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German Pages 269 [274] Year 2023
Erika Spieß Wirtschaftspsychologie
Erika Spieß
Wirtschaftspsychologie
Rahmen, Konzepte, Anwendungsfelder 2. Auflage
ISBN 978-3-11-077804-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077841-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077856-4 Library of Congress Control Number: 2023938966 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Orbon Alija/E+/Getty Images Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Dies ist die Ergänzung und Überarbeitung der Erstauflage des Bandes „Wirtschaftspsychologie“ (Spieß, 2005). Hiermit danke ich meinem verstorbenen Kollegen Werner Kannheiser, der den Anstoß dazu gab, dieses Buch zu schreiben. Ebenso danke ich meinen langjährigen wissenschaftlichen Mentoren, Lutz von Rosenstiel, der inzwischen ebenfalls verstorben ist, und Felix C. Brodbeck. Mein Dank gilt den Studierenden der Wirtschaftspsychologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die sich für dieses Fach und seine Themen begeistern konnten, sowie den Studierenden der Ludwig-Maximilians-Universität München, die dieses Fach studiert haben und mich in Lehrveranstaltungen inspiriert und herausgefordert haben. Julia Reif hat das Manuskript mit kritischen Augen gelesen und wertvolle Anregungen gegeben. Ebenso hat sie das Kapitel „Arbeit, Freizeit und Muße“ federführend geschrieben sowie das Kapitel über die „Rolle von Beratung in wirtschaftsnahen Kontexten“. Katharina Pfaffinger hat im Kapitel „Arbeit 4.0 und neue Technologien“ Themen wie Digitalisierungsangst und Technostress aufgegriffen und das Kapitel „Unternehmenszusammenschlüsse und ihre Folgen“ mitbearbeitet. Jutta Gallenmüller-Roschmann und David Maus haben freundlicherweise das komplexe Themenfeld „Finanzpsychologie“ übernommen und für diese Auflage überarbeitet. Dem Thema „Interkulturelles Handeln“ haben sich auch Jutta GallenmüllerRoschmann und Julia Reif gewidmet. Dieses Buch ist sowohl für Studierende des Faches Wirtschaftspsychologie, für Fachkolleginnen und -kollegen als auch für interessierte Praktikerinnen und Praktiker gedacht. Es bietet einen wirtschaftspsychologischen Rahmen für das Fach und stellt wichtige Anwendungsfelder der Wirtschaftspsychologie vor wie z. B. die Prozesse des Kaufens und Verkaufens, Arbeitslosigkeit oder interkulturelles Handeln in wirtschaftlichen Kontexten. Ebenso werden wirtschaftspsychologisch relevante psychologische Konzepte eingeführt. Wir hoffen, dass dieses Buch das Fach weiterhin an Universitäten und Fachhochschulen etablieren hilft. Hinweis zum Stichwort „gendergerechte Schreibweisen“: In diesem Buch werden weitestgehend geschlechtsneutrale oder offene Formulierungen gewählt. Wo es möglich und sinnvoll ist, wird die Doppelform („Autorinnen und Autoren“) angewendet oder es wird auf die rechtschreibkonforme SchrägstrichBindestrich-Form („Leser/-innen“) zurückgegriffen. München, März 2023 Erika Spieß
https://doi.org/10.1515/9783110778410-202
Vorwort Psychologie ist die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten, Wirtschaftspsychologie kann demnach als Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten in ökonomisch geprägten Kontexten definiert werden. Damit wird der Mensch in seinen Rollen als Produzent und als Konsument zum Fokus wirtschaftspsychologischer Analyse. Erika Spieß durchleuchtet in ihrem Lehrbuch der Wirtschaftspsychologie, das nun in zweiter Auflage vorliegt, die sich mit dieser Betrachtungsweise eröffnenden Blickwinkel ebenso stringent wie originell. Den Ausgangspunkt ihrer Analysen bildet der Dreiklang Arbeit, Freizeit und Muße. Der Mensch in der Arbeit stellt natürlich den Kern der Wirtschaftspsychologie dar, verdienen sich doch die meisten Menschen mit Arbeit das lebensnotwendige Geld (!) – und das benennt den entscheidenden Aspekt des wirtschaftlichen Kontextes. In ihrer Freizeit schlüpfen Menschen dagegen – zumindest in unserer Gesellschaft – bevorzugt in die Rolle des Konsumenten und nehmen die verschiedensten Dienstleistungen in Anspruch: Hier sei nur auf die Tourismus- und allgemein die sogenannte Freizeitbranche und ihre Kundinnen und Kunden verwiesen. Die Gegenüberstellung von Arbeit und Freizeit ist nachgerade klassisch, im vorliegenden Buch wird diese aber noch mit dem wissenschaftlich gesehen neuen Konzept der Muße konfrontiert, was einen Blick auf die nicht ökonomisch geprägte menschliche Situation eröffnet und wiederum ein bezeichnendes Licht auf den wirtschaftlichen Kontext wirft. Anschließend werden verschiedene Aspekte der Produzenten-Rolle näher beleuchtet. Dazu zählen die gravierenden Änderungen der Anforderungen, die mit dem Stichwort „Arbeit 4.0“ und der Digitalisierung im Allgemeinen verbunden sind. Die extreme Bedeutung der Arbeit für unser Leben wird dann am Verlust der Arbeit und dem Problem der Arbeitslosigkeit verdeutlicht. In krassem Kontrast dazu stehen das unternehmerische Handeln und der weite Bereich des selbstständigen Handelns, die motivational gesehen vom Wunsch nach Kontrolle geprägt sind und damit dem dominanten Gefühl des Arbeitslosen, der Hilflosigkeit, diametral entgegenstehen. Die Wirkungen der ökonomischen Umwelt im weiteren Sinne auf den produzierenden Menschen werden an den Beispielen der Entsendung ins Ausland, die interkulturelles Handeln erfordert, und den Folgen gravierender ökonomischer Entscheidungen – exemplarisch analysiert am Beispiel von Unternehmensfusionen – diskutiert. Noch einen Schritt weiter geht die Analyse der Interaktion zwischen arbeitenden und konsumierenden Menschen, zwischen Dienstleister/-innen und Kund(inn)en, die am Beispiel der Beratung in wirtschaftsnahen Kontexten untersucht werden. Damit wird Wirtschaft nicht mehr nur als das das Handeln umgebender Raum konzipiert, sondern auch noch als dessen Inhalt bezeichnet! Das öffnet schließlich den Blick auf den Kern des Konsums, das Kaufen, was wiederum – abgesehen von der Situation der Selbstbedienung – den tätigen Kontrapart, d. h. die Verkäuferin bzw. den Verkäufer, voraussetzt. Hier klingt wieder sehr deutlich an, worum sich im Kern wirtschaftliche Prozesse drehen: Geld! Dies steht natürlich auch im Zentrum der Finanzpsychologie, https://doi.org/10.1515/9783110778410-203
VIII
Vorwort
deren Analyse folgerichtig den Abschluss der vorgelegten Wirtschaftspsychologie bildet. Das Buch eröffnet vielfältige Blicke auf das menschliche Erleben und Verhalten in wirtschaftlichen Kontexten und kann deshalb sowohl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie von Studierenden und nicht zuletzt von allen Menschen, die sich für die Spezifika ihrer täglich eingenommenen Rollen als Produzent und Konsument interessieren, mit Gewinn gelesen werden. Dass dies möglichst häufig der Fall sein möge, ist auch der Wunsch, den ich diesem Werk mit auf den Weg gebe. Rostock, März 2023 Friedemann W. Nerdinger
Vorwort der ersten Auflage Die Wirtschaft bedarf der Psychologie. Hier sind sich nahezu alle Praktiker und viele Wissenschaftler einig. Eine Wirtschaftspsychologie als Vertiefungsfach innerhalb deutscher universitärer Psychologie-Curricula suchte man jedoch vergebens. Anders sieht dies bei stärker praxisorientierten Fachhochschulen aus, innerhalb derer sich ganze Studiengänge unter dem Namen Wirtschaftspsychologie konstituieren. Auch im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) befindet sich eine Sektion Wirtschaftspsychologie in Gründung. Hoffen wir, dass auch die Universitäten dem gesellschaftlichen Bedarf bald Rechnung tragen werden. Wirtschaftspsychologie – das ist ja weit mehr als die an fast allen Hochschulen angebotene Arbeits- und Organisationspsychologie, die sich aus psychologischer Sicht mit der Erzeugung und Bereitstellung von Angeboten – seien dies nun Produkte, Dienstleistungen oder Ideen – auseinandersetzt. Es geht auch um die psychologische Perspektive bei der Analyse und Gestaltung des Erlebens und Verhaltens von Konsumenten und deren Beeinflussung durch Angebotsgestaltung, Marktkommunikation, Preis und Absatzweg. Und es geht – das wird in der meist am Individuum orientierten Psychologie häufig vergessen – um den gesamtwirtschaftlichen Rahmen, um Fragen etwa, wie die nach der Verankerung von Leistung, Konsum, Geld, Arbeit und Freizeit in der Kultur eines Landes, nach psychologischen Bedingungen von Konjunkturen und Krisen, von Inflation und Deflation, von Vollbeschäftigung und Arbeitslosigkeit. Dahinter stehen häufig die wenig reflektierten subjektiven Bilder der Wirtschaft, des Marktes, der Organisation und des Menschen in den Köpfen jener, die für die Wirtschaft relevante Entscheidungen treffen. Die Autorin dieses Buches, Frau Prof. Dr. Erika Spieß, hat in der hier vorliegenden „Wirtschaftspsychologie“ dazu beigetragen, die Basis des Faches zu vertiefen und zu verbreitern. Sie informiert über theoretische Grundlagen, relevante Begriffe, Konzepte und Methoden, über Anwendungsfelder und weiße Flecken auf der Landkarte der Forschung. So wünsche ich der Autorin, diesem Buch und somit einem relevanten und in der Wissenschaft zu lange unterschätzten Fach, der „Wirtschaftspsychologie“, Erfolg. Es ist zu hoffen – dem Vorbild der Pioniere folgend –, dass sich die Wirtschaftspsychologie an allen Fachhochschulen etabliert und an den Universitäten – die Grenzen der etablierten Arbeits- und Organisationspsychologie sprengend – konsequent entwickelt. Das Buch von Erika Spieß könnte und sollte dazu beitragen. München, Juli 2004 Lutz von Rosenstiel
https://doi.org/10.1515/9783110778410-204
Inhaltsverzeichnis Danksagung Vorwort
V VII
Vorwort der ersten Auflage Einleitung
IX
1
1
Menschenbilder im wirtschaftspsychologischen Kontext
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5 2.6 2.7 2.8
Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen 8 Die Feldtheorie 11 Ein marktpsychologischer Ansatz 14 Kultur und kulturvergleichende Psychologie 18 Stressforschung 22 Ergebnisse der Stressforschung 22 Das Konzept der sozialen Unterstützung 27 Ein kultursoziologischer Ansatz 29 Systemische Erklärungsansätze 31 Ein wirtschaftspsychologischer Rahmen 33 Resümee 36
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.1.8 3.1.9 3.1.10 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3
Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte Individuelle Ebene 37 Werte 37 Einstellungen 42 Denken, Lernen und Gedächtnis 45 Gefühle und Emotionen 47 Aufmerksamkeit und Wahrnehmung 50 Motivation und Handeln 53 Attribution 57 Kompetenz 58 Entscheidungsprozesse 59 Selbst und Identität 61 Interpersonelle Ebene 64 Prozesse in und zwischen Gruppen 65 Kooperation und Konkurrenz 67 Konflikt und Konfliktlösung 70
37
5
XII
3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8 3.3
Inhaltsverzeichnis
Die Rolle des Verhandelns Kommunikation 77 Die Rolle des Vertrauens Macht 82 Gerechtigkeit 84 Resümee 86
74 81
4 4.1 4.2 4.3
Methoden der Wirtschaftspsychologie Quantitative Methoden 88 Qualitative Methoden 92 Resümee 95
88
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5 5.5.6 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3
Anwendungsfelder 96 Arbeit, Freizeit und Muße 96 Arbeit 96 Freizeit 99 Muße 102 Das Verhältnis von Arbeit, Freizeit und Muße 103 Resümee 106 Arbeit 4.0 und neue Technologien 107 Technostress 107 Digitalisierungsangst 109 Resümee 111 Arbeitslosigkeit 111 Folgen der Arbeitslosigkeit 113 Interventionen 115 Resümee 117 Unternehmerisches Handeln und Selbstständigkeit 117 Die Rolle des Unternehmers bzw. der Unternehmerin 117 Merkmale von Selbstständigkeit 120 Resümee 126 Interkulturelles Handeln 127 Führungsforschung und kulturelle Wertorientierung 128 Die Situation der Expatriates 133 Der Prozess einer Entsendung 139 Die Bedeutung interkultureller Kompetenz 143 Integration von Beschäftigten mit Migrationshintergrund 144 Resümee 146 Unternehmenszusammenschlüsse und ihre Folgen 147 Post-Merger Integration 150 Unternehmenskultur 150 Resümee 152
XIII
Inhaltsverzeichnis
5.7 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5 5.7.6 5.7.7 5.8 5.8.1 5.8.2 5.8.3 5.8.4 5.8.5 5.8.6 5.8.7 5.9 5.9.1 5.9.2 5.9.3 5.9.4 5.9.5 5.9.6 5.9.7 5.9.8
Beratung in wirtschaftsnahen Kontexten 153 Die Entwicklung der Beratungsbranche 153 Verständnis und Definition von Beratung 154 Formen der Beratung 155 Funktionen der Beratung 158 Grundsätze der Beratung 159 Phasen eines Beratungsprozesses 160 Resümee 163 Prozesse des Verkaufens und Kaufens 163 Die Rolle der Werbung 164 Die Bedeutung der Marke 171 Verkaufspsychologie 175 Kaufverhalten 180 Kaufsucht 183 Verbraucherschutz 187 Resümee 189 Finanzpsychologie 190 Fragestellungen und Themen 190 Verhaltensrelevanz von Geld und Währung 193 Subjektivierung der Finanzentscheidung 195 Erleben und Verhalten an der Börse 200 Spekulationsblasen, Börsencrashs, Informationskomplexität Globale Einflüsse auf das Börsengeschehen 206 Sparen und Altersvorsorge 209 Resümee 215
Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis Referenz
221
223
Autorenverzeichnis Register
219
257
255
203
Einleitung Die Wirtschaftspsychologie beschäftigt sich mit Fragen des menschlichen Erlebens und Verhaltens im wirtschaftlichen Kontext. Beispiele für Fragestellungen sind: Wie lässt sich die Beziehung zwischen Verkaufenden und Kaufenden erfassen? Was zeichnet gute Verkäufer/-innen aus? Wie wirkt Werbung? Warum lässt man sich doch zum Kauf eines Produkts überreden, das man zunächst gar nicht kaufen wollte? Wie kommen Arbeitslose mit ihrer Situation zurecht? Was kennzeichnet erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer und wie unterscheiden sich diese von Selbstständigen? „Ohne Psychologie kann man die Wirtschaft nicht verstehen“ (Fichter, 2018, S. 1). Um menschliches Erleben und Verhalten in wirtschaftlichen Kontexten zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen, werden Erkenntnisse aus der psychologischen Grundlagenforschung wie z. B. der Sozialpsychologie oder der Motivationspsychologie herangezogen. Dabei werden die Grundannahmen der Ökonomie, nach denen das Rationalitätsprinzip als Verhaltensmaxime vorherrscht und das Ziel menschlichen Verhaltens in der Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung besteht, in der Psychologie – aber inzwischen auch in der Ökonomik (Fehr & Schwarz, 2002; Gigerenzer, 2018; Kirchler & Hoelzl, 2018) – skeptisch betrachtet. So wissen Psychologinnen und Psychologen sowie Verhaltensökonominnen und -ökonomen um die Besonderheiten der menschlichen Informationsverarbeitung oder darum, dass Urteile häufig auf der Basis von Heuristiken gefällt werden (Gigerenzer, 2018). Als ein wichtiges Ziel der Wirtschaftspsychologie wird neben dem Beschreiben, Erklären und Vorhersagen des wirtschaftsbezogenen Erlebens und Verhaltens sowie der Gestaltung des Wirtschaftslebens auch der Anspruch formuliert, über Zusammenhänge und Abhängigkeiten wirtschaftlichen Verhaltens aufzuklären, um dadurch den Menschen ein selbstbestimmteres Verhalten zu ermöglichen (von Rosenstiel & Neumann, 2002). Als Begründer der Wirtschaftspsychologie wird Hugo Münsterberg (1912) angesehen. Weitere wichtige Vertreter/-innen der Disziplin waren George Katona (University of Michigan), Günther Schmölders (Universität Köln), Burkhard Strümpel (FU-Berlin), Lutz von Rosenstiel (Universität München), Linda Pelzmann (Universität Klagenfurt) oder Günter Wiswede (Universität Köln). Gegenwärtige Vertreter der Disziplin im deutschsprachigen Raum sind Erich Kirchler (Universität Wien), Felix C. Brodbeck (Universität München), Georg Felser (Fachhochschule Wernigerode), Friedemann W. Nerdinger (Universität Rostock) und Klaus Moser (Universität Erlangen-Nürnberg). Felix C. Brodbeck hat gemeinsam mit Erich Kirchler und Ralph Woschée die Reihe Wirtschaftspsychologie im Springer-Verlag gegründet, in der jeweils relevante und aktuelle Themen der Wirtschaftspsychologie behandelt werden, z. B. „Organisationsentwicklung – Freude am Change“ von Simon Werther und Christian Jacobs (2014), „Internationale Führung – Das GLOBE-Brevier in der Praxis“ von Felix C. Brodbeck (2016), „Psychologie in der nutzerzentrierten Produktgestaltung“ von Sarah Diefenbach https://doi.org/10.1515/9783110778410-001
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Einleitung
und Marc Hassenzahl (2017), „Effektiver Umgang mit Stress – Gesundheitsmanagement im Beruf“ von Julia Reif, Erika Spieß und Peter Stadler (2018), „Die Psychologie des Steuerzahlens“ von Stephan Mühlbacher und Maximilian Zieser (2018), die „Digitale Transformation der Arbeitswelt“ von Cornelia Gerdenitsch und Christian Korunka (2019) und „Psychologie bei Gericht“ von Michaela Pfundmair (2020). Das Erleben und Verhalten des Menschen im wirtschaftlichen Kontext lässt sich unterscheiden in die Rolle der Produzierenden und in die der Konsumierenden. Mit der Rolle der Produzierenden beschäftigt sich vor allen Dingen die Arbeits- und die Organisationspsychologie. Die Arbeitspsychologie untersucht das Verhältnis von Menschen zur Arbeit und Mensch-Maschine-Interaktionen (z. B. Ulich, 2011), während die Organisationspsychologie den Menschen als Teil der Organisation und sein Erleben und Verhalten in Organisationen analysiert (z. B. Spieß & von Rosenstiel, 2010). Die Rolle der Konsumierenden wird hingegen von der Markt- und der Werbepsychologie erforscht (z. B. Neumann, 2013). Orientiert sich die Marktpsychologie am Erleben und Verhalten der Menschen als Teil des Marktgeschehens, so hat die Werbepsychologie den Schwerpunkt im Erleben und Verhalten aufgrund der Werbung zum Gegenstand (Felser, 2015). Neuerdings ist die Betrachtung der Verbindung zwischen Arbeit und Konsum von Bedeutung: Wurden klassischerweise die beiden Bereiche Arbeit und Konsum fachlich getrennt untersucht, so dürften die wechselseitigen Interaktionen zukünftig von Interesse sein (Spieß, 2013). Konsumierende interessieren sich dafür, wie Produkte hergestellt werden, z. B. unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit und Umweltschonung, Produzierende wiederum haben die Konsumierenden und ihre Gewohnheiten im Auge. Die Aufgabenfelder der Wirtschaftspsychologie lassen sich unterschiedlich einteilen. Wiswede (2000) unterscheidet in eine Psychologie der makroökonomischen und der mikroökonomischen Prozesse, wobei er unter die mikroökonomischen Prozesse die Markt- und Konsumpsychologie sowie die Arbeits- und Organisationspsychologie zählt. Unter der makroökonomischen Perspektive fasst er die Themenbereiche der wirtschaftlichen Entwicklung, die Psychologie entwickelter Gesellschaften und die Psychologie des Geldes. Kirchler (2011) hingegen schließt die Arbeits- und Organisationspsychologie aus der Wirtschaftspsychologie aus. Er stellt die psychologischen Grundlagen von Marktprozessen vor, wobei er Konsumgüter- und Arbeitsmärkte in den Vordergrund stellt. Moser (2015) betrachtet wirtschaftspsychologisches Handeln als Umgang mit Ressourcen. Kaufen und Konsumieren dienen dem Erlangen von Ressourcen, Haushalten und Verbrauchen dem Erhalten der Ressourcen, und Bürgersein ist das Bewerten und Gestalten von Ressourcen. Dabei wird jedoch die Rolle der Menschen als Produzierende vernachlässigt. Als neues Thema wird in dem Band von Moser die Rolle der freiwilligen ehrenamtlichen Tätigkeiten aufgegriffen wie die gemeinnützige Tätigkeit und das bürgerschaftliche Engagement von Unternehmen (Wehner, Gentile & Güntert, 2015).
Einleitung
3
Moser und Soucek (2015) sehen in ihrem Epilog zum Herausgeberband „Wirtschaftspsychologie“ diese als angewandte Wissenschaft. In ihren Augen stellt die aktuelle Wirtschaftspsychologie eine Kombination aus angewandter Psychologie, psychologischer Technologie und Praktikerwissen dar. Sie betonen die interdisziplinäre Ausrichtung der Wirtschaftspsychologie. Die Moderne Psychologie besteht aus Grundlagenfächern und Angewandten Bereichen, die Wirtschaftspsychologie gehört zur Angewandten Psychologie, neben anderen Fächern wie Klinische Psychologie oder Pädagogische Psychologie. Von den Grundlagenfächern sind für die Wirtschaftspsychologie besonders die Allgemeine Psychologie, die Sozialpsychologie und die Differentielle Psychologie relevant (Fichter, 2018). – Die Allgemeine Psychologie umfasst Aspekte des Erlebens und Verhaltens, die für alle Menschen gelten. Dazu gehören z. B. das Gehirn und seine Funktionen, die Sinne wie Wahrnehmung oder Aufmerksamkeit und Emotionen. – Die Sozialpsychologie untersucht Erleben und Verhalten in Hinblick auf soziale Interaktionen, z. B. Gruppenphänomene. – Die Differentielle Psychologie oder Persönlichkeitspsychologie befasst sich mit den Unterschieden im Erleben und Verhalten. Sie spielt z. B. als Grundlage für die Diagnostik eine Rolle. Mit der Wirtschaft befassen sich vor allem die Betriebswirtschafts- und die Volkswirtschaftslehre. Deren zentrale Theoreme kennenzulernen ist auch für die Wirtschaftspsychologie wichtig. Diese setzt sich jedoch mitunter kritisch damit auseinander, z. B. mit dem „Homo oeconomicus“ (vgl. Kapitel 1). Auf Tagungen und Konferenzen werden jeweils aktuelle Forschungsergebnisse vorgestellt: z. B. auf der Tagung für experimentell arbeitende Psychologen (TeaP), dem Kongress der deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), dem Kongress der Gesellschaft Wirtschaftspsychologie (GWPs), der Konferenz der Association for Consumer Research (ACR) oder der Society for Consumer Psychology. Aktuelle Forschungsergebnisse lassen sich auch in Fachzeitschriften (Journals) nachlesen. Hier seien aus der Vielzahl einige von Bedeutung herausgegriffen: Im deutschsprachigen Bereich sind es die Zeitschrift Wirtschaftspsychologie, Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie oder die Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO). International von Bedeutung sind das Journal of Economic Psychology, Journal of Applied Psychology, The International Journal of Human Resource Management oder das Academy of Management Journal. Im vorliegenden Buch wird die Arbeits- und Organisationspsychologie, ein Teilbereich der Wirtschaftspsychologie, ausgeklammert, denn dies würde den Rahmen sprengen. Die Arbeits- und Organisationspsychologie wird in zahlreichen profunden Lehrbüchern dargestellt, wie z. B. die Enzyklopädie der Organisationspsychologie I und II, herausgegeben von Schuler (2004a,b), „Organisationspsychologie“ von Spieß
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Einleitung
und von Rosenstiel (2010), „Arbeitspsychologie“ von Ulich (2011), „Grundlagen der Organisationspsychologie“ von von Rosenstiel und Nerdinger (2011), „Lehrbuch Arbeitspsychologie“ von Sonntag, Frieling und Stegmaier (2012), „Arbeitspsychologie“ von Bamberg, Mohr und Busch (2012), „Lehrbuch Organisationspsychologie“ von Schuler und Moser (2019), „Lehrbuch der Personalpsychologie“ von Schuler und Kanning (2014), „Arbeits- und Organisationspsychologie“ von Nerdinger, Blickle und Schaper (2019) sowie „Arbeits-, Organisations- und Personalpsychologie für Bachelor“ von Kauffeld (2019). Aus dem anglosächsischen Bereich sei exemplarisch das Handbuch „Work in the 21th Century. An Introduction to Industrial and Organizational Psychology“ von Landy und Conte (2019) erwähnt. Das vorliegende Buch beginnt mit der Darstellung von zentralen Menschenbildern und wichtiger Theorie- und Forschungsstränge und spannt einen wirtschaftspsychologischen Rahmen auf. Es folgen wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte und Methoden. Anwendungsfelder der Wirtschaftspsychologie sind Arbeit, Freizeit und Muße, Arbeit 4.0 und neue Technologien, Arbeitslosigkeit, unternehmerisches Handeln und Selbstständigkeit, interkulturelles Handeln, Unternehmenszusammenschlüsse und ihre Folgen, die Rolle von Beratung in wirtschaftsnahen Kontexten, Prozesse des Kaufens und Verkaufens und die Finanzpsychologie.
1 Menschenbilder im wirtschaftspsychologischen Kontext Zunächst werden die zentralen Menschenbilder vorgestellt, die den Betrachtungsweisen wirtschaftlicher Zusammenhänge zugrunde liegen. Ein Menschenbild wird laut Brockhaus Psychologie (2009) als eine Vorstellung vom Menschen definiert, die sowohl von bestimmten Fakten und Vorstellungen wie von einzelnen wissenschaftlichen und weltanschaulichen Systemen geprägt ist. So gibt es Menschenbilder, für die religiöse Ideen leitend sind wie z. B. der Buddhismus, das Christentum oder der Islam. Es gibt auch Menschenbilder, denen bestimmte Konzepte von Wissenschaft zugrunde liegen wie z. B. der Marxismus, die Psychoanalyse oder der Behaviorismus. Für die Wirtschaftspsychologie in ihrer westlichen Ausprägung ist die protestantische Arbeitsethik zur Erklärung der wirtschaftlichen Entwicklung wichtig. McClelland (1966) knüpfte an die These von Max Weber (1988/1920) an, wonach die protestantische Arbeitsethik einem neuen Menschentyp entspricht, der wesentlich mit dazu beitrug, die Entwicklung des modernen Kapitalismus voranzutreiben. In der Religion des Protestantismus werden Werte vermittelt, die Arbeit und Eigeninitiative der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Der Protestantismus predigt z. B., dass man sich auf sich selbst verlassen soll. Dies erzeugt ein Erziehungsklima in den Familien, in dem Unabhängigkeit und Selbstständigkeit stark betont werden. Das wiederum bietet optimale Voraussetzungen für die Entwicklung eines ausgeprägten Leistungsmotivs. Nach McClelland führt dieses Erziehungsklima zur Initiierung unternehmerischen Handelns, das sich in beschleunigtem Wirtschaftswachstum niederschlägt. Diese zentrale These wurde von McClelland und seinen Mitarbeitenden in zahlreichen Studien untersucht und bestätigt (vgl. Nerdinger, 1991; Schuler & Kanning, 2014). Die Typologie der Menschenbilder von Schein (1980) hat besonders in der Psychologie und in den Wirtschaftswissenschaften große Verbreitung gefunden (Tab. 1). Er hat vier Menschenbilder unterschieden: das Menschenbild der ökonomischen Rationalität (rational-economic man), das der sozialen Orientierung (social man), das des nach Selbstverwirklichung strebenden Menschen (self-actualizing man) und das des flexiblen und komplex agierenden Menschen (complex man). Angesichts der Digitalisierung wurde der „virtual man“ hinzugefügt, der über ungekannte Möglichkeiten verfügt. Letzterer ist das modernste Menschenbild und entspricht einer „Multioptionsgesellschaft“ (Brinkmann, 2018). Der ökonomisch rational handelnde Typus wird vor allem durch extrinsische Anreize motiviert. Wird dieses Menschenbild z. B. in einem Unternehmen vertreten, stehen die klassischen Managementfunktionen wie Planen und Kontrollieren im Mittelpunkt. Zugleich wird den Einzelnen keine Eigeninitiative überlassen, ebenso wenig wird ihnen ein intrinsisches Interesse an der Arbeit zugetraut.
https://doi.org/10.1515/9783110778410-002
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1 Menschenbilder im wirtschaftspsychologischen Kontext
Tab. 1: Typologie von Menschenbildern und Managementstrategien nach Schein (1980), Spieß und von Rosenstiel (2010) und Brinkmann (2018). Die Typologie von Menschenbildern
Entsprechende Management- und Organisationsstrategien
Ökonomisch Rationale sind passiv und motiviert durch extrinsische Anreize.
Klassische Managementfunktionen wie Planen, Organisieren, Motivieren, Kontrollieren. Im Mittelpunkt steht die Effizienz.
Sozial Orientierte sind durch soziale Bedürfnisse motiviert, sie entsprechen den Vorstellungen der Human-Relations-Bewegung.
Aufbau und Förderung von Gruppen und soziale Anerkennung.
Das Ziel der an Selbstverwirklichung Ausgerichteten ist Autonomie.
Intrinsische Motivationsmethoden und Mitbestimmung am Arbeitsplatz.
Flexible und Komplexe sind äußerst wandlungs- und lernfähig.
Diagnose von Situationen und entsprechende situationsgemäße Variation des Verhaltens.
Virtuelle verfügen über ungekannte Optionen.
Flache Hierarchien, digitale Kompetenzen.
Sozial Orientierte sind vor allem durch soziale Bedürfnisse motiviert, was den Vorstellungen der Human-Relations-Bewegung entspricht. Die Hawthorne-Studien gelten als Auslöser für die „Human-Relations-Bewegung“. Darunter versteht man die Entdeckung der sozialen Motivation des Menschen in Organisationen. Diese Bewegung gilt als Überwindung der im Rahmen des „scientific management“ von Taylor (1911) verbreiteten Auffassung, die den Menschen als nur am ökonomischen Nutzen interessiert (Homo oeconomicus) und ohne soziale Bezüge ansah. Die Hawthorne-Studien wurden von Mayo und seinen Mitarbeitenden von 1927 bis 1933 in der „Western Electric Company“ in Hawthorne bei Chicago durchgeführt. Ausgangsthese der Forschenden war, dass die Arbeitsleistung von der Beleuchtungsstärke des Arbeitsplatzes abhängt. In einer experimentellen Variation der Beleuchtungsstärke führte diese zwar hypothesengemäß zu einer Leistungsverbesserung, allerdings trat diese Verbesserung auch in der Kontrollgruppe auf und sogar in der Gruppe, in der die Lichtverhältnisse verschlechtert worden waren. Die Forschenden nahmen von daher die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz stärker unter die Lupe, wobei sie verschiedene Methoden wie Interviews oder die teilnehmende Beobachtung verwendeten. Hierbei wurde auch die Bedeutung von informellen Normen in Arbeitsgruppen entdeckt. Obwohl es Kritik an diesen Studien gab und gibt (inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass das auch als Hawthorne-Effekt bezeichnete, in den Hawthorne-Studien gefundene Ergebnismuster vermutlich zu Unrecht postuliert wurde und der eigentliche „Hawthorne-Effekt“ sich in wesentlich subtileren Effekten zeigte; vgl. Levitt & List, 2011), gelten sie als Standardwerk der Organisationspsychologie und -soziologie. Man schloss sich der Sichtweise des Menschenbildes des „social man“ an und widmete den sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz erhöhte Aufmerksamkeit (Nerdinger et al., 2019).
Die Bedürfnisse der an Selbstverwirklichung Ausgerichteten sind hierarchisch geordnet, ihr Ziel ist Autonomie. Hier agieren Managerinnen und Manager nicht mehr kontrollierend, sondern fördernd. Der flexible und komplexe Typus ist äußerst wandlungsund lernfähig (Scholz, 2014).
Vertiefende Literatur
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Die unterschiedlichen Annahmen über die Bedürfnis- und Motivationsstruktur von Menschen haben verschiedene Management- und Organisationsstrategien zur Folge: Dem ökonomisch rationalen Typus entsprechen klassische Managementfunktionen wie Planen, Organisieren, Motivieren und Kontrollieren. Im Mittelpunkt steht die Effizienz. Aufbau, Förderung von Gruppen und soziale Anerkennung entsprechen dem sozial orientierten Typus, während für nach Selbstverwirklichung Strebende intrinsische Motivationsmethoden und Mitbestimmung förderlich sind. Führende von flexibel und komplex Agierenden diagnostizieren Situationen und variieren Verhalten situationsgemäß (Scholz, 2014). Menschenbilder werden als wichtige Antriebsmotive gesehen, die das menschliche Handeln in bestimmte Richtungen leiten können. Zugleich besteht aber auch die Gefahr, auf die bereits Staehle (1999) implizit hinwies, indem er auf die Dualität vieler Menschenbilder aufmerksam machte. Dadurch entsteht ein „Schubladendenken“ bzw. dies befördert ein undifferenziertes Schwarz-Weiß-Denken, ohne dass Umgebungsvariablen oder Kontextbedingungen berücksichtigt werden.
Vertiefende Literatur Brinkmann, R. (2018). Angewandte Wirtschaftspsychologie. Springer.
2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen Es gibt verschiedene Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie: es sind dies Ansätze aus der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Markt- und der Sozialpsychologie, der kulturvergleichenden Psychologie, der Stressforschung und der Systemtheorie. Viele Themen der Wirtschaftspsychologie werden inzwischen von den Wirtschaftswissenschaften, insbesondere auch von Marketingtheoretiker/-innen (z. B. Diller, 2007; Meffert, Burmann & Kirchgeorg, 2008) behandelt. Zweifelsohne gibt es hier eine hohe gemeinsame Schnittmenge. Dieser Theoriestrang soll jedoch nicht thematisiert werden. Im Folgenden wird eine sehr subjektive Auswahl getroffen, die aber zugleich auch eine eigene wirtschaftspsychologische Akzentbildung beinhaltet. Aus der Sozialpsychologie wird die Feldtheorie und aus der Marktpsychologie der Ansatz von Rosenstiel und Neumann (2002) herausgegriffen. Das Konstrukt der Kultur und Ergebnisse aus der kulturvergleichenden Psychologie werden besonders für das interkulturelle Handeln in Wirtschaftsbereichen relevant (Kapitel 2.3). Kulturelle Einflüsse spielen zunehmend auch eine Rolle in der Analyse von Konsumentenverhalten. Die Stressforschung (Kapitel 2.4) liefert einen bedeutsamen Teil zur Erklärung wichtiger wirtschaftspsychologisch relevanter Lebensereignisse wie Arbeitslosigkeit oder eine Entsendung ins Ausland, die als stressreiche Ereignisse erlebt werden. Aus der Soziologie wird der theoretische Ansatz von Bourdieu herausgegriffen (Kapitel 2.5). Systemische Erklärungsansätze spielen besonders in der Beratungsliteratur eine große Rolle (z. B. Hildisch & Klink, 1991; Mingers, 1996), auch wenn hier die Gefahr besteht, dass sie zu weit oder auch zu abstrakt in ihren Erklärungen sind (Kapitel 2.6). In der Psychologie gibt es verschiedene theoretische Perspektiven, die hier nur kurz nach Zimbardo et al. (2015) skizziert werden sollen: die biopsychologische, die psychodynamische, die behavioristische, die kognitive und die humanistische Perspektive. Typisch für die biopsychologische Perspektive ist die Annahme, dass psychologische Phänomene durch physiologische und biochemische Prozesse verstanden werden können. Das Verhalten wird durch körperliche Strukturen und durch ererbte Prozesse bestimmt, wobei Erfahrungen das Verhalten verändern können. Die meisten Biopsychologinnen und -psychologen zählen sich zu den Neurowissenschaften, ein interdisziplinärer Ansatz, der sich die Erforschung des Nervensystems mit dem Schwerpunkt Gehirn zum Ziel gesetzt hat. Neurowissenschaftliche Ansätze sind beispielsweise im Bereich des Neuro-Marketings (z. B. Chark, 2018) oder den NeuroEconomics zu finden (Serra, 2021), werden aber durchaus auch kontrovers diskutiert (Fichter & Basel, 2017; Grayot, 2020). Die psychodynamische Perspektive sieht das menschliche Verhalten durch Triebe und intrapsychische Kräfte motiviert. Sie geht auf Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, zurück. Gemäß der psychodynamischen Perspektive gibt es einen Konflikt zwischen den persönlichen Bedürfnissen des Einzelnen und den Forderungen
https://doi.org/10.1515/9783110778410-003
2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
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der Gesellschaft nach sozial angepasstem Verhalten. Bei der psychodynamischen Perspektive wird in drei verschiedene Bereiche unterschieden (Bierhoff & Herner, 2002): 1. Die Psychoanalyse ist eine Forschungsmethode, die unbewusste Prozesse zu überprüfen versucht und hierbei freie Assoziationen, die Traumanalyse und die Analyse von Fehlleistungen verwendet. 2. Die Psychoanalyse ist eine Theorie des menschlichen Erlebens und Verhaltens, die viele Bereiche der Psychologie, insbesondere die Neurosenlehre und Psychosomatik, beeinflusst. 3. Die Psychoanalyse ist eine Behandlungsmethode psychischer Störungen. Seit Freud gab es verschiedene Richtungen und Weiterentwicklungen seiner Lehre, z. B. durch Adler, Jung und Kohut (vgl. Lück et al., 2000). Psychoanalytische bzw. psychodynamische Ansätze gibt es innerhalb der Wirtschaftspsychologie besonders im Bereich der Werbung (vgl. Kapitel 5.8.1) oder in der Markenforschung (Kapitel 5.8.2). Der Behaviorismus (die Lehre vom Verhalten) ist eine theoretische und methodische Ausrichtung der Psychologie, die sich als naturwissenschaftlich und experimentell vorgehende Wissenschaft versteht, deren Ziel die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten ist. Für den Behaviorismus ist menschliches Verhalten gelerntes Verhalten. Der Lernvorgang selbst entzieht sich der direkten Beobachtung. Analysiert werden können lediglich die Reiz-Reaktions-Verbindungen. Das Bewusstsein gilt als nicht kausale Begleiterscheinung (Epiphänomen) biochemischer Vorgänge. Der Forschungsschwerpunkt wird auf das äußere Verhalten des Menschen gelegt. Das Verhalten ist ein Produkt aus Reizgegebenheiten der Umwelt und der entsprechenden Reaktionen. Behavioristen beobachten z. B. Verhaltensgewohnheiten (Bierhoff & Herner, 2002). Dieses S-O-R-Modell, in dem S für Stimulus steht, O für die Organismusvariable und R für die Reaktion, hat in der Marktpsychologie Anwendung gefunden (vgl. Kapitel 2.2). Dem klassischen Behaviorismus zur Folge wird angenommen, dass das Verhalten fast ausschließlich durch die Umweltbedingungen bestimmt ist. Folglich ist dieses Verhalten auch durch gezielt eingesetzte Umweltreize lenkbar. Für diese Behavioristen spielt Vererbung keine Rolle, zentral sind die Umwelteinflüsse. Tierexperimente wurden als der Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Verhaltens gesehen. Wichtige Vertretende sind der russische Physiologe Iwan Pawlow, auf den die klassische Konditionierung zurückgeht, der amerikanische Psychologe John B. Watson, der das konditionierte Lernen erforschte, und Burrhus F. Skinner (1954), der das Prinzip der Verstärkung entdeckte (vgl. auch Kapitel 3.1.3). Auf klassische Konditionierungsprozesse sowie auf die Rolle der Verstärkung wird besonders in der Werbung zurückgegriffen (vgl. Kapitel 5.8.1). Gemäß dem kognitiven Ansatz umfassen Kognitionen geistige Prozesse, z. B. Wahrnehmung, Problemlösen, Erinnern, Denken und Entscheiden. Die Metapher der Informationsverarbeitung spielt eine wichtige Rolle. Im Unterschied zum Behaviorismus ist zwischen die Aufnahme von Informationen und das Handeln ein aktiver Prozess der Informationsverarbeitung geschaltet. Menschen konstruieren durch ihre Interpretation der Welt die Realität.
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
Informationsinput
Informationsverarbeitung „Black Box“ Selektion
Information
Wahrnehmung
Aufmerksamkeit
Verarbeitungsergebnis
Inferenz
Kategorisierung
Integration
Verhalten
Abb. 1: Prozessstufen in der sozialen Informationsverarbeitung nach Abele und Gendolla (1998).
Abbildung 1 zeigt die verschiedenen Stufen bei der sozialen Informationsverarbeitung: Die Information wird wahrgenommen, dafür ist die Aufmerksamkeit wichtig. Wahrnehmung und Aufmerksamkeit unterliegen der Selektion, d. h., in dieser Phase wird wichtige Information von unwichtiger unterschieden. Selektion bedeutet, dass Menschen vor allen Dingen Reize wahrnehmen, die ihren Bedürfnissen und Wünschen entsprechen. Diese Wünsche und Bedürfnisse steuern also den Wahrnehmungsprozess und die Informationsverarbeitung. Entsprechend werden auch die Produkte beurteilt: Konsumierende nutzen nicht das ganze Spektrum der Informationen, das ihnen zur Verfügung steht, vielmehr werden Schlüsselinformationen herangezogen (z. B. Urteile der Stiftung Warentest), die die Konsumierenden kognitiv entlasten. In einem nächsten Schritt wird die Information Kategorien zugeordnet und integriert. Auf diese Art und Weise wird dann das Verhalten gesteuert. Das Prinzip der Inferenz besagt, dass Konsumierende bei der Urteilsbildung verallgemeinern und sich bereits anhand weniger Kriterien ein vollständiges Bild über den Gegenstand bilden. Die humanistische Perspektive nimmt an, dass Menschen aktive Wesen sind, die nach Selbstverwirklichung streben. Humanistische Psychologinnen und Psychologen sehen typische Muster in den Lebensgeschichten von Menschen und beziehen sich auf die vom Einzelnen erlebte Welt. Wichtige Vertretende dieser Sichtweise sind Carl R. Rogers (1985) und Abraham H. Maslow (1954). Menschen haben nach dieser Sichtweise ein angeborenes Streben nach Selbsterfüllung und nach der Realisierung eigener Potenziale. Es geht um die Weiterentwicklung des Selbst (vgl. auch Kapitel 3.1.10). Die humanistische Perspektive stellt das Individuum in den Mittelpunkt, die subjektive Sichtweise ist entscheidend. Der personzentrierte Ansatz von Carl Rogers (1985) betont z. B. die Bedeutung des Zuhörens. Humanistische Theorien werden mitunter als Gegenpol zur psychoanalytischen Sichtweise gesehen, die ein eher pessimistisches Bild von der Natur des Menschen vertritt. Die humanistische Psychologie grenzt sich vom Behaviorismus und der Psychoanalyse ab und vertritt ein Menschenbild, das von dem klassischen, positiven Selbstbild des autonomen, handlungsfähigen Menschen ausgeht. Menschen handeln im kulturellen Kontext, sie handeln bewusst
2.1 Die Feldtheorie
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und intentional, sie entwickeln sich ein Leben lang. Dieser Ansatz spielt z. B. in der Beratung eine bedeutsame Rolle (vgl. Kapitel 5.7). Von Rosenstiel und Neumann (2002) sowie von Rosenstiel (2003) kategorisieren die Ausrichtungen in der Psychologie etwas allgemeiner in eine naturwissenschaftliche, eine geisteswissenschaftliche und eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung. Vertretende der naturwissenschaftlichen Richtungen sind z. B. Gustav T. Fechner und Wilhelm Wundt, die das Anliegen hatten, die Psychologie nach dem Vorbild der Physik zu konstruieren. Bezogen auf die Markt- und Werbepsychologie spielt diese Ausrichtung eine Rolle, wenn die Werbewirkung untersucht wird, wie z. B. die Rolle der Größe einer Anzeige. Vertretenden der geisteswissenschaftlichen Richtung wie Norbert Groeben (Groeben & Erb, 1998) geht es um das Verstehen des Einzelnen in seinen historischen Bezügen und in seiner Einmaligkeit; sie benutzen häufig qualitative Forschungsmethoden. Die sozialwissenschaftlich orientierte Psychologie sieht den Menschen in erster Linie als durch gesellschaftliche Bedingungen geprägtes Wesen an (z. B. Keupp, 1994). In der Markt- und Werbepsychologie kommt diese Sichtweise zum Tragen bei Fragen nach der Konsumentensozialisation oder der Bildung von Einstellungen gegenüber Produkten. Für die Wirtschaftspsychologie haben zum einen behavioristische Denkmodelle eine wichtige Rolle gespielt, zum andern ist aber auch die humanistische Perspektive zentral (von Rosenstiel & Neumann, 2002). Arbeiten in der Sozialpsychologie beschäftigen sich besonders aus einer kognitivistischen Sicht mit wirtschaftspsychologischen Fragestellungen (z. B. Witte, 2002). Die meisten der in Kapitel 3 dargestellten wirtschaftspsychologisch relevanten Konzepte stammen aus der Sozialpsychologie (z. B. Aronson et al., 2014; Jonas et al., 2014). Im Folgenden soll aus der Sozialpsychologie die Feldtheorie herausgegriffen werden und in wesentlichen Merkmalen bezüglich der hier zu treffenden Konzeption einer Wirtschaftspsychologie skizziert werden.
2.1 Die Feldtheorie Lück (1996) bewertet die Feldtheorie Lewins als theoretischen Rahmen für sehr unterschiedliche Gegenstände wie Konfliktverarbeitung (vgl. Kapitel 3.2.3), Gruppenprozesse (vgl. Kapitel 3.2.1) oder psychische Regression. Die Theorie ist aber im Unterschied zu Attributions- oder Dissonanztheorien (vgl. Kapitel 3.1.7) keine sehr favorisierte Theorie, wenn Veröffentlichungen in der Sozialpsychologie nach Theorien klassifiziert werden. Es werden auch Bezüge der Feldtheorie zur Systemtheorie hergestellt (vgl. Kapitel 2.6), dadurch ergeben sich Anwendungsbereiche in der Persönlichkeitspsychologie, in der Gruppendynamik und in der ökologischen Psychologie (Lück, 1996). Auch in den Bereichen Führung, Beratung und Therapie findet die Feldtheorie Lewins Anwendung (Antons & Stützle-Hebel, 2015). Die wissenschaftlichen Leistungen von Lewin liegen in unterschiedlichen Bereichen: in der Wissenschaftstheorie und in der Entwicklungs- und Erziehungspsychologie. Lewin
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
gilt als Gründer der experimentellen Sozialpsychologie; der Begriff Gruppendynamik (Kapitel 3.2.1) geht auf ihn zurück, er begründete die Aktionsforschung (vgl. Kapitel 4) und gab Impulse für die ökologische Psychologie. Der Kerngedanke der Feldtheorie besteht darin, dass Menschen sich von manchen Dingen in ihrer Umgebung angezogen fühlen und von anderen abgestoßen. Es wird ein Vergleich zu Eisenfeilspänen im Magnetfeld gezogen, denn ursprünglich entstammt der Feldbegriff der Physik. Als Vorzug des Feldbegriffes gilt, dass auch der Mensch in Spannungsfeldern steht und die Zug- und Druckkräfte im Feld das menschliche Verhalten gut beschreiben können. Im Unterschied zu dem mechanistischen Menschenbild des Behaviorismus wird in der Feldtheorie die Person als aktiv vorausgesetzt, die ihre Umwelt wahrnimmt und bewertet. Es gibt sechs Ansätze der Feldtheorie (Lewin, 1982c): 1. In der konstruktiven Methode geht es um den Übergang von einer klassifizierenden zu einer konstruierenden Methode. Diese Methode zeichnet sich dadurch aus, dass ein individueller Fall mit einigen wenigen Konstruktionselementen beschrieben wird. Diese sind z. B. der psychologische Ort oder die psychologische Kraft. 2. Anhand des dynamischen Ansatzes werden Konstrukte und Methoden entwickelt, die die dem Verhalten zugrunde liegenden Kräfte analysieren. 3. Beim psychologischen Ansatz soll das Feld, durch das ein Individuum bestimmt wird, nicht in objektiven Begriffen beschrieben werden, sondern so, wie es für das Individuum in diesem Moment existiert. Es geht darum, die Welt des anderen mit den eigenen Augen sehen zu lernen. 4. Ausgangspunkt der Analyse bildet die Gesamtsituation. Nach dieser ersten Näherung werden die verschiedenen Aspekte der Situation genauer analysiert. Es geht darum, die psychologische Atmosphäre genauer zu bestimmen. 5. Das Verhalten wird als eine Funktion des je gegenwärtigen Feldes gesehen. Zwar beeinflusst die Vergangenheit das gegenwärtige Feld, doch ist die Wirkung nur indirekt. 6. Mathematische Darstellungen psychologischer Situationen können hilfreich sein. In Ansatz 3 wird eine empathische Perspektive vorgeschlagen (vgl. Spieß, 1998a), während sich Lewin mit dem 5. Postulat gegen psychoanalytische Deutungen wendet, die der Wirkung vergangener Erlebnisse einen zu großen Stellenwert einräumen. Das Verhalten hängt weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft ab, sondern vom gegenwärtigen Feld. Was die Forderung nach Mathematisierung im 6. Ansatz anbelangt, so betont Lewin (1982a) ausdrücklich, dass Psychologinnen und Psychologen in erster Linie an der Entdeckung neuer Tatsachen über psychologische Vorgänge interessiert sind. Formalisierungen können dafür ein Mittel sein, aber nur dann, wenn sie dem Gegenstand angemessen sind. Die Person existiert in einem komplexen Energiefeld, das durch Kräfte und Spannungen in einer dynamischen Beziehung gehalten wird (Bierbrauer, 1996). Dafür hat Lewin eine Formel entwickelt:
2.1 Die Feldtheorie
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V = f ðLRÞ = f ðP, UÞ Verhalten (V) ist nicht direkt eine Funktion des physischen Stimulus, sondern der psychischen Bedingungen des Lebensraums (LR), der sowohl die Person (P) als auch die Umwelt (U) einschließt. Zum Verständnis der Feldtheorie ist die programmatische Arbeit von Lewin (1982d) aus dem Jahre 1931 mit dem folgenden Titel wichtig: Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. Es geht um den Vergleich zwischen der aristotelisch-mittelalterlichen und der galileisch-neuzeitlichen Denkweise (vgl. auch Bogner, 2021). Die aristotelische Sichtweise ist gekennzeichnet durch das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten, die für begrenzte Bereiche gültig sind. Es werden Kategorien gebildet, die sich häufig in Gegensatzpaaren wie warm-kalt oder feucht-trocken bewegen. Dies kann zu Dichotomisierungen und zu einem einseitigen Schwarz-WeißDenken führen (vgl. Kapitel 1, die Menschenbilder). In der galileischen Denkweise spielen hingegen Prozesse eine wichtige Rolle, es geht um die Untersuchung von fließenden Übergängen. Dieses Denken hat das Ziel allumfassender Gesetzmäßigkeiten. Lewin wirft der bestehenden Psychologie vor, dass sie in vielen Bereichen noch der aristotelischen Denkweise verhaftet ist, z. B. in der Gegenüberstellung von Trieb und Wille (Lewin, 1982d). Ebenso wie in der aristotelischen Physik ist die psychologische Denkweise davon beherrscht, Regelmäßigkeiten im Sinne von Häufigkeiten zu suchen. Wird z. B. ein Einzelfall vorgestellt, stellen Psychologinnen und Psychologen die Frage, ob dieses Verhalten bei allen anderen auch so zutrifft, und interessieren sich nicht mehr für das Einmalige dieses Falles. Ereignisse, die nicht wiederholt eintreten, stoßen auf kein Forschungsinteresse. Wie häufig sich etwas ereignet, wird zu einem Kriterium für Gesetzlichkeit. Wichtige psychologische Begriffe wie Trieb, Fähigkeit und Begabung tragen einen zirkulären Charakter: Das Gemeinsame häufig auftretender Handlungen wird zu ihrem Wesensmerkmal erklärt und wiederum zur Verhaltenserklärung herangezogen. Zum Beispiel sind Kinder in einem bestimmten Alter häufig trotzig. Der Trotz wird als Wesensmerkmal für eine bestimmte kindliche Entwicklungsphase genommen und der Begriff „Trotzalter“ gilt dann wiederum als Erklärung für das trotzige Verhalten in einem bestimmten Falle (Lewin, 1931). Die Auffassung von Gesetzlichkeit und Individualität als Gegensätze führt zu einer Beschränkung der Forschung, da meist auf eine durchschnittliche Behandlung der Probleme in Form von Tests oder Fragebögen gedrängt wird und das Einmalige eines Falles nicht interessiert. Diese statistischen Routineverfahren sind nicht in der Lage, Aussagen über die Dynamik der vorliegenden Prozesse zu geben. Nach der galileischen Sichtweise ist es wichtig, die Dynamik eines Geschehens nicht nur vom Gegenstand, sondern auch im Rahmen der Gesamtsituation zu betrachten, die möglichst genau zu erfassen ist. Diese Sichtweise ist auch für die wirtschaftspsychologischen Themen wichtig: Zum Beispiel genügt es nicht, die durchschnittlichen Befindlichkeiten von Arbeitslosen zu be-
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
schreiben, sondern es muss, wie bereits in der klassischen Studie von Jahoda et al. (1991) geschehen, das gesamte gesellschaftliche Umfeld miterfasst werden (vgl. Kapitel 5.3). Ebenso ist das subjektiv erlebte Verhältnis von Arbeit und Freizeit nicht nur im gesellschaftlichen Durchschnitt zu erheben, sondern vor den Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche und Wandlungsprozesse zu stellen (vgl. Kapitel 5.1). Lewin hat für die kulturvergleichende Psychologie wichtige Vorarbeiten geleistet (vgl. Kapitel 2.3), indem er in den 1940er Jahren während seiner Emigration psychologische Unterschiede zwischen Deutschland und den USA herausgearbeitet hat. Kulturelle Werte und politische Systeme wirken nicht direkt auf Einzelne, sondern im Rahmen der allgemeinen kulturellen Atmosphäre in der Familie und in der Schule. So konstatierte Lewin (1968) einen Unterschied im Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen: In den USA wird das Kind als gleichberechtigt mit dem Erwachsenen gesehen, während es in Deutschland zu gehorchen hat. Typische Amerikaner/-innen sind nach Lewin aufgeschlossener und kontaktfreudiger (z. B. die offene Türe der Vorgesetzten). Auf Lewin sind erste Untersuchungen zurückzuführen, das Konsumentenverhalten feldtheoretisch zu erklären (Lück, 1996). Demnach haben Konsumgüter für jede Konsumentin bzw. jeden Konsumenten verschiedene Valenzen. Diese Valenzen werden von kulturellen Werten und Sozialisationserfahrungen mitbestimmt. Nach Wiswede (1966) entsprechen Motive den Valenzen im Lebensraum des Individuums, die als Vektoren in einem zweidimensionalen Raum aufgefasst werden können. Dabei entspricht die Länge der Vektoren der Stärke der Motive. Wie in einem Kräfteparallelogramm kann dann die Resultante dieser Vektoren bestimmt werden. Diese gibt Hinweise auf Richtung und Stärke der Motivation, der sich Hindernisse in den Weg stellen. Als hierzu passendes Erhebungsinstrument setzte Wiswede das semantische Differential ein (vgl. Kapitel 4).
2.2 Ein marktpsychologischer Ansatz Die Marktpsychologie gilt als zentraler Teil der Wirtschaftspsychologie und wird als die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten der an einem Markt beteiligten Rollentragenden definiert. Letztere sind Anbietende, Nachfragende und die das Marktgeschehen regulierenden Funktionäre (von Rosenstiel & Neumann, 2002). Die Marktpsychologie beschäftigt sich ausschließlich mit den Konsumgütermärkten. Ausgangspunkt der Analysen sind Käufermärkte, in denen ein hoher Grad der Marktsättigung vorherrscht und die Konsumierenden Verhaltensspielräume haben, in denen sie zwischen mehreren Alternativen wählen können. Abbildung 2 zeigt ein Modell marktpsychologischen Handelns. Dieses Modell lehnt sich an die behavioristische Grundvorstellung des S-O-RModells an (vgl. Kapitel 3.1.3), das auf wirtschaftsrelevante Vorgänge übertragen wird: Als Stimulus (S) werden verbreitungspolitische Instrumente gesehen wie Angebote oder die Preise von Produkten. Sie wirken auf den Organismus der Person (O), die
2.2 Ein marktpsychologischer Ansatz
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S
O
R
Verbreitungspolitische Instrumente
Nachentscheidungsphase
Reaktionen auf die verbreitungspolitischen Instrumente
Intervenierende Variable Produkt, Dienstleistung, Idee Preis, Kosten Werbung Vertrieb
Wahrnehmungsprozesse Lernprozesse Einstellungsbildung Motivaktivierung Kognitive Verarbeitungsprozesse
Zuwendung zu einem Produkt, einer Dienstleistung, einer Idee Probebenützung, -inanspruchnahme, -übernahme usw. Kauf eines Produkts, Inanspruchnahme einer Dienstleistung, Übernahme einer Idee
Abb. 2: Ein marktpsychologisches S-O-R-Modell (nach von Rosenstiel & Neumann, 2002).
vormals als „black-box“ bezeichnete Variable, die die relevanten psychologischen Aspekte enthält. Die Reaktion ist dann z. B. der Kauf eines Produkts. Dieses Modell wurde weiter differenziert, indem der Stimulus die Umwelt der Person, z. B. Landschaft, Klima, Wohnung, Kultur oder Politik, umfasst. Das Verhalten mündet in bestimmte Konsequenzen, die wiederum neue Impulse für die Person darstellen. Alle Phasen des Prozesses sind durch kognitive, motivationale und emotionale Komponenten begleitet. Zentral für die Wirtschaftspsychologie ist die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Marktes (von Rosenstiel & Neumann, 2002; Raab et al., 2016). Der Markt kann als ein normatives System aufgefasst werden, mit der Grundannahme, dass das Ergebnis der konsequenten Verfolgung des eigenen Vorteils die größtmögliche Wohlfahrt für alle bringt. Verdeutlicht wird dies am Beispiel der Bildung des Marktpreises, die nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage erfolgt. Angenommen, dass Kaufende bei niedrigen Preisen eine größere Menge des Produkts nachfragen, werden Verkaufende jedoch bei niedrigen Preisen eine geringere Menge anbieten. Beim Schnittpunkt der Angebots- und Nachfragekurve ist eine bestimmte Gütermenge zu dem Preis verkauft, der einen Kompromiss zwischen Anbietenden und Nachfragenden darstellt, dies die Annahme der klassischen ökonomischen Theorie. Dieses von der klassischen Ökonomie gezeichnete Bild, wonach beim Schnittpunkt der Angebots- und Nachfragekurve eine bestimmte Warenmenge zu dem Preis verkauft wird, der alle Interessen befriedigt, wird als nicht realistisch angesehen (von Rosenstiel & Neumann, 2002). Für dieses Marktmodell werden Voraussetzungen angenommen, die vielfach nicht zutreffen. Ihm liegt ein Menschenbild zugrunde, wonach Menschen zweckrational versuchen, ihren Nutzen zu maximieren und dabei stets alle Parameter des
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
Marktes gegenwärtig haben. Dieser „Homo oeconomicus“ ist zudem ein Einzelgänger bzw. eine Einzelgängerin, ohne in soziale Bezüge eingebunden zu sein. Auch psychologische Erkenntnisse über das Entscheidungsverhalten zeigen, dass dieses Marktmodell nicht zutrifft (siehe Kapitel 3.1.9). Der Markt in seiner reinen Form, wie er von dem ökonomischen Klassiker Adam Smith (1776) gefordert wurde, existiert so nicht. Es ist nicht nur die unsichtbare Hand der Marktkräfte, die das wirtschaftliche Verhalten reguliert. Zahlreiche staatliche Interventionen, wie z. B. Preisabsprachen oder eine Kartellgesetzgebung, wie sie in der Realität vorkommen, sind in dem Modell nicht vorgesehen. Das Marktmodell in der klassischen Form gilt als nicht realisierbar, da keine größtmögliche Wohlfahrt für alle daraus resultiert. Das „freie Spiel der Kräfte“ hat für viele Menschen, besonders für die sozial Schwachen, negative Folgen. Als Korrektur dieses Modells gilt die soziale Marktwirtschaft, in der der Staat regulierend eingreift (von Rosenstiel & Neumann, 2002). So ist der Preis eine zentrale Größe in der Nationalökonomie, die Angebot und Nachfrage zum Ausgleich bringt. Es gibt jedoch eine Reihe von Abweichungen von der klassischen Preis-Absatzfunktion, z. B. gibt es den – Bandwagon-Effekt: Gekauft wird, weil andere dies auch kaufen. Dieser Effekt ist ökonomisch überraschend, da bei steigender Nachfrage mit einer Verteuerung des Produkts zu rechnen ist. – Snob-Effekt: Gekauft wird gerade dann nicht, wenn alle oder viele dies auch kaufen. Wenn jede/-r in einen bestimmten Urlaubsort fährt, verliert der „Snob“ daran das Interesse. – Veblen-Effekt: Gekauft wird wegen des hohen Preises, weil dies dem Prestige dient (Spieß, 2013). Diese Effekte zeigen, dass für viele Konsumierende der Preis als Indikator für die Qualität gilt, besonders dann, wenn der Preis die einzige Information für die Produktqualität darstellt. Allerdings nimmt mit hohem Preis die Wahrnehmung der Qualität zu, nicht aber die Kaufbereitschaft, die von der individuellen Kaufkraft abhängt. So befasst sich die Preisschwellenforschung damit, wie Konsumierende auf Preisänderungen und Unterschiede reagieren. Konsumierende haben eine bestimmte Vorstellung davon, wieviel ein Produkt maximal oder minimal kosten darf. Innerhalb dieses Bereichs bildet sich ein gewohnter oder fairer Preis heraus, den die Konsumierenden zu zahlen bereit sind. Überschreitet der Preis jedoch diese Preisschwelle, wird das Produkt nicht gekauft (Moser, 2002). Eingang in die Marktpsychologie hat der durch Lewin geprägte Feldbegriff im Marktmodell von Spiegel (1961) gefunden (vgl. von Rosenstiel & Neumann, 2002) (Abb. 3). In diesem Modell wird von einem sozialen Feld ausgegangen, d. h. ein aus bestimmten Personen zusammengesetztes soziales Gebilde. Dies kann ein Verein sein, die Einwohner/-innen einer Stadt oder eben die Teilnehmer/-innen eines Marktes. Dieses Feld hat verschiedene Dimensionen, die je zwei entgegengesetzte Pole haben und so die Ordnung des Feldes bestimmen. Handelt es sich z. B. um Vereinsmitglieder,
2.2 Ein marktpsychologischer Ansatz
17
Dimension 1 stark ausgeprägt
. .
MG
+ .
.
+
Dimension 2
+ +
schwach ausgeprägt _
.
_
.
stark ausgeprägt .
.
_ _
_
.
