenglocke, 1974) das französische Wort aigle (Adler), um den deutschen Philosophen zu charakterisieren. Der Name Hegel ist im Französischen homophon mit aigle. Ein Adler ist derjenige, der in den Lüften kreist, weit über uns, viel höher, über unseren Köpfen, hoch am Himmel. Ein Adler erhebt sich zum Himmel sowie Christus bei seiner Himmelfahrt. Er transzendiert. Und ist das gesamte Konzept der hegelschen Aufhebung nicht das einer Transzendierung? Geht es dabei nicht darum, stets das außer Kraft zu setzen, was man erhebt? Das ist für Derrida der Sinn von Hegels Mechanismus der Aufhebung.²⁵ Hegel verhält sich wie ein großer Vogel, der seine Jungen an diesen Flug des Geistes gewöhnen will. Sie fliegen aber nicht selbst. Sie fliegen nur auf seinen Schwingen mit.²⁶ Die Logik des Begriffs ist die von einem Adler.²⁷ Die Aufhebung der Sache ist ihre Negation durch die „Anstrengung des Begriffs“, wie es in der Phänomenologie des Geistes heißt.²⁸ Einen Gegenstand denken, ihn begreifen, fällt hier endgültig weit ab von allem, was mit Berührung gemeint ist. Ihn mit dem Logos verknüpfen ist ein gänzlich anderer Vermittlungsvorgang als ihn zu berühren und seine Existenz wahrzunehmen. Es ist bekannt, dass Derrida immer wieder den Logozentrismus innerhalb der abendländischen Philosophie kritisiert hat. In seiner Kritik ergänzt er Heideggers Ansatz mit der Philosophie von Emmanuel Levinas, wobei nun der Andere als feststehende Kategorie ins Spiel kommt. Der Logos kann den Weg zum Anderen nicht begreifen; der Andere hat jedoch die Denkart des Logos erst ermöglicht. So schreibt Derrida in einem frühen Aufsatz über Levinas gegen Hegels absolutes Wissen: „Definitionsgemäß kann kein Logos als absolutes Wissen den Dialog und den Weg zum Anderen begreifen, wenn der Andere der Andere ist und wenn alle Sprache für den Anderen ist.“²⁹ Die Andersheit des Anderen ermöglicht eine Berührung mit ihm, die immer wieder ein neues Begreifen erfordert. Der Andere lässt sich weder
Derrida 2006a, 54. Derrida 2006a, 61. Derrida 2006a, 64. Hegel 1970a, 56. Derrida 1976, 150.
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abschließend auf den Begriff bringen noch denken. „Ohne Vermittler und ohne Kommunion, ohne Mittelbarkeit noch Unmittelbarkeit, das ist die Wahrheit unseres Verhältnisses zum Anderen, der der traditionelle Logos auf immer abweisend entgegensteht.“³⁰ Und die Wahrheit dieses fundamentalen und paradoxen Bezugs zum Anderen ist für Derrida keine Sentimentalität, sondern geht jeder Art Logik als Erfahrung voraus. Es wäre nun spannend, im größeren Umfang zu zeigen inwiefern der Logos dem Verstehen des Anderen entgegensteht. Soviel möchte ich an dieser Stelle dazu schreiben: Das Berühren als Berühren taucht im Logos nicht auf. Darin versteckt ist die Rechtfertigung von Derridas und Levinas eigentümlichen Sprachstil, der sich rein logischer Argumentationen immer wieder entzieht. ³¹ Bei Hegel ist die Aufhebung selbst das Problematische. So steht in der Phänomenologie des Geistes: „Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff“.³² In der beschriebenen Bewegung absorbiert der Begriff den Gegenstand und zugleich haucht er ihm ein neues Leben ein. Im Prozess dieser Aufhebung braucht Hegel in der Phänomenologie des Geistes genau 11 Seiten über die sinnliche Gewissheit, bevor er mit dem gesamten Feld, in dem das Berühren innerhalb der philosophischen Tradition liegt, fertig ist. Für ihn bleibt und ist entscheidend das Wort des Johannes: „Am Anfang war das Wort/Am Anfang war der Logos“. Die begriffliche Bestimmung ist für ihn also nur eine Rückkehr/eine Wiederherstellung des Ursprungs. Das gehört zu den metaphysischen Implikationen seiner Philosophie. Und er ist der Ansicht, dass die sinnliche Gewissheit nur eine einzige Wahrheit kennt, die sie dem Seienden oder dem Wissen des Unmittelbaren entnommen hat: „es ist“.³³ Die Entfaltung der Bedeutung dieses „es ist“ wäre das, was Heidegger, Nancy und Derrida interessiert. Für Hegel hingegen ist diese Stufe rasch durch die nächste aufgehoben. Überhaupt ist es die Aufhebung, die den Prozess beschreibt, mit dem der Gegenstand in eine begriffliche Welt aufgenommen wird. Hegel betont ausdrücklich an einer sehr bekannten Stelle über das Negative aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, dass das Subjekt „die abstrakte, das heißt […] seiende Unmittelbarkeit aufhebt“.³⁴ Demnach findet hier eine Unterbrechung statt. Aber diese Unterbrechung ist immer die Aufhebung und das heißt eine Transformation in Richtung
Derrida 1976, 139. Vgl. Stegmaier 2009, 133. Hegel 1970a, 57. Hegel 1970a, 82. Hegel 1970a, 36.
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Logos, Wort, Begriff. Es gibt bei Hegel keine Unterbrechung innerhalb der sinnlichen Gewissheit, wie sie letztendlich Derrida und Nancy zu formulieren versuchen. Das christliche Abendmahl ist bei Hegel eine wichtige Form der Aufhebung. Das Objekt wird dabei verzehrt, es verschwindet, wird verinnerlicht. Es handelt sich um einen Akt der Sublimation, einen Akt der Idealisierung, Verinnerlichung und Beseelung.³⁵ Vermittels des Abendmahls ist Jesus in allen Gläubigen. Sie sind alle von göttlicher Liebe durchdrungen.³⁶ Es ist der traurige Verlust der Person Jesus (der Tod des Körpers) und zugleich sein Übergang in eine Idealität, die dann durch seine Wiederauferstehung (im Geist) gewährleistet wird.³⁷ Der endliche Mensch stirbt, aber der unendliche Gott bleibt zurück. In ihm wird Jesus aufgehoben, zu ihm fährt er hinauf. Durch die Versöhnung zwischen Vater und Sohn (ihre Identität) partizipiert die Endlichkeit des Menschen an der Unendlichkeit der religiösen Idee. Dafür muss nur die sinnliche Welt aufgegeben, als Chimäre (des Bösen) denunziert und erniedrigt werden. Nochmals: „Am Anfang war der Logos, das ist es was Hegel interessiert“,³⁸ schreibt Derrida in Glas. Dieses Denken hat Konsequenzen. Das Licht des Geistes kommt nun von innen. Der Mensch wird zu seiner eigenen Flamme. ³⁹ Und erst durch seine Fähigkeit zu Sterben erweist sich das Subjekt als frei.⁴⁰ Diese Freiheit muss ein Volk im Krieg wagen, sonst kehrt es zur Animalität zurück.⁴¹ Und die Hierarchie des Geistes (die Annäherungswerte an seine Idealität) findet ihr Pendant in der Hierarchie der Gesellschaft. Die Aristokratie steht über den anderen Klassen, weil sie dem Tod trotzt und sich über die Bedürfnisse erhebt.⁴² Die Bestattung wird dabei zur eigentlichen Qualität des Menschen. Der feminine und familiäre Vorgang der Trauer verwandelt das Lebendige in Bewusstsein und entreißt seine Einzelheit der Natur.⁴³ „Im Zerfall der natürlichen Organisation offenbart sich der Geist.“⁴⁴ „Das Ziel der Natur ist, sich selbst zu töten, und ihre Rinde des Unmittelbaren, Sinnlichen zu durchbrechen, sich als Phönix zu verbrennen, um aus dieser Äußerlichkeit verjüngt als Geist hervorzutreten.“⁴⁵ Das Bewusstsein ist die
Vgl. Derrida 2006a, 80. Vgl. Derrida 2006a, 79. Vgl. Derrida 2006a, 82. Derrida 2006a, 86. Vgl. Derrida 2006a, 98. Vgl. Derrida 2006a, 113. Vgl. Derrida 2006a, 115. Vgl. Derrida 2006a, 116. Vgl. Derrida 2006a, 161. Derrida 2006a, 123. Derrida 2006a, 133.
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Aufhebung der Natur im Geist. Es hebt die Natur auf, indem es sie verneint. ⁴⁶ Die Begierde wird dabei im Gegensatz zum Tier beim Menschen zur Arbeit. ⁴⁷ Für Derrida negiert die Aufhebung den Tod, sie verleugnet ihn: „Die Aufhebung* ist die Amortisierung des Todes.“⁴⁸ Sie denkt den Tod, ohne ihn zu denken. Hegel instrumentalisiert den Tod in seiner Pyramide geistiger Entwicklung immer wieder, weil er ihn nie als ein endgültiges Ende begreift, sondern immer nur als einen Zwischenschritt. Deshalb hat das ist innerhalb der sinnlichen Gewissheit keine Bedeutung für ihn, während dieses ist, die einfache Existenz, alles ist worum sich Heideggers, Derridas und Nancys Denken bemüht. Mit anderen Worten: Hegel berührt den Tod nicht, indem er ihn bloß in einer bestimmten Weise begreifen will innerhalb des Aufstiegs durch die Aufhebung. Die Aufhebung ist stets auch die Abkehr von der sinnlichen Natur zugunsten einer geistigen Kultur. Für Derrida ist dieses klassische Oppositionspaar sehr fragwürdig. Ist es denn so, dass Kultur und Natur sich in einer binären Opposition gegenüberstehen oder befinden sie sich nicht vielmehr in einem permanenten Wechselverhältnis? Das Begreifen wird demnach bei Hegel als eine Ablösung von der sinnlichen Natur zugunsten der Kultur (Idee) begriffen. Das Berühren hingegen bleibt mit der klebrigen Materie verbunden. Es ist für ihn weitab von der Idee.
4. Die Unterbrechung im Berühren bei Derrida und Nancy (Mund, Prothese) Nun kommt endlich die letzte Karte ins Spiel, die ich zuvor bereits einige Male angedeutet hatte. Es geht Derrida und auch Nancy darum, den Körper anders zu denken, ihn von der Tradition zu befreien, in der ihn das Christentum und mit ihm Hegel gedacht hat. „Denn dies ist mein Leib“ ist der Zauberspruch innerhalb der christlichen Eucharistiefeier, mit dem die Hostie, also das Brot, in den Leib Christi verwandelt wird. Die Hostie ist (ob nun symbolisch, wie bei Protestanten, zu denen Hegel gehört, oder essenzieller, wie bei den Katholiken) die Reinkarnation (Wiederfleischwerdung/Wiederverkörperung) des Geistes durch den Körper Christi. Aber diese Reinkarnation bleibt geistig, bleibt die Gedenkfeier eines geopferten Körpers bei einer Kreuzigung. Im Andenken an den christlichen Körper in der Eucharistiefeier kommt der wirkliche Körper gar nicht vor. Der Körper wird hier
Vgl. ebd. Derrida 2006a, 137. Derrida 2006a, 150.
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immer nur ins theologische Spannungsfeld von Immanenz und Transzendenz gesetzt. Nancy zitiert deshalb die katholische Formel „Denn dies ist mein Leib“ auf lateinisch am Anfang seines Buches Corpus (1992).⁴⁹ „Für uns ist der Körper stets geopfert: Hostie“,⁵⁰ heißt es dort weiter. Der Körper und damit auch seine Berührung sind also demnach im Abendland fixiert auf das eigentümliche Phantasma des christlichen Körpers. Und seine philosophische Ausarbeitung hat Hegel ganz vortrefflich artikuliert: der Körper wird immer in einer geistigen Bewegung aufgehoben. Es geht immer darum, von der Immanenz der Materie in die Transzendenz der geistigen Sphäre zu gelangen. „Der bezeichnende Körper – der gesamte Corpus der philosophischen, theologischen, psychoanalytischen und semiologischen Körper – verkörpert nur eines: den absoluten Widerspruch, nicht Körper sein zu können ohne das Sein eines Geistes, der ihn entkörpert.“⁵¹ Erst mit Nietzsches berühmtem a priori des Leibes kehrt sich diese Bewegung um. Es findet eine langsame Ablösung vom Streben nach übersinnlicher Transzendenz statt. Nancy kommentiert Nietzsches berühmte Formel vom Tod Gottes aus der Fröhlichen Wissenschaft ⁵² so: „Doch ‚Gott ist tot‘ bedeutet: Gott hat keinen Körper mehr. Die Welt ist nicht länger die Verräumlichung Gottes, noch die Verräumlichung in Gott: sie wird zur Welt der Körper.“⁵³ „Wenn das Abendland ein Niedergang ist, wie sein Name besagt, ist der Körper das letzte Gewicht, der äußerste Punkt des Gewichts, das in diesem Niedergang kippt. Der Körper ist die Schwere.“⁵⁴ Gegen die Leichtigkeit des Adlers, der sich als Abenteurer des Geistes in die Lüfte erhebt und die Schwere des Körpers aufgehoben hat, geht es nun darum, in einem Akt von Berührung die Existenz des Körpers zu begreifen. Die Schwere eines Körpers basiert auf seiner Existenz, das Wiegen gehört zum Körper. „Der Körper hat kein Gewicht: Selbst für die Medizin ist er Gewicht“, schreibt Nancy.⁵⁵ Und dieses Gewicht, das nicht zu ihm gehört, sondern das er ist, basiert auf seiner Ausdehnung. „In Wirklichkeit ist das Wiegen die Intension der Ausdehnung.“⁵⁶ Diese Ausdehnung des Körpers wird es sein, die auch die Unmittelbarkeit von Anfang an durchbricht. Und diese Unterbrechung – darauf legt Derrida großen
Nancy 2003, 9. Nancy 2003, 11. Nancy 2003, 62. Nietzsche 1988, 480 ff. Nancy 2003, 54. Nancy 2003, 11. Nancy 2003, 81. Nancy 2003, 83.
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Wert – gehört nicht einfach zum Denken der Phänomenologie. Im Gegenteil: er zeigt, wie die verschiedenen Phänomenologen, angefangen bei Husserl, diese Unterbrechung nicht denken, sie umgehen, sie möglicherweise skizzieren, aber nicht ausführen. Die Unterbrechung, Derrida spricht auch von einer Synkope, hängt zusammen mit dem Raum, mit der Ausdehnung der Körper, mit ihrem Gewicht. Erst durch die Unterbrechung kann der Körper in einem phänomenologischen Berühren die Würde eines idealistischen Begreifens erlangen. Um sich über den Vermittlungsvorgang, der sich durch das Berühren ergibt, größere Klarheit zu verschaffen, kann man einfach in die Phase innerhalb des Säuglingsalters zurückgehen, in der dieser Vorgang das Verhältnis zur Welt primär organisiert. Ich stütze mich dabei auf Beobachtungen, die ich täglich bei meinem kleinen Sohn, er ist jetzt gerade 8 Monate alt, machen kann. Wenn man an die Anfänge des Berührens und des Begreifens denkt, dann kann man beobachten, dass ein Säugling die Dinge zunächst mit den Händen greift, um sie dann rasch zum Mund zu führen. Der zentrale Ort der verfeinerten Abtastung des Berührens erst mal ohne zuzubeißen ist also demnach der Mund. Der Mund ist ein sehr feines Tastsystem des Menschen. „Die inkommensurable Ausdehnung des Denkens ist die Öffnung des Mundes“, schreibt Nancy.⁵⁷ Gemeint ist hier noch nicht der sprechende Mund, der die Wörter ausspucken wird, der die Begriffe als Wörter zwischen den Lippen mithilfe der Zähne und der Zunge bilden wird. Doch auch diese gesprochenen Wörter formen sich durch Berührungen: „Ohne nicht wenigstens überwacht zu werden oder daß mit dem Finger darauf gezeigt wird, berührt jedes Wort ein Wort mit der Zunge/Sprache auf der Haut. Jedes Wort spricht als Zunge/Sprache zur Haut.“⁵⁸ Es gibt also kein Aussprechen der Wörter ohne interne Mundberührungen. Der Begriff, insofern er gesprochen wird, ist demnach auf die Berührungen der Zunge und der Zähne angewiesen. Doch um diese Berührungen beim Sprechen geht es noch nicht, wenn man das, was am Berühren das Besondere ist, anhand des Mundes etwas genauer veranschaulichen will. Es geht mir hier um einen Mund, bevor er Begriffe bildet. Es handelt sich auch um einen Mund, der sich öffnet oder sich verräumlicht, der sich sogar vor dem berühmten oralen Stadium von der Brust abzulösen beginnt.⁵⁹ Für die Psychoanalyse ist das Schlucken verbunden mit einem Akt der Identifikation. Hier geht es aber um etwas, das „vor jeder ‚Identifizierung mit einer Figur’“⁶⁰ geschieht. Es handelt sich um das Selbstverhältnis eines Mundes, der sich öffnet
Nancy 1992, 161, zit. aus Derrida 2007, 35. Derrida 2007, 388. Vgl. Derrida 2007, 38. Derrida 2007, 39.
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oder sich verräumlicht, wie Derrida schreibt und dabei Nancy wiedergibt. Derrida zitiert aus Ego sum von Nancy: „Der Mund ist die Öffnung des Ego, Ego ist die Öffnung des Mundes. Was darin geschieht, ist, daß es sich darin verräumlicht.“⁶¹ Selbstberührung und Fremdberührung gehören dabei zusammen. Es gibt keine Fremdberührung ohne Selbstberührung. Die Koordination eines Babys, das ist ein wesentlicher Schritt, basiert nicht zuletzt darauf, mit der linken Hand seine rechte Hand berühren zu können. Diese Selbstberührung ist unabdingbar im Vorlauf für jede Fremdberührung. Und sie hat nichts gemein mit einer narzisstischen Relation. Es handelt sich bereits um eine Art der Berührung, die durch ihre Verräumlichung in Kontakt mit etwas kommt, das sie weder Wiederaneignen noch Einholen kann. Durch die Räumlichkeit, die in der Selbstberührung bereits vorhanden ist, stellt dieser Kontakt keine einfache Unmittelbarkeit, sondern bereits eine Art Vor-Kontakt mit dem Anderen her. Der Verräumlichung kommt dabei eine besondere Rolle zu. Es handelt sich um eine Eigenschaft, die Derrida immer wieder ins Spiel gebracht hat. Sowohl der Begriff chora und vielmehr noch der der différance, die er bewusst mit a statt mit e schreibt, enthalten als eine wesentliche Eigenschaft die Verräumlichung. Die Verräumlichung ist das Gegenteil der Präsenz, die durch sie unmöglich gemacht wird. Die Präsenz ist unmittelbare Erfahrung des Hier und Jetzt, ohne jedes Intervall, ohne jede Verzeitlichung, ohne jede Unterbrechung. Die Verzögerung, die ein solches Intervall zeigt, das im Raum statthat, kommt beispielsweise im geschriebenen Wort durch den Umweg, den ein Brief durch die Post nimmt, zustande – während das gesprochene Wort eher an die Vorstellung einer Unmittelbarkeit gekettet ist. Durch den Raum führt auch Derridas Begriff der Spur, den er von Levinas übernommen hat. Und hier wird deutlich, wie sehr die Verräumlichung mit der Erfahrung des Anderen verknüpft ist: „Eine Spur ist per definitionem niemals gegenwärtig, vollständig gegenwärtig, ihr ist der Verweis auf das Gespenst von etwas anderem eingeschrieben“.⁶² Die différance, die das Denken in einen Raum hinein öffnet, ist die Voraussetzung für den Kontakt: „Ohne diese différance gäbe es keinen Kontakt als solchen, erschiene der Kontakt nicht, doch mit ihr erschiene er ebenfalls niemals in seiner vollen Reinheit, niemals in irgendeiner unmittelbaren Fülle.“⁶³ Es geht Derrida also um den Intervallcharakter beim Berühren. Diese „elementare différance der Zwischen-setzung oder des Intervalls zwischen zwei Oberflächen ist zugleich die Bedingung des Kontakts und die
Nancy 1979, 136, zit. aus Derrida 2007, 35. Derrida 2006b, 356. Derrida 2007, 292.
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originär verräumlichte Öffnung, die unverzüglich nach der technischen Prothese ruft und sie damit möglich macht.“⁶⁴ Aus der Verräumlichung ergibt sich das Denken des Supplements, eines Supplements, das im Bereich des Körpers die Prothese sein wird. Diese Prothese ist es, die in dem Denken von Derrida und noch mehr in dem von Nancy wesentlich ist, um den Körper zu verstehen. Eine Prothese (wörtlich: vor/anstatt – setzen/ stellen) bezeichnet in der Medizin den Ersatz von Gliedmaßen, Organen oder Organteilen durch künstlich geschaffene, funktionell ähnliche Produkte. Die Prothese ist also demnach ein Substitut, ein Ersatz, eine Abweichung von einem Ursprung, eine Abweichung von einem Original, von einem originären Ursprung. Für Derrida beginnt alles mit dem Verständnis dieses Substituts. Es gibt überhaupt kein Original und das betrifft auch das Denken des Körpers. Der Schauspieler (nach Mallarmé) beispielsweise ahmt keinen originären Vorgang nach. „Der Mime ahmt nichts nach.“⁶⁵ Er verkörpert/repräsentiert keine Idee, die ihm in ihrer Reinheit und ursprünglichen Originalität vorausgehen würde. Er ist nicht einfach der Dar-Steller einer ihm vorausgehenden idealen Idee. Dasjenige in der Berührung, was dazwischen tritt, was dazwischen treten muss, um die Berührung zu ermöglichen, ist selbst anästhetisch (den Schmerz ausschaltend, unempfindlich gegen Reize). Es geht um eine „Unempfindlichkeit in der Empfindlichkeit“, die „Anästhesie als die Ekstase selbst im Herzen des Genusses.“⁶⁶ Derrida beschreibt sehr genau, wie er die Berührung ohne Unmittelbarkeit denkt: „Da es kein Berühren ohne Intervall (Häutchen, Membran, „die die Haut von den Dingen trennt und die wir nicht spüren“) gibt, und da diese Zwischenschaltung sich entzieht, bringt eben das Vergessen dieser Vermittlung den illusorischen Glauben an die Unmittelbarkeit des Kontakts hervor“.⁶⁷„So die Aufspreizung eröffnend, dem Hiatus des Nicht-Kontakts im Herzen des Kontakts Statt gebend, unternimmt diese Verräumlichung die Prüfung des Nicht-Kontakts als der Bedingung oder der Erfahrung selbst des Kontakts, der auf immer offenen – und durch den Anderen verräumlichten – Erfahrung selbst des Selben.“⁶⁸ So behält das Objekt jeder Berührung seine Singularität und bleibt ein kommendes. Die Prothese weist stets darauf hin, dass es hier keine Unmittelbarkeit gibt, die danach trachtet, eine Vereinnahmung herzustellen. In einem Körper nimmt bei einer Herztransplantation, wie sie Nancy erlebt hat, das Herz eines Anderen den Platz des eigenen Herzens ein. Dieser Vorgang, das Fremde im eigenen Körper,
Ebd. Derrida 1995, 216 Derrida 2007, 292. Derrida 2007, 324. Derrida 2007, 282.
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dieses Implantat ist unvereinbar mit allen Vorstellungen körperlicher Unmittelbarkeit. Derrida betont diesen chirurgischen Eingriff bei Nancy, der es ihm in seinem Denken ermöglicht hat, die Unmittelbarkeit beim Berühren des Körpers durch eine Unterbrechung/eine Synkope zu verstehen. Es gibt also eine „techne der Körper als Denken des prothetischen Supplements“.⁶⁹ Nancy hat sich um 1990 einer Herztransplantation unterzogen. „Er weiß nicht, glaube ich, und ich weiß nicht, ob er es wissen will, nämlich ob das Herz des Anderen, das er lebendig in sich trägt, das Herz einer Frau oder eines Mannes ist.“⁷⁰ Dieser Fremdkörper im eigenen Körper, dieses Transplantat, das an die Stelle des ursprünglichen Organs rückt, stoppt die Logik der Unmittelbarkeit. Zumal das Herz nicht berührbar ist, niemals berührbar ist in jener einfachen Bewegung mit einer Hand. Das Herz ist ehedem ein „absolutes Drinnen“, eine „Krypta für sich selbst einer an sich unberührbaren Innerlichkeit“.⁷¹
5. Die Unberührbaren Hier nähert sich dieser Text seiner selbst gezogenen Grenze. Ein Versuch einer niveauvollen Philosophie der Berührung könnte stets auf das Unberührbare abzielen. Aber was wäre das für eine Philosophie? Ist das konkrete Unberührbare dann nicht am Ende genau das, was wir nur abstrakt zu begreifen vermögen? Oder handelt es sich einfach um das, was sich nur unseren Händen entzieht und wir nur mit den Begriffen umschreiben können? Das, was sich wie die platonische Idee in der Realität nur unvollständig abbilden lässt, weil es zur Idealität des symbolischen Universums gehört, einem Universum, das sich uns stets präsentiert, indem es sich uns entzieht? Hier möchte ich mit einem unfairen Beispiel beginnen. Es ist unfair weil es unphilosophisch ist und es sich wie am Eingang dieses Textes um ein Filmbeispiel handelt, das erneut eine Frau beschreibt, die allerdings im Gegensatz zu Monroe kein künstliches Idol ist. Als Oscar Roehler den Film über seine Mutter Die Unberührbare (2000) gedreht hat, da hatte er eine platonische Gedankenfigur im Kopf. Es geht in diesem Film darum, wie sich eine Person aufgrund einer geistigen Haltung, die auf eine ideale Totalität abzielt, der Realität entzieht. Sie verkraftet den Fall der Berliner Mauer nicht, weil sie in die DDR eine unhaltbare Utopie projiziert hat. Sie ist nicht bereit, von der Idealität ihrer Welt abzurücken und
Derrida 2007, 126. Derrida 2007, 126 f. Derrida 2007, 341.
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begeht am Ende Suizid. Das, was der gesamte Film zeigt und was ihm seinen Titel Die Unberührbare gegeben hat, ist eben jene Unberührbarkeit, durch die sich der Charakter dieser Person manifestiert. Dabei begreift diese Frau kognitiv alles. Sie hat nur ein Weltverständnis, das mit ihrer Umwelt in keinem Kontakt mehr steht. (Fast) ganz Deutschland freut sich über den Fall der Mauer, nur sie nicht. Der phänomenologische Vorrang des Berührens vor dem verbalen Begreifen besteht in erster Linie darin, den Anderen nicht vereinnahmen zu wollen, sondern als Anderen gelten lassen zu können. Die Andersheit des Anderen kommt im weichen Kontakt einer Berührung weit mehr zu Geltung als in dem Versuch eines kognitiven Verstehens. Diese Ebene betrifft nur sekundär die Differenz der Geschlechter (von denen es mehr als die Opposition von Zweien gibt), vielmehr die gesamte demokratische Vielheit. Selbstverständlich sind all die Grenzziehungen gegenüber dem Weiblichen, die beispielsweise Nietzsche so vehement vertreten hat, aus dieser Perspektive unhaltbar. Seine Abwehr/Entwertung des Weiblichen versuchte jedoch zugleich den patriarchalen Kontexten zu entrinnen, in dem sie eine vorhandene, dominante Struktur des Handelns zumindest thematisiert. Und er hat das Weibliche oft genug auf sich persönlich bezogen. So ging er nach eigenen Angaben 18 Monate mit dem Zarathustra schwanger vor seiner „Niederkunft im Februar 1883“:⁷² „Diese Zahl gerade von achtzehn Monaten dürfte den Gedanken nahelegen, unter Buddhisten wenigstens, dass ich im Grunde ein Elephanten-Weibchen bin.“⁷³ Sicherlich ist Nietzsche, vielleicht sogar aufgrund seiner starken Identifikation mit dem weiblichen Geschlecht, insgesamt daran gescheitert, mit dem weiblichen Anderen überhaupt in Berührung gekommen zu sein. (Was seiner libidinösen Philosophie fehlt ist wohl vor allem ein gelungenes Sexualleben.) Zugleich hat er aber eine innovative Ästhetik (an Wagner) und ein a priori des Leibes (an sich selbst) gedacht, was zu seiner Zeit unerhört war. Letztendlich ist es jedoch sein Status als ein elitärer Einzelgänger, der ihn davon abgehalten hat, tiefere Einblicke in die sozialen Relationen zu gewinnen.⁷⁴ Die dionysische Höhenluft-Philosophie von Zarathustras Forderung nach dem Übermenschen forderte schließlich ihren Tribut: Vor allem ein Rückzug von Freunden war die Folge. „Man kommt zu Menschen, man begrüsst Freunde: neue
Nietzsche 1988a, 335. Nietzsche 1988a, 336. Zugleich war es aber Nietzsche, der immer höflich, zuvorkommend und an anderen Menschen interessiert war. So äußerte er beispielsweise noch im Sommer 1888 in Sils-Maria gegenüber der Schweizer Frauenrechtlerin Meta von Salis, nachdem er sie einige Male verfehlt hatte und zudem krank gewesen war: „Ich habe gar keine chance mehr mit Ihnen“ (Nietzsche 2004, 1016).
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Öde, kein Blick grüsst mehr. Im besten Falle eine Art Revolte.“⁷⁵ Und wie wird diese einsame Selbstbezüglichkeit, die sich immer mehr zum Größenwahn versteigt, als Lebenselixier verbalisiert: „Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen.“⁷⁶ War er nicht gerade durch seinen Überschuss an eingebildeten Gaben (bei denen er gar nicht darauf achtete, ob der Empfänger sie überhaupt empfangen wollte) im tiefsten Herzen unberührbar geworden? Ist das Pathos der Distanz nicht geschaffen aus einer zu symbiotischen Berührung, die keine sinnvolle Unterbrechung kennt? Es wird immer ein Problem der Berührung gewesen sein, einer Berührung, die wir anfangen sollten mit einer Unterbrechung der Unmittelbarkeit zu denken. Denn solange die Berührung ohne Unterbrechung gedacht wird, findet sie statt, ohne dass ihr Potenzial erkannt wird oder sogar ohne dass sie den Anderen zulassen kann – jenen Anderen, mit dem wir immer schon in Kontakt stehen und der uns durch seine Berührungen immer wieder überrascht.
Literatur Benjamin, Walter (1991): Gesammelte Schriften Bd. II.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1976): Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1995): Dissemination, Wien: Passagen. Derrida, Jacques (2005): Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II), Wien: Passagen. Derrida, Jacques (2006a): Glas (Totenglocke), Paderborn: Wilhelm Fink. Derrida, Jacques (2006b): Maschinen Papier, Wien: Passagen. Derrida, Jacques (2007): Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin: Brinkmann & Bose. Freud, Sigmund (1913): Totem und Tabu, Wien: Hugo Heller. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970a): Phänomenologie des Geistes, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Werke Bd. 3), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970b): Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Werke Bd. 13), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Heidegger, Martin (1993): Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer. Jacke, Andreas (2013): Traumpassagen. Eine Filmtheorie mit Walter Benjamin, Würzburg: Königshausen & Neumann. Nancy, Jean-Luc (1979): Ego Sum, Paris: Aubier-Flammarion. Nancy, Jean-Luc (1992): Corpus, Paris: Métailié. Nancy, Jean-Luc (2003): Corpus, Berlin: Diaphanes [Deutsche Ausgabe von Nancy 1992]. Nietzsche, Friedrich (1988): Die fröhliche Wissenschaft (Kritische Studienausgabe Bd. 3), München/Berlin/New York: dtv/De Gruyter.
Nietzsche 1988a, 342. Nietzsche 1993, 136.
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Nietzsche, Friedrich (1988a): Ecce homo (Kritische Studienausgabe Bd. 6), München/Berlin/New York: dtv/De Gruyter. Nietzsche, Friedrich (1993): Also sprach Zarathustra (Kritische Studienausgabe Bd. 4), München/Berlin/New York: dtv/De Gruyter. Nietzsche, Friedrich (2004): Kritische Gesamtausgabe Briefwechsel Bd. III 7/3,2, Berlin/New York: De Gruyter. Stegmaier, Werner (2009): Emanuel Levinas zur Einführung, Hamburg: Junius.
Cem Kömürcü
Das Nicht-Verschwinden des Verschwindens Weltentwurf und Indifferenz Die Art und Weise, wie der Maler Paul Cézanne seine eigene Zeit, die von der Industrialisierung geprägt war, begriff, lässt sich durch ein interessantes Zitat verdeutlichen: „[…] Alles vergeht mit einer erschreckenden Schnelligkeit.“¹ Auch wir gehen davon aus, dass vieles bereits vergangen, ja verschwunden oder gerade am Verschwinden ist. Dieses Verschwinden gilt es aufs Neue zu denken. Zunächst müssen wir uns darüber klar werden, wo wir uns befinden; daraufhin wollen wir nachvollziehen, was wir eigentlich tun, wenn wir danach fragen, wo wir uns befinden. Schließlich stellt sich uns die Frage: wohin führt dies Tun? Dass sich dabei ein ästhetisches Wissen beziehungsweise eine Art antiphilosophisches Nichtwissen herauskristallisiert, wird sich erst am Ende zeigen, wenn bereits alles verschwunden ist.
1. Die Ordnung, in der wir uns befinden, nennen wir spätestens seit dem Deutschen Idealismus in einem philosophischen Sinne Welt. Die Welt ist ein System von Differenzen, in das wir höchstwahrscheinlich – denn einen klaren Beweis haben wir trotz technischen Forschritts bis heute nicht – qua Geburt hineinkommen sind. Das Zur-Welt-Kommen im eigentlichen Sinne lässt sich weder mit absoluter Gewissheit datieren, noch als innerweltliches Vorkommnis registrieren. Dieses ist ferner, so sagt man, der Eintritt in die Ordnung des Fremden, jenes Moment, das Freud als unheimlich (nicht vertraut, entfremdet) bezeichnen würde, und das seine Bedeutung erst in der Auseinandersetzung mit seinem Gegensatz – dem Heimseligen, dem Heim – entwickelt. Das Heimliche, ja das Heimatliche ist so für Freud irgendwie auch immer schon unheimlich. So ist die Natur des Unheimlichen so zu verstehen, dass der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz übergehen lässt, denn das Unheimliche ist Freud zufolge nichts Neues oder Fremdes, sondern dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist. Dabei spielt insbesondere das Moment der unbeabsichtigten Wiederholung des Gleichartigen, des Doppelgängers oder der Cézanne 1962, 312, in einem Brief an seinen Sohn vom 15. Oktober 1906.
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Verdopplung eine wichtige Rolle, denn dieses ist die Quelle des unheimlichen Gefühls, das ganz im Sinne der platonischen Eroskonzeption dem Menschen für einen Augenblick den Eingang zu seiner verlorenen Heimat, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal zuerst geweilt hat, öffnet. Das Unheimliche bringt auf diese Weise die Liebe, die Sehnsucht nach der Heimat und den Urbildern zum Ausdruck. „Das ist mir bekannt, da war ich schon einmal“, lautet daher die Parole des HeimlichUnheimlichen. So ist das Unheimliche eigentlich das ehemals Heimische, ja das Altvertraute, und dennoch ist uns die Ordnung, in der wir uns befinden, fremd.² Fragen wir uns nun, inwiefern überhaupt eine Ordnung möglich ist, könnte die Antwort wie folgt lauten: es hat schon eine Ordnung gegeben, ehe wir daran gedacht haben, eine zu machen. Dies ist die Ordnung der Welt. Die Ordnung der Welt, so nehmen wir hier an, kann nicht erfunden, sondern vielmehr als bereits vorhandenes gefunden werden. Man kann eine solche Ordnung in seiner empirischen Ganzheit nicht erfinden, weil sie keinen menschlichen Urheber hat. Jede andere Ordnung ist daher auch keine wahre oder wahrhaftige Ordnung, da sie lediglich ein menschliches Werk darstellt, die auf diese Weise in Beziehung zu anderen Ordnungen steht. Die Ordnung, auf die wir aus sind, unterhält keineswegs Beziehungen zu anderen Ordnungen, ist etwas, das in sich und allein durch sich selbst besteht, sich stets im Anderen, in dem, was es nicht ist, widerspiegelt. Die Weltordnung schließt weder etwas ein noch schließt sie etwas aus, sie ordnet sich nicht unter noch unterdrückt sie. Was ist das Wesentliche einer solchen Ordnung? Wir gehen hier zunächst davon aus, dass die Weltordnung auf dem Gedanken einer Einheit beruht, der nicht zu verwechseln ist mit dem einer radikalen Gleichheit oder einer nicht differenzierten Identität. Die Einheit von etwas zeigt sich gerade darin, dass die Teile nicht in ihr aufgehen, sondern weiterhin als einzelne innerhalb der Einheit für sich bestehen: So lösen sich etwa im menschlichen Körper alle Organe und Funktionen in ein organisches Ganzes auf, aber das bedeutet nicht, dass diese völlig gleich oder identisch wären; die Niere z. B. übt nicht die Funktion des Gehirns aus. Die Ordnung als Einheit ist somit stets eine geteilte, in der Unterscheidungen getroffen und aufeinander bezogen werden: etwas unterscheidet sich von etwas anderem; und indem sich zwei unterscheiden, werden sie zugleich aufeinander bezogen. In einem solchen Verhältnis ist etwas
Vgl. Freud 1993, 164: „Das Unheimliche“. Die Vorsilbe „UN“ an diesem Worte ist, wie Freud schreibt, lediglich „die Marke der Verdrängung“. Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden oder überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen. Das Unheimliche als HeimlichHeimisches hat eine Art Verdrängung durch das Bewusstsein erfahren und ist aus dem Unbewussten wiedergekehrt.
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mit etwas anderem identisch, insofern beide Differenten ihrem übergeordneten Wesen nach etwas gemein haben, aber zugleich sind sie ihrer Form nach, ganz für sich betrachtet, völlig voneinander verschieden. So können, um hier ein Beispiel zu nennen, Äpfel niemals Birnen, und Birnen unmöglich Äpfel werden. Dennoch werden Äpfel und Birnen im Obst vereint, auch wenn das Obst als Apfel und das Obst als Birne völlig voneinander verschieden sind. Das übergeordnete Wesen, das Obst, zeigt sich hier als ein Doppelwesen bzw. Multiwesen, welches einmal als Apfel auftritt, ein andermal wiederum als Birne. Es ist hier bedeutsam hervorzuheben, dass die Identität genau darin besteht, dass sie eine Einheit bildet, die zugleich eine nicht auflösbare Differenz ist. Sowohl das Obst als Apfel als auch das Obst als Birne sind individuelle Wesen, die sich zu einem Wesen vereinigen und so lediglich untergeordnete Formen des eigentlichen Einheitswesens bilden. Da sie aber untergeordnete Formen sind, ist in beiden dasselbe Wesen vorhanden. Die Ordnung ist eine beziehungslose Beziehung, eine Beziehung, die paradoxerweise selbst keine Beziehung ist, aber Beziehungen offen legt.Wenn wir nun davon ausgehen, dass die Ordnung eine beziehungslose Beziehung ist, die nicht einmal eine Rahmenbedingung, noch die Bedingung der Möglichkeit von etwas sein kann, dann kann eine solche Ordnung gar nicht existieren: wir haben es hier folglich mit einer Ordnung zu tun, die keine ist, d. h. ein Allgemeines, das stets zu einem Besonderen wird. Daher wäre es mit Hegel gesprochen ganz „unangemessen und ungeschickt“, „wenn z. B. einer, der Obst verlangte, Kirschen, Birnen, Trauben usf. ausschlüge, weil sie Kirschen, Birnen, Trauben, nicht aber Obst seien.“³ Man beachte daher, dass die Ordnung (das Allgemeine) immer nur in einem Bestimmten existiert und folglich nur so von uns erkannt werden kann.Wie jedoch die Ordnung in einem Bestimmten festgehalten, das Allgemeine zum Besonderem wird, ist eine Sache der Benennung oder Abbildung, die wir selbst in Angriff nehmen müssen.
2. Mit dem Zur-Welt-Kommen geht uns jedoch nicht nur die Welt abhanden, sondern auch wir uns selbst. Gerade die Namenlosigkeit der Welt,⁴ ihre Nicht-Identität zwingt uns, die vorgefundene, fremde Ordnung für uns neu zu regulieren, die Ordnung als eine Ordnung für uns zu denken, die Welt als eine Welt für uns zu entwerfen. Zwar haben wir ein bestimmtes Bild von der Welt und zugleich von uns
Hegel 1970 Bd. 8, Enzyklopädie § 13, 59. Vgl. Blumenberg 1997, 46 – 58. Vgl. ferner Stoellger 2008.
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selbst, doch dieses ist uns nicht mehr präsent, es ruht mit dem Wort Hegels im „Schacht“ unserer „Innerlichkeit“⁵. Dieses Bild ist also unser Eigentum, wir besitzen es, aber wir können nicht mehr frei über es verfügen.⁶ Folglich besteht das Projekt Leben darin, sich schrittweise das anzueignen, was uns immer schon gehört, dasjenige explizit zu machen, was uns immer schon implizit gegeben ist, nämlich die Welt, die wir selbst sind. Es handelt sich hierbei um einen Prozess der internen Vermeinigung der Welt, durch den der Mensch sich nicht nur seiner selbst zu vergewissern, sondern auch sich selbst näher zu kommen sucht, und auf den bereits Wittgenstein in Anlehnung an seine Abbildtheorie im Tractatus aufmerksam gemacht hat, wenn er schreibt: „Das Ich tritt in die Philosophie dadurch ein, dass die ‚Welt meine Welt ist‘.“⁷ Dieser Aneignungsprozess der Welt bringt sich im Wesentlichen im Akt der Bezeichnung und Benennung zum Ausdruck. Das Benennen ist eine Art Bestimmen oder Verstehen im wahrsten Sinne des Wortes: indem ich etwas benenne, ver-stehe ich, halte ich etwas fest oder fixiere etwas, was auch immer es sei. Sich in der vorgefundenen Ordnung zu orientieren, bedeutet somit das uns von ihr Gegebene zu benennen. Dass wir überhaupt etwas benennen können, ist wiederum dem Umstand zu verdanken, dass wir uns in einer gewissen Ordnung befinden, die uns ein Bild von sich selbst vermittelt. Genau genommen benennen wir nicht die Ordnung selbst, sondern das Bild, das sie freigibt; und dieses lässt sich prinzipiell nicht ganz bestimmen, sondern lediglich einzelne seiner Elemente. So benennen wir also Elemente des Bildes, damit diese sich auch zu einem wirklichen Gegenstand erheben, ja überhaupt kommunizierbar werden. Indem ich einzelne Elemente des Bildes benenne, sind diese nicht nur für mich, sondern auch für andere: ich kann nun mit anderen darüber sprechen. Es ist so einzig und allein der Name, der eine Verbindung zur Ordnung herstellt, mein Verhalten zu ihr strukturiert, denn in der Benennung liegt die diskriminatorische Kraft, etwas zu erkennen beziehungsweise zu verstehen. Sofern wir erkennen, treffen wir eine Unterscheidung zwischen etwas und etwas anderem. Der Name gibt an, warum etwas so ist wie es ist und nicht anders. Durch sein Einbrechen in das Unbenannte erhalten somit nicht nur die Gegenstände eine objektive Realität, zugleich eröffnet dies den eigentlichen Raum des Weltgeschehens, in dem das Benannte tatsächlich
Hegel 1970 Bd. 10, Enzyklopädie § 453 Zusatz, 260.Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hogrebe 1992, 103 – 109. Ferner Ritter 1996, 256 – 280. Vgl. Hogrebe 1992, 105 f. Wittgenstein 1984, 5.641. Vgl. ferner Badiou 2008.
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thematisiert, ja von ihm erzählt werden kann, d. h. es erzeugt zudem ein Kollektiv oder Gemeines.⁸ Der Aneignungsprozess der Welt, ja die Namensgebung ist so die notwendige Bedingung unserer Existenz, und dies nicht nur, weil wir ohne Namen völlig orientierungslos wären; denn der Akt der existenziellen Benennung bedeutet ferner die Bildung von Theorien. Existieren bedeutet der Etymologie des Wortes nach „über etwas hinausstehen“. Wer in dieser Weise über das Gegebene hinaus ist, hat eine gewisse Distanzhaltung eingenommen und bringt auf diese Weise die Fähigkeit der Beobachtung mit sich: der Existierende entwirft daher mit absoluter Notwendigkeit eine Theorie über das Gegebene. Der Entwurf der Theorie stellt somit den Versuch dar, uns das uns gegebene Bild anzueignen, indem wir es benennen, ja sozusagen abbilden. Dies bringt jedoch zwei Schwierigkeiten mit sich: erstens gehört der Existierende nicht zum Gegenstand seiner Beobachtung und schließt sich ungewollt aus seiner Theorie aus; zweitens kann, aus einer platonischen Perspektive gesehen, das Urbild niemals in einer Theorie gefasst werden, sondern lediglich das Abbild. Theorien bilden die Welt oder die Ordnung, in der wir uns befinden, nur ab; und dies heißt in letzter Konsequenz auch, dass sie diese abschaffen: sie vernichten. Indem wir die Welt abbilden, ihr sozusagen einen gewissen Sinn, Wert und Realität ⁹ verleihen, setzen wir folglich einen Prozess in Gang, der sich als ein Prozess der Vernichtung oder aber auch der Neutralisierung manifestiert, der nicht nur das Gegebene, das Objekt der Beobachtung, sondern zugleich auch den Beobachter selbst allmählich zum Verschwinden bringt. Der Anfang ist daher der Anfang vom Ende; das Zur-Welt-Kommen fordert bereits sein eigenes Zu-Ende-
Blumenberg 1979, 40 ff. (Anm. 1). Vgl. ferner Nancy 2010, 98 f: „In unserem jetzigen Zusammenhang soll wir keine Gemeinschaft und auch nicht das Signifikat ‚Gemeinschaft’ überhaupt bedeuten. Was sich darin ausspricht und sich dabei gewissermaßen ‚verschiebt’, ist vielmehr das gemeinsame Enthaltensein im Sinn: Sinn kann es nur als gemeinsamen geben, und Gemeinsames gibt es nur im Medium des Sinns (sonst, außerhalb des Sinns oder im Reich der Bedeutung, hätte man es beispielsweise mit ‚Molarem’ oder ‚Kollektivem’ zu tun). Wir. Die Gemeinschaft des Sinns ‚verschiebt’ sich selbst als Gemeinschaft, womit nichts anderes gesagt sein soll, als dass eine Gemeinschaft diese oder jene Bedeutung ausarbeiten und sich selbst diese oder jene Bedeutung beilegen kann.“ Dass das Thema der Namensgebung im Zusammenhang mit einer Gemeinschaftstheorie auch für die analytische Philosophie fruchtbar gemacht werden konnte, beweist Saul Kripkes bahnbrechende Untersuchung Name und Notwendigkeit, in der er zeigt, dass die Referenz eines Namens stets von einer sogenannten Taufe bestimmt und dann erst in einer Gemeinschaft tradiert wird. Im Namen erkennt Kripke jedoch nur einen Designator, der zwar nicht impliziert, „dass der bezeichnete Gegenstand in allen möglichen Welten existiert, sondern nur, dass der Name starr auf diesen Gegenstand referiert.“ (Kripke 1981, 92). Vgl. Baudrillard 2008, 7.
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Gehen, seine eigene Auslöschung, die Zerstörung seiner Existenz, die sich stets am Namen orientiert, wie dies etwa der Fall bei Thomas Bernhard ist, wenn er den Namen seines Herkunftsortes – Wolfsegg –, den er für seinen eigenen existenziellen Zerfall verantwortlich macht, in seinem Roman Auslöschung zu vernichten sucht: „Schon habe ich wieder etwas im Kopf. Auslöschung heißt es möglicherweise, dachte ich, ich werde damit alles auszulöschen versuchen, das mir einfällt, alles, das in dieser Auslöschung niedergeschrieben ist, wird ausgelöscht, sagte ich mir. […]. Und das, was ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte.“¹⁰ Die Auslöschung, notwendig verschuldet durch jedwede Theoriebildung, ist nicht nur eine metaphysisch-ontologische Überlegung, sondern vielmehr von kultureller, technischer und gesellschaftlicher Bedeutung, die sich mit Jean Baudrillard gesprochen insbesondere im „Schicksal des Bildes“, im „Übergang vom Analogen zum Digitalen“ veranschaulichen lässt.¹¹ Gerade in der Erfindung des technischen Bildes, das auf der Suche nach einer von der Subjektivität freien Realität entstanden ist, macht sich eine weitere Form der Indifferenzierung bemerkbar, die den Beginn des unaufhaltsamen Prozesses der Auflösung als radikale Vergegenwärtigung der Dinge markiert.¹² Dieser führt notwendigerweise zu einer vollkommen „objektiven“ Welt – eine Art totale Digitalisierung bzw. Theoretisierung –, deren höchstes Stadium keine Subjekte mehr kennt und dadurch selbst auch nicht mehr ist, weil es niemanden mehr gibt, der über sie nachdenkt, sie sich in einem transzendentalphilosophischen Sinne vor-stellt. Die Benennung steuert in ihrem Prozess auf die Indifferenz zu. Die Differenz ist da, um wieder zu verschwinden; der Anfang der Differenz ist so gerade der Anfang vom Ende der Differenz. Dabei lässt sich der Auflösungsprozess der Differenz nicht ohne den Menschen denken, der wesentlich ein Teil der Differenz ist, indem er dem Sinnlosen Sinn gibt, die sprachlose Natur in Sprache und Sinn überführt, die schon vorhandene Ordnung in seine eigene Ordnung überführt. Also ein Akt der Sinngebung, der Ein-Bildung. ¹³ Die Einbildung ist nicht nur das Erkennen der Dinge in der Welt, sondern zugleich auch die Vor-Stellung des An Bernhard 1988, 542. Baudrillard 2008, 23. Vgl. ebd. Wie etwa Schelling in seiner Freiheitsschrift: „Indem also der Verstand, oder das in die anfängliche Natur gesetzte Licht, die in sich selbst zurückstrebende Sehnsucht zur Scheidung der Kräfte (zum Aufgeben der Dunkelheit) erregt, eben in dieser Scheidung aber die im Geschiedenen verschlossene Einheit, den verborgenen Lichtblick, hervorhebt, so entsteht auf diese Art zuerst etwas Begreifliches und Einzelnes, und zwar nicht durch äußere Vorstellung, sondern durch wahre Ein-Bildung, indem das Entstehende in die Natur hineingebildet wird, oder richtiger noch, durch Erweckung, indem der Verstand die in dem geschriebenen Grund verborgene Einheit oder Idea hervorhebt.“ (Schelling 1860a, 361 f.).
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deren, das Erblicken des Selbst: Einbildung ist Zeugung der Differenz. Durch den Akt der Einbildung verleiht der Mensch der Welt Sinnstrukturen und gleichzeitig, geradezu parallel, ist dieser Akt eine Art Auflösungsprozess der Differenz. Indem der Mensch einbildet, vorstellt und im Sinne Wittgensteins benennt, verleiht er dem Eingebildeten, Vorgestellten oder Benannten eine Existenz für uns; zugleich beginnt so jedoch auch der Prozess des Verschwindens der Existenz. Was zur Existenz kommt, befindet sich bereits im Prozess der Auflösung. Realität, Differenz und Welt stehen so für eine Auflösungs- und Aufhebungsbewegung, die nicht mehr aufzuhalten ist. Der Moment der Benennung ist der Moment des ursprünglichen Verlusts der Differenz und der Welt. Es ist, als ob der Auflösungsprozess der Differenz vorprogrammiert wäre, und der Mensch, indem er die Differenz als Differenz thematisiert, die Auflösung vollzieht. Die Auflösung ist jedoch kein plötzliches, singuläres Ereignis, sondern vielmehr ein Prozess, der schrittweise voranschreitet, indem jedes seiner Momente zugunsten anderer Momente verschwindet. So ist bereits vieles schon verschwunden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind; und dieses Verschwinden hat wiederum zur Folge, dass auch das Verschwundene selbst am Verschwinden ist, auch wenn das, was verschwindet, Spuren hinterlässt: dies ist das Verschwinden des Verschwindens. Was bleibt aber übrig, wenn sich tatsächlich alles auflöst? Etwas oder Nichts? Ein Rest? Wenn wir die Welt in einem anticartesianischen Sinne als Universalsubjekt denken, wie Schelling es bereits explizit ausgedrückt hat – „Das Ich denke, Ich bin, ist, seit Cartesius, der Grundirrthum aller Erkenntniß; das Denken ist nicht mein Denken, und das Seyn nicht mein Seyn, denn alles ist nur […] des Alls.“¹⁴ –, dann fragen wir uns, was an die Stelle des Universalsubjekts, wenn es inklusive ihrer erzeugten Subjekte verschwindet, tritt. Eine Antwort können wir nicht geben, weil wir uns nicht mehr vor-stellen können, was sich vor und nach der Differenz befindet, weil wir nicht wissen können, was es bedeutet, indifferent zu sein. An die Stelle des (Universal‐)Subjekts, so könnten wir hier nur annehmen, tritt ein Subjekt, das kein Subjekt mehr ist, eine Subjektivität, die frei ist von Subjektivität, da die Unterscheidungen und Gegensätze vollkommen weggefallen sind. Demzufolge beruht alles, was existiert, auf der Grundlage des Verschwindens des Existierenden: Existieren bedeutet Verschwinden, das Verschwinden der Realität zugunsten des Irrealen. Dieses Verschwinden ist zugleich der unermüdliche Versuch, eine Art Objektivität heraufzubeschwören, ja eine objektive Wahrheit zu finden. Das Universalsubjekt ist in seinem Auflösungsprozess darauf aus, sich selbst in ein Universalobjekt zu überführen. Wenn es tatsächlich stimmt,
Schelling 1860b, 148.
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dass die Welt sich in einem systematischen Selbstaufhebungsprozess befindet, ja wenn sie überhaupt nur ist, um wieder zu verschwinden, dann stellt sich am Ende nur eine Frage: Was kommt nach dem Verschwinden der Welt? Wir können es nicht wissen, aber eine Vermutung wäre: Nach dem Verschwinden der Welt ist vor dem Verschwinden der Welt.
3. Zum Wesen des Bildes gehört es, dass sich zwischen dem Abbildenden und dem Abgebildeten eine temporale Differenz öffnet, eine Art Abgrund der Zeit.¹⁵ Die Zeitlichkeit des Abbildens äußert sich bereits in der Tatsache, dass Dinge einerseits nachgebildet werden, d. h. das Nach des Abbildens versucht hier ein ursprünglich Vergangenes zu vergegenwärtigen; andererseits besteht das Zeitliche des Abbildens im sich auf das Zukünftige richtende Vorbilden – und dieses wird durch die Wirklichkeit des Bildes vernichtet. Schließlich gibt es noch eine weitere Zeitdimension des Abbildens. Diese offenbart sich in der photographischen Momentaufnahme, und das bedeutet in der Vergegenwärtigung der Gegenwart. Es handelt sich hierbei um „Bilder des Moments für den Moment, also den Spiegelbildern verwandt: denn diese sind ja simultan und synchron und mitsterblich mit dem gespiegelten Anblick; also in jeder Hinsicht reine Gegenwart.“¹⁶ So besteht etwa zwischen dem stattfindenden Ereignis und seinem Abbild eine Verbindung spiegelbildlicher Art. Die Verbindung ist so gerade im Bild enthalten, wie Wittgenstein im Tractatus erklärt: „Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt. […] Wir machen uns Bilder der Tatsachen. […] Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.“¹⁷ Doch fragen wir uns hier: Was ist mit demjenigen Element, das nicht im Bild der Wirklichkeit ist, von ihm nicht dargestellt wird? Was liegt zwischen dem Abbild und – in einem platonischen Sinne gesprochen – seinem Urbild? Dieses Phantom,¹⁸ das Walter Benjamin als Aura bezeichnen würde, ist dasjenige, das nicht „an sein Hier und Jetzt gebunden“ ist.¹⁹ Dieser Hier- und Jetztpunkt, der die Einzigartigkeit und das Besondere einer Sache ausmacht, bleibt immer ein allgemeiner und folglich nichtexistent, wie Hegel zu Beginn der Phänomenologie des Geistes, in seiner Dialektik der Sinnlichen Gewissheit gezeigt hat. So antworten wir mit Hegel auf die Frage: „was ist das Jetzt?“ beispielsweise „das
Anders 2011, 46 – 51. Anders 2008, 49. Wittgenstein 1984, 2.063, 2.1, 2.12. Anders 2008, 51. Benjamin 2007, 28.
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Jetzt ist die Nacht“.²⁰ Das Überprüfen der Wahrheit dieser sinnlichen Gewissheit erfolgt allein durch die Schrift: „Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren“, so Hegel.²¹ Schreiben wir nun diese Wahrheit auf, so machen wir, wenn wir sie am nächsten Mittag betrachten, die Erfahrung, dass sie, wie Hegel sagt, „schal geworden ist“.²² Ebenso verhält es sich mit der Frage: „was ist das Hier?“. Und eine Antwort auf diese Frage lautet, so Hegel: Das Hier ist z. B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus. Das Hier selbst verschwindet nicht; sondern es ist bleibend im Verschwinden des Hauses, Baumes usf. und gleichgültig, Haus, Baum zu sein.²³
Und dies Nicht-Verschwinden des Verschwindens, so nehmen wir hier an, aktualisiert auf seine Weise die Frage nach der Unsterblichkeit, insofern als die Unsterblichkeit keine Angelegenheit des Jenseits mehr ist, sondern die reine Immanenz betrifft.²⁴ Die Unsterblichkeit ist also nicht mehr transzendenter oder messianischer Natur; sie ist vielmehr unmittelbar, hier und jetzt. Wir wollen hier und jetzt unsterblich sein, nicht morgen, übermorgen oder woanders: das Paradies lässt sich ausschließlich im Hier und Jetzt verorten. Indem nun das absolut Gegenwärtige zum Unsterblichen wird,wird nun auch das Zukünftige, mit dem das Ende in einem messianischen oder apokalyptischen Sinne in Verbindung gebracht wird, völlig gestrichen. Das Ende gibt es daher nicht mehr; wir brauchen auf niemanden oder nichts zu warten,weil auch das Warten selbst sich somit beseitigt. Wenn das Ende nicht existiert, wenn das Warten sich erledigt hat, so kann es auch keinen Anfang mehr geben. So bleibt uns nur noch das radikal Gegenwärtige, in das die Gegensätze – Vergangenheit und Zukunft – einstürzen: absolute Indifferenz der Gegenwart. Und dies bedeutet nun aber auch, dass der Tod selbst verschwunden ist, weil das Ende zugunsten einer indifferenten Gegenwart abgeschafft wurde: wir sind also unsterblich und doch nicht tot. Wo aber kein Tod ist, kann es auch kein Leben geben.²⁵
Hegel 1970 Bd. 3, Phänomenologie des Geistes, 84. Ebd. Ebd. Hegel 1970 Bd. 3, 85. Vgl. Baudrillard 1994, 179: „Bis heute ging es vor allem um die Unsterblichkeit im Jenseits, um die Unsterblichkeit der Zukunft, aber wir erfinden heute eine andere Art von Unsterblichkeit, nämlich die im Diesseits, die Unendlichkeit durch das Verschieben von Endzuständen bis ins Unendliche“. Vgl. Baudrillard 1994, 139 – 155.