Uninformierte
+ . _
Informierte Anhänger/-innen Unentschiedene
schwach ausgeprägt
Abb. 3: Das Marktmodell von Spiegel (1961) nach von Rosenstiel und Neumann (2002).
können sich diese zwischen den Dimensionen alt vs. jung und aktiv vs. passiv verteilen. Handelt es sich um Teilnehmer/-innen eines Trödelmarktes, so könnte man die Dimensionen vermögend vs. nicht vermögend und professionelle Sammelnde oder gelegentliche Besuchende aufspannen. Von Rosenstiel und Neumann (2002) weisen darauf hin, dass solche Merkmale auszusuchen sind, die dem jeweiligen sozialen Feld angemessen sind. Dies bedeutet, man braucht bereits einige Expertise, um zu sinnvollen Dimensionen zu kommen. Ebenso kann jede Person verschiedenen sozialen Feldern angehören und innerhalb eines Feldes auch verschiedene Positionen einnehmen. Der Meinungsgegenstand, z. B. ein bestimmtes Produkt oder auch eine neue Idee, wird nun an der Stelle im sozialen Feld angesiedelt, an die er am besten passt. Mit der Einführung dieses Meinungsgegenstands trifft dieser auf Personen, die ihm zustimmen, ihn ablehnen oder indifferent sind. Dies hängt wiederum davon ab, welche Attraktivität der Meinungsgegenstand bei den jeweiligen Personen hat. Diese ist durch die Entfernung der Person zum Meinungsgegenstand und der Höhe des Aufforderungswertes bestimmt. Dieser Aufforderungswert wiederum besteht aus einem Grund-Aufforderungswert, der der durchschnittlichen Höhe des Bedürfnisses aller im sozialen Feld vorhandenen Personen entspricht und dem Zusatz-Aufforderungswert, der je nach Meinungsgegenstand verschieden sein kann (von Rosenstiel & Neumann, 2002). Die Marktnische ist aus der Perspektive der Kundinnen und Kunden definiert, im Unterschied zur Marktlücke, die von Anbietenden ausgeht. Eine Nische gilt als manifest, wenn aufgrund des geringen Aufforderungswertes z. B. die Konsumierenden auf
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
den Kauf dieses Produkts verzichten. Eine latente Nische hingegen bedeutet, dass beispielsweise ein Produkt aufgrund des hohen Grund-Aufforderungswertes als geringstes Übel gewählt wird. Aus dem Marktmodell lassen sich Maßnahmen für einen bestimmten Meinungsgegenstand ableiten, um die Zahl der Anhängerinnen und Anhänger zu erhöhen (von Rosenstiel & Neumann, 2002): – Information der Nichtinformierten – Verschiebung des Meinungsgegenstands in Richtung der Unentschiedenen und Ablehnenden – Verschiebung der Personen auf den Meinungsgegenstand hin, indem deren Erwartungen beeinflusst werden – Erhöhung des Zusatz-Aufforderungswertes für den Meinungsgegenstand – Erhöhung des Grund-Aufforderungswertes, wobei dies alle Personen im sozialen Feld betrifft – Verringerung des Zusatz-Aufforderungswertes konkurrierender Meinungsgegenstände Dieses Marktmodell hat verschiedene Modifikationen erfahren und sich insgesamt im Bereich der Markt- und Werbepsychologie empirisch sehr gut bewährt (Neumann, 2013). Allerdings ist anzumerken, dass Spiegel zwar den Feldbegriff auf die Marktpsychologie übertragen hat, sich dabei aber nicht ganz vom „aristotelischen Denken“ (vgl. Kapitel 2.1) lösen konnte: Die Anwendung der polaren Dimensionen können dem Prozesscharakter vieler Marktphänomene nicht gerecht werden. Ebenso wird die intensive Befassung mit der Gesamtsituation ausgeblendet (von Rosenstiel & Neumann, 2002).
2.3 Kultur und kulturvergleichende Psychologie Die Erkenntnisse der kulturvergleichenden Psychologie sind für die Wirtschaftspsychologie von großer Bedeutung, da sich die Wirtschaftspsychologie zunehmend mit den Resultaten der Globalisierung für das Verhalten und Erleben in internationalen Kontexten beschäftigt (vgl. Kapitel 5.5). Kultur gilt als ein relativ stabiles System, das im Zuge von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen ganz selbstverständlich übernommen wurde. Kultur wird als der von Menschen geschaffene Teil der Umwelt definiert (Triandis, 1989), der noch einmal in objektivierte (z. B. Häuser) und in subjektivierte (z. B. Werte) Kultur unterschieden werden kann. Sie gilt als ein gelerntes System von Bedeutungen bzw. von geteilten Bedeutungen (Shweder, 1990). Abbildung 4 zeigt die drei Ebenen der Einzigartigkeit in der mentalen Programmierung des Menschen (Hofstede et al., 2017). Hier bildet die menschliche Natur die Basis, die von der Kultur überformt wird, wobei dann die Persönlichkeit der Einzelnen sowohl von den Genen als auch der Kultur, in der jemand aufgewachsen ist, geprägt ist.
2.3 Kultur und kulturvergleichende Psychologie
Individuumsspezifisch
Gruppen- oder kategoriespezifisch
Universell
PERSÖNLICHKEIT
KULTUR
MENSCHLICHE NATUR
19
Erlebt + Erlernt
Erlernt
Ererbt
Abb. 4: Drei Ebenen der Einzigartigkeit in der mentalen Programmierung des Menschen nach Hofstede et al. (2017).
Kultur kann als ein universelles, jedoch auch für eine Gesellschaft sehr typisches Orientierungssystem angesehen werden. Dieses Orientierungssystem besteht aus spezifisch tradierten Symbolen, die das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder beeinflusst und somit deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft definiert. Kultur als Orientierungssystem strukturiert ein für die sich der Gesellschaft zugehörig fühlenden Individuen spezifisches Handlungsfeld (Thomas, 2016). Zentrale Merkmale des kulturspezifischen Orientierungssystems werden als Kulturstandards definiert. Darunter werden Formen der Wahrnehmung, des Denken und Handelns verstanden, die die Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und andere als verbindlich ansieht. Kulturstandards sind hierarchisch strukturiert und miteinander verbunden. Sie können auf verschiedenen Abstraktionsebenen definiert werden, von allgemeinen Werten bis hin zu sehr konkreten verbindlichen Verhaltensvorschriften. Zentrale Kulturstandards steuern die Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsprozesse zwischen Personen. Kulturstandards werden nach erfolgreicher Sozialisation nicht mehr bewusst erfahren, sondern erst im Kontakt mit Partner/-innen, die in anderen Kulturen sozialisiert wurden, besonders in kritischen Situationen erlebt (Thomas, 2016; Thomas & Utler, 2013; Utler, 2021). So spielt z. B. der Kulturstandard „Personorientierung“ in Frankreich eine große Rolle, bei dem Person und Beziehung Vorrang vor Aufgabenerledigung haben (verwirklicht z. B. durch ausgedehnte gemeinsame Mittagessen mit Geschäftspartner/innen). In Indien ist der Kulturstandard „Personalismus“ stark ausgeprägt, bei dem der Aufbau informeller Beziehungsnetzwerke z. B. durch persönliches Kennenlernen im Vordergrund steht. In Deutschland ist der Kulturstandard „Sachorientierung“ stark ausgeprägt. Die Sache und sachliches Verhalten stehen hier im Vordergrund (Thomas & Utler, 2013). Die Kenntnis der unterschiedlichen Kulturstandards können
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
in bi- oder multinationalen Verhandlungen von Vorteil sein (vgl. Kapitel 5.5). Kulturstandards werden dafür kritisiert, Stereotype über andere Kulturen zu generieren bzw. zu festigen, wobei – anders als bei Stereotypen, die sich aus kollektiven Annahmen bilden – Kulturstandards wissenschaftlich ermittelt werden (Utler, 2021). Kulturvergleichende Forschung vergleicht und analysiert den Einfluss der Kultur auf das menschliche Verhalten. Kulturvergleichende Studien werden in der Kulturanthropologie, der Soziologie, der Psychologie, der Politikwissenschaft, der Ethnologie und in den Wirtschaftswissenschaften durchgeführt. Von Keller (1982) benennt drei Ziele des Kulturvergleichs in den Sozialwissenschaften: 1. Es geht zunächst um die Beschreibung und Klassifikation von Kulturen, d. h. darum, Daten zu sammeln. 2. Zweites Ziel ist die Suche nach universellen Gesetzeshypothesen. 3. Drittens geht es darum, die Allgemeingültigkeit einer – für einen bestimmten Kulturbereich bereits erwiesenen – Theorie im kulturvergleichenden Rahmen nachzuprüfen. Die kulturvergleichende Psychologie befasst sich nach Thomas (2016) besonders mit den Unterschieden im menschlichen Verhalten verschiedener Kulturen und geht davon aus, dass unterschiedliche kulturelle Prägungen das wertgeleitete Handeln beeinflussen. Die Ziele kulturvergleichender psychologischer Forschung lassen sich in drei zentralen Punkten zusammenfassen: – Beschreibung und Analyse psychologisch relevanter Unterschiede im Verhalten und Erleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen – Überprüfung der universellen bzw. kulturspezifischen Gültigkeit psychologischer Hypothesen und Theorien – Analyse und Identifizierung der kulturellen Grundlagen psychischer Prozesse Bei der Beschreibung des kulturspezifischen Vorgehens werden zwei Sichtweisen unterschieden: eine „emische“ oder kulturangepasste und eine „etische“ oder kulturübergreifende (siehe Tab. 2). Die Unterscheidung in ein emisches und in ein etisches Vorgehen entspricht der aus der Persönlichkeitspsychologie bekannten Unterscheidung in einen idiografischen Ansatz – hier ist man bemüht, jedes Individuum in den ihm gemäßen Beschreibungskategorien zu erfassen – und den nomothetischen Ansatz, bei dem ein für alle Individuen gültiges Beschreibungssystem gefordert wird. Das Ziel kulturvergleichend arbeitender Psychologinnen und Psychologen besteht darin, ein Messinstrument nach dem etischen Konzept zu entwickeln, das dann in emisch-orientierten Studien verwendet wird (Helfrich, 1993). Der Kulturvergleich entspricht einer quasi-experimentellen Methode, da Hypothesen unter verschiedenen nicht künstlich geschaffenen Bedingungen getestet werden können. Man hat die Vorteile wissenschaftlichen Experimentierens, ohne sich dabei einem ethischen Problem auszusetzen, denn man kann verschiedene Ausprägungen von Entwick-
2.3 Kultur und kulturvergleichende Psychologie
21
lungsphänomenen beobachten, ohne selbst Einfluss darauf nehmen zu müssen. Durch die Auswahl entsprechender kultureller Kontexte lässt sich somit die Varianz der in unserer eigenen Kultur gegebenen Phänomene und Bedingungen erweitern. Allerdings wird bei diesem Vorgehen eine sehr genaue Kulturkenntnis vorausgesetzt, um kulturangemessene und funktional äquivalente Verfahren zu wählen (Trommsdorff, 1993a,b). Tab. 2: Emisches und etisches Vorgehen im Vergleich nach Helfrich (1993, S. 85). Standpunkt des Forschers bzw. der Forscherin
Emisches Vorgehen
Etisches Vorgehen
Der Forscher bzw. die Forscherin
nimmt einen Standpunkt innerhalb des Systems ein
nimmt einen Standpunkt außerhalb des Systems ein
Die Untersuchung des Forschers bzw. der Forscherin
beschränkt sich auf eine Kultur
vergleicht mehrere Kulturen
Der Forscher bzw. die Forscherin
deckt eine bereits bestehende Struktur auf
schafft selbst die Struktur
Die Ordnungsgesichtspunkte
orientieren sich an systemimmanenten Merkmalen
sind absolut universell
Der Kulturvergleich erlaubt somit, Hypothesen über Zusammenhänge zu entwickeln, auf die man in der eigenen Kultur nicht stoßen würde. Dadurch lassen sich Fehler und „blinde Flecken“ in den eigenen Deutungssystemen erkennen (Trommsdorff, 1993c). Probleme treten jedoch bei der Vergleichbarkeit der Daten auf. Konzepte und Theorien sind nicht kultur- und auch nicht wertfrei. Hier muss auf Äquivalenz der Messmethoden gedrungen werden, d. h., Messverfahren, Datenerhebung und Interpretation müssen vergleich- und replizierbar sein. Empfohlen werden längsschnittliche Untersuchungen, eine Kombination verschiedener Forschungsstrategien und eine erhöhte Zusammenarbeit von Forschenden aus verschiedenen Ländern (Helfrich, 1993). Replikation in anderen Kulturen bedeutet, dass überprüft wird, ob die Ergebnisse einer Studie die gleichen sind, wenn sie so genau wie möglich in einem anderen kulturellen Kontext wiederholt wird (Smith, 2014). Definition: Regeln für Ausdrucksverhalten (display rules) sind ein kulturbedingtes Verständnis, ob Emotionen offen zum Ausdruck kommen sollten (Smith, 2014).
Matsumoto et al. (2008) führten in 32 Ländern eine Umfrage über sogenannte Regeln für Ausdrucksverhalten durch, d. h. zu den Normen, ob Emotionen öffentlich zum Ausdruck kommen sollten. Länder in Ostasien und andere Länder mit höheren Werten für Kollektivismus hatten auch geringere Werte für die Zustimmung zum öffentlichen Emotionsausdruck. Entsprechend erzielten Länder mit hohen Werten für Individualismus, wie etwa die USA, hohe Werte für die Zustimmung zum öffentlichen Emotionsausdruck (Smith, 2014).
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
Gerade in der Erklärung von Konsumentenverhalten und im Rahmen der Globalisierungsprozesse wird die Bedeutung der Kultur immer wichtiger (Winter, 2003). Verlegh und Steenkamp (1999) haben einen Überblick und eine Metaanalyse über die Forschung zur länderspezifischen Produktherkunft durchgeführt. In die Metaanalyse gingen Studien ein aus den Jahren 1980 bis 1996, die in einschlägigen marktpsychologischen Zeitschriften veröffentlicht wurden (z. B. „Journal of Consumer Psychology“ oder „Journal of Economic Psychology“). Die Resultate zeigen, dass es eine enge Beziehung gibt zwischen dem Herkunftsland und der wahrgenommenen Qualität des Produkts (Spieß, 2013, S. 65). Allerdings wächst inzwischen auch das Interesse an einer lokalen Verbraucherkultur (Steenkamp, 2019) (vgl. auch Kapitel 5.8). Für die wirtschaftspsychologische Sicht sind diese Erkenntnisse für verschiedene Bereiche wichtig: So spielen kulturelle Faktoren im Zuge der Globalisierung eine immer größere Rolle (vgl. Kapitel 5.5). Auch in der Werbung wird zunehmend auf kulturelle Bedingungen Bezug genommen (Kapitel 5.8.1), ebenso bei der Analyse des Kundenverhaltens (Antonides & van Raaij, 1998; Müller & Gelbrich, 2021).
2.4 Stressforschung Die theoretischen Ansätze und empirischen Befunde aus der Stressforschung sind für die Wirtschaftspsychologie von großer Bedeutung, da der Berufsstress und insbesondere die psychischen Belastungen in der Arbeit zunehmen (Reif et al., 2018). Doch ebenso bringt die Digitalisierung Stress mit sich, der über den Arbeitsbereich hinausgeht. Auch in der Freizeit und im Konsumbereich erleben Menschen zunehmend Stress (vgl. Kapitel 5.1.2).
2.4.1 Ergebnisse der Stressforschung Stress wird als Zustand des Organismus verstanden (Brockhaus Lexikonredaktion, 2009), bei dem als Ergebnis einer inneren oder äußeren Bedrohung das Wohlbefinden als gefährdet wahrgenommen wird. Stress kann eine leistungsstimulierende Wirkung haben und dadurch mobilisieren (Eustress), er kann aber auch gesundheitsschädliche Folgen haben (Disstress). Unter den verschiedensten Gesichtspunkten ist der Erhalt der Gesundheit und des körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens wichtig, ihm widmen sich sozialpolitische und unternehmerische Maßnahmen gleichermaßen. Es geht um den Abbau von beeinträchtigenden Belastungen und Stressoren sowie um die Förderung der personalen und organisationalen Ressourcen (Bliese et al., 2017; Reif et al., 2021; Reif et al., 2018). Nach Lazarus und Launier (1981) können Stresskonzepte danach klassifiziert werden, ob sie Stress als Reiz, als Reaktion oder als Person-Umwelt-Beziehungsphänomen definieren:
2.4 Stressforschung
– – –
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Reizorientierte Ansätze definieren Stress über bestimmte Umweltereignisse, die sich zu bestimmten Stressorenklassen zusammenfassen lassen. Reaktionsbezogene Ansätze setzen Stress mit bestimmten Zuständen oder Veränderungen im (menschlichen) Organismus gleich. Kognitive Stresskonzepte betonen die Interaktion (und den transaktionalen Prozess) zwischen einem (menschlichen) System und seiner Umwelt und den daraus resultierenden Anpassungsprozessen.
In der Psychologie spielen kognitive Stresskonzepte die zentrale Rolle, erlauben sie es doch, Stress aus dem Verhältnis (Relation) von Anforderungen aus der Umwelt und personalen Reaktionskapazitäten zu bestimmen. Hauptanliegen dieser Ansätze ist die Inkongruenz zwischen objektiven Anforderungen und Bewältigungskapazitäten des Individuums, wobei die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsprozesse des Individuums den Stressprozess wesentlich mitbestimmen. Das bekannteste transaktionale Modell haben Lazarus und Launier (1981) entwickelt: Bestimmte Anforderungen aus der Umwelt (vorausgehende Ereignisse) machen aufseiten der Person spezifische Bewältigungsprozesse nötig. Stress liegt dann vor, wenn die Anforderungen die Fähigkeiten des Systems beanspruchen oder übersteigen. Zentral sind diesem Konzept zufolge die Bewertungs- und Bewältigungsprozesse: – Bei der primären Bewertung („primary appraisal“) schätzt die Person ein, welche Gefahren und negativen Erlebnisqualitäten von den Anforderungen ausgehen. Lazarus und Launier unterscheiden dabei zwischen Bedrohung, Schaden-Verlust und Herausforderung. Letztere weist im Unterschied zu den anderen beiden stressenden Bewertungen auch positive Erlebnisqualitäten auf. – Die sekundäre Bewertung („secondary appraisal“) umfasst die Einschätzung der eigenen Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten. – Mit der Neubewertung („reappraisal“) wird die Situation auf der Grundlage der eigenen Reflexionen und eingeholten Informationen auf ihr Bedrohungspotenzial neu eingestuft. Auf Basis dieser Bewertungsvorgänge wird eine Handlungsauswahl getroffen, um die aversive Situation zu bewältigen. Das „Coping“, also die Bewältigung, ist darauf gerichtet, umweltbedingte oder interne Anforderungen zu reduzieren. Unter Coping versteht man kognitive und verhaltensmäßige Bemühungen einer Person, mit spezifischen externen und/oder internen Anforderungen fertig zu werden. Dabei schätzt sie auch ihre persönlichen Ressourcen ein. Es gibt zwei Klassen von Bewältigungsreaktionen: Das problembezogene (ursachenorientierte) Coping, das auf die Veränderung der Person-Umwelt-Relation als Quelle der Belastung gerichtet ist und das emotionsbezogene (symptomorientierte) Coping, das sich auf die subjektive Befindlichkeit, d. h. die Regulation der belastenden Emotionen bezieht (Abb. 5). Ein Bewältigungsprozess besteht in der Regel aus mehreren dieser teils ineinandergreifenden Reaktionen. Für dieses funktionale Zusammenspiel der einzelnen Bewälti-
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
Individuum Bedürfnisse, Ziele Fähigkeiten Persönlichkeitsmerkmale
Befindlichkeiten Bewältigungsstile
Wahrnehmung der Situation und Interpretation: • Bedrohung, Risiko? • Veränderungsmöglichkeiten?
Situation Gegebenheiten und Rahmenbedingungen
Bewältigungsbemühungen • emotionsbezogen • problembezogen
Bewältigung
Nichtbewältigung
Abb. 5: Ein kognitives Modell der Stressbewältigung nach Lazarus und Folkman (1984).
gungsstrategien sind die folgenden Aspekte wichtig: Kausalattribuierung des bisherigen Ergebnisses (vgl. Kapitel 3.1.7), emotionales Befinden, Situationseinschätzungen, das weitere Bewältigungsziel sowie Einschätzung und Bewertung der Handlungsfolgen. Die Bewältigungsversuche einer Person sind unmittelbare Folge der Situationseinschätzung (Lazarus & Folkman, 1984). Belastungen in der Arbeitswelt können die „Qualität potenzieller Stressoren“ annehmen. Stressoren sind Faktoren, die „mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Stress (oder Stressempfindungen) auslösen“ (Schaper, 2019, S. 575). Die Belastungen lassen sich z. B. wie folgt strukturieren (Reif et al., 2021; McGrath, 1983): – Person (z. B. Perfektionismus) – physikalische Umgebung (z. B. unzureichende Arbeitsausstattung) – soziale Umgebung (z. B. Konflikte im Team) – Arbeitsaufgabe (z. B. Zeitdruck) – Arbeitsrolle (z. B. unklare Erwartungen an die Rolle) – Behaviour setting (z. B. soziale Isolation) – Organisation (z. B. Mikropolitik) – Kultur (z. B. Gefühl der Bedrohung der eigenen kulturellen Identität)
2.4 Stressforschung
25
Auch im Zusammenhang mit neuen Technologien und der fortschreitenden Digitalisierung ergeben sich Stressoren in den oben genannten Bereichen wie z. B. eine mangelnde persönliche Technologieaffinität (Person), eine hohe Komplexität neuer Technologien (physikalische Umgebung), die Entstehung ungewollter Normen, wie etwa ein hoher Reaktionsdruck (soziale Umgebung), oder die Angst, durch Technologie am Arbeitsplatz ersetzt zu werden (Organisation) (vgl. Reif et al., 2023). In Abhängigkeit von Art, Intensität und Dauer der objektiven Anforderungen und den eigenen Bewältigungsmöglichkeiten treten kurz- und langfristige Stress-Effekte auf, die sich auf gefühlsbezogene, physiologische, somatische, moralische und soziale Aspekte beziehen können (Tab. 3). Tab. 3: Beispiele für Beanspruchungsfolgen bzw. Stressreaktionen (Sonnentag & Frese, 2003; Bamberg et al., 2012; Reif et al., 2021). Kurzfristige, aktuelle Reaktionen
Mittel- bis langfristige,chronische Reaktionen
physiologisch, somatisch
– – – – –
erhöhte Herzfrequenz erhöhter Blutdruck schnellere Atmung Weitung der Pupillen Ausschüttung von Cortisol und Adrenalin („Stresshormone“)
–
psychosomatische Beschwerden und Erkrankungen
psychisch, kognitivemotional
– – – –
Anspannung, Nervosität Ängstlichkeit, innere Unruhe Gereiztheit Ärger
– – – – – –
Unzufriedenheit Frustration Resignation Depressivität Burnout Ermüdungs-, Monotonie-, Sättigungsgefühle
Verhalten, individuell
– – – –
Leistungsschwankungen Nachlassen der Konzentration Fehlhandlungen schlechte sensomotorische Koordination Hastigkeit und Ungeduld
– – – –
Fehlzeiten (Krankheitstage) innere Kündigung Leistungsverweigerung vermehrter Nikotin-, Alkohol-, Tablettenkonsum Einschränkung des Freizeitverhaltens erhöhte Reizbarkeit Konflikte, Streit, Aggressionen gegen andere Rückzug (Isolierung) innerhalb und außerhalb der Arbeit
–
– – – –
Das Konzept des „Person-Environment-Fit“, das auf French et al. (1974) zurückgeht, begreift Stress ebenfalls als ein relationales Phänomen. Verschiedene Arten der Übereinstimmung („Fit“) lassen sich unterscheiden: die Übereinstimmung zwischen den
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
Bedürfnissen der Person und den Befriedigungsangeboten der Situation, die Übereinstimmung zwischen den Fähigkeiten einer Person und den an sie gestellten Anforderungen sowie die Übereinstimmung zwischen den Einstellungen bzw. Werten der Person und den Einstellungen bzw. Werten der Umwelt (Edwards & Shipp, 2007; van Vianen, 2018). Konsequenzen einer Nicht-Übereinstimmung von Person und Umwelt sind physiologische (z. B. erhöhter Blutdruck), psychologische (z. B. Angst) und verhaltensbezogene (z. B. Rauchen) Stressreaktionen (Edwards et al., 1998). Das Job-Demands-Resources-Modell (Demerouti et al., 2001; Bakker & Demerouti, 2007, 2017) stellt bei der Erklärung von Stressentstehung Ressourcen mit in den Mittelpunkt. Ressourcen sind physikalische, psychologische, soziale oder organisationale Aspekte der Arbeit, die – funktional für die Erreichung von Arbeitszielen sind, – die mit Arbeitsanforderungen verbundenen negativen psychischen und physischen Folgen reduzieren – und persönliches Wachstum und persönliche Entwicklung stimulieren. Arbeitsanforderungen (Job Demands) sind hingegen physikalische, soziale und organisationale Anforderungen der Arbeit, die den Arbeitenden mental und physisch beanspruchen. Das Modell von Bakker und Demerouti (2007, 2017) nimmt an, dass sowohl Arbeitsressourcen die Entstehung von Stress abpuffern und als auch Arbeitsanforderungen die Entstehung von Motivation beeinträchtigen können. Das Modell findet empirische Unterstützung (z. B. Xanthopoulou et al., 2007), wobei sich insbesondere zeigt, dass Autonomie, soziale Unterstützung und das Angebot professioneller Weiterbildung den Effekt von Arbeitsanforderungen auf das Entstehen von Stress abpuffern. In einer Metaanalyse von Crawford et al. (2010) wurde das Modell weiterentwickelt, da sich empirisch immer wieder inkonsistente Befunde hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Arbeitsanforderungen und Engagement gezeigt hatten. Es wurde auf das transaktionale Stressmodell (Lazarus & Folkman, 1984) zurückgegriffen, wonach Arbeitsanforderungen je nach Bewertung entweder als Herausforderung oder als Bedrohung eingeschätzt werden können. Crawford et al. (2010) unterscheiden folglich in ihrer Metaanalyse zwischen herausfordernden Anforderungen und behindernden Anforderungen. Das modifizierte Job-Demands-Resources-Modell zeigt auf breiter, metaanalytisch fundierter Basis, dass herausfordernde Anforderungen positiv mit Engagement und behindernde Anforderungen negativ mit Engagement zusammenhängen (Crawford et al., 2010; Reif et al., 2018). Stress resultiert also aus dem Zusammenspiel vieler Variablen in Person, Umwelt und deren Interaktion, wobei durch neue (technologische) Entwicklungen auch neue Stressoren – aber andererseits auch neue Ressourcen – entstehen können. Aufgrund
2.4 Stressforschung
27
einer steigenden Anzahl an Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund (auch stressbedingter) psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz (Bundes Psychotherapeuten Kammer, 2015) gewinnen Prävention und Gesundheitsförderung an Bedeutung.
2.4.2 Das Konzept der sozialen Unterstützung Für die Stressforschung spielt besonders das Konzept der sozialen Unterstützung eine Rolle, da es ein wichtiger Faktor bei der Vermeidung von Stress und seinen negativen Folgen ist. Eine Vielzahl von Forschungsvorhaben hat sich mit sozialer Unterstützung in den verschiedensten Kontexten (Familie, Freunde, Arbeit etc.) beschäftigt. Ein Überblick findet sich bei Gleason und Iida (2015). Das Konzept der sozialen Unterstützung gründet auf verschiedenen Forschungstraditionen, die sich mit dem Zusammenhang von sozialer Unterstützung und psychischer Gesundheit beschäftigen. Ausgehend von soziologisch orientierten Untersuchungen Durkheims (1983), die sich schon Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Zusammenhang von sozialer Integration und Mortalitätsund Selbstmordraten befasst haben, spielt soziale Unterstützung u. a. eine Rolle in – stresstheoretischen Ansätzen (als eine Variable zur Vermittlung zwischen Stressoren, Beanspruchungsempfinden und Stressfolgen), – sozialpsychologischen Ansätzen, die soziale Unterstützung als einen maßgeblichen Faktor bei der Reduktion kognitiver Dissonanz postulieren, – und Ansätzen der Führungsforschung (Unterstützung durch Vorgesetzte als ein wesentliches Element eines mitarbeiterorientierten Führungsstils). Mit sozialer Unterstützung werden positive Umweltfaktoren postuliert, die die Auswirkungen von Stressbelastungen neutralisieren bzw. reduzieren oder aber – unabhängig von der jeweils wirkenden Stressoren-Konstellation – einen positiven Effekt auf Gesundheit und Wohlbefinden haben (Abb. 6). Sozialer Unterstützung wird demnach einerseits eine positive Funktion bei der Stressbewältigung („Pufferfunktion“) zugeschrieben (Viswesvaran et al., 1999); andererseits ist sie wichtig im Sinne der Prävention, also der Vorbeugung von Krankheiten (Udris & Frese, 1999). Vom Standpunkt des Ressourcen-Konzepts (Udris, 1989) stellt soziale Unterstützung einerseits eine äußere Ressource dar („Unterstützung erhalten“); zugleich ist sie als innere Ressource zu betrachten, die eine Person unter entsprechenden – förderlichen bzw. hinderlichen – Arbeitsbedingungen entwickeln bzw. verlernen kann („Unterstützung geben“) (Udris & Frese, 1999). Soziale Unterstützung umfasst emotionale Unterstützung (Anteilnahme, Verständnis, Vertrauen, positive soziale Interaktionen) und instrumentelle Unterstützung (konkret in Form von materieller Unterstützung wie etwa Geld, helfendes Verhalten wie etwa Pflege im Krankheitsfall; informativ in Form von Ratschlägen) (vgl. Cohen & Wills, 1985; Gleason & Iida, 2015; Sherbourne & Stewart, 1991).
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal bei der Bestimmung sozialer Unterstützung ist, ob die Unterstützung von einer sozialen Einheit oder einer einzelnen Person ausgeht (Dücker, 1995) und ob die Unterstützung im Rahmen von formellen sozialen Netzen (z. B. Arbeitsgruppen) oder informellen Netzen (z. B. Freundschaftsbeziehungen) gegeben bzw. empfangen wird (Udris & Frese, 1999). In zahlreichen Studien (z. B. im Überblick bei Cohen & Wills, 1985; Gleason & Iida, 2015) konnte eine positive Beziehung zwischen sozialer Unterstützung am Arbeitsplatz und dem Wohlbefinden derjenigen, die unterstützt wurden, nachgewiesen werden. Es gibt indes unterschiedliche Erklärungsmodelle, wie diese positiven Effekte zustande kommen. Frese und Semmer (1991) geben folgende Wirkmechanismen von sozialer Unterstützung an: – Soziale Unterstützung ist ein primäres Bedürfnis. Demnach haben Menschen phylogenetisch bedingt das Bedürfnis, in einem sozialen Verbund zu arbeiten. Das Fehlen von sozialer Unterstützung führt demnach automatisch zu Befindensbeeinträchtigungen. – Die mit sozialer Unterstützung verknüpften positiven Rückmeldungen wirken sich unmittelbar auf die Selbstsicherheit und damit auf andere Komponenten psychischen Wohlbefindens aus.
reduziert
Soziale Unterstützung
stärkt
puffert
1
2
Belastung
3
Gesundheit negative Auswirkung auf
Abb. 6: Effekte von sozialer Unterstützung (nach Viswesvaran et al., 1999, siehe auch Stadler & Spieß, 2003).
Die positiven Effekte der sozialen Unterstützung treffen jedoch nicht für alle Menschen zu: Erfahrene Mitarbeitende haben routinebedingt weniger Schwierigkeiten bei der Aufgabenerledigung als etwa Berufsanfängerinnen und -anfänger. Diese müssen sich nicht nur mit neuen Arbeitsaufgaben auseinandersetzen, sondern auch erst ein soziales Netzwerk an ihrem Arbeitsplatz aufbauen. Auch wenn Berufsanfängerinnen und anfänger neue Aufgaben übertragen bekommen, haben sie häufig einen hohen Unterstützungsbedarf. Soziale Unterstützung ist zudem bei betrieblichen Veränderungspro-
2.5 Ein kultursoziologischer Ansatz
29
zessen (Downsizing, Outsourcing etc.) wichtig sowie an Arbeitsplätzen mit dauerhaft hohen Arbeitsanforderungen bzw. Belastungen (z. B. Fluglotse) (Reif et al., 2018).
2.5 Ein kultursoziologischer Ansatz Aus der Soziologie soll der Ansatz von Pierre Bourdieu herausgegriffen werden, da aus seinem Werk zentrale Momente für den wirtschaftspsychologischen Rahmen (Kapitel 2.7) entnommen wurden. In der Bewertung von Vogt (2000) hat Bourdieu neben der Weiterentwicklung der soziologischen Theorie auch der empirischen Erforschung sozialer Ungleichheit neue Impulse gegeben. Pierre Bourdieu begann seine sozialwissenschaftliche Laufbahn als Ethnologe der maghrebinischen Gesellschaften (Nordalgerien, Marokko, Tunesien). In seiner Auseinandersetzung mit soziologischen und philosophischen Klassikern (Durkheim, Weber, Marx, Kant) entwickelte er seinen „Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft“ (1979). Hinzu kamen Feldstudien über die Kabylei, Nordalgerien und der Berbergesellschaft der Kabylen. Schultheis (2000) sieht diese frühe ethnologische Feldforschung als Ursprung für die später entwickelte Theorie der Sozialwelt (Bourdieu, 1997a,b), da hier bereits statistische Erhebungen mit standardisierten Fragebögen durch qualitative Forschungsmethoden ergänzt wurden. Ziel seiner Gesellschaftstheorie ist es, „die Konstitution und Reproduktion sozialen Lebens zu verstehen und die Mechanismen, die dabei wirksam werden, aufzudecken“ (Müller, 2014, S. 22). Wichtig für das Verständnis des Werkes von Bourdieu (u. a. 1974, 1979, 1982, 1984, 1985, 1997a, 1997b, 2000a, 2000b) sind neben dem Habitus und den Kapitalia noch die Distinktion und das Feld. Gerade dieser letzte Begriff stellt eine Nähe zum sozialpsychologischen Feldbegriff von Kurt Lewin dar. Mit dem Begriff Distinktion wird der Vorgang kultureller Abgrenzung beschrieben. Die Alltagskultur dient dazu, den eigenen Lebensstil durch die demonstrative Abgrenzung gegenüber anderen zu betonen (Honneth, 1984). Bourdieu unterscheidet in ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital (1983): – Das ökonomische Kapital umfasst materielle Ressourcen wie Einkommen und Geld. – Das soziale Kapital besteht aus Beziehungsnetzen und sozialen Netzwerken. – Das kulturelle Kapital bietet Ressourcen wie Kultiviertheit, Bildung und Lebensstil. Bourdieu hebt die Besonderheit des kulturellen Kapitals hervor: Die „Transmission“ kulturellen Kapitals erfolgt in der Familie. Die Verinnerlichung dieses kulturellen Kapitals kostet vor allem auch Zeit (z. B. Ausbildungszeit). Damit handelt es sich bei Bourdieus Theorie um eine Ressourcentheorie: Menschen haben Möglichkeiten des Handelns im Maße ihrer Ausstattung mit Handlungsressourcen, die qua Habitus zu Handlungsinstrumenten werden (Hradil, 1989).
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
Der Habitus bildet den Mittelpunkt der Bourdieuʼschen Theorie der gesellschaftlichen Reproduktion: Der Habitus wird als ein System verinnerlichter Muster definiert, die alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur ausmachen (Bourdieu, 1974). Der Habitus gilt als quasi unbewusstes Wahrnehmungs- und Bewertungsschema der sozialen Gruppen, die gruppenspezifische Handlungsorientierungen ermöglichen. Der Habitus ist auf der einen Seite von der Struktur beeinflusst und auf der anderen Seite beeinflusst er die Praxis, indem er den Raum für verschiedene Lebensstile aufspannt. Die Struktur wird unterschieden in die verschiedenen Formen des Kapitals. Diese Struktur prägt die individuellen Denk- und Wahrnehmungsschemata, die wiederum den individuellen Geschmack ausmachen (Müller, 1986, 2014). Die privilegierten Studierenden verdanken ihrem Herkunftsmilieu ein Verhalten und einen Habitus, das bzw. der ihnen indirekt im Studium zugutekommt. Je höher die soziale Herkunft – so lautet der entsprechende empirische Befund –, umso vielfältiger sind die kulturellen Interessen. Für die Kinder aus der Unterschicht ist die Schule hingegen der einzige Vermittler kulturellen Wissens. Da der zu vermittelnde Stoff für diese Kinder nicht in ihrer Erfahrung ist, müssen sich die Kinder aus dem Arbeiter- und Kleinbürgermilieu mühsam erwerben, was die Kinder aus großbürgerlichem Milieu quasi gratis durch die familiäre Umgebung mitbekommen: Stil, Geschmack, Kultur. Dadurch wird für sie die Schule zu einer Schule der Unaufrichtigkeit. Nun führt schon für den Bereich der Schule die Blindheit gegenüber sozialer Ungleichheit dazu, dass tatsächliche Ungleichheiten als natürliche, unterschiedliche Begabungen angesehen werden. So produziert und unterhält das Bildungswesen die Ideologie der Begabung, die die Funktion der Religion ersetzt, wesentlich effektiver als die Religion. Nach Max Weber (1988/1920) verhalf die Religion den herrschenden Klassen dazu, ihre Privilegien mit einer „Theodizee“ auszustatten: Sie sind gottgewollt, d. h. durch ein höheres Wesen legitimiert. Im Zeitalter der Säkularisierung tritt an die Stelle der Religion die Begabungsideologie, die gesellschaftliche Unterschiede am einzelnen Individuum festmacht. An der Universität, in der formelle Gleichheit bei allen Studierenden vorherrscht, findet diese Ideologie ihre Fortsetzung und Bestätigung. Hier wird der sprachliche Stil vervollkommnet. Dass er nicht unbedingt der Verständigung und Klarstellung dient, sondern zur „Mystifikation“ bzw. zur Zelebrierung der Intellektualität, verdeutlichen Bourdieu und Passeron (1971) anhand eines durchgeführten Experiments: Studierenden wurde eine Liste mit Fremdwörtern vorgelegt, die sie definieren sollten. Es befand sich darunter auch ein nichtexistentes Wort „Gerophagie“, das aber alle Studierenden zu umschreiben versuchten. Am wortreichsten taten dies die Studierenden aus privilegiertem Milieu. Das Bildungssystem vermittelt also auch eine bestimmte Einstellung zu Sprache und Kultur, die Bourdieu mit dem „Habitus“ des freischwebenden Intellektuellen zu beschreiben versucht. Diese Kennzeichnung des universitären Ausbildungsbetriebs ist vor allem auf französische Verhältnisse zugeschnitten. Bourdieu verweist auf den Einfluss des Jesui-
2.6 Systemische Erklärungsansätze
31
tenkollegs auf das französische Bildungssystem, das den Primat des Stils und die Abwertung von Übungen postulierte. Dennoch finden Bourdieus Grundgedanken zur Funktion des Bildungswesens – dass es kulturelle Privilegien bewahrt und dies erfolgreich zu verschleiern versteht, da diejenigen, die frühzeitig ausscheiden, dies als ihr persönliches Versagen werten – zunehmend Eingang in die sozialwissenschaftliche Diskussion (z. B. Schmeiser, 1986). Es entsteht ein Dualismus zwischen dem „vulgären“ Geschmack, der sich auf lebenspraktische Funktionen beschränkt, und einem gehobenen Geschmack, der stärker die ästhetische Form betont. Diese beiden gegensätzlichen Modalitäten der kulturellen Kompetenz sind auf unterschiedliche Arten des Erwerbs von Kultur und Bildung zurückzuführen. Den Angehörigen der oberen Schichten vermittelt die Familie die wichtigsten Bildungsgüter und von daher auch Selbstsicherheit. Für die unteren Schichten gilt, dass Bildung zwar anerkannt, aber zugleich wenig bekannt ist. Dies weist Bourdieu (1982) in seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ nach. In den letzten Forschungsarbeiten von Bourdieu spielte auch der Feldbegriff im Zusammenhang mit dem Studium der Funktion der Religion eine große Rolle (Bourdieu, 2000a; Egger, Pfeuffer & Schultheis, 2000).
2.6 Systemische Erklärungsansätze Die systemischen Erklärungsansätze haben besonders in Modellen der Organisationsentwicklung eine Bedeutung gewonnen (French et al., 1990). Die Begriffe der Systemtheorie (z. B. Selbstreferenz, Kommunikation, Autopoesis) sind voraussetzungsvoll und jenseits der Alltagssprache. Die Konzepte der systemtheoretischen Ansätze gehen auf verschiedene Traditionslinien zurück wie z. B. der Biologie, der Soziologie oder der konstruktivistischen Erkenntnistheorie (Neuberger, 2002). Auch besteht eine Nähe von Feldtheorie und Systemtheorie (vgl. Kapitel 2.1). In den Systemtheorien werden Organisationen als soziale Systeme verstanden, die durch allgemeine Merkmale gekennzeichnet sind. Wichtig ist, dass es immer auf die Relationen zwischen den Systemelementen ankommt (Luhmann, 1964). Für den Umgang mit personalen und sozialen Systemen ist Systemkompetenz (Kriz, 2000) erforderlich. Kriz (2000) definiert Systemkompetenz als bewusst angelegte Doppeldeutigkeit: als Kompetenz von Systemen für Systeme, als Kompetenz von Systemen für ihr eigenes Verhalten und als Kompetenz für das Verhalten anderer Systeme in ihrer Umwelt. Es gibt folgende Bestandteile von Systemkompetenz: – Berücksichtigung von Sozialstrukturen und Kontexten (z. B. Rollenklärung, Teamfähigkeit, Spielregeln kennen und einhalten lernen) – Umgang mit der Dimension Zeit (z. B. Perspektiven und Ziele entwickeln, Zeitdruck vermeiden, Kenntnis von Familien- und Lebenszyklen)
32
2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
–
Umgang mit der emotionalen Dimension (z. B. vorhandene Kräfte nutzen, Engagement, Ambiguitätstoleranz, d. h. Ertragen von widersprüchlichen Wahrnehmungen und Wirklichkeiten) soziale Kontaktfähigkeit (z. B. verständliche Sprache, flexible Selbstdarstellung) Systemförderung, Entwicklung von Selbstorganisationsbedingungen (z. B. Experimentieren, Fehlerfreundlichkeit) Theoriewissen, systemtheoretische Methoden (z. B. methodisches Wissen, Modellierungskompetenz)
– – –
Systemkompetenz beinhaltet „Grundhaltungen, Wissen, Handlungs- und Methodenkompetenz über das Wirksamwerden von Prinzipien der Systemwissenschaften (z. B. Rückkopplung, Selbstorganisation) in verschiedenen Lebenswelten. Bei der aktiven Gestaltung menschlicher Lebenswelten schließt systemkompetentes Wissen und Handeln insbesondere einen nachhaltigen Umgang des Menschen mit seinem Körper, seiner Psyche und seiner sozialen technischen und natürlichen Umwelt mit ein“ (Kriz, 2000, S. 13 f.). Kriz (2000) hat ein Trainingsmodell für die Systemkompetenz erarbeitet, in dem er neben theoretischem Wissen auch konkrete Techniken fördert: Techniken für Systemanalysen, soziale Kompetenzen bis hin zu Entspannungsübungen. Er entwickelte eine „Gaming Simulation“ und erprobte dieses Trainingsprogramm mit Studierenden an der Universität München. Nach der systemtheoretischen Sicht lassen sich z. B. Probleme in Organisationen nicht isoliert, sondern nur im Kontext des jeweiligen Systems lösen. Es geht nicht um die Suche nach einzelnen Schuldigen, sondern um die Frage, welches Zusammenspiel von welchen Faktoren dieses Problem hervorbringt. Theorien auf der Basis der Autopoiesis ziehen eine Analogie zu biologischen Systemen (Maturana & Varela, 1987). Demnach gleicht jedes autopoetische System einem Organismus, dem die Fähigkeit zur Selbsterhaltung und Selbstreproduktion innewohnt. Es ist selbst- und nicht fremdbestimmt. Für die Relation System – Umwelt gilt das Prinzip der strukturellen Koppelung. Wenn man Organisationen als autopoetische Systeme auffasst, liegt der Schwerpunkt auf den Selbstaktualisierungskräften und auf der Eigendynamik. Der Ansatz der Selbstorganisationstheorie von Haken (1996) legt den Schwerpunkt auf die Selbsterhaltung der Organisationsdynamik und der externe Einfluss wird stärker betont (Schönig & Brunner, 1993). Sonntag et al. (2001) haben in ihrem Projekt „Gesundheit, Arbeitssicherheit und Motivation bei innerbetrieblichen Restrukturierungen“ die Frage untersucht, welche Aufgaben und Anforderungen der Arbeits- und Gesundheitsschutz bei betrieblichen Veränderungsprozessen in Instandhaltungsmeistereien und einem kaufmännischverwaltenden Tätigkeitsbereich eines großen Automobilkonzerns hat. Die Autoren plädieren hier für eine systemische Perspektive, die das gesamte Arbeitssystem mit einbezieht. Folgende Ansatzpunkte sind besonders für den Arbeits- und Gesundheitsschutz von Bedeutung:
2.7 Ein wirtschaftspsychologischer Rahmen
– – – –
33
Technikberatung und -gestaltung Arbeitsaufgaben und -organisation (z. B. Vermeidung von Über- und Unterforderungen) Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen (z. B. Förderung der sozialen Unterstützung) Stärkung personaler Ressourcen (z. B. Stressbewältigungsstrategien)
In ihren Befragungen und Beobachtungen konnten die Autoren ermitteln, dass bei hohem Stellenwert der Arbeitssicherheit in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden dies mit weniger sicherheitskritischen Ereignissen korrelierte. Dabei stellte sich als neuer Stressor im Kontext der arbeitsorganisatorischen Veränderungen die Arbeitsplatzunsicherheit heraus. Die systemischen Ansätze wenden sich gegen isolierende Betrachtungsweisen und sind auch für die Wirtschaftspsychologie von Interesse, denn jede wirtschaftspsychologische Intervention hat wiederum eine weitere, häufig nicht bekannte Wirkung. Problematisch erscheint mitunter der hohe Abstraktionsgrad der systemischen Theorien, der den Anwendungsbezug erschwert. Unter Umständen erscheint die Wirklichkeit lediglich verdoppelt und die Theorien liefern keine Problemerklärung.
2.7 Ein wirtschaftspsychologischer Rahmen In diesem Kapitel soll nun ein Rahmen des wirtschaftspsychologischen Handelns vorgestellt werden. Setzen ökonomische Theorien Markttransparenz voraus, d. h., Einzelne sind über die Angebote am Markt vollständig informiert, so entspricht dies nicht der Realität vieler Menschen, die häufig durch ein Zuviel an Informationen überfordert sind. Die Wahrnehmung einer Situation ist durch die eigenen Erfahrungen geprägt und selektiv. Ebenso entspricht das angenommene rationale Verhalten der Wirtschaftssubjekte nicht deren Lebenswirklichkeit, werden doch oft impulsive Käufe getätigt oder es wird aus Gewohnheit gekauft (vgl. Kapitel 5.8). Auch Kaufentscheidungen werden nicht isoliert getroffen, sondern sind mitbeeinflusst durch soziale Normen, kulturelle Einflüsse oder soziale Vergleiche. Erwartungen spielen gleichfalls eine große Rolle, wobei hier Hoffnungen oder Sorgen über die Zukunft das wirtschaftliche Verhalten stärker bestimmen als die Analyse wirtschaftlicher Informationsquellen. Auch die Bedürfnisse und Lebensstile sind einem Wandel unterworfen (vgl. Kapitel 3.1.1). Abbildung 7 stellt den Rahmen vor, den die Wirtschaftspsychologie aufspannt und der die folgenden Buchkapitel bestimmt. Theorie- und Forschungsstränge beeinflussen sowohl die Anwendungsfelder der Wirtschaftspsychologie als auch die relevanten psychologischen Konzepte. Gesellschaftliche Bedingungen wie staatliche Interventionen, Wertewandel oder die Globalisierung wiederum beeinflussen die Anwendungsfelder der Wirtschaftspsychologie. Die dort aufgeworfenen Themen entspringen aktuellen Problemen und werden von-
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
Erleben und Verhalten des Menschen im wirtschaftlichen Kontext Theorie- und Forschungsstränge Psychologische Konzepte
Produzierende
Konsumierende
Gesellschaftliche Bedingungen Anwendungsfelder Abb. 7: Ein wirtschaftspsychologischer Rahmen.
seiten der Wirtschaftspsychologie mit den Konzepten und Methoden aus der Psychologie analysiert und bearbeitet. Aus der Vielfalt der theoretischen Ansätze in der Psychologie und Soziologie wurden diejenigen herausgegriffen, die einen wirtschaftspsychologischen Rahmen für das Handeln darstellen: die klassische Feldtheorie von Lewin, die bereits frühzeitig auch auf wirtschaftspsychologische Fragestellungen bezogen wurde; die Marktpsychologie, die dem traditionell ökonomischen Marktkonzept ein psychologisches gegenüberstellt sowie die kulturvergleichende Psychologie, die dem zunehmenden Einfluss kultureller Faktoren im Wirtschaftsgeschehen gerecht wird. Die Stressforschung bildet ebenfalls einen wichtigen Baustein zur Erklärung wirtschaftspsychologischer Phänomene: Arbeit und das Konsumieren können Quellen von Stress darstellen. Der kultursoziologische Ansatz von Bourdieu verweist auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der handelnden Akteure und kategorisiert sie im Sinne einer Ressourcentheorie in ökonomische, soziale und kulturelle Kapitalia. Systemische Ansätze liefern wichtige Denkmethoden für das wirtschaftspsychologische Handeln. Theorie- und Forschungsstränge beeinflussen und spiegeln sich in den Anwendungsfeldern der Wirtschaftspsychologie als auch in den relevanten psychologischen Konzepten. Auf der individuellen Ebene spielen die folgenden Konzepte eine wirtschaftspsychologisch bedeutsame Rolle: Werte, Einstellungen, Denken, Lernen und Gedächtnis, Gefühle und Emotionen, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, Motivation und Handeln, Attribution, Kompetenz, Entscheidungsprozesse sowie Selbst und Identität.
2.7 Ein wirtschaftspsychologischer Rahmen
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Auf der interpersonellen Ebene sind es Prozesse in und zwischen Gruppen, Kooperation und Konkurrenz, Konflikt und Konfliktlösung, die Rolle des Verhandelns, Kommunikation, die Rolle des Vertrauens, Macht und Gerechtigkeit. Aus der Vielfalt von Anwendungsfeldern der Wirtschaftspsychologie seien die folgenden herausgegriffen: Arbeit, Freizeit und Muße stehen in einem wechselvollen Verhältnis zueinander. Das Homeoffice bietet neue Chancen der individuellen Dispositionsmöglichkeiten, bedeutet aber auch, dass sich die traditionell festgesetzten Grenzen von Arbeitszeiten, Arbeit und Freizeit zunehmend auflösen (Voß, 2020). Muße stellt ein neues Konzept dar, das es erlaubt, den Anforderungen in Arbeit und Freizeit gerecht zu werden (Kapitel 5.1). Arbeit 4.0 und neue Technologien bringen neben vielen neuen Arbeitsformen und Chancen, die Arbeit zu erleichtern, auch Digitalisierungsangst und Technostress mit sich (Kapitel 5.2). Arbeitslosigkeit kann zu Depressionen und Handlungsunfähigkeit führen, aber auch als Chance für Weiterqualifikationen genutzt werden und damit neue Handlungsperspektiven eröffnen (Kapitel 5.3). Ungebremstes unternehmerisches Handeln entfesselt die Marktkräfte, treibt die Wirtschaft voran, kann aber auch Arbeitsplätze an anderer Stelle vernichten und Gesundheit gefährden. Es gibt neuere Entwicklungen wie Entrepreneurship und Intrapreneurship sowie Plattformökonomie und Gigwork (Kapitel 5.4). Die zunehmende Globalisierung bringt für viele Unternehmensmitglieder neue Aufgaben und stellt sie vor ungewohnte Herausforderungen. Dazu müssen spezifische Kompetenzen erworben (interkulturelle Kompetenz) und die jeweiligen Eigenarten der Kulturen und ihre Dynamik analysiert werden. Besonderheiten einer Tätigkeit im Ausland, der Prozess einer Entsendung und die Integration von Arbeitsmigranten sind relevante Themen (Kapitel 5.5). Bei Unternehmenszusammenschlüssen wird auch Personal freigesetzt. Sie erzeugen bei den Unternehmensmitgliedern häufig Ängste. Die Lage am Arbeitsmarkt kann die eigenen Chancen dort erhöhen oder einen möglichen Arbeitsplatzwechsel erschweren (Kapitel 5.6). Beratungen spielen eine große Rolle im wirtschaftlichen Kontext. Kompetente Beratende sollten sich hier über alle wichtigen Einflussgrößen ihres Beratungsfeldes, vor allem auch über deren Zusammenspiel Kenntnis verschaffen (Kapitel 5.7). Kaufen und Verkaufen sind durchaus gegenläufige Prozesse. Die Rolle der Werbung und die Bedeutung der Marke sind Bestandteile des Verkaufsprozesses. Die Kaufsucht ist ein extremer Pol des Kaufverhaltens und rechtfertigt u. a. auch den Verbraucherschutz. Verantwortlich Konsumierende können durch qualitätsbewusstes Kaufverhalten einen Einfluss auf die Angebotspalette von Produkten ausüben. Verkaufende müssen sich auch mit den kulturellen Hintergründen und Gewohnheiten ihrer Kundinnen und Kunden auseinandersetzen, um in bestimmten Märkten erfolgreich zu sein (Kapitel 5.8). Die Finanzpsychologie umfasst sehr heterogene Felder: Es geht um die Verhaltensrelevanz von Geld und Währung, die Subjektivierung der Finanzentscheidung,
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2 Theoriestränge der Wirtschaftspsychologie und wirtschaftspsychologischer Rahmen
das Erleben und Verhalten an der Börse, Spekulationsblasen, Börsencrashs und Informationskomplexität, globale Einflüsse auf das Börsengeschehen sowie Sparen und Altersvorsorge (Kapitel 5.9).
2.8 Resümee Aus der Vielfalt der theoretischen Ansätze in der Psychologie und Soziologie wurden diejenigen herausgegriffen, die einen wirtschaftspsychologischen Rahmen für wirtschaftliches Handeln darstellen: die klassische Feldtheorie von Lewin, die bereits frühzeitig auch auf wirtschaftspsychologische Fragestellungen bezogen wurde; die Marktpsychologie, die dem traditionell ökonomischen Marktkonzept ein psychologisches gegenüberstellt sowie die kulturvergleichende Psychologie, die dem zunehmenden Einfluss kultureller Faktoren im Wirtschaftsgeschehen gerecht wird. Die Stressforschung bildet ebenfalls einen wichtigen Baustein zur Erklärung wirtschaftspsychologischer Phänomene: Arbeit und das Konsumieren stellen Quellen von Stress dar. Der kultursoziologische Ansatz von Bourdieu verweist auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der handelnden Akteure und kategorisiert sie im Sinne einer Ressourcentheorie in ökonomische, soziale und kulturelle Kapitalia. Systemische Ansätze liefern wichtige Denkmethoden für das wirtschaftspsychologische Handeln. Theorie- und Forschungsstränge beeinflussen und spiegeln sich in den Anwendungsfeldern der Wirtschaftspsychologie als auch in den relevanten psychologischen Konzepten auf der individuellen und interpersonellen Ebene. Exemplarische Anwendungsfelder sind Arbeit, Freizeit und Muße, Arbeit 4.0 und neue Technologien, unternehmerisches Handeln und Selbstständigkeit, interkulturelles Handeln, Unternehmenszusammenschlüsse, Beratung, Prozesse des Kaufens und Verkaufens sowie Finanzpsychologie. Theorie- und Forschungsstränge, psychologische Konzepte, Anwendungsfelder und gesellschaftliche Bedingungen machen den wirtschaftspsychologischen Rahmen aus.
Vertiefende Literatur Bogner, D. P. (2021). Kurt Lewin reloaded, Bd 1: Innovative feldtheoretische Perspektiven für die Schulpädagogik. Springer VS. Kriz, W. C. (2000). Lernziel: Systemkompetenz. Vandenhoeck & Ruprecht. Müller, H. P. (2014). Pierre Bourdieu: Eine systematische Einführung. Suhrkamp. Reif, J., Spieß, E. & Pfaffinger, K. (2021). Dealing with stress effectively in a modern environment: Resources matter. Springer. Reif, J., Spieß, E. & Stadler, P. (2018). Effektiver Umgang mit Stress – Gesundheitsmanagement im Beruf. In F. Brodbeck, E. Kirchler & R. Woschée (Hrsg.), Die Wirtschaftspsychologie. Springer. Thomas, A. (Hrsg.) (2016). Interkulturelle Psychologie. Hogrefe. Von Rosenstiel, L. & Neumann, P. (2002). Marktpsychologie. Wiss. Buchgesellschaft. Zimbardo, P. G., Johnso, R. L. & McCann, V. (2015). Schlüsselkonzepte der Psychologie (7. Aufl.). Springer.
3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte In diesem Kapitel werden Konzepte herausgegriffen, die häufig zur Erklärung des Erlebens und Verhaltens in wirtschaftsnahen Kontexten wie z. B. Werbung, Arbeitslosigkeit oder Selbstständigkeit herangezogen werden. Dabei werden die Konzepte danach gegliedert, ob sie auf der individuellen oder auf der interpersonellen Verhaltensebene liegen. In jedem Kapitel werden neben der knappen Darstellung der Grundlagen auch die wirtschaftspsychologischen Anwendungen erwähnt und Hinweise auf vertiefende Literatur gegeben.
3.1 Individuelle Ebene Auf der individuellen Ebene sind die folgenden Konzepte wirtschaftspsychologisch besonders relevant: Werte, Einstellungen, Denken, Gedächtnis und Lernen, Gefühle und Emotionen, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Motivation und Handeln, Attribution, Kompetenz, Lern- und Entscheidungsprozesse, Selbstwert und Identität.
3.1.1 Werte Werte sind zentral für das menschliche Handeln, sie spielen somit auch für die Erklärung wirtschaftlichen Handelns eine große Rolle, z. B. im interkulturellen Handeln (Kapitel 5.5), wenn Angehörige verschiedener Kulturen aufeinandertreffen, oder bei Unternehmenszusammenschlüssen (Kapitel 5.6), wenn die in den fusionierten Unternehmen gelebten Werte nicht zusammenpassen. Abbildung 8 zeigt das Verhältnis von Werten zu Einstellungen und Verhalten: Werte bilden zusammen mit den kulturellen und situativen Einflüssen Voraussetzungen zur Bildung von Einstellungen und können so auch Verhalten vorhersagen. Nach Lewin (1982b) induzieren Werte sogenannte „Kraftfelder“. So versucht man nicht den Wert „Fairness“ zu erreichen, sondern dieser Wert lenkt das Verhalten einer Person. Werte entscheiden darüber, welche Handlungsweisen für eine Person in einer bestimmten Situation eine positive oder negative Valenz im Sinne von Wertigkeit bekommen. Werte lassen sich als „eine explizite oder implizite, für ein Individuum oder eine Gruppe charakteristische Konzeption des Wünschenswerten“ definieren, die die Auswahl unter verfügbaren Handlungsarten, -mitteln und Zielen beeinflusst (Kluckhohn, 1951, S. 395). Hofstede (1980, S. 19) hat diese Definition dahingehend vereinfacht, dass er von einer „broad tendency to prefer certain states of affairs over others“ spricht. Die Psychologie betrachtet Werte als einen Aspekt der Persönlichkeit, der Einstellungen und Verhalten zugrunde liegt und motiviert. Schwartz definiert Werte als situationsübergreifende, unterschiedlich wichtige Ziele, die als Leitprinzipien im Leben einer Person oder Gruppe dienen. Werte bilden ein zirkuläres Motivationskonhttps://doi.org/10.1515/9783110778410-004
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
Kultur
Werte
Einstellung
Verhalten
Situation
Abb. 8: Das Verhältnis von Werten und Einstellungen zum Verhalten.
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Abb. 9: Wertestruktur nach Schwartz (2012).
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tinuum, das ihre Konflikte und Kongruenz widerspiegelt und universell sein kann (Cieciuch, Schwartz & Davidov, 2015). Empirisch gut abgesichert und interkulturell gültig ist die Wertestruktur nach Schwartz (2012), der zufolge sich die basalen menschlichen Werte auf einem kreisförmigen Kontinuum anordnen lassen, wobei sich entgegengesetzte Werte gegenüberliegen. Die Eckpunkte dieses Kontinuums markieren zwei oppositionelle Wertpaare: Offenheit für Veränderungen vs. Konservativismus, und als zweite Dimension Selbstlosigkeit vs. Selbstbezogenheit (Abb. 9).