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Unsere Lage hat sich also im Zeitalter des Digitalen soweit verschoben, dass es nun nichts mehr zu geben scheint: kein Leben, keinen Tod, keine Welt oder Ordnung, in deren Innerem man eine gewisse Orientierung finden könnte, ja nicht einmal eine Transzendenz, die Hoffnung auf Erlösung gäbe. Mit anderen Worten: die Ordnung, in der wir uns befinden, ist keine Ordnung, sondern reine neutrale Gegenwart.²⁶ Daher ist die Welt nicht einmal sinnlos. Denn dem Sinnlosen könnte man immer noch einen Sinn zusprechen. Aber was tut man, wenn etwas nicht einmal sinnlos ist? Darin allein – in der unendlichen Gegenwart – zeigt sich die schlimmste Form der Verzweiflung,von der Kierkegaard sagt, dass sie eine tödliche Krankheit sei, die paradoxerweise nicht zum Tod führt. Vielmehr ist sie, wie Kierkegaard schreibt, die „Qual […] nicht sterben zu können“,²⁷ die Unmöglichkeit des Todes.Wer krank ist zum Tode, kann gerade nicht sterben: die Verzweiflung ist die Unfähigkeit zu sterben, jedoch „nicht so, als wäre noch Hoffnung auf Leben, nein, die Hoffnungslosigkeit ist, dass selbst die letzte Hoffnung, der Tod, nicht besteht“.²⁸ Nur in diesem hoffnungslosen Sinne kann die Verzweiflung als Krankheit zum Tode verstanden werden, nämlich als Krankheit „ewig zu sterben, zu sterben und doch nicht zu sterben, den Tod zu sterben“.²⁹ Die Zonen des Jenseitigen, aus denen heraus nicht nur unsere philosophische Liebesstruktur und Todessehnsucht ihre Energie bezog, ja die die notwendige Schärfe des Lebens ausmachten,³⁰ sind hier verschwunden: wir sind verzweifelt, d. h. wir sind nunmehr frei vom Zweifel. Dass jedoch das, was verschwunden ist, auch wieder sichtbar verschwindet, ist die einzige Wahrheit, die dem Verschwinden eigen ist; und diese ist immer ästhetischer Natur. Ästhetisch hier sowohl im ersten Sinne des Wortes, also sinnlich-wahrnehmbar, als auch im zweiten Sinne, nämlich in der Kunst.Wie auch immer wir hier das Ästhetische verstehen wollen, es ist, insofern es das Verschwinden angeht, ein Problem des Wissens. Und dieses ist im Verschwinden selbst nicht mehr verfügbar. So ist das zentrale Merkmal der Ästhetik des Verschwindens das Aufgeben der Theorie des Wissens zugunsten einer Theorie oder
Vgl. Nancy 1993, 13: „Il n’y a plus de monde : plus de mundus, plus de cosmos, plus d’ordonnance composée et complète à l’intérieur ou de l’intérieur de laquelle trouver place, séjour, et les repères d’une orientation. Ou encore, il n’y a plus l’“ici-bas“ d’un monde donnant passage vers un au-delà du monde ou vers un outre-monde. Il n’y a plus d’Esprit du monde, di d’histoire pour conduire devant son tribunal. Autrement dit, il n’y a plus de sens du monde.“ Kierkegaard 2005, 37. Ebd. Ebd. Vgl. Schelling 1860a, 400.
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Antitheorie des Nichtwissens,³¹ ja die Entwicklung von der Identität zur Nichtidentität, von der Differenz zur Indifferenz. Insbesondere Spinoza, so Wolfram Hogrebe, gilt als Vordenker der Ästhetik des Verschwindens, der die cartesianische Differenz zwischen Natur und Geist, Körper und Seele zugunsten einer indifferenten Substanz beseitigt.³² Allein diese Substanz ist für Spinoza das Wahre, das Wissen um das Nichtwissen, das für ihn eine notwendige Voraussetzung unseres Daseins scheint. So ist der Unwissende für Spinoza derjenige, der „nie seinen inneren Frieden findet […] und von den Dingen fast nichts weiß“; der Unwissende ist, so Spinoza, „einer, der, sobald er aufhört, etwas zu erleiden, zugleich auch aufhört zu sein.“³³ Das Leiden gehört also wesentlich zum Fortbestehen der Dinge dazu: ohne Leid kein Leben und somit auch kein Tod. Und eben dies scheinen die Kunst und die Literatur des 20. Jahrhunderts weitaus besser erkannt zu haben als etwa die Philosophie, die immer noch auf der Suche nach einer stabilen Theorie des Wissens ist, und nicht versteht, dass die einzige Stabilität des Wissens seine Instabilität ist, das einzige Nichtverschwinden das Verschwinden selbst ist. Darin allein zeigt sich die Absurdität aller Theorien des Wissens, wie das Werk der französischen Autorin Marguerite Duras zeigt. Insbesondere in ihrer erotischen Metaphysik der Maladie de la Mort greift sie einen Gedanken auf – wohl in Anlehnung an Kierkegaard –, der das Verhältnis des todessüchtigen Philosophen zur Philosophie zu beschreiben versucht. Wir haben es mit einem Dialog zwischen dem sehnsüchtigen, wissbegierigen Philosophen und der weisen Philosophie zu tun. Die Szene prägt sich ein: der Philosoph befindet sich in einem Zimmer, das er nicht mehr wiedererkennt. Der Ort ist ihm fremd, er ist leblos und trist, und dennoch ist der Philosoph hier zu Hause: er ist in der Welt. In diesem Zimmer liegt eine Frau – die Philosophie – im Bett, sie schläft. Der Philosoph, in seiner Gier, ja fast schon in seiner Verzweiflung, weckt sie und fragt, ob sie käuflich sei. Doch kann der Philosoph die Wahrheit kaufen? Und mehr noch: Gibt es überhaupt die Wahrheit? Beides scheint die Allegorie der Philosophie zu verneinen, die Wahrheit ist also kein Gegenstand des Wissens. Der Philosoph weiß sich nun schuldig und verfällt in eine depressive Lethargie. Er versteht den Lauf der Welt nicht mehr, sein Weltverständnis ist ihm abhanden kommen. Seine Beziehung zur Wahrheit, sein Wahrheitsbegriff, steht auf dem Spiel. Daher fragt er sie, „weshalb sie dem Vertrag der bezahlten Nächte
Vgl. Hogrebe 2011, 31– 36. In seinem ingeniösen Buch Beuysianismus beschäftigt sich der Bonner Philosoph Wolfram Hogrebe nicht nur mit Formen und Wegen der modernen Kunst, sondern entwirft dabei auch eine höchst interessante Theorie des Nichtwissens, die von großem erkenntnistheoretischen Wert ist. Vgl. ebd. Spinoza 2010, 595. Vgl. Deleuze 1988.
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zugestimmt habe.“³⁴ Warum sucht der Philosoph vergeblich nach der Wahrheit? Warum begibt sich der Philosoph Nacht für Nacht in die Finsternis, in die Unergründlichkeit des Denkens? Die Antwort liegt auf der Hand: der wahrheitsstrebende Philosoph ist von einer heimtückischen Krankheit befallen. Diese Krankheit ist eben die bereits erwähnte Krankheit zum Tode, wie die Philosophie dem kranken Philosophen zu verstehen gibt. Die Philosophie „antwortet mit schlaftrunkener, fast unhörbarer Stimme: Weil ich, von dem Augenblick an, da Sie mich anredeten, sah, dass Sie befallen waren von der Krankheit Tod.“³⁵ Das Tödliche an dieser Krankheit liegt nun darin, dass der, der von dieser Krankheit befallen ist – also der Philosoph – nicht weiß, dass er das Tödliche, das Gift in sich trägt. Ferner besteht die Krankheit darin, dass der Sterbende, derjenige, der zum Tode krank ist, ohne irgendeinen Begriff, ohne ein Bewusstsein vom Tod zu haben, das ihn auf den Tod vorbereiten könnte, stirbt. Darum fragt er: Worin liegt das Tödliche an der Krankheit Tod? Sie antwortet: Darin, dass der, der von ihr befallen ist, nicht weiß, dass er ihn in sich trägt, ihn, den Tod. Und auch darin, dass er stirbt, ohne ein durch das Sterben im voraus geweihtes Leben gelebt zu haben, ohne irgendein Bewusstsein vom Tod, in gleichwelchem Leben.³⁶
Im Gegensatz zu Boethius’ Trost der Philosophie gestaltet Duras’ anti-philosophisches Werk literarisch keine Therapie des verzweifelten Tod-geweihten. Hier spendet die Philosophie keinen Trost mehr.Vielmehr stürzt sie den Philosophen in eine noch tiefere seelische Krise, wenn sie zu ihm spricht: „Sie werden sterben am Tod. Ihr Tod hat bereits begonnen. […]. Weinen Sie nicht, das hat keinen Sinn, gewöhnen Sie sich ab, über sich zu weinen, es hat keinen Sinn.“³⁷
Literatur Anders, Günther (2011): „Das Phantom“, in: Die Zerstörung unserer Zukunft, Zürich: Diogenes, 46 – 51. Badiou, Alain (2008): Wittgensteins Antiphilosophie, Berlin/Zürich: Diaphanes. Baudrillard, Jean (1994): Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin: Merve. Baudrillard, Jean (2008): Warum ist nicht schon alles verschwunden?, Berlin: Matthes & Seitz. Benjamin, Walter (2007): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp (Studienbibliothek).
Duras 2000, 29. Ebd. Duras 2000, 24. Duras 2000, 29.
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5. Teil Ästhetisches Wissen zwischen Epistemologie, Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie
Teresa Pedro
Zum Verhältnis von Wahrnehmungstheorie und Ästhetik: Zwei Lesarten In seinem Aufsatz „Philosophy of Perception as a Guide to Aesthetics“¹ liefert Bence Nanay ein Plädoyer für eine engere Verknüpfung zwischen Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie. Dabei solle der Wahrnehmungsphilosophie eine Leitfunktion gegenüber der Ästhetik zukommen.² Die Leitfunktion der Wahrnehmungsphilosophie begründet der Autor damit, dass die Ästhetik Fragen aufwerfe, die auch Probleme der Wahrnehmungsphilosophie seien. Nanays Kernargument basiert auf der grundsätzlichen Annahme, dass die Erfahrung als gemeinsamer Untersuchungsbereich beider Disziplinen zu betrachten sei, wobei sich die Ästhetik mit einem bestimmten Typ von Erfahrungen befasse, wohingegen die Wahrnehmungsphilosophie ein breiteres Spektrum von Erfahrungen erkunde. Schon die Etymologie des Wortes „Ästhetik“ deute auf eine Verbindung mit der Wahrnehmungsphilosophie hin, so Nanay, leitet es sich doch aus dem grieschichen „aesthemi“ ab, das „Wahrnehmung“ bedeutet. Als Alexander Baumgarten im Jahr 1750 den Begriff „Ästhetik“ einführte, habe er damit die Analyse sensorischer Wahrnehmung bezeichnen wollen. Auch wenn man Nanays grundsätzlicher Annahme zustimmt, ist damit meines Erachtens noch nicht ausreichend begründet, warum der Wahrnehmungsphilosophie eine Leitfunktion gegenüber der Ästhetik einzuräumen ist. Der Autor scheint vorauszusetzen, dass nur eine einzige Art der Verknüpfung von Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie möglich ist, und zwar in der von Nanay beschriebenen Art, nach der die Wahrnehmungsphilosophie die Ästhetik gleich einem „guide“ anleitet. Nanays Konzeption möchte ich im Folgenden das guideModell nennen. Indessen sind alternative Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Wahrnehmungsphilosophie und Ästhetik denkbar. Dies ist beispielsweise der Fall bei einer der einflussreichsten Strömungen innerhalb der gegenwärtigen Filmtheorie, der so genannten „kognitiven Filmtheorie“, die eine auf der kognitiven Wahrnehmungstheorie basierende Theorie des Filmzuschauers liefert. Hier wird sich der kognitivistischen Wahrnehmungstheorie bedient mit dem Ziel, die mentalen Prozesse zu analysieren, die ein Kinozuschauer bei der Verarbeitung der visuellen
Nanay 2014. Nanay argumentiert in seinem Aufsatz für eine Ästhetik, die sich, wie die Wahrnehmungsphilosophie, auf empirische Befunde stützt.
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Informationen in einem Film durchläuft.³ Der erste Autor, der die Grundlage für eine Theorie des Filmzuschauers entwickelt hat, ist Hugo Münsterberg.⁴ Soweit ich sehe, ist Münsterbergs The Photoplay: A Psychological Study (1916) der erste Text, in dem das Verhältnis zwischen Ästhetik und Wahrnehmungstheorie für die theoretische Auseinandersetzung mit dem neuen Medium Film systematisch erarbeitet wurde. Münsterbergs Vorschlag, das Verhältnis zwischen Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie zu bestimmen, nenne ich im Folgenden das Zusammengehörigkeitsmodell. Denn Münsterbergs Grundannahme besteht darin, beide Disziplinen im Hinblick auf bestimmte Fragen als untrennbar aufzufassen. Warum ich Münsterbergs Modell das Zusammengehörigkeitsmodell nenne, wird, wie ich hoffe, im zweiten Teil meines Aufsatzes ersichtlich werden, wo ich eine Interpretation zu Münsterbergs Buch anbiete, die mir ermöglichen soll, das von ihm vorausgesetzte Modell zu rekonstruieren. Der erste Teil des vorliegenden Textes ist hingegen einer Analyse von Nanays Ansatz gewidmet. Die Gegenüberstellung beider Modelle soll zu einer Klärung ihrer theoretischen Voraussetzungen beitragen. Vorher aber sei eine terminologische Bemerkung vorausgeschickt: „Philosophie der Wahrnehmung“ und „Wahrnehmungstheorie“ sind zwar nicht synonyme Ausdrücke, da der Begriff „Theorie“ breiter ist als der der „Philosophie“. Doch ist dieser Unterschied im Zusammenhang mit der Filmtheorie Hugo Münsterbergs belanglos. Sowohl seine Wahrnehmungstheorie als auch seine Ästhetik besitzen eine unbestreitbare philosophische Dimension.⁵ Es ist daher durchaus zulässig, Münsterbergs Modell mit dem Nanays zu vergleichen, bei dem durchweg von Wahrnehmungsphilosophie die Rede ist.⁶ Vgl. Bordwell 1985, Bordwell 1989 und Currie 1995. Ihre Vertreter geben der Frage nach der Wahrnehmung der filmischen Erfahrung den Vorrang, wenn es darum geht, Film zu denken. Vgl. Moure 2011, 24 zu Münsterbergs The Photoplay: „For the first time since the beginning of film as a medium, a study raised the problem of subjectivity in film and provided the foundations for what can be called in modern terms a spectator theory (the effectiveness of moving images is based on a psychological phenomenon that requires the mental cooperation of the spectator in order to achieve their full potential) and a narrative film theory (if there is an analogy between the devices which are specific to the cinematic medium and the mechanisms of the mind, the film will be particularly suited to express what is happening in the consciousness of a fictional character).“ Bevor Münsterberg 1916 The Photoplay veröffentlichte, nahm er mit seinem Aufsatz „Why We Go to the Movies“ (1915) einige Thesen von The Photoplay vorweg. Über Film hat Münsterberg noch den Aufsatz „Peril to Childhood in the Movies“ (1917) geschrieben, der den Einfluss von Filmen auf Kinder behandelt. Zum Verhältnis Münsterbergs zur Filmtheorie vgl. Frederickson 2009. Vgl. zu diesem Thema Carroll 2008, 2: „For traditional film theory was always mixed through and through with philosophy“. Auch Nanays Auffassung der Wahnehmungsphilosophie ist nicht von einer empirischen Psychologie der Wahrnehmung entkoppelt. Nanay behauptet, dass philosophische Argumente der
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1. Nanays wahrnehmungs-philosophisches guide-Modell Wie bereits erwähnt, geht Nanays Bestimmung des Verhältnisses von Ästhetik und Wahrnehmungstheorie von der zentralen Annahme aus, dass es sich bei Problemen der Ästhetik eigentlich um Probleme der Wahrnehmung handele und dass diese daher am angemessensten im Rahmen einer Wahrnehmungsphilosophie zu behandeln seien. Um seine These zu begründen, legt der Autor sein Verständnis der Ästhetik und der Wahrnehmungsphilosophie dar. Es soll uns im Folgenden beschäftigen. Um zu einer genaueren Darstellung von Nanays guide-Modell zu gelangen, werde ich Nanays Argumentation anhand von zwei Fragen analysieren: 1. Welche Probleme haben Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie gemein? 2. Inwiefern kann man daraus eine Leitfunktion für die Wahrnehmungsphilosophie ableiten? Worin besteht diese Leitfunktion?
1.1 Welche Probleme haben Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie gemein? Eine Antwort auf diese Frage erfordert zugleich eine Erklärung von Nanays Konzeption der Ästhetik und der Wahrnehmungsphilosophie. Hinweise darauf finden wir an zwei Stellen in Nanays Aufsatz. 1) In seiner Definition der Ästhetik behauptet Nanay, dass die Ästhetik Fragen nach der ästhetischen Erfahrung, nach dem ästhetischen Urteil, nach ästhetischen Eigenschaften etc. zum Gegenstand hat. Ganz in diesem Sinne heißt es bei Nanay: I use a simple and pedestrian route and define the domain of aesthetics as the sum total of topics where we use the term ‘aesthetic’. This would involve (but of course not be limited to) debates about aesthetic experiences, aesthetic attitude, aesthetic attention, aesthetic judgment, aesthetic value, aesthetic properties, aesthetic stance.⁷
Wahrnehmungsphilosophie gemeinhin empirische Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung in Rechnung stellen und mitunter durch empirische Ergebnisse untermauert werden und dass die Methodologie der Wahrnehmungsphilosophie teilweise eine empirisch geprägte Methodologie sei (Nanay 2014, 112). Nanay 2014, 102.
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Als erstes sei bemerkt, dass diese Definition unter einer gewissen Zirkularität leidet. Der Terminus „Ästhetik“ wird nicht definiert⁸ und die Ästhetik wird als die Disziplin aufgefasst, die sich mit dem Ästhetischen befasst: mit ästhetischen Urteilen, mit ästhetischen Erfahrungen etc. Zum zweiten dient diese Definition Nanays Ziel, die Ästhetik von der Philosophie der Kunst zu unterscheiden. Nanay zufolge ist das Spektrum, das die Philosophie der Kunst aufweist, breiter als das der Ästhetik, da sich die Kunstphilosophie auf eine ganze Reihe weiterer Fragen bezieht: auf Fragen der Metaphysik, der Erkenntnistheorie, der Ethik oder der Politik, nämlich insofern diese alle die Kunst betreffen. Nanays Unterscheidung mag nicht unproblematisch sein, doch entspricht sie einer durchaus üblichen Konvention in der Philosophie: Ästhetik gilt als die Disziplin, die sich mit der auf sensorischer Wahrnehmung basierenden Erfahrung der Natur oder der Kunst (welche „ästhetische Erfahrung“ genannt wird) beschäftigt. Demgegenüber weist man der Philosophie der Kunst gemeinhin die Aufgabe zu, über den Wert oder den Status von Kunstobjekten zu reflektieren. Allerdings wird der Begriff „Ästhetik“ auch manchmal verwendet, um eine Theorie der Kunst zu bezeichnen.⁹ Mit der Unterscheidung zwischen Ästhetik und Kunstphilosophie will Nanay seine These stützen, dass Fragen der Ästhetik über den Bereich der Kunst hinausgehen. Denn die Ästhetik stelle Fragen, die nicht nur Kunstwerke betreffen. Dazu gehören Fragen nach der Bildwahrnehmung, nach unserer Einbeziehung (engagement) in Narrative und fiktionale Werke, Fragen zu Metaphern, zu Kreativität etc.¹⁰ 2) Nanay argumentiert, dass einige dieser Fragen sowohl von der Ästhetik als auch von der Wahrnehmungsphilosophie gestellt und behandelt werden. Die Gemeinsamkeit zwischen Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie gründet Nanay zufolge auf folgender Übereinstimmung:
Gleichwohl gibt Nanay an anderer Stelle einen Hinweis auf drei Arten, die ästhetische Erfahrung zu definieren: 1) man kann ästhetische Erfahrung nach den Eigenschaften definieren, die durch diese Erfahrung repräsentiert werden; 2) man kann ästhetische Erfahrung nach der Rolle definieren, die sie in unseren mentalen Prozessen spielt; 3) man kann ästhetische Erfahrung nach den intrinsischen Eigenschaften dieser Erfahrung definieren (Nanay 2014, 108). Vgl. Recki 2010, 159. Nanay 2014, 102: „To be more generous, we should also include those debates that are discussed in aesthetics journals and books but that are not strictly speaking (or not necessarily) about art. This would include (but, again, not be limited to) questions about picture perception and questions about depiction in general (as not all pictures are art), questions about our engagement with narratives and about narratives in general (not all narratives are art), about fiction and our engagements with them (not all fictions are art), about metaphor, creativity, and so on.“
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The philosophy of perception is about experiences. Aesthetics is about some special kinds of experiences: aesthetic experiences, the experience we have when looking at pictures, the experience we have when we identify with Hamlet, the experience we have when we engage with fiction, and so on.¹¹
Nanays These, der zufolge Ästhetik und Wahrnehmungstheorie zentrale Problemstellungen teilen, gründet im Kern auf der Behauptung, dass ein bestimmter Typ von Erfahrung Gegenstand beider Disziplinen ist. Allerdings bleibt unklar, inwieweit man diese Erfahrungen „ästhetische Erfahrungen“ nennen kann. Als Beispiele für den Problembereich der „ästhetischen Erfahrung“, der sowohl die Ästhetik als auch die Wahrnehmungsphilosophie betreffe, erwähnt Nanay folgende zentrale Fragen: 1) Wie lässt sich die visuelle Erfahrung kennzeichnen, die wir durchlaufen, wenn wir Bilder betrachten? 2) Womit können wir unsere emotionale Reaktion auf fiktionale Werke erklären, d. h. wie funktioniert unser Geist (mind), wenn wir eine literarische Erzählung lesen oder wenn wir einen narrativen Film sehen? 3) Worauf beruht unsere Identifikation mit den Charakteren eines Films oder Theaterstücks?¹² Die Gemeinsamkeit dieser Fragestellungen ist laut Nanay aber nicht der einzige Punkt, der Ästhetik und Wahrnehmungsphilosophie verbindet. Nanay will nicht nur zeigen, dass diese Fragen beiden Bereichen gemeinsam sind, sondern dass deren Beantwortung auch eine Wahrnehmungstheorie voraussetzt. Nanay stellt fest, dass viele Autoren, die diese drei der Ästhetik zugehörenden Fragen zu beantworten suchen, auf das Phänomen der „sensorischen Imagination“ (sensory imagination) rekurrieren, d. h. auf jenen mentalen Prozess, durch den jemand sich vorstellt, etwas zu sehen, etwas zu tun oder eine bestimmte Person zu sein. Die sensorische Imagination, so Nanay, könne als ein wahrnehmungsähnlicher Prozess angesehen werden, da sinnliche Wahrnehmung und Imagination eine ähnliche Phänomenologie aufweisen.¹³ Eine mögliche Erklärung für diese ähnliche
Nanay 2014, 111. Nanay 2014, 105. Der Autor erwähnt in diesem Zusammenhang die von C.W. Perky durchgeführten Experimente, in denen mehrere Personen darum gebeten wurden, sich mit offenen Augen auf einen Punkt auf einem weißen Bildschirm zu konzentrieren und sich verschiedene Objekte (eine Tomate, eine Banane und anderes) vorzustellen. Unbemerkt von den Probanden des Experiments wurden auf die Leinwand Bilder projiziert, die kaum mehr sichtbar waren, insofern sie sich auf der Schwelle zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit befanden. Keiner der Probanden des Experiments
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Phänomenologie liegt darin, dass der Wahrnehmungsinhalt und der Inhalt der sinnlichen Imagination ähnlich sind.¹⁴ Aus eben jener Ähnlichkeit zwischen Sinneswahrnehmung und sinnlicher Imagination leitet Nanay die These ab, dass die Untersuchung des Phänomens der sensorischen Imagination, welchem bei verschiedenen Fragen der Ästhetik eine zentrale Rolle zukommt, tatsächlich Gegenstand der Wahrnehmungsphilosophie sei, vorausgesetzt man verstehe die Wahrnehmungsphilosophie nicht nur als eine Disziplin, die sich mit der Wahrnehmung befasst, sondern auch mit wahrnehmungsähnlichen Prozessen. Darunter fallen auch jene mentalen Prozesse, die eine ähnliche Funktionsweise wie die Wahrnehmung haben, so etwa die „sinnliche Imagination bzw. Einbildungskraft“ (sensory imagination). Für Nanay sind auch solche mentalen Prozesse Gegenstand einer Wahrnehmungsphilosophie.
1.2 Worin besteht die Leitfunktion der Wahrnehmungsphilosophie? Aus der Feststellung, dass 1) die Ästhetik und die Wahrnehmungsphilosophie gemeinsame Fragen stellen und dass 2) solche Fragen nach der ästhetischen Erfahrung nicht ohne eine Wahrnehmungsphilosophie und deren begriffliches Instrumentarium beantwortet werden können (da diese ja auch wahrnehmungsähnliche Prozesse miteinschließen), leitet Nanay die Leitfunktion der Wahrnehmungsphilosophie ab. Die Leitfunktion der Wahrnehmungsphilosophie gründet also nach Nanay nicht nur auf einer Gemeinsamkeit, sondern auch auf einer Asymmetrie zwischen beiden Disziplinen: Nur mit einer Wahrnehmungsphilosophie können Antworten auf ästhetische Fragen gegeben werden, so Nanays These. Anders formuliert: Da sich die Wahrnehmungsphilosophie mit einem breiteren Spektrum von Erfahrung beschäftigt als die Ästhetik, kann sie den theoretischen Rahmen abgeben, innerhalb dessen die Probleme der Ästhetik gelöst werden. Betrachte man also den Gegenstandsbereich der Ästhetik ebenso wie den der Wahrnehmungstheorie, sei kaum zu übersehen, so Nanay, dass eine engere disziplinäre Verknüpfung zwischen beiden Fächern durchaus wünschenswert wäre. Aus dem von Nanay vorgeschlagenen wahrnehmungsphilosophischen guide-Modell der Ästhetik geht aber nicht klar hervor, welcher Beitrag von der Ästhetik zur
realisierte, dass er Bilder und nicht die Produkte seiner Phantasie sah. Vgl. Perky 1910, 422– 452 (zitiert bei Nanay 2014, 104). Nanay 2014, 104 f. zitiert verschiedene Autoren, die diese These verteidigen, u. a. Currie 1995.
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Beantwortung „gemeinsamer“ Probleme geleistet werden kann. Aus Nanays guide-Modell scheint zu folgen, dass der mit ästhetischer Erfahrung befasste Bereich der Ästhetik als eine Art „Anwendungsgebiet“ der Wahrnehmungsphilosophie aufgefasst wird, wenngleich Nanay diese Schlussfolgerung nicht explizit erwägt. Zu Nanays Verteidigung sei betont, dass er das Problem des Verhältnisses beider Bereiche aus der Perspektive der Wahrnehmungsphilosophie und ihres Beitrags thematisiert, nicht aus der der Ästhetik. Dennoch bleibt fraglich, ob es angemessen ist, den Beitrag, den die Wahrnehmungsphilosophie zur Klärung ästhetischer Fragen leisten kann, mit dem Terminus „guide“ zu bezeichnen und ihr eine „Leitfunktion“ zuzuweisen. Denn man kann durchaus Nanays Vorannahmen (gemeinsamen Fragen beider Disziplinen, Beitrag der Wahrnehmungsphilosophie) teilen, ohne seiner asymmetrischen Verhältnisbestimmung von Wahrnehmungstheorie und Ästhetik zuzustimmen. Ein Beispiel dafür findet sich in der Filmtheorie, wo Autoren die Notwendigkeit erkennen, sich auf Wahrnehmungstheorien zu stützen, um Fragen nach der Kinozuschauererfahrung zu behandeln.¹⁵ Zwar bleibt dort das Wort „Ästhetik“ meist ausgeblendet. Gleichwohl lassen sich die aufgeworfenen Fragen nach der Zuschauererfahrung durchaus unter Nanays Auffassung der Ästhetik subsumieren. Denn Nanays Ästhetik-Begriff ist zum einen verengt, insofern er von Fragen der Kunstphilosophie entkoppelt ist. Zum anderen aber handelt es sich um einen erweiterten Ästhetik-Begriff, da die Ästhetik für Erfahrungen geöffnet wird, die nicht auf Kunstwerke begrenzt sind. Einer derart verstandenen Ästhetik lassen sich auch Theorien der Filmzuschauererfahrung zurechnen. Ein bedeutendes, wenn auch bisher nicht hinreichend gewürdigtes Alternativmodell zur Bestimmung des Verhältnisses von Ästhetik und Wahrnehmungstheorie bietet Hugo Münsterbergs The Photoplay. ¹⁶ Münsterberg hat die Frage nach der Filmzuschauererfahrung erstmals systematisch gestellt; seine Problemsicht sei im Folgenden vorgestellt.