3.1 Individuelle Ebene
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Die Wertetheorie auf individueller Ebene hat zehn grundlegende, motivationsmäßig unterschiedliche Werte identifiziert, die Menschen in praktisch allen Kulturen implizit anerkennen und die für Populationen auf der ganzen Welt gelten: – Universalismus: z. B. Verständnis, Wertschätzung, Toleranz und Schutz für das Wohlergehen aller Menschen und für die Natur – Wohltätigkeit: z. B. Erhaltung und Förderung des Wohlergehens der Menschen, mit denen man häufig in persönlichem Kontakt steht – Tradition: z. B. Respekt, Engagement und Akzeptanz der Bräuche und Ideen, die die eigene Kultur oder Religion dem Einzelnen auferlegt – Konformität: z. B. Zurückhaltung von Handlungen, Neigungen und Impulsen, die andere verärgern oder schädigen und gegen soziale Erwartungen oder Normen verstoßen – Sicherheit: z. B. Harmonie und Stabilität der Gesellschaft, der Beziehungen und des Selbst – Macht: z. B. sozialer Status und Prestige, Kontrolle oder Dominanz über Menschen und Ressourcen – Leistung: z. B. persönlicher Erfolg durch die Demonstration von Kompetenz nach sozialen Normen – Hedonismus: z. B. Vergnügen und sinnliche Befriedigung für sich selbst – Stimulation: z. B. Aufregung, Neuartigkeit und Herausforderung im Leben – Selbststeuerung: z. B. unabhängiges Denken und Handeln (Schwartz, 1992) Besonders auffällig ist das Auftreten der gleichen zirkulären Struktur der Beziehungen zwischen den Werten in allen Ländern und bei allen Befragungsinstrumenten, die eingesetzt wurden. Überall stehen die Menschen im Konflikt zwischen dem Streben nach Offenheit für den Wandel von Werten oder der Erhaltung von Werten. Sie erleben auch einen Konflikt zwischen dem Streben nach Selbsttranszendenz oder Selbstverbesserung. Ebenso gibt es Konflikte zwischen bestimmten Werten (z. B. Macht vs. Universalismus, Tradition vs. Hedonismus). Für die beobachtete zirkuläre Struktur sind dynamische Prozesse verantwortlich. Ein erstaunliches Ergebnis der kulturübergreifenden Forschung ist das hohe Maß an Konsens über die relative Bedeutung der zehn Werte in den verschiedenen Gesellschaften. In der großen Mehrheit der untersuchten Nationen stehen die Werte Wohlwollen, Universalismus und Selbststeuerung an der Spitze der Hierarchie, während Macht, Tradition und Stimulanz am Ende der Hierarchie stehen. Werte sind ein wichtiger, besonders zentraler Bestandteil des Selbst und der Persönlichkeit und unterscheiden sich von Einstellungen, Überzeugungen, Normen und Merkmalen. Werte sind entscheidende Motivatoren für Verhaltensweisen und Einstellungen (Schwartz, 2012). Nach dem theoretischen Modell von Schwartz entwickeln Menschen auf der gesamten Welt Wertvorstellungen, die mit drei grundlegenden Problemen zu tun haben: dem Überleben als Individuum, der Koordination der sozialen Interaktion und dem Wohler-
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
gehen und Überleben von Gruppen. Schwartz sagt vorher, dass die Wertvorstellungen von Menschen in allen Kulturen in Bezug auf diese drei Bedürfnisse Cluster bilden. Allerdings variieren die Kulturen darin, wie stark in ihnen unterschiedliche Wertvorstellungen betont werden (Smith, 2014). Exkurs: Der Wertewandel Werte können sich auch im Zeitablauf verändern – dies zeigt der Wertewandel. Die Konstatierung eines Wertewandels bezog sich zunächst auf in repräsentativen, demoskopischen Umfragen feststellbare Veränderungen im Antwortverhalten der Bevölkerung auf Fragen nach z. B. Erziehungs- und Lebenszielen, nach der Bedeutsamkeit von Lebensbereichen und der Religion sowie Einstellungen zur Erwerbsarbeit. Der Soziologe Klages (1984) unterschied in seiner vergleichenden Analyse empirischer Arbeiten im deutschsprachigen Raum über den Wandel der Wertorientierungen in „Pflicht- und Akzeptanzwerte“, wie z. B. Disziplin und Gehorsam, und in „Selbstentfaltungswerte“, z. B. Autonomie des Einzelnen und Selbstverwirklichung. Bis in die Mitte der 1960er Jahre dominierten Pflicht- und Akzeptanzwerte, während es dann zu einem Anstieg der Selbstentfaltungswerte kam. Dieser Trend stagniert seit Ende der 1970er Jahre. Träger des Wertewandels waren die jungen, gebildeten Menschen in den Städten (von Rosenstiel et al., 1991). Solche Änderungen in den Werthaltungen der Bevölkerung können erheblichen Einfluss auch auf das wirtschaftliche Handeln haben: So befürchtete Noelle-Neumann (Noelle-Neumann & Strümpel, 1984), dass der Rückgang der Pflicht- und Akzeptanzwerte die Arbeitsmoral untergraben könnte. Strümpel (Noelle-Neumann & Strümpel, 1984) deutete den demoskopischen Befund jedoch anders: Für ihn war die stärkere Betonung der Selbstentfaltungswerte durch die jüngere Generation Ausdruck der Suche nach einer sinnerfüllten Arbeit und wies auf ein neues Arbeitsverständnis der jungen Generation hin (Noelle-Neumann & Strümpel, 1984). Die zentralen Ergebnisse des Wertewandels beinhalten zusammenfassend (von Rosenstiel et al., 1991): – eine Säkularisierung nahezu aller Lebensbereiche, – eine starke Betonung der eigenen Selbstentfaltung und des eigenen Lebensgenusses, – eine Befürwortung der Gleichheit zwischen den Geschlechtern, – eine höhere Bewertung der eigenen körperlichen Gesundheit, – eine Hochschätzung der natürlichen Umwelt, – eine Skepsis gegenüber tradierten Werten wie Leistung, Wirtschaftswachstum und technischem Fortschritt – sowie eine Ablösung der Sexualität von überkommenen Normen, – zudem sank die Bereitschaft zur Unterordnung ebenso wie die Bereitschaft, Arbeit als Pflicht anzusehen. Der Wertewandel macht sich auch im Bereich des Konsums bemerkbar: Bourdieu (1982) spricht von einem Ersatz der asketischen Moral durch eine neue Wirtschaftslogik bzw. eine hedonistische Konsummoral: So zeigt sich der ganze Gegensatz zwischen alt-
3.1 Individuelle Ebene
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und neumodisch „zwischen dem schmerbäuchigen, steifen Direktor und dem schlanken, gebräunten Cadre, der auf Cocktailpartys ebenso ungezwungen aufzutreten weiß wie im Umgang mit denen, die er seine ‚Sozialpartner‘ nennt“ (Bourdieu, 1982, S. 490). Bourdieu (1982) thematisiert diesen Wertewandel unter der Titelüberschrift „von der Pflicht zur Pflicht zum Genuss“: Die „Moral der Pflicht“ zog die Angst vor dem Genießen nach sich. Die moderne Moral hingegen verpflichtet zum Genuss und zerstört ihn damit. Inglehart (1989) konstatierte in seiner Studie zum internationalen Wertewandel aus 25 Nationen sowie auf Zeitreihendaten aus acht Nationen einen intergenerationellen Wertewandel. Demnach fand eine Abwendung von „materialistischen“ Werten (z. B. „Sicherheit“ und „Wohlstand“) – diese Werte wurden vor allem von der älteren Bevölkerung geteilt – zu einer Zuwendung zu „postmaterialistischen“ Werten (z. B. „Selbstentfaltung“, die vor allem von jüngeren Personen bevorzugt wurde) statt. Klein und Pötschke (2000) wiesen jedoch in einer Zeitreihenanalyse der Eurobarometerumfragen zu den Wertorientierungen der westdeutschen Bevölkerung nach, dass die Postmaterialisten von 1970–1997 nicht zugenommen haben, und konstatieren vielmehr eine Zunahme von „Mischtypen“, denen sowohl postmaterialistische als auch materialistische Werte wichtig sind. Die Wertestudie der Prognos AG (2020) konstatiert u. a. ein Nebeneinander von Werten und Orientierungsmustern in einer pluralistischen Gesellschaft. Werte haben im Leben der Menschen eine gewisse Konstanz, unterliegen aber auch einer Dynamik. Es zeigt sich ein durchgängiges Muster, wonach gesellschafts- und gemeinschaftsdienliche Werte auf der individuellen Ebene als wichtig erachtet werden, der Einzelne jedoch glaubt, dass sie der Gesellschaft als Ganzes nicht so wichtig sind. Zum Beispiel gute Freunde zu haben oder die Bedeutung der Familie schätzen die Befragten für sich hoch ein, sie glauben jedoch, dass diese Werte für die Gesellschaft von nicht so großer Bedeutung sind. Die Analysen zeigen auch, dass Merkmale sozialer Ungleichheit wie die soziale Schicht, Bildung und Einkommen als trennende Elemente wahrgenommen werden. So sind z. B. Personen mit niedrigerem sozialem Status mehr in Sorge über das Auseinanderdriften der sozialen Schichten. Insgesamt kann beobachtet werden, dass Werte wie Gehorsam und Opferbereitschaft an Bedeutung verlieren, während hedonistische Werthaltungen zunehmen. Für eine kritische Reflexion des Konzepts „Generation“ siehe auch Parry und Urwin (2011). Auf den Konsumbereich wirkt sich der Wertewandel dahingehend aus, dass eine stärkere Genuss- und Erlebnisorientierung vorherrscht (Fichter, 2018, S. 267).
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
3.1.2 Einstellungen Einstellungen bilden im Wirtschaftsverhalten eine entscheidende Rolle und besonders die Werbetreibenden versuchen auf unterschiedlichste Weise, auf sie Bezug zu nehmen (Kapitel 5.8.1). Einstellungen sind definiert als die Bereitschaft, auf einen Gegenstand wertend zu reagieren. Eine Einstellung besteht aus kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Komponenten. Dabei wird die Einstellung als Produkt aus diesen Komponenten aufgefasst, die sich im Verhalten niederschlagen können (Haddock & Maio, 2014). Die Erforschung von Einstellungen ist ein wichtiger Bereich der Sozialpsychologie. Als „Einstellungen“ bezeichnet man Bewertungen von Sachverhalten, Menschen, Gruppen und anderen Objekte der sozialen Welt. Einstellungen sind wichtig, weil sie die Art und Weise, wie die Welt wahrgenommen wird, und das Verhalten beeinflussen. Einstellungen tragen dazu bei, Verhalten vorherzusagen (Haddock & Maio, 2014). Einstellungen erfüllen verschiedene Funktionen: – Utilitaristische Funktion (utilitarian function): Einstellungen tragen dazu bei, Belohnungen zu maximieren und Kosten zu minimieren. – Einschätzungsfunktion (object appraisal function): Einstellungen dienen als energiesparende Hilfsmittel zur Einschätzung von Objekten. – Ich-Verteidigungsfunktion (ego-defensive function): Einstellungen tragen dazu bei, unser Selbstwertgefühl zu schützen. – Soziale Anpassungsfunktion (social adjustment function): Einstellungen tragen dazu bei, dass wir uns mit sympathischen anderen Menschen identifizieren. – Wertausdrucksfunktion (value-expressive function): Einstellungen tragen dazu bei, Wertvorstellungen zum Ausdruck zu bringen (Haddock & Maio, 2014). Sozialpsychologen entwickelten eine Reihe von Modellen, um zu erklären, wie sich Verhalten aus Einstellungen vorhersagen lässt (Haddock & Maio, 2014, S. 223 ff.). Die wichtigste Theorie über die Beziehung zwischen Einstellung und Verhalten ist die Theorie des überlegten Handelns (Fishbein & Ajzen, 1975), die dann in der Theorie des geplanten Verhaltens nach Ajzen und Madden (1986) weiterentwickelt wurde. In beiden Modellen geht es darum, Verhalten aus Verhaltensabsichten vorherzusagen (Haddock & Maio, 2014). Im Modell von Fishbein und Ajzen (1975) wird zur Erklärung des überlegten Handelns die subjektive Norm miteingefügt. Diese beinhaltet, dass eine für die Person wichtige andere Person dem beabsichtigten Verhalten zustimmt. Zum Beispiel legen die Freunde viel Wert auf demonstrativen Konsum. Ist diese Meinung der Freunde wichtig für die Betreffenden, werden sie sich eher zum Kauf entsprechender Waren entschließen. Im erweiterten Modell von Ajzen und Madden (1986) kommt dann noch die subjektiv wahrgenommene Verhaltenskontrolle hinzu. Diese bildet ab, als wie leicht durchführbar die tatsächliche Handlungsausführung angenommen wird. Diese Annahme kann das Verhalten direkt oder auch indirekt über die Absicht beeinflussen (Abb. 10).
3.1 Individuelle Ebene
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Einstellung gegenüber dem Verhalten
Subjektive Norm
Absicht
Verhalten
Subjektiv wahrgenommene Verhaltenskontrolle
Abb. 10: Theorie des geplanten Verhaltens nach Ajzen und Madden (1986) in Spieß (2005).
Aktuell ist die Verhaltenskontrolle als Moderator zwischen Einstellung, Normen und Vorsätzen konzeptualisiert, sie kann aber auch direkte Effekte auf die Absichten haben (Ajzen, 2020). Stroebe (2014) greift zwei Strategien zur Einstellungs- und Verhaltensänderung heraus: die Persuasion und den Einsatz von Anreizen (z. B. Besteuerung, gesetzliche Sanktionen). Unter Persuasion wird die Veränderung von Einstellungen durch soziale Einflussnahme im Rahmen von Kommunikationsakten verstanden. Diese Theorie wird besonders im Bereich der Werbung angewendet (Kapitel 5.8.1). Sowohl aus der Forschungs- als auch aus der Anwendungsperspektive ist hierbei von Bedeutung, ob sich die veränderte Einstellung auch in entsprechenden Verhaltensweisen niederschlägt. Persuasion soll letztlich konkret den Kauf eines Produkts, die Wahl einer Partei, die Bewerbung bei einer bestimmten Firma oder die Bereitstellung von Risikokapital bewirken (Spörrle et al., 2015). Anreize werden z. B. dazu eingesetzt, um Menschen dazu zu bewegen, dass sie Sicherheitsgurte anlegen oder das Rauchen aufgeben. Regierungen bedienen sich oft gesetzlicher Sanktionen oder der Besteuerung, um das Verhalten direkt zu beeinflussen, und verlassen sich nicht auf die ungewissen Auswirkungen der Persuasion. Diese Strategien sind durchaus wirksam, wenn man Einfluss auf das Verhalten nehmen will, aber es ist nicht so sicher, ob sie auch zur Einstellungsänderung führen (Stroebe, 2014). Einstellungen beeinflussen das Verhalten, doch ebenso können sich Einstellungen an das Verhalten anpassen. Dieser Aspekt wurde durch die Theorie der kognitiven Dissonanz von Leon Festinger (1957) berücksichtigt (vgl. auch Hinojosa et al., 2017). Die Theorie geht von kognitiven Elementen wie Gedanken, Vorstellungen, Meinungen, Einstellungen und Relationen zwischen diesen aus. Dabei wird in zwei Arten von Relationen unterschieden,
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
in konsonante und dissonante. Ein Beispiel für zwei dissonante Kognitionen wäre: „Ich rauche viel“ und „Rauchen ist sehr gesundheitsschädigend“. Diese beiden Kognitionen erzeugen die kognitive Dissonanz, d. h., die Person gerät in einen angespannten Zustand. In der Definition von Haddock und Maio (2014, S. 204) ist kognitive Dissonanz ein aversiver Zustand, der Individuen dazu motiviert, ihn abzubauen. Nach der Theorie von Festinger (1957) sind Menschen bestrebt, diesen Zustand zu vermeiden. Dann setzen Prozesse ein, die die Dissonanz beseitigen sollen (Strategien der Dissonanzreduktion): Es wird versucht, dissonante Relationen in konsonante zu verwandeln, oder es erfolgt eine Neuaufnahme kognitiver Elemente, sodass neue konsonante Relationen gebildet werden können. Die häufigste Dissonanzreduktion besteht darin, dass man die Kognition der Entscheidung anpasst. Die Theorie der kognitiven Dissonanz findet besonders in werbepsychologischen Kontexten Anwendung (vgl. Kapitel 5.8.1). Duale Verarbeitungstheorien spielen in der Sozialpsychologie eine große Rolle und werden besonders in der Konsumentenpsychologie aufgegriffen (Kapitel 5.8.1). Duale Verarbeitungstheorien beziehen sich auf den Unterschied zwischen automatischen und kontrollierten Prozessen. Ein automatischer Prozess tritt ohne Absicht, Aufwand oder Bewusstheit auf und stört andere, gleichzeitig ablaufende Prozesse nicht. Ein kontrollierter Prozess ist hingegen ein „absichtsgeleiteter Prozess, der der willentlichen Kontrolle des Individuums unterliegt, aufwendig ist und bewusst abläuft“ (Pendry, 2014, S. 109). Nach dem Prozessmodell der Elaborationswahrscheinlichkeit (ELM) von Petty und Cacioppo (1986) gibt es eine periphere Route der Kommunikation und eine zentrale Route der Kommunikation. Bei der peripheren Route werden Informationen eher oberflächlich verarbeitet, während bei der zentralen Route qualitativ hochwertige Argumente wichtig sind. Ziel dieses Modells ist die Erklärung von Einstellungsänderung. Die gelingt im Falle der zentralen Route, wenn Motivation, Kompetenz und die Argumente gut ausgearbeitet sind. Ist aber dann die Qualität der Argumente eher gering, erfolgt keine Einstellungsänderung. Eine Einstellungsänderung erfolgt über die peripheren Merkmale der Kommunikation, z. B. nonverbales Verhalten oder emotionale Reize, wenn kein Wert auf ausgearbeitete Argumente gelegt wird (Spieß, 2013). Kategorisierung ist die Tendenz, „Objekte (einschließlich Menschen) aufgrund gemeinsamer charakteristischer Merkmale in diskrete Gruppen einzuteilen“ (Pendry, 2014, S. 111). Kategorisierung führt zu einer Vereinfachung und verwandelt die Welt in einen geordneteren, besser vorhersagbaren und kontrollierbaren Ort. Eine Heuristik ist eine oft genutzte, nicht optimale Faustregel, die Menschen verwenden, um zu einem Urteil zu gelangen, und die in vielen Fällen effektiv ist, jedoch nicht in allen. Häufig wird gesagt, dass Stereotype als Heuristiken wirken (Pendry, 2014). Kognitive Heuristiken sind mentale Abkürzungen, die es ermöglichen, große Informationsmengen zu verarbeiten. Einige der wichtigen kognitiven Heuristiken sind die Repräsentativität (etwas aufgrund dessen beurteilen, wie gut es zu den Erwartungen darüber passt, wie es aussehen
3.1 Individuelle Ebene
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sollte), die Verfügbarkeit (etwas aufgrund dessen beurteilen, wie leicht einem die Information einfällt) und die Verankerung bzw. Anpassung (einen anfänglichen Startpunkt für ein Urteil erzeugen und versäumen, diesen Schätzwert in angemessener Weise zu korrigieren). Menschen verlassen sich auf solche Heuristiken, weil sie rasche und oft ausreichend gute Entscheidungen liefern und dadurch eine aufwendigere Verarbeitung vermieden wird (Pendry, 2014). Diese Mechanismen sind besonders beim Kaufen relevant (vgl. Kapitel 5.8.4). Ein Stereotyp ist „eine kognitive Struktur, die Wissen, Überzeugungen und Erwartungen über eine soziale Gruppe von Menschen enthält“ (Pendry, 2014, S. 111). Ein Vorurteil ist hingegen „eine Einstellung bzw. Orientierung gegenüber einer Gruppe (bzw. ihren Mitgliedern), die sie direkt oder indirekt abwertet, oft aus Eigeninteresse oder zum Nutzen der eigenen Gruppe“ (Spears & Tausch, 2014, S. 509). Ein Vorurteil kann auf unterschiedlichen Ebenen erklärt werden: auf der individuellen Ebene sowie auf der Gruppenebene. Auf der individuellen Ebene tragen Ansätze, die die Persönlichkeit und individuelle Unterschiede berücksichtigen, dazu bei, die Variation zwischen den Menschen in Bezug auf Ausmaß und Art von Vorurteilen zu erklären. Mit Erklärungen auf Gruppenebene lässt sich die soziale Natur von Vorurteilen gut erklären. Die Werbung bedient auch Vorurteile (vgl. Kapitel 5.8.1).
3.1.3 Denken, Lernen und Gedächtnis Das Denken umfasst alle mentalen Aktivitäten wie Verarbeiten, Verstehen, Erinnern und Kommunizieren. Die kognitive Psychologie befasst sich mit diesen mentalen Aktivitäten, z. B. wie Begriffe gebildet werden, Probleme gelöst oder Entscheidungen getroffen werden (Myers, 2014). Begriffe sind mentale Gruppierungen ähnlicher Gegenstände, Ereignisse oder Personen und werden in Hierarchien von Kategorien organisiert. In der Kognitionspsychologie werden häufig Reaktionszeiten – die Menge an Zeit, die Versuchspersonen benötigen, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen – untersucht. Kognitionspsychologinnen und -psychologen gehen davon aus, dass Menschen begrenzte Verarbeitungsressourcen haben, die auf verschiedene mentale Aufgaben verteilt werden müssen. Hinzu kommt die Unterscheidung in kontrollierte und automatische Prozesse, wobei die kontrollierten Prozesse Aufmerksamkeit benötigen (Gerrig & Zimbardo, 2008, S. 277 ff; Pendry, 2014). Gedächtnis wird als eine Form der Informationsverarbeitung gesehen. In der psychologischen Literatur (Gerrig & Zimbardo, 2008; Myers, 2014) ist das Speichermodell prominent, wonach es einen sensorischen Speicher, ein Kurzzeitgedächtnis, einen Arbeitsspeicher und einen Langzeitspeicher gibt. Die Organisation von Gedächtnisinhalten erfolgt über Kodierung und Abruf. Es stellt sich die Frage, wie Informationen ins Gedächtnis gelangen. Der Prozess vollzieht sich von der Wahrnehmung über die Enkodierung bzw. Kategorisierung, die Teilbestand des Gedächtnisses und organisierten Wissens wird. Zunächst müssen be-
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stimmte Reizereignisse wahrgenommen werden, die enkodiert und interpretiert werden. Der Prozess des Enkodierens ist bereits von dem im Gedächtnis gespeicherten Vorwissen beeinflusst. Sowohl die neu ins Gedächtnis übernommene Information als auch das bereits vorhandene Wissen bilden die Grundlage für die weiteren Schritte in der Informationsverarbeitung. Daraus werden dann Entscheidungen und Urteile abgeleitet (Pendry, 2014). Es erfolgt eine duale Kodierung, d. h., es wird bildhaft und/ oder sprachlich abgespeichert. Die beste Behaltensleistung erfolgt, wenn beide Codes gleichzeitig repräsentiert sind (Felser, 2015). Konkrete Begriffe bleiben ebenfalls sehr gut im Gedächtnis haften. Auch hierauf bezieht sich Werbung (Kapitel 5.8.1). Inwieweit Material im Gedächtnis verbleibt, ist auch für Werbetreibende eine wichtige Frage. Dies erfolgt z. B. durch die Verarbeitungstiefe und Kontextinformationen. Häufig werden in der Werbewirkungsforschung Verfahren des free-recall, des aided- oder cued-recall eingesetzt. Free-recall bedeutet, dass man sich frei an bestimmte Werbeinhalte erinnern kann. Aided-recall bedeutet „unterstütztes Erinnern“, d. h., es werden Hinweise gegeben. Ebenso häufig werden sogenannte Wiedererkennungstests verwendet, die bei wiedererkanntem Material der Rekognitionsheuristik bzw. Wiedererkennungsheuristik entsprechen und bei frei erinnertem Material der Verfügbarkeitsheuristik (Felser, 2015; vgl. Kapitel 5.8.1). Es gibt auch implizite Gedächtniseffekte, wobei die Verarbeitung einer Information leichter ist, wenn der Reiz bereits verarbeitet wurde. Der „Mere-Exposure-Effekt“ bedeutet die Zunahme an positiver Bewertung eines Objekts als Effekt von dessen wiederholter, unverstärkter Darbietung (Haddock & Maio, 2014, S. 202). Der „PrimacyRecency-Effekt“ besagt, dass zuerst dargebotene und zuletzt dargebotene Reize besser im Gedächtnis verbleiben (Spieß, 2013). Lernen ist ein Prozess, der zu stabilen Verhaltensänderungen führt und erfahrungsabhängig ist. Dieser Prozess lässt sich nicht direkt beobachten, sondern wird aus den Veränderungen von beobachtbarem Verhalten erschlossen (Gerrig & Zimbardo, 2008). Eine grundlegende Form des Lernens bildet die klassische Konditionierung, die auf den russischen Physiologen Pawlow zurückgeht. Danach lernt der Organismus, wenn zwei Reize miteinander verkoppelt werden. In den klassischen Experimenten wurde ein neutraler Reiz (CS, z. B. ein Glockenton) wiederholt mit einem unkonditionierten Stimulus (US, z. B. Nahrung) verbunden. Dies bewirkte, dass die Speichelsekretion bei Hunden auch bei dem Glockenton nach einer gewissen Zeit auftrat und somit eine ursprünglich rein reflexartige Reaktion (UR) zu einer gelernten Reaktion (CR) wird. Daraus wurden in der Psychologie fundamentale Lernprinzipien abgeleitet wie Reizgeneralisierung, das Lernen durch Verstärkung oder das Lernen am Modell (vgl. Kapitel 5.8.1). Eine Weiterentwicklung der klassischen Konditionierung erfolgte durch Skinner (1954), der zwischen reflexartigem respondentem Verhalten, das reizgesteuert ist, und operantem Verhalten unterscheidet, das von äußeren Reizen in der Auftretenswahrscheinlichkeit beeinflusst wird. Für dieses operante Verhalten werden systematisch die Beziehungen zwischen den vorausgehenden Reizen, dem beobachtbarem Verhal-
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ten und den unmittelbaren Verhaltensfolgen wie Belohnung und Bestrafung sowie deren Wahrscheinlichkeit (Verstärkerpläne) analysiert. Diese Lerngesetze fanden Eingang in die Verhaltenstherapie. Verhaltenskonsequenzen treten ein, wenn die entsprechende Reaktion gezeigt wurde, und haben so eine Verstärkerfunktion für das Verhalten. Eine weitere Lerntheorie ist das Lernen am Modell von Bandura, wonach durch das Beobachten des Verhaltens von Modellen und seiner Folgen Lernprozesse initiiert werden können. Der Beobachter wird stellvertretend durch die Wahrnehmung der Verhaltenskonsequenzen für die Modellperson verstärkt (Bierhoff & Herner, 2002). Beobachtungslernen heißt, dass Menschen durch Beobachtung eines Modells kognitive Fertigkeiten und Verhaltensmuster erwerben, die vorher noch nicht zum Verhaltensrepertoire gehörten. Auf klassische Konditionierungsprozesse sowie auf die Rolle der Verstärkung wird besonders in der Werbung zurückgegriffen (vgl. Kapitel 5.8.1). Emotionale Konditionierung bedeutet, dass z. B. Marken mit positiven Emotionen verbunden werden (Mattenklott, 2015). Die Wirkung von Influencerinnen und Influencern kann auch mit dem „Lernen am Modell“ erklärt werden, denn viele Influencerinnen und Influencer sind für ihre Follower Vorbilder (Lou & Yuan, 2019). Lernen spielt auch in der Arbeitswelt im Zuge des lebenslangen Lernens eine zunehmend wichtigere Rolle. Der stete Wandel in der Arbeitswelt, Flexibilisierung und Digitalisierung erfordern, dass Menschen ihr ganzes Leben lang lernen (Kauffeld, 2019). Das Konzept des „lebenslangen Lernens“ besagt, dass Lernen nicht mit der Schulbildung abgeschlossen ist, sondern ein das ganze Leben überdauernder Prozess der ständigen aktiven und lernenden Auseinandersetzung mit neuen Herausforderungen ist. Bisherige Qualifizierungsansätze haben die einzelnen Lernphasen in Kindergarten, Schule, Berufsausbildung und Arbeitsleben meist getrennt betrachtet. Dies genügt angesichts des kontinuierlichen Wandels in der Arbeitswelt nicht mehr (Große-Jäger et al., 2003). Die Bedeutung lebenslangen Lernens kann am Beispiel der Digitalisierung gezeigt werden (vgl. Kapitel 5.2).
3.1.4 Gefühle und Emotionen Emotionen werden in der Psychologie als komplexes Muster von Veränderungen definiert, das physiologische Erregung, Gefühle, kognitive Prozesse und Verhaltensweisen beinhaltet. Sie bilden eine Reaktion auf eine Situation, die als persönlich bedeutsam wahrgenommen wird (Zimbardo et al., 2015). Verwandte Konstrukte der Emotion sind Stimmung, Wohlbefinden, Affekt und Stress. Stimmungen gelten als schwächer und weniger variabel als Emotionen, länger andauernd und nicht klar auf einen Auslöser bezogen. Das Erkennen sowie der Ausdruck von Emotionen erfolgt über verschiedene Ebenen, z. B. durch Mimik, Stimme oder Körperbewegungen (Schmidt-Atzert, 1996; Brandstätter et al., 2018).
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Emotionen haben subjektiv erfahrbare und objektiv erfassbare Komponenten, die zielgerichtetes Verhalten begleiten bzw. fördern, das dem Organismus eine Anpassung an seine Lebensbedingungen ermöglicht (Brandstätter et al., 2018, S. 164). Emotionen umfassen physiologische Prozesse, das bewusst erlebte Gefühl und den Gefühlsausdruck, der sich im nonverbalen Verhaltenzeigt. Nicht alle Emotionen können eindeutig anhand der physiologischen Abläufe identifiziert werden, psychophysiologische Messungen zeigen nur den Grad der Aktivierung an, nicht aber die Qualität des Erlebens. Der Gefühlsausdruck wiederum unterliegt der sozialen Kontrolle (Nerdinger, 2001). Eine zentrale Frage in der psychologischen Forschung ist die nach der Universalität der Emotionen bzw. der kulturellen Einflüsse. Ekman (1994) bestätigte die schon von Darwin (1872) vermutete These, wonach die Spezies Mensch über ein universelles emotionales Ausdrucksrepertoire verfügt. Sieben Emotionen werden weltweit als gleich erkannt und ausgedrückt: – Fröhlichkeit – Überraschung – Wut – Ekel – Furcht – Traurigkeit – Verachtung Funktionen von Emotionen sind Motivation, das Richten des Verhaltens auf bestimmte Ziele, das Geben von Rückmeldung über die eigene Motivation und das Sich-Bewusstmachen innerer Konflikte (Zimbardo et al., 2015). In der Einschätzung der Auswirkungen von Emotionen gibt es zwei Lager: Zum einen werden Emotionen als nützlich und im Dienste der Anpassung der Einzelnen an ihre Umwelt, zum andern als störend und schädlich beurteilt. So konnte ein Zusammenhang zwischen Emotionen und dem Einschätzen von Risiken festgestellt werden: Bei negativem Befinden werden negative Ereignisse für wahrscheinlicher gehalten, bei guter Laune hingegen werden diese Ereignisse als weniger wahrscheinlich beurteilt. Diese Effekte kamen in unabhängigen Untersuchungen mit verschiedenen Methoden der Emotionsinduktion (z. B. durch Filme, Zeitungsausschnitte, Hypnose) zustande. Die Auswirkungen von Emotionen auf Entscheidungsprozesse sind hingegen nicht eindeutig (Schmidt-Atzert, 1996; Brandstätter et al., 2018). Emotionen haben eine wichtige Funktion bei Motivationsprozessen. Sie kommen ins Spiel, wenn Bedürfnisse entstehen oder wenn die Möglichkeit zu deren Befriedigung in Aussicht steht. Sie leiten die Bedürfnisbefriedigung ein und begleiten sie. „Motiviertes Verhalten ist letztlich darauf ausgerichtet, positive Emotionen zu erlangen und negative zu vermeiden“ (Brandstätter et al., 2018, S. 169). Emotionen haben auch kommunikative Funktionen. „Dabei kann nur jene Emotionskomponente die Funktion der Kommunikation erfüllen, die auch nach außen hin
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wahrnehmbar ist. Dies ist der Emotionsausdruck, der sich einerseits in der Gestik und Mimik niederschlägt und andererseits auch in der Stimme“ (Brandstätter et al., 2018, S. 171). Als Stimmungskongruenzeffekt bezeichnet man den Befund, dass „Gedächtnisinhalte, die hinsichtlich ihrer Valenz mit unseren momentanen Emotionen übereinstimmen, besser erinnert werden als Inhalte, die mit der momentanen Emotion nicht übereinstimmen, oder als neutrale Inhalte“ (Brandstätter et al., 2018, S. 176). Definition: „Emotionsregulation umfasst nach Gross (2002) diejenigen Prozesse, die es ermöglichen, Einfluss darauf auszuüben, welche Emotionen und wann Menschen diese haben, erleben und zum Ausdruck bringen“ (Brandstätter et al., 2018, S. 222).
Kultur- und Geschlechterunterschiede gilt es ebenso zu berücksichtigen und wurden häufig erforscht (Brandstätter et al., 2018). So beinhalten „Geschlechtsstereotype sozial geteiltes Wissen darüber, wie sich Frauen und Männer in Bezug auf eine bestimmte Domäne voneinander unterscheiden (deskriptive Normen) oder unterscheiden sollten (präskriptive Normen)“ (Brandstätter et al., 2018, S. 270). Emotionsregulation ist in der Arbeitswelt als eine mehr oder weniger implizite Arbeitsanforderung zu sehen. Im Falle des Scheiterns ist mit negativen Konsequenzen in der Form zu rechnen, dass z. B. die Karriere gefährdet ist. „Hochschild (1990) prägte in Zusammenhang mit der Emotionsregulation im Arbeitskontext den Begriff der Emotionsarbeit“ (Brandstätter et al., 2018, S. 226). Definition: Emotionsarbeit (emotional work) dient dem Herstellen eines sichtbaren Körper- und Gesichtsausdrucks in der beruflichen Tätigkeit und ist auf einen „situationsangemessenen Beitrag zum Gelingen des gemeinsamen Ziels“ gerichtet (Hochschild, 1990, S. 41).
Emotionen können im Arbeitsprozess selbst auftreten, denn die Tätigkeit an sich kann Spaß oder Freude machen. Csikszentmihalyi (1975) hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Flow“ geprägt. „Damit ist ein selbstvergessenes, freudiges Aufgehen in einer Tätigkeit gemeint. Dieses Gefühl sollte vor allem dann auftreten, wenn man von einer Aufgabe seinen Fähigkeiten entsprechend optimal gefordert wird und wenn man die Tätigkeit als sinnvoll erlebt (vgl. auch Kapitel 5.1.3). Ansonsten besteht die Gefahr, dass Angst, Stress oder Langeweile entstehen“ (Brandstätter et al., 2018, S. 278). Emotionen können sich auch auf das Arbeitsergebnis und die Folgen beziehen. Bei manchen Arbeitsprozessen sind Erfolg oder Misserfolg bereits während des Prozesses oder direkt am Ende des Prozesses ersichtlich. So werden „immer häufiger in Organisationen mit den Beschäftigten Zielvereinbarungen getroffen, die man erfüllen oder verfehlen kann. Dazu zählen auch der Lohn und die Anerkennung. Die mit dem Erfolg bzw. Misserfolg verbundenen Emotionen sind dann z. B. Stolz und Freude oder Ärger, Scham und Frustration, je nachdem, worauf man den Erfolg oder das Scheitern zurückführt“ (Brandstätter et al., 2018, S. 278). Emotionen entstehen ebenso in der sozialen Interaktion. Dies kann die Interaktion mit Vorgesetzten bzw. Untergebenen und Teammitgliedern, aber auch die Inter-
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aktion mit Kundschaft, Patientinnen und Patienten oder im Fall von Lehrpersonen mit Schülerinnen und Schülern sein. Bei der Interaktion entstehen Emotionen wie Freude und Zuneigung im positiven Falle oder Ärger, Wut, Enttäuschung oder Hass im negativen Falle. Teamarbeit, die naturgemäß mit Interaktion verbunden ist, birgt Potenzial für positive und negative Emotionen. Negative Emotionen können z. B. entstehen, wenn es Teammitglieder gibt, die unzuverlässig arbeiten oder sich nicht für das Teamergebnis verantwortlich fühlen (vgl. Kapitel 3.2.1). Extrem negative Emotionen, wie Hass, Neid und Verzweiflung, können im Zusammenhang mit Mobbing entstehen (Zapf, 1999). Letztendlich kann auch die Organisation als solche Emotionen hervorrufen. „Dabei spielen Faktoren wie Betriebsklima, Arbeitsbedingungen und das Ansehen der Organisation eine Rolle, aber auch Gerechtigkeit und Arbeitsplatzsicherheit“ (Brandstätter et al., 2018, S. 279). Anwendung in der Wirtschaftspsychologie findet die Berücksichtigung von Emotionen und Stimmungen besonders in der Erhebung subjektiver Einschätzung von wirtschaftlichen Entwicklungen (z. B. durch Konsumklimaindexe), um so Vorhersagen für Wirtschaftsentscheidungen zu treffen. Die einfache Befragung einer repräsentativen Stichprobe von Bundesbürgerinnen und -bürgern durch das Allensbacher Institut am Jahresende, ob man dem neuen Jahr hoffnungsfroh oder mit Ängsten entgegensieht, erwies sich als guter Prädiktor für das wirtschaftliche Wachstum im kommenden Jahr (Schmidt-Atzert, 1996; Brandstätter et al., 2018). Gefühle und Emotionen spielen im persönlichen Verkauf eine große Rolle (vgl. Kapitel 5.8.3), ebenso wie in der Werbung, wo sie gezielt eingesetzt werden (vgl. Kapitel 5.8.1). Bei Kaufentscheidungen beispielsweise geht es um die Vermeidung negativer Emotionen (Wolff & Moser, 2015). Gefühle und Emotionen sind jedoch auch für alle anderen Bereiche in der Wirtschaft wichtig: Sie beeinflussen z. B. das Verhalten an Börsen (Kapitel 5.9.4), Unternehmensfusionen (Kapitel 5.6) und Auslandsentsendungen (Kapitel 5.5.3). Gefühle und subjektive Empfindungen sind zunächst besonders von der Industriesoziologie als wichtige, jedoch oftmals vernachlässigte Bestandteile des Arbeitshandelns erkannt und im Konzept des „subjektiven Arbeitshandelns“ (Böhle, 1994) berücksichtigt worden. Ebenso spielen Emotionen in der Dienstleistungspsychologie (Nerdinger, 1994a) eine Rolle (Spieß & von Rosenstiel, 2010).
3.1.5 Aufmerksamkeit und Wahrnehmung Wenn man seine Aufmerksamkeit einem Gegenstand zuwendet, beginnt der kognitive Verarbeitungsprozess, sensorische Informationen werden in Wahrnehmungen umgewandelt. Es gibt verschiedene Theorien über die Aufmerksamkeit: So wird sie z. B. mit einem Filter verglichen, denn die auf uns einströmenden vielfältigen Informationen können nicht alle berücksichtigt werden. Bewusste Aufmerksamkeit wählt die wichtigsten Informationen aus und ignoriert das weniger Wichtige. Dieser Prozess
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wird auch durch zurückliegende Lernerfahrungen beeinflusst (Gerrig & Zimbardo, 2008). In klassischen psychologischen Experimenten (von Rosenstiel & Neumann, 2002) zeigte sich, dass hungrige Versuchspersonen in einem mehrdeutigen Reizmaterial häufiger Nahrungsmittel wahrnehmen als gesättigte Versuchspersonen. Ebenso sehen leistungsorientierte Versuchspersonen bei tachistoskopischen Versuchen, in denen Wörter sehr kurz dargeboten werden, vor allen Dingen solche Wörter, die mit Leistung verbunden sind. Das bedeutet, dass unsere Wahrnehmung sehr von den subjektiven Erwartungen abhängig ist. Je bedeutsamer etwas für die Einzelne bzw. den Einzelnen ist, desto eher wird es beachtet. Die menschliche Wahrnehmung ist somit eingebettet in den jeweiligen Lebens- und Erfahrungszusammenhang. Gerrig und Zimbardo (2008) stellen die Wahrnehmung in drei Stufen dar: Auf der Stufe der sensorischen Prozesse werden durch Stimulation der Sinnesrezeptoren neuronale Impulse erzeugt. Auf der nächsten Stufe erfolgt die „perzeptuelle Organisation“ der Eindrücke, d. h., es erfolgt eine Synthese dieser ersten sensorischen Eindrücke wie Farben oder Töne zu einem Perzept eines Objekts, das später wiedererkannt werden kann. Auf der dritten Stufe werden diesen Perzepten Bedeutungen zugeschrieben, es geht um die Identifikation und das Wiedererkennen. Dazu bedarf es höherer kognitiver Prozesse, worunter auch Erinnerungen und Wertsysteme fallen. Wird die perzeptuelle Repräsentation aus Informationen des sensorischen Inputs gewonnen, handelt es sich um eine „Bottom-up-Verarbeitung“. Wird hingegen die perzeptuelle Repräsentation durch Vorwissen und Erwartungen sowie andere mentale Prozesse beeinflusst, wird der Prozess als „Top-down-Verarbeitung“ bezeichnet. Die „Top-down -Verarbeitung“ beteiligt die Erfahrungen, die Motivation und den kulturellen Hintergrund an der Wahrnehmung (Gerrig & Zimbardo, 2008). In der Wahrnehmungspsychologie werden Sehen und Hören als „höhere Sinne“ bezeichnet, Riechen und Schmecken werden als „chemische Sinne“ eingeordnet, die taktile Wahrnehmung schreibt Schönhammer (2013) der Körperwahrnehmung zu. Doch wird auch die „Einheit der Sinne“ beschworen, indem von multisensorischer Wahrnehmung gesprochen wird (Schönhammer, 2013). Hören und Sehen gelten als „Distanzsinne“. Im Unterschied zu Riechen, Schmecken und Spüren stehen diese beiden Sinne für Freiheit und Intellekt (Schönhammer, 2013). Für den Philosophen Kant (1924) war dies die Rechtfertigung dafür, diese Sinne als „höhere“ zu bezeichnen. Ergebnisse der Konsumforschung zu Luftverbesserern aus dem Drogeriemarkt zeigten, dass diese überwiegend in Haushalten verbreitet sind, in denen geraucht, deftig gekocht und deren Bewohnende keine Hochschulreife nachweisen können (Raab, 2001). Für gebildete Personen riecht dies billig. So zeigen sich soziale und kulturelle Unterschiede auch auf der Wahrnehmungsebene (Schönhammer, 2013). „Geschmack haben“ steht z. B. für einen anspruchsvollen oder gehobenen Lebensstil (vgl. auch Bourdieu, 1982, 1984; Kapitel 2.5), der auch in einer bestimmten Esskultur seinen Ausdruck findet.
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Die Empfindungen von süß oder sauer werden in der Sinnesphysiologie traditionell als Geschmackssinn oder gustatorische Wahrnehmung beschrieben. Doch ist Schmecken auch multisensorisch, es schließt, am Beispiel von Aromen, das Riechen mit ein (Schönhammer, 2013). Die Farbwahrnehmung folgt nach den Ergebnissen der kulturvergleichenden Forschung universell ähnlichen Trends: Nach der grundlegenden Differenzierung von Farben, die als warm (für weiß, gelb und rot) oder als kalt (für schwarz, blau und grün) gelten, fächert sich die Benennung der Grundfarben weiter auf (Kay et al., 1997). Zur Wirkung von Buntheit, die ein besonderes Merkmal von Werbung ist, schreibt Schönhammer (2013, S. 162): Starke farbliche Kontraste gelten als Kennzeichen der Volkskunst. Gesättigte Farben werden bei Befragungen als besonders erregend bezeichnet. Bunten Objekten und Szenen wird seit je Lebendigkeit zugeschrieben, komplementär kommen in Totenkulten eher weiß und schwarz zum Zug. Augen sind von herausragender Bedeutung für das Sehen, weil sie [...] Akteure verraten und – dank ihrer eigenen Bewegung oder Ausrichtung – potentiell deren Absichten kenntlich machen. Der intentionalen Bedeutung des Blickens, die sich u. a. in der Rolle von Blickwendungen in der Interaktion mit anderen Akteuren zeigt, verdankt sich die Umschreibung der Augen als „Fenster zur Seele“ (dunkle, spiegelnde Sonnenbrillen sind in diesem fundamentalen Sinn asozial) (Schönhammer, 2013, S. 174).
Viele Lehrbücher der Konsumentenpsychologie beziehen sich auf gestaltpsychologische Gesetze, die sie in Werbung wiedererkennen (von Rosenstiel & Neumann, 2002; Moser, 2002). Nach der Gestaltpsychologie gilt „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ und „das Streben nach der guten Gestalt“ bzw. das Prägnanzprinzip (Felser, 2015; Müsseler & Rieger, 2017). Das Figur-Grund-Problem stellt sich in jedem Wahrnehmungsvorgang und bedeutet, dass bevor ein Objekt erkannt werden kann, es zunächst vom Hintergrund getrennt werden muss. Die Problematik wird an den sogenannten Kippbildern wie der Rubinʼschen Figur erläutert (man sieht entweder eine Vase vor schwarzem oder zwei Gesichter vor weißem Hintergrund). Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung wurden von den Vertretenden der Gestaltpsychologie untersucht. Gestaltprinzipen der Wahrnehmung sind demnach – das Gesetz der Gleichartigkeit, d. h., gleichartige Elemente werden bezüglich Form, Farbe, Helligkeit etc. gruppiert; – das Gesetz der Nähe, d. h., nahe Elemente werden gruppiert; – das Gesetz des gemeinsamen Schicksals, d. h., es werden in gleicher Richtung bewegte Elemente gruppiert; – das Gesetz der Voreinstellung, d. h., sind bereits Elemente nach einem bestimmten Prinzip organisiert, wird ein hinzukommendes Element nach dem gleichen Prinzip gruppiert; – das Gesetz der durchgehenden Linie, d. h., eine Linie wird stetig fortgesetzt; – das Gesetz der Geschlossenheit, d. h., Elemente, die eine geschlossene Figur ergeben, werden eher gruppiert.
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Allerdings sind die durch die Gestaltgesetze vorgegebenen Organisationsprinzipien nicht immer eindeutig (Müsseler & Rieger, 2017). Auch die sogenannte „Hypothesentheorie der Wahrnehmung“ spielt in der Konsumentenpsychologie eine große Rolle (von Rosenstiel & Neumann, 2002; Moser, 2002). Ihr zufolge ist die Wahrnehmung beeinflusst von den Erfahrungen, die Menschen gemacht haben und ihren Erwartungen. Nach einer klassischen Studie von Bruner und Goodman (1947) sollten Kinder die Größen von Münzen einschätzen; je ärmer die Kinder waren, umso größer schätzten sie die Münzen ein. Hypothesen wirken besonders intensiv auf die Wahrnehmung, wenn sie in der Vergangenheit häufig bestätigt wurden, sie sich in allgemeine Sinnstrukturen einbetten lassen, der Bedürfnisbefriedigung dienen, von sozialen Bezugsgruppen geteilt werden, es wenig konkurrierende Hypothesen und wenig Information über das Zielobjekt gibt (Moser, 2002). Gerade für die Wahrnehmung von Werbung ist die These der „unterschwelligen Wahrnehmung“ interessant. In diesem Zusammenhang wurde häufig die sogenannte Vicary-Studie zitiert. In dieser Studie erfolgte jeweils eine kurze Einblendung der Schriftzüge „Eat Popcorn“ und „Drink Coca Cola“ im Spielfilm, ohne dass sich die Versuchspersonen erinnern konnten. Dies führte zu einer Umsatzsteigerung. Das Problem der Studie liegt in der mangelhaften Dokumentation der Ergebnisse und dass diese nie repliziert wurden (Kirchler, 2011). Nach den Erkenntnissen der Psychophysik (Gerrig & Zimbardo, 2008; Myers, 2014) gibt es Wahrnehmungsschwellen, unterhalb derer Personen einen Stimulus nicht bemerken. Diese Informationsverarbeitung verläuft unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab, d. h, ein Stimulus wird verarbeitet, dessen Intensität unter der Bewusstseinsschwelle liegt.
3.1.6 Motivation und Handeln Motivation – das ist die Frage nach dem „Warum“ des menschlichen Verhaltens und Erlebens, die sich auch für die Wirtschaftspsychologie stellt. Zum Beispiel: Wieso werden bestimmte Produkte gekauft und andere nicht? Warum scheitern so viele Unternehmenszusammenschlüsse? Motivation weist auf Bewegung und Antrieb hin: Motivation bewegt zum Handeln, richtet auf Ziele hin und sichert einen längerfristigen Einsatz von Kräften. Richtung, Intensität und Dauer des Handelns werden durch Motivation beeinflusst. Motivation ist das gelungene Zusammenspiel von motivierter Person und motivierender Situation (Spieß & von Rosenstiel, 2010). Man kann zwar das Verhalten anderer Menschen beobachten, ihre Motive lassen sich aber nicht unmittelbar erkennen. Diese Motive kann man aus dem Verhalten lediglich erschließen. Von einem Motiv – Motiv und Bedürfnis werden in der Psychologie meist synonym gebraucht – ist dann die Rede, wenn nur ein Beweggrund herausgegriffen wird: z. B. Durst oder der Wunsch nach Anerkennung. Die körpernahen Motive
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werden als Mangel erlebt und drängen darauf, diesen Mangel zu beseitigen. Sie pendeln zwischen Mangelzustand und Sättigung. Sie werden auch als primäre Bedürfnisse bezeichnet, weil sie angeboren und biologisch notwendig sind. Die Art und Weise, wie sie befriedigt werden, hängt von der jeweiligen Situation und dem Kulturkreis ab. Die sekundären Bedürfnisse, wie z. B. das Leistungsmotiv, sind erlernt. Motive sind auf bestimmte Ziele gerichtet und lösen Handlungen aus, sie bringen also etwas in Bewegung. Es gibt eine sehr große Vielfalt von Motiven, weshalb Klassifikationssysteme entwickelt wurden, um die Vielzahl der Motive zu ordnen. Eine klassische Unterscheidung ist die in Defizit- und Wachstumsmotive (Nerdinger, 2019c). Defizitmotive zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Befriedigung durch Beseitigen eines Mangelzustands erfolgt. Bei den Wachstumsmotiven hingegen hat das Ziel keinen festgelegten Sollwert, sondern die Ziele werden ständig neu entworfen. Ein sehr bekanntes Klassifikationssystem ist die Bedürfnispyramide von Maslow (1954). Danach unterscheidet sich der Mensch grundsätzlich von allen anderen Lebewesen durch sein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und sein Streben nach Autonomie. Maslow ordnete die Motivgruppen hierarchisch (Abb. 11).
Selbstverwirklichung
Selbstachtung/Ichmotive Bindung
Defizitmotive
Sicherheit Biologische Bedürfnisse
Abb. 11: Die Maslowsche Bedürfnispyramide nach Nerdinger (2019c).
„Zur untersten Kategorie der Defizitmotive zählen basale physische Bedürfnisse wie Hunger oder Durst. In der nächsten Motivkategorie ist der Wunsch nach Sicherheit angesiedelt, gefolgt von den sozialen Motiven wie z. B. der Wunsch nach Kontakt. Es folgen Ich-Motive, wie z. B. das Bedürfnis nach Anerkennung und Status, sowie kognitive und ästhetische Bedürfnisse. Werden diese Motive nicht befriedigt, kann dies zu Krankheit führen: Wer Hunger hat, bekommt Mangelerscheinungen, wem Anerkennung versagt wird, bildet eine Neurose aus. Sind alle Defizitmotive befriedigt, kann auch das Wachstumsmotiv der Selbstverwirklichung gelebt werden“ (Spieß & von Rosenstiel, 2010, S. 27). Obwohl die Maslowʼsche Bedürfnispyramide wissenschaftlich umstritten ist – es fehlen zum einen beispielsweise empirische Belege und zum anderen hat die hierarchische Strukturierung der Bedürfnisse Kritik erfahren –, hat sie zu wertvollen Anregungen für die Arbeitswelt geführt. Nicht nur die Erfüllung der Grundmotive durch
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angemessene Entlohnung, Pausen und Urlaubsregelungen ist wichtig, sondern auch soziale Bedürfnisse nach Wertschätzung und Anerkennung oder das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung brauchen Beachtung. „So kann dem Wunsch nach Selbstverwirklichung durch das Schaffen interessanter Arbeitsinhalte entgegengekommen werden“ (Spieß & von Rosenstiel, 2010, S. 28). Die Self-Determination Theory (Selbstbestimmungstheorie SDT) ist eine empirisch fundierte Theorie der menschlichen Entwicklung und Motivation. Im Zentrum der Überlegungen stehen die Qualität eines motivierten Verhaltens und deren Folge für das Wohlbefinden und die Leistung der Menschen. Die Theorie befasst sich mit den psychologischen Grundbedürfnissen der Autonomie, der Kompetenz und der sozialen Bezogenheit. Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie werden als Grundlage für das Entstehen intrinsischer Motivation gesehen. Insgesamt ist die Entwicklung oder Aufrechterhaltung selbstbestimmter Motivation von diesen bedürfnisbezogenen Erlebnisqualitäten abhängig. Das heißt, nachhaltige, selbstbestimmte Motivation entsteht dann, wenn eine Handlung insgesamt als emotional befriedigend im Sinne der Grundbedürfnisse erlebt wird (Deci & Ryan, 2000). Eine weitere wichtige Theorie der Motivation, die besonders im Bereich der Wirtschaftspsychologie Anwendung fand, ist die VIE-Theorie von Vroom (1964), die in der Tradition der Erwartung-mal-Wert-Modelle steht. Dabei wurde das Motivziel formal bestimmt als subjektive Maximierung des Nutzens. Der Mensch wägt verschiedene Handlungsalternativen gegeneinander ab und wählt dann diejenige Alternative, bei der der Nutzen und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens des erwünschten Handlungsergebnisses maximal ist. Im Sinne der Nutzenmaximierung wird die Tätigkeit gewählt, die den Betroffenen wichtig ist. Ein hohes Anstrengungsniveau wird jedoch erst dann angestrebt, wenn das zu erwartende Ergebnis nicht nur eine hohe Bedeutung hat, sondern wenn zugleich auch die Wahrscheinlichkeit hoch eingestuft wird, dass die Anstrengung lohnt und das Ziel erreicht wird. So ist z. B. einem Mitarbeiter bzw. einer Mitarbeiterin das Produkt, das er bzw. sie herstellt, sehr wichtig. Doch erst wenn er bzw. sie sich sicher ist, dass das Produkt auch gekauft wird, wird er bzw. sie sich vermehrt anstrengen. Ziele spielen eine wichtige Rolle bei der Motivation, denn sie bringen Handlungen in Gang. Sie spielen besonders im Kontext von Mitarbeitendenführung eine wichtige Rolle (z. B. Nerdinger, 2019 f). Ziele sind langfristig ausgerichtet und verleihen dem Handeln Stabilität, Konsistenz und Sinn (Nerdinger, 2019c). Nach Forschungen von Locke und Latham (1990) sollten Ziele präzise und eindeutig formuliert sein. Ein vages Ziel wäre z. B. „Tun Sie Ihr Bestes!“, ein spezifisches Ziel: „Erstellen Sie einen Kostenplan bis nächsten Dienstag“. Schwierige und herausfordernde Ziele führen zu besseren Leistungen als mittlere oder leicht zu erreichende Ziele. Ziele sollen widerspruchsfrei sein und müssen von den Mitarbeitenden akzeptiert werden, nur so können sie eine motivierende Funktion haben (Nerdinger, 2019c). Kauffeld (2019) kritisiert an der Theorie der Zielsetzung, dass sie sich nur auf Leistungsziele bezieht. Lernziele werden nicht berücksichtigt, die aber auch wichtig sind. Es
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ist z. B. die Aufgabe von Führungskräften, Ziele nicht nur zu setzen und den Mitarbeitenden zu verdeutlichen, sondern, besser noch, sie gemeinsam mit den Mitarbeitenden festzulegen und zu vereinbaren. Wichtig ist für beide Seiten, dass sie von der Bedeutsamkeit des Zieles – z. B. den Kunden zufriedenzustellen – überzeugt sind. Eine längerfristige Bindung an ein Ziel erfolgt dadurch, dass Mitarbeitende auch überzeugt sind, das Ziel erreichen zu können. Ziele müssen daher repräsentativ für das Aufgabengebiet sein und mit dem Belohnungssystem übereinstimmen (Spieß & von Rosenstiel, 2010). Für die Motivation sind auch willentliche Prozesse wichtig, d. h., um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, müssen konkrete Handlungsschritte unternommen werden. Heckhausen (1989; Heckhausen & Heckhausen, 2018) hat hierfür ein idealtypisches Modell der Handlung entworfen, das deren Verlauf in vier Phasen einteilt (Abb. 12): In der ersten Phase geht es um Wünsche und das Abwägen, welcher Wunsch bzw. welche Handlungsalternative gewählt wird (Abwägephase). Ist dann eine Entscheidung getroffen worden, hat man – analog dem historischen Vorbild Julius Cäsars – nach Heckhausen den Rubikon überschritten und nach dieser Entscheidung gibt es kein Zurück mehr. Diese Phase mündet dann in die Intentionsbildung, d. h., man legt sich auf ein bestimmtes Ziel fest, das gegen andere Intentionen konsequent verfolgt wird (Planungsphase). Man fühlt sich nun verpflichtet, das gewählte Vorhaben auch zu realisieren. Das Ziel wird verbindlich. Darauf folgt die Phase des Handelns – das gewählte Ziel wird umgesetzt. In der letzten Phase wird das Ergebnis der Handlung bewertet und der Handlungszyklus beginnt von vorne (Brandstätter et al., 2018).
MOTIVATION
VOLITION
VOLITION
MOTIVATION
Prädezisional
präaktional
aktional
postaktional
WÄHLEN
ZIELSETZUNG
HANDELN
BEWERTEN
Abb. 12: Das Rubikonmodell der Handlungsphasen nach Heckhausen (1989) und Nerdinger (2019c).
Anwendungen fand dieses Modell auf wirtschaftspsychologische Fragestellungen z. B. für das Kaufverhalten: Produktwahrnehmung und die Lebenswerte formen die Motive einer Person, aber auch die situativen Einflüsse spielen eine Rolle. Daraus wird eine Produktpräferenz entwickelt. In der Abwägephase überlegt sich der Kunde die Vor- und Nachteile verschiedener Produkte. Ist der Rubikon überschritten, hat sich der Kunde für ein bestimmtes Produkt entschieden, das mit seinen Lebenswerten, z. B. Umweltfreundlichkeit, und seiner Situation übereinstimmt. In der Planungsphase bzw. in der Phase der Volition werden konkrete Handlungsschritte für den Kauf geplant und durchgeführt. Es erfolgt die „Aktion“, d. h., die Ware wird gekauft. Die Phase der Bewertung entspricht der „Nachentscheidungsphase“, in der der Kunde über seinen vollzogenen Kauf noch einmal nachdenkt (Spieß, 2013).
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3.1.7 Attribution In den verschiedensten Wirtschaftsprozessen stellen sich Fragen nach den Ursachen bzw. der Ursachenzuschreibung. Zum Beispiel: Liegt es an der Politik, dass der wirtschaftliche Aufschwung auf sich warten lässt? Sind die Manager/-innen unfähig, wenn ein Unternehmen Konkurs geht? Sind die Arbeitslosen selbst an ihrer Situation schuld? Dahinter steht häufig auch die Frage nach der Verantwortlichkeit für die jeweiligen Handlungen. Die kognitiv orientierte Attributionstheorie (Spieß & von Rosenstiel, 2010; Parkinson, 2014) geht davon aus, dass Menschen Verhalten beobachten und versuchen, dafür Ursachen zu finden. Es gibt acht Varianten der Attribution eines Verhaltens (Abb. 13): Wird das Verhalten internal, stabil und kontrollierbar attribuiert, wird die Fähigkeit einer Person als Ursache gesehen. Wird das Verhalten hingegen internal, variabel und kontrollierbar attribuiert, liegen die wahrgenommenen Ursachen in der mangelnden Anstrengung. Wird dieses Verhalten nicht kontrollierbar, stabil und internal attribuiert, wird der Erfolg auf die Begabung zurückgeführt, bei wahrgenommener Instabilität auf die Energie. Wird das Verhalten external, stabil und kontrollierbar attribuiert, werden die Ursachen in dauerhaften Ressourcen gesehen. Wird das Verhalten external, stabil und nicht kontrollierbar attribuiert, werden die Ursachen in der Schwierigkeit oder Leichtigkeit einer Aufgabe gesehen. Wird das Verhalten external, nichtkontrollierbar und variabel attribuiert, wird der Zufall als Ursache angenommen. Wenn das Verhalten hingegen external, kontrollierbar und variabel attribuiert wird, wird auf temporär verfügbare Ressourcen geschlossen (Weiner, 1972; Spieß & von Rosenstiel, 2010, S. 30). Mögliche Ursachen für Erfolg und Misserfolg Interne Ursache Stabil
Externe Ursache
Instabil
Stabil
Instabil
Kontrollierbar
Können (z. B. Wissen, Fertigkeit)
Anstrengung
Dauerhafte situative und soziale Ressourcen (z. B. soziale Kontakte, finanzielles Vermögen)
Temporär verfügbare situative und soziale Ressourcen (z. B. Rat, Unterstützung)
Nicht kontrollierbar
Begabung (z. B. Intelligenz)
Energie
Leichtigkeit bzw. Schwierigkeit der Aufgabe
Glück/Zufall
Abb. 13: Das klassische Kausalschema der Attribution nach Weiner (1972) und Spieß und von Rosenstiel (2010).
Die psychologische Forschung (Aronson et al., 2014) hat verschiedene Formen der Attributionsverzerrungen festgestellt. So gibt es eine allgemeine Vorliebe, wahrgenommene Ursachen auf die Person zu attribuieren. Personale und dispositionale Faktoren werden
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überschätzt, die Rolle der Situation hingegen wird unterschätzt (fundamentaler Attributionsfehler). Ebenso gibt es einen Attributionsunterschied zwischen Handelnden und Beobachtenden: Wer handelt, sieht die Ursachen für Fehlverhalten eher in der Situation, während Beobachtende von Handelnden die Ursachen in stabilen Persönlichkeitsmerkmalen vermuten. Diese verschiedenen Attributionsmuster spielen bei der Ursachenerklärung von Phänomenen in der Arbeitswelt wie beim Konsum eine Rolle. Wie eine Führungskraft z. B. das Verhalten ihrer Mitarbeitenden attribuiert, ob sie Fehlverhalten eher der Person oder der Situation zuschreibt, hat Konsequenzen für den Mitarbeitenden (Neuberger, 2002). Entsprechend ihrer Attribution wird die Führungskraft unterschiedliche Maßnahmen ergreifen: Sieht sie z. B. das Fehlverhalten in der Person des Mitarbeiters bzw. der Mitarbeiterin, könnten Weiterbildungsmaßnahmen ergriffen werden. Attribuiert die Führungskraft hingegen external, würde sie arbeitsgestalterische Maßnahmen initiieren. Führende selbst neigen in starkem Maße zu internaler Attribution (Spieß & von Rosenstiel, 2010).
3.1.8 Kompetenz Menschen brauchen neben entsprechenden beruflichen Qualifikationen zunehmend auch verschiedenste Kompetenzen, um ihr berufliches und privates Leben zu meistern. Dies entspricht einer Transformation von der Wissensgesellschaft in eine Kompetenzgesellschaft (Erpenbeck et al., 2017). Anders als bei der Frage nach der Qualifikation steht bei Kompetenzen die tatsächliche Handlungsfähigkeit im Vordergrund. Berufliche Handlungskompetenz wird definiert als „Integration kognitiver, emotionaler, motivationaler, volitiver und sozialer Aspekte menschlichen Handelns in der Arbeitssituation“ (Erpenbeck & Heyse, 1996, S. 19). Kompetenzen sind nur durch die Performanz, d. h. in der Anwendung und Handlungsausführung zu erklären. Erpenbeck et al. (2017) unterscheiden vier grundlegende Kompetenzklassen: – Fach- und Methodenkompetenz beinhaltet organisations-, prozess-, aufgaben- und arbeitsplatzspezifische berufliche Fertigkeiten und Kenntnisse. Wichtig ist dabei die Fähigkeit, dieses Wissen sinnorientiert einzuordnen und zu bewerten, Probleme zu erkennen und zu analysieren und Lösungen selbstständig zu entwickeln. Das bedeutet, in der Lage zu sein, Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen und über ein Methodeninventar zur Strukturierung und Operationalisierung von Problemstellungen zu verfügen. – Aktivitäts- und umsetzungsorientierte Kompetenz umfasst die Disposition zu einem aktiven und das Verfügen über Strategien zur Umsetzung des Wissens. Dies beinhaltet, dass das Handeln auf die Realisierung von Plänen und Absichten ausgerichtet wird.
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Sozial- und Kommunikationskompetenz umfasst das korrekte Einschätzen der eigenen Stärken und Schwächen, aktive und passive Kritikfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit sowie Empathie und Offenheit für Veränderungen. Sie beinhaltet auch die Fähigkeit, Handlungspläne gemeinsam zu entwickeln und durchzuführen sowie die eigene Tätigkeit mit anderen zu koordinieren. Personalkompetenz gilt als Disposition einer Person zu reflexivem und selbstorganisiertem Handeln, aktiver Gestaltung und Eigeninitiative, Selbstmanagement sowie das Annehmen von Herausforderungen und Eigenverantwortung.
Der Kernpunkt von Kompetenzentwicklung besteht in der Selbstorganisationsfähigkeit der Individuen. Die Lernresultate aus der Kompetenzentwicklung beziehen die Aneignung und Weiterentwicklung aufgabenbezogener beruflicher Fähigkeiten ebenso mit ein wie aufgabenunabhängige Fähigkeiten (z. B. kognitive Strategien) bis hin zu Einstellungen und Werthaltungen. Kompetenzentwicklung ist auch Teil der Persönlichkeitsentwicklung, wobei eine Wechselwirkung von Persönlichkeit und Arbeitstätigkeit existiert (Pietrzyk, 2001). Eine zentrale Voraussetzung für die berufliche Kompetenzentwicklung ist eine entsprechende Lernkultur im Unternehmen, der wiederum die Unternehmenskultur vorausgesetzt ist, die weiteren kulturellen und sozialen Einflüssen unterliegt (vgl. Kapitel 5.6.2). Kompetenz ist ein wichtiges Konstrukt geworden, auch wenn seine Definition an Genauigkeit noch zu wünschen übrig lässt. Für den wirtschaftspsychologischen Bereich wäre eine spezielle „Wirtschaftskompetenz“ zu entwickeln, die die Fähigkeit beinhaltet, in wirtschaftspsychologischen Kontexten effektiv zu handeln.
3.1.9 Entscheidungsprozesse Zahlreiche, vor allem ökonomische Entscheidungstheorien gehen von einem Menschenbild aus, wonach Menschen Entscheidungen rational kalkulierend vollziehen. Handlungsalternativen werden gesucht und bewertet, Kosten und Nutzen gegeneinander abgewogen und die am günstigsten erscheinende Handlungsoption wird gewählt (vgl. Kapitel 1). Entscheidungen sind Situationen, in denen eine Person zwischen mindestens zwei Optionen wählt (Jungermann et al., 1998). So interessiert beim Konsumentenverhalten die Wahl zwischen verschiedenen Produkten oder Dienstleistungen. In der deskriptiven Entscheidungsforschung, die in der Psychologie vorherrscht, wird hingegen das tatsächliche Verhalten der Menschen bei Entscheidungen untersucht. Demnach folgen menschliche Entscheidungen häufig ihrer eigenen „Psycho-Logik“ (Nerdinger, 2001). Menschliche Entscheidungen sind nicht nur von der Ratio geprägt, sondern vielfach spielen Emotionen, irrationale Wünsche und Ängste eine große Rolle. So gibt es impulsive Kaufentscheidungen, bei denen besonders die Gefühle handlungsleitend sind.
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Entscheidungen, die nicht der Regel entsprechen, wurden insbesondere von Tversky und Kahneman (1973) untersucht. Demnach hängt die Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen treffen, auch davon ab, mit welchen Entscheidungsalternativen sie konfrontiert werden. Entscheidungen sind Resultat eines aktiven Konstruktionsprozesses; es wird von einer „kontextabhängigen Entscheidungsstrategie“ gesprochen. Eine Asymmetrie zwischen Verlust- und Gewinnsituationen motiviert Menschen dazu, bei drohenden Verlusten risikoreiche Verhaltensalternativen zu wählen. Damit sollen die drohenden Verluste abgewendet werden. Bei der Aussicht auf einen Gewinn wird eher eine risikovermeidende Strategie benutzt (Bierbrauer, 1996). Zwei Phänomene, bei denen es zu einer Verhinderung einer „vernünftigen“ Entscheidung in Gruppen kommt, sollen stellvertretend für viele andere herausgegriffen werden: das „Risky-shift“- und das „Group-think“-Phänomen. Das Risky-shift-Phänomen – die Tendenz von Gruppen, riskantere Entscheidungen zu treffen als einzelne Individuen – wird inzwischen eher als Sonderfall angesehen, der eintritt, wenn Risikobereitschaft eine Gruppennorm ist. Gruppendenken (group think) – eine bei massivem Uniformitätsdruck auftretende Pseudogewissheit – bedeutet, dass hochkohäsive Gruppen unter einem großen Druck stehen und so dissonante Informationen, d. h. widersprüchliche Informationen, abwehren (Janis, 1982). Dieses Phänomen tritt besonders bei Entscheidungen unter Stress, bei ungeklärten Befugnissen und schlecht organisierten Entscheidungsregeln auf. Relevante Informationen werden verzerrt wahrgenommen. Die Folge können schwerwiegende Fehlurteile sein. Moser et al. (2000) haben den Einfluss von Expertentum auf das Ausmaß eskalierenden Commitments bei Entscheidungen untersucht. Das Konzept des „eskalierenden Commitments“ besagt, dass eine Neigung von Entscheidungstragenden besteht, an einmal getroffenen Entscheidungen, auch wenn sie sich als erfolglos erweisen, weiterhin festzuhalten. Eskalierendes Commitment wird als die erhöhte Bindung an verlustreiche Handlungen bzw. als Entrapment im Sinne von Festhalten an fehlgehenden Handlungen verstanden (Schulz-Hardt et al., 2015). Dafür lassen sich zahlreiche Beispiele aus dem Alltag wie auch aus Wirtschaft und Politik anführen: Zum Beispiel investieren Entscheidungstragende Millionenbeträge in Projekte, die sich als längst marode herausgestellt haben. Typisch ist, dass zu Beginn eine Investition getätigt wird, die sich mit der Erwartung verbindet, dadurch ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wenn dieses Ziel nicht erreicht wird, kann die Bindung an die Entscheidung eskalieren, d. h., man hält wider besseren Wissens weiterhin an dieser Investition fest. Häufig wollen die Entscheidungstragenden nicht zugeben, dass sie eine falsche Wahl getroffen haben und die Investition umsonst war. Es gibt Belege, dass eskalierendes Commitment besonders dann zu erwarten ist, wenn die Entscheidungstragenden für andere sehr deutlich für negative Konsequenzen verantwortlich sind oder wenn die Entscheidung öffentlich vertreten wurde (Schulz-Hardt et al., 2015; Sleesman et al., 2018; Sleesman et al., 2012).
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3.1.10 Selbst und Identität Das Selbst und Fragen nach der Identität sind für viele wirtschaftspsychologische Anwendungsfelder relevant: So wurde z. B. in der Arbeitslosenforschung festgestellt, dass ein längerer Prozess der Arbeitslosigkeit das Selbstwertgefühl schädigen kann (Kirchler, 2011). Geld kann die Funktion der „symbolischen Selbstergänzung“ übernehmen, d. h., es wird zum Ausdruck der eigenen Identität und der Schätzung des Selbstwerts. In der Konsumentenpsychologie müssen Verkaufende, wenn sie erfolgreich sein wollen, den Selbstwert des Kunden bzw. der Kundin berücksichtigen. Die Wahrnehmung und die Bewertung der eigenen Person steuert die Verarbeitung selbstbezogener Informationen (Schütz & Laux, 2000). Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist ein zentrales Merkmal von Menschen: Nur der Mensch kann sich selbst zum Objekt der Reflexion machen und verfügt über ein „Selbst“ (Schütz, 2003). Der Psychologe William James (1890) unterschied zwei Formen des Selbst: das Selbst als Subjekt der Betrachtung (Self as knower) und das Selbst als Objekt der Betrachtung (Self as known). Selbstkonzept und Selbstwertgefühl sind Bestandteile des Selbst als Objekt der Betrachtung – „Self as known“ – und beruhen auf den Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen des Subjekts der Betrachtung. Wie sich Menschen wahrnehmen und bewerten, wirkt sich auf ihr Erleben und Verhalten aus. Meist wird die positive Einstellung zur eigenen Person als wichtiger Teil psychischer Gesundheit verstanden. Das Selbstkonzept ist eher deskriptiv aufzufassen, während das Selbstwertgefühl eine evaluative Komponente des Selbst darstellt. Häufig wird das Selbstwertgefühl als zentraler Aspekt des Selbst bezeichnet. Die Bedeutsamkeit des Selbstwertgefühls wird z. B. deutlich, wenn eine Person von einer anderen Hilfe empfängt, denn der Erhalt von Hilfe kann den Selbstwert der Hilfeempfangenden bedrohen (Bierhoff, 1998). Das Selbst ist ein viel beforschtes Thema innerhalb der Psychologie (Schütz, 2003; Simon & Trötschel, 2007; Morf & Koole, 2014). Persönlichkeits- und sozialpsychologische Studien untersuchen besonders die intrapersonale Dynamik des Selbstwertgefühls, z. B. selbstwertdienliche Verzerrungen, die Verarbeitung selbstwertrelevanter Rückmeldungen oder die Reaktionen auf Erfolge oder Misserfolge. Als Quellen für den Selbstwert werden die Wahrnehmung der eigenen Leistung, soziale Vergleiche und Anerkennung durch Dritte genannt. Ein häufig ermittelter Befund ist, dass Personen mit einem hohen Selbstwertgefühl ihre Fähigkeiten auch höher bewerten als Personen mit einem niedrigen Selbstwert. Ebenso beruht deren Selbstwertgefühl auf einer stabileren Basis. Allerdings wird ein positiver Zusammenhang von Selbstwertgefühl und Sozialverträglichkeit angezweifelt: Personen mit hohem Selbstwertgefühl neigen auch dazu, bedrohliche Informationen zu negieren oder zu verdrängen. Mitunter werden diese Personen als arrogant und überheblich erlebt. In der Literatur wird berichtet, dass Personen mit hohem Selbstwertgefühl besonders resistent gegen Kritik sind und auch besonders defensiv auf Kritik reagieren. Hier wird von Schütz (2003) eine differenzielle Betrachtungsweise vorgeschlagen, wonach es
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
Personen mit einer stabilen Selbstakzeptanz gibt, die Kritik annehmen können, Menschen, die sich durch eine egozentrische Selbstaufwertung auszeichnen und dazu neigen, Kritik abzuwehren, und Menschen, die durch Kritik starke Selbstwertschwankungen erleben. Einerseits wird in der Literatur von einem positiven Sozialverhalten und großer Beliebtheit bei Personen mit hohem Selbstwertgefühl ausgegangen, andererseits werden mit diesen Personen auch sozial problematische Selbstdarstellungsstile verbunden. Ein hohes Selbstwertgefühl ist also nicht unbedingt positiv zu bewerten. Schütz (2003) schlägt vor, von Selbstbewertung oder Selbsteinschätzung statt von Selbstwertgefühl zu sprechen. Ein weiterer wichtiger Forschungsgegenstand ist die interpersonelle Dimension. Demnach wird das Selbst als ein „soziales Konstrukt“ verstanden. Das Selbstkonzept und das Selbstwertgefühl werden in Zusammenhang mit der vermuteten Wahrnehmung durch andere gesehen. Es wird untersucht welche Rolle externe, soziale Einflussfaktoren wie z. B. Lob und Kritik oder soziale Unterstützung auf das Selbstwertgefühl haben. Selbstdarstellung (Impression-Management) spielt besonders in wirtschaftsnahen Kontexten ebenfalls eine große Rolle, etwa bei Auswahlsituationen, im Rahmen eines Assessment Centers oder auch im Verhältnis von Mitarbeitenden und Führungskraft. Sie ist definiert als die absichtliche Steuerung des Eindrucks, den man auf jemanden machen will (Mummendey & Bolten, 1993; Mummendey, 1995). Es gibt verschiedene Arten der Selbstdarstellung: Sie kann aus kurzfristigen und situationsspezifischen Taktiken bestehen oder aber eine langfristig angelegte Strategie sein. Ebenso kann sie assertiv oder defensiv angelegt sein. Ein assertives Auftreten demonstriert Selbstbehauptung, z. B. Expertentum und Kompetenz, während mit defensiven Techniken ein zurückhaltender und bescheidener Eindruck vermittelt wird. Wiese (2008) gibt eine Übersicht zu personalpsychologisch relevanten Selbstmanagementansätzen, die sich sowohl auf das unmittelbare Arbeitshandeln als auch auf das berufsbiografisch relevante Handeln beziehen. Im Vordergrund stehen Fragen der Zielsetzung und der zur Zielerreichung benötigten Handlungsstrategien (inkl. volitionaler Steuerungskompetenzen). Aus berufsbiografischer Sicht kann es sinnvoll sein, einen umfassenderen Blick auf Fragen des Selbstmanagements zu werfen und dabei auch Ziele und Wünsche aus anderen Lebensbereichen mit einzubeziehen. Wer als sozial kompetent gilt, ist in der Lage, sich situationsangemessen zu verhalten. Im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen zeigt die/der sozial Kompetente z. B. Rücksichtnahme und Feingefühl. Beim Selbstmanagement geht es um eine adäquate Selbstund Fremdwahrnehmung, um Empathie, d. h. die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen und hineinfühlen zu können, um Zuhören-Können, Rhetorik, und insgesamt gut mit zwischenmenschlichen Kontakten und Situationen umgehen zu können. Die Frage nach dem Selbst kann auch auf die Identität bezogen werden: Die zentrale Frage des „Wer bin ich?“ stellt den populären Kernpunkt der Frage nach der Identität eines Menschen dar. Identitäten sind komplexe und spezifische Inhalte des Selbst (Hormuth & Otto, 1996). Das Selbstkonzept einer Person beinhaltet verschie-
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dene Identitäten, die unterschiedliche Lebensbereiche umfassen wie z. B. den eines guten Vaters oder einer guten Mutter (Familie), eines passionierten Bergsteigers (Freizeit) oder einer erfolgreichen Managerin (Beruf). Je nach subjektiver Bedeutung sind diese Identitäten für Einzelne unterschiedlich hierarchisch angeordnet, steht z. B. für die eine der Beruf an oberster Stelle, so hat für den anderen die Familie die höchste Priorität. Einerseits ist das Selbst ein Prozess, der ständigem Wandel ausgesetzt ist, und andererseits eine Struktur, die zeitlich stabil ist (Morf & Koole, 2014). Den motivationalen Aspekt von Identität thematisiert die Theorie der symbolischen Selbstergänzung von Wicklund und Gollwitzer (1982). Demnach sind Ziele, die Menschen verfolgen – z. B. einmal eine erfolgreiche Geschäftsperson werden zu wollen – auch Teilbestand von Identität. In der Sichtweise von Wicklund und Gollwitzer kann bereits die Vorgabe eines Symbols für dieses Ziel, z. B. ein Aktenkoffer, für das Selbstkonzept bedeutsam sein. Die Theorie der symbolischen Selbstergänzung knüpft an Kurt Lewin an. Nach Lewin entsteht durch jede Zielsetzung ein sogenanntes „Quasi-Bedürfnis“. Dieser zielgerichtete Spannungszustand hört erst auf, wenn das Ziel erreicht wurde oder man es nicht mehr erreichen will. Wenn das Ziel noch nicht erreicht wurde, kann man Ersatzziele als Symbole der Selbstdefinition zur Schau stellen. Personen, die sich ein selbstbezogenes Ziel gesetzt haben, versuchen, den Mangel an relevanten Symbolen durch das Zurschaustellen alternativer Symbole auszugleichen (sogenannte „selbstsymbolisierende Handlungen“ nach Wicklund & Gollwitzer, 1982). So statten sich manche Studierende der Betriebswirtschaftslehre schon früh mit den Insignien erfolgreicher Bankiers aus, auch wenn sie noch kein Examen abgelegt haben. Geld kann die Funktion der „symbolischen Selbstergänzung“ übernehmen, d. h., es wird zum Ausdruck der eigenen Identität und der Schätzung des Selbstwertes (vgl. Kapitel 5.9). Das Konzept der Identität ist ein gutes Beispiel für eine Überlappung zwischen individueller und interpersoneller Ebene. Man unterscheidet personale und soziale Identität, wobei die personale Identität alle individuellen Merkmale umfasst wie z. B. Interessen, während sich die soziale Identität über eine Gruppenmitgliedschaft definiert. Die „Social Identity Theorie“, die sich der Erklärung der sozialen Identität widmet (Tajfel & Turner, 1979), nimmt ihren Ausgangspunkt beim „minimal group paradigma“, wonach bereits die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, willkürlich gewählten Gruppe genügt, um die Mitglieder der eigenen Gruppe zu begünstigen. Soziale Identität ist „derjenige Bestandteil des Selbstkonzepts, der sich auf Gruppenmitgliedschaften ... sowie die mit diesen Mitgliedschaften verbundene soziale Bedeutung gründet“ (Spears & Tausch, 2014, S. 530). Soziale Identität gibt es in wechselnden Kontexten, z. B. ist eine Person sowohl Mitglied in einem Sportverein als auch in einer Partei. Ebenso wechseln diese Mitgliedschaften häufiger. Wenn sich Personen als Mitglied einer Gruppe definieren, entsteht eine Betonung der Ähnlichkeiten innerhalb der Gruppe und der Differenzen zu anderen Gruppen, die Kontraste zwischen der In- und der Outgroup verstärken sich (Turner & Haslam, 1999). Wenn die soziale Identität im Unterschied zur personalen
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hervorsticht, sehen sich die Menschen weniger als individuell unterscheidbare Personen, sondern vielmehr als ähnliche, prototypische Vertretende der Ingroup. Dies führt zu einer regelrechten Depersonalisierung des Selbst (Tajfel & Turner, 1979). Simon und Mummendey (1997) unterscheiden in Anlehnung an die Social-Identity -Theorie in individuelles und kollektives Selbst, wobei sie das individuelle Selbst im Sinne einer einzigartigen Selbst-Interpretation definieren, während das kollektive Selbst eher eine austauschbare, allen anderen Mitgliedern der Eigengruppe entsprechende Selbst-Interpretation ist. In dieser Sicht setzt die soziale Identität eine Erweiterung der Selbst-Interpretation voraus. Beide Formen der Identität – individuell wie kollektiv – werden jedoch sowohl ihrem Ursprung wie auch ihrem Inhalt nach als sozial gekennzeichnet. Sedikides et al. (2007) haben sich „mit Narzissmus und Konsumentenverhalten beschäftigt. Das Narzissmuskonstrukt beschreibt diese Personen als selbstbezogen, dominant und manipulativ. Das „Narcissistic Personality Inventory“ besteht aus sieben Subskalen: Autorität, Exhibitionismus, Selbstversorgung, Anspruchshaltung, Ausbeutung, Überlegenheit und Eitelkeit. Narzissmus korreliert leicht positiv mit Selbstwert. Sie stellen die Hypothese auf, dass narzisstische Menschen dazu neigen, besonders Produkte mit hohem Prestige – neu, teuer und exklusiv – zu kaufen, um so ihren Selbstwert zu erhöhen. Sie legen auch mehr Wert auf den symbolischen Konsum als auf die Nützlichkeit der Ware“ (Spieß, 2013, S. 56). Der Selbstwert bezeichnet die generell positive oder negative Bewertung des Selbst in unterschiedlicher Ausprägung. Der ideale Selbstwert ist durch einen hohen, aber sicheren Selbstwert charakterisiert und beinhaltet eine stabile positive Bewertung des Selbst und eine ganzheitliche Selbstakzeptanz. Aktuelle Forschung zeigt, dass er in optimaler Ausprägung mit positiven Konsequenzen wie persönlichem Erfolg und Wohlbefinden einhergeht. Auch ein hoch ausgeprägtes Selbstvertrauen, d. h. das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten, verschiedenste Handlungen effektiv auszuführen, wird in der psychologischen Forschung als Ressource angesehen. Konzeptionell gesehen sind sich Selbstvertrauen und Selbstwert sehr ähnlich und unterscheiden sich nur in einzelnen Facetten. Ein Zusammenhang besteht darin, dass ein hoher Selbstwert mit einem hohen Selbstvertrauen einhergeht. Beide Konstrukte können in ihrer optimalen Ausprägung als handlungsleitende Werte angesehen werden (Jünemann, 2016).
3.2 Interpersonelle Ebene Psychologisch relevante Konzepte auf der interpersonellen Ebene sind: Prozesse in und zwischen Gruppen, Kooperation und Konkurrenz, Konflikt und Mediation, Verhandeln, Kommunikation, Vertrauen, Macht und Fragen der Gerechtigkeit.
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3.2.1 Prozesse in und zwischen Gruppen Gruppenprozesse spielen in den verschiedensten wirtschaftspsychologischen Kontexten eine entscheidende Rolle: in Unternehmen, bei Gruppenarbeit, wenn sich organisierte Gruppen begegnen wie Unternehmensvertretende und Vertretende der Arbeitnehmenden, bei Fusionen von Unternehmen (vgl. Kapitel 5.6) oder in der Begegnung mit anderen Kulturen (vgl. Kapitel 5.5). Deshalb ist es sinnvoll, sich mit den Besonderheiten des menschlichen Verhaltens in Gruppen zu befassen. Es gibt eine Minimaldefinition von Gruppe: Eine Gruppe besteht aus zwei oder mehr Mitgliedern, die gemeinsame Ziele verfolgen und somit kooperieren und interagieren müssen. Eine Gruppe kann eine besondere Wirkung auf ihre Mitglieder haben und das Verhalten in Gruppen kann sich vom individuellen Verhalten durchaus unterscheiden. Häufig genannte Merkmale von Gruppe sind (Nerdinger, 2019b, S. 120): – „Eine Mehrzahl von Personen steht über einen längeren Zeitraum in direktem Kontakt. – Sie entwickeln Ansätze von Aufgabenteilung und Rollendifferenzierung. – Sie entwickeln gemeinsame Normen und ein „Wir-Gefühl“ (Kohäsion)“. Ein weiteres häufiges Kriterium ist, dass ein unmittelbarer Kontakt jedes Mitglieds mit jedem anderen möglich sein soll (Spieß & von Rosenstiel, 2010). Die Ergebnisse der sozialpsychologischen Forschungen haben Hinweise geliefert, wie Gruppenstrukturen und -prozesse das Verhalten ihrer Mitglieder beeinflussen. Tuckman (1965) hat ein häufig benutztes Modell der Gruppenentwicklung vorgestellt, das die Entwicklung gemäß den fünf Stufen „forming, storming, norming, performing, adjourning“ darstellt. In der ersten Phase des „Forming“ ist die Gruppenstruktur durch Unsicherheit, Verwirrung und Vorsicht gekennzeichnet. Die einzelnen Gruppenmitglieder fühlen sich vom Gruppenführer bzw. von der Gruppenführerin abhängig. Die Aufgabe der Gruppe in dieser Phase besteht darin, Aufgaben und Regeln festzulegen. „Storming“ beinhaltet Konflikt, Konfrontation und Kritik der Gruppenführenden. Es kommt teilweise auch zur Ablehnung der Aufgabenanforderungen. Das „Norming“ zeichnet sich durch die Entwicklung von Gruppenzusammenhalt, Gruppennormen und gegenseitiger Unterstützung aus. Es ist nun ein offener Austausch von Meinungen und Gefühlen möglich, jetzt kann Kooperation beginnen. Das „Performing“ bedeutet, dass die Gruppe ihre zwischenmenschlichen Probleme gelöst hat und ihre Aufgaben erfüllen kann. „Adjourning“ ist die Auflösungsphase, die Fragen der Bilanzierung des Arbeitsprozesses beinhaltet. In der Gruppenforschung wurden Motivationsgewinne und -verluste untersucht (Nerdinger, 2019b, S. 124 ff.; Torka et al., 2021). Motivationsgewinne durch bzw. Vorteile von Gruppenarbeit sind: – Partizipation: gemeinsame Entscheidungen steigern deren Akzeptanz – Lernen am Modell: von anderen lernen, gegenseitige Anregung
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
Social Facilitation (soziale Erleichterung): die Leistung steigt in Anwesenheit anderer Social compensation (soziale Kompensation): größere Anstrengung eines Mitglieds, um trotz schwacher Mitglieder ein gutes Gruppenergebnis zu erzielen Social Labouring: Identifikation mit der Gruppe führt zu einer höheren Anstrengung
Motivationsverluste durch bzw. Nachteile von Gruppenarbeit sind: – Groupthink (Gruppendenken): Team überschätzt sich, schottet sich ab, wird engstirnig; ein hoher Konformitätsdruck entsteht – Gruppenpolarisierung und Risky Shift: Teammitglieder können sich gegenseitig verstärken, radikalere Positionen zu beziehen oder höhere Risiken einzugehen – Social Loafing (Soziales Faulenzen): die individuelle Leistung in großen Gruppen nimmt ab (unbeabsichtigt) – Free Riding (Trittbrettfahren): absichtliche Reduktion der Einzelleistung in der Gruppe – Sucker effect (Trotteleffekt: „Ich bin doch nicht der Depp“): Reaktion auf Free Riding – Soziale Angst: diese hängt von der individuellen Disposition ab Ein wichtiger Forschungsbereich ist die Untersuchung der Beziehung der Gruppenmitglieder untereinander. Der Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe wird als Kohäsion bezeichnet. Gruppenkohäsion beruht auf Faktoren, die die Bindung an die Gruppe erhöhen. Positive Konsequenzen der Gruppenkohäsion in Unternehmen sind z. B. geringe Fehlzeiten. Die negativen Folgen von Gruppenkohäsion verweisen auf Prozesse der Konformität (Evans & Dion, 2012; Grossman et al., 2022). Treffen Gruppen aufeinander, so kann zwischen diesen eine eigene Dynamik entstehen. Das zeigen besonders drastisch Begegnungen zwischen Mitgliedern verschiedener Nationen und Ethnien. Ist die personale Identität einer Person durch ihre eigene Entwicklungsgeschichte und ihre persönliche Biografie bestimmt, so sind die Mitgliedschaft in einer Gruppe und das Zugehörigkeitsgefühl zu ihr Teil der sozialen Identität dieser Person (Spieß & von Rosenstiel, 2010). Soziale Identität kann auch als Prozess gesehen werden, der interpersonales Verhalten in Intergruppen-Verhalten verwandelt. Da die soziale Identität mit anderen Individuen geteilt wird, ist sie weniger statisch, sondern Teil eines konstruktiven und dynamischen Prozesses. Menschen wollen den Wert der Gruppe, der sie angehören, erhöhen, weil dies ihre soziale Identität beeinflusst und diese wiederum den Selbstwert (Harquail, 1998; Morf & Koole, 2014). Mitglieder einer Gruppe versuchen sich häufig gegenüber einer Außengruppe abzugrenzen, um ein positives Selbstbild zu bewahren. Dabei werden Vergleiche zwischen der eigenen und der fremden Gruppe gezogen. Allerdings vergleichen sich die Gruppenmitglieder nur mit Gruppen, die für sie eine persönliche Bedeutung haben bzw. ihnen als gleichwertig erscheinen (Tajfel, 1982). So vergleicht sich das Mitglied eines mittelständischen Unternehmens nicht unbedingt mit einem Großunternehmen
3.2 Interpersonelle Ebene
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hinsichtlich der Einführung neuer Bildungsmaßnahmen, sondern mit den Mitarbeitenden eines etwa gleich großen Unternehmens mit ähnlicher Problematik. Das Verhalten zwischen Gruppen kann sehr uniform werden – die Mitglieder der Außengruppe werden dann nicht mehr als individuelle Personen wahrgenommen, sondern ihnen werden einheitliche, stereotype Merkmale zugeschrieben, zum Beispiel: Alle Firmenangehörigen dieses Unternehmens sind arrogant. Dies geht bis hin zu der Tendenz, Mitglieder der Fremdgruppe zu diskriminieren, um das eigene Selbstwertgefühl zu stärken. Verhalten gegenüber Mitgliedern von Fremdgruppen kann insbesondere unter Wettbewerbsbedingungen feindselige Züge annehmen. Besonders Gruppen, die einen „Gewinner-Verlierer-Standpunkt“ einnehmen, neigen zu Aggressionen gegenüber Fremdgruppen (Brown, 2002).
3.2.2 Kooperation und Konkurrenz Kooperation und Konkurrenz sind für die Wirtschaftspsychologie zwei zentrale Konzepte, die einerseits als gegensätzliche Verhaltensweisen aufgefasst werden, andererseits aber durchaus auch vereinbar sind. Kooperation wird als Form gesellschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Personen, Gruppen oder Institutionen bzw. als soziale Interaktion aufgefasst (Argyle, 1991). Kooperation zeichnet sich durch bewusstes und planvolles Herangehen bei der Zusammenarbeit sowie durch Prozesse der gegenseitigen Abstimmung aus (Piepenburg, 1991). Von den Partnern der Kooperation werden die öffentlich anerkannten Regeln und Verfahren akzeptiert. Kooperation setzt zudem faire Bedingungen der Zusammenarbeit voraus (Rawls, 1993). Dies beinhaltet den Grundgedanken von Gegenseitigkeit bzw. Reziprozität. Kooperation gilt somit auch als eine sozialethische Norm, als Strukturprinzip von Gruppen und Organisationen sowie als Verhalten bzw. Interaktionsform und spielt besonders für jede Form menschlicher Zusammenarbeit, wie sie in Unternehmen organisiert ist, eine große Rolle (Korsgaard et al., 1997; Spieß, 1998, 2015). Kooperation wird als die Tendenz beschrieben, positive Handlungsergebnisse für sich und andere zu erreichen, während wettbewerbsorientiertes Verhalten den eigenen Handlungsergebnissen ein positives und denen der anderen ein negatives Gewicht zuschreibt. Die Sorge um künftige Konsequenzen im Sinne eines nachhaltigen Denkens ist ebenso Teilbestand kooperativen Handelns (Van Lange & de Dreu, 2002). Kooperation gilt häufig auch als das Gegenbild zur Konkurrenz, die von Wirtschaftsvertretenden als Motor der Wirtschaft gesehen wird, von Psychologinnen und Psychologen häufig jedoch auch in ihren negativen Wirkungen thematisiert wird. Kooperation und Konkurrenz wurden experimentell vorwiegend innerhalb der Sozialpsychologie untersucht (Bierhoff, 1998; Frank & Frey, 2002). Dabei wird auf eine häufig untersuchte experimentelle Spielsituation, das Gefangenendilemma, zurückge-
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griffen. Jede teilnehmende Person hat zwei Alternativen: Sie kann entweder mit der anderen Person kooperieren oder sich auf deren Kosten durchsetzen (kompetitives Verhalten). Es sind dies sogenannte „mixed-motives“-Spiele, weil sowohl eine kooperative als auch eine nicht kooperative Strategie möglich ist (Bierbrauer, 1996; Bierhoff, 1998). Dem Gefangenendilemma liegt folgendes Beispiel zugrunde: Zwei Verdächtige werden verhaftet und getrennt verhört. Der Anwalt ist sich sicher, dass sie schuldig sind, es fehlen aber Beweise. Jeder Gefangene bekommt mitgeteilt, dass es für ihn zwei Alternativen gibt: das Verbrechen zu gestehen oder nicht. Wenn beide Gefangenen nicht gestehen, werden sie wegen geringer Vergehen bestraft. Gestehen beide, werden beide verurteilt, aber es wird keine Höchststrafe geben. Gesteht einer und der andere nicht, erhält derjenige, der nicht gesteht, die Höchststrafe, und der Geständige wird leicht bestraft. Das Leugnen gilt im Spiel als die kooperative Wahl: Man verzichtet auf den größtmöglichen Gewinn und für beide Partner gibt es ein besseres Ergebnis. Dies setzt aber Vertrauen in den Partner voraus. In den zahlreichen Experimenten dazu – es gibt vielfache Varianten des Dilemmas, in denen nicht Gefängnisjahre, sondern Chips oder Geld „ausgezahlt“ werden – haben die Teilnehmenden solcher Spiele eine Tendenz, auch dann nicht zu kooperieren, wenn Kooperation für beide Partner günstiger wäre (Bierhoff, 1998). Für das Gelingen von Kooperation bedarf es Möglichkeiten der Zielabstimmung und des Informationsaustauschs, wechselseitiger Kommunikation und gegenseitiger Unterstützung, konstruktiver Problemdiskussionen und einer längeren Zeitperspektive, in der die Form der Kooperation erprobt wird und sich das Vertrauen in den jeweiligen Kooperationspartner entwickeln kann. Eine kooperative Situation setzt zudem ein gewisses Maß an Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der beteiligten Partner voraus. Die relative Autonomie der Akteure ist bedeutsam (Spieß, 1998; Tjosvold, 1988). Die Psychologie definiert Konkurrenz bzw. Wettbewerb als das Streben, andere zu übertreffen. Sie hält als Positivum fest, dass dies Menschen zu hoher Leistung anspornt. Andererseits beinhaltet sie auch ein Gefahrenpotenzial, in dem Kooperation und Altruismus verhindert werden. Wettbewerbsorientiertes Verhalten neigt dazu, in bestimmten Situationen zu eskalieren, während kooperatives Verhalten mitunter als Schwäche ausgelegt wird (Van de Vliert, 1999). Die psychologischen Wirkungen von kooperativem und konkurrierendem Verhalten sind sehr unterschiedlich: Der amerikanische Psychologe Morton Deutsch (1949, 2011) hat in seinen klassischen Experimenten zum Thema Kooperation und Konkurrenz durch die Vorgabe von verschiedenen Aufgaben nachgewiesen, dass die Versuchspersonen in kooperativen Situationen, die durch Gruppenarbeit gekennzeichnet waren, die Aufgaben wie z. B. die Lösung eines Puzzles oder das Ausarbeiten einer Empfehlung besser bearbeiteten als in konkurrenzorientierten Situationen, in denen jeder auf sich alleine gestellt war. Unter der kooperativen Versuchsbedingung erwiesen sich die Teilnehmenden des Experiments wechselseitig mehr Aufmerksamkeit, ko-
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ordinierten sich besser, akzeptierten die Ideen der anderen und kommunizierten untereinander effektiver. Insgesamt war die Arbeitsatmosphäre freundlicher als unter der Bedingung der Konkurrenz. Hier neigten die Versuchspersonen dazu, die Person und die Arbeit anderer abzuwerten. Dies führte dann auch zu einer negativen Stimmung bei den einzelnen Personen. Eine wesentliche Funktion von Kooperation besteht somit in der Erzeugung positiver Gefühle. Erfolgreiche Kooperation führt zu Anziehung zwischen denjenigen, die miteinander kooperieren, die Gruppenmitglieder schätzen sich wechselseitig, ermutigen sich gegenseitig und gewähren sich Hilfe (Tjosvold, 1988; Lu & Argyle, 1991). Kooperation und Konkurrenz müssen jedoch nicht zwingend als Gegenpole, die sich ausschließen, aufgefasst werden. Unter bestimmten Bedingungen können sie sich auch sinnvoll ergänzen. Untersucht man auf der individuellen Ebene Zusammenarbeit und Konkurrenz in Form von Konfliktstilen und setzt Problemlösen mit Kooperation und Kämpfen mit Konkurrenz gleich, dann zeigen experimentelle Studien, dass beide Verhaltensweisen gemeinsam auftreten können und dann sogar sehr effektiv sind. Es wird vorgeschlagen, diese Interaktion zwischen Kooperation und Konkurrenz bzw. dass beides Komponenten eines Verhaltens sein können, stärker zu berücksichtigen (Van de Vliert, 1999). Literatur zu „Coopetition“ lenkt die Aufmerksamkeit auf das Phänomen des gleichzeitigen Wettbewerbs und der Kooperation, wobei das Zusammenspiel zwischen den beiden noch zu wenig erforscht ist (Gnyawali & Ryan Charleton, 2018; Hoffmann et al., 2018). In den zahlreichen sozialpsychologischen Studien zu kooperativem und kompetitivem Verhalten werden fünf zentrale Einstellungen untersucht: 1. die individualistische Einstellung, die z. B. bei Gewinnaufteilungsaufgaben vor allem den eigenen Vorteil maximiert 2. eine Wettbewerbsorientierung, die den anderen übertreffen möchte 3. die kooperative Orientierung, die an den eigenen und an den Gewinnen des Partners orientiert ist 4. die altruistische Orientierung, die das eigene Handeln vor allem am Wohlergehen des Partners ausrichtet 5. das Streben nach Gleichheit der Belohnungen (Bierhoff & Müller, 1993; Spieß, 2015) Für diese Einstellungen gibt es auch sogenannte Mischtypen, z. B. koexistieren häufig eine individualistische und eine Wettbewerbsorientierung. In Zweiergruppen dominieren im Verlauf einer experimentell erzeugten Interaktion mit kooperativen Personen die wettbewerbsorientierten Personen, d. h., kooperative Personen schwenken auf Wettbewerbsverhalten um, um sich vor Verlusten zu schützen. Kooperative Personen zeigen somit eine höhere Verhaltensflexibilität, denn sie sind in der Lage, sowohl kooperativ als auch wettbewerbsorientiert zu handeln, während wettbewerbsorientierte Personen aufgrund der reziproken Reaktion ihrer Partner den Schluss ziehen,
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
dass alle Menschen wettbewerbsorientiert sind (Van Lange & de Dreu, 2002; Spieß, 2007, 2015). Besonders von sozialen Werten wird nun angenommen, dass sie kooperatives Verhalten mitbeeinflussen (Korsgaard et al., 1997). Diese Werte enthalten kollektive Moral, soziales Interesse und soziale Verantwortung, prosoziale Orientierung und die Sorge um andere. Auch das kulturelle Umfeld spielt für Kooperation und Konkurrenz eine entscheidende Rolle. Chen et al. (1998) haben ein kulturelles Modell der Kooperation entworfen. Demnach beeinflussen kulturelle Werte das kooperative Verhalten entweder direkt oder über die Beziehungen zwischen den Zielen. Je nach kultureller Prägung gibt es auch Unterschiede im Hinblick auf das kooperative und kompetitive Verhalten: In individualistischen Kulturen wie z. B. Großbritannien konkurrieren Individuen eher miteinander und versuchen sich gegenseitig zu übertreffen, in kollektivistischen Kulturen wie z. B. China findet die Konkurrenz zwischen Gruppen statt, während der Einzelne sich stärker in der Gruppe unterordnet (Triandis, 1989; Van Lange & de Dreu, 2002).
3.2.3 Konflikt und Konfliktlösung Konflikte sind gerade in Wirtschaftskontexten nahezu alltäglich: Es gibt Streit zwischen den Tarifpartnern, die Wirtschaftsverbände boykottieren steuerliche Maßnahmen oder nach einer Fusion entbrennt ein Konflikt zwischen den im Unternehmen neu geschaffenen Abteilungen. Konflikte werden in der Psychologie als Spannungssituationen bezeichnet, in denen zwei oder mehrere Parteien, die voneinander abhängig sind, versuchen, scheinbar oder tatsächlich unvereinbare Handlungspläne bzw. inkompatible Handlungen bzw. Handlungstendenzen zu verwirklichen (Glasl, 2013; Thomas, 1992). Lewin (1963) ging von der Annahme aus, dass in einer Konfliktsituation Kräfte auf eine Person einwirken, die von etwa gleicher Stärke sind, jedoch in entgegengesetzter Richtung ziehen. Konfliktursachen können in der Person liegen, wie z. B. in einem ausgeprägten Machtmotiv, sie können auf der interpersonalen Ebene liegen, z. B. in fehlender Anerkennung (Delhees, 1994) oder sie liegen in der Struktur, z. B. in ungerechter Güterverteilung in Gesellschaften. Konflikte können zunächst unbemerkt entstehen (latenter Konflikt). In einer qualitativen Studie über konfliktreiche Beziehungen zwischen Handelsvertretenden und durch sie vertretene Unternehmen zeigte sich, dass sich anhand bestimmter Signale Konflikte mitunter schon frühzeitig erkennen lassen, wie z. B. zunehmendes Misstrauen, häufige Abwesenheiten, spitze Bemerkungen etc. Die Bedeutung der bereits frühzeitig auftretenden, meist subtilen Differenzen wurde vielen Befragten erst im Nachhinein klar (Spieß et al., 1996). Bei der Konfliktwahrnehmung kann es zu verschiedenen Verzerrungen kommen. Der Konflikt wird z. B. unter- oder überschätzt.
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3.2 Interpersonelle Ebene
Konflikte entwickeln zudem häufig eine eigene Dynamik. Eskalation bzw. Deeskalation ist ein Weg, um Veränderungen im Grad oder in der Intensität eines Konfliktes zu beschreiben. Eskalation beinhaltet wachsende Feindseligkeit, Konkurrenz, extreme Forderungen und Zwangstaktiken. Glasl (2013) hat idealtypisch die Stufen einer Eskalation beschrieben: Es gibt drei Hauptphasen der Eskalation, die wiederum jeweils in drei Unterphasen unterteilt sind. Es wird angenommen, dass Konflikte von einer Stufe zur nächsten eskalieren. Wenn eine Hauptphase überschritten ist, wird eine zusätzliche Dynamik entwickelt, die es zunehmend schwierig macht, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Die ersten Stufen der Eskalation sind durch stetig vereinfachende Definitionen des Konflikts gekennzeichnet. – Phase I (win-win) umfasst Rationalität und Kontrolle; Stufe 1: Versuche zu kooperieren; Stufe 2: Polarisation; Stufe 3: Interaktion anhand von Taten. – Phase II (win-lose) personalisiert die andere Partei, es gibt stereotypes SchwarzWeiß-Denken; Stufe 4: Sorge um den Ruf und Koalitionen; Stufe 5: Gesichtsverlust; Stufe 6: Überwiegen von Drohstrategien. – In Phase III (lose-lose) gehen beide Konfliktparteien auf ihr Ende zu, es herrscht Aggression und Destruktion vor; Stufe 7: systematische und destruktive Kampagnen; Stufe 8: Angriffe auf die Machtzentren des Feindes; Stufe 9: totale Destruktion und Selbstmord.
Eskalationsstufen: „win-win“ 1
2
„win-lose“ 3
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„lose-lose“ 6
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Moderation Prozessbegleitung sozio-therap. Prozessbegleitung Vermittlung Schiedsverfahren Machteingriff
Moderation
Mediation
Abb. 14: Eskalationsstufen eines Konflikts nach Glasl (2013).
übergeordnete Instanz
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
Für die Stufen der Eskalation werden verschiedene Interventionsstrategien vorgeschlagen (Abb. 14), beginnend mit Moderation, über Prozessberatung, soziotherapeutische Prozessberatung, Mediation, Schlichtung und Machtintervention. Prozessberatung und soziotherapeutische Beratung gehen am stärksten auf negative Gefühle, Stereotype und andere psychische Barrieren ein, die Vertrauen verhindern. Diese Strategien benötigen spezielle therapeutische Fähigkeiten (Glasl, 2013). Bei der Konfliktbewältigung geht es um das Beenden des manifesten Zustands von Konflikten. Es gibt drei Grundstrategien: Gewinn-Verlust-, Verlust-Verlust- und Gewinn-Gewinn-Strategie. – Für die Gewinn-Verlust-Strategie ist typisch, dass eine Partei gewinnt, die andere verliert. Eine Person kann nur auf Kosten der anderen Person gewinnen, Gewinne und Verluste verschiedener Teilnehmender addieren sich zu Null. Die wichtigsten Methoden sind Autoritätsausübung, Machtanwendung, Indifferenz und Mehrheitsentscheid. So kann eine Führungskraft durch ihre Autorität, die sie aufgrund ihrer Machtposition ausübt, eine Entscheidung durchsetzen. Wo Autorität oder Macht eingesetzt werden, herrschen Individualentscheide vor, während Mehrheitsbeschlüsse Gruppenentscheide sind. Sowohl Individuen als auch Gruppen können die Nichtbeachtung des Konfliktes als eine Form der Bewältigung wählen. – Bei der Verlust-Verlust-Methode verlieren beide Parteien. Zu den Konfliktbewältigungsmethoden zählen Kompromiss, Kompensation und Hinzunahme einer dritten Person. Die Konfliktbewältigung durch einen Kompromiss zwingt die Kontrahentinnen und Kontrahenten, jeweils etwas von ihren persönlichen Ansprüchen zurückzunehmen – beide verlieren etwas. Durch eine Kompensation soll die Konfliktpartei bestochen werden, einen Verlust hinzunehmen. Dabei verliert aber auch die andere Konfliktpartei. Diese Kompensationen sind häufig mit hohen Kosten verbunden. Eine neutrale Drittpartei wird hinzugezogen, wenn sich die Kontrahentinnen und Kontrahenten in einem ergebnislosen Machtkampf befinden und ein Kompromiss unmöglich erscheint. Diese Drittpersonen können als Schlichtende oder Vermittelnde auftreten. Wenn diese dabei Autorität ausüben, verfahren sie nach der Gewinn-Verlust-Strategie. Die Vermittlungsarbeit ist nur dann wirksam, wenn die Kontrahentinnen und Kontrahenten die Rolle der vermittelnden Person akzeptieren und ihre Entscheidung respektieren. – Die Gewinn-Gewinn-Strategie schafft für alle Beteiligten letztlich neue Lösungen oder Alternativen, die alle zufriedenstellen. Eine Einigung kommt dann zustande, wenn eine Lösung des Problems gefunden wurde, mit der alle einverstanden sind. Voraussetzung dafür ist eine ungezwungene Meinungsäußerung, gegenseitiges Vertrauen, freier Zugang zu den Informationen und Partizipation an der Entscheidungsfindung. Die integrative Entscheidungsfindung gilt als eine problemlösungsorientierte Methode. Auf diesem Wege wird versucht, die persönlichen Ziele und Werte der Kontrahentinnen und Kontrahenten im Zuge der Bewältigung zu integrieren (Delhees, 1994; Spieß & von Rosenstiel, 2010).
3.2 Interpersonelle Ebene
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schwach
Fremdinteresse stark
Für die Beurteilung des Konfliktausgangs gibt es drei wichtige Dimensionen: Eine egozentrische Sichtweise definiert das Problem einzig vom eigenen Standpunkt aus. Diese Sichtweise beinhaltet ein starkes „Entweder-oder-Denken“. Deshalb verursachen egozentrische Wahrnehmungen eher eine Wettbewerbsorientierung im Sinne von GewinnVerlust-Denken. Die Berücksichtigung der zugrundeliegenden Bedürfnisse bzw. der dahinterliegenden Intentionen des Partners oder der Partnerin erleichtert eine kooperative Problemlösung, es werden Gewinn-Gewinn-Lösungen wahrscheinlicher. Beide Konfliktstile wurden auch experimentell untersucht, wobei sich ein positiver Bezug dieser Stile zu Gewinn-Verlust- bzw. Gewinn-Gewinn-Absichten zeigte. Das Ausmaß des Konfliktgegenstands, beispielsweise dass sehr viele Menschen von der Auseinandersetzung betroffen sind, spielt gleichfalls eine Rolle. Motivational gesehen kann dies eine integrative Lösung erschweren (Thomas, 1992; Spieß, 2004, 2007). Das Dual-Concern-Modell nach Pruitt und Rubin (1986) ist nicht nur eine der bedeutendsten Verhandlungstheorien (vgl. Kapitel 3.2.4), sondern beschreibt auch typische Verhaltensweisen im Konfliktverlauf (Abb. 15). Es gibt die beiden unabhängigen Dimensionen, nach denen zum einen das Eigeninteresse (ein Selbstbehauptungsmotiv) und zum anderen das Fremdinteresse (ein Kooperationsmotiv) stark oder schwach ausgeprägt sein können (Solga, 2019).
Anpassen
Problemlösen
Kompromisse schließen
Vermeiden
Kämpfen
Abb. 15: Strategien des Konfliktmanagements in Solga (2019, S. 141).
–
–
–
Anpassen: Ein starkes Fremdinteresse und ein geringes Eigeninteresse führen zum Sichanpassen. Bei der Strategie der Anpassung kommen die eigenen Bedürfnisse zu kurz, sie ist der Gegenpol zum Kampf. Vermeiden: Hier herrschen geringes Fremd- und geringes Eigeninteresse. Der Konfliktbewältigungsstil der Vermeidung mag bei unbedeutenden Konflikten sinnvoll sein, meistens jedoch ist diese Art der Konfliktregelung für beide Seiten eher unproduktiv, da das Problem lediglich vertagt wird. Kämpfen: Ein geringes Fremdinteresse und ein starkes Eigeninteresse führen zum Kämpfen. Kämpfen als Konfliktbewältigungsstrategie setzt die eigenen Inter-
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–
3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
essen gegen die andere Seite rigoros durch. Diese Strategie entspricht einer Gewinn-Verlust-Haltung. Kurzfristig kann diese Strategie erfolgversprechend sein, während sie über einen längeren Zeitraum eher mit Kosten verbunden ist, da die unterlegene Partei u. U. die Kooperation verweigert. Problemlösen: Das hohe Fremd- und Eigeninteresse zieht Problemlösen nach sich. Die Strategie der Kooperation wird auch als Problemlösung bezeichnet, denn sie beinhaltet für beide Konfliktparteien einen Gewinn und einen Synergieeffekt. Kompromiss: Häufig erscheint ein Kompromiss vielversprechend. Zwar können beide Parteien nicht ihre Interessen ganz durchsetzen, es muss auf beiden Seiten eingelenkt und nachgegeben werden, dennoch ist eine Partei nicht nur der Verlierer.
Positive Emotionen sowie ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz sind mit der Wahl konstruktiver Konfliktlösungsstrategien verbunden (Solga, 2019). Die Mediation wurde in den USA als eine methodische Vorgehensweise zur Konfliktvermittlung entwickelt. Dabei spielt die Autorität des Mediators bzw. der Mediatorin eine wichtige Rolle. Man erhofft sich von der Mediation eine Stärkung der Gemeinschaft und einen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung. Mediation steht für eine alternative Konfliktlösung zum Gerichtsprozess. In den 1990er Jahren erfolgte eine stärkere Institutionalisierung (Altmann et al., 1999; Kals & Webers, 2001). Psychologisch fundierte Mediation zeichnet sich dadurch aus, dass sie über die Lösung des behandelten Einzelfalls hinaus geht und für alle Beteiligten Entwicklungsmöglichkeiten sieht. Man erfährt vieles über sich und den anderen, über Stereotype, Selbstkonzepte oder Normen. Es geht darum, dass die Beteiligten in einem solchen Verfahren lernen, besser zu kommunizieren und nach Lösungsoptionen zu suchen. Nach Montada und Kals (2001) ist Mediation als Verfahren der Bearbeitung und Beilegung von Konflikten durch eine lange Tradition geprägt und findet in den unterschiedlichsten Bereichen statt: im Strafrecht, in Wirtschaft und Handel, im Familiengericht, in der Politik und bei internationalen Konflikten. Mediation in der Wirtschafts- und Arbeitswelt umfasst sowohl die unternehmensinternen Konflikte wie auch die Auseinandersetzungen zwischen Unternehmen und Zulieferern oder den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Die Mediationsverfahren in der Wirtschaft haben bei Konflikten das Ziel, die Kooperations- und Gestaltungsfähigkeit der Beteiligten zu fördern. Zielvorstellung ist es, eine einvernehmliche und bindende Reglung zu finden. Eine besondere Problematik stellen hierbei Machtprozesse in Organisationen dar (Bitzer, 2002).
3.2.4 Die Rolle des Verhandelns Verhandlungen spielen in wirtschaftlichen Kontexten eine große Rolle. Zum Beispiel finden bei Unternehmenszusammenschlüssen im Vorfeld viele Verhandlungen statt, ebenso ist mancher Kauf „Verhandlungssache“. Verhandlungen finden zwischen Perso-
3.2 Interpersonelle Ebene
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nen statt, aber auch auf der intergruppalen Ebene. Verhandlung ist eine Diskussion zwischen zwei oder mehr Parteien mit dem Ziel, eine Interessensdivergenz zu lösen und damit einen sozialen Konflikt zu vermeiden (Spieß, 2004). Die Parteien können Individuen, Gruppen, Organisationen oder Nationen sein. Interessensdivergenz bedeutet, dass die Parteien unter einer Reihe möglicher Alternativen nicht übereinstimmende Präferenzen haben. Meistens sind die Verhandelnden ernsthaft daran interessiert, eine Übereinkunft zu finden, doch wird die Verhandlung oft auch als Verzögerungstaktik benutzt, um Zeit und Kräfte zu gewinnen und den Gegner in irgendeiner Weise zu schlagen (Pruitt & Carnevale, 1993; De Dreu et al., 2001). Dabei lassen sich empirisch fünf Verhandlungsstrategien unterscheiden: 1. Konzessionen machen, d. h. die eigenen Ziele und Forderungen werden reduziert. 2. Kämpfen, d. h., es wird versucht, die andere Partei zu überzeugen, Zugeständnisse zu machen. Es gibt verschiedene Taktiken, z. B. Drohungen oder Beharren auf einer bestimmten Position. 3. Problemlösen, d. h., man versucht Lösungen zu finden, die die Ziele beider Parteien befriedigen. 4. Untätigkeit, d. h., es wird so wenig wie möglich erledigt, Treffen werden verschoben. 5. Rückzug, d. h., die Verhandlung wird verlassen. Die ersten drei Strategien werden auch als Coping-Strategien bezeichnet, weil sie auf verschiedenen Wegen zu einer Einigung kommen (Thomas, 1992). Das Verfahren der gemeinsamen Entscheidung – Verhandlung und Mediation – hat eine Reihe von Vorteilen gegenüber Entscheidungen von Drittparteien, denn diese sind oft sehr teuer und die Entscheider verstehen wenig von den Interessen der Parteien. Das Dual-Concern-Modell nach Pruitt und Rubin (1986) ist eine der bedeutendsten Verhandlungstheorien (Frank & Frey, 2002). Es gibt die beiden unabhängigen Dimensionen, nach denen die Sorge um die eigenen Handlungsergebnisse und die des anderen groß oder klein sein können. Die beiden Dimensionen können auch als Kooperationsdimension betrachtet werden, wobei eine individualistische gegen eine kooperative Orientierung steht (vgl. Kapitel 3.2.3). Hohes Interesse am anderen und ein geringes am eigenen Handlungsergebnis führt zu Nachgeben, geringes Interesse am anderen und ein geringes am eigenen Handlungsergebnis zu Vermeiden, hohes Interesse am anderen und ein hohes am eigenen Handlungsergebnis zum Problemlösen und ein geringes Interesse am anderen und ein hohes am eigenen Handlungsergebnis zum Konkurrieren. Nach dem Dual-Concern-Modell führen Bedingungen, die hohes Eigeninteresse fördern dazu, dass Nachgeben und Zugeständnisse machen eher verhindert werden, vielmehr gibt es häufiger Kämpfe. Umgekehrt führen Bedingungen, die ein hohes Interesse am anderen bewirken dazu, dass Kämpfe um Durchsetzung eher vermieden werden. Resultate bei Verhandlungen können den Sieg für eine Partei bedeuten, einen einfachen Kompromiss, eine Win-win-Übereinkunft oder das Misslingen der Übereinkunft. Die meisten Verhandlungen finden in sogenannten „mixed-motive settings“ statt. Das bedeutet, dass sowohl kompetitive als auch kooperative Motive hervorgeru-
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
fen werden. Diese Motivstruktur schafft ein Dilemma für die Verhandelnden: Das kompetitive Motiv führt zum Streiten und zum Versuch, die andere Partei zu besiegen, während man sich selbst verteidigt. Das kooperative Motiv ermutigt sie, Konzessionen zu machen und sich im Problemlösen zu engagieren (Spieß, 2007). De Dreu et al. (2000) haben in einer Metaanalyse Unterstützung für das DualConcern-Modell gefunden: Es wurden die Effekte sozialer Motive und der Widerstand gegen die Rückzugstaktik auf die anderen Verhandlungsstrategien untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass die Verhandlungspartner, wenn sie prosoziale Motive verfolgten, weniger streitsüchtig, sondern stärker an Problemlösungsstrategien interessiert waren und insgesamt mehr gemeinsame Lösungen fanden. Bei der Frage, wie Verhandelnde Informationen über die Ziele und Werte der anderen Partei erreichen können, spielt Empathie eine große Rolle. Ein Verhandlungspartner kann davon profitieren, wenn er in der Lage ist, die Perspektive der anderen Partei einzunehmen. Der Austausch von Informationen und ein gemeinsames Problemlösen erfordern jedoch ein hohes Maß an Vertrauen in die andere Partei (Spieß, 2004). Das Entstehen von wahrgenommener Diskrepanz durch einen Vergleich der aktuellen Situation mit den eigenen Wunschvorstellungen oder Bedürfnissen greifen Reif und Brodbeck (2017) in ihrem Modell der Verhandlungsinitiierung auf. Das Modell liefert eine theoretische Antwort auf die Frage, wann und warum Menschen beginnen zu verhandeln. Das Modell beschreibt, dass ausgehend von der Wahrnehmung einer Diskrepanz eine emotionale Reaktion erzeugt wird. So wird z. B. durch eine nicht erfolgte Beförderung (Diskrepanz) Unzufriedenheit oder Ärger (affektive Reaktion) ausgelöst. Diese emotionale Reaktion wirkt sich dann auf die Entscheidung aus, eine Verhandlung (z. B. mit dem Vorgesetzten) zu beginnen; dadurch wird der Versuch unternommen, die Diskrepanz zu lösen. Bevor es aber letztlich zu einer Entscheidung für oder gegen eine Verhandlung kommt, wägen Personen ab, wie wichtig ihnen die Sache ist (also z. B. ein weiterer Karriereschritt), wie hoch ihre Erfolgswahrscheinlichkeit in einer möglichen Verhandlung wäre (also z. B., wie gut ihr Verhandlungsgeschick ist) und wie viel Sinn eine Verhandlung überhaupt macht (also ob sich durch die Verhandlung tatsächlich die Beförderung erreichen lässt oder ob durch die Verhandlung vielmehr die soziale Beziehung zum Vorgesetzten leiden würde). Erste empirische Untersuchungen belegen die theoretischen Annahmen des Modells (Reif & Brodbeck, 2017, 2022). Das Modell kann dazu dienen, sich systematisch auf Verhandlungen vorzubereiten: – „Was ist der Istzustand? Was genau stört mich und passt nicht zu meinen Vorstellungen, Wünschen oder Bedürfnissen? – Welche Emotion löst das bei mir aus? Kann ich diese Emotion strategisch in der Verhandlung nutzen, oder könnte sie sich negativ auf den Verhandlungsverlauf auswirken? – Wie wichtig ist mir die Sache, über die ich verhandeln will? – Bringt mich eine Verhandlung in dieser Sache wirklich weiter? – Bringt mir die Verhandlung den erhofften Nutzen (z. B. finanzieller Art)?
3.2 Interpersonelle Ebene
– – –
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Wie wirkt sich die Verhandlung auf mein Verhältnis zum Verhandlungspartner aus? Welche Konsequenzen hat die Verhandlung für mein Selbstwertgefühl? Habe ich gute Argumente? Kann ich Fakten und Tatsachen präsentieren? Wie ist meine Verhandlungsposition“ (Reif et al., 2018, S. 49)?
Parteien, die miteinander verhandeln, sind oftmals Gruppen, wie z. B. Familien, Interessenvertretungen wie Gewerkschaften und Unternehmerverbände oder Regierungen. Hier wird die Verhandlung häufig durch Vertretende durchgeführt. Die Vertretung kann die Verhandelnden vor besondere Probleme stellen, da sie zum einen ihren jeweiligen Gruppen Rechenschaft schulden, zum anderen aber durch die Verhandlungsdynamik neue Konstellationen entstehen können. Verhandlungstechniken spielen besonders im Verkauf eine große Rolle (vgl. Kapitel 5.8.3). Morris et al. (1998) verglichen Verhandlungsansätze miteinander, die von Studierenden der Betriebswirtschaft in Indien, Hongkong, den Philippinen und den USA verfolgt wurden. Die bevorzugten Verhandlungsstile waren dadurch charakterisiert, dass man einen Konflikt entweder konkurrenzorientiert austrug oder ihn vermied. Die Amerikaner trugen ihn eher aus, während die Hongkong-Chinesen ihn eher vermieden. Die Befragten füllten auch den Fragebogen von Schwartz (1992) zu den individuellen Wertvorstellungen aus. Morris et al. konnten zeigen, dass die Unterschiede zwischen den Stichproben in Bezug auf Konkurrenzorientierung mit Unterschieden verbunden waren, wie sehr die Befragten leistungsbezogene Werte befürworteten. Dagegen gingen die Unterschiede in Bezug auf die Vermeidung eines Konflikts mit Unterschieden einher, wie sehr Werte der Tradition und der Konformität befürwortet wurden (Smith, 2014).
3.2.5 Kommunikation Kommunikation wird häufig mit Begriffen umschrieben wie Verständigung, Mitteilung oder Austausch von Information (Merten, 1977). Von Lasswell (1948, S. 48) stammt die berühmte Formel: „Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welcher Wirkung?“ Damit werden fünf grundlegende Elemente kommunikativer Vorgänge gekennzeichnet (vgl. Tab. 4): Tab. 4: Grundlegende Elemente der Kommunikation (Lasswell, 1948, S. 48). Wer
sagt was
in welchem Kanal
zu wem
mit welcher Wirkung
Sender Kommunikator Quelle
Botschaft Mitteilung
Medium
Empfänger Rezipient Adressat
Funktion Ziele Auswirkung
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
Das ebenfalls bekannte, eher an technischer Kommunikation orientierte Modell von Shannon und Weaver (1959) bringt besonders zum Ausdruck, dass eine Mitteilung für die Übertragung umgewandelt werden muss. Der Sender bzw. die Senderin überträgt die beabsichtigte Mitteilung in Signale, die vom Empfänger bzw. der Empfängerin entziffert und interpretiert werden. Enkodierung und Dekodierung sind somit zentrale Merkmale von Kommunikationsprozessen und stellen zugleich ein zentrales Problemfeld sozialer Kommunikation dar. Die übermittelten Signale können in vielschichtiger Form, z. B. sprachlich oder nicht sprachlich, kodiert und übermittelt werden. Jede Botschaft wird vom Rezipienten entziffert und interpretiert, dabei spielen psychologische Phänomene wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und schemageleitete Interpretation eine Rolle (Wessels, 1994). Der „Erfolg“ eines kommunikativen Prozesses hängt von der Interpretation der übermittelten Symbole bei Sender und Empfänger ab: Was hat der Kommunikator gemeint – und was hat der Empfänger wahrgenommen bzw. verstanden? Gibt es ein wechselseitiges Verständnis der kommunizierten Inhalte? Das Teilen, die Gemeinsamkeit („Kommunikation“ geht auf das lateinische „communis“ = „gemeinsam“ zurück) dieser Bedeutungsinhalte ist die „allgemeine Intention“ der an der Kommunikation beteiligten Personen. Demnach ist kommunikatives Handeln intentional auf einen anderen und dessen Verständnis und Verhalten bezogen und damit im Unterschied zu anderem Verhalten immer soziales Verhalten (Maturana & Varela, 1987). Die berühmt gewordene Aussage von Watzlawick et al. (1969, S. 53): „Man kann nicht nicht kommunizieren“ fasst nahezu alles Verhalten als Kommunikation auf. Betrachtet man Sender und Empfänger als Rollen, die eine Person in rascher Folge einnehmen kann, so wird aus einer eher einseitigen Betrachtung des Kommunikationsprozesses eine symmetrische. Z. B. sind in einem guten Gespräch alle Teilnehmenden wechselnd Sender und Empfänger, der reziproke, interaktive Austauschprozess hat immer einen dynamischen und rückgekoppelten Charakter. Nur eine zweiseitige Kommunikation mit dialogischem Charakter wird als wirklich zufriedenstellend empfunden, einseitige Kommunikation erscheint auf die Dauer frustrierend (Harris, 1993). Bei einer mehrstufigen Kommunikation durchläuft eine Mitteilung mehrere Stufen, bis sie zum eigentlichen Adressaten gelangt. Dabei kommt es zu einem „StillePost“-Effekt. Zwischengeschaltete „Vermittler“ bzw. „Vermittlerinnen“ interpretieren die Mitteilung bei der Aufnahme und geben sie mehr oder weniger verändert weiter, Informationen werden herausgefiltert, Details fallengelassen, subjektive Urteile über Relevanz oder Irrelevanz von Informationen fließen ein. Solche Verfälschungen sind sowohl durch „unbewusste“ Informationsverarbeitungsmechanismen als auch durch strategisches Informationsverhalten derjenigen, die Informationen weitergeben, bedingt. Die Folge mehrstufiger Kommunikationswege ist fast immer eine Reduzierung und zumeist eine Verfälschung des ursprünglichen Informationsgehalts. Als Bestandteil von größeren Kommunikationsnetzwerken tauchen immer wieder typische, anhand von Häufigkeiten und Richtungen definierbare Kommunikationsmuster auf (Shaw, 1964). Elementare Typen solcher Muster kleinerer Interaktionseinheiten wer-
3.2 Interpersonelle Ebene
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den als Stern (Rad), Kreis, Ypsilon-Formation, Kette oder Alpha bezeichnet (siehe Abb. 16).
Abb. 16: Typische Kommunikationsmuster nach Shaw (1964).
Im seltenen Extremfall, wenn alle Mitglieder miteinander kommunizieren, spricht man von einer Vollstruktur. Kommunikationsmuster wurden häufig in kleineren Gruppen experimentell untersucht. Dabei wurden vor allem das Problemlösungspotenzial und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden in Abhängigkeit von der jeweiligen Struktur ermittelt. Je nach Aufgabentypus erwies sich die eine oder andere Form als effizienter: die Vollstruktur oder ähnliche „freiere“ Formen bei sehr komplexen, innovativen Aufgaben, eine zentralisiertere, „autoritärere“ Form wie der Stern (Rad) dagegen bei schnell zu lösenden, einfacheren Aufgaben. Allerdings wurden die zugrundeliegenden Untersuchungen mit isolierten, künstlich zusammengestellten Gruppen durchgeführt. Daher sind die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf reale wirtschaftliche Kontexte übertragbar. In der Regel ist der Inhaltsaspekt der Kommunikation verbal, der Beziehungsaspekt dagegen weitgehend nonverbal kodiert (Watzlawick et al., 1969). Viele wichtige Informationen zur Gesprächssteuerung werden nonverbal vermittelt, so die Bestätigung gegenseitiger Aufmerksamkeit und Antwortbereitschaft, die Regelung des Gesprächsablaufs (wer sprechen soll und wie lange). Überwiegend nonverbal werden z. B. Gefühle oder die Einstellung zum Gesprächspartner bzw. der Gesprächspartnerin ausgedrückt. So wird in arbeitsbezogenen Gesprächen der überwiegende Teil der Sympathie für den Gesprächspartner über den Gesichtsausdruck, etwa ein Drittel über die Stimmlage und nur ein kleiner Anteil verbal übermittelt (Mehrabian, 1972). Die nonverbale Kommunikation bestimmt sich durch folgende Merkmale (Mehrabian, 1972): – Tonfall, Betonung, Rhythmus, Phonation, Timbre (paralinguistisch) – Gestik, Mimik, Augenkontakt, Haltung, Nähe, Chronemik (außerlinguistisch) In mehreren Studien wurde geschlechtsspezifisches Kommunikationsverhalten untersucht. Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Kommunikationsverhalten wurden in den folgenden Bereichen festgestellt:
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
Männer bevorzugen einen betont sachlichen Kommunikationsstil, Frauen kommunizieren häufiger Gefühle und setzen sich eher mit emotionalen Aspekten der Kooperation auseinander. Frauen neigen eher zu einer kooperativen Arbeitsweise und sind auch häufiger bereit, den Erfolg guter Leistungen mit anderen zu teilen. Männer nehmen Mehrheitsentscheidungen in Kauf, während Frauen eher versuchen, Konsensentscheidungen herbeizuführen. Männer suchen in Konfliktsituationen eine offene Konfrontation, Frauen suchen dagegen eher Kompromisse oder konstruktive Lösungen (Dion, 1985; Erpenbeck, 2004).
Das populäre Modell der Kommunikation von Schulz von Thun (1999) hält vier Aspekte bei der Kommunikation fest: Neben dem grundsätzlichen Unterschied, nach dem jede Botschaft einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt enthält, kann eine Botschaft noch einen Appell- und einen Selbstoffenbarungscharakter haben (Abb. 17). Sachinhalt
Sender
Selbstoffenbarung
Nachricht
Appell
Empfänger
Abb. 17: Das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun (1999).