Ponech 1997, 87 f.: „Research into perception is pertinent to cinema scholars insofar as we regularly discuss such matters as the viewing experience’s specificity and effects on spectators, what it is that viewers see, and how it is that they derive the beliefs they do from watching movies.“ In der Filmtheorie wird auch für die Notwendigkeit argumentiert, Befunde der empirischen Psychologie zu berücksichtigen, wenn es darum geht, Fragen der Filmtheorie und der Philosophie des Films zu beantworten. Vgl. zum Beispiel Freeland 2004, 187: „How is understanding a film related to assessing it? Why do audiences respond emotionally to films? If psychology has a role in telling us how people understand and react to films, then isn’t it important to know which psychological theories are true, and which empirical findings are relevant?“ Münsterberg wird oft als der erste wichtige Autor der Filmtheorie betrachtet.Vgl. zum Beispiel Jarvie 1987, 69 f. oder Andrew 1976, 14.
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2. Das Zusammengehörigkeitsmodell: Münsterbergs Psychologie des Films Nicht Leitung einer Disziplin durch eine andere, sondern Komplementarität beider Disziplinen: so lässt sich kurz das Modell des Verhältnisses von Ästhetik und Wahrnehmungstheorie beschreiben, das Hugo Münsterbergs Photoplay zugrunde liegt. Um dieses Modell zu rekonstruieren, werde ich zwischen Münsterbergs explizitem Modell des Verhältnisses von Wahrnehmungstheorie und Ästhetik – wobei hier Ästhetik im Sinne einer Theorie der Kunst zu verstehen ist – und Münsterbergs implizitem Modell dieses Verhältnisses unterscheiden. Bei diesem impliziten Verhältnis geht es um die Ästhetik als einer Disziplin, die die Frage nach der „ästhetischen Erfahrung“ stellt. Ich werde also im Folgenden zu zeigen versuchen, dass zwei unterschiedliche Modelle der Beziehung zwischen Wahrnehmungstheorie und ästhetischem Diskurs zum Film in The Photoplay am Werk sind. Für einen Vergleich mit Nanays Verhältnisbestimmung beider Disziplinen ist Münsterbergs implizites Modell von besonderem Interesse, da hier „Ästhetik“ in dem von Nanay verstandenen Sinn aufgefasst wird. Zuvor aber sei Münsterbergs explizites Modell erläutert. Münsterbergs explizites Modell schlägt sich bereits in der Zweiteilung seines Buches nieder, das aus einem psychologischen Teil, The Psychology of the Photoplay, und einem ästhetischen Teil, The Aesthetics of the Photoplay, besteht. Die Ästhetik des zweiten Teils ist als eine Theorie der Kunst zu verstehen, und ganz in dem Sinne wird der Begriff „Ästhetik“ von Münsterberg auch hauptsächlich verwendet. Meines Erachtens lässt sich zudem aber ein weiteres, nämlich implizites, Modell des Verhältnisses beider Disziplinen in Münsterbergs Text erkennen, und zwar im ersten Teil des Buches, der von der Psychologie des Films handelt. Anhand zweier Leitfragen lässt sich Münsterbergs implizites Modell des Verhältnisses von Wahrnehmungstheorie und Ästhetik von seinem expliziten Modell abgrenzen: 1) Worin besteht die Funktion der beiden Teile des Buchs und wie sind bei Münsterberg Wahrnehmungspsychologie und Kunsttheorie aufeinander bezogen? 2) Inwiefern sind Münsterbergs wahrnehmungspsychologische Erörterungen durch eine ästhetische Problemstellung vorgezeichnet?
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2.1 Wie sind bei Münsterberg Wahrnehmungspsychologie und Kunsttheorie aufeinander bezogen? Bevor ich das Verhältnis untersuche, das der Zweiteilung des Buches in einen psychologischen und einen ästhetischen Teil zugrunde liegt, ist eine Klarstellung hinsichtlich des von Münsterberg verwendeten Begriffs der Psychologie und seines Verhältnisses zu dem der Wahrnehmung erforderlich. Ohne hier auf die Frage eingehen zu können, welche Psychologie Münsterberg betreibt,¹⁷ kann man Folgendes behaupten: Zwar beschäftigt sich die Psychologie für Münsterberg mit dem „Leben des Geistes“ (life of the mind) bzw. mit mentalen Prozessen¹⁸ und ist daher nicht allein auf Probleme der Wahrnehmungstheorie begrenzt. Gleichwohl hat sie primär mit Wahrnehmung zu tun, insofern die Psychologie des Films die mentalen Prozesse des Kinozuschauers untersucht und Film Gegenstand visueller Wahrnehmung ist.¹⁹ Insofern ist die Beziehung zwischen Psychologie und Ästhetik in The Photoplay nicht von einem Modell des Verhältnisses zwischen Wahrnehmungstheorie und ästhetischer Reflexion zu trennen, auch wenn hier die Psychologie nicht mit einer Psychologie der Wahrnehmung identisch ist. Während der psychologische Teil sich also mit der Wahrnehmung und den mentalen Prozessen befasst, die für die visuelle Erfahrung eines Films konstitutiv sind, zieht Münsterberg im zweiten Teil seines Buchs die ästhetischen Konsequenzen aus seinen psychologischen Analysen, und zwar zugunsten eines Plädoyers für die Eigenständigkeit der Kunstform Film. Münsterberg selbst thematisiert diese Beziehung zwischen beiden Teilen in der Einleitung zu seinem Werk The Photoplay folgendermaßen:
Für eine Annährung von Münsterbergs Psychologie an die Gestalttheorie siehe Andrew 1976, 16. Diese Annährung basiert unter anderem auf der Tatsache, dass Münsterberg in seinem Text Max Wertheimers Experimente zur Bewegungswahrnehmung (1912) erwähnt. Für eine andere Meinung, der zufolge Münsterberg einer atomistischen Auffassung der kausalen Psychologie seines akademische Lehrers Wilhelm Wundt verpflichtet bleibt, siehe Fredericksen 1977, 132. Laut Münsterberg zählen auch Emotionen zu mentalen Prozessen. In diesem Sinne ist die kognitive Dimension der Filmzuschauererfahrung nicht von der visuellen Wahrnehmung des Films zu trennen. Moure scheint eine andere Meinung zu haben, wenn er behauptet: „If Münsterberg elaborates on a theory of subjectivity in film, this theory is more cognitive than perceptive. The processes of attention, memory, and imagination which he describes are above all perceptions of meaning, and the corresponding cinematic devices are the objectifications of those processes.“ (Moure 2011, 32). Ich denke aber, dass bei Münsterberg diese „Wahrnehmungen der Bedeutungen“ nicht von der visuellen Wahrnehmung einer Welt (der Filmwelt) zu trennen sind, die, so Münsterberg, durch mentale Prozesse wie Aufmerksamkeit usw. geformt wird.
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Welche psychologischen Faktoren sind daran beteiligt, wenn wir das Geschehen auf der Leinwand beobachten? Zweitens aber müssen wir danach fragen, wodurch die Eigenständigkeit einer Kunst charakterisiert wird, was die Bedingungen, denen die Werke einer besonderen Kunst unterliegen, konstituiert. Die erste Fragestellung ist psychologisch, die zweite ästhetisch; beide gehören auf das engste zusammen. Mithin wenden wir uns zuerst dem psychologischen Aspekt des Films und danach dem künstlerischen zu.²⁰
Münsterberg weist hier der Psychologie und der Ästhetik jeweils zwei verschiedene Fragen zu: in der Psychologie geht es darum, nach den psychologischen Faktoren zu fragen, die beim Sehen eines Films eine Rolle spielen;²¹ die zentrale Frage der Ästhetik hingegen ist die nach der Spezifität einer Kunstform. Beide Fragen sind für Münsterberg eng verbunden, da die Ästhetik ihre Fragen nach der künstlerischen Besonderheit des Films nur auf der Grundlage einer Analyse der Wahrnehmung und der Erfahrung im Film beantworten kann. Genauer gesagt geht es dem Autor darum, aus der Analyse der Spezifität der Filmwahrnehmung, die sich, so der Autor, von der Wahrnehmung der Außenwelt grundsätzlich unterscheide, ein Argument für den künstlerischen Charakter des Films zu machen.²² Diese These geht mit zwei starken theoretischen Annahmen einher. Die erste betrifft Münsterbergs Kunstauffassung, die zweite, die für unser Problem relevanter ist, betrifft das in The Photoplay angewandte Verfahren, die Frage nach der Spezifität einer Kunstform zu beantworten. Was die erste Annahme betrifft, kann ich an dieser Stelle Münsterbergs Kunsttheorie kaum im Ganzen referieren,²³ aber es ist doch hilfreich, hier zumindest jene zentralen Elemente zu benennen, die zu einem besseren Verständnis der durch Münsterberg explizit hergestellten Beziehung zwischen Ästhetik und Psychologie beitragen. Nach Münsterbergs Definition von Kunst gestaltet jede Kunstform einen Teil unserer Erfahrung neu und trennt sie damit von der Sphäre des alltäglichen Lebens. Jede Kunst hat dabei ihre eigene Methode, die Realität zu transformieren,²⁴ und es ist genau diese Methode, so Münsterberg, die die Ei-
Münsterberg 1996, 40. In der originalen Fassung heisst es: „What psychological factors are involved when we watch the happenings on the screen? But secondly, we must ask what characterizes the independence of an art, what constitutes the conditions under which the works of a special art stand.The first inquiry is psychological, the second aesthetic; the two belong intimately together.“ (Münsterberg 2002 [1916], 63). Münsterberg meint hier fiktionale narrative Filme. Für eine Analyse dieses Modells in Verbindung mit einem ähnlichen Ansatz bei Rudolf Arnheims Film als Kunst (1932) vgl. Pedro 2013. Dieser Text enthält noch nicht die These, dass in Münsterbergs Buch zwei Modelle des Verhältnisses von Ästhetik und Wahrnehmungstheorie am Werk sind. Für eine Darstellung von Münsterbergs Kunsttheorie siehe Fredericksen 1977. Münsterberg 1996, 80; Münsterberg 2002 [1916], 123.
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genständigkeit einer Kunstform begründet. Zur genuinen Methode des Films, die Realität zu transformieren, gelangt Münsterberg aber durch seine psychologische Analyse. Um die Frage nach der Spezifität des Films als Kunstform zu beantworten, bedarf es, so Münsterbergs zweite Annahme, einer vorangehenden psychologischen Analyse, die die Grundlage für die Beantwortung dieser Frage liefert.²⁵ Wenn Münsterberg in seiner Schrift The Photoplay das Ziel verfolgt, für den Kunstcharakter des Films zu argumentieren, so macht er nichts anders als vor ihm schon andere Autoren wie Vachel Lindsay, mit dessen Essay The Art of the Moving Picture (1915) Münsterberg vertraut war. Im Unterschied zu anderen verfolgt Münsterberg dieses Ziel aber nicht mittels einer Analyse der Wahrnehmungsobjekte, d. h. der filmischen Bilder, sondern der Wahrnehmungssubjekte, d. h. der Erfahrung und Wahrnehmung des Films durch den Zuschauer. Münsterberg entscheidet sich damit für eine völlig neue argumentative Strategie, um den Kunstcharakter des Films zu erweisen: Statt den Akzent auf das Objekt zu setzten, nimmt er die Zuschauererfahrung in den Blick. Die Zweiteilung des Texts liegt daher in dem Hauptziel des Werks, nämlich einer Reflexion über den Kunstcharakter des Films, begründet. So heißt es bei Münsterberg: Unser ästhetisches Interesse wendet sich den Mitteln zu, mit denen das Lichtspiel auf die Psyche des Zuschauers einwirkt. Wenn wir die Mittel zu verstehen und zu erklären suchen, mit deren Hilfe die Musik ihre packenden Wirkungen ausübt, dann erreichen wir unser Ziel nicht dadurch, daß wir die Struktur des Klavieres oder der Violine beschreiben, oder daß wir die physikalischen Klanggesetze erklären. Wir müssen uns auf das Feld der Psychologie begeben und nach den psychischen Vorgängen beim Hören der Töne und Akkorde, der Harmonien und Disharmonien, der Klangarten und Klangintensitäten, der Rhythmen und Phrasen fragen, und wir müssen herausfinden, wie diese Elemente in den Melodien und Kompositionen miteinander verbunden sind. In der gleichen Weise wenden wir uns dem Lichtspiel zuerst mit einem rein psychologischen Interesse zu und fragen nach den elementaren Erregungen des Bewußtseins, die in unserem Erleben der Filmbilder eine Rolle spielen.²⁶
Dieses Verfahren Münsterbergs wirft eine Reihe von Fragen auf, unter anderem die, ob man berechtigt ist, ästhetische Erfahrung als Teil der Definition von Kunst zu sehen. Auf solche Fragen kann ich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingehen. Für eine Diskussion des Begriffs „ästhetischer Erfahrung“ siehe Carroll 2006. Münsterberg 1996, 41. Im Original heißt es: „Our aesthetic interest turns to the means by which the photoplay influences the mind of the spectator. If we try to understand and to explain the means by which music exerts its powerful effects, we do not reach our goal by describing the structure of the piano and of the violin, or by explaining the physical laws of sound. We must proceed to the psychology and ask for the mental processes of the hearing of tones and of chords, of harmonies and disharmonies, of tone qualities and tone intensities, of rhythms and phrases, and must trace how these elements are combined in the melodies and compositions. In this way we turn to the photoplay, at first with a purely psychological interest, and ask for the elementary
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Münsterberg formuliert damit die theoretische Annahme, dass das „ästhetische Interesse“, d. h. ein Interesse an der Kunstspezifität von Film, einer psychologischen Analyse bedarf und dass sich die Spezifität einer Kunst an der Erfahrung ablesen lasse, die ihre Rezipienten machen. Das Beispiel der Musikästhetik zeigt, dass diese theoretische Annahme nicht nur für die Filmästhetik gilt, sondern für jede Erörterung der künstlerischen Spezifität einer Kunst. Dabei scheint sich aus dem Unterschied zwischen dem am Anfang des Zitats erwähnten „ästhetischen Interesse“ und einem „rein psychologische Interesse“, das wir am Ende des Zitates lesen, ein Widerspruch zu Münsterbergs theoretischer Annahme zu ergeben: Lässt sich noch von einem „rein psychologischen Interesse“ sprechen, wenn das ästhetische Interesse die Psychologie orientiert? Durchaus nicht, denn schon im psychologischen Teil hat man mit einer Überschneidung von Problemen der Ästhetik mit denen der Wahrnehmungsphilosophie zu tun. Und diese Überschneidung entspricht ganz dem Modell, das ich „implizit“ genannt habe. Dies sei im Folgenden verdeutlicht.
2.2 Inwiefern sind Münsterbergs wahrnehmungspsychologische Erörterungen durch eine ästhetische Problemstellung vorgezeichnet? Münsterbergs Rede von einem „rein psychologischen Interesse“ in obigem Zitat scheint nicht nur seiner Behauptung zu widersprechen, dass die psychologische und die ästhetische Fragestellung „auf das engste“ zusammengehören.²⁷ Sie scheint auch im Widerspruch zu den argumentativen Zielen zu stehen, die Münsterberg im psychologischen Teil seines Buchs verfolgt. Denn ein „rein psychologisches Interesse“ hieße, dass die Psychologie eine Analyse der Kinozuschauererfahrung liefert, die unabhängig vom ästhetischen Ziel des Werks ist. Münsterbergs Analyse der Filmzuschauererfahrung im ersten Teil seines Buchs geht aber mit einer Reflexion über deren Unterschied zu anderen Kunsterfahrungen und über die Bedeutung filmischer Mittel einher. Und genau dies setzt ein Modell des Verhältnisses zwischen Wahrnehmungstheorie und Ästhetik voraus, das wir das „Zusammengehörigkeitsmodell“ nennen möchten. Der Begriff stützt sich auf Münsterbergs Behauptung, dass die psychologische und die ästhetische Fragestellung „auf das engste“ zusammengehören.Was ist darunter zu verstehen?
excitements of the mind which enter into our experience of the moving pictures.“ (Münsterberg 2002 [1916], 65). Münsterberg 1996, 40; Münsterberg 2002 [1916], 63.
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Münsterbergs argumentatives Ziel ist es, zeitgenössische Positionen zu widerlegen, deren Vertreter den Kunstcharakter des Films in Abrede stellen.²⁸ Genauer gesagt argumentiert Münsterberg gegen die Meinung, der zufolge Film nicht mehr als gefilmtes Theater sei.²⁹ Dafür führt Münsterberg eine Analyse der Erfahrung des Filmzuschauers ins Feld: Der Film unterscheide sich vom Theater vor allem durch die Funktionsweise der psychologischen Prozesse, die für die filmische Erfahrung von Bedeutung sind.³⁰ Während die Visualisierung eines Theaterstücks denselben Bedingungen wie die Wahrnehmung der Außenwelt unterworfen sei, beruhe die Visualisierung eines Films auf anderen Wahrnehmungsbedingungen. Münsterberg verweist dafür auf die Raum- und Bewegungswahrnehmung, auf die psychologischen Prozesse der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der Imagination und schließlich auf Emotionen im Film. Münsterbergs Argumente für die Spezifität der filmischen Wahrnehmung lassen sich in drei zentralen Punkten zusammenfassen: Erstens: Münsterberg argumentiert, dass die Wahrnehmung von Raum und Bewegung im Film grundsätzlich zu unterscheiden ist von jener im Theater. Letztere nämlich unterliege prinzipiell den gleichen Bedingungen wie die Raumund Bewegungswahrnehmung in der physischen Welt.Während in der physischen Welt ebenso wie im Theater die Objekte in einem dreidimensionalen Raum gesehen werden und die Bewegung eine reale ist, ist die Filmwahrnehmung auf eine Leinwand gerichtet, d. h. auf einen zweidimensionalen Raum. Überdies ist die wahrgenommene Bewegung nicht real, denn ihr liegt keine kontinuierliche Bewegung zugrunde.³¹ Aber es ist nicht allein diese Tatsache, die für Münsterberg die Filmwahrnehmung ausmacht. Kennzeichnend für die Wahrnehmung von Raum und Bewegung im Film ist für Münsterberg die Tatsache, dass der Zuschauer trotz der Flachheit des Filmbildes und der Unwirklichkeit der Bewegung auf der Leinwand die dargestellten Gegenstände als dreidimensional und die Bewegung als real und kontinuierlich wahrnimmt. Dies ist Münsterberg zufolge nur deshalb möglich, weil der Filmwahrnehmung ein mentaler Konstruktionsprozess zu-
Das war eine übliche Position zur Zeit Münsterbergs. Vgl. Münsterberg 1996, 73: „(…) aber im Innersten bleibt die öffentliche Meinung dieselbe; der Film sei keine wirkliche Kunst.“ Im Original: Münsterberg 2002 [1916], 112. Genauer: Münsterberg will die These widerlegen, dass der Film nicht mehr als die Kopie einer Theateraufführung sei, etwa so, wie die Schallplatte eine musikalische Aufführung reproduziert. Vgl. Münsterberg 1996, 72 f.; Münsterberg 2002 [1916], 111. Münsterberg analysiert diese mentalen Prozesse unabhängig von der Filmerfahrung in seinem Buch Psychology: General and Applied (1914). Für eine Kritik von Münsterbergs Auffassung der Bewegung im Film als nicht-real siehe Currie 1995, 34.
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grunde liegt, welcher den Eindruck von einem dreidimensionalen Raum und von realer Bewegung erzeugt. Zweitens argumentiert Münsterberg, dass die mentalen Prozesse der Aufmerksamkeit, der Erinnerung oder der Imagination (in ihrer Funktion als Projektion in die Zukunft) in den kinematografischen Techniken wie der Großaufnahme (close-up), der Rückblende (cut-back) und der Vorausblende (flashforward) gewissermaßen „objektiviert“ werden. In diesem Zusammenhang zieht Münsterberg eine Parallele zwischen mentalen Prozessen und filmischen Techniken.³² Aus dieser Beobachtung schließt Münsterberg, dass die Filmkamera eine bestimmte Weltwahrnehmung generiert, die durch objektivierte mentale Prozesse wie Großaufnahme, Rückblende und Vorausblende umgestaltet ist.³³ Jörg Schweinitz spricht in diesem Zusammenhang von Münsterbergs Auffassung des Films als einem mental strukturierten Wahrnehmungsraum.³⁴ Münsterberg liefert hier eine Interpretation von dem, was Film ist. Er verwendet den Begriff der „Objektivation“ also, um eine Interpretation filmischer Techniken zu liefern, die über die rein psychologische Analyse der Zuschauerwahrnehmung hinausgeht. Überdies argumentiert Münsterberg im Kontext seiner psychologischen Analyse für die Unterscheidung zwischen den künstlerischen Darstellungsmitteln des Theaters und denen des Films: Das Theater, so Münsterberg, kann beispielsweise nicht die Aufmerksamkeit des Zuschauers lenken wie die Großaufnahme dies tut, und es kann nicht den Inhalt des Bewusstseins eines Charakters (zum Beispiel eine Erinnerung) als Gegenstand unserer Wahrnehmung darstellen wie eine Rückblende etc.³⁵
Münsterberg 1996, 56 f.; Münsterberg 2002 [1916], 88. Zum Begriff der „Objektivation“ sowie zur Parallele zwischen mentalen Prozessen und filmischen Techniken gibt es verschiedene Interpretationen. Die „Objektivation“ wurde in Jarvie 1987, 72 als eine Reproduktion der Funktionsweise des menschlichen Geistes verstanden; in Andrew 1976, 19 f. als die Idee, der zufolge das Bewusstsein das Material und die Basis für den Film liefert; in Brain 2012, 346 f. wird die Objektivation mit der Transzendentalphilosophie Fichtes in Verbindung gebracht. Die Parallelle wird in Wicclair 1978 als eine phänomenologische Analogie interpretiert, während Carroll 1988 diese als eine „funktionale Analogie“ versteht. Für einen Überblick und eine Diskussion einiger dieser Lesarten sei verwiesen auf Pedro 2011. Branigan 1984, 196 f. behauptet, dass Münsterbergs Verfahren den Grundstein für die Naturalisierung filmischer Konventionen legt, da diese Konventionen eine natürliche „Bedeutung“ besitzen, die durch mentale Gesetze gegeben ist. Vgl. Schweinitz 1996, 25. Im ästhetischen Teil seines Buchs zieht Münsterberg für den Film Konsequenzen aus dieser Analyse. Er behauptet, dass der Film die Wirklichkeit so rekonstruiere, dass er die Formen der Außenwelt (Raum, Zeit und Kausalität) überwindet und die Vorstellungsinhalte den Formen der inneren Welt (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Imagination und Emotion) einpasst (vgl. Münsterberg 1996, 84; Münsterberg 2002 [1916], 129). Jede „Form“, von der Münsterberg hier in Bezug auf die
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Drittens betrachtet Münsterberg die emotionale Erfahrung im Film, wobei er darauf aufmerksam macht, dass die Emotionen im Film nicht nur als Darstellung der Emotionen von Charakteren, sondern auch als Verkörperung (embodiement) unserer eigenen Emotionen erscheinen.³⁶ In diesen drei Punkten, besonders aber im zweiten, wird die Psychologie durch eine ästhetische Problemstellung vorgeprägt: Die Filmerfahrung wird analysiert aus der Perspektive der Frage, inwiefern der Film zum Gegenstand einer ästhetischen Erfahrung wird. Dies hat zur Konsequenz, dass Münsterbergs Theorie der Kunst, wie sie sich unter dem Titel „Aesthetics of the Photoplay“ im zweiten Teil seines Buches findet, allein nicht in der Lage ist, die konkreten Unterschiede zwischen den verschiedenen Kunstformen zu liefern. Vielmehr bedarf die ästhetische Frage nach der Spezifität der Kunstform ‚Film‘ der psychologischen Analyse, und diese hat Münsterberg ja auch im ersten Teil seines Buchs geliefert. Anders gesagt: Bereits im ersten Teil des Werks geht es darum zu verstehen, inwiefern die Erfahrung eines Films eine „ästhetische Erfahrung“, d. h. die Erfahrung eines Kunstwerks, ist. Das Ineinandergreifen von Wahrnehmungspsychologie und Ästhetik erweist sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass Münsterbergs Auffassung von den mentalen Prozessen der Filmzuschauererfahrung auf laborpsychologischen Untersuchungen basiert.³⁷ Außenwelt und die innere Welt spricht, korrespondiert mit je einem Aspekt der Wahrnehmung und der visuellen Erfahrung, den Münsterberg bereits in seiner wahrnehmungspsychologischen Analyse herausgearbeitet hat: die räumliche Gestalt des Films emanzipiert sich von den Gesetzen der Außenwelt, indem der Geist (the mind) den auf der Leinwand zu sehenden dreidimensionalen Raum und die kontinuierliche Bewegung konstruiert; die zeitliche Struktur der physischen Welt sowie das Gesetz der Kausalität werden durch Rückblenden und Vorausblenden gebrochen, wodurch die mentalen Prozesse des Gedächtnisses und der Phantasie objektiviert werden. Vgl. Münsterberg 1996, 68; Münsterberg 2002 [1916], 104 f. u. 129. Münsterberg betracht auch hier die emotionale Reaktion des Filmzuschauers, die sich von den Emotionen der Filmcharaktere vollkommen unterscheiden kann. Brain 2012, 331 u. 334 verweist auf Münsterbergs Strategie, das klinische Modell des Filmzuschauers (das Filmzuschauererfahrung und mentale Pathologie zusammenbringt) mit einer Beschreibung aus dem Labor zu ersetzen. Er zeigt nämlich, wie Münsterbergs Auffassung von den mentalen Prozessen des Filmzuschauers auf laborpsychologischen Untersuchungen basiert. Vgl. auch Bruno 2009, 92, die behauptet, dass die Titel der Buchkapitel von The Photoplay den Hauptkategorien von Experimenten entsprechen, die in Münsterbergs Harvard Psychological Laboratory durchgeführt wurden. Für eine Beschreibung des Labors siehe Bruno 2009, 96 – 107. Beide Autoren versuchen, Münsterbergs Konzeption der Ästhetik in seiner psychologischen Untersuchung zu kennzeichnen: Brain spricht von „physiologischer Ästhetik“ bzw. zitiert den von Münsterberg in seinem Aufsatz The Problem of Beauty benutzten Ausdruck „experimental aesthetics“ (Brain 2012, 334 f.). Bruno spricht von einem „neuroaesthetic approach“, den Münsterberg vorwegenommen habe (Bruno 2009, 92). Ich gehe auf beide nicht näher ein, da es mir darum geht zu verstehen, wie sich Ästhetik und Wahrnehmungstheorie aufeinander beziehen.