Das Modell sei am folgenden Beispiel verdeutlicht: Eine Verkaufsleiterin sagt zu ihrem Mitarbeiter: „Heute wirken Sie aber besonders tatkräftig“. Der Mitarbeiter kann diese Botschaft auf unterschiedlichen Ebenen deuten: – Auf der Sachebene wird die Botschaft wörtlich aufgefasst: Der Mitarbeiter wirkt tatkräftig. – Bezogen auf die Beziehungsebene kann dies als versteckte Kritik aufgefasst werden: Meint die Verkaufsleiterin, dass er sonst eher weniger tatkräftig ist? – Die Botschaft kann auch Appellcharakter haben: Möglicherweise versteht der Mitarbeiter diese Aussage auch als Ansporn, mehr zu arbeiten. – Die Ebene der Selbstoffenbarung: Zugleich offenbart die Verkaufsleiterin auch etwas über sich selbst: Sonst nimmt sie den Mitarbeiter nicht so tatkräftig wahr. Auf der Ebene der Metakommunikation besteht die Möglichkeit, dies zu klären. Metakommunikation bedeutet, dass man nach Möglichkeiten sucht, sich selbst über die Schulter zu schauen und darüber zu reden, wie man miteinander kommuniziert.
3.2 Interpersonelle Ebene
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Es gibt für eine erfolgreiche Kommunikation das „Ideal der Stimmigkeit“. Dies bedeutet, dass im Wechselspiel zwischen Person und Situation das Verhalten des Einzelnen optimal angepasst ist (Schulz von Thun, 1999).
3.2.6 Die Rolle des Vertrauens Vertrauen ist nicht nur für alle Kooperationsbeziehungen sehr wichtig (Lewicki & Bunker, 1995), sondern ebenso für alle Transaktionen in wirtschaftlichen Kontexten. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Netzwerken gewinnt das Thema Vertrauen weiter an Bedeutung (Clases & Wehner, 2005). Vertrauen ist nicht nur eine Erwartung in vorhersagbares Verhalten, sondern auch Zuversicht angesichts möglicher Risiken, es beinhaltet somit die Bereitschaft, verletzbar zu sein. Vertrauen ist zum einen eine Persönlichkeitsvariable – Menschen unterscheiden sich im Ausmaß ihrer Vertrauensbereitschaft –, zum anderen spielt auch die Situation eine Rolle. Vertrauen kann ebenso in strukturellen Maßnahmen Ausdruck finden: So können bestimmte strukturelle Komponenten wie z. B. ein stark ausgebauter Kontrollapparat in Staat oder Unternehmen Misstrauen in die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger oder Mitarbeitenden signalisieren (Lewicki & Bunker, 1995). Es gibt verschiedene Formen des Vertrauens (Lewicki & Bunker 1995): Vertrauen, das einem Kalkül entspringt und eventuell berechnend ist, Vertrauen, das auf Wissen beruht bzw. auf der Erfahrung, dass jemand verlässlich ist, und Vertrauen, das in der Identifikation mit den Absichten des Anderen besteht. – Das kalkulative Vertrauen ist ein marktorientiertes, ökonomisches Kalkül. Eine Führungskraft vertraut ihren Mitarbeitenden mit dem Hintergedanken, dass diese dadurch selbstständiger arbeiten. – Vertrauen aufgrund von Wissen bzw. Erfahrung besteht bei Personen, die man gut kennt und deren Verhalten von daher voraussagbar erscheint. Dieses Vertrauen entwickelt sich über einen längeren Zeitraum. So setzen viele Führungskräfte ihr Vertrauen eher in langjährige Mitarbeitende, die sie schon über Jahre kennen. – Vertrauen auf der Basis von Identifikation bedeutet, dass sich die Partner so gut verstehen, dass sie in der Lage sind, effektiv für und miteinander zu handeln. Dieses Vertrauen bringt man seiner Stellvertretung entgegen, von der man annimmt, dass sie im eigenen Sinne handelt. Vertrauen kann auch wieder verloren gehen. Der Verlust des Vertrauens sieht für die drei Formen des Vertrauens entsprechend unterschiedlich aus. Wenn es eine Verletzung des kalkulierenden Vertrauens gibt, kann die Beziehung sehr schnell beendet werden. Bei Verletzungen von Vertrauen, das auf der Erfahrungsbasis beruht, ist man eher geneigt, eine solche Verletzung nicht wahrzunehmen und situative Faktoren dafür ver-
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
antwortlich zu machen. Verletzungen des Vertrauens auf der Ebene der Identifikation sind kaum zu verzeihen, weil Vertrauen auf dieser Ebene auf einer gemeinsamen Identität beruht. Verletzungen des Vertrauens berühren hier die gemeinsamen Werte, die der Beziehung zugrunde liegen, und sind am schwersten wiedergutzumachen (Lewicki & Bunker, 1995).
3.2.7 Macht Das Phänomen der Macht spielt auch in wirtschaftlichen Kontexten eine wichtige Rolle: zum Beispiel in den Organisationen, in Verhandlungsprozessen oder beim interkulturellen Handeln. Die kürzeste Definition von Macht stammt von Kanter (1977), die Macht als die Fähigkeit zu handeln definiert (Neuberger, Conradi & Maier 1985). Sturm und Antonadis (2015) schlagen als Definition von Macht vor, dass Ermessensspielraum (Handlungsfähigkeit) besteht und die Mittel (z. B. Position) vorhanden sind, um den eigenen Willen durchzusetzen. Das heißt, ein mächtiger Akteur ist jemand, der seine Umgebung oder andere Personen nach Belieben exogen beeinflussen kann. Macht kann als ein individuelles oder als strukturbedingtes Phänomen betrachtet werden. Die bekannteste Typologie von Machtgrundlagen ist diejenige von French und Raven (1959). Danach ist die Fähigkeit, Macht auszuüben, begründet auf: – Belohnung, d. h., es werden positiv bewertete Konsequenzen vermittelt, – Bestrafung, d. h., es werden negativ bewertete Konsequenzen verhängt, – Legitimität, d. h., Macht leitet sich aus gesetzten oder auch akzeptierten Normen, Strukturen und Werten ab, – Identifikation, d. h., es wird ein Modell nachgeahmt, – Expertentum, d. h., die Macht speist sich aus der Sachkenntnis in einer Problemoder Aufgabensituation, – Information, d. h., die Macht besteht im Zugang zu und in der Kontrolle von Informationen bzw. Informationskanälen. Für die individuelle Perspektive gilt, dass es sichtbare Korrelate der Macht gibt wie die Kleidung, das äußere Erscheinungsbild und das situative Umfeld, in dem Statussymbole installiert werden, um Macht und Einfluss zu demonstrieren. So wird „Impression-Management“ (vgl. Kapitel 3.1.10) in der Haltung, dem räumlichen Abstand, dem Blickkontakt oder dem Sprachverhalten gezeigt (Nerdinger, 2019d). Macht wird als allgemeines Vermögen aufgefasst, als eine Fähigkeit, Kompetenz oder auch als Motiv. Nach dem Psychoanalytiker Alfred Adler (1966) ist das Machtmotiv ein menschliches Grundmotiv, das durch ein ursprüngliches Mangelhaftigkeitserleben beim Kleinkind entsteht und ein Streben nach Macht und Überlegenheit auslöst. McClelland und Winter (1969) haben versucht, dieses Machtmotiv durch die Vorlage uneindeutiger Bilder und deren subjektiver Interpretation zu messen.
3.2 Interpersonelle Ebene
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Die Techniken der sozialen Beeinflussung können auch im Dienste von Machtinteressen liegen (Cialdini, 2007): Reziprozität, das Streben nach Konsistenz, der soziale Beweis, der freundliche Dieb, Autorität, das Gesetz der Knappheit und das Kontrastprinzip sind Einflussmethoden, die besonders in Verkauf und Werbung Anwendung finden und Ausdruck von Macht im Sinne von Einflusstechniken sind, die andere Menschen in eine bestimmte Richtung lenken wollen (vgl. Kapitel 5.8). Psychologisch gibt es die Bezeichnung des „Machiavellismus“. Der Begriff geht auf den italienischen politischen Schriftsteller Niccolo Machiavelli zurück, der in „Il Principe“ (1513) und den „Discorsi“ (1522) Prinzipien der Machterhaltung und des Umgangs mit der Macht dargestellt hat. Machiavellismus ist durch die folgenden Aspekte gekennzeichnet (Christie & Geis, 1970): relativ geringe affektive Beteiligung bei interpersonellen Beziehungen, eine geringe Bindung an konventionelle Moralvorstellungen (Utilitarismus) und an Ideologien sowie Realitätsangepasstheit. In der Sozialpsychologie wird Machiavellismus als Einstellung gemessen. Beispiele aus einer Machiavellismus-Skala sind (Ulbrich-Herrmann, 2001): – Im Umgang mit Menschen ist es am besten, ihnen zu sagen, was sie hören wollen. – Jeder ist sich selbst der Nächste. – Sicheres Auftreten ist mehr wert als Empfänglichkeit für Gefühle. – Meistens ist es günstiger, seine wahren Absichten für sich zu behalten. – Man muss die Taten der Menschen nach dem Erfolg beurteilen. Neuberger (1995, 2002) hat das Thema der Mikropolitik, das auch ein Machtphänomen darstellt, besonders in Organisationen untersucht. Damit ist das Arsenal der alltäglichen Mikrotechniken gemeint, mit denen die eigene Macht aufgebaut und der eigene Handlungsspielraum erweitert wird. Jede Position in Organisationen kann sowohl Quelle wie auch Ziel einer großen Zahl von Einflusslinien bilden. Der mikropolitische Ansatz ist einem handlungstheoretischen Paradigma verpflichtet, wonach Personen versuchen, in ihren Handlungen ihre Interessen und Absichten zu verwirklichen. Bedingungen für mikropolitisches Handeln sind (Neuberger, 1995): – Die Handelnden sind voneinander abhängig und konkurrieren miteinander um Verfügungsrechte. – Die Situationen und Ziele sind mehrdeutig und inkonsistent. – Es gibt Wahl- und damit Entscheidungsmöglichkeiten. – Ressourcen werden nicht von einer Zentralstelle kontrolliert, sondern sind verteilt. – Schnelles Reagieren ist wichtig. – Die Teilnehmenden an den Interaktionen können variieren. Beispiele mikropolitischer Techniken im Unternehmen sind Informationskontrolle, Kontrolle von Verfahren, Beziehungspflege, Selbstdarstellung, Sachzwänge, das Erzeugen von Handlungsdruck und richtiges Timing.
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
In Anlehnung an Kipnis und Schmidt (1988) greifen Wunderer und Weibler (1992) sieben Einflussstrategien auf: rationale, sachliche Argumentation, freundliches, einschmeichelndes Verhalten, Bestimmtheit (z. B. Nachhaken), Verhandeln (z. B. Tauschgeschäfte, Wechselseitigkeit), Koalitionen bilden, höheres Management einschalten und Sanktionen androhen (Wunderer & Weibler, 1992). Diese Einflussstrategien lassen sich noch einmal in übergeordnete Grundstrategien überführen, die einen direktiven vs. einen kooperativ-diskursiv orientierten Charakter unterscheiden. Nach Kipnis (1972) hat Macht eine korrumpierende Wirkung, denn die Benutzung von Machtmitteln fördert die Überzeugung, das Verhalten der Geführten sei von dem Machtinhaber bzw. der Machtinhaberin und nicht von ihnen selbst bestimmt, die Leistung der Geführten wird abgewertet und die psychologische Distanz zwischen Machtinhaber/-innen und Geführten vergrößert sich. Die Geführten werden als beeinflussbares Spielmaterial angesehen. Sturm und Antonadis (2015) fragen auch danach, was die Macht mit machtinnehabenden Personen macht. So neigten Personen in Machtpositionen dazu, überwiegend positive Gefühle, Begeisterung, Stolz sowie Optimismus auszudrücken, zeigten aber auch weniger Mitgefühl. Neben Stereotypisierung und der Erleichterung des Abrufs von Informationen führt die Macht zu einer globaleren Verarbeitung und verhindert die Ablenkung durch Details. Generell hat die Forschung gezeigt, dass Macht die Handlungsorientierung erhöht. Es gibt Moderatoren auf der individuellen, der Gruppen-, der Organisations- und der Länderebene. Auf der individuellen Ebene ist die Ausprägung der moralischen Identität wichtig. Die moralische Identität ist das Ausmaß, in dem ein Individuum die Moral als Teil seines oder ihres Selbstkonzepts auffasst: Definition: „Moral identity is the extent to which an individual holds morality as part of his or her self-concept“ (Sturm & Antonadis, 2015, p. 148)
Auf der Ebene der Gruppe spielt die Identifikation mit der Gruppe eine Rolle und auf der Ebene der Organisation sank das Ausmaß eigennütziger Entscheidungen der Machthaber/-innen, wenn diese für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht wurden. Sie waren dann auch weniger geneigt, riskante Entscheidungen zu treffen. Sturm und Antonadis (2015) fassen die Ergebnisse zu den Moderatoren so zusammen, dass Macht ein zweischneidiges Schwert ist: Macht kann sowohl zu prosozialen als auch zu antisozialen Ergebnissen führen, je nachdem, wer die Machtinhaber/innen sind (z. B. ihre Eigenschaften, Neigungen, Ziele), und in welchem Kontext die Macht ausgeübt wird (z. B. Mechanismen der Rechenschaftspflicht).
3.2.8 Gerechtigkeit Gerechtigkeit spielt im Wirtschaftsleben eine große Rolle: z. B. im Sinne einer gerechten Steuergesetzgebung oder in Betrachtungen bezüglich des eigenen Arbeitslohns.
3.2 Interpersonelle Ebene
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Gerechtigkeit gilt als ein Bewertungsmaßstab, der an viele soziale Verhältnisse und Verfahrensweisen in Entscheidungsprozessen angelegt wird (Montada & Kals, 2001). In der Psychologie wird in drei Formen der Gerechtigkeit unterschieden: „die distributive, die prozedurale und die interaktionale Gerechtigkeit“ (Kauffeld, 2019, S. 88). – Die distributive Gerechtigkeit bezieht sich auf normative Standards, um die Fairness der Ergebnisse zu bewerten, z. B. indem versucht wird die andere Partei davon zu überzeugen, dass ihr Ziel ein faires Ergebnis sei. Distributive Gerechtigkeit beinhaltet Gleichartigkeit, Übereinstimmung der Resultate mit ähnlichen Konflikten und Konsistenz mit akzeptierten Normen. – Die prozedurale Gerechtigkeit bezieht sich auf normative Standards, um die Art der Entscheidung zu bewerten, mit der etwas erreicht wurde. Prozedurale Gerechtigkeit beinhaltet die Neutralität der dritten Partei, die Fähigkeit der beteiligten Parteien, den Prozess zu kontrollieren, und den Schutz der Rechte der Parteien. – Die interaktionale Gerechtigkeit unterscheidet sich in die informationale Gerechtigkeit, die sich auf die Qualität und Quantität der Informationen bezieht, und in die interpersonale Gerechtigkeit, die sich auf die respektvolle Behandlung von Personen bezieht. Für die sozialpsychologischen Theorien der Gerechtigkeit spielt Reziprozität eine wichtige Rolle. Homans (1961) verstand die menschliche Interaktion als Austausch von Ressourcen. Adams (1965) präzisierte diesen Ansatz und interessierte sich vor allem für den unausgewogenen Austausch sowie die Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens von Personen dadurch. Austauschverhältnisse können das Individuum entweder bevorzugen oder benachteiligen, wobei kognitive Dissonanz entsteht (Festinger, 1957; vgl. Kapitel 3.1.2). In dem Bestreben nach einem ausgeglichenen Verhältnis ist es offen, was der Inhalt des Gebens und Nehmens ist, denn es geht um das subjektiv wahrgenommene Verhältnis der Beiträge (von Rosenstiel, 2003). Mitarbeitende investieren z. B. Zeit, Erfahrung, Bildung und erhalten vom Unternehmen Aufgaben, Lohn und Titel. Was dabei bilanziert wird, hängt ganz von der Wahrnehmung und der Einstellung der Einzelnen ab. Ungleichheit wird dann erlebt, wenn das eigene „Aufwands-Ertrags-Verhältnis“ günstiger oder ungünstiger als das der Vergleichsperson ausfällt (Spieß & von Rosenstiel, 2010). Für die Zufriedenheit mit der Bezahlung ist nicht die absolute Höhe ausschlaggebend, sondern der Vergleich mit den anderen bzw. das Erleben des Lohnes als faire Gegenleistung für die eigene Leistung sind entscheidend. In der Praxis ist jedoch das Gefühl der Unterbelohnung sehr häufig. Hier findet nicht selten eine selektive Wahrnehmung statt, die dem eigenen Selbst schmeichelt: Menschen neigen dazu, das eigene Leistungsverhalten zu überschätzen und die Leistungen, die andere erbringen, eher abzuwerten. Bei der Gestaltung des Lohnsystems ist deshalb auf eine möglichst durchschaubare und faire Relation zwischen Leistung und Belohnung sowie auf eindeutige Kriterien der Leistungsmessung und -bewertung zu achten (von Rosenstiel, 2003; Nerdinger, et al., 2019;
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3 Wirtschaftspsychologisch relevante Konzepte
Kauffeld, 2019). Eine weitere Anwendung im wirtschaftspsychologischen Feld sind die psychologischen Faktoren der Steuergerechtigkeit (Mühlbacher & Zieser, 2018). In der Konsumentenpsychologie kann das Gerechtigkeitsempfinden des Kunden bzw. der Kundin (Felser, 2015) eine Rolle spielen, z. B. inwieweit ein Preis als fair empfunden wird.
3.3 Resümee Zusammenfassend zu den wirtschaftspsychologisch relevanten Konzepten aus der Psychologie soll festgehalten werden, dass sie überwiegend aus der Sozialpsychologie entstammen. Jedes dieser Konzepte wird auch in wirtschaftspsychologischen Anwendungsfeldern genutzt, so z. B. der Selbstwert zur Erklärung der psychischen Situation von Arbeitslosen (vgl. Kapitel 5.3), die Motivation im Rahmen von Auslandsentsendungen (vgl. Kapitel 5.5.3) oder Lern- und Entscheidungsprozesse in der Werbung und beim Kaufen (vgl. Kapitel 5.8). Werte und Einstellungen spielen sowohl in der Arbeitswelt als auch beim Konsumieren eine Rolle. Arbeitswerte prägen das Arbeitsverhalten, die Arbeitszufriedenheit ist eine zentrale Variable in der Arbeits- und Organisationspsychologie. Der Wertewandel beeinflusste sowohl die Arbeitswelt, das Leben in Organisationen als auch das Konsumverhalten. Wenn im Folgenden die verschiedenen wirtschaftspsychologischen Themenfelder dargestellt werden, so fließen jeweils – je nach Blickwinkel der Autorinnen bzw. Autoren – einzelne der dargestellten Konzepte mit ein. Es ist aber wichtig hierbei festzuhalten, dass diese Konzepte nicht unabhängig vom jeweiligen Umfeld und dessen Einflüssen betrachtet werden dürfen. Das jeweilige wirtschaftspsychologische Feld gilt es, miteinzubeziehen und im Hinblick auf die jeweiligen Kapitalia der Akteure zu analysieren (vgl. Kapitel 2).
Vertiefende Literatur Bierhoff, H. W. & Rohmann, E. (2010). Psychologie des Vertrauens. In M. Maring (Hrsg.), Vertrauen – zwischen sozialem Kitt und der Senkung von Transaktionskosten. Schriftenreihe des Zentrums für Technik- und Wirtschaftsethik am Karlsruher Institut für Technologie, Bd. 3. Brandstätter, V., Schüler, J., Puca, R. M. & Lozo, L. (2018). Motivation und Emotion. Allgemeine Psychologie für Bachelor. Springer. Cieciuch, J., Schwartz, S. H. & Davidov, E. (2015). Social psychology of values. In J. D. Wright (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences (S. 41–46). Elsevier. Dieter, A., Montada, L. & Schulze, A. (Hrsg.) (2000). Gerechtigkeit im Konfliktmanagement und in der Mediation. Campus. Erpenbeck, J., von Rosenstiel, L., Grote, S., & Sauter, W. (Hrsg.) (2017). Handbuch Kompetenzmessung: Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis (3. Aufl.). Schäffer-Poeschel.
Vertiefende Literatur
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Glasl, F. (2013). Konfliktmanagement (11. Aufl.). Haupt. Jonas, K., Stroebe, W. & Hewstone, M. (2014). Sozialpsychologie (6. Aufl.). Springer. Jünemann, A. K. (2016). Selbstwert und Selbstvertrauen. In Frey, D. (Hrsg.), Psychologie der Werte (S. 187–199). Springer. Knoblach, B., Oltmanns, T., Hajnal, I. & Fink, D. (Hrsg.) (2012). Macht in Unternehmen. Gabler. Müsseler, J. & Rieger, M. (Hrsg.) (2017). Allgemeine Psychologie (3. Aufl.). Springer. Nerdinger, F. W. (2019). Interaktion und Kommunikation. In F. W. Nerdinger, G. Blickle & N. Schaper (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie (4. Aufl., S. 63–80). Springer. Nerdinger, F. W. (2019). Motivation und Arbeitszufriedenheit. In F. W. Nerdinger, G. Blickle & N. Schaper (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie (4. Aufl., S. 463–486). Springer. Parkinson, B. (2014). Soziale Wahrnehmung und Attribution. In K. Jonas, W. Stroebe & M. Hewstone, M. (Hrsg.) Sozialpsychologie (6. Aufl., S. 65–106). Springer. Pfister, H.-R., Jungermann, H. & Fischer, K. (2017). Die Psychologie der Entscheidung. Eine Einführung (4. Aufl.). Springer. Reif, J. A. M. & Brodbeck, F. C. (2014). Initiation of negotiation and its role in negotiation research. Foundations of a theoretical model. Organizational Psychology Review, 4, 363–381. Reif, J. A. M. & Brodbeck, F. C. (2017). When do people initiate a negotiation? The role of discrepancy satisfaction, and ability beliefs. Negotiation and Conflict Management Research, 10, 46–66. Reif, J. A. M. & Brodbeck, F. C. (2022). „Should I Negotiate?“ A model of negotiation initiation considering psychological person-environment transactions. Negotiation and Conflict Management Research, 15(2), 100–123 Schönhammer, R. (2013). Einführung in die Wahrnehmungspsychologie (2. Aufl.). Facultas. Sturm, R. E. & Antonadis, J. (2015). Interpersonal power: A review, critique, and research agenda. Journal of Management, 41(1), 136–163. Spieß, E. (2015). Voraussetzungen gelingender Kooperation. In U. Merten & U. Kaegi (Hrsg.), Kooperation kompakt (S. 71–87). Budrich. Torka, A., Mazei, J. & Hüffmeier, J. (2021). Together, everyone achieves more – or, less? Interdisciplinary meta-analysis on gains and losses in teams. Psychological Bulletin, 147(5), 504–534.
4 Methoden der Wirtschaftspsychologie Wirtschaftspsychologie gilt als Teilgebiet der Angewandten Psychologie (von Rosenstiel & Neumann, 2002). Angewandte Psychologie wird dort betrieben, wo bestimmte menschliche Erlebens- und Verhaltensweisen Fragen aufwerfen oder wo es um Optimierungsprozesse geht. So werden in der angewandten Wissenschaft die Fragestellungen von außen an die Forschenden herangetragen, um dann mit den gleichen Methoden wie in der Grundlagenforschung bearbeitet zu werden. Deshalb bedient sich die Wirtschaftspsychologie sämtlicher in den Sozialwissenschaften üblichen Erhebungsmethoden. Dazu gibt es bereits fundierte Literatur (z. B. Döring & Bortz, 2016; Baur & Blasius, 2019). Nach Wiswede (2000) setzt jedoch die wirtschaftspsychologische Forschung bestimmte Akzente und präferiert bestimmte Forschungsmethoden. Die Messungen der Werbewirkung und Methoden der Marktforschung sind aus einer psychologischen Sicht in Felser (2015) beschrieben. Ebenfalls gibt es eine sehr ausführliche Methodenbeschreibung für die Markt- und Werbepsychologie bei Neumann (2013). Konsumentenpsychologische Forschung lässt sich nach Felser (2015) unterscheiden in die explorative Forschung, die qualitativ-erkundend ist und Verfahren einsetzt, um Hypothesen zu generieren, statt bereits bestehende zu prüfen. Die deskriptive Forschung beschreibt Zusammenhänge und Konstrukte, interpretiert sie aber nicht. Die kausale Forschung ist hypothesenprüfend, d. h., anfänglich formulierte Theorien werden experimentell überprüft. In der Forschung lassen sich quantitative und qualitative Herangehensweisen unterscheiden. Felser (2015) beschreibt den zentralen Unterschied zwischen quantitativer und qualitativer Forschung, der in der Art der Daten besteht: In der qualitativen Forschung bestehen Daten aus Text. Qualitative Methoden sind z. B. Interviews, Gruppendiskussionsverfahren und Beobachtungsverfahren. In der quantitativen Forschung wird anhand von Zahlen vorgegangen. Dies setzt voraus, dass Operationalisierungen vorgenommen wurden, d. h., es wird eine Messvorschrift entwickelt bzw. theoretische Begriffe werden in empirisch messbare Merkmale umgewandelt. Nach Singh et al. (2015) eignen sich qualitative Methoden besonders für Forschungsthemen, über die es noch wenig Informationen und Studien gibt. Quantitative Studien, zu denen sie auch die Experimente zählen, erlauben es hingegen, gezielte Hypothesen aufzustellen und zu überprüfen.
4.1 Quantitative Methoden In der Wirtschaftspsychologie wird häufig mit sogenannten „Indices“ gearbeitet, z. B. wurden Indices für die Lebensqualität, für die Arbeitszufriedenheit, zur Investitionsneigung, zur Sparneigung oder für das Konsumklima entwickelt. In Anlehnung an Ka-
https://doi.org/10.1515/9783110778410-005
4.1 Quantitative Methoden
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tona (1962) wurde der ICS (Index of Consumer Sentiment), ein Index zur Messung wirtschaftlicher Erwartungen, mit folgenden Aspekten entwickelt: 1. Einschätzung der allgemeinen Wirtschaftslage im vergangenen Jahr 2. Erwartungen für die allgemeine Wirtschaftslage im kommenden Jahr 3. Einschätzungen der finanziellen Lage des eigenen Haushalts im vergangenen Jahr 4. Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung der finanziellen Lage des eigenen Haushalts im kommenden Jahr 5. Einschätzung der gegenwärtigen „Ratsamkeit“ größerer Anschaffungen Im Rahmen der Marktforschung werden Themen zum Konsumklima z. B. wie folgt erfasst: allgemeine Konjunkturentwicklung, Preisentwicklung, Anschaffungsbereitschaft für langlebige Gebrauchsgüter, finanzielle Lage des eigenen Haushalts, Sparen. Eine typische Frage lautet: „Wie dürfte sich – Ihrer Meinung nach – die allgemeine Wirtschaftslage in den kommenden 12 Monaten entwickeln?“ (Wiswede, 2000). Diese Untersuchungen haben das Ziel, wie ein Barometer frühzeitig Stimmungen und Trends aufzuspüren, die dann zu Verhaltensänderungen führen, die es möglichst früh zu registrieren gilt. In der Wirtschaftspsychologie wie auch in der Arbeits-, Organisations- und Personalpsychologie wird häufiger die Befragung verwendet (Kauffeld, 2019). Wiswede (2000) unterscheidet hier in einen Makro- und in einen Mikrobereich. Zum Makrobereich zählt die Befragung zur Wirtschaftslage wie z. B. das Messen des Konsumklimas und zum Mikrobereich gehören Befragungen in Betrieben und in Haushalten. Die Art der Befragung ist sehr unterschiedlich und folgt dem jeweiligen Gegenstands- und Anwendungsbereich. Zum Einsatz kommen standardisierte und weniger strukturierte Fragebögen, offene und halb offene Interviews. In einem Panel wird über einen längeren Zeitraum die gleiche Personengruppe mehrfach untersucht (Längsschnittstudien). Bei Befragungen werden vielfach Skalen verwendet. Darunter versteht man eine Anzahl von Items (Einzelfragen), die eine dahinter liegende Dimension erfassen. Diese Skalen dienen z. B. zur Messung von Werten und Einstellungen. Eine Sammlung von Messinstrumenten findet sich z. B. bei der GESIS, Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (https://www.gesis.org/home). Sehr häufig wird das semantische Differenzial von Osgood et al. (1957) bzw. das Polaritätenprofil im Bereich der psychologisch orientierten Marktforschung verwendet (Abb. 18). Gegenstände, Personen oder Begriffe sollen auf einer Skala beurteilt werden, die Gegensatzpaare wie aktiv/passiv oder hell/dunkel vorgibt. Dieses Verfahren beruht auf dem Prinzip der freien Assoziation, die quantifiziert wird. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt häufig in Form von Profilen. Ein weiteres methodisches Verfahren der Wirtschaftspsychologie ist die Beobachtung, die sehr aufwendig ist und von daher weniger oft zum Einsatz kommt. Allerdings
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4 Methoden der Wirtschaftspsychologie
Wenn Sie an das Fach „Wirtschaftspsychologie“ denken, wie würden Sie dieses spontan auf den folgenden Eigenschaftspaaren einstufen? Überlegen Sie nicht lange, sondern urteilen Sie spontan! 1 2 3 4 5 6 7 vielseitig
einseitig
langweilig
aufregend
kreativ
einfallslos
verschlossen freundlich
offen feindlich
gewalttätig
friedlich
interessant
langweilig
Abb. 18: Beispiel für ein Polaritätenprofil.
hat sie gegenüber Befragungen den Vorteil, dass vonseiten der beobachteten Personen weniger häufig sozial erwünschtes Verhalten gezeigt wird. Bei diesem Verfahren ist es wichtig, dass die Beobachtenden anhand eines Kategoriensystems gut geschult werden. Die Beobachtung wird häufig in der Arbeitspsychologie bei der Arbeitsanalyse eingesetzt (Kauffeld, 2019). Dem Experiment wird besonders innerhalb der Sozialpsychologie eine hohe Erklärungskraft zugesprochen, d. h., durch die Kontrolle und Manipulation der Variablen durch die Forschenden sind Kausalannahmen möglich. Jedem psychologischen Experiment geht die Ausarbeitung von theoriegeleiteten Hypothesen voraus. Versuchspersonen (Vpn) werden in Experimental- und Kontrollgruppen eingeteilt. In einem „echten“ Experiment geschieht diese Einteilung nach dem Zufall, in einem „Quasiexperiment“ bestehen bereits unterschiedliche Gruppen (z. B. Männer vs. Frauen). In der Experimentalgruppe (EG) wird die unabhängige Variable (UV) manipuliert, wobei die UV diejenige Variable ist, deren Einfluss auf die abhängige Variable (AV) untersucht werden soll. In der Kontrollgruppe (KG) erfolgt dies nicht. Sie dient als Vergleich, d. h., erfolgt beispielweise in der Experimentalgruppe eine Behandlung und in der Kontrollgruppe nicht, so dürfte es Unterschiede bei der abhängigen Variablen in der Experimentalgruppe geben, wenn die Behandlung gewirkt hat. Die unabhängige Variable (UV) ist der Faktor im Experiment, der manipuliert wird, die abhängige Variable (AV) ist die Variable, die sich als Reaktion auf die Manipulation der UV ändert. Eine Störvariable ist ein Faktor jenseits der UV, der eine Wirkung ausüben kann. Wichtig ist, dass die Versuchspersonen einwilligen und Hinweise auf den Datenschutz erhalten. Die Standardisierung der Durchführung muss gewährleistet sein. Die gesamte Versuchsplanung, beginnend mit der Hypothesenbildung und Auswahl der Versuchspersonen, sowie der tatsächliche Versuchsablauf müssen protokolliert werden, um eine Wiederholbarkeit zu gewährleisten.
4.1 Quantitative Methoden
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Laborexperimente ermöglichen eine weitgehende Kontrolle der Untersuchungssituation und bestimmter Störfaktoren, unterliegen jedoch wie Feldexperimente den Einflüssen der Reaktivität der Versuchspersonen in der Laborsituation. Laborexperimente sind in der Wirtschaftspsychologie bzw. für deren Fragestellungen weniger geeignet. Hier finden eher sogenannte Feldexperimente statt, d. h., Forschende sind nicht im Labor, in dem Idealbedingungen für ein Experiment geschaffen werden, sondern „im Feld“, z. B. in einem Unternehmen. Damit unterliegen sie jedoch den dort geltenden Regeln, z. B. dem Datenschutz. Die Ergebnisse von Feldexperimenten sind stärker durch Störfaktoren beeinträchtigt, können jedoch wegen ihrer Alltagsnähe eine höhere ökologische Validität bzw. externe Validität haben (Myers, 2014). Die Metaanalyse, die verschiedene empirische Studien quantitativ unter einer bestimmten Thematik zusammenfasst, um einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu gewinnen, ist auch für die Wirtschaftspsychologie ein wichtiges Verfahren. Ziel ist eine Effektgrößeneinschätzung, wobei untersucht wird, ob ein Effekt vorliegt und wie groß dieser ist (Döring & Bortz, 2016). In der psychologischen Eignungsdiagnostik sind Tests die am häufigsten verwendeten Instrumente. Ein psychologischer Test ist definiert als ein standardisiertes, routinemäßig anwendbares Verfahren, um individuelle Verhaltensmerkmale zu messen, aus denen Schlussfolgerungen auf die Eigenschaften der Person oder ihr Verhalten gezogen werden (Bühner, 2009). Tests haben im Vergleich zu anderen Verfahren eine hohe Objektivität, der Verfahrensablauf ist durchstrukturiert, die Untersuchungssituation standardisiert und es gibt einen nur geringen Einfluss subjektiver Urteilsfehler. In der Berufseignungsdiagnostik finden sich vor allem Tests der allgemeinen Intelligenz, der Aufmerksamkeit und Konzentration, Tests sensorischer und motorischer Leistungen sowie sonstiger Leistungen (z. B. Wissens- und Rechtschreibprüfungen). Persönlichkeitstests sollen entweder ein umfassendes Bild der Persönlichkeit geben oder aber spezifische Merkmale erfassen (Spieß & von Rosenstiel, 2010). Für die psychologischen Testverfahren gibt es drei zentrale testtheoretische Qualitätsindikatoren: – „Validität: Gültigkeit, d. h., die Ergebnisse, die durch einen Test erzielt werden, sollen hinreichend gültig sein. Misst der Test das psychische Merkmal auch wirklich? Bei der Übereinstimmungsvalidität werden die Testresultate mit einem Außenkriterium korreliert (z. B. Schulleistung und Lehrerurteil). Bei der prognostischen Validität müssen die aufgrund der Testergebnisse vorausgesagten Vergleichsdaten abgewartet werden (z. B. Berufseignung und Berufserfolg). Die Inhaltsvalidität liegt dann vor, wenn den Testaufgaben direkt zu entnehmen ist, was der Test zu messen vorgibt (z. B. Rechtschreibediktat). Der Fokus der Konstruktvalidität liegt in der theoretischen Klärung, was ein Test misst. Beispielsweise erfasst ein Persönlichkeitstest latente Persönlichkeitsmerkmale, d. h., es ist ein ganzer Merkmalskomplex angesprochen. – Reliabilität: Sie gibt die Verlässlichkeit an, mit welcher Genauigkeit ein Merkmal gemessen wird. Der Reliabilitätskoeffizient errechnet sich als Anteil der wahren
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–
4 Methoden der Wirtschaftspsychologie
Varianz an der Gesamtvarianz einer Datenreihe, der Rest ist die Fehlervarianz. Die wichtigsten Messungen der Reliabilität sind die Bestimmung der internen Konsistenz und die Messwiederholung“ (Spieß & von Rosenstiel, 2010, S. 144). Objektivität: Die Messwerte sind unabhängig von der Person, die den Test durchführt bzw. auswertet.
„Hinzu kommen noch Aspekte der Akzeptabilität und der Ökonomie, d. h., inwieweit wird ein Verfahren in der Praxis akzeptiert und in wirtschaftlicher Weise angewendet“ (Spieß & von Rosenstiel, 2010, S. 144).
4.2 Qualitative Methoden Die Besonderheit qualitativer Forschung beschreiben Flick et al. (2005, S. 14): „Qualitative Forschung hat den Anspruch, Lebenswelten ‚von innen‘ heraus, aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben. Damit will sie zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beitragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen.“ Es gibt zwei Grundannahmen der qualitativen Forschung: soziale Wirklichkeit als gemeinsame Herstellung und Zuschreibung von Bedeutung und die Rekonstruktion der subjektiven Sichtweisen und Deutungsmuster. Qualitative Methoden sind Befragungsverfahren wie qualitative Interviews, Gruppendiskussionsverfahren und Beobachtungsverfahren wie Feldforschung und nicht reaktive Verfahren (Flick, 2020). Weitere qualitative Verfahren im Kontext der Marktpsychologie beschreiben Neumann und von Rosenstiel (2007). Nondirektive Interviews erlauben freies Antworten, es gibt dabei keine festgelegten Fragen, sie besitzen aber dennoch einen roten Faden hinsichtlich der Thematik. In „Likes & Dislikes-Fragen“ werden positive und negative Aspekte aufgelistet. Die Imagerytechniken (Singh, Göritz & Moser, 2015) erheben zu den Produkten oder Marken die dazugehörigen Emotionen und die mit diesen Gefühlen verbundenen Bilder. Ebenso gibt es Satzergänzungstests, die jedoch in der Auswertung etwas schwierig sind. Indirekte Methoden (Neumann & von Rosenstiel, 2007) sind z. B. physiologische Maße wie die Messung der psychogalvanischen Hautreaktion, das Elektromyogramm (EMG) der Gesichtsmuskeln oder die Messung der Herzfrequenz. Weiterhin lassen sich die Blickregistrierung, die Messung der Reaktionszeit und projektive Verfahren darunter fassen. Ein Beispiel für ein projektives Verfahren ist der Ballontest. In diesem sollen die Versuchspersonen leere Spruchblasen ergänzen. Daraus werden Rückschlüsse auf Einstellungen und Erwartungen der Versuchspersonen gezogen. Die qualitative Inhaltsanalyse stellt eine Auswertungsmethode dar, die Texte bearbeitet, die im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschungsprojekte in der Datenerhebung anfallen, z. B. Transkripte von offenen Interviews, offene Fragen aus standardisierten Befragungen, Beobachtungsprotokolle aus Feldstudien oder Dokumente (Mayring & Fenzl,
4.2 Qualitative Methoden
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2019). Im Rahmen der Wirtschaftspsychologie wird die Inhaltsanalyse z. B. bei der Auswertung von Geschäftsprotokollen oder von Verhandlungen angewandt. Ein klassisches Beispiel sind die Studien von McClelland, der das Leistungsmotiv in Schullesebüchern erfasste und mit dem Grad der wirtschaftlichen Entwicklung in Beziehung setzte (Nerdinger, 1991). Ein weiteres Verfahren ist die sogenannte Tagebuchmethode, die Kirchler (1999; Kirchler et al., 2002) im Zusammenhang mit der Untersuchung von Entscheidungsverhalten im Haushalt angewandt hat. Das Wiener Entscheidungstagebuch von Kirchler et al. (2002) ist eine aufwendige, aber doch sehr geeignete Forschungstechnik, um Entscheidungen zu untersuchen. Dieses Tagebuchverfahren erlaubt, die Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt zu analysieren. Tagebücher werden in der Forschung häufig dazu benutzt, die Zeitverwendung zu untersuchen. Die Teilnehmenden müssen z. B. ihre augenblickliche Stimmung protokollieren, Ursachen ihrer Befindlichkeiten angeben und Situationsmerkmale aufzeichnen. Das Tagebuch ist hoch strukturiert. Es gibt zum einen Zeitstichprobentagebücher, in die immer zu einem bestimmten Zeitpunkt Eintragungen gemacht werden müssen, und Ereignistagebücher, die bei bestimmten Ereignissen benutzt werden. Wenn z. B. eine Kaufentscheidung studiert werden soll, wird das Tagebuch bei einer entsprechend anstehenden Entscheidung ausgefüllt. Die Wiener Tagebuchstudie zur Untersuchung des Einflusses bei Kaufentscheidungen in Paarbeziehungen bestand sowohl aus Zeitstichprobentagebüchern als auch aus Ereignistagebüchern. Das Ereignistagebuch wurde während eines Jahres täglich abends ausgefüllt, wobei besonders nach Meinungsverschiedenheiten zwischen den Partnern gefragt wurde. An der Studie nahmen 40 Paare teil, die im gemeinsamen Haushalt lebten und zumindest ein Kind in schulpflichtigem Alter hatten. Als besonders schwierig und zeitaufwendig erwies sich die Motivation zur Tagebuchführung. Die Paare hatten Betreuende, die regelmäßig mit ihnen telefonischen und persönlichen Kontakt aufnahmen. Zu Beginn der Studie war die Motivation hoch, sie sank aber gegen Ende des Jahres ab. Dennoch stellen Kirchler et al. (2002) fest, dass die Tagebücher sorgfältig geführt wurden und es sich um eine reliable und valide Forschungsmethode handelt. Die Korrelationen zwischen den Tagebucheintragungen und den Angaben im Fragebogen waren zufriedenstellend. Besonders im Bereich von Arbeit und Gesundheit findet diese Methode inzwischen Anwendung (Kauffeld, 2019). Der Forschungsansatz der Aktionsforschung (Spieß, 1994) bedeutet, dass Forschende und Betroffene bzw. Beratende und Organisationsmitglieder gemeinsam die Probleme zu klären und zu lösen versuchen. Anspruch der Aktionsforschung ist, dass die Untersuchten über die Forschungsziele informiert werden, über Ziele und Auswertung mitbestimmen können und bei der praktischen Arbeit der Umsetzung miteinbezogen werden. Dabei wird die traditionelle Grenze zwischen Forschenden bzw. Beratenden und Untersuchten zugunsten eines gemeinsamen Handlungssystems deutlich herabgesetzt. Die Lenkung des Prozesses durch die Beteiligten ist erheblich – ebenso auch die Anforderung nach Verantwortungsübernahme und Selbstreflexion.
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4 Methoden der Wirtschaftspsychologie
Die Aktionsforschung verwendet u. a. die Methode der teilnehmenden Beobachtung (Lamnek & Krell, 2016), deren zentrale Kennzeichnung darin besteht, dass die Forschenden an der natürlichen Lebenswelt ihrer Untersuchungspersonen teilnehmen und durch systematische Beobachtung deren Verhalten explorieren. In der Durchführung der Forschung wechseln sich systematisch Datenerhebung und Aktion ab: Sammlung empirischer Daten – Rückmeldung der Daten an die Betroffenen – Bewertung der Daten – Aktionsplanung und -durchführung – Sammlung empirischer Daten zur Evaluation der Aktion – Rückmeldung – Bewertung – erneute Aktionsplanung und -durchführung usw. (French et al., 1990). Breitere Resonanz fand die Aktionsforschung in Deutschland bei den Studierenden der gesellschaftlichen Reformbewegung 1968. Sie diskutierten das Konzept der Aktionsforschung als Handlungsanweisung für die Aufklärungsarbeit im Rahmen gesellschaftlicher Demokratisierungsprozesse (Spieß, 1994). Evaluation gehört inzwischen zu den wirtschaftspsychologischen Standardmethoden (Döring & Bortz, 2016; Wottawa & Thierau, 1998), bei der es darum geht, nachzuprüfen, inwieweit ein vorab definierter Soll-Zustand auch erreicht wurde. Es handelt sich um eine erneute Diagnostik und um die Beschreibung des Ist-Zustands aufgrund der erfolgten Interventionen. Insofern werden vielfach dieselben Methoden, die auch zur Erhebung des Ist-Zustands benutzt wurden, angewandt. Als Methoden der Evaluation werden alle Methoden der empirischen Sozialforschung bzw. anwendungsorientierter Forschung benutzt. Am Beispiel der Evaluierung im Weiterbildungsbereich können die Reaktionen der Teilnehmenden (z. B. ihre Zufriedenheit), das Verhalten im Übungsfeld (z. B. durch Beobachtungen im Rollenspiel), das Wissen über das Gelernte, das Verhalten im Praxisfeld (z. B. durch Befragen von Vorgesetzten) und die Ergebnisse (z. B. ob Verbesserungsvorschläge gemacht werden) gemessen werden. Grundsätzlich lassen sich bei der Evaluation zwei unterschiedliche, aber sich einander keineswegs ausschließende Vorgehensweisen unterscheiden (Döring & Bortz, 2016) und zwar: – die summative Evaluation, bei der nach Durchführung der Maßnahme überprüft wird, welche Wirkungen sie erbracht bzw. ob und inwieweit z. B. die Lernziele erreicht wurden, – sowie die formative Evaluation, die den Prozess der Maßnahme begleitet und diese im Verlauf zu verbessern und zu optimieren sucht. Für die Evaluierenden steht an erster Stelle deren fachliche Kompetenz – insbesondere ihre Methodenkenntnis. An zweiter Stelle geht es um ihre Neutralität. Sie müssen von den Betroffenen akzeptiert sein und schließlich sollten sie sich auch bewusst sein, dass sie Macht durch die Überprüfung einer Maßnahme ausüben können. In der Praxis gibt es Widerstände gegen Evaluierung, die teilweise auch mit bestimmten Schwachstellen zusammenhängen. So werden häufig die ermittelten Ergebnisse nicht genutzt oder es wird ihre Bedeutsamkeit nicht erkannt.
Vertiefende Literatur
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Nach Singh et al. (2015) wird die psychologische Marktforschung als Evaluationsforschung aufgefasst: Es geht dabei darum, die Wirksamkeit einer Maßnahme zu überprüfen, herauszufinden, warum die Maßnahme wirkt, wie die Maßnahme umgesetzt wird und ob die Zielgruppe erreicht wird.
4.3 Resümee Die Wirtschaftspsychologie als angewandte Wissenschaft bedient sich sämtlicher in den Sozialwissenschaften üblichen Erhebungsmethoden. Die Unterscheidung in quantitative und qualitative Herangehensweisen beschreibt die Besonderheiten der jeweiligen Methoden wie Befragung und Experiment bzw. Interviews. Dabei sind quantitative und qualitative Vorgehensweisen keine Gegensätze mehr, sondern können sich in einem Forschungsdesign gut ergänzen.
Vertiefende Literatur Döring, N. & Bortz, J. (2016). Forschungsmethoden und Evaluation (5. Aufl.). Springer. Neumann, P. & von Rosenstiel, L. (2007). Methoden der Marktpsychologie. In L. von Rosenstiel & D. Frey (Hrsg.), Marktpsychologie. Enzyklopädie der Psychologie: Wirtschafts-, Organisations- und Arbeitspsychologie. Bd. 5 (S. 27–111). Hogrefe.
5 Anwendungsfelder 5.1 Arbeit, Freizeit und Muße Julia A. M. Reif und Erika Spieß 5.1.1 Arbeit Bei Arbeit im Sinne von Erwerbsarbeit handelt es sich um eine menschliche Tätigkeit, die darauf abzielt, materielle oder immaterielle Produkte herzustellen oder zu verändern (Semmer & Meier, 2019). „Das Nötige tun, um das Notwendige zu erreichen“, wie es Arlt und Zech (2015, S. 12) beschreiben. Arbeit ist gekennzeichnet dadurch, dass sie von einem von außen gegebenen Bedarf getrieben wird und brauchbare Produkte in einem Leistungsprozess erzeugt, die abschließend auch Verwendung finden (Arlt & Zech, 2015). Neben der Sicherung des Einkommens und damit der Lebensgrundlage kommt der Arbeit eine Reihe von sozialen und psychologischen Funktionen zu (Semmer & Meier, 2019, in Anlehnung an Jahoda, 1995): – Aktivität und Kompetenz: Arbeit aktiviert uns und trägt damit zur Entwicklung unserer Kompetenzen bei. – Zeitstrukturierung: Arbeit gibt uns eine zeitliche Struktur im Tages-, Wochenoder Jahresablauf. – Kooperation und Kontakt: Unsere Arbeit ermöglicht uns, soziale Kontakte zu knüpfen und unsere kooperativen Fähigkeiten auszubauen. – Soziale Anerkennung: Unsere Arbeit gibt uns das Gefühl, einen nützlichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, wir erfahren soziale Anerkennung für unsere Leistung. – Persönliche Identität: Unsere Arbeit macht uns zu „jemandem“, wir sehen uns als Lehrer/-in, Schreiner/-in, Ingenieur/-in oder Psycholog/-in. Sie bildet also eine Grundlage für unsere Identität und unser Selbstwertgefühl. An diesen psychosozialen Funktionen der Arbeit lässt sich auch ablesen, weshalb monatelanges isoliertes Arbeiten im Homeoffice oder auch Arbeitslosigkeit (neben existenziellen Problemen) psychisch stark belastende Ereignisse sein können (vgl. z. B. Tejero et al., 2021). Arbeit im historischen Kontext Der Begriff „Arbeit“ wird in unterschiedlichen Gesellschaften, Kulturen und Epochen mit verschiedenen, auch ambiguen Inhalten gefüllt. Dies gilt auch für die Bedeutung, die der Arbeit beigemessen wird (z. B. von Rosenstiel, 2014).
https://doi.org/10.1515/9783110778410-006
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Im historischen Kontext der Schöpfungsgeschichte kann Arbeit als Fluch bzw. Strafe für den Sündenfall verstanden werden: „... verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ (Gen. 3, 17–19). Andererseits war Gott selbst ein Arbeiter, der die Welt geschaffen hat und den Menschen den Auftrag gab, die göttliche Schöpfung fortzusetzen: „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn baue und bewahre.“ (Gen. 2, 15) (nach von Rosenstiel, 2014, S. 26). In der Antike wurde die schwere Tätigkeit der Handwerker und Sklaven (ponos) dem geistigen Tun als Tätigkeit der Freien, also der (Selbst-)Bildung der Philosophen, der Muße des Denkens (griechisch: scholé; lateinisch: otium) bzw. den ehrenvollen freien Künsten (z. B. Rhetorik, Mathematik, Musik), gegenübergestellt. Die Arbeit der Freien war die Negation der Muße (negotium, ascholia) (vgl. Arlt & Zech, 2015). Im Mittelalter gab es einerseits die Bauern, die für ihre (weltlichen) Herren Frondienst verrichteten, der durch die damit verbundene Hörigkeit zur Last und Plackerei verkam, wobei aber auch Gewinnstreben negativ konnotiert als Laster galt. Von der Arbeit befreit waren Priester- und Adelsstand, die in Form von Krieg oder Minnedienst „arbeiteten“ (vgl. Arlt & Zech, 2015). Mit der protestantischen Ethik im 16. Jahrhundert wird Arbeit zum Dienst für Gott erhoben, der Mensch sei zum Arbeiten geboren, so Martin Luther. Müßiggang wird zur Sünde und als Synonym für Faulheit abgelehnt, was die Entstehung kapitalistischen Gedankenguts beschleunigt (von Rosenstiel, 2014). Die Industrialisierung im 18. Jahrhundert führt durch Erfindungen wie der Dampfmaschine oder des mechanischen Webstuhls zu einer enormen Beschleunigung der Produktion. Muße im Sinne der Faulheit wird weiterhin abgewertet. Im Sinne des Kapitalismus wird Freizeit als Nicht-Arbeit gesehen und dient der Wiederherstellung der Arbeitskraft (von Rosenstiel, 2014). Auch in der weiteren Entwicklung begegnet uns das ambivalente Gesicht der Arbeit. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und zunehmender Automatisierung wird Arbeit als hohes Gut wertgeschätzt. Die Angst, am Arbeitsplatz durch Roboter ersetzt zu werden, ist in machen Tätigkeitsbereichen groß. An anderer Stelle herrscht Fachkräftemangel, wobei das vorhandene Potenzial an Arbeitskräften nicht vollständig genutzt wird und es zur Dequalifikation kommt (von Rosenstiel, 2014). An wieder anderer Stelle verbringen Menschen nahezu ihr ganzes Leben in der Arbeit, Arbeit und Leben verschmelzen (Work-Life-Blending), ermöglicht durch eine übermäßige Bindung der Arbeitenden an ihr Unternehmen durch einen „purpose“, der durch Internalisierung zur Selbstführung wird (Arlt & Zech, 2015).
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5 Anwendungsfelder
Humane, menschenwürdige Arbeit Was eine gut gestaltete Arbeitstätigkeit ausmacht, kann man an sogenannten Kriterien humaner Arbeitsgestaltung festmachen. Hacker und Richter (1980) beschreiben hier: – Ausführbarkeit: Kann die Tätigkeit unter Berücksichtigung des Auftrags, der Arbeitsmittel und der Arbeitsbedingungen zuverlässig ausgeführt werden? – Schädigungslosigkeit: Kann die Tätigkeit ohne Gesundheitsschäden ausgeführt werden? – Beeinträchtigungsfreiheit: Kann die Tätigkeit ohne Beeinträchtigungen von Wohlbefinden und Gesundheit ausgeführt werden? – Persönlichkeitsförderlichkeit: Können durch die Tätigkeit Fähigkeiten und Einstellungen erhalten bzw. weiterentwickelt werden? (vgl. auch Schaper, 2019). Eine weitere Beschreibung bzw. Definition menschenwürdiger Arbeit findet sich in der Agenda 2030. Hier beschlossen die Vereinten Nationen in 2015 (UN, o. D.) 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, darunter menschenwürdige Arbeit (vgl. Decent Work, Sustainable Development Goal 8). Decent Work definiert sich anhand folgender Dimensionen (Duffy et al., 2017, deutschsprachige Validierung der Decent Work Scale von Masdonati et al., 2019): – Sicherheit bei der Arbeit: Fühlen sich die Arbeitenden sicher vor emotionaler, verbaler oder körperlicher Belästigung bei der Arbeit? – Zugang zur Gesundheitsversorgung: Bieten Arbeitgebende bzw. Regierung eine gute Gesundheitsversorgung? – Ausreichende Entlohnung: Fühlen sich die Arbeitenden angemessen (in Bezug auf Qualifikation und Arbeitserfahrung) entlohnt? – Freizeit und Erholung: Haben die Arbeitenden Freizeit während der Arbeitswoche, in der sie sich erholen und Aktivitäten nachgehen können? – Kongruente Werte: Entsprechen sich die Werte der Organisation und die Werte der Arbeitenden? Abgesehen von grundlegenden Kriterien einer humanen und menschenwürdigen Arbeit sind auch weitere Kriterien für die Attraktivität eines Arbeitgebers von Bedeutung. Arbeitgeberattraktivität Für die Arbeitgeberattraktivität spielen Weiterbildungsmöglichkeiten, Aufstiegschancen, Bezahlung (als „harte“ Faktoren) sowie die Arbeitsatmosphäre, Abwechslung und Work-Life-Balance (als „weiche“ Faktoren) eine wichtige Rolle (Sommer, 2018). Weitere Studien zeigen, dass die Generation Z insbesondere einen sicheren Arbeitsplatz, ein harmonisches Betriebsklima, sozialen Rückhalt im Team, eine gute Bezahlung, Anerkennung von Leistung und Möglichkeiten zur Weiterbildung schätzt (Steckl et al., 2019). Amerikanische Studien zeigen einen Anstieg an freizeitbezogenen (eine Arbeit, die
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auch Freiraum für andere Dinge im Leben lässt) und extrinsischen (Status, Prestige, gute Bezahlung, Aufstiegsmöglichkeiten) Werten und einen Rückgang an intrinsischen (interessante Tätigkeit) und sozialen (z. B. Arbeit leistet Beitrag zur Gesellschaft) Werten (Campbell et al., 2017; Twenge et al., 2010).
5.1.2 Freizeit Freizeit hat in Wissenschaft und Gesellschaft verschiedene Bedeutungen. Henderson (2008) versucht sich einer Definition von Freizeit zu nähern, indem sie Freizeit aus fünf verschiedenen Perspektiven betrachtet: Zeit, Aktivität/Erholung, Erleben/Gemütszustand, Räumlichkeit/Kontext und Kultur. – Zeit: Definiert man Freizeit als freie Zeit, so befindet man sich in der Forschungs- bzw. Denktradition industrialisierter moderner Gesellschaften. Freizeit beschreibt hier die Zeit, die außerhalb der Arbeit verbracht wird, bzw. Aktivitäten, die außerhalb der Arbeit unternommen werden (Newman et al., 2014). Dichotom betrachtet wird Freizeit hier also als Nicht-Arbeit gesehen bzw. als Zeit ohne (bezahlte) Verpflichtungen. Letzteres ergibt sich daraus, dass auch außerhalb der Arbeit bezahlten oder unbezahlten Verpflichtungen nachgegangen werden kann bzw. muss, wie etwa dem Haushalt, der Versorgung der Kinder, Vereinsarbeit oder Arztbesuchen, die nicht der Freizeit zugerechnet werden können (Henderson, 2008). Aber auch innerhalb der Arbeit oder der Arbeitszeit können Grenzen zwischen tatsächlich arbeitend verbrachter Zeit und privater Zeit bei der Arbeit verschwimmen (private Interaktionen mit Kolleginnen und Kollegen, Organisieren privater Termine während der Arbeitszeit, private Internet-Recherchen etc., vgl. auch Gellmers & Yan, 2023). Allein durch freie Zeit lässt sich also Freizeit nicht beschreiben, Zeit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Komponente von Freizeit (Henderson, 2008). – Aktivität/Erholung: Eine weitere Bedeutung, die der Freizeit häufig beigemessen wird, ist verbunden mit Freizeitaktivitäten. Es geht dabei um Aktivitäten, die Erholung oder Spaß ermöglichen, die um ihrer selbst willen verfolgt werden (ein sekundärer Nutzen, wie z. B. gesundheitliche Vorteile, ist dabei nicht ausgeschlossen) (Henderson, 2008). Das „Spiel“ als Freizeitaktivität ist dabei eine eigene Forschungstradition. Das „Spiel“ ist gekennzeichnet durch einen spontanen Charakter, durch Selbstentfaltung, Vergnügen und Selbstzweck. Viele Freizeitaktivitäten sind, wie bereits erwähnt, auf Gesundheitsförderung oder Förderung des Wohlbefindens ausgerichtet. Eine Kategorisierung von Freizeitaktivitäten liefern beispielsweise Piepenburg und Kandler (2015), die rezeptiv-erholsame (sozial-unternehmend, virtual life, heimische Entspannung, Musik, Urlaub, Kultur), aktiv-erholsame (Outdoor, Tiere, naturnahe Erholung, Spiele und Rätsel, Wellness), hegend-gestaltende (Haushalt, gestalterisch-handwerklich, sozial-unterstützend, kochen und ba-
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cken), intellektuelle (informierend-bildend, intellektuell-kreativ, Religion und Spiritualität) und kompetitive Freizeitinteressen (Finanzen, z. B. Aktienmarkt beobachten, Preise vergleichen, Auto und Motorrad, Sport) unterscheiden. Andere Klassifikationen unterscheiden u. a. entspannende, auf persönliche Entwicklung und auf soziale Kontakte ausgerichtete, produktive, ästhetische oder unterhaltsame, aufregende Tätigkeiten und Aktivitäten in schönen Umgebungen (Yıldırım Şimşek & Çevik, 2020). Diese Kategorisierung greift auch Erlebnisqualitäten auf, die im folgenden Punkt erläutert werden. Die Möglichkeiten an Freizeitaktivitäten entwickeln sich laufend mit fortschreitender technologischer Entwicklung weiter (Henderson, 2008). Gemäß Vahsen (2015, S. 32) „verändern und verschieben sich Freizeitverhaltensweisen hin zu stärker Ich-zentrierten, medienorientierten und flexiblen Aktivitäten“, wodurch strukturiertere Formen der Freizeitgestaltung wie in Vereinen zunehmend ersetzt werden. Erleben/Gemütszustand: Gemäß dieser Sichtweise auf Freizeit liegt Freizeit im Auge des Betrachters bzw. der Betrachterin. Freizeit definiert sich hier durch die Freiheit der Wahl, das Verfolgen einer Tätigkeit um ihrer selbst willen und das Erleben von Kontrolle (Henderson et al., 2001). Weitere motivationale Erlebniszustände, die Freizeit kennzeichnen sind z. B. auch Leistung bzw. Stimulation (soziale Anerkennung erfahren, Aufregendes erleben), Autonomie, Risikofreude, Zusammengehörigkeit, Lernen, Genießen, in sich gehen, Kreativität oder Fitness (Manfredo et al., 1996). Viele dieser Erlebniszustände werden auch als sinnstiftend erlebt (Henderson, 2008). Räumlichkeit/Kontext: Freizeit hängt nicht nur vom Individuum und seinen Aktivitäten und Erlebniszuständen ab, sondern auch von Bedingungen außerhalb des Individuums, wie etwa dem sozialen Kontext, in dem sich das Individuum bewegt, politischen Regularien und Vorschriften oder der Natur. Insbesondere die räumliche Umgebung beeinflusst die Wahrnehmung von Freizeit. Orten wird durch persönliche Erlebnisse und Erfahrungen eine soziale oder auch emotionale Bedeutung zugeschrieben. Diese Bedeutung der Orte hängt wesentlich damit zusammen, ob Menschen „Freizeit“ in ihnen erleben (Henderson, 2008). Sozialer Kontext/Kultur: Freizeit lässt sich nicht ohne ihren sozialen bzw. kulturellen Kontext verstehen. Oft wählen wir für unsere Freizeitgestaltung Aktivitäten aus, weil auch andere Personen in unserem Umfeld diesen Aktivitäten nachgehen. Der Begriff „leisure“ als englisches Pendant zu „Freizeit“ scheint nicht ohne Weiteres in seiner Bedeutung auf Personen aus nicht westlichen Kulturen übertragbar zu sein (Henderson, 2008).
Eine weitere Kategorisierung unterscheidet zwischen struktureller und subjektiver Freizeit. Strukturelle Freizeit beschreibt das Ausmaß, in dem an objektiven Freizeitaktivitäten teilgenommen wird, wie etwa sozialen Aktivitäten, Sport oder Kultur. Subjektive Freizeit beschreibt hingegen das Ausmaß, in dem man subjektiv wahrgenommenen
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Freizeitaktivitäten nachgeht (Kuykendall et al., 2015) (vgl. auch die oben genannten Kategorien Aktivität/Erholung vs. Erleben/Gemütszustand). Freizeit und Wohlbefinden Verschiedene Studien belegen einen positiven Effekt von Freizeit auf subjektives Wohlbefinden (z. B. Kuykendall et al., 2015). Dieser Effekt wird so erklärt, dass Freizeitaktivitäten zu Zufriedenheit mit bzw. Freude an der Freizeit führen und dies wiederum das subjektive Wohlbefinden erhöht. Weitere Erklärungen des Zusammenhangs liefert das DRAMMA Modell von Newman et al. (2014), das besagt, dass Freizeit die psychologischen Bedürfnisse Abschalten von arbeitsbezogenen Gedanken (detachment), Erholung von arbeitsbezogenem Stress (relaxation), Autonomie (autonomy), das Meistern von Herausforderungen (mastery), Bedeutsamkeit (meaning) und Zugehörigkeit (affiliation) erfüllt. Diese Aspekte zeigen auch deutliche Parallelen zur Selbstbestimmungstheorie von Ryan und Deci (2001) (vgl. Kapitel 3.1.6) bzw. zur Definition von Erholungserfahrungen (Sonnentag & Fritz, 2007). Eine kritische Betrachtung der Freizeit Die „Nachfrage“ nach Freizeit schafft einen Bedarf an Freizeitmöglichkeiten, der von der Freizeitindustrie angeboten wird (Henderson, 2008). Gemäß einer ökonomischen Perspektive auf Freizeit, im Sinne einer solchen Freizeitindustrie, ist Freizeit nur so gut wie die Produkte, die als „Freizeit“ verkauft werden. Freizeit dient nicht nur der Regeneration von Arbeitskraft, sondern stellt gleichzeitig einen Absatzmarkt für die in der Arbeit hergestellten Produkte dar (Gimmel, 2017). Diese eher kritische Sicht auf (besinnungslose) Freizeit, gekennzeichnet durch „Konsum und konventionelle Verhaltensautomatismen“, wird von Gimmel und Keiling (2016, S. 3) als Pendant zur entfremdeten Arbeit bzw. Geschäftigkeit gesehen. Zudem dienen Freizeitaktivitäten nicht immer nur dem Wohlbefinden. Zahlreiche kriminelle Aktivitäten, die als „Freizeit“ oder in der Freizeit ausgeübt werden (Sextourismus, Drogenkonsum, Glücksspiel), können bei den Konsumierenden als auch bei den ausgebeuteten Personen zu erheblichem Schaden führen (Henderson, 2008). Zu viel Freizeit kann zu Langeweile führen, die mitunter solche Verhaltensweisen verstärken könnte. Dies ist in Hinblick auf eine „post-work“-Gesellschaft zu beachten. Mehr freie Zeit durch steigende Lebenserwartungen und verkürzte Wochenarbeitszeiten durch zunehmende Automatisierung bedeutet nicht automatisch ein Mehr an hochwertiger Freizeit (Snape et al., 2017). Gesellschaften müssen darauf vorbereitet werden, sich in den gewonnenen Zeiträumen Mußeräume zu schaffen. Ohne die Fähigkeit zur Muße könnten freie Zeiträume aus Fantasielosigkeit nicht genutzt werden oder zu „ideologischer Verdummung“ durch die Zerstreuungen der Kulturindustrie führen (Arlt & Zech, 2015, S. 33).
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5.1.3 Muße Gemäß Dudenredaktion (o. D.) bedeutet Muße „freie Zeit und [innere] Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“. Wissenschaftlich definieren lässt sich Muße als „abgegrenzte Perioden einer Freiheit von temporalen Zwängen, die mit der Abwesenheit einer unmittelbaren, die Zeit beschränkenden Leistungserwartung verbunden sind [...]“ (Dobler & Riedl, 2017, S. 1). Im Englischsprachigen wird der Begriff „Muße“ meist mit „leisure“ übersetzt, es gibt eine ganze Forschungstradition der „leisure research“, in der sich aber freizeit- und mußebezogene Ansätze allein schon wegen der identischen Übersetzung als „leisure“ nicht klar voneinander trennen lassen und oft ineinander übergehen (z. B. Snape et al., 2017, der „leisure“ einerseits als „free time“ oder „spare time“ (S. 184) auffasst, aber andererseits auch die aristotelische Auffassung von Muße als „leisure“ (S. 185) benennt; siehe auch Kabanoff, 1980). Die fließenden Grenzen des englischen Begriffs leisure zeigen sich auch in Nash’s (1960, zitiert nach Veal, 2020) Hierarchie der „leisure activity“, in der unter einer Nulllinie delinquentes Freizeitverhalten, das sich gegen die Gesellschaft richtet, sowie exzessives Freizeitverhalten zum Schaden der eigenen Person verortet sind. Auf der nächst höheren Stufe folgt dann Freizeitverhalten zur Verhinderung von Langeweile (Unterhaltung, Vergnügungen, Zeit totschlagen). Die nächsten Stufen ermöglichen schließlich qualitativ hochwertigeres Freizeitverhalten, das es Individuen ermöglicht, sich aktiv einzubringen und mitzuwirken: emotionale Partizipation, bei der Personen aktiv Dinge anschauen, Reaktionen anderer wahrnehmen und selbst Emotionen empfinden (als Beispiel seien Fußball-Fans genannt, die im Stadion beim Spiel ihrer Lieblingsmannschaft starke Emotionen wie Freude, Aufregung, Frust oder Enttäuschung erleben); aktive Partizipation, bei der Personen aktiv an einer Freizeitaktivität teilnehmen und dabei den Regeln einer anderen Person folgen (Personen, die selbst Fußball im Verein spielen, oder Personen, die sich als Schauspieler/-innen in Theatergruppen einbringen); und kreative Partizipation, bei der Personen selbst neue Dinge erschaffen, z. B. in ihrer Freizeit malen oder schreiben und damit eine hohe Autonomie und Kontrolle über die eigene Tätigkeit haben. Die letzten Stufen gehen in eine mußehafte Bedeutung des „leisure“-Begriffs über, während die ersten Stufen negatives bzw. auf Erholung ausgerichtetes Freizeitverhalten widerspiegeln. Englischsprachige Forschung, die sich gezielt dem Konstrukt der Muße widmet, verwendet auch den Begriff „otium“. So definiert Munz (2020, S. 248) The concept of otium (...) as a deeper mode of experiencing linked to, but not identical with, terms like repose and meditation, flow or immersion. In both very active and relatively passive situations, it refers to an experience that can neither be produced intentionally, nor is it ever a means for some other objective.
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Arlt und Zech (2015) beschreiben drei Komponenten von Muße: – Loslassen beschreibt die kontemplative, freie und „selbstzweckhafte Beschäftigung mit geistigen Fragen des menschlichen In-der-Welt-Seins“ (Arlt & Zech, 2015, S. 31). Dieses Loslassen ist gleichzeitig durch eine hohe geistige Wachheit gekennzeichnet. – Empfangen beschreibt das Sich-treffen-Lassen von Selbst- und Welterkenntnis. Man ist offen für Ideen und Einfälle, die scheinbar zufällig auftauchen, obwohl man sie nicht bewusst gesucht hat. „Scheinbar“ deswegen, weil diesen Einfällen oft eine vorherige theoretische Beschäftigung vorausgeht, die durchaus anstrengend sein kann. – Diese Prozesse resultieren schließlich in Bildung, nicht zu verstehen als schulische Bildung in Vorbereitung auf den Beruf, sondern als Selbst-Bildung, die die „Voraussetzung für ein gelingendes Leben in einer gerechten Gesellschaft“ ist (Arlt & Zech, 2015, S. 32). Des Weiteren definieren Arlt und Zech (2015) Muße auch hinsichtlich sachlicher, zeitlicher und sozialer Aspekte, die wir hier noch um räumliche und qualitative Aspekte erweitern: – Sachlich lässt sich Muße als ästhetisches, wahrnehmendes, kontemplatives Sichversenken ohne bestimmten Gegenstandsbezug beschreiben. „Der mußende Mensch öffnet sich für den Einfall“ (Arlt & Zech, 2015, S. 17). – Zeitlich ist Muße durch Zeitsouveränität und eine zeitlose Gegenwärtigkeit gekennzeichnet. Der mußende Mensch ist frei von Druck, Zwang, Hektik und Stress. – Sozial ist Muße dadurch gekennzeichnet, dass das „soziale Aufgehobensein eines Individuums in einer Gemeinschaft“ (Arlt & Zech, 2015, S. 17) als eine ihrer Voraussetzungen bezeichnet werden kann. Muße kann in Abwesenheit anderer, aber auch in der Gemeinschaft im Sinne eines gemeinsamen Flows stattfinden. – Räumlich findet Muße „jenseits alltäglicher Notwendigkeiten und Aufdringlichkeiten“ (Arlt & Zech, 2015, S. 17) statt. – Qualitativ ist Muße von einer positiven Gestimmtheit, einer „Zustimmung zur Welt und zum eigenen In-der-Welt-Sein“ (Arlt & Zech, 2015, S. 18) geprägt, im Gegensatz zum negativ erlebten Totschlagen von Zeit. Das Paradox der passiven Aktivität bzw. aktiven Passivität spiegelt Muße wider.
5.1.4 Das Verhältnis von Arbeit, Freizeit und Muße Arbeit und Freizeit Arbeit und Freizeit können insofern als Gegensatz bzw. komplementäre Elemente aufgefasst werden, als Freizeit dadurch gekennzeichnet ist, dass man nicht arbeiten muss (Gimmel & Keiling, 2016). Freizeit dient der Reproduktion der Arbeitskraft und hat somit einen arbeitsbezogenen Zweck (Gimmel & Keiling, 2016). Freizeit ist auch deswegen eine Funktion der Arbeit, weil sie „einen Absatzmarkt der Produkte der Ar-
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beit darstellt“ (Gimmel, 2017, S. 58). Betrachtet man das Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit, so können diese beiden Domänen in verschiedenen Verhältnissen zueinander stehen (Super, 1984): – Freizeittätigkeiten als Erweiterung des Berufs: Jobbezogene Fähigkeiten und Interessen können in einem anderen, freieren Kontext eingebracht bzw. verfolgt werden. – Freizeittätigkeiten als Kompensation für den Beruf: Ein breiteres Spektrum an Interessen und Fähigkeiten kann durch die Freizeitaktivität ausgeübt werden. Übt man im Beruf fragmentierte, unvollständige Aufgaben aus, kann es der mentalen Gesundheit zuträglich sein, in der Freizeit Interessen, Fähigkeiten und Individualität ausleben zu können und sinnhafte, bedeutsame Aufgaben zu verfolgen. – Freizeittätigkeiten ohne Verbindung zum Beruf: In der Freizeitaktivität kann man Fähigkeiten einsetzen, die man hat, aber im Beruf nicht zur Anwendung bringen kann, bzw. Interessen nachgehen, die im Beruf nicht adressiert werden. – Freizeitaktivitäten als Vorbereitung auf die Arbeit im Sinne einer protestantischen Arbeitsethik: Durch die Freizeitaktivitäten können Erfahrungen gesammelt werden, die auf ein berufliches Tätigkeitsfeld vorbereiten. – Freizeitaktivitäten als Substitut für eine Arbeitstätigkeit: Bei Verlust des Arbeitsplatzes kann dem Stigma der Arbeitslosigkeit durch das Verfolgen einer Freizeitaktivität entgegengewirkt werden. Die psychosozialen Funktionen der Arbeit können durch die Freizeitaktivität erfüllt werden (z. B. soziale Kontakte, Zeitstrukturierung). Das Verhältnis von Arbeit und Freizeit wird auch in der umfangreichen und teilweise fragmentierten Forschung zur „work-nonwork“-Schnittstelle aufgegriffen. Beigi et al. (2019) klassifizieren in einer Überblicksarbeit die verschiedenen in der Forschung verwendeten Begrifflichkeiten und unterscheiden zwischen negativen, balancierten und positiven Beziehungen zwischen Arbeit und Nichtarbeit: – Negative Beziehung zwischen Arbeit und Nichtarbeit: Der Knappheitshypothese (scarcity hypothesis) zufolge verfügen Personen über ein begrenztes Ausmaß an Zeit, Energie und Aufmerksamkeit. Wenn eine Person also mehrere Rollen gleichzeitig ausübt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Anforderungskonflikten kommt. Gemäß der Spillover Hypothese können sich negative Erlebnisse aus der einen Domäne auf die andere Domäne übertragen. Die Kompensationshypothese besagt, dass Personen versuchen, in der Freizeit negative Erlebnisse aus dem Arbeitskontext wieder auszugleichen. Gemäß der Segmentationshypothese werden Arbeit und Nichtarbeit getrennt, wobei eine unflexible Trennung aber zu verstärktem Rollenstress führen kann. In welcher Weise Arbeit in der heutigen Arbeitswelt die Freizeit beeinträchtigen kann, wird von Kuykendall, Zhu und Craig (2020) beschrieben: Just-in-time scheduling beschreibt die software-basierte Einplanung von Arbeitskraft bzw. Arbeitszeit anhand aktueller Kundenbedarfe. Das führt dazu, dass sich für die Arbeitenden Arbeitszeiten unvorhersehbar und mit kurzer Vorlaufzeit verändern
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können. Entstehende organisationale Erwartungen an „ideale Mitarbeitende“ lassen neue Normen entstehen, die totales Commitment und permanente Verfügbarkeit beinhalten. Darüber hinaus können auch Führungskräfte die Freizeit bzw. das Freizeitverhalten ihrer Mitarbeitenden negativ beeinflussen, indem sie die neu entstandenen Normen auch einfordern und selbst vorleben. Balancierte Beziehung zwischen Arbeit und Nichtarbeit: Hier geht es darum, z. B. durch Boundary Management eine Balance zwischen den Domänen herzustellen. Auch Person-Environment-Fit-Theorien werden in dieser Herangehensweise herangezogen. Bekannte Schlagwörter wie Work-Life-Balance finden sich hier. Positive Beziehung zwischen Arbeit und Nichtarbeit: Die Logik dieser Kategorie findet sich in ressourcenorientierten Theorien – die Energie oder die Ressourcen in einer Domäne können sich in positiver Weise auf die andere Domäne übertragen. (z. B. positiver Spillover, work-family enhancement, oder work-nonwork integration).
Work-leisure blending stellt eine weitere Art der Beziehung zwischen Arbeit und Freizeit dar. Hier geht es darum, Spaß und Spiel in die Arbeit zu integrieren, was in Forschung zu „organizational play“, „workplace fun“ oder „gamification“ untersucht wird. Aber auch Aspekte wie gemeinsame Feiern in der Arbeit, gemeinsam verbrachte Pausen oder Sportmöglichkeiten in der Arbeit sind Aspekte von work-leisure blending. Diese Phänomene stellen eine klare Trennung von Arbeit und Freizeit zunehmend in Frage (für eine Überblicksarbeit siehe Smith et al., 2022). Arbeit und Muße Betrachtet man das Verhältnis von Arbeit und Muße so kann man verschiedene Perspektiven einnehmen (Dobler, 2020): – Muße gegen Arbeit: Arbeit und Muße sind zwei getrennte Felder, die sich gegenseitig ausschließen. Dies entspricht auch einer aristotelischen Auffassung von Muße, die die Muße als Kontrastfall zur Arbeit (Gimmel & Keiling, 2016) bzw. die Arbeit (negotium) als Negation der Muße (otium) betrachtet (vgl. auch Arlt & Zech, 2015). – Muße in Arbeit: Arbeit und Muße sind unterschiedliche Felder, die sich aber nicht grundsätzlich ausschließen. Innerhalb der Arbeit gibt es Mußezeiten, die die Arbeit pausenhaft unterbrechen. – Arbeit als Muße: Arbeit erscheint den Arbeitenden hier als mußevolle Tätigkeit. Die Tätigkeit erfüllt zwar letzten Endes ihren Zweck, wird aber während der Ausführung zur freien Tätigkeit, weil sie in Muße ihren zweckbestimmten Charakter verliert. – Muße als Arbeit: Da die Fähigkeit zur Muße nicht vorausgesetzt werden kann, muss, um Muße erfahren zu können, zunächst am Selbst gearbeitet werden. „Arbeit an Muße ist (...) Arbeit an der eigenen Emazipation“ (Dobler, 2020, S. 314).
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Freizeit und Muße Freizeit als Erholungszeit (in industriellen Gesellschaften) steht im Gegensatz zu Muße, die sich von Freizeit durch ihren selbstzweckhaften Charakter abgrenzt (Gimmel & Keiling, 2016). Arbeit, Freizeit und Muße Gimmel und Keiling (2016, S. 11) unterscheiden Arbeit, Freizeit und Muße wie folgt: „Freizeit, als die Zeit, in der nicht gearbeitet werden muss, stellt sich (zumindest in industriellen Gesellschaften) als eine Erholungszeit für Arbeit dar. Muße unterscheidet sich dagegen als ein geschichtlich zunehmend marginalisiertes Konzept selbstzweckhaften Tuns grundlegend sowohl von Arbeit als auch von Freizeit.“ Muße ist demnach dadurch gekennzeichnet, „weder arbeiten noch sich für die kommende Arbeit erholen zu müssen“ (Gimmel & Keiling, 2016, S. 14), also als freie und selbstbestimmte Zeit zur Entfaltung persönlicher Fähigkeiten. Wie wird nun die Rolle der Muße in der zukünftigen Arbeitswelt sein, in der Arbeit durch Technologie erledigt wird und die Gesellschaft zur leisure-society wird? Ein Zukunftsszenario beschreibt den Menschen in einer solchen Post-Arbeitsgesellschaft, einer freizeit- bzw. mußebasierten Gesellschaft, als „homo otium“, den mußevollen oder mußenden Menschen, der sich der Selbstverwirklichung, der Selbsterfüllung bzw. der Selbsttranszendenz widmet (Matusov, 2020). Muße kann zu einer umfassenden, allseitigen Entwicklung der Menschen bzw. der Zivilisation und zu einem gelingenden, gerechten Leben beitragen (Arlt & Zech, 2015). Nach Spieß und Reif (2020) erlaubt das Muße-Konzept einen anderen Blickwinkel auf die Arbeitswelt und die Freizeit. Muße in Arbeit und Freizeit zu haben, könnte zu einem Mehr an Lebensqualität beitragen.
5.1.5 Resümee Arbeit und Freizeit lassen sich, zumindest in einem traditionellen Verständnis, komplementär zueinander betrachten. Freizeit als Nicht-Arbeit dient in einem industriellen Verständnis der Erholung der Arbeitskraft. Muße überwindet diese Dichotomisierung. Sie ist als freier, selbstzweckhafter Erlebenszustand sowohl in Arbeit als auch in Freizeit möglich. Die Bedeutung der Muße im Bereich der Wirtschaftspsychologie wird deutlich, wenn man die Zukunft von Arbeit und Freizeit betrachtet. Entwickelt sich die Gesellschaft durch zunehmende Technologisierung zu einer „post-work“-Gesellschaft oder Freizeitgesellschaft, so müssen wir auf die neu gewonnenen Zeiträume vorbereitet sein. Besinnungsloser Konsum scheint nicht die Lösung zu sein, vielmehr die Fähigkeit zur Muße.
5.2 Arbeit 4.0 und neue Technologien
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5.2 Arbeit 4.0 und neue Technologien Katharina Pfaffinger, Julia A. M. Reif und Erika Spieß Die Digitalisierung als aktueller Megatrend beeinflusst fast alle Aspekte unseres Lebens, von unserem Zusammenleben und unserer Kommunikation bis hin zur Art und Weise, wie wir arbeiten. Durch die Covid-19 Pandemie haben sich insbesondere Home Office und auch der Einsatz neuer Technologien weiter verbreitet und sind heutzutage fast nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken (vgl. Kapitel 5.1). Arbeit 4.0 ist dabei ein immer häufiger verwendeter Begriff, der den mit der digitalen Transformation verbundenen Wandel der Arbeitswelt beschreibt (FraunhoferInstitut für Entwurfstechnik Mechatronik, 2023). Die Art und Weise, wie wir arbeiten, verändert sich. Durch neue Technologien wird Arbeit grundsätzlich flexibler und digitaler. Diese Veränderungen gelten für verschiedenste Branchen und Bereiche – von der Produktion bis zu Wissensarbeit oder dem Dienstleistungssektor. Neben positiven Chancen bringt die Digitalisierung auch Risiken mit sich und kann zu negativen Reaktionen wie Stress oder Angst führen. Auch wenn im Allgemeinen meist positive Aspekte der Digitalisierung diskutiert werden (z. B. bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Homeoffice, besserer Zugang zu Informationen, bessere Verfügbarkeit), müssen auch damit zusammenhängende nachteilige Aspekte (z. B. verschwimmende Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben) untersucht werden, um mögliche negative Konsequenzen abmildern oder vermeiden und die positiven Chancen nutzen zu können (z. B. Leung, 2011; Mano & Mesch, 2010). Zwei dieser negativen Konsequenzen sollen in den folgenden Abschnitten vorgestellt und diskutiert werden: Technostress und Digitalisierungsangst.
5.2.1 Technostress Obwohl die Nutzung neuer Technologien heute weit verbreitet ist, gibt es Hinweise darauf, dass sich diese Nutzung negativ auf das Wohlbefinden auswirkt (z. B. Barber & Santuzzi, 2015 sowie Day et al., 2012). Traditionelle Stress- und Erholungsmodelle können zur Erklärung des Auftretens negativer Folgen im Zusammenhang mit der Digitalisierung und neuen Technologien herangezogen werden. Demzufolge können sich Technologien dabei auf zwei Arten auswirken: 1. Sie können die Anforderungen erhöhen und somit negative psychologische Folgen nach sich ziehen: Neue Technologien können entweder bestehende Anforderungen wie Arbeitsüberlastung oder Unterbrechungen verstärken (z. B. Yun et al., 2012) oder eine Quelle für neue Stressoren sein (z. B. Barber & Santuzzi, 2015). 2. Neue Technologien können Erholungsprozesse behindern und es den Beschäftigten daher erschweren, ihre Ressourcen wieder aufzufüllen.
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Anforderungen, die sich aus der Digitalisierung oder neuen Technologien ergeben (z. B. Informationsüberlastung, technische Probleme), können beispielsweise als „Job Demands“ betrachtet werden, wie sie im Job Demands-Resources Model von Bakker und Demerouti (2007) oder im Job Demands-Control Model von Karasek (1979, 2011) beschrieben werden, und lösen dadurch Stress aus. Sie können auch als Stressoren auf der Grundlage der Transactional Theory of Stress von Lazarus (1991) betrachtet werden. In Anlehnung an das Effort-Reward-Imbalance-Modell von Siegrist (1996) führen Digitalisierung und neue Technologien zu einem empfundenen Ungleichgewicht zwischen hohem Aufwand (z. B. hoher Lernaufwand, um sich an eine neue Software zu gewöhnen) und geringer Belohnung (z. B. keine gefühlten Verbesserungen durch den Einsatz einer neuen Software, fehlende organisatorische Anerkennung), was entsprechend negative Konsequenzen nach sich zieht. Bereits Lazarus (1991) als Begründer der Transaktionstheorie des Stresses stellte fest, dass es wichtig sei, zu berücksichtigen, wie sich die Stressquellen und der Bewältigungsprozess mit dem gesellschaftlichen Wandel verändern (S. 6) (siehe auch Kapitel 2.4). Aufgrund der gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung ist es daher auch notwendig zu untersuchen, wie sich die Quellen von Stress durch die Digitalisierung verändern: 1. Einerseits können neue Technologien Stressoren oder Anforderungen wie Überlastung, Rollenambiguität oder Arbeitsplatzunsicherheit schaffen (Fenner & Renn, 2010; Knani, 2013). Neu aufkommende Anforderungen und Stressoren im Zusammenhang mit IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie) wurden bereits konzeptualisiert und beschrieben, wie z. B. Teledruck (Barber & Santuzzi, 2015) oder Arbeitsintensivierung (Kubicek & Tement, 2016). Day et al. (2012) nannten IKT-Probleme (z. B. Computerprobleme oder verlorene Daten), Verfügbarkeit (z. B. höhere Erwartung an die Mitarbeitenden, auch außerhalb der Arbeitszeit immer erreichbar zu sein), Arbeitsbelastung (z. B. kann der Einsatz von IKT auch die Arbeitsmenge erhöhen), mangelnde Kontrolle (z. B. fehlende Kontrolle über IKT), Lernen (z. B. ständige Entwicklungen und die Notwendigkeit, sich weiterzubilden), Überwachung der Mitarbeitenden (z. B. Einsatz von IKT zur Kontrolle der Mitarbeitenden) und schlechte Kommunikation (z. B. größeres Risiko von Fehlkommunikation aufgrund weniger verbaler und nonverbaler Hinweise) als Facetten, die IKT-spezifische Anforderungen darstellen. 2. Andererseits wird auch über positive Auswirkungen neuer Technologien berichtet: So haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgefunden, dass der Breitband-Internetzugang die negativen Auswirkungen der Arbeit auf den häuslichen und privaten Bereich verringern kann (Leung, 2011). In vielen Fällen scheinen neue Technologien somit eine zweiseitige Wirkung zu haben: E-Mails können zum einen als effektives Kommunikationsinstrument betrachtet werden, aber zum anderen auch eine Quelle von Stressfaktoren sein (Brown et al., 2014). Die Anzahl der E-Mails steht in positivem Zusammenhang mit der Arbeitseffek-
5.2 Arbeit 4.0 und neue Technologien
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tivität, erhöht aber gleichzeitig den Arbeitsstress (Mano & Mesch, 2010). Yun et al. (2012) fanden außerdem heraus, dass eine erhöhte Arbeitsbelastung durch die Nutzung von beruflichen Telefonen zu Hause oder privaten Telefonen am Arbeitsplatz zu einem größeren Work-to-Life-Konflikt führt, der Arbeitsstress und Widerstand gegen die Nutzung dieser Telefone nach sich ziehen kann. Gleichzeitig kann die durch diese Praxis gewonnene Produktivität die Arbeitsüberlastung verringern, was als positiver Aspekt angesehen werden kann. Welche Aspekte von Technologien als Anforderungen oder Stressoren betrachtet werden können, wird von Ragu-Nathan et al. (2008) beschrieben, die ein konzeptionelles Modell zum Verständnis von Technostress entwickelt haben. Ihr Modell basiert auf den Annahmen und Grundlagen der Transactional Theory of Stress (Lazarus, 1991), die von Ragu-Nathan et al. (2008) auf die Spezifika von Technostress übertragen wurden. Demnach sind Technostressverursacher „Faktoren, die Stress durch die Nutzung von IKT erzeugen“ (S. 417) und können durch individuelle Unterschiede wie Alter, Geschlecht, Bildung oder Computersicherheit beeinflusst werden. Ragu-Nathan et al. (2008) nannten verschiedene Aspekte, warum IKT im Allgemeinen Stress verursachen: IKT können z. B. Stress verursachen, weil sie komplex sind und sich schnell verändern, was es schwierig macht, sich an sie zu gewöhnen oder Erfahrungen zu sammeln. Dies erfordert auch, dass die Mitarbeitenden ständig neue Fähigkeiten und Programme erlernen. IKT können auch zusätzliche Arbeit verursachen, Multitasking erfordern oder von technischen Problemen und Fehlern begleitet sein. Der ständige Umgang mit IKT in Verbindung mit der Erwartung, ständig erreichbar und verbunden zu sein, kann den normalen Arbeitstag verlängern. IKT können auch den gleichzeitigen Umgang mit verschiedenen Informationsquellen erfordern.
5.2.2 Digitalisierungsangst Skalen und Messgrößen für negative Gefühle im Zusammenhang mit Technologien waren in den 1980er und 1990er Jahren recht beliebt, als Konzepte wie Computerangst (z. B. Rosen & Weil, 1995), Computerphobie (z. B. Jay, 1981), Computeraversion (z. B. Meier, 1985) oder Computerresistenz (z. B. Gibson & Rose, 1986) aufkamen. Im Anschluss daran ging die Forschung zu diesem Thema eher zurück, obwohl einige neue Skalen mit Schwerpunkt auf neuen Technologien wie Roboter (z. B. Nomura et al., 2005) oder autonom fahrende Fahrzeuge (z. B. Hudson et al., 2019) entwickelt wurden. Auch der Begriff der Technologieangst wurde in diesem Zusammenhang geprägt und konzentriert sich auf den Gemütszustand der Benutzenden in Bezug auf allgemeine technologische Hilfsmittel und insbesondere auch auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Nutzenden, technologiebezogene Hilfsmittel zu verwenden (Meuter et al., 2003, S. 900). Ein etwas breiteres Phänomen, das sich mit Angst in Bezug auf die Digitalisierung im Allgemeinen beschäftigt, ist die sogenannte Digitalisierungsangst (Pfaffinger et al., 2020). Digitalisierungsangst ist dabei nicht auf bestimmte Technologien bezogen und
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daher auch auf neue Technologien anwendbar, die möglicherweise noch gar nicht entwickelt wurden: Die Items zur Messung von Digitalisierungsangst beziehen sich auf digitale Technologie, digitale Kommunikation, digitale Systeme oder die Digitalisierung im Allgemeinen. Digitalisierungsangst sieht Digitalisierung als fortlaufenden Prozess an und schließt dabei auch die Integration von Technologie in alle Aspekte des täglichen Lebens ein (Pfaffinger et al., 2021). Die dazu entwickelte Digitalisierungsangstskala (DAS) besteht aus 35 Items, die sich einer von vier Kategorien von Digitalisierungsangstauslösern zuordnen lassen: eine allgemeine Kategorie, die gesellschaftliche Auslöser beschreibt, eine Kategorie, die Auslöser in Zusammenhang mit Interaktion und Führung umfasst, eine Kategorie, die Auslöser beschreibt, die in einem selbst liegen, und eine Kategorie, die Auslöser repräsentiert, die aus dem Implementierungsprozess der Digitalisierung resultieren. – Allgemein (15 Items), z. B.: Es macht mir Angst, dass die Menschheit infolge der Digitalisierung von Technologie abhängig wird. – Selbst (8 Items), z. B.: Ich befürchte, dass ich selbst durch die Digitalisierung nicht mehr mithalten kann. – Interaktion und Führung (7 Items), z. B.: Es macht mir Angst, dass infolge der Digitalisierung ein Roboter mein nächster „Kollege“ sein könnte. – Implementierung (5 Items), z. B.: Mir macht es Angst, dass es kein gutes Konzept für die Umsetzung der Digitalisierung gibt. Die Skala ermöglicht die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Digitalisierungsangst und gesundheits- und leistungsbezogenen Ergebnissen, was zu einem ganzheitlichen Modell von Digitalisierungsstress, seinen Antezedenzien und Folgen beitragen kann. Sie kann auch verwendet werden, um Beziehungen zwischen verschiedenen Arten von digitalisierungsbedingten Anforderungen zu untersuchen sowie ihre Wirkweise auf Wohlbefinden und organisatorische Ergebnisse. Mit Hilfe der DAS können verschiedene Grade der Digitalisierungsangst präzise und zuverlässig gemessen werden. Die Skala kann somit von Managerinnen und Managern eingesetzt werden, um die „Top-Auslöser“ für Digitalisierungsangst innerhalb einer Organisation zu identifizieren oder von Einzelpersonen, um ihre individuellen Hauptauslöser erkennen zu können. Das Ausfüllen der DAS kann Organisationen oder Einzelpersonen dabei helfen, entsprechende Maßnahmen abzuleiten, um den identifizierten Ängsten zu begegnen. Wenn z. B. Fragen der Datensicherheit als Hauptsorge identifiziert werden, könnte die Organisation ihre Datensicherheitsstrategien und - verfahren professionell überprüfen lassen. Wenn tatsächlich Datensicherheitsrisiken identifiziert werden, müssen Maßnahmen ergriffen werden, um diese Risiken zu reduzieren und passende Lösungen zu finden. Dabei sollten die Mitarbeitenden in jedem Fall über dieses Verfahren informiert werden, um etwaigen Bedenken entgegenwirken zu können. Sollte sich die Datensicherheitsstrategie als ausreichend erweisen, muss auch dies den Mitarbeitenden mitgeteilt und erläutert werden. Im Falle von Bedenken, die vor allem auf der Umsetzungs-Subskala festgestellt wurden, kann es eine mögliche
5.3 Arbeitslosigkeit
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Idee sein, den Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, sich am Implementierungsprozess neuer Technologien oder Anwendungen zu beteiligen und sie über die Entwicklungen zu informieren, um die Sorgen der Mitarbeitenden auf organisatorischer Ebene zu verringern. Eine mangelnde Beteiligung der Mitarbeitenden am Entscheidungsprozess bei der Einführung neuer Technologien kann ebenfalls den Technostress erhöhen, weshalb eine gewisse Einbindung in jedem Fall empfehlenswert ist (Wang et al., 2008; Reif et al., 2018, 2022). Partizipation kann darüber hinaus als Ressource im Sinne des Job Demands-Resources Model (Bakker & Demerouti, 2007; Bakker, Demerouti, & Schaufeli, 2003) betrachtet werden und somit die negativen Auswirkungen von Anforderungen auf das Wohlbefinden und die organisationalen Ergebnisse abfedern. Es wurde zudem festgestellt, dass Partizipation als Ressource in Zusammenhang mit Engagement steht, was sich ebenfalls abschwächend auf die Auswirkungen der Digitalisierungsangst auswirken könnte (Bakker, Demerouti, de Boer & Schaufeli, 2003). Digitalisierungsängsten auf der Selbst-Subskala könnte möglicherweise mit Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen entgegengewirkt werden. Tarafdar et al. (2015) fanden zudem heraus, wie Empowerment-Strategien wie die Entwicklung von Technologie-Selbstwirksamkeit, die Förderung von Informationssystem-Kompetenz oder die Einbindung in Informationsund Kommunikationstechnologien die Angst vor der Digitalisierung verringern können.
5.2.3 Resümee Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich durch die technologischen Entwicklungen der Digitalisierung eine Vielzahl an Veränderungen ergibt, welche auch einen psychologischen Einfluss auf die Gesellschaft haben. Diese Veränderungen können zum einen Auslöser von negativen Reaktionen (z. B. Technostress, Digitalisierungsangst) sein, aber zugleich auch eine Gelegenheit für Verbesserungen (z. B. besserer Zugang zu Informationen, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie) darstellen. Um die möglichen positiven Auswirkungen neuer Technologien nutzen zu können, ist es daher umso wichtiger, die richtigen Ressourcen und Maßnahmen zu identifizieren, um Individuen bestmöglich zu befähigen und zu unterstützen.
5.3 Arbeitslosigkeit Arbeit hat immer noch eine zentrale Bedeutung in der modernen Industriegesellschaft (vgl. Kapitel 5.1), für viele Menschen stellt sie einen Teilbestand ihrer beruflichen Identität dar. Deshalb ist der Verlust der Arbeit nicht nur ein ökonomisches Problem, sondern vor allen Dingen auch ein psychologisches. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist seit 2005 im Trend zwar gesunken (z. B. Statista, o. D.; Bundesagentur für Arbeit, 2023), aber keineswegs verschwunden. Allerdings hat die Arbeitslosigkeit
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in anderen europäischen Ländern wie Griechenland und Spanien erheblich zugenommen (OECD, 2018). Paul und Moser (2015) bestimmen drei Merkmale der Arbeitslosigkeit: das Nichtvorhandensein einer Erwerbsarbeit, die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt und die Suche nach Erwerbsarbeit. Für die Betroffenen hat Arbeitslosigkeit langfristige negative Auswirkungen auf Einkommen, subjektive Befindlichkeit und (wahrgenommenen) sozialen Anschluss (Mayerhofer, 2018). In der Wirtschaftspsychologie spielt die Beschäftigung mit der Arbeitslosigkeit eher eine randständige Rolle (Kirchler, 2011; Paul & Moser, 2015; Schläpfer & Fichter, 2018a). Eine frühe sozialwissenschaftliche Studie zur Arbeitslosigkeit ist die Arbeit von Jahoda et al. (1991) „Die Arbeitslosen vom Marienthal“ aus den 1930er Jahren. In dieser groß angelegten Studie wurden durch Befragungen, Interviews und Beobachtungen insgesamt 120 Tage lang ab 1931 die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf das Verhalten der Betroffenen untersucht. So wurden nach Stilllegung der einzigen Fabrik im Dorfe z. B. Aufsätze von Kindern analysiert, Interviews und eine Messung der Gehgeschwindigkeit durchgeführt (Kirchler, 2011). Zentrales Ergebnis war die veränderte Zeiterfahrung: Die Männer bewegten sich langsamer fort, der Tag verlor seine Struktur, es erfolgte eine Zerstörung der Zeitstruktur. Es wurde eine Typologie der Arbeitslosen entwickelt, wonach es Ungebrochene, Resignierte, Verzweifelte und Apathische in der Bevölkerung gab. In der am schwersten betroffenen Gruppe wurden die Kinder vernachlässigt und die Familienkonflikte häuften sich. Jahoda et al. (1991) sehen diese Typologie als Prozessmodell, wonach sich nach dem Verlust der Arbeit der materielle Druck erhöht, sodass am Ende der Entwicklung Verzweiflung und Apathie stehen. In den späten 1970er und 1980er Jahren kam es zu einer Wiederaufnahme der Arbeitslosenforschung. Damals wurde die heute vorherrschende Sockelarbeitslosigkeit noch als ein konjunkturelles, d. h. vorübergehendes Phänomen gesehen. Inzwischen gibt es eine reiche Befundlage vieler empirischer Studien, deren Ergebnisse mitunter z. B. aufgrund unterschiedlich verwandter Messmethoden widersprüchlich sind. Wesentliche Erkenntnisse sind, dass Arbeitslosigkeit zu einem sinkenden Selbstbewusstsein und zu Pessimismus führt. Besonders Langzeitarbeitslose sind davon betroffen. Bei Personen mit subjektiver Arbeitsplatzunsicherheit wird in verschiedenen Studien ein höheres Angstniveau festgestellt. Zunehmend werden auch die indirekt von der Arbeitslosigkeit Betroffenen, wie die Kinder von Arbeitslosen, in der Forschung berücksichtigt. (Lang-von Wins et al., 2004). Die Arbeitslosenforschung in den 1930ern wie auch in der Mitte der 1970er Jahre hatte vor allem das Ziel, die individuellen Folgen und die Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Arbeitsplatz zu untersuchen. In den nachfolgenden Jahren hat sich jedoch in der sozialen Realität eine Veränderung gezeigt: Die zeitweise Ausgliederung aus bezahlter Beschäftigung ist für viele Menschen zu einer ganz normalen Erfahrung geworden, in den Industrienationen hat sich eine ansteigende Sockelarbeitslosigkeit
5.3 Arbeitslosigkeit
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verfestigt. In einer um Arbeit zentrierten Gesellschaft stellt die Berufstätigkeit einen wichtigen Wert dar. Neben dem Gelderwerb hat sie auch psychische Funktionen wie soziale Kontakte zu vermitteln, Ziele zu verfolgen, Zeitstrukturen zu gewähren sowie sozialen Status und Berufsprestige zu vermitteln (Kieselbach, 2002). Zwar hat sich inzwischen die materielle Lage bei Arbeitslosigkeit zumindest in Deutschland verbessert, obgleich sie mit finanziellen Einbußen verbunden ist, doch ist die psychische Belastung mit der damaligen durchaus vergleichbar. Kirchler (2011) berichtet über eine Studie aus Österreich, die sich mit den Laientheorien über die Ursachen von Arbeitslosigkeit beschäftigt hat. Demnach führt ein Großteil der Befragten persönliche Merkmale der Betroffenen an, wie z. B. mangelnde Arbeitsmotivation, Interesselosigkeit, Bequemlichkeit oder mangelnde Ausdauer und Arbeitsbereitschaft. Kirchler (2011) interpretiert diese Befunde so, dass die Arbeitslosigkeit individualisiert wird und nur zum Problem der Betroffenen gemacht wird. Gesellschaftliche Ursachen wie z. B. die wirtschaftliche Lage werden weniger berücksichtigt.
5.3.1 Folgen der Arbeitslosigkeit Psychosoziale Folgen der Arbeitslosigkeit sind (Kirchler, 2011; Lang-von Wins et al., 2004): der Verlust der Tagesstruktur, der ökonomischen Sicherheit, der Karriereperspektive, der sozialen Anerkennung, der Sozialkontakte mit Arbeitskolleginnen und kollegen, der Wichtigkeit für die Gesellschaft, der Anregungen aus der sozialen Umwelt und besonders für die Männer der Verlust ihrer Ernährerrolle. Es wird weiter in differenzielle Wirkungen der Arbeitslosigkeit unterschieden: So ist die Dauer wichtig (Elmslie & Sedo, 1996), die subjektive Bedeutung der Arbeit, welche Ursachen für die Arbeitslosigkeit angenommen werden, die Rolle sozialer Unterstützung, soziodemografische Merkmale wie das Alter und u. U. Persönlichkeitsmerkmale. Psychosozialer Stress entsteht durch Arbeitsplatzverlust und andauernde Arbeitslosigkeit. Kieselbach (2002) spricht von einer „Viktimisierung“ von Arbeitslosen. Dies bedeutet, dass diesen ein Opferstatus oder die Opferrolle zugeschrieben wird. Diese Opferrolle können Arbeitslose durch entsprechende Selbstzuschreibungen für die eigene Person übernehmen. – In der primären Viktimisierung werden die ökonomische Sicherheit, die soziale Einbindung, das Selbstwertgefühlt sowie die Zeitstrukturierung verloren. – In der sekundären Viktimisierung kommen weitere Alltagsprobleme hinzu wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit, die zu einer Verstärkung der Belastungen führen. – In der tertiären Viktimisierung werden als unangemessen angesehene Formen der Bewältigung den Betroffenen selbst angelastet (Kieselbach, 2002). Eine Hauptfrage der Arbeitslosenforschung ist die nach dem Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit (Paul & Moser, 2015, S. 265; Paul & Zechmann, 2018). Meta-
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analysen belegen einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit (Paul & Moser, 2009). Dies bezieht sich auf ein breites Spektrum von Indikatoren wie Depressions- und Angstsymptome, Lebenszufriedenheit und Selbstwertgefühl. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle: Männer leiden stärker unter der Arbeitslosigkeit. Kroll et al. (2016) analysieren ausgehend vom nationalen und internationalen Forschungsstand den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Datenbasis bilden die Erhebungen 2010 und 2012 der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ (GEDA) des Robert Koch-Instituts. Für die Analysen wurden Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von 18 bis 64 Jahren ausgewählt, die Angaben zu Arbeitslosigkeitserfahrungen in den letzten fünf Jahren gemacht haben (n = 31.955). Die Ergebnisse zeigen, dass Arbeitslose im Vergleich zu Erwerbstätigen ihren subjektiven Gesundheitszustand deutlich schlechter einschätzen und häufiger unter ärztlich diagnostizierten Depressionen leiden. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit ist bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen. Im Vergleich zu Erwerbstätigen rauchen Arbeitslose deutlich häufiger und sind seltener sportlich aktiv. Während die Inanspruchnahme von medizinischen Maßnahmen zur Krankheitsfrüherkennung bei Arbeitslosen geringer ist als bei Erwerbstätigen, liegt bei ihnen die Anzahl der Arztbesuche und der Krankenhausaufenthalte höher. Die Befunde sprechen dafür, dass Arbeitslose eine wesentliche Zielgruppe für präventive gesundheitliche Maßnahmen bleiben und die Präventionsmaßnahmen für sie intensiviert werden sollten. Als eine wichtige psychologische Moderatorvariable in der Bewältigung der Arbeitslosigkeit stellt sich die Ursachenattribution (vgl. Kapitel 3.1.7) heraus. Demnach führt eine internale Attribution, bei der die Betroffenen die Ursache der Arbeitslosigkeit bei sich selbst suchen, zu größeren psychosozialen Problemen als eine externale Attribution, bei der Betroffene die Ursachen z. B. in der Gesellschaft sehen (Paul & Moser, 2015). Zechmann und Paul (2019) ergänzen und überprüfen das Deprivationsmodell von Jahoda (1981). Nach diesem Modell bedeutet Arbeitslosigkeit den Verlust der Zeitstruktur, der sozialen Kontakte, von Status, Aktivität, kollektivem Zweck und finanziellen Ressourcen. Diese Bedürfnisse sind für die psychische Gesundheit wichtig. Durch deren Verlust leiden die Arbeitslosen. Zechmann und Paul (2019) ergänzen dieses Modell nun mit den Bedürfnisfunktionen Kompetenz und Autonomie. Hierbei lehnen sie sich an die Selbst-Determinationstheorie von Deci und Ryan (2000) an (vgl. auch Kapitel 3.1.6). In ihrer Längsschnittstudie untersuchten Zechmann und Paul (2019), ob die latenten Funktionen der Beschäftigung (Zeitstruktur, soziale Kontakte, Status, Aktivität und kollektiver Zweck) die manifeste Funktion der Beschäftigung (d. h. die finanzielle Situation) und die zusätzlichen psychologischen Bedürfnisfunktionen Kompetenz und Autonomie den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Belastung vermitteln. Zum Zeitpunkt 1 nahmen N = 1.061 Personen teil, die entweder arbeitslos waren oder im Laufe der Studie ihren Arbeitsplatz verloren. Zum Zeitpunkt 6, nach zweieinhalb Jahren, waren 45,4 % der Befragten erwerbstätig.
5.3 Arbeitslosigkeit
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Mehrstufige Mediationsanalysen ergaben, dass die Wiederbeschäftigung mit einer Verbesserung jeder der ursprünglichen latenten und manifesten Funktionen einherging. Dies sagte eine Verringerung des Leidensdrucks vorher. Der kollektive Zweck erwies sich als die wichtigste latente Funktion. Die Ergebnisse untermauern die Gültigkeit und Robustheit des Deprivationsmodells. Darüber hinaus zeigen sie, dass die vernachlässigte psychologische Bedürfnisfunktion der Kompetenz (aber nicht der Autonomie) ebenfalls eine latente Funktion der Beschäftigung ist, die in das Deprivationsmodell aufgenommen werden sollte. Im Gegensatz zu den Vorhersagen des Deprivationsmodells stellen Zechmann und Paul (2019) fest, dass Armut auch eine wichtige Rolle für die im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit verbundenen Belastungen spielt.
5.3.2 Interventionen Trainings für Arbeitslose sind wichtig, wobei die häufigsten Trainingsformen eine Mischung aus Qualifizierungs-, Sozial- und Bewerbertrainings darstellen. Die Evaluierungsbefunde dieser Trainings und ihrer Erfolge sind überwiegend positiv (Paul & Moser, 2015). Frese et al. (2002) haben ein Training zur Erhöhung der Eigeninitiative bei Arbeitslosen entwickelt. In ihrem Funktionsmodell der Eigeninitiative stehen die Variablen des eigeninitiativen Verhaltens, der Selbstregulation und des assertiven Verhaltens im Mittelpunkt. Das eigeninitiative Verhalten wird als selbststartend, proaktiv und persistent bei der Konfrontation mit Hindernissen definiert. Vor allen Dingen ist Eigeninitiative zielund handlungsorientiert, Eigenschaften, die besonders im Stadium der Arbeitslosigkeit wichtig sind. Arbeitslose sind besonders bei längerer Dauer häufig eher depressiv und hilflos. Deshalb erscheint es den Autoren besonders wichtig, für diese Zielgruppe die Eigeninitiative zu erhöhen. Unter Selbstregulation wird die Fähigkeit zur Zielsetzung verstanden, das Verfolgen von „persönlichen Projekten“ im Sinne einer mittelfristigen Zielplanung und der Umgang mit Misserfolgen, d. h., man soll sich nicht durch Misserfolge entmutigen lassen. Als wichtige Orientierungen gelten die Kontrollerwartung und die Selbstwirksamkeit, d. h., Kontrollerwartungen bestimmen, ob man Einfluss auf Situationen nehmen will oder ob man dies außerhalb seiner Fähigkeiten liegend sieht. Personen mit einer hohen Selbstwirksamkeit setzen sich höhere Ziele und sind bereit, sich auch längerfristig dafür anzustrengen. Bei Rückschlägen geben sie auch nicht so schnell auf. Weiterhin ist die Bereitschaft zur Veränderung wichtig sowie zur Übernahme von Verantwortung. Assertives Verhalten bedeutet die Fähigkeit, eigene Forderungen zu stellen, Nein zu sagen und zu kritisieren, soziale Kontakte herzustellen und aufrecht zu erhalten, sich Fehler zuzugestehen und sich öffentlicher Beobachtung auszusetzen. Allerdings fehlt in diesem Modell der Bezug zur gesellschaftlichen Umwelt wie z. B. die Wahrnehmung der allgemeinen Wirtschaftslage.
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In der Studie von Hülshof et al. (2020) wurden die Auswirkungen einer dreitägigen Schulungsmaßnahme für Arbeitslose untersucht. Der Schwerpunkt lag auf der Verbesserung der Fähigkeit zur Wiederbeschäftigung und des psychologischen Kapitals. Dadurch sollten sich das Wohlbefinden, das Verhalten bei der Arbeitssuche und die Wiederbeschäftigungschancen verbessern. Die Ergebnisse zeigten, dass die Intervention tatsächlich das Niveau der Wiederbeschäftigungsfähigkeiten (der Suche nach Ressourcen und nach Herausforderungen) und des psychologischen Kapitals der Teilnehmenden erhöhte. Darüber hinaus hatte die Intervention einen signifikanten und positiven Effekt auf das Verhalten bei der Arbeitssuche und die Zielsetzung, während für das Wohlbefinden ein signifikanter, aber schützender Effekt festgestellt wurde. Es gab jedoch keinen signifikanten Effekt der Intervention auf den Wiederbeschäftigungsstatus innerhalb von sechs Monaten nach der Intervention. Die Verfasser/-innen der Studie schlussfolgern, dass die Intervention ein vielversprechendes Instrument zur Verbesserung des Arbeitssuchverhaltens ist und zur Erhaltung des Wohlbefindens von Arbeitslosen beiträgt. Arbeitslosigkeit deckt somit ein breites Spektrum unterschiedlicher Lebenslagen ab: von den belastungsfreien Bewältigungsformen bei selbstgewählten beruflichen Übergängen bis hin zu psychosozialen Krisen in Folge von Dauerarbeitslosigkeit. Dabei spielen sowohl individuelle Faktoren wie die Arbeits- und Berufsorientierung, das Bewältigungsverhalten und die sozialen Ressourcen eine Rolle bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit als auch die Normen und Werte der Gesellschaft (Kieselbach, 2002). Es gibt Brücken aus der Arbeitstätigkeit heraus (z. B. Outplacement), Qualifizierungsangebote in der Phase der Arbeitslosigkeit sowie Reintegrationshilfen in den ersten Arbeitsmarkt. Dabei gibt es z. B. einen Vorteil für Organisationen, wenn sie sich um Outplacement (Mayrhofer, 1989) bemühen: Es kommt zur Reduktion von Konflikten bei Entlassungen, größerer Transparenz beim Personalabbau, Vermeidung von Produktionsverlusten, da die nicht entlassenen Beschäftigten häufig ebenfalls von der Entlassungsmaßnahme betroffen sind, sowie zur Übernahme von Verantwortung durch das Unternehmen. Kieselbach (2001) plädiert dafür, das Verhältnis zwischen Arbeitslosen und Gesellschaft auf der Basis legitimer Ansprüche zu konzipieren. Dadurch sind die Arbeitslosen nicht mehr Objekte altruistischer Fürsorge, sondern Partner in einer beruflichen Veränderungsphase. Aus einer gesundheitspsychologischen Perspektive bedeutet dies eine Normalisierung: Arbeitslosigkeit ist eine temporäre, ganz normale Phase. Dadurch entsteht für die Einzelnen wesentlich weniger Stress. Als Schlüsselkategorie zukünftiger Arbeitsmärkte wird die nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit angesehen. Um zu verhindern, dass aus einer Beschäftigungskrise der Einzelnen eine individuelle Katastrophe wird, sollte eine möglichst frühzeitige professionelle Beratung stattfinden.
5.4 Unternehmerisches Handeln und Selbstständigkeit
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5.3.3 Resümee Der ständige Zwang zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit in einer globalen Weltwirtschaft, der technologische Fortschritt und gesellschaftliche Wandlungsprozesse lassen für Einzelne auch Phasen der Arbeitslosigkeit zu einem wahrscheinlich eintretenden Ereignis werden. Dazu ist es wichtig, dass mithilfe psychologischer Kompetenz auf individueller Seite spezielle Bewältigungskompetenzen entwickelt werden wie z. B. Eigeninitiative, Selbstvertrauen oder die Fähigkeit zur Selbstorganisation. Diese individuellen Bewältigungskompetenzen müssen aber durch die Hilfe von staatlichen Organisationen unterstützt werden, indem z. B. Umschulungs- und Weiterqualifizierungsprogramme angeboten werden, die von dem Gedanken des „lebenslangen Lernens“ getragen sind.
5.4 Unternehmerisches Handeln und Selbstständigkeit Unternehmerisches Handeln und Selbstständigkeit bilden zwar getrennte Geschäftsbereiche, es werden jedoch auch häufig Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Erwerbsformen gesehen (Lang-von Wins, 2004). In diesem Zusammenhang wird auch von Entrepreneurship und Intrapreneurship gesprochen. So werden Gründung und Unternehmertum, englisch auch Entrepreneurship genannt, zunehmend in der interdisziplinären Forschung diskutiert. Die Gründung von Unternehmen ist als Motor gesellschaftlicher Entwicklung erkannt, als Impulsgeber für den Arbeitsmarkt und als Garant wirtschaftlicher Prosperität. War früher die Perspektive auf Gründung und Gründer/-innen noch weitgehend von einem ökonomischen Blickwinkel geprägt, sind seit rund 20 Jahren zunehmend auch Einflüsse der Persönlichkeitspsychologie, der Motivationsforschung, der Entwicklungspsychologie, soziologische Modelle und Überlegungen zu Biologie und Vererbung hinzugetreten (Obschonka & Schmitt-Rodermund, 2018). Intrapreneurship spielt für Organisationen und Unternehmen ebenfalls zunehmend eine zentrale Rolle, um Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit zu garantieren. Es geht bei Intrapreneurship um interne Ausgründungen, für die die Ideen und Impulse von Mitarbeitenden wichtig sind (Kreitenweis, 2022). Im Folgenden soll daher zuerst die Rolle des Unternehmers thematisiert werden, gefolgt von einer Skizzierung der wichtigsten Merkmale von Selbstständigkeit.
5.4.1 Die Rolle des Unternehmers bzw. der Unternehmerin Innerhalb der psychologischen Arbeiten zu Existenzgründungen und Unternehmertum spielen die Persönlichkeit und die dispositionellen Besonderheiten der Unternehmer/innen eine große Rolle. Die relevanten psychischen Konstrukte sind das Leistungsmotiv,
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die internalen Kontrollüberzeugungen, Risikoneigung, Problemlöseorientierung, Durchsetzungsfähigkeit und Ambiguitätstoleranz (Müller, 2015). Besonders der bereits von McClelland (1966) postulierte Zusammenhang zwischen einer stark ausgeprägten Leistungsmotivation und der Neigung, eine unternehmerische Tätigkeit aufzunehmen, konnte gut belegt werden (Lang-von Wins, 2004). Dies gilt auch für den Zusammenhang zwischen einer in früher Kindheit erworbenen protestantischen Arbeitsethik und der späteren Neigung, sich selbstständig zu machen. Der Ansatz von McClelland (1966) gab dem Unternehmer bzw. der Unternehmerin eine wichtige Bedeutung in der wirtschaftlichen Entwicklung, wobei das Aufstiegsmotiv und der kulturelle Kontext eine große Rolle spielen. So fand McClelland z. B. heraus, dass erfolgreiche Unternehmer/-innen Situationen schätzen, in denen sie persönliche Verantwortung für Problemlösungen übernehmen können. Geld wird als Rückmeldung über die individuelle Leistung erlebt (Nerdinger, 1991). Eigeninitiative verbunden mit Innovativität und Marktorientierung gelten weiterhin als Kernbestandteile von Unternehmertum (Frese et al., 1997). Der Begriff Unternehmertum (engl.: entrepreneurship; Franz.: entreprendre), auch Unternehmergeist, Gründertum, Gründerszene oder Gründerkultur, beschäftigt sich als wirtschaftswissenschaftliche Teildisziplin mit dem Gründungsgeschehen oder der Gründung von neuen Organisationen als Reaktion auf identifizierte Möglichkeiten und als Ausdruck spezifischer Gründerpersönlichkeiten, die ein persönliches Kapitalrisiko tragen (Helmold et al., 2022a,b). Seit den Arbeiten Schumpeters (1950) werden die Rollen, Kompetenzen und Handlungslogiken von Unternehmer/-innen und Manager/-innen zunehmend voneinander getrennt, was durch die unterschiedliche Art ihres Involvements bedingt ist. Entrepreneure bzw. Entrepreneurinnen unterscheiden sich vor allem durch ihre Verantwortung für das Unternehmen von angestellten Manager/-innen. Sie tragen die volle Verantwortung für das gesamte Start-up (Helmold et al., 2022a,b). In einer Studie von Brandstätter (1988) wurden Betriebsgründer/-innen, Personen, die den Betrieb von den Eltern übernommen hatten und Personen, die eine Betriebsgründung planten, bezüglich ihrer Persönlichkeitsmerkmale verglichen. Es zeigte sich, dass Betriebsübernehmer/-innen sich deutlich von den anderen auf den Dimensionen Normgebundenheit (höher ausgeprägt), emotionale Stabilität und Unabhängigkeit (niedrigere Ausprägung) unterschieden. Zahlreiche Studien berichten Korrelationen von hoher Macht- und Leistungsmotivation sowie einer geringen Neigung zur Affiliation mit dem unternehmerischen Erfolg (Kirchler, 2011). Es werden in der Literatur (z. B. Cox & Cooper, 1996; Lang-von Wins, 2004) zahlreiche Typologien von Unternehmer/-innen berichtet. Hier sollen drei Typologien vorgestellt werden: die Typologie von Cooper und Dunkelberg (1986), die von Kotthoff (1993) und die von Miner (1997). Cooper und Dunkelberg (1986) haben drei Typen von Unternehmer/-innen in ihren empirischen Studien ermittelt:
5.4 Unternehmerisches Handeln und Selbstständigkeit
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Wachstumsorientierte Unternehmer/-innen, die sich in erster Linie am Wachstum orientieren, können häufig auf frühere unternehmerische Tätigkeiten verweisen. Die nach Unabhängigkeit strebenden Unternehmer/-innen möchten vor allem selbstständig sein. Dieser Typ hatte oft ein bestehendes Unternehmen übernommen. Die handwerklich ausgerichteten Unternehmer/-innen sind besonders am Inhalt ihrer Arbeit interessiert. Dieser Typus hatte am häufigsten sein Unternehmen selbst gegründet.
Stärker auf Unternehmen im Handwerk ausgerichtet ist die Typologie von Kotthoff (1993), bei der verschiedene unternehmerische Sozialcharaktere unterschieden werden. Es gibt „pragmatische Produktionsgemeinschaften“ (mit etwa 20 bis 60 Beschäftigten), in denen die Eigentümer/-innen selbst die Produktion leiten und mitarbeiten. Darüber hinaus arbeitet mindestens ein weiteres Familienmitglied mit. Diese Führungskräfte sind unauffällig und bescheiden, fühlen sich – nach Aussagen der Arbeitenden – nicht als etwas Besonderes und scheuen sich nicht, „die Finger schmutzig zu machen“. In den etwas größeren Betrieben (zwischen 70 und 300 Beschäftigten) werden vier Varianten unterschieden: – Der charismatisch-dynamische Cäsarentyp will seinen Betrieb mit Fanatismus zu einem Imperium ausbauen. – Pädagogische Patriarchen und Patriarchinnen wollen die Arbeitenden zu Persönlichkeiten erziehen. – Die Dorfpatriarchinnen und -patriarchen wollen niemanden verbessern, sondern verlangen nur den gebührlichen Respekt. – Dem Manager/-innen-Typus im eigenen Betrieb schließlich fehlt die psychologische Intensität und Dramatik eines Familienunternehmens. Dieser Typus fasst den Betrieb nicht als Teil seiner Person auf, sondern als ein Funktionsgebilde, in dem er eine bestimmte Funktion zu übernehmen hat. Die Kontakte zwischen Führungskraft und Arbeitenden sind sehr distanziert und beschränken sich auf die offiziellen Zusammenkünfte. Dennoch wissen diese Manager/-innen oftmals um den Wert von Gemeinschaftlichkeit und knüpfen bewusst an die sozialen Prinzipien kleiner Betriebe an. Miner (1997) hat eine Typologie von Unternehmerinnen und Unternehmern entwickelt, bei der die Zuordnung einer Person auch zu mehreren Typen möglich ist. Die Typologie wurde aus der Literatur zum Unternehmertum und aus eigenen qualitativen Studien abgeleitet. – „Personal achiever“ – persönliche/-r Hochleistungsbringer/-in. Dieser Typ hat eine hohe Leistungsmotivation, entspricht der Typ-A-Persönlichkeit, ist stark persönlich an das Unternehmen gebunden, will ständig dazulernen, ist persönlich hoch initiativ und schätzt eine Laufbahn, in der persönliche Ziele, individuelle Zwecksetzung und Arbeitsinhalte im Vordergrund stehen.
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„Real manager“ – als Manager/-in geboren. Dieser Typ hat eine hohe Führungskompetenz, ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, ein starkes Bedürfnis nach beruflicher Leistung und Selbstverwirklichung, kein Verlangen nach Arbeitsplatzsicherheit, ist sehr entschlossen, durchsetzungsbereit, wettbewerbs- und machtorientiert. „Expert idea generator“ – Entwickler/-in von Speziallösungen. Dieser Typ möchte vor allem persönliche Innovationen schaffen, Konzepte entwickeln, ist wenig risikobereit und sehr überzeugt von der Bedeutung der neu zu entwickelnden Produkte. „Empathic supersales“ – Bestverkäufer/-in mit Einfühlungsvermögen. Dieser Typ versteht sich als einfühlsamer Denker, der gerne anderen hilft und soziale Prozesse wertschätzt. Er hat ein starkes Bedürfnis nach harmonischen sozialen Beziehungen und ist vom Verkauf überzeugt.
In der Wertung durch Lang-von Wins (2004) ist die Typologie von Miner (1997) eine theoretisch und empirisch gut abgesicherte Typologie. Neben diesen eher typologisch bzw. dispositionell ausgerichteten Ansätzen spielt jedoch auch der situative Einfluss eine Rolle. Dies zeigt besonders, wenn die Selbstständigkeit gewählt wird, um einen Ausweg aus erschwerten Berufskarrieren zu finden (Vonderach, 1980). Lang-von Wins (2004) hat die Erfolgsbedingungen bei Gründung, Führung und Übergabe eines Unternehmens untersucht. Folgende Faktoren spielen hierbei eine entscheidende Rolle: die Kenntnis der eigenen Person, die Liebe zum eigenen Produkt, die Loyalität gegenüber dem Kunden, die gute Behandlung der Mitarbeitenden und die eigene Integrität. Lang-von Wins begreift das unternehmerische Handeln als Ergebnis des komplexen Zusammenwirkens von personalen Faktoren aufseiten des Unternehmers bzw. der Unternehmerin, Ressourcen in seinem bzw. ihrem Umfeld, sowie der Art des Unternehmens und seines Umfelds. Hier ist zu ergänzen, dass Signale am Arbeits- und Kapitalmarkt wie z. B. günstige Kredite eine wichtige Rolle für erfolgreiches unternehmerisches Handeln bilden. Sicherlich ist das ökonomische Kapital eines Unternehmers/einer Unternehmerin nicht ganz unwichtig, aber auch die soziale Netzwerkbildung kann erfolgsentscheidend sein, ebenso wie kulturelles Kapital im Zuge von Internationalisierungsprozessen. So wenden sich Minkes und Foxall (2003) gegen die ausschließliche Betrachtung der Unternehmerpersönlichkeit und beziehen die gesellschaftlichen Prozesse mit in die unternehmerische Entscheidung ein.
5.4.2 Merkmale von Selbstständigkeit Selbstständigkeit und unternehmerisches Handeln haben einige Gemeinsamkeiten bezüglich der Dauer und Regelmäßigkeit der Tätigkeit und der Ausgestaltung der Tätigkeit nach eigenen Vorstellungen. Sie sind außerhalb abhängiger Beschäftigungsverhältnisse anzutreffen, verbunden mit Kapitalhaftungsrisiken, einer bewussten Entscheidung für
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die Aufnahme der Tätigkeit und dem Verfolgen und Umsetzen einer Geschäftsidee bzw. dem Verfolgen einer unternehmerischen Idee (Lang-von Wins, 2004). Dabei werden besonders die Unterschiede zur abhängigen Tätigkeit hervorgehoben: Die Selbstständigkeit und das unternehmerische Handeln sind überwiegend autonom und selbstbestimmt, während abhängig Beschäftigte sich mitunter fremdbestimmt erleben (Müller, 2015). So gilt in der Arbeitspsychologie die Messung des Ausmaßes an Handlungs-, Entscheidungs- und Kontrollspielräumen als Indikator für den Grad an Autonomie in der Tätigkeit. Voß und Pongratz (1998) haben die These aufgestellt, dass die bisher vorherrschende Form der Arbeitnehmenden durch einen neuen Typ ergänzt wird: den/die Arbeitskraftunternehmer/-in. Sie sehen strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Unternehmer/-innen und dieser neuen Form der Arbeitskraft. Das Kapital dieser Arbeitskraft sind ihre Kompetenzen und sie muss sich am Markt wie ein/-e Unternehmer/-in verhalten, sie bietet – und darin liegt wieder der Unterschied – ihre eigene Arbeitskraft an, ohne über weitere Ressourcen zu verfügen. Eine größere Analogie besteht von daher zum bzw. zur Selbstständigen. Inzwischen hat sich diese Form der Arbeit im Rahmen von Plattformökonomie und Gigwork entwickelt. Bei der Plattformökonomie (Schmidt, 2016, S. 5) handelt es sich um „Onlinemarktplätze, bei denen Plattformbetreiber/-innen als Intermediär zwischen Angebot und Nachfrage vermitteln. Das Geschäftsmodell der Vermittlung bzw. die Dreiseitigkeit der Software ermöglicht es den Plattformbetreiber/-innen, das unternehmerische, rechtliche und soziale Risiko der vermittelten Dienstleistungserbringung ebenso wie die Kosten für Arbeitskraft und Produktionsmittel nicht selbst zu übernehmen, sondern weitgehend den anderen beiden Parteien zuzuweisen. Dies ermöglicht es der Plattform, exponentiell zu wachsen, ohne dass die Betriebskosten proportional steigen. Die Plattformbetreiber/-innen haben als einzige der drei Parteien vollen Zugriff auf die Daten und die Kontrolle über die Regeln auf der Plattform. Durch diese Softwarearchitektur entsteht eine Informations- und Machtasymmetrie. Angetrieben von Risikokapital sowie starken Netzwerkeffekten bei der Nutzung gibt es in der Plattformökonomie ausgeprägte Oligopoltendenzen“. Wenn die Ausführung der Tätigkeit ortsunabhängig ist, also vollständig über das Internet abgewickelt werden kann, wird sie hier als Cloudwork bezeichnet. Wenn zusätzlich noch egal ist, wer genau die Aufgabe erledigt, und sie deshalb an eine offene, unspezifische Gruppe im Internet vergeben wird, ist die Rede von Crowdwork. Wird die Aufgabe unter dieser Gruppe aufgeteilt und zwar in Form von Kleinstaufgaben mit festem Stückpreis, handelt es sich um Microtasking. Wenn alle in der Gruppe parallel dieselbe Aufgabe lösen und am Ende nur ein Ergebnis ausgewählt und bezahlt wird, handelt es sich um einen Kreativwettbewerb. Wenn die Tätigkeit an einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeführt werden muss und nur an eine spezifische Person vergeben wird, die dann für die Ausführung persönlich in der Verantwortung steht, wird sie hier als Gigwork bezeichnet.