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3. Schluss Ich habe zwischen zwei Lesarten des Verhältnisses von Ästhetik und Wahrnehmungstheorie unterschieden, um ihre theoretischen Vorannahmen sichtbar zu machen. Nanays wahrnehmungsphilosophisches guide-Modell der Ästhetik stützt sich auf zwei Grundannahme: 1) dass beide Disziplinen Fragen teilen, die die Erfahrung betreffen und 2) dass allein eine Wahrnehmungsphilosophie das begriffliche und methodologische Instrumentarium liefern kann, um die Probleme der Ästhetik zu behandeln. Dass Nanay aber dazu tendiert, mittels seines wahrnehmungsphilosophischen guide-Modells eine Überlagerung der Ästhetik (genauer gesagt jenes Bereichs der Ästhetik, der sich mit Fragen der ästhetischen Erfahrung befasst) durch die Wahrnehmungsphilosophie zu vollziehen, wird schon allein daran deutlich, dass er die Frage, welchen Beitrag die Ästhetik zu wahrnehmungstheoretischen Problemen liefern kann, ausklammert. Ferner habe ich gezeigt, wie Münsterbergs implizites Modell, das ich Zusammengehörigkeitsmodell genannt habe, eine andere Lesart des Verhältnisses zwischen Wahrnehmungstheorie und Ästhetik bietet. Ich habe dieses Modell von einem expliziten Modell der Verhältnisbeschreibung beider Disziplinen in Münsterbergs Photoplay unterschieden. Das implizite Modell, das im ersten Teil des Buches am Werk ist, zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm Wahrnehmungstheorie bzw. Wahrnehmungspsychologie und Ästhetik in einer komplementären Art und Weise verschiedene Fragen stellen: Die Wahrnehmungspsychologie zielt auf eine Beschreibung der mentalen Prozesse, die die Filmerfahrung strukturieren, während die Ästhetik danach fragt, was die ästhetische Filmerfahrung von anderen Erfahrungen unterscheidet. Münsterbergs psychologische Analyse der mentalen Prozesse der Filmwahrnehmung ist bereits durch eine ästhetische Fragestellung vorgeprägt, indem er deutlich zwischen der Wahrnehmung der Außenwelt und der Filmwahrnehmung unterscheidet. Münsterbergs Analyse der Filmerfahrung setzt einerseits eine wahrnehmungspsychologische Untersuchung voraus, weil er auf ihre Begriffe und Untersuchungsmethoden rekurriert; sie bedarf andererseits aber einer ästhetischen Reflexion, weil die Frage nach der Spezifität der Filmwahrnehmung im Hinblick auf ihre ästhetische Dimension andere Probleme aufwirft, die nicht im Rahmen einer „reinen“ Wahrnehmungstheorie beantwortet werden können.³⁸
Dieser Aufsatz wurde durch ein Postdoc-Stipendium der FCT – Fundação para a Ciência e a Tecnologia (Portugal) gefördert.
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Was ist „ästhetisches Wissen“? Überlegungen zur Konzeption einer Wissensform In den folgenden Überlegungen soll eine Konzeption ästhetischen Wissens entworfen werden, in der dem Bereich der Sinnlichkeit ein starker, gegenüber dem Begrifflichen selbständiger Status zukommt. Dabei soll die Wendung „ästhetisches Wissen“ durchaus ernst genommen werden: Es geht um Wissen in einem relativ starken Sinne, das durch Prozesse im Bereich des Ästhetischen konstituiert wird. Zur Orientierung dient die Anknüpfung an den Begriff der ästhetischen Erfahrung, der im Zentrum vieler Debatten in der zeitgenössischen Ästhetik steht. „Ästhetisches Wissen“ kann als eine spezifische Art ästhetischer Erfahrung verstanden werden: Beinhaltet ästhetische Erfahrung evaluative, phänomenologische und semantische Aspekte,¹ so greift die Konzeption ästhetischen Wissens eine besondere Verbindung dieser Aspekte heraus, die epistemischen Charakter aufweist und damit eine eigene Form von Wissen konstituiert. Ästhetisches Wissen besteht demzufolge in einem spezifischen Prozess der Auffassung von Eigenschaften, durch den es sich von begrifflichem Wissen unterscheidet. Genauer: Ästhetisches Wissen wird als eine besondere Art von Erfahrung bestimmt, die über einen sinnlich strukturierten Lernprozess begrifflich unbestimmte Eigenschaften hervorhebt, d. h. Eigenschaften präsentiert, die unabhängig von diesem Prozess nicht implizit oder explizit zugeschrieben werden. Der Prozess der sinnlichen Erfassung dieser Eigenschaften kann potenziell zu einer Art Begriffsbildung führen – diese Beziehung zum Begrifflichen und die Struktur des sinnlichen Auffassungsprozesses bilden die Motivation für die Wahl des Wortes „Wissen“. Ich werde mich nicht im Detail mit der Frage auseinandersetzen, ob und warum die zu entwickelnde Konzeption ästhetischen Wissens wichtig ist und wie sie sich in die vielfältigen Entwicklungen der ästhetischen Debatten einfügen könnte. Mit Ausnahme von ein paar einleitenden Bemerkungen möchte ich auch keine Einschätzungen und Vorschläge zum Status oder zum Gegenstandsbereich der Ästhetik als philosophischer Disziplin machen. Diese strategischen Punkte begründen die Motivation für eine eigenständige Konzeption ästhetischen Wissens; ich konzentriere mich allerdings im Folgenden hauptsächlich auf inhaltliche
Vgl. Tomlin 2008, 3.
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Aspekte, die man sinnvollerweise von einer Konzeption mit dem Namen „Ästhetisches Wissen“ erwarten könnte. Im Hintergrund der Überlegungen stehen zentrale Einsichten aus Kants Kritik der Urteilskraft, über die allerdings in zwei Hinsichten hinausgegangen wird: Der Bereich der ästhetischen Urteile wird über die Schönheitsurteile hinaus auf andere Eigenschaften ausgedehnt und die dem ästhetischen Beurteilungsprozess zugrundeliegende Struktur erörtert. Zu diesem Zweck wird in Anknüpfung an Überlegungen Nelson Goodmans die Symbolbeziehung der Exemplifikation ins Spiel gebracht. In einer ersten Annäherung werden aber zunächst die Begriffe des Ästhetischen und des Wissens genauer bestimmt.
1. Der Bereich des Ästhetischen und das Problem der Bestimmung der Sinnlichkeit Der Begriff des Ästhetischen impliziert Bezüge zur sinnlichen Erkenntnis, zur Wahrnehmung, zum Bereich des Schönen, zu gewissen Werten und zur Kunst. Um eine klare Vorstellung vom Ästhetischen zu gewinnen, werden im Folgenden passende Ein- und Abgrenzungen dieser verschiedenen Bereiche angedeutet. Die Beziehungen des Ästhetischen zur Kunst sollen die folgenden Überlegungen nicht leiten, sondern weitgehend beiseitegesetzt werden. Häufig werden beide Bereiche in sehr engem Zusammenhang zueinander thematisiert, bis hin zu einer Identifizierung des Ästhetischen mit dem Künstlerischen; in manchen Kontexten entsteht auch der Eindruck zirkulärer Bestimmungen beider Bereiche. Ich gehe dagegen davon aus, dass das Ästhetische in jedem Fall unabhängig von der Kunst bestimmt werden sollte, während umgekehrt eine Bestimmung (mindestens von Teilaspekten) von Kunst durch das Ästhetische natürlich nicht ausgeschlossen ist.² Eine solche Ordnung der Begriffe bietet einige Vorteile, zumal Konzepte des Ästhetischen häufig mit klaren theoretischen Interessen eingeführt und insofern einfacher handhabbar sind, während sich ungleich größere Schwierigkeiten beim Versuch einer einheitlichen Bestimmung des weiten Feldes der Kunst in theoretischer Absicht ergeben. Allerdings bieten sich Kunstwerke
Zur Frage nach dem Verhältnis des Ästhetischen zur Kunst vgl. z. B. Schultz 1978. In Carroll 2010 findet sich eine zirkuläre Bestimmung der Beziehungen zwischen ästhetischer Erfahrung und Kunst, die Carroll dazu führt, den epistemischen Zugang (epistemic access), d. h. eine sinnliche Auffassung des Gegenstandes, als notwendige Bedingung für ästhetische Erfahrung auszuschließen. Die Konsequenz ist dann eine kontingente, empirisch-induktiv ermittelte Begriffsbestimmung von ästhetischer Erfahrung, die philosophisch nicht besonders informativ ist.
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häufig als paradigmatische Beispiele für ästhetische Phänomene an – diese paradigmatische Rolle begründet aber noch keine systematische Abhängigkeit des Ästhetischen von der Kunst, weshalb die Ästhetik als philosophisches Forschungsfeld von der Philosophie der Kunst zu trennen ist. In vielen Diskussionen zu ästhetischen Problemen geht es um ästhetische Werte; so kann z. B. das Prädikat „schön“ als ein besonderer Fall eines wertenden ästhetischen Begriffs angesehen werden. Auf diesen Aspekt der Ästhetik kann ich allerdings im Folgenden nicht weiter eingehen; an einigen Stellen dürften sich aber Anknüpfungsmöglichkeiten andeuten, die in einer anderen Untersuchung vertieft werden können. Besonders der Bezug zur Erkenntnis ist für den vorliegenden Zusammenhang natürlich wichtig. Die Ästhetik als philosophische Disziplin in ihrer ursprünglichen Fassung von Baumgarten erhob als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis den Anspruch, das Erkenntnismäßige an den klaren, aber verworrenen Vorstellungen der Sinnlichkeit zu bestimmen. Unter ästhetischem Wissen könnte daher auch einfach ein Synonym für „sinnliche Erkenntnis“ verstanden werden, also eine (weitere) Bezeichnung des Kerngegenstands der Ästhetik seit Baumgarten, der ja auch als deren Eingangsdefinition eine lange Liste von Charakterisierungen anführt³ – ästhetisches Wissen wäre dann nur ein weiteres Element dieser Liste, und aus Baumgartens Sicht wäre vielleicht auch nichts gegen diese deutsche Übersetzung seiner lateinischen Terminologie einzuwenden. Doch ein unmittelbarer Anschluss an Baumgartens Konzeption sinnlicher Erkenntnis würde die späteren Entwicklungen der Ästhetik als Disziplin verkennen, vor allem Kants Kritik an der Auffassung ästhetischer Urteile als Erkenntnisurteile. Denn aus Kants Perspektive wäre die Rede von ästhetischer Erkenntnis oder gar von einem ästhetischen Wissen zunächst abzulehnen. Im ersten Teil der Kritik der Urteilskraft argumentiert Kant für die Abgrenzung des Ästhetischen von Erkenntnisansprüchen, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft thematisiert werden. Mit dieser Ausgrenzung bestimmter epistemischer Maßstäbe aus dem Bereich des Ästhetischen setzt sich Kant also klar von Baumgarten ab. Doch die Unterschiede zwischen beiden Autoren sind komplizierter. Zwar erhält die Sinnlichkeit bei Baumgarten einen weit „höheren“ Stellenwert, als die leibniz-wolffsche Philosophie ihr zugestehen wollte; doch Kant wertet die Sinnlichkeit gegenüber Baumgarten sogar noch weiter auf, indem er Baumgartens – vom Standpunkt der Erkenntnistheorie eigentlich hinderliche – Auffassung von
„§1. AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologie inferior, ars pulchre cognitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitiva.“ (Baumgarten 2007, § 1, 10).
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sinnlichen Vorstellungen (Anschauungen) als verworren ablehnt.⁴ So kann Kant der Sinnlichkeit in der transzendentalen Ästhetik einen besonderen Ort im Erkenntnisprozess zuordnen, allerdings mit der Einschränkung, dass Anschauungen alleine noch keine Erkenntnis im vollen Sinne konstituieren – dazu bedarf es des Verstandes als Vermögen der Begriffe. Kant lehnt somit Baumgartens Anspruch auf sinnliche Erkenntnis ab, wertet die spezifische Rolle der Sinnlichkeit für die Erkenntnis aber zugleich auf. Dennoch spielt Erkenntnis im strengen Sinne der Kritik der reinen Vernunft zuletzt auch in der Kritik der Urteilskraft im Bezug auf das Ästhetische eine Rolle, allerdings eine ganz besondere und andersartige, die im „freien Spiel der Erkenntniskräfte“ ihren Ausdruck findet (vgl. u. a. KU 217). Eine grundsätzliche Schwierigkeit mit dem Begriff des Ästhetischen besteht darin, dass der wesentlich mit ihm verknüpfte Bereich der Sinnlichkeit häufig nur negativ bestimmt ist: Das Ästhetische bezieht sich auf das Sinnliche, insofern es unabhängig vom Begrifflichen und von den Funktionen des Verstandes aufgefasst wird. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Was kann man positiv zur Sinnlichkeit sagen? Nach welchen Kriterien kann die Trennung des Sinnlichen vom Begrifflichen vollzogen werden?
1.1 Das Sinnliche als das Gegebene: passive Aufnahme vs. aktive Verarbeitung? Verweise auf beispielsweise die Unterscheidung zwischen Körper und Geist – oder zwischen Sinnesorganen und Denken – bieten alleine noch keine befriedigenden Antworten auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Begriff, zumal die daran anschließenden Fragen nach der Unterscheidung von Körper und Geist keine leichteren Probleme aufwerfen. Konkretere Positionen sind von dem Ansatz inspiriert, die Grenze zwischen Sinnlichkeit und Verstand anhand einer Zuordnung von passiver Rezeptivität und aktiver Spontaneität zu bestimmen. Die Sinne nehmen demnach passiv etwas auf, was dann vom Verstand aktiv verarbeitet wird. Das durch die Sinne Aufgefasste ist das „Gegebene“, wohingegen das, was sich in einer Synthese in begrifflicher Form präsentiert, etwas konstruktional Verarbeitetes ist. Die Gründe für die Ablehnung dieses Bildes sind zahlreich und machen einen wichtigen Teil (nicht zuletzt) der kritischen Philosophie aus; sie sollen hier nicht Die Unterscheidung zwischen verworrenen und deutlichen Vorstellungen ist nach Kant eine logische Bestimmung, während der Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Begriff kein logischer, sondern ein transzendentaler ist. Vgl. KrV B 61 ff., 326 f. und AA VII, 143 ff. (Apologie für die Sinnlichkeit).
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im Einzelnen wiederholt werden. Weder zeigen sich die Sinne bei näherer Untersuchung als passive Aufnahmegeräte, noch scheint die Aktivität des Begrifflichen in der erkenntnismäßigen Durchdringung die ganze Geschichte zu sein. Doch nicht nur das: Auch die ganze Gegenüberstellung von Gegebenem und Gemachtem muss wohl überwunden und unterlaufen werden, um nicht in die Sackgasse eines unüberwindlichen Dilemmas zu geraten; Sinnlichkeit und Begriff sind offenbar nicht durch diese Unterscheidung bestimmt, nicht zuletzt weil immer wieder verschiedene Arten von Aktivität im Sinnlichen geltend gemacht werden. Unter den neueren Versuchen, das Dilemma des Gegebenen und des Gemachten zu unterlaufen, wird John McDowells Entwurf aus Mind and World häufig diskutiert.⁵ McDowell schlägt eine Integration des Sinnlichen im Begrifflichen vor, so dass sich das Problem der prinzipiellen Getrenntheit von Sinnlichkeit und Begriff auflöst. Er lehnt die Annahme nicht-begrifflicher Gehalte ab und bestimmt dementsprechend das Sinnliche als einen Anwendungsbereich begrifflicher Fähigkeiten. So sind z. B. die Fähigkeit, etwas bestimmtes zu sehen, und die Fähigkeit, entsprechende Wahrnehmungsurteile zu fällen, begriffliche Fähigkeiten, da sie „rational in die Spontaneität integriert sind“; zugleich erfüllen sie aber auch eine rezeptive Funktion. Das unterscheidende Merkmal der Sinnlichkeit kann diesem Ansatz zufolge gerade nicht darin bestehen, dass nicht-begriffliche Gehalte passiv gegeben und aufgenommen werden, da es nicht-begriffliche Gehalte gar nicht gibt. Begrifflich ist etwas, wenn es in inferentielle (begründende) Beziehungen treten kann; Nicht-Begriffliches wäre prinzipiell von inferentiellen Beziehungen ausgeschlossen; daher kann es keinen epistemisch relevanten Bereich des Nicht-Begrifflichen geben. Aus diesem Grund ist das sogenannte unmittelbar (also nicht-inferentiell) sinnlich Gegebene eben nur ein Mythos. So weit McDowell. Man muss ihm zunächst recht geben: es ist nicht einsichtig, wie etwas (passiv) sinnlich Gegebenes einerseits nicht-begrifflich, also von allen denkbaren inferentiellen Beziehungen getrennt sein soll, andererseits aber als Fundament des Wissens in begriffliche (inferentielle) Beziehungen treten können muss. Damit würde man eine inkonsistente Behauptung über die Grenzen des Inferentiellen (und damit der Rationalität) aufstellen, über die hinweg dann ganz paradox das epistemische Fundament gelegt werden soll. Epistemische Relevanz kann in der Konsequenz nur Begrifflichem zukommen, wodurch das Sinnliche in seiner Begründungsfunktion als Anwendungsbereich begrifflicher Fähigkeiten bestimmt werden kann.
Vgl. McDowell 1994, besonders Vorlesung 3 („Non-conceptual Content“).
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Andererseits hat die Integration der Sinnlichkeit in begriffliche Vermögen auch viel Unbehagen ausgelöst. Die starke Konsequenz, dass die Welt selbst begrifflich strukturiert ist, scheint der Sinnlichkeit keinen besonderen Status mehr zuzugestehen. Die Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Begrifflichem wird in letzter Konsequenz also nur dadurch „aufgelöst“, dass die Sinnlichkeit als selbständige Auffassungsart unter den Tisch fällt und lediglich als besondere Eigenschaft einiger begrifflicher Fähigkeiten vorkommt. Mit dieser Auflösung des Dilemmas wird zugleich die Eigenständigkeit der Sinnlichkeit selbst ausgeschlossen und damit etwas eliminiert, was in anderen Zusammenhängen wichtig erscheint. Der Grund für diese Eliminierung liegt natürlich in der Identifikation des Sinnlichen mit dem passiv Gegebenen. Um dem damit verbundenen Unbehagen gerecht zu werden, kommt es daher darauf an, das Sinnliche nicht dem Begrifflichen einzuverleiben, zugleich aber auch nicht als passiv Gegebenes zu bestimmen. Wie ist das möglich? Trotz der von McDowell hervorgehobenen unplausiblen Rolle des Nicht-Begrifflichen im Kontext epistemischer Begründungsansprüche wird die Annahme anderer Funktionen eines nicht-begrifflichen Bereichs davon nicht berührt, geschweige denn ausgeschlossen. Wenn aber das Sinnliche nicht auf seine Rolle als Element epistemischer Begründung festgelegt wird, es also nicht die Rolle einer rechtfertigenden Instanz für Wissensansprüche zu erfüllen hat, dann macht es Sinn, ihm einen nicht-begrifflichen Status zuzugestehen. Es muss dann nichts hinsichtlich der inferentiellen Potenz der Sinnlichkeit entschieden werden; man braucht keinen geheimnisvollen Bereich anzunehmen, der im ewigen Jenseits des Raums der Gründe liegt, zugleich aber Begründungsfunktionen übernehmen soll. Vielmehr eröffnet sich ein Bereich des Nicht-Begrifflichen, wenn man es unabhängig von jeglicher Begründungsrolle betrachtet, wenn man also gezielt von dem möglichen Platz im Raum der Gründe absieht. Denn es ist nicht einzusehen, mit welcher Begründung man den Bereich des Sinnlichen von jeglicher Möglichkeit, in irgendwelche denkbaren nicht-inferentiellen Beziehungen zu treten, fernhalten könnte. Das Argument gegen McDowells Engführung der Sinnlichkeit ist also folgendes: McDowell sagt, dass Sinnlichkeit unter der Voraussetzung ihrer begründenden Rolle im Erkenntnisprozess begrifflich strukturiert sein muss und folglich nicht etwas passiv Gegebenes sein kann. Verzichtet man aber auf diese Voraussetzung, verschwindet nicht unbedingt der Bereich des Sinnlichen – er stellt sich nur ganz anders dar.⁶
Genau diese Art von Erweiterung leitet das Forschungsprogramm von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Eine Stelle im 3. Band lässt sich direkt auf McDowells Konzeption beziehen:
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Diese Betrachtungsweise drückt einen Aspekt dessen aus, was Kant in der Kritik der Urteilskraft „interesselos“ nennt. Zwar geht es Kant im Zusammenhang mit dieser Charakterisierung um ein Gefühl des Wohlgefallens, das auf einem reinen Geschmacksurteil basiert; es geht ihm also um eine Urteilstheorie und um die Frage nach dem Schönen, nicht um die Frage nach der Legitimität der Annahme eines nicht-begrifflichen Bereichs. Aber entscheidend für eine ästhetische Charakterisierung der Sinnlichkeit ist Kants explizite Ausgrenzung des Begrifflichen, mit der schließlich das ästhetische Urteil vom logischen (Erkenntnis‐)Urteil unterschieden wird. Es geht also um eine besondere Betrachtungsart oder Einstellung im Bezug auf Sinnliches – es wird gerade unabhängig von seiner begründenden Rolle im Erkenntnisprozess aufgefasst. Das Verhältnis der Sinnlichkeit zum ästhetischen Urteil kann in der Konsequenz nicht nach dem Vorbild von Erkenntnisurteilen konzipiert werden: Während ein Erkenntnisurteil begrifflich strukturiert ist und nur in der Anwendung begrifflicher Vermögen seine Rechtmäßigkeit erlangt, sind ästhetische Urteile sinnlich strukturiert und kommen erst durch den Ausschluss begrifflicher Bestimmungen zustande. Inwiefern ist das Sinnliche aus dieser Perspektive betrachtet gerade nicht etwas passiv Gegebenes? – Mit der Ausgrenzung von Erkenntnisansprüchen wird die Opposition „aktiv vs. passiv“ oder „Rezeptivität vs. Spontaneität“ überhaupt unterlaufen, so dass also keine Entscheidung für eine der beiden Seiten mehr fallen muss. Wenn nicht in erkenntnistheoretischem Sinne begründet oder gerechtfertigt wird, dann ergibt sich nicht mehr das naheliegende, aber irreführende Bild einer aktiven Bearbeitung von passivem Material. Auch besteht keine Veranlassung, im Ästhetischen das Sinnliche im Begrifflichen aufzulösen, um dem damit verbundenen Dilemma von Passivität und Aktivität zu entkommen; denn gerade eine gründliche Trennung des Sinnlichen vom Begrifflichen im Ästhetischen verleiht der Sinnlichkeit einen eigenen Status, indem die ihr eigenen
„Halten wir an [der] Einsicht in die ‚Mehrdimensionalität‘ der geistigen Welt fest, so gewinnt damit auch die Frage nach dem Verhältnis von ‚Begriff‘ und ‚Anschauung‘ alsbald eine wesentlich komplexere Gestalt. Solange wir, im Umkreis der rein erkenntniskritischen Frage stehend, lediglich die Voraussetzungen und die Gültigkeit der wissenschaftlichen Grundbegriffe untersuchen, solange wird auch die Welt der sinnlichen Anschauung und der sinnlichen Wahrnehmung immer nur im Hinblick auf ebendiese Begriffe bestimmt und als Vorstufe für sie gewertet. […] Und so findet sich jetzt in der scheinbaren ‚Rezeptivität‘ der Anschauung die Spontaneität des ‚Verstandes‘ wieder – ebenjenes Verstandes, der kraft seiner eigenen Gesetzlichkeit die Bedingung der reinen Naturerkenntnis, der Gesetzlichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung und ihres Gegenstandes, ist. Aber so wesentlich diese Richtung auf die Systematik der ‚Erfahrung‘, auf das universelle System der Naturerkenntnis, für die sinnliche Anschauung ist, so ist sie doch nicht die einzige Bedeutungsintention, die in ihr beschlossen liegt“ (Cassirer 2010, 15). In diesen Formulierungen wird auch deutlich, dass es hier nicht um einen Vorgang der Abstraktion geht.
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Leistungen hervortreten: weder passiver Mechanismus, noch begriffliche Aktivität. Doch diese Überlegungen reichen für sich genommen noch nicht aus, um den alternativen Status des Sinnlichen zu klären. Es fehlt hier noch ein unabhängiges Argument für ein Modell, in dem sinnliche Prozesse einerseits nicht bloß „von selbst“ ablaufen, andererseits auch nicht durch Begriffe angeleitet werden. Erst dann kann die Identifizierung des Sinnlichen mit dem passiv Gegebenen mit aller Bestimmtheit zurückgewiesen werden. Die zu entwickelnde Konzeption ästhetischen Wissens tritt mit dem Anspruch auf, ein solches alternatives Modell bereitzustellen.
1.2 Das Sinnliche als Erfassung des Individuellen: Einzelnes vs. Allgemeines? Ein anderer Ansatz zur Bestimmung des Unterschieds zwischen Sinnlichem und Begrifflichem verweist auf das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem. Im Bereich des Verstandes liegen Begriffe, Urteile, Aussagen, Propositionen, Regeln und Gesetze. Als Vermögen der Begriffe fasst der Verstand die Dinge in ihrer Allgemeinheit auf, was ihn daran hindert, die individuelle Besonderheit einer Sache ganz unabhängig von allgemeinen Bestimmungen zu erfassen. Hier wird dann eine spezifische Leistung der Sinnlichkeit gesehen: Die Erfassung einzelner Gegenstände in ihrer Individualität könnte etwas sein, was uns ausschließlich in einem sinnlichen Zugang gegeben ist. Zugleich scheint damit wiederum ein Hinweis auf den fundierenden Charakter des Sinnlichen gegeben zu sein, zumal die sinnliche Erfassung von Einzelnem gewissermaßen das Material für die verallgemeinernden und abstrahierenden Funktionen des Verstandes liefern würde. In diese Richtung weisende Auffassungen haben sich allerdings mit schlagkräftigen Einwänden auseinanderzusetzen, beispielsweise mit Hegels Kritik im Kapitel zur „Sinnlichen Gewissheit“ in der Phänomenologie des Geistes. Der unmittelbare Bezug auf Einzelnes durch sinnliche Auffassung erweist sich hier als Sackgasse, in der die Ausgrenzung des unmittelbar sinnlich Einzelnen von allgemeinen und vermittelten Verstandesfunktionen eine bloße Meinung und damit etwas rein Subjektives bleibt, da das Einzelne in seiner Unmittelbarkeit nicht mitgeteilt oder aufgezeigt werden kann.⁷ Die Auffassung des sinnlich Individuellen scheitert mit ihrem Wissensanspruch an ihrem unüberwindbar subjektiven Status. Die Bezugnahme auf Individuelles kann also kein unterscheidendes
Vgl. Hegel 1988, Kap. I: „Die sinnliche Gewißheit; oder das Diese und das Meinen“, 69 – 78.
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Merkmal der Sinnlichkeit gegenüber dem Begrifflichen sein – sofern damit Erkenntnisansprüche erhoben werden. Doch auch diese Argumentation für das Allgemeine im Einzelnen und gegen die Sinnlichkeit als unmittelbare Auffassungsart setzt Erkenntnis zum Ziel; nur unter dieser Voraussetzung kann die Sinnlichkeit den an sie herangetragenen Anspruch nicht einlösen. Sie kann aber rehabilitiert werden, wenn der Anspruch auf Erkenntnisurteile aufgegeben und eine alternative Konzeption ästhetischer Urteile zum Maßstab gemacht wird, die sich einerseits von Erkenntnisurteilen, andererseits aber auch von rein privaten „Sinnesurteilen“ abhebt (vgl. KU 215). Unter diesen Voraussetzungen haben wir es mit Urteilen über Einzelnes zu tun, die nicht auf Erkenntnis, also nicht auf Allgemeinheit im Sinne von Objektivität abzielen; das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem wird hier nicht durch begriffliche Subsumtion hergestellt. Ästhetische Urteile reflektieren stattdessen das Verhältnis von Subjekt und individueller Vorstellung. Entsprechend werden auch keine Eigenschaften einem Gegenstand zugeschrieben oder unter einem Begriff subsumiert, sondern es wird die „Übereinstimmung“ einer sinnlich konkreten Vorstellung mit den „subjectiven Bedingungen des Gebrauchs der Urtheilskraft überhaupt“ beurteilt (KU 290). Mit anderen Worten: Im ästhetischen Urteil wird ein konkretes sinnliches Einzelnes in Beziehung zur eigenen Subjektivität gesetzt – es ergibt sich mir hier etwas, das nicht eine Eigenschaft des Objekts ist, sondern sich erst im Zusammenspiel der sinnlichen Auffassung mit meiner subjektiven Verfassung bildet. Diese Reflexion, die in ästhetischen Urteilen ihren Ausdruck findet, bezieht sich auf einzelne Erfahrungen und Erfahrungen von Einzelnem. Es schließen sich hier mindestens zwei Wege an, auf denen der subjektive Bezug auf Einzelnes in eine Art Allgemeinheit „übergehen“ kann: zunächst durch induktive Verallgemeinerung, indem von mehreren einander ähnlichen ästhetischen Urteilen auf alle denkbaren Fälle verallgemeinert wird. Hier bilden ästhetische Urteile die Basis für ein Erkenntnisurteil, wobei allerdings die Kriterien für den Erkenntnisstatus von der Gültigkeit des einzelnen ästhetischen Urteils unabhängig sind. Es handelt sich hier um eine „logische“, d. h. erkenntnismäßige Allgemeinheit.⁸ Aber ästhetische Urteile können ganz unabhängig von dieser nachgeordneten logischen Allgemeinheit eine eigene, nicht erkenntnismäßige Art von Allgemeinheit beanspruchen, die Kant subjektive oder spezifisch ästhetische Allgemeinheit nennt und mit dem „Gemeinsinn“ erklärt. Der Gemeinsinn beruft sich auf
Vgl. KU 215: „Dagegen ist das Urtheil, welches durch Vergleichung vieler einzelnen entspringt: die Rosen überhaupt sind schön, nunmehr nicht bloß als ästhetisches, sondern als ein auf einem ästhetischen gegründetes logisches Urtheil ausgesagt.“
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eine allgemeinheitsstiftende Grundlage in der subjektiven Verfassung; es besteht demzufolge im Ästhetischen ein Anspruch auf eine gemeinsinnige „Mitteilbarkeit“ von ästhetischen Urteilen, denn da sie nach rein logischen Maßstäben nicht allgemeingültig sind, können sie auch nicht auf dieselbe Weise wie Erkenntnisurteile mitgeteilt werden. Die ästhetische Allgemeinheit und ihr Zusammenhang zur „Mitteilbarkeit“ ästhetischer Urteile müssen allerdings im Folgenden genauer erklärt werden.