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Gig Work ist Arbeit, die für Organisationen oder einzelne Kunden kurzfristig von Organisationen oder einzelnen Kunden über einen externen Arbeitsmarkt unter Vertrag genommen und entlohnt wird (Cropanzano et al., 2023, S. 494).
Die ortsgebundenen Dienstleistungen sind weiter danach unterteilt, wie persönlich sie sind und welche Chancen und Risiken sie für die einzelnen Personen beinhalten. So erhält man die folgenden sechs Grundtypen (Schmidt, 2016, S. 5): „Plattformen zur Vermittlung bezahlter Dienstleistungen: Ortsunabhängige Dienstleistungen (Cloudwork) – Freiberufler-Marktplätze – Microtasking (Crowdwork) – Kreativwettbewerbe (Crowdwork) Ortsgebundene Dienstleistungen (Gigwork) – Gastgewerbe – Personenbeförderung und Lieferdienste – Haushalts- und persönliche Dienste“. In der Praxis hat man es häufig mit hybriden Plattformen und weiteren Unterkategorien zu tun. Die Reihenfolge entspricht dabei ungefähr der Entstehungsgeschichte der verschiedenen Plattformtypen. In den ersten drei Kategorien hat bereits eine starke Marktkonsolidierung stattgefunden, und diese Kategorien sind vergleichsweise gut erforscht. Die letzten drei Kategorien sind jünger, und insbesondere die sechste Kategorie ist derzeit noch im Entstehen begriffen und vergleichsweise unübersichtlich. Gerade hier sieht Schmidt (2016) den Bedarf weiterer Forschung und die Notwendigkeit einer zukünftig feineren Differenzierung. „In allen sechs Kategorien gibt es große Herausforderungen bezüglich Datenschutz, Arbeitsschutz, fairer Entlohnung und den Mechanismen des „algorithmischen Managements“, insbesondere des Ratings und Trackings von Auftragnehmer/-innen. Die ortsunabhängigen Leistungen, vor allem die beiden Formen von Crowdwork, sind besonders schwer zu regulieren, weil Unklarheit in Hinblick auf nationale Standards besteht ... Bei Dienstleistungen vor Ort kommt z. B. der Frage der Versicherung im Unglücksfall hier eine größere Bedeutung zu, weil in viel höherem Maße Personen- und Sachschäden entstehen können. Außerdem fallen über das Tracking per Smartphone sensiblere, weil ortsbezogene, persönliche Daten über die Akteurinnen und Akteure an“ (Schmidt, 2016, S. 8). Cropanzano et al. (2023) befassen sich mit den individuellen und organisatorischen Auswirkungen von Gigwork. Der traditionelle psychologische Vertrag hat sich sowohl für Organisationen als auch für Gigworker verändert: Das Konzept des psychologischen Vertrags beschreibt die subjektiv erlebte Bindung einer Person an eine Organisation.
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Definition: „Ein psychologischer Kontrakt beinhaltet die Art der Austauschbeziehung zwischen einem erwerbstätigen Organisationsmitglied und der Organisation. Beim sog. transaktionalen Kontrakt steht der Leistungstausch (Arbeit gegen Bezahlung) im Vordergrund. Beim sog. relationalen Kontrakt steht der Ausbau, die Festigung und Erhaltung der Beziehung im Vordergrund“ (Blickle, 2019, S. 258).
Die Grundlage des psychologischen Kontrakts ist die Überzeugung einer Person, dass sie der Organisation und die Organisation ihr zumindest implizit ein Versprechen bzw. eine Zusage gemacht hat. Sie ist weiterhin davon überzeugt, dass beide Seiten diese Zusagen akzeptiert haben. Daraus ergibt sich für die beschäftigte Person die Wahrnehmung der wechselseitigen Verpflichtungen zwischen Person und Organisation (Blickle, 2019). Dieses klassische Verhältnis zwischen Organisation und Mitglied ändert sich nun mit neuen Formen von Arbeit und Beschäftigung: Die Anreize für Gigworker, die auf einem externen Arbeitsmarkt rekrutiert werden, unterscheiden sich von denen, die Standardarbeitskräften, die Teil eines internen Arbeitsmarkts sind, geboten werden. So verlieren in einigen Fällen Gigworker bestimmte Leistungen, die üblicherweise in normalen Beschäftigungsverhältnissen enthalten waren, z. B. galt für amerikanische Arbeitnehmende, dass sie über große Unternehmen eine Krankenversicherung erhalten. Eine wachsende Klasse von Gig-Arbeitnehmenden ist nun für ihre eigene Krankenversicherung verantwortlich (Cropanzano et al., 2023). Die Auswirkungen dieser neuen Arbeitsformen auf Gigworker zeigen sich darin, dass Organisationen Jobs in standardisierte Aufgaben dekonstruieren, und Gig und Gigworker passen sich an, indem sie Job Crafting und Work Identity Management betreiben (Cropanzano et al., 2023). Definition: Job Crafting bedeutet, dass Beschäftigte selbst aktiv an der Gestaltung ihrer Arbeit mitwirken und Maßnahmen ergreifen, um ihre persönliche Arbeitssituation zu verbessern (Ulich, 2016).
Die Rekrutierung von Gigworkern durch Unternehmen ändert das Ausmaß und die Art des Engagements, das Gigworker gegenüber einem Unternehmen empfinden. Unternehmen verwenden eine Vielzahl von nicht traditionellen Praktiken, um Gigworker zu managen (z. B. auch durch digitale Algorithmen), und Gigworker passen sich an, indem sie ein Gleichgewicht zwischen Autonomie und Abhängigkeit herzustellen versuchen. Die Vergütung ist in der Regel projektbezogen und bietet keine Zusatzleistungen, sodass Gigworker lernen müssen, ein „Tausendsassa“ zu sein und mit der Volatilität der Bezahlung umzugehen. Ebenso ist die Aus- und Weiterbildung von Gigworkern begrenzt. Gigworker entwickeln alternative berufliche und soziale Beziehungen, um in gemischten Teams zu arbeiten, die von Unternehmen zusammengestellt werden, und/oder lernen, sich an die soziale Isolation anzupassen (Cropanzano et al., 2023). Eine integrative Betrachtung der Gigwork-Literatur zeigt, dass einige Gigworker ihr Arbeitsleben als negativ empfinden, während andere das Gefühl haben, dass sie von diesem neuen Arbeitsvertrag profitieren, z. B. erleben sie mehr Autonomie und Flexibilität (Cropanzano et al., 2023).
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Lang-von Wins (2005) verweist auch auf die besonderen Belastungen der Unternehmensgründer/-innen und auf das Risiko der Selbstausbeutung, gerade auch bei Selbstständigen. So fehlt für Unternehmer/-innen und Selbstständige häufig die Trennung von Arbeit und Freizeit (vgl. Kapitel 5.1) bzw. das Leben ist durch die Arbeit determiniert. Dabei werden auch gesundheitliche Risiken eingegangen. So werden als am stärksten belastende Faktoren während der Gründung die hohen Arbeitszeiten, Verhandlungen mit Bankangestellten, schlechte Informationen, Konflikte im privaten Bereich, eine große Menge unterschiedlichster Arbeitsaufgaben, eine angespannte finanzielle Situation und Ungewissheit nach Entscheidungen genannt. Im Vergleich zu abhängig Beschäftigen berichteten aber Unternehmensgründer/-innen, trotz der hohen Belastungen, weniger Beschwerden. Eine wichtige Ressource für Unternehmer/-innen und Selbstständige bildet die soziale Unterstützung. Müller (2015, S. 352 ff.) verweist auf kulturelle Unterschiede (vgl. Kapitel 5.5): In individualistischen Kulturen wie in den USA und Europa herrscht ein unternehmerfreundlicheres Klima, im Gegensatz zu kollektivistischen Kulturen wie China oder Japan. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Einschätzung der Risiken, die mit Schritten in die Selbständigkeit verbunden sind: Personen, die Werte wie Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung betonen, nehmen eher unternehmerische Risiken auf sich als Personen, denen Werte wie Gruppenzugehörigkeit oder soziale Verantwortung wichtig sind. Bislang weniger in der Forschung und Praxis berücksichtigte Felder der Wirtschaftspsychologie sind die kleinen und mittleren Betriebe sowie das Handwerk. Das Handwerk ist ein wichtiger Sektor der deutschen Volkswirtschaft. Die Erscheinungsformen handwerklicher Betriebe haben sich in den vergangenen Jahren aber entscheidend verändert. Während früher die mittleren Größenklassen dominierten, sind heute zum einen die Kleinst- und Ein-Personen-Unternehmen stark gestiegen und zum anderen handwerkliche Großbetriebe (Müller, 2013). Das Handwerk unterscheidet sich von einem Industrieunternehmen im positiven Sinne durch intensiveren Personenbezug, Dezentralisierung, ein differenziertes Angebot, geringere Betriebsgröße und damit verbunden eine größere Überschaubarkeit der Arbeitsabläufe, hohe Qualifikation der Mitarbeitenden, häufige Eigentümerschaft der Betriebsleitenden, geringere Technisierung und Einzelfertigung des Produkts. Negativa sind im Vergleich zur Großindustrie die härtere körperliche Arbeit, die niedrigere Entlohnung, geringere Forschungs- und Entwicklungsleistungen und eine weniger ausgeprägte Strategiefähigkeit (Berger, 1991). Die Arbeit im Handwerk zeichnet sich im Unterschied zur Tätigkeit in einem Großunternehmen dadurch aus, dass die Rückmeldungen über Erfolg und Misserfolg noch klarer zu erkennen sind: Die Möbelschreinerin sieht, wenn der Schrank gut gelungen ist, während der Arbeiter am Fließband selten das Endprodukt zu Gesicht bekommt. Das führt zu positiven Gefühlen und einem gewissen Stolz auf das Arbeitsprodukt. Die historische Entwicklung, die sich von der handwerklichen Tätigkeit zur industriellen Tätigkeit vollzog, hat die Zahl möglicher Objektbeziehungen verringert. Arbeitsteilung und Spezialisierung haben in der Industrie komplexe Handlungen auf einfache Hand-
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griffe reduziert. Hier hat das Handwerk ein deutliches Plus, da die Tätigkeit noch nicht so partialisiert ist. Somit ist es eine Führungsaufgabe, die Mitarbeitenden auf diesen Vorzug ebenso wie auf die Vorteile eines kleineren Betriebs, die Übersichtlichkeit und Vertrautheit bedeuten können, hinzuweisen. Motivationsmethoden wie Zielvereinbarung und Mitarbeitergespräch sind für das Handwerk eine Chance, die Mitarbeitenden stärker an das Unternehmen zu binden (von Rosenstiel & Spieß, 1995). Versteht man Handwerk als Marke, dann ist ein traditionelles Bild einer durch die Person der Handwerksmeister/-innen verkörperten Solidität und Qualität bedeutsam, die das Ansehen des Handwerks prägen (Dürig & Weingarten, 2019). Die Digitalisierung des Handwerks ist ein zentrales Thema für Handwerksorganisationen und Wirtschaftspolitik. Die Studie von Thonipara et al. (2020) über Digitalisierung im Handwerk gibt einen Literaturüberblick über die bisherigen empirischen Erkenntnisse zur Digitalisierung des Handwerks. Hierfür werden insgesamt 32 Studien aus dem Zeitraum von 2012 bis 2020 zusammengefasst, übergreifende Ergebnisse herausgestellt und Forschungsbedarfe definiert. Die Studien werden nach den Kategorien Überblicksstudien, Digitalisierungsindizes, regionale Analysen, digitale Plattformen, Online-Marketing sowie Aus- und Weiterbildung strukturiert. Als Resultate werden festgehalten: Die Betriebe haben grundsätzlich eine positive Haltung gegenüber der Digitalisierung. Die Handwerksunternehmen nehmen die Digitalisierung als Chance wahr, insbesondere um neue Kundenkreise zu erschließen und die Arbeitslast zu reduzieren. Gleichzeitig gehen die Unternehmen vorsichtig mit Investitionen in Digitalisierungsmaßnahmen und neue Technologien um und sorgen sich um die IT-Sicherheit. Auch fehlende interne zeitliche und finanzielle Ressourcen, fehlende interne Kompetenzen oder Mitarbeiterqualifikationen sowie unklarer wirtschaftlicher Nutzen hemmen den Digitalisierungsprozess in Handwerksunternehmen. Eine enge Begleitung der Unternehmen ist zur erfolgreichen Durchführung von Digitalisierungsmaßnahmen genauso wichtig wie finanzielle Förderprogramme, Mitarbeiterqualifikation sowie das Einbetten der Maßnahme in die Unternehmensstrategie. Urbane, größere, umsatzstärkere sowie industrienahe Handwerkwerksbetriebe sind stärker digitalisiert. Innerhalb der Unternehmen zeigt sich, dass grundlegende IT-Hardware bereits genutzt wird, neuere Technologien wie Cloudnutzung oder intelligente Sensorik bisher jedoch kaum verbreitet sind. Dabei zeigt sich, dass Bereiche innerhalb der Unternehmen wie die Verwaltung und der Einkauf bereits einen höheren Grad der Digitalisierung aufweisen als die Produktion und Logistik. Zentrale Kommunikationskanäle bleiben Telefon und E-Mail. Im Auftrag des Kompetenzzentrums Digitales Handwerk (KDH) hat das ifh Göttingen eine ökonomische Auswertung der durch den Digitalisierungs-Check gewonnenen Daten erstellt (Runst & Proeger, 2020). Diese Bedarfsanalyse unterstützt Handwerksbetriebe bei der Analyse ihrer Digitalisierungspotenziale in den Bereichen Kundschaft und Lieferunternehmen, interne Prozesse, Geschäftsmodelle, Mitarbeitende sowie ITSicherheit.
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Aus dieser ökonomischen Auswertung leiten Runst und Proeger (2020) folgende zentrale Ergebnisse ab: Handwerke des gewerblichen Bedarfs, Lebensmittelhandwerke sowie das Ausbauhandwerk weisen das höchste Digitalisierungspotenzial auf. Das Gesundheitsgewerbe und die Handwerke für den privaten Bedarf verzeichnen hingegen ein geringeres Potenzial. Die Lebensmittelhandwerke sehen eine erhöhte Relevanz der Digitalisierung im Teilbereich Kundschaft und Lieferunternehmen. Das Ausbauhandwerk und die Handwerke für den gewerblichen Bedarf zeigen hohe Potenziale in den Teilbereichen interne Prozesse und Mitarbeitende. Die Einzelmaßnahmen „interne Kommunikation über mobile Endgeräte“ sowie „Arbeitseinsätze digital koordinieren und planen“ bieten über alle Handwerksgruppen und -zweige das höchste Handlungspotenzial. Auf Basis der genutzten Daten wird ein Vier-Stufen-Modell von betrieblichen Digitalisierungstypen erstellt, das den Verlauf von weniger zu stärker digitalisierten Betrieben beschreibt. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass auf der niedrigsten Stufe grundlegende IT-Sicherheitsvorkehrungen eine zentrale Rolle zu spielen scheinen. Mit aufsteigendem Digitalisierungsgrad zeigt sich, dass vor allem die Mitarbeitersensibilisierung und -fortbildung entschieden vorangetrieben wird. Auf der höchsten Stufe wird besonderer Wert auf die interne Prozessdigitalisierung gelegt. Kleine Unternehmen sind an der Digitalisierung von kundenbezogenen Maßnahmen interessiert. Die Digitalisierung interner Prozesse scheint hingegen erst für größere Unternehmen (ab 250.000 Euro Jahresumsatz und mit über 20 Mitarbeitenden) interessant zu sein. Auf der vorliegenden Datengrundlage werden regionale Unterschiede sichtbar. Während die Umsetzung vor allem in den wirtschaftlich stärkeren und dichter besiedelten (urbanen) Bundesländern wie Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen vorangeschritten ist, scheinen die östlichen Bundesgebiete (ohne Berlin) eine geringere Umsetzung und empfundene Relevanz von Digitalisierungsmaßnahmen aufzuweisen.
5.4.3 Resümee Die Beschäftigung mit unternehmerischem Handeln, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Selbstständigen oder ein Wirtschaftsbereich wie das Handwerk sind interessante Gebiete für die Wirtschaftspsychologie, in der noch viele Fragestellungen offen liegen, z. B. betreffend Entrepreneurship und Intrapreneurship. Dies betrifft besonders die Prozesse der Digitalisierung in diesen Feldern. So verändern Plattformökonomie und Gigwork herkömmliche Arbeitsbedingungen. Die soziale Verantwortung, die Unternehmen auch tragen, sollte ebenfalls zunehmend Berücksichtigung finden.
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5.5 Interkulturelles Handeln Erika Spieß, Jutta Gallenmüller-Roschmann und Julia A. M. Reif Unternehmensstrategien zur Internationalisierung sind auf den Wissens- und Technologietransfer, den Import und Export von Ressourcen, Wettbewerb, Absatz und Senkung von Produktionskosten, aber auch auf die Verfügbarkeit von Arbeitskräften ausgerichtet. Die Internationalisierung betrifft z. B. das internationale Management, den internationalen Personalaustausch, das internationale Marketing und internationale Kommunikationsprozesse. In der Wirtschaftspraxis werden bei internationalen Verhandlungen, Entsendungen von Mitarbeitenden ins Ausland, in Gruppen- und Teamarbeit, grenzüberschreitenden Fusionen oder durch Migrationsprozesse kulturelle Unterschiede zunehmend wichtig (Spieß & von Rosenstiel, 2003). Da ökonomische Internationalisierungsprozesse in der Regel auch individuelle Veränderung und Anpassungsleistungen an eine neue Arbeits- und Lebenssituation erforderlich machen, kommt der Kultur besondere Bedeutung zu (Kapitel 2.3). Die Globalisierung der Wirtschaft hat besondere Rahmenbedingungen für internationale Migrationsbewegungen geschaffen (Mehl et al., 2021, S. 796–797): – Fach- und Führungskräfte (Expatriates) werden aus dem Herkunftsland in ein Aufnahmeland entsendet, um dort befristet Fachaufgaben oder Führungsverantwortung zu übernehmen und den Wissens- und Technologietransfer zwischen Unternehmen oder Unternehmensstandorten zu unterstützen. Der Personalaustausch dient vorrangig der Personalentwicklung und dem Wissenstransfer. – Auch für Trainees und Studierende steht die zeitlich begrenzte berufliche oder akademische Qualifizierung im Aufnahmeland zunächst im Vordergrund. – Saisonarbeitskräfte wechseln regelmäßig in Aufnahmeländer zur befristeten Erwerbsarbeit. – Arbeitskräfte werden in Arbeitsverhältnisse in Aufnahmeländer vermittelt, um kurz- oder langfristig den dortigen Personalmangel auszugleichen. – Menschen verlassen ihr Herkunftsland aber auch aufgrund existenzieller Notlagen wie Hungerkatastrophen, Krieg und Verfolgung, um im Aufnahmeland vorübergehend oder dauerhaft Sicherheit zu suchen. – Schließlich veranlassen auch andere persönliche Motive zur beruflichen Mobilität wie z. B. private Bindungen, persönliche Affinität zur Aufnahmekultur, Freude an neuen Erfahrungen oder spezifische Karriereerwartungen. Die Lebens- und Arbeitssituation der Betroffenen ist im Aufnahmeland von den spezifischen Arbeits- und Lebensbedingungen an Wohn- und Arbeitsort und von den rechtlichen Grundlagen für Aufenthalt und Arbeitsaufnahme beeinflusst. So können beispielsweise in Deutschland Staatsangehörige eines Mitgliedslands der Europäischen Union, eines Landes des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und der Schweiz uneingeschränkt eine Beschäftigung aufnehmen, während für Arbeitskräfte aus sogenannten
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Drittstaaten in der Regel Aufenthaltstitel und Beschäftigungserlaubnis, eine Duldung mit Beschäftigungserlaubnis oder ein Chancenbleiberecht erforderlich sind (Bundesagentur für Arbeit, 2022; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 2023).
5.5.1 Führungsforschung und kulturelle Wertorientierung In der Führungs- und Organisationsforschung wurden mit Beginn der 1980er Jahre einige Arbeiten zur Frage der interkulturellen Zusammenarbeit vorgelegt. Eine wichtige, immer wieder auch in wirtschaftspsychologischen Kontexten zitierte Untersuchungsreihe ist die von Hofstede (1980; 2009; Hofstede & Hofstede, 2011), der zunächst in einem multinationalen Konzern in über 40 Ländern Wert- und Verhaltenspräferenzen als Indikatoren einer kulturellen Basis erfasste. Im Zentrum der Untersuchungsreihe stand die Frage, ob Mitarbeitende und Führungskräfte unterschiedlicher Herkunftskulturen trotz gemeinsamer Firmenkultur eigenkulturell geprägte Wert- und Verhaltenspräferenzen zeigen. Über die verschiedenen Kulturen hinweg ermittelte Hofstede faktorenanalytisch Kulturdimensionen, die einen Vergleich mit anderen Kulturen ermöglichen, und erweiterte die untersuchten Stichproben um World-Values-Survey-Daten auf rund 93 Länder. Diese Kulturdimensionen sind nicht als Standards, sondern als universell wirksame, kulturdifferenzierende Merkmale zu verstehen. Hofstede (1980) referiert zunächst vier Dimensionen: Machtdistanz (power distance), Unsicherheitsvermeidung (uncertainty avoidance), Individualismus/Kollektivismus (individualism vs. collectivism) und Maskulinität/Feminität (masculinity vs. femininity). Auf der Grundlage des World Values Survey und des Chinese Values Survey werden zudem Langzeitorientierung (long-term orientation) als eine fünfte Dimension und Beherrschung (restraint vs. indulgence) als eine weitere Dimension berichtet (Minkov, 2007; Hofstede & Minkov, 2010; Minkov & Hofstede, 2012): – Machtdistanz bedeutet die Akzeptanz von Ungleichverteilung der Macht in Institutionen und Organisationen in einer Gesellschaft. Eine niedrige Machtdistanz zeigt sich z. B. in flachen Hierarchien, im Abbau von Statusunterschieden und in hierarchiefreien Räumen, aber auch in Tendenzen zur Instabilität und Desorientierung. Eine hohe Machtdistanz wiederum steht für stark ausgebaute Hierarchien (Scholz, 2014). – Unsicherheitsvermeidung bezeichnet das Ausmaß an Ängstlichkeit der Mitglieder einer Gesellschaft angesichts unstrukturierter und widersprüchlicher Situationen. Diese Dimension unterscheidet rigide von flexibleren Gesellschaften (Thomas, 1993). In rigiden Gesellschaften wird versucht, Unsicherheit möglichst zu vermeiden. Tritt sie auf, zeigen Menschen weniger Toleranz gegenüber Andersdenkenden, meiden Konkurrenz in der Ingroup und sind sehr verunsichert, im Unterschied zu flexiblen Gesellschaften, in denen Menschen besser mit solchen Situationen umgehen können. Das Ausmaß der Unsicherheitsvermeidung zeigt sich beispielsweise am Einsatz von Technologien zum Schutz vor Naturgewalten,
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an Gesetzen zur Verhaltenskontrolle, an religiösen Überzeugungen oder Ritualen und an der Umsetzung administrativer Managementtechniken. Dies bedeutet z. B. für die Personalarbeit bei einem geringen Maß an Unsicherheitsvermeidung ein wenig vorhandenes Ausmaß an geschriebenen Regeln und eine geringe Standardisierung (Scholz, 2014). Individualismus bedeutet die Bevorzugung eines relativ lose zusammengehaltenen Netzwerks im Unterschied zum Kollektivismus als Gegenpol, der für die Bevorzugung eines relativ eng geknüpften Netzwerks steht. Eine kollektivistische Kultur bedeutet in Organisationen, dass die Förderung der Mitarbeitenden sich z. B. nach dem Senioritätsprinzip richtet. Vom Organisationsmitglied werden ein moralisches Engagement und eine Wertschätzung gemeinsamer Ziele erwartet, das Unternehmen wird als Teil der Familie gesehen. In individualistisch orientierten Ländern sind die Einzelnen weniger emotional abhängig von der Organisation. Für sie steht der instrumentelle Aspekt im Vordergrund: Man entscheidet sich für die Organisation, weil man den Job gerade spannend findet, sieht aber auch kein Problem darin, den Arbeitsplatz bei einer sich bietenden Karrierechance baldmöglichst wieder zu wechseln (Scholz, 2014). Maskulinität bezeichnet Gesellschaften, in denen eine klare geschlechtsspezifische Rollendifferenzierung vorherrscht. Im Unterschied dazu bezeichnet Femininität als Gegenpol Kulturen, in denen sich die geschlechtsspezifischen Rollen in bemerkenswerten Bereichen überlappen. Für maskuline Kulturen wird eine hohe Karriereorientierung berichtet. In eher feminin orientierten Kulturen hingegen überwiegen Wünsche nach Ausgeglichenheit und Fürsorge (Scholz, 2014). Langzeitorientierung bezeichnet das Zeigen von Tugenden, die auf künftigen Erfolg ausgerichtet sind, wie beispielsweise Sparsamkeit, Beharrlichkeit, Ausdauer, Hartnäckigkeit. Im Unterschied dazu bezeichnet Kurzzeitorientierung als Gegenpol die Präferenz für Tugenden, die mit der Vergangenheit und Gegenwart in Verbindung stehen wie z. B. Erfüllung sozialer Pflichten, Respekt für Traditionen, Ergreifen von Initiative und Flexibilität (Hofstede, 2009). Beherrschung bezeichnet die Präferenz, eigene Bedürfnisse hinter diejenigen der Gesellschaft, der Gruppe oder des Unternehmens zu stellen, während sich Nachgiebigkeit als Gegenpol auf die Priorisierung von Genuss und Bedürfnisbefriedigung richtet.
Besonders zu Individualismus und Kollektivismus gibt es eine rege Forschungstätigkeit. Triandis et al. (1985) unterscheiden individualistisch und kollektivistisch orientierte Personen hinsichtlich ihrer Selbstdefinitionen und der Art, wie hierarchische Unterschiede wahrgenommen und beurteilt werden (Thomas, 1993; Triandis, 1995, 2001, 2019): – Personen mit einer kollektivistischen Wertorientierung (allozentrische Orientierung) sind Werte wie Harmonie, Verpflichtung gegenüber den Eltern, Zurückhal-
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tung, Gleichheit in der Gewinnverteilung und Befriedigung der Bedürfnisse anderer wichtig. Die zentralen Werte der Personen mit einer individualistischen Wertorientierung (idiozentrische Orientierung) betonen hingegen Freiheit, soziale Anerkennung, Hedonismus und Gerechtigkeit.
Das Konstrukt „Individualismus/Kollektivismus“ wurde lange Zeit empirisch vor allem in westlichen Industrienationen und dem asiatischen Raum untersucht und kaum in den Ländern des ehemaligen Ostblocks (Oyserman et al., 2002). Operationalisierungen zum Kollektivismus enthielten eine starke familiale Komponente. Singelis et al. (1995) erweitern das Kollektivismuskonstrukt wesentlich um eine gesellschaftliche Komponente (Spieß & Brüch, 2002a). Inzwischen werden Kollektivismus und Individualismus häufig als jeweils eigenständige Konstrukte operationalisiert. Genkova (2019, S. 124) führt die vier Konstrukte an, die Brüch (2001) als Gruppenorientierung (horizontalen Kollektivismus), Traditionalismus (vertikalen Kollektivismus), Einzigartigkeit (horizontalen Individualismus) und Wettbewerbsorientierung (vertikalen Individualismus) bezeichnet hat: – Horizontaler Kollektivismus äußert sich in der besonderen Bereitschaft zu gemeinsamer Zielorientierung, gegenseitiger Unterstützung und Harmoniestreben. Hierarchische Unterschiede zwischen Personen sind nicht relevant, Gruppenorientierung und die individuelle Ausrichtung auf die Eigengruppe sind wesentlich für das persönliche Selbstkonzept. – Vertikaler Kollektivismus zeigt sich ebenfalls stark im Bezug zur Gruppe, jedoch sind hier auch Statusunterschiede wichtig. Hierarchische Unterschiede zwischen Personen werden erwartet und akzeptiert. Traditionalistische Orientierungen und Ingroup-Aufwertung werden wertgeschätzt. – Horizontaler Individualismus ist durch eine starke Betonung der individuellen Autonomie und Einzigartigkeit gekennzeichnet. – Vertikaler Individualismus äußert sich ebenfalls in der Wertschätzung persönlicher Autonomie, zugleich werden aber Statusunterschiede, Wettbewerb und Dominanzstreben akzeptiert. In der GLOBE-Studie (House et al., 2014; Brodbeck, 2016, S. 73) werden gruppenbasierter Kollektivismus und institutioneller Kollektivismus als eigenständige Konstrukte operationalisiert: – Gruppenbasierter Kollektivismus beschreibt das Ausmaß, in dem sich das Individuum mit der Familie oder mit einer Organisation verbunden zeigt. – Institutioneller Kollektivismus stellt sich demgegenüber in Regeln und Praktiken dar, die einer institutionalisierten Versorgung dienen. Zahlreiche Forschungsarbeiten weisen auf Zusammenhänge zwischen individualistischer und kollektivistischer Wertorientierung mit anderen Merkmalen hin:
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Markus und Kitayama (1991) beschreiben einen Zusammenhang zwischen Selbstkonzept und Individualismus und Kollektivismus: Individualistisch orientierte Personen definieren das Selbst als eine autonome Einheit, während Personen mit einer kollektivistischen Wertorientierung das Selbst mehr in Abhängigkeit von anderen Personen der verschiedenen Ingroups (z. B. der Familie) auffassen. Das soziale Verhalten von Personen mit einer kollektivistischen Wertorientierung ist stärker von sozialen Normen und Gefühlen der Verpflichtung bestimmt (Chen et al., 1998). Modernisierung und Urbanisierung gehen mit stärkerer individualistischer Orientierung einher (Müller & Alleweldt, 2013). Wang und Lu (2017) identifizieren in einer empirischen Untersuchung von romantischen Beziehungen in China vertikal kollektivistische Orientierung als Commitment-Prädiktor und das Vermeiden von Beziehungen als Mediator (Genkova, 2019; S. 127). Arpaci et al. (2018) berichten sowohl für individualistische als auch für kollektivistische Wertorientierung positive Zusammenhangsmaße mit Extraversion. Genkova (2019, S. 119) beschreibt, dass einerseits Modernisierung, Gesellschaftsentwicklung und Demokratisierung als Motoren für individualistische Wertorientierungen gelten, andererseits moderne ostasiatische Gesellschaften kollektivistische Wertorientierung zeigen.
Das „Global Leadership and Organizational Effectiveness (GLOBE) Research Program“ (Brodbeck, 2006) gilt als eines der umfangreichsten Projekte der Führungsforschung. Ziel dieses international vernetzten Projekts war es, eine Theorie auf empirischer Grundlage zu entwickeln, die den Einfluss der Kultur auf Führungs- und Organisationsprozesse beschreiben, erklären und prognostizieren kann. Es wurden in 62 unterschiedlichen Kulturen insgesamt neun kulturelle Dimensionen untersucht (House et al., 2002). – Unsicherheitsvermeidung bezeichnet ähnlich wie in der Fassung von Hofstede (1980) das Ausmaß, in dem in einer Gesellschaft Risiken vermieden werden und Orientierung an Regeln, tradierten Methoden und sozialer Kontrolle geschätzt wird. – Machtdistanz beschreibt wiederum das Ausmaß, in dem Mitglieder einer Gesellschaft oder einer Organisation Machtasymmetrie und Hierarchie erwarten und akzeptieren. – Institutioneller Kollektivismus wird wie schon angeführt als gesellschaftlicher Kollektivismus definiert und zeigt das Ausmaß, in welchem gesellschaftliche und organisationale Praktiken einer kollektiven Ressourcenverteilung wertgeschätzt und belohnt werden. – Ingroup-Kollektivismus beschreibt einen gruppen- bzw. familienbasierten Kollektivismus. Wie bereits angeführt, erfasst das Konstrukt das Ausmaß, in welchem Individuen Stolz und Loyalität gegenüber ihren Organisationen oder Familien zeigen. – Gleichberechtigung bildet den Grad ab, in dem eine Organisation oder eine Gesellschaft Geschlechtsrollendifferenzen reduziert und die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern verhindert.
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Bestimmtheit zeigt das Ausmaß, in dem Individuen in Organisationen und Gesellschaften selbstbewusst, aggressiv und konfrontativ in sozialen Beziehungen sind. Zukunftsorientierung umfasst den Grad, in dem Personen planen und zugunsten des Wachstums Bedürfnisaufschub leisten. Leistungsorientierung zeigt das Ausmaß, in dem Individuen in Organisationen und Gesellschaften ermutigt werden, Leistung zu zeigen, und hervorragende Leistungen belohnt werden. Humanorientierung umfasst den Grad, in dem freundliches, faires und fürsorgliches oder altruistisches Verhalten in Organisationen und Gesellschaften belohnt wird.
Die Operationalisierung der Werte erfolgte auf der Basis von Item-„Quartetts“ aus gesellschaftskulturellen sowie organisationskulturellen Erwartungen und Praktiken. Daneben untersuchte das Forschungsteam, welches Führungskonzept effektive Führungskräfte zeigen. Erfasst wurde, wie stark folgende Führungskonzepte von den befragten Führungskräften umgesetzt und als erfolgreich wahrgenommen wurden (Brodbeck, 2006): – Charismatische Führung zeigt sich darin, dass Mitarbeitende auf der Basis positiver Werte motiviert und idealerweise zu Höchstleistungen inspiriert werden. – Teamorientierte Führung beschreibt das Ausmaß, in dem eine Führungskraft auf gemeinsame Zielorientierung und Teamentwicklung setzt. – Partizipative Führung umfasst das Ausmaß der Beteiligung anderer Organisationsmitglieder an Führungsentscheidungen. – Humanorientierte Führung zeigt sich in fairem, freundlichem und unterstützendem Führungsverhalten. – Autonomieorientiertes Führungsverhalten beschreibt das Ausmaß, in dem die Führungskraft selbstbestimmt und unabhängig agiert. – Defensive Führung betrifft das Ausmaß, in dem Führungskräfte selbstwertschützend und statuswahrend handeln. Die GLOBE-Ergebnisse zeigen, dass individuelle Vorstellungen über effektive Führung in erster Linie gesellschaftskulturell geprägt und erst in zweiter Linie von der Organisationskultur beeinflusst sind. Nach GLOBE gibt es zwei Führungsdimensionen – charismatisch und teamorientiert –, die nahezu universell in allen Kulturen umgesetzt und für eine effektive Führung geschätzt werden. Wenn grenzüberschreitende und internationale Führungsstandards formuliert werden sollen, ist es daher sinnvoll, an diesen Dimensionen anzuknüpfen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass die konkreten kulturellen Unterschiede vor Ort nicht unterschätzt werden sollten. Eine kulturspezifische Sichtweise kann helfen, die regional gelebten Führungspraktiken zu identifizieren und mit in Organisationsentwicklungsmaßnahmen zu integrieren. Es sollte dabei nicht nur auf kulturelle Unterschiede, sondern auch auf gemeinsame Werte eingegangen werden (Chhokar et al., 2008; Spieß & von Rosenstiel, 2010). In den folgenden Abschnitten werden die psychologische Besonderheit einer Tätigkeit im Ausland und in multikulturellen Teams, der Prozess der Auslandsentsendung,
5.5 Interkulturelles Handeln
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die Bedeutung der interkulturellen Kompetenz sowie die Integration der Beschäftigten in der Aufnahmekultur beschrieben.
5.5.2 Die Situation der Expatriates Als „Expats“ (Expatriates) werden in der Personalwirtschaft in der Regel Fach- und Führungskräfte bezeichnet, die von ihrem Unternehmen befristet an einen Auslandsstandort entsendet werden und dort häufig in ihnen fremden Gesellschafts-, Arbeitsund Organisationskulturen oder in multinational zusammengesetzten Teams arbeiten. Im Mittelpunkt der Forschung zum internationalen Kontext stehen daher zwei Situationsklassen (Kühlmann, 2014): – die befristete Entsendung an einen ausländischen Arbeitsplatz – die Arbeit in einem multinational zusammengesetzten Team Aus psychologischer Sicht besteht die Besonderheit einer Tätigkeit im Ausland und in der Interaktion mit Angehörigen anderer Kulturen als der eigenen darin, dass es sich um eine sogenannte „Überschneidungssituation“ handelt. Man befindet sich in einem Kontext, der sowohl eigenkulturell als auch fremdkulturell geprägt ist. Es entsteht das Paradox, eine Anpassungsleistung in einer Situation zu erbringen, in der man sich der Zugehörigkeit zur eigenen Herkunftskultur besonders bewusst wird (Lewin, 1963). Bei interkulturellen Begegnungen sind Missverständnisse und Irritationen dann die Folge, wenn das eigenkulturelle innere Abbild der Interaktion nicht mit dem Modell des Gegenübers übereinstimmt. Die rasch erforderlichen Anpassungsleistungen an die neue Arbeits- und Lebenssituation führen dazu, dass die vertrauten psychologischen Mechanismen von als fremd und unverständlich wahrgenommenen Mechanismen ersetzt werden. Es kommt zu Anpassungsschwierigkeiten, ein sogenannter „Kulturschock“ wird erlebt. Die Ursachen für diese Anpassungsschwierigkeiten bzw. für den Kulturschock können in Merkmalen der Person wie auch in Merkmalen der Situation liegen (Kühlmann, 2014). Neben der in der sozialpsychologischen Forschung dokumentierten allgemeinen Tendenz zur sozialen Abgrenzung von Außengruppen (Tajfel & Turner, 1986; Mullen et al., 1992; Zick, 2016) wird eine interkulturelle Anpassung in multikulturellen oder fremdkulturellen Situationen dadurch erschwert, dass Kultur ein relativ stabiles, soziales Orientierungssystem ist, das im Zuge der Enkulturation von der Person ganz selbstverständlich übernommen wurde. Die so erworbenen eigenkulturellen Orientierungsmuster und Werte werden häufig aber erst durch die Konfrontation mit einer anderen Kultur bewusst (Thomas, 1994; 2016; vgl. Kapitel 2.3). Soll die Person ein Unternehmen vertreten, kommt noch eine weitere Aufgabe hinzu: Sie muss in einer für sie fremdkulturellen Situation und gegenüber Mitarbeitenden aus ihr fremdkulturellen Kontexten die Ziele des Unternehmens vertreten, ihre Expertise einbringen und ihrer Fach- oder Führungsverantwortung gerecht werden.
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5 Anwendungsfelder
Eine Tätigkeit im Ausland bedeutet in verschiedenen Bereichen gravierende Veränderungen: im Beruf (z. B. neue Arbeitsaufgaben), in der Umwelt (z. B. Klima, Ernährung, Lebensrhythmus, Wohnsituation, Freizeitmöglichkeiten), im sozialen Umfeld (z. B. soziale Regeln, Normen, Werte, Denk- und Verhaltensweisen am Arbeitsplatz bzw. im Gastland) sowie psychologische Belastungen (z. B. Arbeitsbelastung, mögliche negative psychischen Konsequenzen wie Einsamkeit, Heimweh). Auf alle diese Aspekte müssen Unternehmensmitarbeitende vorbereitet werden und sollten diesbezüglich idealerweise auch während der Entsendungsdauer betreut werden (Spieß & von Rosenstiel, 2003). Die Besonderheit der Internationalisierung von Unternehmen für das Personalmanagement wird von Scholz (2014) durch sechs Phänomene gekennzeichnet: 1. Natürliche Gegebenheiten wie klimatische und geografische Verhältnisse können die Wirtschaftlichkeit und auch die Arbeitsfähigkeit von Mitarbeitenden beeinflussen. 2. Arbeitskräfte müssen qualifiziert werden, um mit moderner Technik effizient umgehen zu können. 3. Es gibt kulturell bedingte Wertvorstellungen, die durch einen Sozialisationsprozess geprägt sind und sich in unterschiedlichen ethischen und religiösen Überzeugungen äußern können. 4. Soziale Beziehungen und Bindungen existieren vor dem Hintergrund eines langen Zeitraums. 5. Rechtliche und politische Normen in den betreffenden Ländern sind häufig sehr unterschiedlich. 6. Aufgabenumwelt und externe Interaktionspartner wie Behörden, Lieferanten und Kunden können ganz neuartige Fragen aufwerfen. All diese Aspekte haben wirtschafts-, sozial- und arbeitsrechtliche und verhaltensrelevante Konsequenzen für das internationale Personalmanagement, z. B. für die Gestaltung der Arbeitszeit, die Personal- und Führungskräfteentwicklung, das Kompetenzmanagement, die strategische Organisations- und Personalentwicklung, aber auch für die Berücksichtigung psychosozialer Rahmenbedingungen vor, während und nach einer befristeten Entsendung. Grosch et al. (2000) haben die Bereiche der interkulturellen Irritationen zusammengestellt: Sie beziehen sich auf das Welt- und Menschenbild, Glaubenssysteme und Wertkonzepte, kognitive Stile, Wahrnehmung sowie Umgang mit Raum und Zeit, Verhaltensmuster, Sitten und Gebräuche, Symbole, verbale und nonverbale Kommunikation und die Verschiedenheit der sozialen Institutionen und Rollen (Abb. 19). Die wichtigsten Gründe für interkulturelle Schwierigkeiten bestehen darin, dass es erforderlich ist, Sprache, Wertorientierungen und nonverbales Verhalten der Expatriates mit den in der Gastkultur geltenden Gepflogenheiten abzustimmen. Ethnozentrische Denk- und Handlungsweisen führen rasch zu einer negativen Bewertung fremdkultureller Denk- und Handlungsweisen, da die vertrauten, eigenkulturellen Orientierungsmuster subjektiv als einzig richtig angenommen werden. Das sich hieraus ergebende Streben nach Dominanz verhindert eine tragfähige Kooperation und verunsichert auch
5.5 Interkulturelles Handeln
nonverbale Kommunikation
Welt- und Menschenbild
Glaubenssysteme/ Wertkonzepte
verbale Kommunikation
Bereiche interkultureller Irritationen
Symbole
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Verhaltensmuster/Sitten und Gebräuche
Soziale Institutionen und Rollen
kognitive Stile/ Denker
Wahrnehmung
Umgang mit Zeit
Abb. 19: Bereiche der interkulturellen Irritationen (Grosch et al., 2000).
in führungsrelevanten Situationen. Erfolgt aufgrund von Unsicherheit oder von Informationsdefiziten ein zu starker Rückgriff auf Stereotype und eine damit verbundene vereinfachte Urteilsbildung, so können individuelle Unterschiede zwischen Personen nicht mehr adäquat wahrgenommen werden. Dies verhindert flexibles situations- oder personenbezogenes Verhalten. Eine fehlende Metakommunikation führt dann bei fehlendem Bewusstsein für kulturelle Ursachen zu Missverständnissen (Grosch et al., 2000; Thomas, 2022). Herausforderungen interkultureller Begegnungen im Arbeitsleben betreffen Unterschiede in der Führung von Mitarbeitenden, in der Arbeitsmotivation, bei Verhandlungsstilen, Zeitkonzepten und Raumverhalten in unterschiedlichen kulturellen Kontexten (Hall, 1998; Kühlmann & Stahl, 2001; Helfrich, 2013). – Unterschiede in der Führung von Mitarbeitenden bestehen darin, dass sich der Führungsstil als kulturabhängig erweist. So vertreten beispielsweise Manager und Managerinnen aus Nordeuropa und den USA weniger die Auffassung, sich ihren Mitarbeitenden als überlegen darzustellen als Führungskräfte aus Südostasien und Südeuropa, bei denen ein eher patriarchalischer Führungsstil dominiert. Unterschiede gibt es auch in Hinblick auf das Ausmaß und die Form der Aufgabendelegation, Partizipation, die Art und Weise des leistungsbezogenen Feedbacks oder die Eindeutigkeit von Anweisungen. Ein von Geister (2015) vorgelegter Literaturreview zeigt, wie komplex sich die Forschungslage zur kulturellen Bedingtheit von Partizipation darstellt und wie uneinheitlich die Ergebnisse zur Auswirkung partizipativer Führung sind. So wird in der Globe-Studie länderübergreifend nur ein geringer, positiver Zusammenhang zwischen Partizipation und Führungserfolg ermittelt, wenn als Erfolgskriterien Motivation und Commitment
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5 Anwendungsfelder
untersucht werden (House et al., 2014, S. 70). Es ist auch anzunehmen, dass sich autokratischer und partizipativer Führungsstil kulturell unterschiedlich darstellen. So wird Führungserfolg beispielsweise in Deutschland eindeutiger mit partizipativem Führungsstil assoziiert, in Spanien scheint dieser Zusammenhang weniger eindeutig (Geister, 2015, S. 68–70). Auch die Arbeitsmotivation zeigt kulturelle Besonderheiten: So ist für kollektivistisch geprägte Kulturen das Motiv, das Gesicht zu wahren, wichtiger als das in den individualistischen Ländern dominierende Motiv der Selbstverwirklichung. Nicht für alle Kulturen gilt, dass Arbeit das zentrale Lebensinteresse ist oder die Erfüllung der Arbeitsaufgabe als persönlicher Erfolgsmaßstab anerkannt ist. Zur Erklärung dieser Unterschiede greift Becker (2019, S. 52–53) auf die Konstrukte Selbstwirksamkeit, Optimismus und Selbstregulation zurück. Wenn kulturspezifische Attributionsmuster die Selbstwirksamkeit und das Kompetenzerleben der Person beeinflussen, so betrifft dies auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Zielbindung (Klassen, 2004). Becker (2019, S. 52) verweist auf eine Meta-Analyse über 20 Länder zu kulturellen Unterschieden bei Optimismus (Fischer & Chalmers, 2008), deren Ergebnisse dafürsprechen, dass Optimismus weniger aus den konkreten Lebensbedingungen als vielmehr aus kulturellen Überzeugungen resultiert. In „modernen“ Arbeitssystemen sind zudem selbstkontrolliertes Handeln, Bedürfnisaufschub, Selbstregulation und der Verzicht auf kurzfristige Belohnungen zugunsten langfristiger Erwartungen besonders bedeutsam. Forschungsergebnisse weisen auch hier auf kulturelle Effekte hin (Minkov & Hofstede, 2012; Wang et al., 2016). Unterschiede bei Verhandlungsstilen bilden häufig die Ursache für interkulturelle Missverständnisse und Konflikte. Zum Beispiel wird in Japan eher indirekt kommuniziert und in Verhandlungen kaum Ablehnung geäußert. Dies wird dann von den ausländischen Verhandlungspartnern und -partnerinnen irrtümlich als Zustimmung gedeutet (z. B. Misumi, 1989). Kultur beeinflusst Interessen, Prioritäten, Zielorientierungen sowie Strategien der Verhandelnden (Brett, 2000; Brett & Thompson, 2016). Unterschiedliche Strategien wirken sich entsprechend auf die Verhandlungsergebnisse aus: In Kulturen, in denen integrative Verhandlungsstrategien üblich sind, erreichen die Verhandelnden tendenziell höhere gemeinsame Gewinne als in Kulturen, in denen distributive Strategien die Norm sind (Brett & Thompson, 2016). Zwischen den Kulturen bestehen Unterschiede in den jeweiligen Zeitkonzepten, die sich auf die Planung und die Pünktlichkeit auswirken. In „monochronen“ Kulturen dominiert ein lineares Zeitkonzept, Zeit wird als ein knappes Gut betrachtet. Ein „polychrones“ Zeitverständnis dagegen, das in Lateinamerika, im Nahen Osten oder im Mittelmeerraum vorherrscht, ist eher zirkulär, Zeit erscheint unbegrenzt (Hall, 1998). Auch das Verhalten im Raum differiert in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten: So werden körperliche Berührungen oder ein zu intensiver Blickkontakt
5.5 Interkulturelles Handeln
137
in „Nicht-Kontakt-Kulturen“ wie Nordamerika als Eingriff in die Privatsphäre gedeutet (Hall, 1998). Aus all diesen Unterschieden ergeben sich hohe Anforderungen an Mitarbeitende in Unternehmen, die ins Ausland bzw. in einen fremdkulturellen Kontext entsendet werden, die in internationalen Verhandlungen stehen oder in multikulturellen Arbeitsgruppen (Podsiadlowski, 2002) tätig sind. Grundlegende Managementscheidungen sollten daher stets auch die besondere Lebens- und Arbeitssituation der Expatriates berücksichtigen, die mit einer Personalentsendung einhergehen. Dennoch ist daran zu erinnern, dass auch den interindividuellen Unterschieden innerhalb jeder Kultur Rechnung getragen werden muss (Becker, 2019, S. 49–55). Auf die Bedeutsamkeit intrakultureller Unterschiede wird z. B. in einer der wenigen Forschungsarbeiten zu kulturübergreifenden Karriereverläufen von Frauen hingewiesen (France et al., 2019). Die empirische Forschung bestätigt, dass Resilienz und Stressregulation in der Lebens- und Arbeitssituation im Aufnahmeland besonders bedeutsam sind. So zeigt eine Berliner Befragung, dass Standortmerkmale als Stressoren und als Ressourcen wirken können: Infrastrukturelle Angebote, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, ein stressfreies Alltagserleben und das internationale Image der Stadt tragen in Berlin zur Zufriedenheit der Interviewten bei (Flachenecker & Gröschke, 2021, S. 488). In einer Befragung von Expatriates und deren Partner/-innen in der Schweiz werden vier zentrale Stressoren identifiziert (Reckowsky, 2019; Gröschke, 2021): – Die Befragten reagieren auf neue Interaktionserfahrungen verunsichert und nehmen dies als Bedrohung für ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl wahr. – Die erwarteten Vorteile der Entsendung stellen sich vor Ort nicht so ein wie erwartet, die Befragten fühlen sich zunächst häufig isoliert. – Das Alltagsleben erweist sich als schwieriger als erwartet. – Anpassungsschwierigkeiten in der neuen Lebenssituation führen zu Problemen in Partnerschaft und Familie. Die Bereitschaft, eine Tätigkeit im Ausland aufzunehmen, ist Teil eines langwierigen Sozialisationsprozesses. Wenn frühzeitig Begegnungen mit anderen Kulturen und Auslandserfahrungen ermöglicht werden, erhöht dies deutlich die Bereitschaft, wieder ins Ausland zu gehen. In einer an Studierenden in alten und neuen Bundesländern durchgeführten Befragung zu interkulturellen Kontakten und der Bereitschaft, einmal beruflich bedingt ins Ausland zu gehen, stellte sich heraus, dass interkulturelle Kontakte in Form längerer Reisen, Auslandsaufenthalte und mit Personen aus dem Ausland verbrachte Freizeit ebenfalls die Motivation, beruflich bedingt ins Ausland zu gehen, positiv beeinflusst. Eine Schlussfolgerung der Studie besteht darin, frühzeitig interkulturelle und internationale Erfahrungen zu fördern und zu vermitteln, um Fähigkeiten zu interkulturellem Handeln zu erweitern (Spieß & Brüch, 2002a). Brüch (2001) konnte in seiner Studie über entsandte Unternehmensmitarbeitende in vier verschiedenen Kulturen (USA, Kanada, Korea und Japan) ermitteln, dass die in-
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5 Anwendungsfelder
trinsische Motivation zur Entsendung für eine erfolgreiche Anpassung im Auslandseinsatz entscheidend war. Dies bestätigen auch die Befunde einer empirischen Studie, die Stahl (1995) berichtet, in der Auslandsentsandte mit starken Aufstiegsambitionen größere Anpassungsschwierigkeiten hatten als Mitarbeitende, die Interesse am jeweiligen Land zeigten. Eine einseitige Karriereorientierung, die nur das eigene Vorankommen im Unternehmen im Auge hat und einen Auslandsaufenthalt als Mittel für eine schnelle Karriere ansieht, läuft Gefahr, die interkulturellen Besonderheiten zu unterschätzen. Auch andere Forschungsarbeiten sprechen dafür, dass intrinsische Motivation und Offenheit besonders für einen längeren Auslandsaufenthalt qualifiziert (Remhof, 2015). Genkova und Schubert (2020) zeigen in ihrer empirischen Untersuchung zudem, dass die berufliche Auslandsmotivation signifikant positiv mit intrinsischen Motiven und interkultureller Kompetenz korreliert ist. Nichtsdestotrotz kann jemand viel Interesse an fremden Kulturen haben und sich zugleich langfristig bessere Karrierechancen im Ausland wünschen. Um einen Auslandseinsatz effektiv zu bewältigen, spielen Motivation und Stressregulation eine große Rolle. Pereira et al. (2017) verweisen auf ein spezifisches Stressorerleben und das Bedürfnis nach Work-Life-Balance der Generation Y, deren Anteil an der Zahl der Expatriates deutlich zugenommen hat. Es gibt zudem Motive, die für eine erfolgreiche Tätigkeit im Ausland eher hinderlich sind, z. B. Unzufriedenheit mit der politischen Situation im Heimatland, fehlende berufliche Perspektiven, eine unsichere Arbeitsmarktsituation, private Beziehungsprobleme, beruflich-finanzielle sowie psychische Probleme, Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch und unrealistische Erwartungen oder gar eine Romantisierung des neuen Landes behindern eine erfolgreiche Anpassungsleistung. Motive, die den Erfolg der Auslandstätigkeit eher unterstützen, sind das Bedürfnis, sich neuen Herausforderungen zu stellen, den Horizont zu erweitern, Routine zu vermeiden und Erwartungen, die sich mit einem bestimmten Land oder einer bestimmten Position verbinden (Bittner, 1996; Spieß & Brüch, 2002b; vgl. Tab. 5). Tab. 5: Motive für eine Auslandsentsendung (nach Bittner, 1996). Motive für eine Auslandsentsendung für Arbeitnehmende Positive Motive
Negative Motive
frühzeitige Erfahrungen im Ausland
einseitige Karriereorientierung
intrinsische Motivation
Unzufriedenheit mit politischer Situation im Herkunftsland
Bedürfnis nach neuen Herausforderungen
fehlende berufliche Perspektiven im Herkunftsland
Horizonterweiterung
unsichere Arbeitsmarktsituation
Vermeidung von Routine
private Beziehungsprobleme
Erwartungen an bestimmtes Land bzw. bestimmte Position
5.5 Interkulturelles Handeln
139
5.5.3 Der Prozess einer Entsendung Es gibt unterschiedliche Unternehmensstrategien (z. B. Kammel & Teichelmann, 1994; Kühlmann, 2014; Scherm, 1995), wie eine Entsendung gehandhabt wird: Ein ethnozentrischer Ansatz besetzt Schlüsselpositionen in Auslandsniederlassungen und ist geprägt durch das Stammhaus, während man sich bei der geozentrischen Ausrichtung an international gültige Standards anpasst. Beide Ansätze sind durch eine weltweit einheitliche Unternehmenskultur gekennzeichnet. Während jedoch bei einer ethnozentrischen Unternehmenskultur ein starker Einfluss der Landeskultur des Stammlands spürbar ist, sind nationale Einflüsse bei einer geozentrischen Unternehmenskultur weitgehend zurückgedrängt worden (Reineke, 1992). Bei der polyzentrischen Strategie dominiert die Anpassung an das jeweilige Gastland. Der regiozentrische Ansatz gilt als „Mischform“, in dem sich regionale Besonderheiten niederschlagen (Kammel & Teichelmann, 1994; Kühlmann, 2014). Scherm (1995) betont jedoch, dass es keine universelle Strategie gibt. Ebenso sind die jeweiligen Maßnahmen kontextabhängig. Kühlmann (2014) hat den Prozess einer Auslandsentsendung deskriptiv in vier Phasen eingeteilt: Auswahl geeigneter Kandidatinnen und -kandidaten, Training und Vorbereitung, Aufenthalt und Rückkehr. Jede Phase weist psychologische Besonderheiten auf, die es zu berücksichtigen gilt. Die Auswahl geeigneter Kandidatinnen bzw. Kandidaten Wichtige Einflussgrößen auf den Erfolg einer Entsendung sind Position, Alter, Familienstand, fachlicher Einsatz und Kosten (z. B. Wirth, 1992; Kammel & Teichelmann, 1994; Scherm, 1995). Um einer Fehlbesetzung von Auslandspositionen vorzubeugen, wird empfohlen, möglichst Mitarbeitende mit mehrjähriger Bewährung im Unternehmen einzusetzen. Für einen Einsatz zu Berufsbeginn kann jedoch die Mobilität der Mitarbeitenden sprechen, sofern zu diesem Zeitpunkt ausreichende Indikatoren für Eignung und Commitment mit dem Unternehmen vorliegen (Wirth, 1992). Inzwischen ist eine frühe Förderung interkultureller Kompetenzen vergleichsweise leicht möglich, da Erfahrungen in multikulturellen Teams häufig bereits am eigenkulturellen Standort gesammelt werden können (Herzfeldt & Sackmann, 2019). Die Auswahlentscheidungen für einen Auslandsaufenthalt werden vonseiten der Unternehmen hauptsächlich anhand der technischen und fachlichen Kompetenz der auszuwählenden Kandidierenden getroffen, interkulturelle und soziale Kompetenzen werden dagegen eher ignoriert. Hier herrscht häufig die Annahme vor, dass eine im Herkunftsland erfolgreiche Fach- und Führungskraft weltweit problemlos einsetzbar und erfolgreich ist (Kühlmann & Stahl, 2001). Doch mit einem Auslandsaufenthalt erfolgt auch ein Wechsel in eine andere Kultur, und es bedarf spezifisch interkultureller Kompetenzen, um dort erfolgreich handeln zu können.
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Kühlmann und Stahl (1998) haben in ihren Studien zu Auswahlentscheidungen für Auslandspositionen sieben erfolgskritische Anforderungsmerkmale eruiert: 1. Ambiguitätstoleranz, d. h. die Fähigkeit, in unsicheren und komplexen Situationen kompetent zu handeln 2. Verhaltensflexibilität, d. h. sich schnell auf geänderte Bedingungen einzustellen 3. Zielorientierung 4. Kontaktfreudigkeit 5. Einfühlungsvermögen 6. Polyzentrismus, d. h. Vorurteilsfreiheit 7. metakommunikative Kompetenz Oft wird auch die familiäre Situation der zu Entsendenden zu wenig berücksichtigt, obwohl partnerschaftliche Bindung und Zufriedenheit als bedeutsame Ressourcen zur Stressbewältigung gelten (Bierhoff & Rohmann, 2021). In der Forschung ist die Familie seit Langem als die kritische Größe für das Scheitern eines Auslandsaufenthalts bekannt: Wenn Angehörige in der Aufnahmekultur nicht zurechtkommen, wird der Aufenthalt am häufigsten vorzeitig abgebrochen (Adler, 1997). Den Einfluss der Familienangehörigen auf einen erfolgreichen Auslandseinsatz haben Kupka und Cathro (2007) untersucht. So sind die Angehörigen der Expats – meist sind Frauen betroffen – während des Auslandseinsatzes oft sozial und beruflich isoliert und beeinflussen den Erfolg oder das Misslingen des Auslandeinsatzes grundlegend: Unglückliche Paarbeziehungen und unkooperative Angehörige, die Expatriates von ihrer beruflichen Mission ablenken, gelten als Hauptgrund für einen Misserfolg des Auslandeinsatzes. Grundsätzlich gilt, dass Expatriate-Partnerschaften auf ein gemeinsames Commitment vertrauen können sollten, um den Herausforderungen an Partnerschaft oder Familie gewachsen zu sein, wie dem Verlust des eigenen sozialen Umfelds, dem (vorübergehenden) Verzicht auf eigene Karriere und eigenes Einkommen, verbunden mit der möglichen Beeinträchtigung von Selbstbewusstsein und persönlicher Identität. Kupka und Cathro (2007) weisen darauf hin, dass Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren den Umzug und den Verlust des gewohnten Umfelds als Strafe wahrnehmen können. Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren haben häufig Schwierigkeiten mit dem Verlust ihres Freundeskreises. Demgegenüber zeigen Studien, dass sich Familien mit jungen, im Herkunftsland noch nicht eingeschulten Kindern unter sechs Jahren am besten integrieren. Als Lösungen schlagen die Autoren soziale Unterstützung für Lebenspartner und Familie durch das Unternehmen und die Expatriates selbst vor, z. B. durch – Möglichkeiten zur Teilnahme in Organisationen und Clubs für Lebenspartner, – Aufbau einer „Expat“-Gemeinschaft zum Austausch der begleitenden Familienangehörigen untereinander, – Unterstützung der Kinder vor allem in der Anfangszeit, – Planung des Zeitpunkts der Auslandsentsendung gemeinsam mit Expatriate und deren Familie,
5.5 Interkulturelles Handeln
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und Berücksichtigung des Alters der Kinder und deren sozialer und medizinischer Versorgung in der Planung.
Schreiner (2021) fasst Forschungsergebnisse zur emotionalen Situation von ExpatKindern anschaulich zusammen: Mehrheitlich bewerten mitreisende Kinder Auslandsumzüge positiv. Allerdings wird für introvertierte Kinder und für Jugendliche eine deutlich höhere Stressvulnerabilität berichtet. Insgesamt erleben Kinder und Jugendliche die Entsendung ambivalent und zeigen sowohl Abschiedsschmerz als auch Vorfreude auf die neue Lebenssituation. Vorbereitung und Training für einen Auslandsaufenthalt Trainingsinhalte zur Vorbereitung auf einen Auslandsaufenthalt sind Fachwissen, Problemlöse- und Entscheidungstechniken, Einstellungen, Selbstbild und Sprachkompetenz. Es gibt Maßnahmen in der Personalentwicklung zur Verbesserung der Kommunikation, Kooperation und Teamarbeit zwischen Mitgliedern verschiedener Kulturkreise (Kammel & Teichelmann, 1994). Die Ziele speziell interkultureller Trainings richten sich sowohl auf organisationale Wettbewerbsziele als auch auf kognitive, affektive und behaviorale Ziele für die Teilnehmenden (Flasche & Diebig, 2015) wie die Sensibilisierung für eine fremde Kultur, die Förderung des gegenseitigen Kennenlernens, die Fähigkeit zum Umgang mit Konflikten, die Aneignung angemessener Handlungsstrategien und die Änderungen von Werthaltungen und Einstellungen. Interkulturelle Trainings lassen sich nach Bolten (1999) und Thomas (2009) in vier Typen unterscheiden: – Kulturübergreifend-informatorische Trainings vermitteln Kenntnisse der Kulturanthropologie oder Informationen zum Kulturvergleich. – Kulturspezifisch-informatorische Trainings (z. B. Culture Assimilator, Fallstudien) bieten kulturspezifische Informationen und bereiten die Teilnehmenden zusätzlich auf mögliche kritische Situationen vor. – Kulturübergreifend-interaktionsorientierte Trainings werden auch als interkulturelles Awareness-Training oder als kulturorientiertes, interkulturelles Training (Flasche & Diebig, 2015, S. 159) bezeichnet. Die Trainings sind in der Regel als Workshop konzipiert und vermitteln interaktiv und erfahrungsorientiert in Rollenspielen, Simulationen und Selbsterfahrungsübungen Kompetenzen, die kulturunspezifisch in kulturellen Überschneidungssituationen kompetentes Handeln unterstützen. – Kulturspezifisch-interaktionsorientierte Trainings vermitteln und reflektieren im Trainingslab interkulturelles Erleben durch interaktive Methoden wie Rollenspiele, Simulationen und Sensitivity-Trainings. Flasche und Diebig (2015) führen diese Trainings als verstehensorientierte, interkulturelle Verfahren an, weil sie an handlungssteuernden Kognitionen ansetzen, das Verständnis für ein spezifisches fremdkulturelles Orientierungssystem fördern und Handlungskompetenz unterstützen sollen (Flasche & Diebig, 2015, S. 160).