1.3 Das Sinnliche als das Unaussprechliche: Sagen vs. Zeigen? In beiden bisher diskutierten Ansätzen zur Bestimmung des Unterschieds zwischen Sinnlichkeit und Begriff wird auch die „Mitteilbarkeit“ ästhetischer Urteile problematisch, weil sie offenbar anders funktionieren muss als im Falle von Erkenntnisurteilen. Die Äußerung eines Erkenntnisurteils beruft sich auf die Allgemeinheit eines Begriffs, die sich in der Sprache manifestiert; sowohl in der sinnlichen Gewissheit Hegels als auch im Mythos des Gegebenen scheitern Wissensansprüche, die sich auf nicht-begriffliche Sinnlichkeit stützen, gerade daran, dass sie nicht mitgeteilt werden können – zumindest nicht auf die Art und Weise, wie es für Erkenntnisurteile üblich ist.⁹ Das legt den Schluss nahe, dass das Sinnliche typischerweise nicht sprachlich ausdrückbar oder mitteilbar ist. Das Wesen des Sinnlichen besteht dann vielleicht darin, dass es zwar erfasst werden kann, aber zugleich prinzipiell unaussprechlich bleibt. Damit wird eine Grenze der Sprache angedeutet, also die Annahme eines Bereichs des Unsagbaren. So stützt sich eine für den Bereich der Sinnlichkeit relevante Position auf die vermeintliche „Privatheit des Mentalen“, wie z. B. im Falle von Empfindungen, die einen rein subjektiven Gehalt haben. Man könnte etwa an Situationen denken, in denen ein Anblick, ein Geschmack oder eine andere Art von Empfindung „unbeschreiblich“ genannt wird. Mit dieser Redewendung scheint eine Grenze der „Mitteilbarkeit“ angesprochen zu werden: „Was ich gerade empfinde oder empfunden habe, kann prinzipiell nicht beschrieben werden.“ Aber damit würde die Redewendung vom „Unbeschreiblichen“ völlig überinterpretiert: Normalerweise kann man Empfindungen auch irgendwie beschrei Vgl. Hegel 1988, 71 f. u. 77 f. – Im Bezug auf die sinnliche Gewissheit ist hier zu berücksichtigen, dass der sprachliche Ausdruck von Individuellem nicht gelingen kann (individuum est ineffabile); zum Mythos des Gegebenen vgl. die berühmte Debatte der logischen Empiristen über die Protokollsätze.
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ben – und wenn nicht, dann wird damit nicht auf eine grundsätzliche und quasimetaphysische Grenze verwiesen, sondern (wenn man die Auszeichnung „unbeschreiblich“ denn wörtlich nimmt) höchstens auf eine subjektive oder momentane Unfähigkeit; im Übrigen ist die Rede von unbeschreiblichen Empfindungen normalerweise eben nicht wörtlich gemeint, sondern eher ein Ausdruck der Besonderheit oder der Wertschätzung. Es verhält sich mit der Wendung „unbeschreiblich“ etwa so wie mit der Wendung „unglaublich“: Beide Ausdrücke haben normalerweise intensivierende Funktion und verweisen nicht darauf, dass Beschreibung oder Glauben hier prinzipiell unmöglich wäre. Dennoch findet sich die These der Privatheit und der damit verbundenen Unsagbarkeit besonders auch dann, wenn es um den theoretischen Status sinnlicher Eindrücke geht. Ein argumentativer Fehler besteht dabei in der Verwechslung der Beschreibung einer sinnlichen Erfahrung mit der erfahrenen Sache selbst. Wenn man behauptet, dass man einen bestimmten Geschmack, eine bestimmte Farbe oder ein Gefühl nicht beschreiben könne, dann kann damit gemeint sein, dass eine Person, die die Beschreibung hört, aus der Beschreibung alleine nicht die charakteristische Eigentümlichkeit und die besondere sinnliche Qualität erfahren kann. Das liegt aber einfach daran, dass mit der Beschreibung nicht die Qualität selbst gegeben ist. Es verhält sich hier nicht grundsätzlich anders als in Fällen, in denen nicht-sinnliche Eigenschaften beschrieben werden. Eine genaue Beschreibung eines Zimmers mit Angaben zu den Maßen, zur Einrichtung und zum Ausblick aus dem Fenster wird niemals das Zimmer selbst präsentieren. Selbst in besonderen Grenzfällen (etwa im Falle mathematischer Gegenstände), in denen eine vollständige Beschreibung möglich ist, also sämtliche Eigenschaften eines Objekts vollständig in einer Definition angegeben werden können, ist die Beschreibung noch von dem Gegenstand selbst zu unterscheiden: Schließlich wird die Beschreibung immer auch Eigenschaften aufweisen, die der beschriebene Gegenstand gar nicht hat (etwa: die Beschreibung ist sprachlich, der beschriebene Gegenstand ist es nicht) – und umgekehrt. Wenn das Sinnliche also als Nichtsprachliches gekennzeichnet wird, dann sollte dies nicht auf die Behauptung von etwas prinzipiell und universell Unsagbarem hinauslaufen, denn in letzter Konsequenz läuft dies auf eine triviale Verwechslung von Beschreibung und Beschriebenem hinaus. Nicht vom Bereich des sprachlichen Ausdrucks überhaupt muss das Sinnliche abgegrenzt werden, sondern vielmehr von bestimmten Auffassungen zur Funktionsweise und Rolle von Sprache. So könnte sich die paradigmatische Funktion der propositionalen Satzform mindestens als unbrauchbar für eine angemessene Bestimmung ästhetischer Erfahrung herausstellen. Was kann damit gemeint sein? Aussagen in propositionaler Satzform drücken Sachverhalte aus; mit ihnen wird der Anspruch erhoben, mit hinreichender Be-
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stimmtheit auf einen Sachverhalt zu verweisen. So hält eine Beschreibung einer ästhetischen Erfahrung, die ihr bestimmte Prädikate zuschreibt, einen Sachverhalt im Bezug auf diese ästhetische Erfahrung fest. Ausgehend von einigen so formulierten Aussagen könnte man sich nun in einer Untersuchung ästhetischer Erfahrung von den entsprechenden Sachverhalten anleiten lassen – unter der Voraussetzung, dass die Aussagen die Erfahrung hinreichend bestimmen. Man könnte z. B. feststellen: „Was ich sehe, was also Gegenstand meiner aktuellen ästhetischen Erfahrung ist, ist dunkelgrün, hat feine Konturen und fühlt sich weich an.“ Diese Zuschreibung von Eigenschaften hält Sachverhalte fest, die insgesamt die ästhetische Erfahrung charakterisieren. Problematisch ist dieses Modell durch seine irreführende Nähe zur Erkenntnislogik. Denn ästhetische Erfahrung hat es gar nicht hauptsächlich mit Sachverhalten zu tun. Das zeigt sich an der bereits erwähnten Differenz zwischen ästhetischen Urteilen und Erkenntnisurteilen, sofern Erkenntnis im engeren Sinne als Wissen von Sachverhalten aufgefasst wird. Wo die Feststellung von Sachverhalten nicht als Ziel und Maßstab der Erfahrung auftritt, treten andere Merkmale in den Vordergrund. Wenn eine Person sich in ästhetischer Einstellung auf eine Sache bezieht, dann ist die damit verbundene spezifische Erfahrung nicht als Zuschreibung von wohlbekannten Eigenschaften zu deuten, wie als würde der zugrundeliegende Prozess in einem bloßen „Abrufen“ dieser Eigenschaften durch den betrachteten Gegenstand bestehen. Dies wäre nur relevant im Hinblick auf ein erkenntnisorientiertes Urteil. Nach diesem Modell wäre die Zuschreibung von Eigenschaften „gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier“,¹⁰ und zwar ausgelöst durch die sinnliche Präsenz des jeweiligen Gegenstands. Sinnlichkeit hätte demnach nur Bedeutung als Disposition zu einem Wahrnehmungsurteil, die sich bei der Konfrontation mit einem passenden Gegenstand manifestiert.¹¹ Doch ein Prozess, der nicht auf das Ergebnis einer Feststellung von Sachverhalten festgelegt und in diesem Sinne nicht-begrifflich ist, funktioniert anders: In einer entsprechenden sinnlichen Auffassung zeigen sich
Wittgenstein 1984, Philosophische Untersuchungen, Nr. 6, 240. Die in den vorliegenden Überlegungen intendierte Öffnung der Epistemologie hin zur Berücksichtigung sinnlich-ästhetischer Prozesse kann durchaus in Analogie zu Wittgensteins Öffnung der Sprachphilosophie in den Philosophischen Untersuchungen gesehen werden. Auch das Verhältnis von Disposition und Aktualisierung legt eine enge Verknüpfung (oder ein „Wechselspiel“) von subjektiven Voraussetzungen und objektiven (gegenständlichen) Verhältnissen nahe. Insofern ist der Unterschied zwischen Ästhetik und Erkenntnislogik nicht in der Gegenüberstellung von subjektiver und objektiver Auffassungsweise zu sehen – sowohl in der Erkenntnis als auch in der Ästhetik spielen immer beide Seiten und besonders ihre Beziehung zueinander eine Rolle.
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Eigenschaften auf eine spezifische Weise, die nicht durch eine begriffliche Subsumtion oder eine Feststellung von Sachverhalten bestimmt ist.¹² Wie stellt sich dann aber das Verhältnis dieses sinnlichen Prozesses zur sprachlichen Beschreibung dar? In der Argumentation gegen die „Unaussprechlichkeit“ privater mentaler Zustände habe ich die Unterscheidung zwischen der Beschreibung einer Sache und der Sache selbst hervorgehoben. Es muss aber nicht nur zwischen Beschreibung und beschriebenem Gegenstand unterschieden werden, sondern auch zwischen der Beschreibung eines Gegenstands und der Bekanntschaft mit dem Gegenstand – eben der Erfahrung. Etwas sinnlich aufzufassen und es in dieser Weise zu kennen ist einerseits von der Sache selbst zu unterscheiden, andererseits aber auch von der Beschreibung im Sinne einer Zuschreibung von Eigenschaften. Um dem Bereich des Sinnlichen in seiner Eigenheit gerecht zu werden, muss also der Unterschied zwischen einer Sache, ihrer (sprachlichen) Beschreibung und ihrer (sinnlichen) Auffassung hervorgehoben werden. Die Annahme eines solchen Unterschiedes ist argumentativ nicht darauf festgelegt, von Unaussprechlichem zu sprechen, verweist aber mit gutem Grund auf Unausgesprochenes – auf Implizites. Damit ist nicht eine private „mentale“ Ebene gemeint, die sich wie ein Filter zwischen Beschreibung und Gegenstand schiebt – diese Auffassung würde wieder zum Problem des Unaussprechlichen zurückführen. Vielmehr zeigen sich im Prozess der sinnlichen Auffassung Eigenschaften, die weder aus der sprachlichen Beschreibung eines Gegenstands noch aus dem Gegenstand selbst abzuleiten sind. Diese Eigenschaften bilden einen Bereich des Impliziten, der sich der expliziten Feststellung von Sachverhalten entzieht, ihr aber zugleich zugrunde liegt. Anhand dieser Überlegungen können wir eine klare Position zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Sprache formulieren: Über alles Sinnliche kann natürlich gesprochen werden, auch ganz urteilsmäßig, aber dabei wird auf ästhetische Eigenschaften nicht einfach wie auf Eigenschaften eines Objekts referiert, sondern
Im Übrigen dürfte die Untersuchung der Art und Weise, wie wir über das Ästhetische sprechen wohl nicht (alleine) maßgeblich für eine philosophisch informative Bestimmung ästhetischer Erfahrung sein. Selbst wenn man nicht vom Paradigma der propositionalen Form ausgeht, kann das Sprechen über das Ästhetische noch als Maßstab für philosophische Überlegungen zum Bereich des Ästhetischen angesehen werden. In einer trivialen Hinsicht stimmt das natürlich: Um philosophische Überlegungen über irgendetwas anzustellen, muss man darüber sprechen, und die Überlegungen finden nicht auf mysteriöse Weise unabhängig vom Sprechen darüber statt. Aber die hier dargestellte Konzeption ästhetischen Wissens kann sich nicht ausschließlich daran orientieren, wie „normalerweise“, im „Alltag“ oder in den jeweiligen Sprachspielen, über das Ästhetische gesprochen wird. Diese vielfältigen Redeweisen können als Symptome für einen Bereich des Ästhetischen herhalten, der aber umgekehrt nicht (allein) durch sie bestimmt wird, sondern durch das implizit in sinnlicher Auffassung sich Zeigende.
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die ästhetischen Eigenschaften zeigen sich (unter anderem) im Sprechen darüber demjenigen, der sie in bestimmter Einstellung sinnlich aufzunehmen vermag. Diese spezielle Art der „Mitteilbarkeit“ orientiert sich an der subjektiven Allgemeinheit, die durch den Gemeinsinn gestiftet wird. Um es an Kants Beispiel zu erläutern: Mit einem Urteil wie „Die Rose ist schön“ referiert man nicht auf eine Eigenschaft der Rose, wie man es in erkenntnisorientierten Fällen tun würde, sondern man evoziert mit einem solchen Urteil eine (gemeinsame) Erfahrung, wozu man sich (zumindest im Falle der Schönheit) aufgrund eines Eindrucks der geregelten Harmonie berechtigt fühlt. Voraussetzung dafür ist die durch den Gemeinsinn gestiftete besondere Art von Allgemeinheit, die sich in unserem Eindruck einer berechtigten Forderung nach Übereinstimmung in unseren sinnlichen Auffassungen äußert. Es handelt sich hierbei um ein durch und durch grundlegendes, vertrautes und allgegenwärtiges „Ansinnen“, das in allen gegenseitigen Verweisen auf Sinnliches in Anspruch genommen wird – sofern es um die Auffassung der Qualität des Sinnlichen und nicht um die Feststellung von Sachverhalten geht. Positiv springt aus dieser Einstellung ein Gehalt heraus, den Kant unter dem Namen der „ästhetischen Idee“ diskutiert hat. Eine ästhetische Idee ist ausdrücklich eine sinnliche Idee, die nicht unter den Bedingungen eines bestimmten Begriffs steht. Man kann über sie sprechen (man kann sogar über sie streiten!), aber man kann sie nicht unter einen Begriff bringen – man kann sie also nicht als Sachverhalt aussprechen. Man könnte ergänzen: Sie zeigt sich unter bestimmten Umständen.¹³ Das Begriffliche kommt im Ästhetischen also zunächst als Analogie
Die feine terminologische Differenz zwischen dem „Sprechen über etwas“ und dem „unter einen Begriff bringen“ lädt zu Spekulationen über den berüchtigten Schlusssatz in Wittgensteins Tractatus ein, in dem die – womöglich ohne tiefere Absicht – etwas ungewöhnliche Formulierung „darüber muss man schweigen“ vorkommt. Im Anschluss daran und im Einklang mit den vorliegenden Überlegungen kann der Tractatus als Versuch einer Domestizierung der Sachverhaltslogik interpretiert werden, während Wittgenstein die eigentlich philosophischen Probleme gerade jenseits der Welt der Sachverhalte sieht. Nicht die Welt ist das Problem der Philosophie, denn dann bestünde ihre Aufgabe im Anhäufen von Feststellungen (das ist vielmehr Sache der Wissenschaften), sondern die Sicht der Welt, die eben nicht selbst noch einmal als Sachverhalt festgehalten werden kann, die sich aber zeigt (vgl. Wittgenstein 1984, Tractatus 6.41, 6.43 ff., 6.54 u. a.). Dieser Interpretation zufolge scheitert Wittgenstein am Ende dann allerdings an dem Problem, das Kant mit der Antinomie des Geschmacksurteils angesprochen hat (KU §§ 55 – 58): Entweder die „Sicht der Welt“ gründet sich auf Begriffen – dann wäre sie ein Sachverhalt und ein beweisbarer Teil der Welt; oder die „Sicht der Welt“ gründet sich nicht auf Begriffen, dann kann aber auch kein Anspruch auf Allgemeinheit erhoben werden, was zum Solipsismus und schließlich zur Unaussprechlichkeit des von Wittgenstein so genannten „Mystischen“ führt (vgl. Wittgenstein 1984, Tractatus 5.62 u. a.). Wittgenstein sieht also (zumindest im Tractatus) nur die zweite Seite der Antinomie und belässt es dabei, fürs Erste schweigend.
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ins Spiel: So wie eine Idee als Vernunftbegriff in keiner möglichen Anschauung gegeben werden kann, kann eine ästhetische Idee durch keinen möglichen Begriff gegeben werden.
1.4 Das Sinnliche als das Nicht-Epistemische Der bis hier entwickelte Gedankengang bestimmt das Sinnliche als grundsätzlich von erkenntnisorientierten Begründungsfunktionen getrennten Bereich. Das Sinnliche kann unabhängig von entsprechenden Erkenntnisansprüchen nicht als „unmittelbar Gegebenes“, als „Gewissheit vom konkreten Einzelnen“ und als „prinzipiell Unsagbares“ charakterisiert werden. Das Ästhetische wird damit dem Epistemischen klar entgegengesetzt und erhält erst dadurch eine eigenständige Bedeutung – wenn auch bis jetzt nur eine negative. Doch dadurch wird die Paradoxie einer Konzeption ästhetischen Wissens offenbar noch verstärkt. Denn eine Art der ästhetischen Erfahrung, die als Wissen charakterisiert werden soll, deren Fundament aber gerade in einer nicht-epistemischen und dadurch nicht-begrifflichen Form von Sinnlichkeit zu sehen ist, erscheint inkonsistent. Ein „rein“ sinnlicher Gehalt kann offenbar gerade deshalb kein Wissen konstituieren, weil er durch den Ausschluss epistemischer Rechtfertigungsfunktionen bestimmt ist. Aber das Begriffliche spielt im Ästhetischen trotz aller bisher diskutierten Einschränkungen eine bestimmte Rolle, allerdings eben gerade nicht diejenige, die es im epistemischen Raum der Gründe spielt. Ästhetische Erfahrung ist nicht einfach nur „reine“ sinnliche Auffassung, sondern Sinnliches unter den Bedingungen eines gar nicht gegebenen Begriffs. Das freie Spiel der Erkenntniskräfte (Einbildungskraft und Verstand, Sinnlichkeit und Begriff) bedeutet nicht willkürliche, beliebige, chaotische Würfelei, sondern verläuft nach einer eigentümlichen Regelung, die dem Bereich der Begriffe in gewisser Hinsicht analog ist. Identifiziert man „begrifflich“ mit „inferentiell“, wie es McDowell nahezulegen scheint, könnte man auch sagen: Im ästhetischen Urteil geht das Sinnliche besondere Verbindungen ein, die aber gerade keine inferentiellen Verbindungen sind (und somit auch nicht die Art von Begründungsfunktion bereitstellen, wie sie für empirisches Wissen im klassisch-epistemologischen Sinne typisch ist). Man könnte auch von einer Regelung ohne Regel oder wie Kant von einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck sprechen. Für die weiteren Ausführungen wird es sich als passend herausstellen, von einer sinnlichen Bestimmung gemäß einem unbestimmten Begriff zu sprechen. Das Ästhetische ist damit nicht einfach nur als Sinnliches gekennzeichnet, sondern als Sinnliches im „freien Spiel“ mit dem Vermögen der Begriffe, also unter den Bedingungen eines nicht gegebenen, unbestimmten Begriffs. Daher kann das sinnlich Aufgefasste übrigens im Folgenden
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unter dem Begriff der „Eigenschaft“ gefasst werden, obwohl keine Begriffsbildung im eigentlichen Sinne beteiligt ist.¹⁴ Doch wenn die Konzeption der Sinnlichkeit mit dieser Schärfe an nichtepistemische Kontexte gebunden wird, um überhaupt einen eigenständigen Bereich unabhängig vom Begrifflichen markieren zu können – wie kann dann noch in einem starken Sinne ästhetisches Wissen konzipiert werden? Der Bezug auf die durch einen unbestimmten Begriff angeleitete „Form“ der Eigenschaft genügt hier nicht. Zur Anknüpfung an eine Wissenskonzeption muss neben der rehabilitierten Bedeutung der Sinnlichkeit im Ästhetischen auch die Rolle des Epistemischen überhaupt anders bestimmt werden.
2. Warum „Wissen“? Anforderungen an eine Konzeption ästhetischen Wissens Gemäß dem Mainstream der analytischen Philosophie ist „Wissen“ als wahre, gerechtfertigte Überzeugung („justified true belief“) zu definieren – wobei angenommen wird, dass die mit dieser Definition verbundenen Probleme prinzipiell durch weitere Zusatzbedingungen oder auch durch weitere Klärungen der beteiligten Begriffe ausgeräumt werden können. Das so gefasste Wissen ist ein propositionales Wissen, also ein Wissen vom Bestehen eines Sachverhalts, das sich auf Formulierungen nach dem Muster „Wissen, dass p“ zurückführen lässt, wobei p eine Proposition ist. Damit ist es immer auch sprachlich unmittelbar ausdrückbares Wissen; selbst wenn es nicht aktuell als sprachliche Äußerung vorliegt, so lässt es sich potenziell auf eine sprachliche Form zurückführen, die seinen Gehalt vollständig bestimmt. Wissen zerfällt dieser Analyse zufolge also in die drei notwendigen Bedingungen der Überzeugung, der Wahrheit und der Rechtfertigung. Mit „Überzeugung“ ist hier eine spezielle Form des englischen belief gemeint, was gelegentlich auch als „Meinung“ oder „Glauben“ ins Deutsche übersetzt wird. Mit dem Element der Überzeugung (belief) ist die Eigenschaft der Propositionalität gegeben, also ein propositionaler Gehalt und die Bezugnahme auf einen Sachverhalt. Die damit verbundene propositionale Einstellung besteht in einem Für-wahr-Halten der Proposition, das allerdings dadurch spezifischen Charakter annimmt, dass es sich mindestens auf die (neben der Überzeugung) zusätzliche Bedingung der Rechtfertigung stützt – denn erst eine Rechtfertigung macht aus einer für wahr gehal-
Vgl. zu diesem Punkt auch das „Schematisieren ohne Begriffe“, wie es in den Beiträgen von Astrid Wagner und David Espinet im vorliegenden Band erörtert wird.
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tenen Proposition auch ein Wissen, das unter diesen Bedingungen ja gerade nicht mehr nur Überzeugung, Meinung oder Glaube ist. Eine weitere wechselseitige Abhängigkeit wird zwischen den Bedingungen der Wahrheit und der Rechtfertigung vermutet. Insofern sind die drei genannten Bedingungen für Wissen keinesfalls unabhängig voneinander; wie ihre Beziehungen genau zu analysieren sind, ist allerdings eine offene Frage in der andauernden Debatte. Neben dem propositionalen theoretischen Wissen wird auch praktisches Wissen (im Sinne von Fähigkeiten) oder „Wissen wie (man etwas macht)“ als mehr oder weniger eigenständige Wissensform anerkannt. Dieses Wissen ist nicht propositional, da die Ausübung einer Fähigkeit nicht vom Für-wahr-Halten von Propositionen abhängt und möglicherweise auch gar nicht auf eine oder mehrere Propositionen zurückgeführt werden kann. Es besteht aber keine Einigkeit darüber, ob praktische Fähigkeit im Sinne eines Könnens begrifflich als Form von Wissen zu explizieren ist, wodurch der Unterschied zwischen Wissen und Können eingeebnet würde. Schließlich findet sich in der Literatur gelegentlich auch noch das sogenannte „Erlebniswissen“, inspiriert durch die Qualia-Debatte in der Philosophy of Mind. Es bezeichnet ein „Wissen, wie es ist, in einem bestimmten Zustand zu sein“. Auch hier handelt es sich nicht um ein propositionales Wissen; eher soll es sich um ein Wissen handeln, das Ausdruck der je eigenen Subjektivität ist – allerdings lässt sich auch nichts weiter darüber sagen, denn viel mehr als der Appell an ein diffuses Vorverständnis spricht in der Debatte nicht für die Konzeption einer solchen Wissensform. Das Hauptproblem bei der Explikation dieser vermeintlichen Wissensform liegt darin, dass sie zunächst eigentlich nur als Argument gegen die Position des physikalistischen Materialismus eingeführt wurde und darüber hinaus kaum Eigenleben zu entfalten vermochte. „Ästhetisches Wissen“ soll diese mehr oder weniger anerkannten Wissensformen ergänzen.¹⁵ Aus den bisherigen Erläuterungen haben sich die folgenden charakteristischen Merkmale ergeben: 1.
Ästhetisches Wissen ist nicht-begrifflich, weil es unabhängig von möglichen Funktionen in Erkenntnisurteilen bestimmt ist.
In der philosophischen Literatur findet man die Wendung „ästhetisches Wissen“ nur selten und nicht einheitlich, explizit aber z. B. in Kieran 2011 – dort sowohl in Form von propositionalem Wissen mit einem bestimmten Gegenstandsbereich als auch im Sinn einer Fähigkeit. Allerdings wird ästhetisches Wissen nicht als spezifische Wissensform angesprochen.Vgl. auch Kieran/Lopes 2006 und Ewenstein/Whyte 2007.
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2.
3.
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Ästhetisches Wissen ist nicht-propositional, weil es nicht auf die Feststellung von Sachverhalten ausgerichtet ist und keine erkenntnisorientierten Urteile bildet. Ästhetisches Wissen ist nicht-sprachlich, weil es einige in sprachlichen Äußerungen implizit bleibenden Aspekte erfasst.
Positiv lassen sich zunächst die folgenden Merkmale festhalten (die in den folgenden Abschnitten genauer erläutert werden): 4.
5.
Ästhetisches Wissen ist prozessual. Es besteht im Vorgang der sinnlichen Präsentation von (noch) nicht-begrifflichen Eigenschaften, die erst im Anschluss an diesen Vorgang auch begrifflich präsent sein können (aber nicht müssen). Ästhetisches Wissens besteht in der Auffassung dessen, was sich zeigt – mit andern Worten: in sinnlich exemplifizierten Eigenschaften, denen keine begriffliche Zuschreibung (logisch) vorausgeht.
Grundsätzlich ist zunächst davon auszugehen, dass sich bestimmte Kernelemente des Wissensbegriffs parallel in den Wissensformen des theoretischen, praktischen und ästhetischen Wissens wiederfinden lassen. So grenzt sich ein theoretischer Wissensanspruch von der bloßen Meinung, von Vermutungen oder vom einfachen Raten ab; im Praktischen grenzt sich der Anspruch auf den Besitz einer Fähigkeit von ihrer Einübung, von bloßen Versuchen oder von Glückstreffern ab. Außerdem besteht die Möglichkeit, Wissensansprüche zu korrigieren, also tatsächliches Wissen von gescheiterten Wissensansprüchen zu unterscheiden.¹⁶ Anhand dieser Grundbedingungen kann ästhetisches Wissen gegen andere Auffassungsarten wie bloße sinnliche Empfindung oder ästhetische Erfahrung überhaupt abgegrenzt werden: a) Analog zur Unterscheidung zwischen Wissen und bloßer Meinung muss ästhetisches Wissen von rein subjektiven Erfahrungen oder Empfindungen abgegrenzt werden. Ausgehend von der Analogie zum klassischen propositionalen Wissensbegriff muss ästhetisches Wissen zusätzlich zur (affirmativen) Erfassung eines Gehalts noch mindestens etwas einem Wahrheits- oder Objektivitätsanspruch Analoges aufweisen.
Die hier angeführte Aufzählung von Bedingungen für Wissensansprüche erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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b) Es muss denkbar sein, dass sich ein Anspruch auf ästhetisches Wissen als falsch herausstellen könnte. Ästhetische Wissensansprüche müssen also prinzipiell retrospektiv korrigierbar sein. Mit diesen Unterscheidungen sind Anforderungen formuliert, deren Erfüllung die Auszeichnung als „Wissen“ rechtfertigen. Im Folgenden wird der sinnliche Prozess, der dem ästhetischen Wissen zugrunde liegt, tendenziell positiv bestimmt und erläutert; daran anknüpfend versuche ich schließlich, eine mögliche Erfüllung der Wissensanforderungen anzudeuten.
3. Der Gehalt des ästhetischen Wissens: das, was sich (sinnlich) zeigt Für eine positive Bestimmung der Konzeption ästhetischen Wissens greife ich auf Nelson Goodmans Symboltheorie zurück, die er in Languages of Art entwickelt hat.¹⁷ Das Konzept der Exemplifikation steht hier im Zentrum des Interesses. Eine Eigenschaft wird von etwas exemplifiziert, wenn sie als Eigenschaft tatsächlich vorliegt und zugleich auf sie Bezug genommen wird.¹⁸ Es handelt sich bei der Exemplifikation also um einen Spezialfall der allgemeinen symbolischen Bezugnahme, der Denotation: Während rein formal alles von allem denotiert werden kann, kann nur dasjenige exemplifiziert werden, was tatsächlich als Eigenschaft an dem symbolisch bezugnehmenden Gegenstand vorkommt. Denotation ist reine Bezugnahme; „Exemplifikation ist Besitz plus Bezugnahme“.¹⁹ Man kann darüber
Die hier skizzierte Konzeption von ästhetischem Wissen knüpft übrigens an einige Schlüsselbemerkungen Goodmans zur epistemischen Dimension der Künste an – wobei zu bedenken ist, dass auch bei Goodman die Kunst lediglich ein paradigmatischer Bereich für bestimmte Symbolfunktionen ist und prinzipiell auch andere, nicht-künstlerische Bereiche in seinen Untersuchungen berührt werden. Eine ästhetische Erfahrung kann (wenn sie in verschiedenen Hinsichten geeignet ist) nach Goodman einen „echten Beitrag zum Wissen“ leisten (Goodman 1995, 42). Die Funktion von Kunst ist eine kognitive: Kunst „kann neue Einsicht vermitteln“ (Goodman 1995, 41); „der Anreiz [liegt] in der Neugier und das Ziel in der Aufklärung“ (Goodman 1995, 237). „Der primäre Zweck ist Erkenntnis an und für sich“ (ebd.); ästhetische Erfahrung wird als eine „Form des Verstehens“ begriffen (Goodman 1995, 241). Goodman spricht nur unter Vorbehalt von „Eigenschaften“: Da er sich ontologisch zu einem radikalen Nominalismus bekennt, also die Existenz von Eigenschaften (als Universalien) ablehnt, versteht er darunter eigentlich Etiketten (labels), die auf Gegenstände angewendet bzw. ihnen zugeschrieben werden (vgl. Goodman 1995, 61 ff.). Goodman 1995, 60. Man beachte, dass Goodman einen minimalistischen, rein formalen und daher extrem weiten Symbolbegriff hat (und hiermit stark u. a. von dem traditionell enger ge-
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hinaus exemplifizierte Eigenschaften auch umschreiben als dasjenige an einem Gegenstand, auf das er Bezug nimmt (im Gegensatz zu den Eigenschaften, die ein Gegenstand zwar haben mag, bei denen man aber nicht unbedingt sagen würde, dass der Gegenstand auf sie Bezug nimmt).²⁰ Für das ästhetische Wissen ist wiederum eine bestimmte Art der Exemplifikation wichtig. Goodman konzipiert die Struktur der Exemplifikation als eine der Denotation entgegengesetzte Symbolrelation, soll heißen: sie weist in die entgegengesetzte „Richtung“ – nicht von einem Zeichen (bzw. einem Etikett) zu einem denotierten Gegenstand, sondern von einem Gegenstand zu einem Zeichen (bzw. Etikett). Diese Struktur analysiert Goodman genauer als zweistufigen Prozess: Zuerst wird einem Gegenstand eine Eigenschaft zugeschrieben, auf die der Gegenstand dann in einem zweiten Schritt Bezug nimmt.²¹ In diesem Modell besteht die Exemplifikation aus zwei Denotationen: einerseits aus der Anwendung eines Etiketts, also der Zuschreibung einer Eigenschaft („normale“ Denotation); andererseits aus einer an diese vorgängige Zuschreibung anknüpfende zweite Denotation, in welcher der zuvor denotierte Gegenstand auf die Eigenschaft bzw. das Etikett zurückverweist. Die Besonderheit der zweiten Denotation liegt in ihrer Abhängigkeit von der ersten Denotation. In dieser zweistufigen Struktur der Exemplifikation wird immer zuerst eine Eigenschaft zugeschrieben, also eine begriffliche Subsumtion des Gegenstands
fassten Symbolbegriff abweicht): Symbol ist alles, was irgendwie in einer Zeichen- oder Referenzbeziehung steht. Daraus ergibt sich auch die äußerst minimale Auffassung der Denotation als Verweis von etwas auf etwas anderes. Goodmans Ausführungen lesen sich häufig so, als wären die verschiedenen Symbolbeziehungen etwas, was in den Gegenständen selbst angelegt ist: Ein Muster exemplifiziert einen bestimmten roten Farbton, eine bildliche Darstellung exemplifiziert Farblosigkeit, ein Gemälde drückt Trauer aus. Aber natürlich nimmt ein Gegenstand nicht selbst Bezug auf eine seiner Eigenschaften (oder auf irgendetwas anderes), sondern diese Beziehung wird vom Zeichenbenutzer gestiftet und ist durch den Zeichengebrauch bestimmt – was Goodman als eine Sache des Symbolsystems beschreibt: „Ist Besitz intrinsisch, so ist Bezugnahme es nicht; und welche Eigenschaften eines Symbols nun gerade exemplifiziert werden, hängt davon ab,welches besondere System in Kraft ist“ (ebd.). Es ist also das Symbolsystem, in dessen Rahmen eine Person diese Symbolbeziehungen – mehr oder weniger selbstverständlich, implizit und manchmal auch explizit – vollzieht, auf der Grundlage von Vorkenntnissen, von der Gewohnheit und von den aktuellen Interessen, abhängig vom Kontext und auch aufgrund von Überlegungen zur Struktur des jeweiligen Gegenstands. – Ein offener Punkt in Goodmans Ansatz betrifft den Vorgang der Wahrnehmung selbst: Inwiefern kann man sagen, dass in der Wahrnehmung „Etiketten“ angewandt werden? Von welcher Art sollen diese Etiketten sein? An diesen und weiteren Fragen zeigt sich, dass Goodmans weitgehende Abgrenzung von der Wahrnehmungsphilosophie und von bestimmten Teilfragen der Ästhetik Probleme aufwirft. Vgl. ebd.
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vorgenommen. Doch Goodman nennt auch Beispiele für den Fall, dass eine Eigenschaft exemplifiziert wird, die nicht zuvor schon zugeschrieben wurde: [A]ndere Bewegungen, insbesondere beim modernen Tanz, exemplifizieren […] keine normalen oder vertrauten Handlungen, sondern vielmehr Rhythmen und dynamische Figuren. Die exemplifizierten Strukturen und Eigenschaften können die Erfahrung reorganisieren, indem sie normalerweise nicht miteinander verknüpfte Handlungen miteinander in Beziehung setzen oder andere, gewöhnlich nicht differenzierte, voneinander unterscheiden […]. Diese Bewegungen so aufzufassen, als illustrierten sie wortsprachliche Beschreibungen, wäre natürlich absurd; die treffende Formulierung lässt sich wohl selten finden. Eher ist das Etikett, das durch eine Bewegung exemplifiziert wird, wohl diese selbst; eine solche Bewegung, die keine vorgängige Denotation hat, übernimmt die Aufgaben eines Etiketts, das bestimmte Handlungen einschließlich seiner selbst denotiert. Hier wie häufig auch anderswo in den Künsten entwickelt sich das Vokabular zusammen mit dem, zu dessen Vermittlung es gebraucht wird.²²
Es können folglich also zwei Arten der Exemplifikation unterschieden werden: einerseits die Bezugnahme auf Eigenschaften, die in einem vorgängigen Schritt zugeschrieben wurden (wenn auch nur implizit und wie selbstverständlich). Ich möchte sie im Folgenden die „Standard-Exemplifikation“ nennen. Andererseits beschreibt Goodman in dem angegebenen Zitat die Bezugnahme auf Eigenschaften, die dem Gegenstand nicht zugeschrieben wurden – auch nicht implizit. Nur diese zweite Art der Exemplifikation ist für eine Konzeption ästhetischen Wissens interessant; ich möchte sie im Folgenden „sinnliche Exemplifikation“ nennen. Denn sofern in dieser Exemplifikation auf zuvor noch nicht zugeschriebene Eigenschaften verwiesen wird, deckt sie in einem gewissen Sinne über einen sinnlichen Prozess der Bezugnahme neue Eigenschaften auf. Mit anderen Worten: Mittels einer sich sinnlich entwickelnden Konfiguration wird etwas begrifflich (noch) Unbestimmtes hervorgehoben, das sich durch diese sinnliche Bezugnahme als neuartige Eigenschaft präsentiert. Es findet eine Bezugnahme auf Nicht-Begriffliches statt. Man kann die rein sinnlich exemplifizierten Eigenschaften auch umschreiben als das, was sich an dem Gegenstand zeigt – im Gegensatz zu den Eigenschaften, die einem Gegenstand zwar zukommen, auf die er Bezug nimmt und die er in diesem Sinne auch zeigt, bei denen man aber nicht unbedingt sagen würde, dass sie sich an dem Gegenstand zeigen.²³ Eine derartige sinnliche Auffassung neuer Eigenschaften konstituiert ein Wissen, das ästhetisch genannt werden kann. Äs-
Goodman 1995, 70. Im Unterschied zu Mersch 2002 wird der sinnliche Prozess des „Sich-Zeigens“ hier als Zeichenprozess im weitesten Sinne verstanden.
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thetisches Wissen besteht also in der Kenntnis von Eigenschaften, die sich zeigen. Dieses Wissen bildet dann potenziell eine Grundlage für eine anschließende (urteilsmäßige) Zuschreibung dieser neuen Eigenschaften. Die Symbolbeziehung der Exemplifikation ist in der Konsequenz viel weiter als der Bereich des ästhetischen Wissens; längst nicht alles, was ein Gegenstand exemplifiziert, wird ohne die Voraussetzung einer begrifflichen Subsumtion in einem sinnlichen Prozess herausgestellt. Mit dieser Konzeption einer sinnlichen Exemplifikation liegt eine weitere Anknüpfung an Kant nahe: Während die Standard-Exemplifikation eine vorgängige Zuschreibung der entsprechenden Eigenschaften annimmt, also eine Subsumierung des Gegenstands unter einen Begriff voraussetzt, denkt Kant das ästhetische Urteil ohne eine logisch vorausgehende begriffliche Festlegung. So rückt diejenige besondere Art der sinnlichen Auffassung als Modus ästhetischen Wissens in den Mittelpunkt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie unabhängig von begrifflichen Zuschreibungen funktioniert. Ästhetisches Wissen umfasst in diesem Sinne also die Auffassung oder Erkenntnis von gewissermaßen „rein“ sinnlichen, vor-begrifflichen Eigenschaften. Eigenschaften werden normalerweise in Urteilen einem Gegenstand zugeschrieben; im Bereich des Ästhetischen werden Eigenschaften dagegen sinnlich exemplifiziert, die nicht (zumindest noch nicht) in einem weiteren Schritt einem Gegenstand zugeschrieben wurden. Zwar kommen diese Eigenschaften auch einem Gegenstand zu bzw. sie zeigen sich an ihm – auf diese Weise sind sie formal mit dem Begrifflichen verbunden –, aber die Prioritäten werden hier umgekehrt: Es geht hier nicht um die Zuschreibung von Eigenschaften zu einem Gegenstand, sondern um die Hervorhebung von Eigenschaften, die unabhängig von einer Praxis der begrifflichen Zuschreibung funktioniert. Dieser besondere Prozess der Eigenschaftsauffassung unterscheidet ästhetisches Wissen wesentlich von begrifflichen Erkenntnisformen. An dieser Stelle muss ein Missverständnis ausgeschlossen werden. Es ist festzuhalten, dass ästhetisches Wissen nicht in dem Wissen besteht, dass sich eine Eigenschaft zeigt (oder: dass eine Eigenschaft eine sich zeigende Eigenschaft ist). Das Wissen darum, dass sich eine Eigenschaft sinnlich zeigt, zählt nicht mehr zum ästhetischen Wissen, sondern ist lediglich eine anknüpfende weitere Zuschreibung der Eigenschaft des „Gezeigtwerdens“, also eine Subsumtion unter den Begriff des Gezeigtwerdens und eine Feststellung dieses Sachverhalts. Gegenstand des ästhetischen Wissens ist aber nicht der Sachverhalt des Sich-Zeigens, sondern die Kenntnis einer sinnlich exemplifizierten Eigenschaft selbst – ästhetisches Wissen besteht in dem Prozess ihrer sinnlichen Auffassung. Sinnliche Auffassung in dem beschriebenen Sinne ist demnach grundsätzlich (mindestens analytisch) vom Beurteilen der entsprechenden Sachverhalte zu
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unterscheiden. Die Beziehungen zwischen beiden Aktivitäten mögen sehr eng sein; doch selbst wenn man davon ausgeht, dass es keinen realen Unterschied zwischen ihnen gibt, bleibt es weiterhin sinnvoll, analytisch zwischen diesen Komponenten des Wahrnehmungsvollzugs zu unterscheiden, weil dadurch ein Bild des Prozesses der sinnlichen Auffassung neuer Eigenschaften gegeben werden kann.
4. Ästhetisches Wissen und begriffliche Fähigkeiten Klärungsbedürftig ist das Verhältnis des ästhetischen Wissens zu den Fähigkeiten, die in ihm zum Zuge kommen. Kann die Auffassung einer sinnlichen Bezugnahme mit der Ausübung entsprechender Fähigkeiten identifiziert werden – etwa den Fähigkeiten, etwas Bestimmtes zu sehen, zu hören oder zu fühlen? Am Ende des letzten Abschnitts haben wir festgestellt, dass der Prozess der sinnlichen Auffassung, der das ästhetische Wissen konstituiert, von der urteilenden Feststellung des Sachverhalts dieser Auffassung zu unterscheiden ist. Eine entsprechende Unterscheidung kann für die bei diesen Aktivitäten beteiligten Fähigkeiten eingeführt werden: Sinnliche Fähigkeiten (also etwas nicht-begrifflich zu sehen, zu hören etc.) sind zu unterscheiden von der begrifflichen Fähigkeit, das sinnlich Aufgefasste als Sachverhalt auszudrücken, bzw. von der Fähigkeit wahrzunehmen, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, können die beiden im vorigen Abschnitt erläuterten Formen der Exemplifikation herangezogen werden. Die Standard-Exemplifikation setzt vor der Bezugnahme auf eine Eigenschaft die begriffliche Zuschreibung dieser Eigenschaft voraus, bedient sich damit also begrifflicher Fähigkeiten. Die sinnliche Exemplifikation hingegen funktioniert ohne vorgängige Zuschreibung – die Eigenschaft zeigt sich nur im Prozess der sinnlichen Bezugnahme. Hierbei kommen Fähigkeiten zur nicht-begrifflichen sinnlichen Auffassung zum Zuge, die einen Auffassungs- und Lernprozess ermöglichen.²⁴ Doch auch der Standard-Exemplifikation, die eine Anwendung begrifflicher Fähigkeiten enthält, liegt ein sinnlich strukturierter Auffassungsprozess zugrunde – und zwar muss der Erwerb einer begrifflichen Fähigkeit, also der Übergang von der vorausgehenden Unfähigkeit zum Besitz der Fähigkeit, vorbegriffliche Prozesse enthalten. Dieser Punkt kann an einem bekannten Beispiel veranschaulicht werden: Wenn jemand von sich behauptet, dass er einen metallischen Geschmack im Rotwein herausschmecken kann, dann handelt es sich dabei um eine begriffliche Fähigkeit, die auf ihre gelingende Anwendung angewiesen ist. Die Person muss in der Vergangenheit erfolgreich diese (oder ähnlich subtile) Geschmacksrichtungen erkannt haben und darf gegenwärtig nicht
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Diese Fähigkeiten sind als „sinnlich“ und nicht-begrifflich zu charakterisieren, weil die sich zeigenden Eigenschaften gar nicht im Symbolsystem verankert sind und daher von begrifflichen Fähigkeiten (noch) nicht angemessen erfasst werden können. Das Symbolsystem verweist bestenfalls auf eine Leerstelle, so dass man seiner sinnlichen Auffassung überlassen bleibt. Die entsprechenden Fähigkeiten können daher auch nicht als „vorliegende“ Dispositionen konzipiert werden, die in einer passenden Situation aktualisiert werden. Erst der sinnliche Prozess, in dem auf die jeweiligen Eigenschaften Bezug genommen wird, ermöglicht eine daran anknüpfende begriffliche Zuschreibung. An dieser Stelle wird deutlich, warum das Sinnliche im Prozess des ästhetischen Wissens nicht als „unmittelbar Gegebenes“ fungiert, wie es sich auf konkretes Einzelnes bezieht und wodurch ihr Verhältnis zur Sprache charakterisiert ist. Sinnliche Exemplifikation setzt eine aktive Auseinandersetzung mit einem Gegenstand voraus, durch die sich bestimmte Aspekte an ihm erst sinnlich zeigen. In passiver Kontemplation wird sich weder eine sinnliche noch sonst irgendeine Bezugnahme herstellen. Es gibt keine einfache unmittelbare Aufnahme der entsprechenden Eigenschaften ohne eine Aktivität der Sinne, die aber zugleich nicht auf die Anwendung von Begriffen angewiesen ist. Ebenso besteht sinnliche Exemplifikation zunächst immer im Bezug auf die konkrete, einzelne Eigenschaft, da keine vorgängige begriffliche Subsumtion und kein Symbolsystem, die das Einzelne vom Allgemeinen her bestimmen würden, vorausgesetzt wird. Ein Begriff enthält eine Regel, die ihm seine („logische“) Allgemeinheit verleiht; die beschriebene sinnliche Auffassung von Eigenschaften ist nicht in diesem Sinne allgemein, da sie nicht von der Anwendung einer Regel abhängt. Die besondere neue Eigenschaft, die sich mir in der sinnlichen Auseinandersetzung zeigt, ist daher noch nicht begrifflich allgemein und auch nicht durch einen allgemeinverbindlichen Symbolgebrauch bestimmt. Die spezifische subjektive Allgemeinheit, die sich dann im ästhetischen Urteil ausdrückt, geht von der Erfahrung eines konkreten Einzelnen aus. Sie ist unabhängig und von anderer allzu oft daran scheitern, sonst gäbe es keine sinnvolle Grundlage für die Zuschreibung der entsprechenden Fähigkeit. Mit Goodman könnte man sagen: Die Vertrautheit mit einem Etikett („metallisch“) und seiner Anwendung in einem Symbolsystem muss vorliegen. Damit liegt dann eine begriffliche Fähigkeit vor. Um diese Fähigkeit aber zu erlangen, müssen nicht nur die geschmacklichen Eigenschaften eines Rotweins aufgefasst werden können, sondern zuvor auch (normalerweise in anderen Kontexten) Bekanntschaft mit der Eigenschaft des metallischen Geschmacks gemacht werden. Dieser Vorgang des Erlernens einer (subjektiv) neuen Eigenschaft wird im Beispiel zwar begrifflich angeleitet, da der Begriff „metallisch“ und seine Anwendung im Symbolsystem verankert ist, setzt aber unabhängig davon die Auffassung dessen voraus, was sich an einer Sache zeigt, die dann als „metallisch schmeckend“ beurteilt wird. So ist das Erlernen begrifflicher Fähigkeiten auf sinnliche Fähigkeiten angewiesen.
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Art als die begriffliche Allgemeinheit oder der symboltheoretisch verankerte Gebrauch. Schließlich kann erklärt werden, warum die sinnlich exemplifizierten Eigenschaften nicht sprachlich direkt ausdrückbar sind: Wenn wirklich neue Eigenschaften hervorgehoben werden, gibt es zunächst eben (noch) keine passenden Worte dafür, was aber nicht für eine prinzipielle Grenze des Sagbaren spricht. Zunächst – vor dem Übergang ins Begriffliche – drückt sich in ästhetischen Urteilen das Verhältnis von sinnlicher Aktivität und Konfiguration im Prozess der exemplifizierenden Bezugnahme aus. Die mit diesem Prozess konstituierte subjektive Allgemeinheit ermöglicht eine „Mitteilbarkeit“, also ein Sprechen über die sich zeigenden nicht-begrifflichen Eigenschaften, das allerdings nicht dem Aussagen von Sachverhalten gleicht. An die sinnliche Exemplifikation anknüpfend können die sich zeigenden Eigenschaften aber zu begrifflichen Eigenschaften werden und schließlich auch begrifflich zugeschrieben werden. Dieser Übergang kommt aber erst nach dem Prozess der sinnlichen Auffassung in Gang.
5. Der Anspruch auf korrigierbares Wissen gegenüber der bloß subjektiven Meinung Die Frage kommt auf, warum der hier dargestellte Prozess der sinnlichen Exemplifikation nicht auch einfach zur Explikation von ästhetischer Erfahrung dienen sollte – warum hier also der (stärkere) Anspruch auf Wissen erhoben wird. In der Erkenntnistheorie kommen hier die Bedingungen der Rechtfertigung und der Wahrheit ins Spiel – bei einer Aussage handelt es sich um Wissen, wenn sie gerechtfertigt ist und mit dem ausgesagten Sachverhalt „übereinstimmt“.²⁵ Die Kontroverse um die Wahrheit (oder Wahrhaftigkeit) künstlerischer Darstellung oder sinnlicher Erfahrung reicht bekanntermaßen zurück bis zu Platon. Auch Baumgartens Versuch, eine spezifisch ästhetische Wahrheit (in Abgrenzung zur logischen Wahrheit) zu konzipieren, hat bis heute keine epistemologische Relevanz etabliert.²⁶ Daraus ergeben sich Komplikationen für eine Konzeption von ästhetischem Wissen: Sei es als eine besondere Form ästhetischer Erfahrung oder allgemeiner gefasst als Modus sinnlicher Auffassung – ein starker Wahrheitsanspruch im wörtlichen Sinne wird in keinem Fall unmittelbar erhoben, und es ist unklar, wie die Erfüllung einer entsprechenden Bedingung aussähe. Das liegt schon allein daran, dass Wahrheit üblicherweise eine Eigenschaft von Aussagen
Zu den Problemen dieser Auffassung von Wissen vgl. Abschnitt 2. Vgl. zur ästhetischen Wahrheit Baumgarten 2007, §§ 423 – 444.
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ist, während wir uns bisher daran abgearbeitet haben, gerade einen Unterschied zwischen propositionalem Wissen und ästhetischem Wissen zu begründen. Welche Kriterien erlauben die Zuschreibung oder die Korrektur von Ansprüchen auf ästhetisches Wissen? Wie könnte man begründen, dass jemand nur glaubt, über ästhetisches Wissen zu verfügen? Denn wenn sich das, was man zu wissen glaubt, als unwahr herausstellt, dann weiß man es tatsächlich eben nicht. Die Schwierigkeit, etwas der Wahrheit Analoges für den Bereich des Ästhetischen zu formulieren, scheint im Fehlen eines gegebenen öffentlichen Maßstabs zu liegen – wie etwa der Sachverhalt im theoretischen Wissen oder das Gelingen einer Handlung im praktischen Wissen. Ästhetisches Wissen scheint sich an keinem vergleichbaren Maßstab zu orientieren.²⁷ Eine Lösung kann ich an dieser Stelle nur andeuten: Die subjektive Allgemeinheit eröffnet einen Ausweg, da ihr Anspruch korrigiert werden kann. Der Anspruch auf Übereinstimmung, der mit ästhetischen Urteilen erhoben wird und der sich auf den Gemeinsinn stützt, besteht einerseits darin, dass anderen Personen prinzipiell gezeigt werden könnte, was sich mir zeigt; andererseits kann ich dazu gebracht werden, diesen Anspruch aufzugeben, wenn mir wiederum gezeigt wird, dass ich etwas nicht ganz richtig auffasse. Schließlich kann die durch weitere Erfahrung bewirkte Veränderung in meiner sinnlichen Auffassung mich dazu führen, dass ich frühere Ansprüche auf (subjektive) Allgemeinheit selbst nicht mehr einsehe. So wie man also lernen kann, etwas Bestimmtes aufzufassen, kann man auch lernen, gewissermaßen „dasselbe“ anders aufzufassen, und so feststellen, dass man es bisher falsch aufgefasst hat. Mit diesem Modell ist eine Entwicklungslogik verbunden, die terminologisch analog zu Hegels Entwicklung des natürlichen Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes davon sprechen könnte, dass etwas unwahr geworden ist.
6. Schluss Im ersten Schritt für eine Konzeption ästhetischen Wissens haben wir eine Klärung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Begriff im Bereich des Ästhetischen vorgeschlagen. Dieses Verhältnis stellt sich zusammenfassend folgendermaßen dar: 1)
Funktion und Rolle der Sinnlichkeit wird nicht unter Voraussetzung epistemischer Zielsetzungen bestimmt; sie ist in dieser Hinsicht nicht-begrifflich.
Auf dieses Problem läuft Humes Diskussion der Geschmacksurteile hinaus, vgl. Hume 1777, 235 f.
Was ist „ästhetisches Wissen“? Überlegungen zur Konzeption einer Wissensform
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a) Das Sinnliche nimmt nicht die Rolle eines vermeintlich Gegebenen im Erkenntnisprozess ein. b) Sinnliche Auffassung besteht nicht in der Erkenntnis von konkretem Einzelnen, das dann als Material für Verallgemeinerungen und Abstraktionen im begrifflich vermittelten Erkenntnisprozess dienen könnte. c) Das Sinnliche ist nicht unbeschreiblich oder unaussprechlich, sondern unausgesprochen oder implizit. Man kann über ästhetische Erfahrung sprechen oder sie beschreiben, aber die Beschreibung ist nicht mit der Erfahrung oder dem Erfahrenen gleichzusetzen. Auf diesen Abgrenzungen aufbauend konnten Struktur und Rolle ästhetischer Urteile genauer bestimmt werden: 2)
Ästhetische Urteile drücken sinnliche Auffassung unter der Bedingung eines nicht gegebenen, unbestimmten Begriffs aus. a) Ästhetische Urteile reflektieren das in einem Prozess der sinnlichen Bezugnahme sich entwickelnde Verhältnis von subjektiver Aktivität und sinnlicher Konfiguration. b) Ästhetische Urteile beanspruchen eine spezifische Form der subjektiven Allgemeinheit (im Gegensatz zu rein privaten „Sinnesurteilen“ über Empfindungen). c) Ästhetische Urteile verweisen so auf unausgesprochene oder implizite Eigenschaften, die im sinnlichen Prozess aufgefasst werden bzw. sich darin zeigen.
Diese Grundelemente eröffnen in Verbindung mit einer darauf aufbauenden Entwicklungslogik eine starke Konzeption, die mindestens den genannten Anforderungen an Wissen gerecht werden können: Einerseits können die sich in sinnlicher Exemplifikation zeigenden Eigenschaften von subjektiven Empfindungen ohne Prozess der Bezugnahme unterschieden werden; andererseits kann sich der sinnliche Prozess und in ihm der sich konstituierende Allgemeinheitsanspruch entwickeln, wodurch neue gültige Auffassungen ältere korrigieren können.²⁸
Für Diskussionen und Anmerkungen danke ich Eva Schneider, Christoph Asmuth, Kurda Nejad, Teresa Pedro, Tatjana Tömmel und Simon Gabriel Neuffer.
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Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb (2007): Ästhetik (1750/1758), hg. von Dagmar Mirbach, Hamburg: Meiner. Carroll, Noël (2010): „Aesthetic Experience: A Question of Content“, in: Art in Three Dimensions, Oxford: Oxford University Press, 77 – 108. Cassirer, Ernst (2010): Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg: Meiner. Ewenstein, Boris/Whyte, Jennifer (2007): „Beyond Words: Aesthetic Knowledge and Knowing in Organizations“, in: Organization Studies 28, 689 – 708. Goodman, Nelson (1995): Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1988): Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner. Hume, David (1777): „Of the Standard of Taste“, in: Essays and Treatises on Several Subjects Part 1, London, 226 – 249. Kant, Immanuel (1900 ff.): Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin [zitiert als AA mit Band- und Seitenzahl; Kritik der Urteilskraft als KU (= AA V, 164 – 485); Kritik der reinen Vernunft unter Angabe der Paginierung der beiden Erstausgaben von 1781 (A) und 1787 (B)]. Kieran, Matthew/Lopes, Dominic McIver (Hg.) (2006): Knowing Art. Essay in Aesthetics and Epistemology, Dordrecht: Springer. Kieran, Matthew (2011): „Aesthetic Knowledge“, in: Sven Bernecker/Duncan Pritchard (Hg.), Routledge Companion to Epistemology, London: Taylor & Francis, 369 – 379. McDowell, John (1994): Mind and World, Cambridge: Harvard University Press. Mersch, Dieter (2002): Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, Paderborn: Wilhelm Fink. Schultz, Richard A. (1978): „Does Aesthetics Have Anything to Do with Art?“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 36, 429 – 440. Tomlin, Adele (2008): „Introduction: Contemplating the undefinable“, in: Richard Shustermann/Adele Tomlin (Hg.), Aesthetic Knowledge, New York: Routledge, 1 – 13. Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zu den Autoren Leonardo Amoroso ist Ordinarius für Ästhetik an der Universität Pisa (Italien). Publikationen (Auswahl): Ratio & aesthetica. La nascita dell’estetica e la filosofia moderna, Pisa: Edizioni ETS 2000; Erläuternde Einführung in Vicos „Neue Wissenschaft“, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006; Schiller e la parabola dell’estetica, Pisa: Edizioni ETS 2014. Außerdem einige Übersetzungen deutscher philosophischer Texte ins Italienische (z. B. Kants Kritik der Urteilskraft). Christoph Asmuth ist apl. Professor am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin und leitet dort das BMBF-Verbundprojekt „Anthropofakte – Schnittstelle Mensch“. Er ist wissenschaftlicher Beirat der Fichte-Studien und leitet das Forschungsnetzwerk „Transzendentalphilosophie/Deutscher Idealismus“. Publikationen (Auswahl): Interpretation – Transformation. Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und das Legitimitätsproblem der Philosophiegeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006; Bilder über Bilder – Bilder ohne Bilder. Eine neue Theorie der Bildlichkeit, Darmstadt: WBG 2011. Irene Breuer ist seit 2012 Lehrbeauftragte an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie erwarb 1988 ein Diplom in Architektur und 2003 ein Diplom in Philosophie an der Universidad de Buenos Aires. Zwischen 1991 und 2002 arbeitete sie als Architektin und war Akademische Rätin im Fachbereich Architektur an verschiedenen argentinischen Universitäten. Seit 2002 in Deutschland angesiedelt, schloss sie im Jahre 2012 ihre Promotions in Philosophie mit einer Dissertation zum Thema des Raumes bei Aristoteles und Husserl ab (bei Klaus Held und Lázló Tengelyi). Publikationen (Auswahl): „Descartes – Nietzsche: die Phänomenalität der inneren Welt – die Gewissheit und Wahrheit der Gefühle“, in: I. Römer (Hg.), Subjektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie, Würzburg: Ergon 2011; „MerleauPonty: Auswirkungen der ‚kohärenten Verformung’ auf Leib und Sinn – die Simultaneität im Raum“, in: K. Novotný, P. Rodrigo, J. Slatman und S. Stoller (Hg.), Corporeity and Affectivity (Dedicated to M. Merleau-Ponty), Leiden: Brill 2013. Thomas Dworschak ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik und Philosophie der Deutschen Sporthochschule Köln (bei Prof. Volker Schürmann). Er hat Indologie, Kulturwissenschaften und Philosophie in Leipzig und Pisa studiert (Magister Artium 2009). Seit 2010 arbeitet er an der Dissertation Hörbarer Sinn am Institut für Philosophie der Universität Leipzig (bei Prof. Andrea Kern).
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Zu den Autoren
David Espinet ist wissenschaftlicher Assistent am philosophischen Seminar Freiburg. Er hat Philosophie und Romanistik in Freiburg, Paris und Boston studiert und 2008 seine Promotion 2008 abgeschlossen. 2013 – 2014 war er Junior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies. Publikationen (Auswahl): Phänomenologie des Hörens. Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger, Tübingen: Mohr Siebeck 2009; „Die Freiheit des Entwurfs. Zur Antinomie der Kunst bei Kant, Bacon, Heidegger und Kandinsky“ in: Suchen Entwerfen Stiften. Randgänge zu Heideggers Entwurfsdenken (hg. zusammen mit Toni Hildebrandt), Paderborn: Wilhelm Fink 2014. Serena Feloj lehrt an der Universität von Pavia und arbeitet am Max-Plank-Institut für empirische Ästhetik. Sie wurde in Philosophie promoviert mit einer Dissertation über Kant und das Erhabene, die als beste Dissertation 2012 ausgezeichnet wurde. Sie war DAAD-Stipendiatin an der Universität Marburg und Gastwissenschaftlerin an der Universität zu Köln. Publikationen (Auswahl): Il sublime nel pensiero di Kant, Brescia: Morcelliana 2012; Filosofia e follia. Percorsi tra il XVI e il XVIII secolo (hg. zusammen mit M. Giargia), Sesto San Giovanni: Mimesis 2013. Héctor Ferreiro ist seit 2014 Professor an der Pontificia Universidad Católica Argentina in Buenos Aires. Er wurde 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. 2005 – 2013 war er Professor an der Universidad Nacional de San Martín in Buenos Aires. Seit 2005 ist er Mitglied in Argentiniens Nationalrat für Wissenschaft und Technik (CONICET). Publikationen (Auswahl): „Hegel sobre la posibilidad ontológica del libre albedrío y su realización efectiva en el Sistema del Derecho“, in: Silvia Di Sanza/D. M. López (Hg.), El vuelo del búho: Estudios sobre filosofía del idealismo, Buenos Aires: Prometeo 2013, 153 – 170; „El idealismo absoluto como revolución copernicana del spinozismo“, in: D. Tatián (Hg.), Spinoza. Noveno coloquio, Córdoba: Brujas 2013, 405 – 414. Michael Funk arbeitet an der Professur für Technikphilosophie der TU Dresden als Assistent in Forschung und Lehre. Schwerpunkte bilden die Geschichte und Systematik der Technik- und Wissenschaftsphilosophie einschließlich ethischer Fragestellungen, sowie die Philosophie der Musik. Publikationen (Auswahl): Robotics in Germany and Japan. Philosophical and Technical Perspectives (hg. zusammen mit Bernhard Irrgang), Frankfurt am Main: Peter Lang 2014; ‚Transdisziplinär’ und ‚Interkulturell’. Technikphilosophie nach der akademischen Kleinstaaterei (Hg.), Würzburg: Königshausen & Neumann 2015. Andreas Jacke arbeitet als Filmwissenschaftler und hatte einen Lehrauftrag von 2011 bis 2014 an der Hochschule Darmstadt. 1996 Magister in Philosophie, 2002
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Promotion in den Filmwissenschaften über Marilyn Monroe und die Psychoanalyse. Publikationen (Auswahl): David Bowie – Station To Station. Borderline-Motive eines Popstars, Gießen: Psychosozial-Verlag 2011; Krisen-Rezeption oder was Sie schon immer über Lars von Trier wissen wollten, aber bisher Jacques Derrida nicht zu fragen wagten, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. Cem Kömürcü ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Philosophie und Theorie der Religionen der Universität Bonn. Publikationen (Auswahl): Sehnsucht und Finsternis. Schellings Theorie des Sprachsubjekts,Wien: Passagen 2011; Dichten und Denken. Perspektiven zur Ästhetik (hg. mit T. Dangel und S. Zimmermann), Heidelberg: Winter 2011. Katerina Mihaylova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Emmy-NoetherGruppe Aufrichtigkeit in der Goethezeit (Universität Paderborn). Sie hat Philosophie, Psychologie und Logik und Wissenschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert, wo sie ebenfalls promoviert. Publikationen (Auswahl): Rousseaus Welten (hg. mit S. Bunke und A. Roselli), Würzburg: Königshausen & Neumann 2014; Das Band der Gesellschaft (hg. mit S. Bunke und D. Ringkamp, im Erscheinen). Fábio Mascarenhas Nolasco promoviert an der Staatlichen Universität zu Campinas (Unicamp) in Brasilien zum Thema „Negative Voraussetzungen der Hegelschen Rechtfertigung der spekulativen Dialektik als Methode der Philosophie“ (bei Prof. Marcos Lutz Müller). An derselben Universität hat er Philosophie studiert und 2010 eine Master-Dissertation (auf Portugiesisch) mit dem Titel Darstellungen der Allgemeinheit des Denkens im 17. Jahrhundert: Cartesischer Intuitionismus und Leibnizscher Formalismus geschrieben. Publikationen (Auswahl): „A reflexão como termo-médio entre o ‚more geometrico’ e a dialética“, in: Revista de Estudios sobre Fichte, v. 4, 8 – 18, 2012; „Aspectos para uma história crítica da análise: analítica kantiana e lagrangiana“ in: Revista Eletrônica Estudos Hegelianos – Ano 10, n. 18, 61– 70, 2013. Teresa Pedro ist seit 2011 Postdoc-Stipendiatin und Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin und am Instituto de Filosofia der Universidade Nova in Lissabon. Sie wurde 2009 an der Université Paris IV – Sorbonne mit einer Arbeit zu F.W. J. Schelling promoviert. Gegenwärtig arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zur Zeitwahrnehmung. Publikationen (Auswahl): Schellings Philosophie der Freiheit (hg. mit D. Ferrer), Würzburg: Ergon 2011; „Possibilité et réalité de l’idéalisme transcendantal“, in: Archives de Philosophie 2010.
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Zu den Autoren
Peter Remmers lehrt am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin. Er hat Philosophie, Kommunikationswissenschaft und Musikwissenschaft an der TU Berlin studiert und promoviert zur Philosophie des Films. Publikationen (Auswahl): „Die Idee der Freiheit im Naturalismus“, in: Christoph Asmuth & Patrick Grüneberg (Hg.), Subjekt und Gehirn – Mensch und Natur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, 319 – 326; „Moralische Selbstverständigung im Film“, in: Lars Leeten (Hg.), Dimensionen moralischer Verständigung, Freiburg: Alber 2013, 262– 280. Damián Jorge Rosanovich ist seit 2011 Assistent am Fachgebiet Politische Theorie der Neuzeit an der Universidad de Buenos Aires. Er hat Philosophie an der Universidad de Buenos Aires studiert („Licenciado en Filosofía“ (2011)). Er promoviert in Philosophie als CONICET- und DAAD-Stipendiat an der Universidad de Buenos Aires und an der Friedrich Schiller Universität Jena. Publikationen: „Sabiduría política y praxis gubernativa en J.-J. Rousseau“, in: Páginas de Filosofía 11/13, 2010, 7– 20; „Poder e institución. La consideración hegeliana de la areté napoleónica“, in: D. Brauer (Hg.), Metafísica de la libertad y teoría de la sociedad. Nuevas exploraciones en torno al concepto de „eticidad“ en Hegel, Buenos Aires: Prometeo, 2015 (im Erscheinen). Ulrich Seeberg war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste Berlin und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, wo er sich gegenwärtig mit einer Arbeit zur Ästhetik der Moderne habilitiert. Er hat Philosophie und Germanistik in München, Oxford und Berlin studiert und wurde 2001 bei Dieter Henrich mit einer Arbeit zu Kants Kategoriendeduktion promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind klassische deutsche Philosophie, Ästhetik und Hermeneutik, Metaphysik. Publikationen (Auswahl): Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis. Eine Untersuchung zu Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, Philo & Philo Fine Arts, 2006; „Hegel und die Querelle des Anciens et des Modernes“, in: Jürgen Stolzenberg & Fred Rush (Hg.): Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism 10/2012: Geschichte/History. Berlin / New York: De Gruyter, 2014, 143 – 174. Michael Sellhoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Aufklärungsphilosophie und Theorie der Philosophiegeschichte. Publikationen (Auswahl): Artikel „Die Ordnung des Diskurses“ und „Ontologie der Gegenwart“, in: C. Kammler/R. Parr/U. J. Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008, 62– 68 u. 277– 279; „Tetens’ ›Metaphysik‹ (1789):
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Systematische Architektonik und historischer Kontext“, in: Gideon Stiening & Udo Thiel (Hg.), Johann Nikolaus Tetens (1736 – 1807). Philosophie in der Tradition des europäischen Empirismus (= Werkprofile. Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. 6), Berlin: De Gruyter 2014, 45 – 62. Cristiana Senigaglia hat Philosophie an der Universität Triest studiert und wurde dort nach einem Auslandsaufenthalt an der Ludwig-Maximilians-Universität München auch promoviert. Sie war Forschungsstipendiatin an der Universität Regensburg, Post-Doc an der Universität Padua, hatte ein Forschungsstipendium und Lehraufträge an der Universität Triest und an der Universität Passau (2012– 13). Publikationen: 3 Bücher und viele Aufsätze über den deutschen Idealismus. Alberto L. Siani hat an der Scuola Normale Superiore di Pisa studiert und wurde dort 2010 promoviert in Ko-Betreuung mit der FernUniversität Hagen mit einer Dissertation zu Ästhetik und Politik bei Hegel. Danach war er Alexander-vonHumboldt-Stipendiat und Lehrbeauftragter an der Universität Münster. Zur Zeit ist er Assistant Professor für Philosophie an der Yeditepe University von Istanbul. Neben dem deutschen Idealismus gelten seinen aktuellen Interessen Themen der zeitgenössischen politischen Philosophie, vor allem John Rawls’ politischem Liberalismus und der Philosophie der Menschenrechte. Publikationen (Auswahl): Il destino della modernità. Arte e politica in Hegel, Pisa: ETS 2010; „Ende der Kunst und Rechtsphilosophie bei Hegel“, in: Hegel-Studien 46 (2011); L’estetica di Hegel (hg. mit M. Farina), Bologna: Il Mulino 2014; „The Contemporary Dialectic of United Nations Human Rights“, in: Clio 44.1 (2014) (im Erscheinen)“. Michela Summa ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sektion Phänomenologie der Klinik für Allgemeine Psychiatrie in Heidelberg. Sie wurde 2010 in Pavia und Leuven promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Phänomenologie der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und der Imagination; Phänomenologie der Subjektivität und Intersubjektivität; Husserls und Kants Theorien der sinnlichen Erfahrung; das Verhältnis zwischen Phänomenologie, Kognitionswissenschaften und Psychopathologie. Publikationen (Auswahl): „Process and Relation. Husserl’s Theory of Individuation Revisited“, in: The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy, 2013; SpatioTemporal Intertwining. Husserl’s Transcendental Aesthetic, Dordrecht: Springer 2014. Astrid Wagner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Technischen Universität Berlin. Sie studierte Philosophie und Deutsche Philologie an der TU Berlin. 2007
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Zu den Autoren
erfolgte die Promotion im Fach Philosophie. Von 1995 bis 2000 arbeitete sie als Koordinatorin am Frankreich-Zentrum der TU Berlin, von 2000 bis 2009 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der TU Berlin. 2009 gewann sie mit dem Projekt „Racionalidad transcultural. Pluralismo frente al relativismo“ den Konkurs um einen dreijährigen Post-Doc-Forschungsvertrag am CSIC in Madrid. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Sprachund Zeichenphilosophie, Phänomenologie und Transzendentalphilosophie. Publikationen (Auswahl): Kognitive Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Berlin: Parerga 2008; „Historia y racionalidad. Filosofía de la historia ante los retos del pluralismo y del relativismo cultural“, in: Azafea 13 (2011), 131– 150.
Personenregister Abel, Günter 249, 253 – 254, 260, 264, 278 Adler, Hans 157 Adorno, Theodor Wiesengrund 157, 279, 322 Amoroso, Leonardo 95 Anders, Günther 364 Andrew, James Dudley 379, 381, 386 Angehrn, Emil 116 Anschütz, Georg 157 Anzalone, Mariafilomena 128 Arendt, Hannah 95, 100 – 101, 106 Aristoteles 133, 342 – 344 Arnheim, Rudolf 382 Asche, Matthias 37 Asmuth, Christoph 323 Bach, Johann Sebastian 324 Bacon, Francis 15, 28 Bachelard, Gaston 273 – 274 Badiou, Alain 360 Banse, Gerhard 266 Barth, Roderich 31 Basch, Victor 226 Bastide, Roger 322 Bates, Jennifer Ann 134 Baudelaire, Charles 157, 320 Baudrillard, Jean 361 – 362, 365 Baumann, Peter 252 Baumanns, Peter 78 Baumgarten, Alexander Gottlieb 13 – 14, 16 – 18, 21, 24, 29, 31, 35, 37 – 38, 44, 55, 83 – 86, 90, 92, 95 – 96, 105, 226, 251, 373, 393 – 394, 415 Bayle, Pierre 328 Beck, White Lewis 175 Becker, Alexander 304 – 307 Beethoven, Ludwig van 324 Beiner, Ronald 327 Benjamin, Walter 322 – 323, 325, 339, 364 Bernhard, Thomas 362 Bianchi, Olivia 119 Biemel, Walter 226 Bisin, Luca 222 – 223 Bleuler, Eugen 261 Bloch, Ernst 313, 323 – 324
Blumenberg, Hans 168 – 169, 359, 361 Bodin, Jean 328 Boethius 368 Boghossian, Paul 142 Bondeli, Martin 328 Bordwell, David 374 Bourdin, Jean-Claude 330, 332 Bowie, Andrew 278 Bradter, Cornelius 306 Brain, Robert M. 386 – 387 Brandom, Robert 108 Brandt, Reinhard 36 Branigan, Edward 386 Braudel, Fernand 322 Braun, Wernher von 266 Brecht, Bertold 339 Brendel, Alfred 280 Bricmont, Jean 142 Bruno, Giuliana 387 Cadenbach, Rainer 279, 290, 294 Cantillo, Giuseppe 120 Carbone, Mauro 165, 182 Carnap, Rudolf 265 Carroll, Noël 374, 383, 386, 392 Cassirer, Ernst 31, 33, 396 Cavell, Stanley 259 Centi, Beatrice 224 Cézanne, Paul 172, 177, 357 Clarke, Samuel 56 Cochrane, Tom 301 – 304 Coeckelbergh, Mark 250 – 251, 257 Cohen, Hermann 226 Conant, James 249 Corona, Nestor 253 Costa, Vincenzo 191, 202 Crapulli, Giovanni 33 Crick, Francis 252, 269 – 272, 278 Currie, Gregory 374, 378, 385 Cytowic, Richard 261 Day, Sean A. 261 Dejardin, Bertrand 112 de la Motte-Haber, Helga
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Personenregister
De Palma, Vittorio 190 – 191, 202, 211 Delacroix, Eugène 172 Deleuze, Gilles 173, 185, 367 Depraz, Nathalie 223 Derrida, Jacques 244, 339 – 353 Descartes, René 32 – 34, 36 – 37, 43 – 44, 84, 105, 107, 262, 265, 314 Dewey, John 92, 255 Dingler, Hugo 274 Duras, Maguerite 367 – 368 Düsing, Klaus 134, 331, 333 Dworschak, Thomas 293 Ehrenstein, Walter H. 153 Ehrlich, Walter 211 Einstein, Albert 266 Eisenman, Peter 244 Eley, Lothar 211 Emrich, Hinderk M. 157, 261, 264 Engfer, Hans-Jürgen 38 Espinet, David, 171, 174, 406 Euler, Leonard 58 Ewenstein, Boris 407 Feder, Johann Georg Heinrich 32, 36 – 37, 39, 44 Feloj, Serena 211, 218 Ferguson, Eugene S. 267 Feuerbach, Ludwig 258 Fichant, Michel 195 Fichte, Johann Gottlieb 88 – 89, 107, 135, 328, 386 Figal, Günter 171 – 173, 185 Flach, Werner 264 Fleck, Ludwik 274 Franklin, Rosalind 252, 269, 271 – 272, 278 Franzini, Elio 220, 223 Fredericksen, Donald L. 374, 381 – 382 Freeland, Cynthia 379 Freud, Sigmund 340, 357 – 358 Funk, Michael 249 Gäbe, Lüder 33 Gadamer, Hans-Georg 123, 171, 243 Galilei, Galileo 265 – 266, 314 Gallagher, Shaun 257 Garroni, Emilio 96, 223 – 224
Garve, Christian 44 Gasquet, Joachim 177 Gatti, Roberto 327 Gauguin, Paul 158 Gawlick, Günter 45 Gelb, Adhémar 157 Gethmann-Siefert, Annemarie 113 – 115, 118, 120, 130 Gettier, Edmund 252 – 253 Gigliotti, Gianna 223 – 225 Ginsborg, Hannah 27 Goethe, Johann Wolfgang von 18, 123, 176, 321 Goldstein, Jürgen 33 Goldstein, Kurt 157 Goodman, Nelson 392, 409 – 411, 414 Goudeli, Kyriaki 224 Gregor, Mary 175 Habermas, Jürgen 321 Haag, Johannes 51, 54 Haase, Matthias 258 – 259 Hacking, Ian 142, 274 Hamann, Johann Georg 44 Hanslick, Eduard 294 Haraway, Donna 274 Hartmann, Nicolai 290 Harvey, William 265 Hatten, Robert S. 305 Haverkamp, Michael 261 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17, 91, 96 – 97, 105 – 108, 112 – 131, 133 – 143, 251, 289 – 297, 300 – 301, 303 – 304, 308, 311 – 321, 323, 325, 327 – 335, 339, 341, 343 – 349, 359 – 360, 364 – 365, 398, 400, 416 Heidegger, Martin 17, 92, 159, 162, 171, 253, 255 – 256, 259, 279, 341 – 346, 348 Held, Klaus 231 Henrich, Dieter 122 Heraklit 136 Herder, Johann Gottfried 44 Hering, Ewald 153 Hermann, Ludimar 153 Herrmann-Sinai, Susanne 303 Herz, Marcus 44 Hintze, Otto 37
Personenregister
Hobbes, Thomas 328 Hoffmann, E.T.A. 157 Hogrebe, Wolfgang 360, 367 Hölderlin, Friedrich 91, 113 Hölscher, Uvo 37, 40 Honneth, Axel 108 Humboldt, Wilhelm von 46 Hume, David 45, 196, 416 Husserl, Edmund 17 – 18, 148 – 149, 159, 168, 182, 184, 189 – 193, 196, 199 – 208, 211 – 224, 227 – 228, 231 – 244, 266 – 267, 274, 344, 350 Huxley, Aldous 157 Ihde, Don 251, 255, 266, 274, 280 Ingarden, Roman 290 Irrgang, Bernhard 250, 253, 255 – 257, 259, 264, 266 – 270, 272, 274 – 275 Jacke, Andreas 340 Jackendoff, Ray 306 Jacobi, Friedrich Heinrich 128 Janich, Peter 257, 275 Jarvie, Ian Charles 379, 386 Joisten, Karin 255 Jung, Matthias 255 Kaiser, Ulrich 250 Kant, Immanuel 13 – 29, 31, 44 – 45, 49 – 83, 86 – 92, 95 – 108, 111 – 112, 116, 147 – 150, 152, 156, 159, 162, 165 – 186, 189 – 200, 204 – 208, 211 – 228, 231, 236, 251, 262 – 263, 265, 272, 299, 303, 328, 392 – 394, 397, 399, 404 – 405, 412 Kern, Iso 190, 219, 227 Kieran, Matthew 407 Kierkegaard, Søren 92, 366 – 367 Kivy, Peter 294 Knippers, Rolf 270 – 272 Koffka, Kurt 150 Kornwachs, Klaus 265 – 266 Krampen, Martin 157 Kreimendahl, Lothar 45 Kripke, Saul 361 Kuehn, Manfred 37 Kuhn, Thomas S. 274 Kulenkampff, Jens 295
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La Rocca, Claudio 214, 224 – 225 Lacan, Jacques 339 Latour, Bruno 274 Lee, Seung-Kee 224 Leibniz, Gottfried Wilhelm 16, 33, 35, 38, 44, 50, 56, 83 – 85, 90, 226, 272, 311, 314 Lerdahl, Fred 306 Lessing, Gotthold Ephraim 124 Levinas, Emmanuel 342, 345 – 346, 351 Lévi-Strauss, Claude 322 – 323 Lindsay, Vachel 383 Lingelbach, Bernd 153 Locke, John 35, 40, 328 Lohmar, Dieter 202 – 203, 211, 213 Lopes, Dominic McIver 407 Luckner, Andreas 252, 282, 290 Lukács, Georg 330 Lyotard, Jean-François 173, 175, 178, 180 Mahrenholz, Simone 253, 278 Maimon, Salomon 45 Makkreel, Rudolf A. 170 – 171, 175 – 176, 179 – 180, 182, 197, 224 Mallarmé, Stéphane 320, 352 Marcucci, Silvestro 224 Marcuse, Herbert 92 Marini, Alfredo 219 Martin, Gottfried 50, 70 Matisse, Henri 172 Maturana, Humberto 263, 272 McCormick, Peter 142 McDowell, John 134, 395 – 396, 405 McMyler, Benjamin 258 Meier, Georg Friedrich 86 Melle, Ulrich 211 Mendel, Gregor 267 Menzel, Alfred 56 Merleau-Ponty, Maurice 147 – 162, 165 – 166, 178, 181 – 185, 280 Mersch, Dieter 185, 411 Mohr, Georg 276 – 279 Monroe, Marilyn 340, 353 Mörchen, Hermann 226 Moure, José 374, 381 Müller-Beck, Hansjürgen 250 Münk, Hans J. 268
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Personenregister
Münsterberg, Hugo 374, 379 – 388 Nanay, Bence 373 – 380, 388 Nancy, Jean-Luc 342 – 344, 346 – 353, 361, 366 Neurath, Otto 265 Newton, Isaac 56, 58, 265, 314 Niel, Henri 333 Nietzsche, Friedrich 91 – 92, 142, 279, 349, 354 – 355 Nishida, Toyoaki 251 Noë, Alva 255 Nordmann, Alfred 274, 280 Nussbaum, Charles O. 303, 305 – 307 Nuzzo, Angelica 180 Olivier, Alain Patrick 123, 292 Paganini, Niccolò 292 Park, Min-Soo 118 Pedro, Teresa 382, 386 Perler, Dominik 34, 54 Peperzak, Adriaan 133 Perky, Cheves West 377 – 378 Piaget, Jean 264 Pickering, Andrew 274 Pinkard, Terry 108 Pippin, Robert B. 114 Platon 90, 136, 232, 242, 253, 415 Plessner, Helmuth 282, 289, 296 – 301, 303, 305, 308 Plotin 90 Plümacher, Martina 256 – 257 Pöggeler, Otto 128 Polanyi, Michael 252 – 253, 255 – 256, 272 Pollock, Jackson 172 Ponech, Trevor 379 Popper, Karl R. 273 Poser, Hans 255, 266 Posner, Roland 157 Pradelle, Dominique 191 – 192, 196, 202, 211 Prauss, Gerold 211 Proust, Marcel 165, 167 – 171, 174, 181 – 185 Pulla, Ralf 267 Quante, Michael 108, 330
Rajiva, Suma 224 Raters, Marie-Luise 114 Recki, Birgit 165, 376 Redmann, Bernd 305 Reimarus, Hermann Samuel 38 – 39 Reinhold, K. L. 45 Rentsch, Thomas 253, 256, 259, 279 Rheinberger, Hans-Jörg 15, 250, 268, 274 – 275 Richir, Marc 237 Riedel, Manfred 120 Rimbaud, Arthur 157 Ritter, Joachim 360 Roehler, Oscar 353 Rorty, Richard 134 – 135, 142 Rosch, Eleanor 255 – 256 Ross, David 242 Rossini, Goachino Antonio 292 Rothko, Mark 158, 172 Röttgers, Kurt 36 Rousseau, Jean-Jacques 328, 332 Rutter, Benjamin 118 – 119 Salis, Meta von 354 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 91, 100, 108, 113, 321, 362 – 363, 366 Schiller, Friedrich 83, 87 – 92, 95, 98 – 99, 107 Schilling-Wang, Britta 299 Schlegel, Friedrich 91 Schleiermacher, Friedrich 17, 255 Schmauks, Dagmar 157 Schneider, Norbert 251 Schneider, Udo 157 Schopenhauer, Arthur 279 Schrenk, Friedemann 250 Schulze, Gottlob Ernst 45 Schultz, Richard A. 392 Schumacher, Patrick 244 Schwaiger, Clemens 31 Schwarte, Ludger 16 Schweinitz, Jörg 386 Scruton, Roger 303 Shakespeare, William 113 Siani, Alberto L. 107 – 108 Seeberg, Ulrich 16, 20, 22, 99 Selinger, Evan 274
Personenregister
Sellars, Wilfrid 134 Sepper, Dennis L. 34 Seurat, Georges 158 Simon, Josef 35, 46 Small, Will 256 Smetana, Bedřich 282 Snyder, Lee Regis 211 Sokal, Alan 142 Sokrates 169 Sommer, Manfred 168 Speight, Allen 125 – 126 Spinoza, Baruch de 328, 367 Spitzer, Michael 305 Springmeyer, Heinrich 33 Städtler, Michael 98, 104 Stegmaier, Werner 342, 346 Stemmrich-Köhler, Barbara 123 Stoellger, Philipp 359 Stöltzner, Michael 265 Summa, Michela 190 – 191, 199, 205, 217, 222 Taylor, Charles 122 – 123 Tengelyi, Lázló 236 – 237, 239 Tetens, Holm 70 Tetens, Johann Nicolaus 31 – 32, 37 – 46 Thiel, Udo 36 Thompson, Evan 255 – 256 Tomlin, Adele 391
Verlaine, Paul 157 Vermeer, Jan 158 Vidal, Fernando 44 Vidler, Anthony 244 Vincenti, Walter G. 267 Vogel, Matthias 304 – 307 Wagner, Astrid 147, 406 Wagner, Richard 354 Walch, Johann Georg 54 Walther, Manfred 327 – 328 Watson, James 252, 269 – 273, 278 Weingarten, Michael 275 Weinrich, Harald 34 Weizsäcker, Carl Friedrich von 265 Werner, Heinz 157 Wertheimer, Max 381 Westerkamp, Dirk 39 Whyte, Jennifer 407 Wicclair, Mark R. 386 Wieland, Wolfgang 242 Wittgenstein, Ludwig 151, 253, 258 – 259, 279, 360, 363 – 364, 402, 404 Wohlers, Christian 33, 265 Wohlfart, Günter 66 Wolff, Christian 31, 35, 41, 55, 83 Won, Jun-Ho 332 Wundt, Wilhelm 381 Young, John M. 224
Uebel, Thomas 265 Uebele, Wilhelm 44 Vaihinger, Hans 51, 70, 76 – 78 Valéry, Paul 169 Varela, Francisco J. 255 – 256, 263, 272 Verbeek, Peter-Paul 255
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Zedler, Markus 157 Zekl, Hans Günter 33 Zietz, Karl 157 Zimmerli, Walter Ch. 36 Zöllner, Johann Carl Friedrich 151