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Die Trainingsformen weisen unterschiedliche Stärken auf. Der Nachteil der informatorisch ausgerichteten Trainings besteht darin, dass Interkulturalität nicht erfahrbar gemacht wird, während interaktionsorientierte Trainings häufig die Berufspraxis der zu Entsendenden ausblenden. Allgemein werden interkulturelle Trainings als effektiv beurteilt (Black & Mendenhall, 1990; Gohi et al., 2022; Taras et al., 2020). Waxin und Pannaccio (2005) berichten, dass die interkulturelle Anpassungsfähigkeit, die Kontaktfähigkeit und die Sensibilität für fremdkulturelle Orientierungssysteme der untersuchten Expatriates durch interkulturelle Trainings verbessert wurden. Die Trainingseffekte scheinen umso größer zu sein, je weniger Auslandserfahrung die Teilnehmenden aufweisen (Waxin & Panaccio, 2005). Im Vergleich zu informatorischen Trainings gelten interaktionsorientierte Trainings zudem als nachhaltiger (Thomas, 2005). Grundsätzlich ist aber zu bedenken, dass die evaluierten Trainingseffekte auch vom Maßnahmenzeitpunkt, vom Einsatz valider Verfahren zur Auswahl der Trainingsteilnehmenden und künftigen Expatriates (Graf, 2021) und insbesondere von persönlichen Merkmalen wie Offenheit, Reflexionsfähigkeit und Sprachkompetenz der Trainingsteilnehmenden beeinflusst werden. Der Auslandsaufenthalt Zwar sollten die Mitarbeitenden idealerweise schon vor der Entsendung gut auf ihre Auslandstätigkeit vorbereitet werden, jedoch ist auch am Ort der Tätigkeit in der Aufnahmekultur eine weitere, gezielte Betreuung hilfreich. Deshalb ist in der Phase des Aufenthalts die ständige Kontaktnahme mit den entsandten Mitarbeitenden z. B. durch Mentorinnen bzw. Mentoren wichtig. Personalentwicklungsmaßnahmen, die interkulturelle Trainings „on-the-job“ und eine permanente Betreuung vor Ort anbieten, sind bedeutsam (Bolten, 1999; van Bakel et al., 2022). Ein wichtiger Aspekt während des Aufenthalts ist die soziale Unterstützung. Hier zeigte sich, dass sozio-emotionale Unterstützung für die Vorhersage der Zufriedenheit mit einem Aufenthalt wichtiger als instrumentelle Unterstützung ist und die Unterstützung durch Einheimische die bedeutsamste Quelle sozialer Unterstützung darstellt (Podsiadlowski et al., 2012). Auf die Notwendigkeit, die mentale Gesundheit zu unterstützen, verweist eine Studie von Fonseca et al. (2017). Wichtig ist die Zuweisung eines Mentors bzw. einer Mentorin, um die kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Entsendeorganisation während des Auslandsaufenthalts zu erleichtern. Dies kann im Rahmen eines Mentorenprogramms erfolgen, in dem Expatriates (und ihre Familien) mit Gastkolleginnen und -kollegen (und deren Familie) zusammengeführt werden (De Paul & Bikos, 2015). Kriterien für eine erfolgreiche Auslandstätigkeit sind die Zufriedenheit mit dem Gastland, die Güte der sozialen Kontakte zu den Angehörigen der Gastkultur und die der beruflichen Kooperation, die Effektivität in der Erfüllung fachlicher Aufgaben und das Ausmaß an Stressbelastung. Nicht immer sind diese Kriterien jedoch leicht zu erreichen (Szkudlarek, 2010).
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Rückkehr und Reintegration Die Wiedereingliederung bzw. Reintegration im Ausland tätig gewesener Mitarbeitender gilt häufig als der schwierigste Teil der Auslandsentsendung (Kammel & Teichelmann, 1994; Knocke, 2017). Als ein Hauptproblem gilt die Identifikation mit der neuen Arbeitsstelle im alten Unternehmen, denn in der Regel haben die Mitarbeitenden im Ausland selbstständiger gearbeitet. Idealtypische Beschreibungen der Wiedereingliederung werden zumeist in Phasenmodellen dargestellt (Kühlmann, 2014; Kühlmann, 2004). Demnach kehren die Entsandten in einem Stimmungshoch zurück, danach kommt es jedoch zu einem zweiten Kulturschock („Rückkehrschock“), weil man erkannt hat, dass sich in der Zwischenzeit auch einiges in der Heimat geändert hat. Der Rückkehr wird häufig von den Unternehmen wenig Beachtung beigemessen (Szkudlarek, 2010). Dabei bringen die Mitarbeitenden wertvolle Erfahrungen mit, die es zu verarbeiten und weiterzugeben gilt. Probleme der Integration nach der Rückkehr werden oft berichtet: So sind viele Rückkehrenden darüber enttäuscht, dass in den Unternehmen häufig nicht auf ihre im Ausland erworbene Expertise zurückgegriffen wird und es einen Mangel an Karrieremöglichkeiten gibt (Doetsch, 2016). Die Defizite der Rückkehrendenintegration werden als eine der Ursachen für eine gewisse „Auslandsmüdigkeit“ gesehen. Als geeignete Maßnahmen der Wiedereingliederung werden bereits während des Aufenthalts die Betreuung durch Mentorinnen bzw. Mentoren und bei der Rückkehr Transferworkshops, um die Auslandserfahrungen zu verarbeiten, gesehen (Kühlmann & Stahl, 2006).
5.5.4 Die Bedeutung interkultureller Kompetenz Interkulturelle Kompetenz meint die Fähigkeit, „die kulturelle Bedingtheit der Wahrnehmung, des Urteilens, des Empfindens und des Handelns bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen“ (Thomas, 2009, S. 130). Eine Person verfügt über interkulturelle Handlungskompetenz, wenn sie eigen- und fremdkulturelle Orientierungssysteme kennt, in Überschneidungssituationen adäquat interagiert und in der Lage ist, interkulturelle Synergien zu generieren. Sie kann sowohl die eigene kulturelle Geprägtheit kritisch reflektieren als auch versuchen, sich in die Lage der Angehörigen einer fremden Kultur hineinzuversetzen. Interkulturelle Kompetenz ist daher eine besondere Form sozialer Kompetenz. Interkulturelle Kompetenz (Abb. 20) lässt sich in affektive (z. B. Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz, Flexibilität, Empathie, Toleranz, kein Ethnozentrismus), kognitive (z. B. Verständnis von fremd- und eigenkulturellen Handlungszusammenhängen, Metakommunikationsfähigkeit) und verhaltensbezogene (z. B. Fähigkeit zur Kommunikation und soziale Kompetenz) Dimensionen differenzieren (Bolten, 1999).
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5 Anwendungsfelder
Fachkompetenz
Strategische Kompetenz
Interkulturelle Kompetenz
Soziale Kompetenz
z. B. Ambiguitätstoleranz, Metakommunikationsfähigkeit
Individuelle Kompetenz
Abb. 20: Komponenten internationaler Management-Kompetenz nach Bolten (1999).
Im Falle interkultureller Zusammenarbeit können kulturelle Divergenzen als Handlungsbarrieren wirken und die gegenseitige Verständigung erschweren, sie können aber auch als leistungsförderliches Potenzial genutzt werden und synergetische Effekte bewirken. Für eine effiziente Auslandsentsendung bedarf es motivierter und interkulturell kompetenter Fach- und Führungskräfte, die sich ihrer kulturellen Gebundenheit bewusst sind und die es verstehen, mit den Ambivalenzen zwischen heimischen Unternehmenszielen und fremdkulturellen Anforderungen effizient umzugehen (Spieß, 1997). Dabei ist es auch wichtig, dass eine Auslandsentsendung ebenso wie die Betreuung ausländischer Mitarbeitender in ein stimmiges Personal- und Organisationsentwicklungsprogramm des Unternehmens eingebettet sind (Freimuth & Thiel, 1997). Unterschiedliche Sozialisationserfahrungen führen zu unterschiedlichen Erwartungen an effizientes Arbeiten und effiziente Organisationsprozesse. In der Anfangszeit des Auslandseinsatzes stellt sich als Hauptaufgabe, von den inländischen Mitarbeitenden vor Ort als Führungskraft akzeptiert zu werden. Gerade dies erfordert einen kultursensiblen Führungsstil. Problematisch ist sowohl ein ethnozentrischer Führungsstil, der unreflektiert die Führungsgrundsätze des Stammhauses auf die Auslandsniederlassungen überträgt, als auch eine kritiklose Verhaltensanpassung an die Führungsverhaltensweisen des Gastlands. Es gilt hier, eine Ausgewogenheit und Situationsangepasstheit herzustellen. Zunehmend gewinnen daher auch interkulturell orientierte Coaching- und Beratungsprozesse an Bedeutung (Schmid, 2021).
5.5.5 Integration von Beschäftigten mit Migrationshintergrund Laut Mikrozensus 2021 leben rund 22 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, davon sind rund 12 Millionen mit deutscher Staatsangehörigkeit, gut 37 Prozent sind bereits in Deutschland geboren (Statistisches Bundesamt, 2023). Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählen in Deutschland laut Mikrozensus alle Perso-
5.5 Interkulturelles Handeln
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nen, die selbst oder von denen ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen (Statistisches Bundesamt, 2023). Der Migrationshintergrund kann mehrere Generationen umfassen und auf vielfältige Ursachen zurückzuführen sein wie z. B. die individuell sorgfältig veranlasste Migration und Einbürgerung, die Spätaussiedlung oder die Flucht aus dem Herkunftsland. Häufig wird der Begriff Migrationshintergrund im Kontext von Diskriminierung und Integrationserfordernissen genutzt. Auch wenn berufliche Mobilität und befristeter internationaler Personalaustausch aus psychologischer Perspektive mit spezifischen Migrationserfahrungen einhergehen, so bringen aus wirtschaftlicher oder politischer Not veranlasste Migrations- und Fluchterfahrungen doch spezifische Sozialisations- und Traumaerfahrungen mit sich. Mehl et al. (2021) betrachten Migration grundsätzlich als kritisches Lebensereignis, das aufgrund individueller Migrationserwartungen und -erfahrungen unterschiedlich erfahren wird und unterschiedliche Bewältigungserfordernisse mit sich bringt. Allein schon die Arbeitsaufnahme in einer neuen Organisation und in einem neuen Land stellt komplexe Herausforderungen an die Betroffenen, wie die Akkulturation in einer fremden Kultur und die Sozialisation in einer neuen Organisation, oftmals auch in einem fremden Wirtschaftssystem. Die Person muss sich nun in einer neuen Lebenswelt, im neuen Land und in einem neuen Unternehmen einleben und zurechtfinden. Ihre Integration in Arbeitsmarkt und Unternehmen ermöglicht idealerweise auch die Zugehörigkeit zu beruflichen und sozialen Netzwerken und stellt eine wesentliche Integrationschance dar (Reif et al., 2017). Hochqualifizierte Arbeitsmigrantinnen und -migranten finden häufig rascher Zugang zum beruflichen Netzwerk. Für geflüchtete Menschen ist eine Arbeitsaufnahme erst im Falle eines positiv beschiedenen Asylgesuchs möglich. Sie zeigen aufgrund der traumatischen Fluchterfahrungen nach der Ankunft im Aufnahmeland oftmals eine deutlich höhere Stressvulnerabilität (Buchwald & Hobfoll, 2013). Ihre berufliche Integration schafft daher besondere Herausforderungen (Eggerth & Flynn, 2021). Für die Integration in einen neuen gesellschafts- und organisationskulturellen Kontext ist daher die Ursache einer Migration von besonderer Bedeutung. Migrationsbedingte Stressoren sind leichter zu bewältigen, wenn der Umzug in das Aufnahmeland geplant und selbstkontrolliert erfolgen konnte, wenn eine individuelle Vorbereitung auf die anstehenden Veränderungen möglich war und die Migration nicht mit dem Verlust der bisherigen Lebensgrundlage einhergeht (Mehl et al., 2021) Akkulturation lässt sich als die „Anpassung an eine fremde Kultur“ definieren, ein Hineinwachsen einer Person in ihre kulturelle Umwelt (Berry, 2019). Berry unterscheidet vier Akkulturationsstrategien: Integration (starke Orientierung an der Kultur des Aufenthalts- und des Herkunftslands), Assimilation (stärkere Orientierung an der Kultur des Aufenthaltslands), Separation (stärkere Orientierung an der Kultur des Herkunftslands) und Marginalisierung (schwache Orientierung beiden Kulturen gegenüber). In Abhängigkeit von diesen Strategien (und weiteren Faktoren) werden Akkulturationserfahrungen unterschiedlich wahrgenommen und bewältigt, wovon kurzfristige Stressreaktionen und langfristig der Anpassungserfolg abhängen (Reif et al., 2017).
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5 Anwendungsfelder
Das Modell organisationaler Akkulturation integriert Ansätze aus den Forschungstraditionen der Akkulturation und organisationalen Sozialisation. Es geht davon aus, das Beschäftigte mit Migrationshintergrund einer Vielzahl von Stressoren ausgesetzt sind, die sich sowohl aus dem Eintritt in eine neue Organisation (sozialisationsbedingter Stress, z. B. Rollenkonflikte, Rollenüberlastung oder nicht erfüllte Erwartungen, vgl. Saks & Ashforth, 2000) als auch aus dem Einleben in einer neuen Kultur (akkulturationsbedingter Stress, z. B. Angst und Unsicherheit darüber, wie man sich in einem neuen kulturellen Kontext verhalten soll, das Gefühl des Verlusts der eigenen kulturellen Identität, Gefühl der mangelnden kulturellen Verwurzelung, vgl. Sandhu & Asrabadi, 1994) ergeben. Für die Integration von Arbeitsmigrantinnen und -migranten spielt der Erhalt und die Förderung von persönlichen, sozialen und organisationalen Ressourcen eine besondere Rolle. Durch Stressbewältigung sowohl aufseiten der Neulinge als auch aufseiten der bestehenden Belegschaft soll sozialisationsbezogener und akkulturativer Stress abgebaut und organisationale Akkulturation erreicht werden. Dazu bedarf es intrapersoneller Prozesse der Informationsaufnahme, der Unsicherheitsreduktion und des Lernens sowie interpersoneller Prozesse wie sozialer Unterstützung, Empowerment, Partizipation und des „Gebens einer Stimme“ (Voice). Diese Bewältigungsprozesse sollen schließlich zu einer gelungenen Anpassung führen, die sich in sozialer Integration, Rollenklarheit, dem Meistern von Arbeitsaufgaben und kulturellen Konflikten und einem Person-Job-Fit bzw. Person-Organisations-Fit äußert. Eine erfolgreiche Anpassung wirkt sich wiederum positiv auf weitere arbeitsbezogene Faktoren aus. Maßnahmen für die erfolgreiche Integration von Beschäftigten mit Migrationshintergrund können im Rahmen von Personalmarketing (z. B. klare Kommunikation erforderlicher fachlicher Anforderungen und Qualifikationen), Personalauswahl (barrierefreie Gestaltung des Rekrutierungprozesses durch Mehrsprachigkeit bzw. Verwendung klarer Sprache und transparenter Prozesse), Personalentwicklung (z. B. Bildung von Sprachtandems zwischen Neulingen und bestehender Belegschaft zur Förderung des Spracherwerbs, Angebot betriebsspezifischer Sprachkurse, Organisation gemeinsamer Aktivitäten und Teambuilding-Maßnahmen, Vermittlung der Organisationskultur, interkulturelle Schulungen) und Organisationsentwicklung (z. B. Aufdecken und Überwinden struktureller Ungleichheiten wie etwa benachteiligender Beschäftigungsmodi für bestimmte Mitarbeitergruppen, innerbetriebliche Antidiskriminierungsrichtlinien, Etablierung einer Willkommenskultur) ergriffen werden (Reif & Spieß, 2020).
5.5.6 Resümee Interkulturelle Kompetenz wird zunehmend wichtiger im Feld der sich rasch vollziehenden Internationalisierung und Globalisierung von Wirtschaft und Unternehmen. Die Psychologie hat zu dem Prozess der Entsendung und der Integration internationaler Beschäftigter Wissen beizutragen: für den Auswahlprozess und die Weiterentwicklung valider Auswahlinstrumente. So sollte bei der Auswahl die Berücksichtigung der Ziele
5.6 Unternehmenszusammenschlüsse und ihre Folgen
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und Lebensentwürfe der Mitarbeitenden berücksichtigt werden, denn geraten persönliche Interessen und Arbeitstätigkeit in Widerspruch zueinander, so sind die persönliche Gesundheit als auch die Leistungsfähigkeit gefährdet. Auch tragen Psychologen und Psychologinnen zu den Vorbereitungsmaßnahmen, Trainings und Evaluationsmaßnahmen bei. Für die Aufenthaltsphase werden Mentoringsysteme aufgebaut und gepflegt. Ebenso gilt es, die Rolle der mitreisenden Angehörigen zu berücksichtigen. Bei der Rückkehr sollten die gemachten Erfahrungen systematisch aufgearbeitet werden, z. B. in Transferworkshops. Bei der Integration von Arbeitsmigrantinnen und -migranten sind sowohl Belange aufseiten der „Neuen“ als auch aufseiten der bestehenden Belegschaft zu berücksichtigen. Maßnahmen können bereits im Personalmarketing und der Personalauswahl, aber auch im Zuge von Personalentwicklung und Organisationsentwicklung ergriffen werden.
5.6 Unternehmenszusammenschlüsse und ihre Folgen Erika Spieß und Katharina Pfaffinger Unternehmenszusammenschlüsse sind grundsätzlich ein vielschichtiges Phänomen, das noch nicht vollständig wissenschaftlich aufgearbeitet ist, da es aus verschiedenen fachlichen Perspektiven betrachtet werden kann und Theorien aus unterschiedlichen Feldern kombiniert werden müssen (Larsson & Finkelstein, 1999). Auch wenn Unternehmenszusammenschlüsse (häufig auch als Mergers und Acquisitions – kurz M&A bezeichnet, Hornung, 1998) primär als wirtschaftswissenschaftliches Thema gelten, spielen beispielsweise auch juristische, soziologische und psychologische Aspekte eine nicht zu unterschätzende Rolle (Jansen, 2016). Die Folgen solcher Veränderungen wurden bisher noch wenig von der psychologischen Forschung berücksichtigt, obgleich besonders die Folgen für die Mitarbeitenden erhebliche psychologische Konsequenzen haben können. Der Begriff der M&As ist vor allem in den Vereinigten Staaten gut definiert und es gibt zahlreiche spezifische Publikationen hierzu (z. B. Hooke, 2014; Weber, 2012). In Deutschland findet eine intensivere Befassung mit der Thematik und damit auch mit der Begriffsdefinition jedoch erst seit den 1980er Jahren statt (Jansen, 2016). Jansen (2016) bezeichnet M&As kurz und knapp als unterschiedliche Formen von Unternehmenskäufen und -beteiligungen. Es gibt jedoch eine Vielzahl an Definitionen, die das M&A-Konstrukt weiter untergliedern. Laut Winkler und Dörr (2000) unterscheiden sich Mergers von Acquisitions vor allem dadurch, dass Mergers generell eher Firmenzusammenschlüsse unter Gleichen, also Firmen vergleichbarer Größe, bezeichnen und der Begriff Acquisition eher für einen Unternehmenskauf mit einem dominierenden Partner verwendet wird. In der Literatur werden verschiedenste Gründe für Unternehmenszusammenschlüsse genannt (u. a. Cartwright & Cooper, 1993; DePamphilis, 2011; Jansen, 2016):
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5 Anwendungsfelder
Synergien (Economies of Scale, Economies of Scope, finanzielle Synergien) Wachstum (Steigerung des Marktanteils, größere Marktmacht) Anpassung an externe Veränderungen (Umwelt, System, Kapitalmarkt, Veränderung des Marktes für Unternehmenskontrolle) Risikostreuung, Diversifizierung Bewertung des Unternehmens (Wert eines Unternehmens mit bestimmten Ressourcen geringer als objektiver Preis für die Ressourcen alleine, Preis eines Unternehmens geringer als dessen objektiver Wert) eigennützige Motive des Managements
Klendauer et al. (2007) haben den Forschungsstand zusammengefasst. Neben einer Vielzahl ökonomischer, strategischer und struktureller Variablen, die für den Erfolg bzw. Misserfolg verantwortlich sind, werden auch mehrere psychologische Größen aufgeführt. Als wichtige exogene Variablen des Fusionsprozesses, die es zu beachten gilt, werden genannt: – Merkmale des Prozesses, wie z. B. Ziele der Vereinigung oder deren – z. B. feindliche oder freundliche – Qualität – Erfahrungen, Erfolge und Kulturen der beteiligten Unternehmen – Organisationsanpassung mit Blick auf Systeme, Strukturen, Managementstile und Kultur Hinsichtlich der erfolgskritischen Merkmale des Integrationsprozesses werden genannt: – Gerechtigkeit – wahrgenommene Kontrollierbarkeit – Umgang mit sozialen Identitäten – personalbezogene Maßnahmen, wie interne Kommunikation, Integrationsworkshops etc. Als wichtige emotions- und verhaltensbezogene Ergebnisse werden genannt: – Stress, Angst, Kontrollverlust, Zweifel – positive Gefühle, wie Zufriedenheit, Arbeitsmoral, Bindung oder Vertrauen – Verhaltensindikation, wie Kündigungen oder Fehlzeiten, absinkende Qualität oder Quantität der Leistungen, Diebstahl, Sabotage Die Endergebnisse lassen sich fassen als: – objektive ökonomische Größen, wie Aktienkurs, Wachstum und Wiederverkaufswert, – und subjektive Bewertungen durch verschieden betroffene Personengruppen innerhalb der beteiligten Unternehmen oder in deren Umfeld. Durch Wandel und Verlust des Gewohnten kann Stress in Form von Unsicherheiten, Ängsten, und nachlassendes Vertrauen ausgelöst werden. Die Abwanderung gilt als zentrales Problemfeld, besonders beim Management. Gründe für Ängste bei den Mit-
5.6 Unternehmenszusammenschlüsse und ihre Folgen
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arbeitern sind Stress, Unsicherheit, die neue Kultur und wegfallende persönliche Beziehungen. Gründe für das Scheitern sind u. a., dass die Unternehmenskulturen nicht zusammenpassen. Greitemeyer et al. (2006) haben die psychologischen Erfolgsfaktoren in einer empirischen Studie ermittelt: Die Mitarbeitenden des übernommenen Unternehmens hatten ein niedrigeres emotionales Wohlbefinden, konnten sich weniger mit der neuen Organisation identifizieren und erlebten diese neue Situation für sich selbst als weniger kontrollierbar im Vergleich zu den Mitarbeitenden der übernehmenden Firma. Die Befunde legen nahe, dass Mitarbeitende über die bevorstehenden Veränderungsprozesse rechtzeitig informiert und ihnen auch Möglichkeiten der Einflussnahme gegeben werden sollten. Untersuchungen zum Erfolg von Übernahmen zeigten z. B. (Jansen, 2016), dass zwei Drittel aller Misserfolge auf die unterschiedlichen Unternehmenskulturen zurückzuführen sind. Praxisbeispiel: Die zusammengeführten rund 40.000 Beschäftigten der neuen Hypo-Vereinsbank waren sich von Anfang an nicht grün. Jahrzehntelang hatten sie sich misstrauisch beäugt und jetzt fanden sie die gemeinsame bayerische Herkunft nicht ausreichend: wo die Vereinsbank dem Zeitgeist huldigte, klebte die Hypo am Lokalkolorit. Die Vereinsbanker galten als überheblich, die Hypoleute als verschlafen. Besonders ärgerte die Hypoangestellten, dass ihre topmoderne EDV gegen die lahme Software der Vereinsbank ausgetauscht wurde. Ein Unterfangen, das sich als so schwierig herausstellte, dass noch ein Jahr nach der Fusion nicht einmal die Kontoauszugdrucker in den Filialen funktionierten (Fokken, 1999, S. 140).
Um diese Probleme zu vermeiden, sollte die Unternehmenskultur bereits in der Akquisitionsphase ermittelt werden. Dabei ist eine Kulturdiagnose auch der eigenen Unternehmenskultur wichtig. Sie erfolgt z. B. durch die Ermittlung von Wertorientierungen durch eine eher indirekte Methode, bei der die sogenannten Artefakte wie Ausdrucksformen etc. registriert werden. Nach der Kulturdiagnose der eigenen und der fremden Kultur kann dann ein Vergleich z. B. durch ein Kulturprofil stattfinden. Einflussfaktoren dabei sind die Größe des zu akquirierenden Unternehmens, Art der Positionierung im Markt, Risikoneigung, Offenheit der Kommunikation, Führungsorientierung, Produktorientierung, Dynamik und die Marktorientierung (Hornung, 1998). Der typische Ablauf eines M&A-Prozesses: – Pre-Merger Phase: Planung und erste Konzeption, strategische Analysen (Wettbewerb, Akquisitionsumfeld, mögliche Zielunternehmen) – Merger Phase: Kontaktaufnahme mit identifizierten Zielunternehmen, Vertragsverhandlung (Kaufpreis, Finanzierungsart, usw.), wettbewerbsrechtliche Prüfung, Vertragsabschluss – Post-Merger Phase: Planung der Post-Merger Integration, Implementierung des Zusammenschlusses: Vernetzung und Integration der beiden Unternehmen, Erfolgskontrolle (Jansen, 2016).
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5 Anwendungsfelder
5.6.1 Post-Merger Integration Eine besonders kritische Phase im Prozess der Unternehmenszusammenschlüsse ist die Post-Merger Integration. Durch ein gutes Integrationskonzept als organisationale Sozialisationstaktik kann der Aufbau von Verbundenheit mit dem neuen Unternehmen gefördert werden (Jöns, 2014). Soziale Interventionen (z. B. zur Identitätsbildung) können zudem die kulturelle Integration im Rahmen eines Zusammenschlusses verbessern (Graebner et al., 2017), was sich positiv auf die Mitarbeiterreaktionen auswirken kann. Auch Kommunikation spielt eine bedeutende Rolle in der Post-Merger Integration (Graebner et al., 2017). Gerade bei Fusions- oder Veränderungsprozessen ist der erforderliche Informationsbedarf der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich höher als im Arbeitsalltag, weshalb in solchen Phasen die Kommunikation besonders relevant ist (Napier et al., 1989). Neben dem Integrationskonzept sowie der Informations- und Kommunikationspolitik ist die Partizipation der Mitarbeitenden in der Post-Merger Integration wichtig (z. B. Picot, 2012). Das Mergersyndrom beschreibt eine Reihe von Syndromen, die nach einem Merger auftreten können (Nerdinger et. al., 2019, S. 193 ff.). Dies sind u. a. Befangenheit, Gerüchteküchen, Stressreaktionen, eingeschränkte Kommunikation, Verlust von Vertrauen, das Management wird als unglaubwürdig erlebt, es kommt zum Kampf der Kulturen. Für viele Unternehmenszusammenschlüsse hat sich die jeweilige Unternehmenskultur als eine kritische Größe herausgestellt. Deshalb soll dieses Konzept hier kurz vorgestellt werden.
5.6.2 Unternehmenskultur Bei der Unternehmenskultur handelt sich es um einen aus der Anthropologie (Ethnologie) entliehenen Kulturbegriff, der dort auf Volksgruppen angewandt wurde und nun auf die Mikroebene des Unternehmens bezogen wird. In Organisationen bilden sich spezifische Vorstellungen und Orientierungsmuster heraus, eine stabile Sammlung von Werten, Symbolen und Ritualen, die das Verhalten am Arbeitsplatz beeinflussen. Es handelt sich um ein soziales und kollektives Phänomen, das ein Ergebnis von Entwicklungs- und Lernprozessen ist (Spieß & von Rosenstiel, 2010, S. 220). Schein (1980) unterscheidet drei Ebenen einer Kultur: Basisannahmen, die auf einer hohen Abstraktionsebene angesiedelt sind, Werte und Normen und ein Symbolsystem, das die Oberfläche und die Artefakte der Kultur darstellt (Abb. 21). Die Funktionen der Unternehmenskultur dienen dem Stiften von Identität und der Förderung der Bindung der Mitglieder an die Organisation durch Abgrenzung gegenüber anderen. Sie stabilisieren das System, geben Orientierung und Kontrolle für
5.6 Unternehmenszusammenschlüsse und ihre Folgen
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die Mitarbeitenden und sind bedeutsam für die Sozialisation neuer Mitglieder (Kauffeld, 2019). Peters und Waterman (1984) legten einen Vergleich zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Unternehmen vor. Als mögliche Ursache des Erfolgs werden drei „harte S“ (Strategien, Strukturen, Systeme) und drei „weiche S“ (soziale Fähigkeiten, Stellenbesetzungen im Managementbereich, Stil der Führung) analysiert. Die „weichen S“ zeigten sich als die bedeutenderen Determinanten des Erfolgs (Dierkes et al., 1993).
Symbolsystem Umgangsformen Kleidung, Sprache Architektur und Design Routinen und Rituale Geschichten und Legenden
Werte und Normen Handlungsmaximen Verhaltensrichtlinien, Verbote
Basisannahmen über das Wesen des Menschen Menschliche Handlungen und Beziehungen Umweltbezug Wirklichkeit und Zeit
Abb. 21: Die Ebenen der Unternehmenskultur nach Schein (1980) in Spieß und von Rosenstiel (2010, S. 174).
Der Erschließungsprozess einer Unternehmenskultur kann mit diesen äußeren Erscheinungen beginnen: Räume, Gebäude, Kleidung (Tab. 6). Sichtbare Objekte, die als potenzielle Indikatoren für die Unternehmenskultur gelten, sind z. B. die Architektur oder die Dienst – und Arbeitskleidung der Unternehmensmitarbeitenden (Scholz, 2014). Die Methoden zur Erfassung der Unternehmenskultur sind Interviews, Beobachtungen sowie Analysen anhand von Dokumenten oder Firmenrundgängen und sind damit im Bereich der qualitativen Sozialforschung angesiedelt (Spieß & von Rosenstiel, 2010). So können die Beobachtungen mehrdeutig sein, d. h., die Unternehmenskultur wird interpretativ abgeleitet. Die Funktionen von Unternehmenskultur sind u. a., Ordnung zu stiften und Stabilität, Sinnvermittlung sowie Rationalisierung zu vermitteln (Hornung, 1998).
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5 Anwendungsfelder
Tab. 6: Indikatoren für eine Unternehmenskultur (nach Scholz, 2014). Architektur
Baustil, Vorplatz, Parkanlagen, Trennung von Verwaltung und Produktion
Inneneinrichtung
Entrée, Farbgestaltung, Kunstgegenstände, Vorzimmer, Foyer, Möbel
Arbeitsplätze
Teppiche, Vorhänge, Wandschmuck, Pflanzen, Türschilder, ergonomische Gestaltung
Arbeitsorganisation
Größe des Arbeitsplatzes, Großraumbüro, Einzelzimmer, Gruppenzimmer, Transport- und Lagereinrichtungen
Arbeitsmittel
Telefonanlage, EDV, Maschinen, Anlagen
Äußere Erscheinung der Mitarbeitenden
Freizeitkleidung, Businessdress, Uniform, Arbeitskleidung
Art der Überwachung
Verzicht auf Zeitkontrolle, Stechuhren, Kontrollpersonal
Sonstiges
Titelhierarchie, Logos, Embleme, Fahnen, Visitenkarten, Briefpapier, Firmenwagen, Führungsgrundsätze, Organigramme, Veranstaltungen
Unternehmenskultur kann auch eine Fessel für das Unternehmen darstellen, indem das Unternehmen als Gefangener der eigenen Vergangenheit erscheint (Bartlett & Ghoshal, 1990). Kultur, Werte und Überzeugungen einer Organisation können nur in einem langwierigen Prozess verändert werden.
5.6.3 Resümee Unternehmenszusammenschlüsse gehören inzwischen zum Alltag der Unternehmensmitglieder und haben neben den bekannten ökonomischen Effekten weitreichende wirtschaftspsychologische Folgen. Wie dieser Prozess verläuft und vor allem auch wie er gesteuert wird, beeinflusst die weiteren Arbeitsbedingungen in den Unternehmen und deren Kulturen. Immer noch werden die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen stärker beachtet als die möglichen psychologischen Folgen einer fehlgesteuerten bzw. misslungenen Integration. Auch hier ergeben sich für die wirtschaftspsychologische Analyse und Intervention ein reiches Betätigungsfeld. So gehört schon bei der Akquisitionsanbahnung eine entsprechende Diagnose der jeweiligen Unternehmenskulturen dazu, die sowohl eine Dokumentenanalyse als auch Mitarbeiterbefragungen einschließen sollte. Ebenso bieten sich für den Prozess des Zusammenschlusses viele Möglichkeiten, ihn kompetent zu begleiten. Der vollendete Zusammenschluss, aus dem im Idealfall neue Synergien und eine neue Kultur entsteht, kann in einem Ist-SollVergleich evaluiert werden. Unternehmenszusammenschlüsse haben eine vielfältige Wirkung auf der individuellen und auf der interpersonellen Ebene: Auf der individuellen Ebene tangieren sie Werte und grundlegende Annahmen im Unternehmen, sie wecken Gefühle in
5.7 Beratung in wirtschaftsnahen Kontexten
153
Form von Ängsten oder auch Erwartungen und sie können den Selbstwert einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gefährden. Sie erfordern eine Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden und initiieren häufig Lernprozesse. Auf der interpersonellen Ebene sind vor allem die Prozesse des Intergruppenverhaltens zu berücksichtigen: Wenn zwei sehr unterschiedliche Unternehmenskulturen zusammentreffen, können sich ohne eine entsprechende Intervention Fronten verhärten, die Gruppen stehen sich feindlich gegenüber und produzieren auf der individuellen Ebene vermehrt Feindbilder und Stereotype. Hier kann der Einsatz von Methoden der Mediation und Konfliktlösung angebracht sein.
5.7 Beratung in wirtschaftsnahen Kontexten Erika Spieß und Julia A. M. Reif Globalisierung und Enttraditionalisierung führen dazu, dass traditionelle Werte, Überzeugungen und Verhaltensweisen an Bedeutung verlieren und Raum für individuelle Entscheidungen und Handlungen entsteht, was zu Unsicherheit führt (Diemers, 1999). Hinzu kommen ambidextre Anforderungen in Arbeitswelt und Privatleben, die bewältigt werden müssen. Die Nachfrage nach Beratungsangeboten jeglicher Art steigt in Folge dieser Entwicklungen (z. B. Lippitt & Lippit, 2015, vgl. auch Kauffeld & Sauer, 2019). Auch in wirtschaftsnahen Kontexten steigt die Nachfrage nach Beratungsleistungen (Consulting.de, 2022). Die vier größten Beratungsfelder sind Strategieberatung (Anteil: 17,4 Prozent Umsatzanteil des deutschen Beratungsmarkts), Organisations- und Prozessberatung (Anteil: 30,8 Prozent), IT- und Technologieberatung (Anteil: 34,2 Prozent) sowie IT-Outsourcing (Anteil: 5,7 Prozent) (Lippold, 2020).
5.7.1 Die Entwicklung der Beratungsbranche Lippold (2020) zeichnet die Entwicklung der Beraterbranche in fünf Phasen nach. In der Phase der Initialisierung wird mit der Firma Arthur D. Little 1886 die erste Unternehmensberatung gegründet. In der Phase der Professionalisierung entstehen Unternehmen wie McKinsey (1920er Jahre). Der Begriff des Management Consultants wird geboren. In der Phase der Internationalisierung und Differenzierung (1950er/1960er Jahre) weiten die führenden Managementberatungen der USA ihre Aktivitäten auf den europäischen Markt aus. Das Leistungsangebot im Beratungsmarkt differenziert sich aus. Die anschließende Phase ist gekennzeichnet von Boom und Überhitzung. Die Branche wird stark nachgefragt, die Beratungskapazitäten werden ausgebaut, die Tagessätze steigen. Nach dem Platzen der Börsenblase Anfang der 2000er Jahre tritt die Beratungsbranche in die Phase der Konsolidierung ein. Kapazitäten werden abgebaut, Prüfungs- und Beratungssparten werden getrennt. Mit dem Erholen der Wirtschaft
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2005 erholen sich auch die Beratungsunternehmen und sind auf die 2008 folgende Bankenkrise besser vorbereitet. In dieser Phase der Erholung erzielt die Beratungsbrache wieder hohe Wachstumsraten (Lippold, 2020). 2017 wurde die ISO 20700, eine nicht regulative Norm, als „Guidelines for managementconsultancy services“ veröffentlicht. 2018 wurde sie als europäische Norm EN ISO 20700 („Leitlinien für Unternehmensberatungsdienstleistungen“) übernommen. Die Leitlinien fassen Abläufe und Prozesse in der Unternehmensberatung zusammen (Bodenstein, 2022a). Die Norm wurde entwickelt, um eine einheitliche und klare Basis für die Zusammenarbeit zwischen Berater/-in und Kunde bzw. Kundin zu schaffen und die Qualität und den Nutzen von Beratungsdienstleistungen zu verbessern.
5.7.2 Verständnis und Definition von Beratung Die Definition von Beratung hängt von dem der Beratung zugrunde liegenden Beratungsverständnis ab. Folgende Elemente eines Beratungsverständnisses werden von Weber (2013a) beschrieben: – Individuum als Ausgangspunkt für die Beratung: Beratung wird von der Rat suchenden Person initiiert. Beratung ist möglichst frei von gegenseitiger Abhängigkeit und gekennzeichnet von Freiwilligkeit, Bewertungsfreiheit und Entscheidungsfreiheit. – Orientierung am Anliegen der Ratsuchenden: Beratung ist auf abgegrenzte Problemlagen oder Themen fokussiert. Zwischen dem Anliegen der Ratsuchenden und dem Unterstützungsangebot der Beratenden wird eine gemeinsame Intentionalität hergestellt. – Problem- beziehungsweise Lösungsfokussierung: Beratung ist fokussiert auf die Suche nach bzw. die Entwicklung von Lösungen für Probleme der Ratsuchenden. – Beziehungsperspektive: Wichtig für den Beratungsprozess und die Wirksamkeit von Beratung ist die Entwicklung einer Beziehung bzw. Allianz zwischen Beratenden und Ratsuchenden. – Prozesscharakter: Beratung ist ein Prozess, in den Beratende und Ratsuchende mit asymmetrischen Voraussetzungen eintreten. Die Ratsuchenden verfügen über Informationen zur Situation, den Rahmenbedingungen und dem Anliegen. Beratende verfügen über Methoden und Beratungstechniken. – Integration von Individuum, Organisation und Gesellschaft: Beratung fokussiert nicht nur auf die Person des/der Ratsuchenden, sondern bezieht den Kontext (organisationale Bedingungen, gesellschaftliche Anforderungen), in dem sich der/ die Ratsuchende befindet, mit ein. – Beratung als reflexives Verfahren und als Förderung der Fähigkeit zur Selbstorganisation: Angesichts der Komplexität und Vielschichtigkeit von Problemlagen kann Beratung als Unterstützungsprozess aufgefasst werden, mit dem Ziel der gemeinsamen Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten oder der Vergrößerung der Kompetenz der Ratsuchenden.
5.7 Beratung in wirtschaftsnahen Kontexten
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Betonung bestimmter Methoden oder Methodenpluralismus: Häufig werden in der Beratung verschiedene Methoden oder Beratungsansätze integriert, wobei nicht direktive Beratung und systemtheoretische Ansätze hervorgehoben werden.
Dementsprechend lässt sich Beratung beschreiben als „kommunikationsbasiertes Format der Unterstützung von Individuen (oder Organisationen) bei der Lösung von Problemstellungen, die zwischen den Systemen Individuum – Organisation − Gesellschaft typischerweise bestehen“ (Weber, 2013a, S. 103). Dabei erfüllt Beratung allgemein folgende Charakteristika (Bodenstein, 2022b): – Externalität: Berater/-innen begleiten Unternehmen über längere Zeiträume, sind aber i. d. R. nicht Teil des Unternehmens, sondern blicken von außen auf das Geschehen im Unternehmen. Dadurch können sie neue Perspektiven, neues Wissen und Erfahrung von außen in das Unternehmen einbringen (Bodenstein, 2022b). (Im Fall der internen Beratung gilt dieses Kriterium nur eingeschränkt.) – Unabhängigkeit: Beratende sind unabhängig von Interessensgruppen im Unternehmen und können daher objektive Analysen und Empfehlungen liefern. – Neutralität: Berater/-innen sind neutral bei der Erstellung von Entscheidungsalternativen und Strategien, während in der Produkt-, Verkaufs- oder Kundenberatung häufig die Verkaufsprozesse als „Beratung“ bezeichnet werden. – Professionalität: Zur Professionalität von Beraterinnen und Beratern gehören deren anerkannte Qualifikation, eine angemessene Honorierung der Leistung sowie die Routine in der Abwicklung von Projekten. – Spezielle Kompetenzen: In der Beratung tätige Personen verfügen über spezielle Kompetenzen hinsichtlich Branchen, Fachgebieten (z. B. Personal, Produktion, Rechnungswesen) und Methoden (z. B. Coaching, Moderation, Konzepterstellung).
5.7.3 Formen der Beratung In der Beratungsliteratur werden verschiedene Formen der Beratung erwähnt. Walger (1995, vgl. auch Deelmann, 2012, nach Lippold, 2020) unterscheidet vier Formen der Unternehmensberatung: die gutachterliche Beratungstätigkeit, die Expertenberatung, die Organisationsentwicklung und die systemische Beratung. – Die gutachterliche Beratungstätigkeit dient oft einer Entscheidungsvorbereitung, dem Wissenstransfer bzw. der Erkenntnisvermittlung. Beratende als neutrale Sachverständige sollen noch fehlende Informationen beschaffen, die vorhandenen Sachverhalte analysieren und alternative Organisationsformen bewerten. – Bei der Expertenberatung wird eine Beratungsorganisation beispielweise in der Funktion eines Experten angefragt, um das Problem zu lösen. Beratende bringen betriebs-, ingenieur- oder naturwissenschaftliches Fachwissen mit ein, um entsprechende Vorschläge zu erarbeiten und die Problemlösung herbeizuführen. Diese Form der Beratung ist weit verbreitet und findet z. B. Anwendung in Form der Erstel-
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5 Anwendungsfelder
lung von Marketingkonzepten oder der Verbesserung von Logistikprozessen. Führungskräfte und Beratende initiieren hier gemeinsam den Problemlösungsprozess. Das Beratungskonzept der Organisationsentwicklung geht von lernfähigen Menschen aus, wobei deren Verhalten und Initiative bzw. Mitwirkung die Fortschritte bestimmen. Beratende haben hier lediglich begleitende Funktionen, denn die eigentlichen Promotoren der Veränderung sind die Mitglieder der Organisation. Das Lernen aller Betroffenen findet in der jeweils konkreten Situation statt. Die Organisationsentwicklung verfolgt bekanntlich zwei Ziele: Einerseits geht es darum, die Effizienz der Organisation zu steigern, andererseits geht es aber auch darum, die Interessen der Organisationsmitglieder stärker zu berücksichtigen. Die Ziele von Organisation und Mitgliedern gelten als nicht grundsätzlich unvereinbar. Es werden zwar Zielkonflikte eingestanden, man ist jedoch um Konfliktlösungen bemüht. Die Verwirklichung dieser Ziele wird nicht von außen oder von oben vorgeschrieben, sondern es ist sehr wichtig, dass die entsprechenden Organisationsmitglieder selbst aktiv mitwirken. Es geht um einen für alle Beteiligten nachzuvollziehenden Lernprozess, wobei dieser Prozess der Veränderung nicht nur vereinzelte Personen oder Arbeitsgruppen, sondern die gesamte Organisation umfasst (Spieß & Winterstein, 1999). In der Organisationsforschung gilt Organisationsentwicklung als psychologische und dynamische Vorgehensweise. Ein typisches Vorgehen bei der Organisationsentwicklung beginnt mit einer Diagnose der Situation im Sinne einer Bestandsaufnahme. In der Phase der Planung werden Lösungsansätze entwickelt, die dann in der Umsetzungsphase zum Einsatz kommen. Die Maßnahmen werden auf ihre Effizienz geprüft. Typisch für die Organisationsentwicklung ist, dass nach jedem Schritt ein Feedback stattfindet, sodass Beratende und Auftraggebende in ständigem kommunikativen Kontakt stehen. Die systemische Beratung gilt als theoretisch fundierteste Form der Unternehmensberatung. Sie hat ihre Wurzeln in der Familientherapie und in der neueren Systemtheorie (vgl. Kapitel 2.6). Im Unterschied zur Organisationsentwicklung, die von der Organisation als offenem System ausgeht, betrachtet die systemische Beratung die Unternehmen als autopoetische Systeme, die rekursiv geschlossen sind. Das heißt, die Organisationen orientieren sich in ihrem Handeln in erster Linie an sich selbst und sind selbstregulativ. In diesem Zusammenhang nimmt dann auch die Beratung eine andere Funktion ein. Systemische Beratung gilt als Beobachtung zweiter Ordnung: Beratung im systemischen Sinne bedeutet, dass man beobachtet, wie eine Organisation beobachtet, was in ihr geschieht und wie sich diese Beobachtungen dann zu Entscheidungen entwickeln. Im Sinne der systemischen Beratung liegt das Kernproblem darin, dass Ratsuchende selbst die Lösung für ihre Probleme erarbeiten müssen.
Der systemische Beratungsansatz hat auch eine andere Vorstellung von Intervention: Im Unterschied zur klassischen Expertenberatung wird der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Interventionen eine große Aufmerksamkeit geschenkt. Im
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Sinne von Watzlawick et al. (1969) wird darauf verwiesen, dass fast jedes Verhalten der Beratenden als eine beabsichtigte Intervention interpretiert werden kann. Dieser Beratungsansatz, der Anfang der 1980er Jahre entstand, wird auf den französischen Mathematiker Henri Poincaré zurückgeführt, nach dem es dynamische Systeme gibt, in denen sich bereits kleinste Störungen im Laufe der Zeit um ein Vielfaches potenzieren können. Seit Mitte der 1970er Jahre gibt es den Begriff des „deterministischen Chaos“, d. h., nichtlineare Systeme können aufgrund dynamischer Rückkoppelungen ihrer Teile spontan ein Chaos in Form kreativer Unordnung erzeugen (Mingers, 1996). Der systemische Beratungsansatz bestreitet die Möglichkeit der objektiven Wahrnehmung und geht von der Irrationalität, der Intransparenz und der Selbstorganisiertheit von Systemen aus. Während der klassische Unternehmensberatungsansatz eher inhaltsorientiert ist, arbeitet die systemische Beratung prozessorientiert. Inhalts- vs. Prozessberatung Der Schwerpunkt einer Beratung kann somit auf den Inhalten oder auf den Prozessen liegen. Geht es um Inhaltsberatung, so geht man davon aus, dass die Kundinnen und Kunden über ein bestimmtes Wissen nicht verfügen und es die Aufgabe der Beratenden ist, ein solches Wissen zu vermitteln. Die Prozessberatung hingegen unterstellt, dass die Kundinnen und Kunden über das entsprechende Know-how verfügen und die Beratenden ihnen lediglich zur Seite stehen, um „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu ermöglichen (Schein, 1980). Prozessberatung geht von der Komplexität des Problems aus und dass die Kundinnen und Kunden sich selbst am Diagnoseprozess beteiligen sollen. Die Rolle der Beratenden besteht darin, der Kundschaft zu helfen, die eigenen Probleme zu erkennen und selbstständig Alternativen des Handelns zu ermitteln. Die Beratenden führen selbst keine konkreten Problemlösungen durch, sondern leisten „Hilfe zur Selbsthilfe“. Die Erfahrung der Prozessberatenden liegt dann weniger in der Bereitstellung von Fachwissen als vielmehr von Prozesswissen: Es geht nicht um die Klärung inhaltlicher Fragen und Probleme, sondern um die Begleitung von Entscheidungs- und Veränderungsprozessen. Dieses Vorgehen bei der Beratung ist somit eher ressourcen- als problemorientiert. Das Klientensystem soll vorhandene Potenziale und Energien mobilisieren und entdecken. Oft werden im Zuge von Beratungsprojekten in der Praxis beide Formen der Beratung vermischt (vgl. Lippold, 2020). Interne vs. externe Beratung Eine weitere Unterscheidung wird danach getroffen, ob die Beratung extern oder intern erfolgt, d. h., ob von außen Beratende geholt werden oder ob die Beratenden bereits im Unternehmen tätig sind. Typische Beratungsfelder interner Beratung sind zum Beispiel Strategie, (Führungs-)Kultur, Arbeitsprozesse, Wissensmanagement, Change Management, Corporate Social Responsibility, HR (Personalselektion, Konfliktmanagement, Teamentwicklung, Coaching für Fach- und Führungskräfte) sowie Organisationsentwicklung (vgl. von
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Ameln, 2015, Krizanits, 2010). Diese Felder sind allgemein auf die „laufende Anpassung und Verbesserung der organisationalen Verfasstheit im Gefüge von Strategie, Aufbauund Ablaufstruktur und Organisationskultur“ (Krizanits, 2010, S. 5) ausgelegt. Organisatorisch kann die interne Beratung als Stabsstelle (der obersten Führungsebene unterstellt), als Dienstleistungsstelle (zugänglich für alle Bereiche) oder als eigenständiger Geschäftsbereich (mit eigener Rechtsform) eingerichtet sein (Schanne, 2009).
5.7.4 Funktionen der Beratung Externe Beratung erfüllt vor allem folgende Funktionen (vgl. von Ameln, 2015, Krizanits, 2010, Lippold, 2020, S. 18 f.; Lippold, 2022; Schuh, 1993): – Impuls, Innovation und Wissenstransfer von außen nach innen: Berater/-innen bringen Fakten-, Erfahrungs- und Methodenwissen zur Lösung der Aufträge beim Kunden ein. Dazu gehören beispielsweise das Einbringen von Best Practices aus Markt, Branche und Technologie sowie das Einbringen neuartiger, innovativer Konzepte und Methoden oder die Durchführung von Benchmarking-Projekten. Hilfreich dabei ist, dass externe Berater/-innen über Erfahrungen mit unterschiedlichen Klientinnen und Klienten aus verschiedenen Organisationen verfügen. Dadurch können Beratende auch „Impulse zur Initiierung von Innovationen“ (Lippold, 2020, S. 18) geben. Sie fungieren als Soundboard und bieten neue Interpretationsansätze und Sichtweisen an. – Prüfung, Objektivierung und Legitimierung: Berater/-innen erstellen Gutachten und überprüfen „Annahmen, Realitätsnähe und Exaktheit praktisch-normativer Handlungen“ (Lippold, 2020, S. 18) bzw. Erfahrungen und Routinen der Organisation, was häufig mit einer Legitimationsfunktion für Managemententscheidungen einhergeht: Ideen oder Projekte sollen bei der Durchführung bzw. Umsetzung vom guten Namen der Unternehmensberatung profitieren. – Kapazitätserweiterung: Externe Beratende stellen zusätzliche Arbeitskapazität für die Bewältigung von Projekten bereit, die der Kunde selbst nicht hat. – Durchsetzungsfunktion, Politikfunktion und Übernahme von „Bad-Guy-Aufträgen“: Berater/-innen unterstützen Auftraggebende bei der Durchsetzung bereits feststehender Vorstellungen. Bei noch nicht feststehenden Vorstellungen mobilisieren sie Unterstützung und tragen zur Konsensfindung bei. Um interne Beraterinnen und Berater zu schützen und zu entlasten, sind externe Beratende auch für die Abwicklung sensibler Spezialthemen zuständig, z. B. für Kostensenkungs- oder Restrukturierungsprojekte. Die Distanz zur Organisation kann die Umsetzung solch sensibler Projekte erleichtern. Interne Beratung hat vor allem folgende Funktionen (vgl. von Ameln, 2015; Krizanits, 2010; Mohe, 2003; Richter & Wendlandt, 2010; Schanne, 2009; Ulrich et al., 2008):
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Interner Wissenstransfer und Wissensaufbau: Interne Berater/-innen managen Wissen, sie bauen Wissen auf, (ver-)teilen Best Practices und stellen Expertise bereit. Lernende Organisation: Interne Berater/-innen haben eine edukative Funktion für Entscheidungsträger, greifen frühe Signale für anstehenden Veränderungsbedarf auf und fungieren als „organisationales Gedächtnis“. Außerdem liefern sie auch direkte operative Beratung. Implementierung: Die Implementierungsorientierung ist bei internen Beraterinnen und Beratern neben einer konzeptionellen Orientierung im Vergleich zu externen hoch. Interne Berater/-innen bauen langfristige Prozesse (z. B. Bildungsprogramme) auf und etablieren sie, stellen Systeme und Tools bereit und betreiben diese. Impulsgeber für Wandel: Mit einem starken Fokus auf strategische Fragen sind interne Berater/-innen proaktive, eigeninitiativ Gestaltende. Beziehungsgestaltung: Interne Berater/-innen bauen vertrauensvolle Beziehungen auf und gestalten beispielsweise auch die Beziehung zu externen Beraterinnen und Beratern. Talentmanagement: Einheiten interner Beratung können auch als Talentpool dienen, wenn es um den Aufbau von Nachwuchsführungskräften oder die Einführung zukünftiger Führungskräfte in die Organisation geht.
Da sich interne und externe Beratende in ihren Leistungsprofilen zum Teil stark unterscheiden, arbeiten sie oft als Partner/-innen (statt als Konkurrenz) zusammen (Krizanits, 2010). Wenn es etwa um Projekte geht, die typischerweise eine Organisationsentwicklung erfordern (z. B. die Verbesserung der Zusammenarbeit in einer Abteilung), scheint es ratsam, sowohl interne als auch externe Beratung einzubeziehen. Durch die Mitwirkung interner Berater/-innen können organisationsspezifische Kenntnisse eingebracht werden. Um die Gefahr der Betriebsblindheit zu minimieren, können externe Beratende hinzugezogen werden.
5.7.5 Grundsätze der Beratung Um die Qualität und Transparenz des Marktes der Unternehmensberatung kontinuierlich zu verbessern und hochwertige Berufsstandards zu etablieren, formuliert der Bundesverband Deutscher Unternehmensberatungen BDU e. V. Berufsgrundsätze (BDU, 2023). Dazu gehören etwa: – Berufsausübung: „Der Berater übt seinen Beruf unabhängig, eigenverantwortlich, gewissenhaft und mit der erforderlichen Sorgfalt aus. Er übernimmt nur Aufträge, wenn er über die dafür erforderliche Kompetenz und die zur Bearbeitung erforderliche Zeit verfügen kann“ (BDU, 2023). Es werden keine Aufträge angenommen oder ausgeführt, die rechtswidrige oder unethische Handlungen erfordern. Der Be-
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rater ist verpflichtet, den Auftraggeber über alle relevanten Vorgänge und Maßnahmen im Rahmen der Zusammenarbeit zu informieren. Diese Informationspflicht gilt auch bei der Zusammenarbeit mit anderen BDU-Beratern in Kooperationen, Arbeitsgemeinschaften und anderen Formen der beruflichen Zusammenarbeit (BDU, 2023). Verschwiegenheit: „Der Berater ist zur Verschwiegenheit über betriebliche Interna des Auftraggebers verpflichtet“ (BDU, 2023). Interessenkollision: „Der Berater führt die Beratung unvoreingenommen und objektiv durch“ (BDU, 2023). Gefälligkeitsgutachten oder die Annahme von Zuwendungen sind ausgeschlossen. Mitarbeitende des Auftraggebers werden nicht abgeworben. Fremde Vermögenswerte: „Anvertraute fremde Vermögenswerte werden mit besonderer Sorgfalt behandelt“ (BDU, 2023). Werbung: „Werbung darf nicht unlauter und insbesondere nicht irreführend sein. Namentliche Hinweise auf Referenzen sind nur zulässig, soweit der Auftraggeber ausdrücklich eingewilligt hat“ (BDU, 2023). Honorar: „Unternehmensberater berechnen Honorare, die im angemessenen Verhältnis zur Leistung oder zum Ergebnis stehen und die vor Beginn der Beratungstätigkeit mit dem Klienten abgestimmt worden sind“ (BDU, 2023). Weiterbildung: „Der Berater bildet sich in dem Maße fachlich fort, um die zu seiner Berufsausübung erforderlichen Kompetenzen zu erhalten und weiterzuentwickeln“ (BDU, 2023).
5.7.6 Phasen eines Beratungsprozesses Ein Beratungsprozess besteht aus verschiedenen Phasen (Lippold, 2022): In der Akquisitionsphase wird Kontakt mit der Kundschaft aufgenommen, Informationen werden ausgetauscht und ein Angebot bzw. Vertrag wird gestaltet. In der Analysephase wird der Ist-Zustand analysiert und Ziele werden formuliert. Zielvorstellung ist hierbei eine valide Diagnostik von menschlichem Erleben und Verhalten in Organisationen. Es geht in einem ersten Schritt darum, schon einmal den Problembereich entsprechend abzugrenzen, um dann mit entsprechenden Methoden, wie z. B. Interviewleitfäden, Einstellungsskalen, Beobachtungskategorien oder Testverfahren, die Beschreibung zu vervollständigen (von Rosenstiel, 1991). In der Problemlösephase wird ein Soll-Konzept erarbeitet und die Realisierung geplant. Hier gibt es zwei mögliche Konflikte, die auch die ethische Stellungnahme der Beratenden implizieren: Zum einen können die Auftraggeber/-innen alleine den SollZustand bestimmen und die Beratenden sind lediglich Mittel zum Zweck. Zum anderen können die Auftraggebenden die Rolle der Berater/-innen sehr stark ausweiten und diese überfordern (von Rosenstiel, 1991).
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In der Implementierungsphase wird das Konzept umgesetzt, evaluiert und kontrolliert (Lippold, 2022). Hier bedarf es des Bereitstellens von Veränderungswissen. Vermittelt über das Veränderungswissen, das den Handlungsentwurf darstellt, erfolgt die Intervention selbst. Am Ende steht dann die Evaluation. Nerdinger (1994b) stellt die Beratung als einen Prozess des Problemlösens dar und entwickelt ein phasenorientiertes Beratungsmodell: – Allgemeine Orientierung: In dieser Phase werden die Erwartungen und Einstellungen bezüglich des Problems aufgeworfen und diskutiert. – Problemanalyse: Anschließend werden die Situation und die von allen Beteiligten angestrebten Ziele analysiert. – Erzeugung und Bewertung von Alternativen: In dieser Phase wird versucht, möglichst viele Lösungsalternativen zu sammeln, z. B. durch „Brainstorming“. Diese Lösungsalternativen werden dann bezüglich der vorab getroffenen Zielsetzungen genauer analysiert. – Entscheidung und Planung: Jetzt werden die Lösungsalternativen im Hinblick auf die Konsequenzen miteinander verglichen. Hierbei geht es darum, dass der Kunde oder die Kundin selbst zu einer Entscheidung für eine Lösungsstrategie kommt. Insofern werden dann gemeinsam Schritte zur Realisierung geplant. – Durchführung der konkretisierten Lösungsstrategie: In dieser Phase wird die gemeinsam erarbeitete Strategie umgesetzt. – Evaluierung: In der letzten Phase werden die erzielten Resultate bezüglich der zu Anfang getroffenen Zielvereinbarungen analysiert und bewertet. Die Phasen des Beratungsprozesses entsprechen wiederum dem Vorgehen bei der Organisationsentwicklung. Für die Phase der Intervention gibt es verschiedene Techniken, die Staehle (1999) nach drei Ebenen untergliedert: die Ebene des Individuums, die Ebene der Gruppe und die Ebene der Organisation. Techniken auf der Ebene des Individuums Techniken auf der Ebene des Individuums beziehen sich auf die Intervention im zwischenmenschlichen Bereich. Hier sind individuelle Probleme, Gefühle und Gedanken wichtig. Diese Techniken entsprechen vielfach denen der Personalentwicklung und der Weiterbildung. Das Sensitivity-Training geht zurück auf Lewin (1963). Das klassische LewinModell gliedert sich in die drei Phasen: 1. Unfreezing, d. h., das alte Verhalten wird grundsätzlich in Frage gestellt, 2. Moving, das Verhalten wird geändert und 3. Refreezing, es wird neues Verhalten konsolidiert. In der Praxis des Sensitivity-Trainings gilt der erfolgreiche Abschluss der ersten Phase des Unfreezing als sehr wichtig. Die Seminare werden zumeist in von der normalen
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Arbeitswelt abgeschiedenen Orten durchgeführt, d. h., es wird eine künstliche Umwelt geschaffen, die die Gruppenmitglieder in erster Linie mit sich selbst konfrontiert. Es nehmen zwischen sechs und 15 Personen an solchen Trainings teil und sie dauern zwischen einem Wochenende und bis zu vier Wochen. Es gibt eine moderierende Person, die vor allen Dingen die erste schwierige Phase des Auftauens bewerkstelligen muss. Sie übernimmt dabei keine Führungsrolle, sondern hält der Gruppe einen Spiegel vor. In der zweiten Phase sind die Teilnehmenden im Idealfall bereit, ihre Einstellung und ihr Verhalten zu ändern. In der dritten Phase werden sie wieder auf den Alltag vorbereitet. Das Sensitivity-Training kann Veränderungen zur Folge haben, z. B. die Verbesserung der Fähigkeit, zuzuhören, hilfreiches Feedback zu geben oder sich stärker jemand anderem gegenüber zu öffnen. Allerdings besteht das Problem dabei, dass oft die neu erworbenen Verhaltensweisen im Alltag der Organisation dann wenig umgesetzt werden können (Nerdinger et al., 2019, S. 181). In Encountergruppen geht es um individuelles Wachstum und Persönlichkeitsentwicklung. Sie verbinden sich vor allen Dingen mit dem Namen von Carl Rogers (1985), der die Methode der Gesprächspsychotherapie entwickelt hat. Der Ansatz des Coaching wendet sich an Einzelne und bezeichnet einen Interaktionsprozess zwischen einer externen oder internen beratend tätigen Person, die psychologisch geschult ist, und einem Mitglied der Organisation. Coaching bedeutet eine besondere Form der Unterstützung des Managements und soll das Selbstmanagement vorantreiben. Schreyögg (2012) differenziert zwei Ziele von Coaching: Zum einen richtet es sich auf die Steigerung der beruflichen Qualifikation, z. B. die Erhöhung von Managementkompetenzen. Zum anderen dient es aber auch der Weiterentwicklung von Potenzialen im Beruf. Techniken auf der Ebene der Gruppe Bei den Techniken auf der Ebene der Gruppe steht die Teamentwicklung an erster Stelle. Sie zielt auf soziale und aufgabenbezogene Prozesse innerhalb bereits bestehender Teams, um in direkter Interaktion mit den Teammitgliedern – durch Gruppen- und Einzelgespräche, Workshops, Trainings etc. – Barrieren abzubauen, Rollenbilder zu klären und zwischenmenschliche Beziehungen zu verbessern (Nerdinger, 2019b, S. 130). Bei der Teamentwicklung geht es um den Wunsch der Effizienzsteigerung einer bereits existierenden Arbeitsgruppe, die sich zu einem echten Team entwickeln soll. Dabei werden Gruppenziele und gegenwärtiges Vertrauen entwickelt, sowie einzelne Mitgliedsrollen geklärt. Außerhalb des beruflichen Alltags trifft sich die Gruppe einmal, um ihre Situation zu diskutieren. Hier können sehr einfache Techniken angewandt werden, beispielsweise dass jedes Gruppenmitglied die fünf wichtigsten akuten Probleme der Gruppe aufschreibt, oder aber es werden größere Fragebogenaktionen und Interviews durch Beratende durchgeführt. Danach bildet die Gruppe Prioritäten und einen Katalog von Maßnahmen, um die Probleme zu lösen (Kannheiser et al., 1993).
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Ein Tool, das zur effektiven Online-Erhebung der Stimmung im Team genutzt werden kann, ist das Teambarometer® (4A-Side GmbH, 2015). Das Tool erfasst zwei Dimensionen: die Aktivierung einer Person, also ihre Handlungsbereitschaft, und die Valenz ihrer Emotionen, also positive oder negative Emotionen. Die Teammitglieder beantworten in festgelegten Abständen eine Frage zur Stimmung, wobei die aggregierten Antworten als Verlaufswerte der Teamstimmung angezeigt werden können. Auf diese Weise kann die Führungskraft oder das Team bei Bedarf Maßnahmen zur Teamentwicklung ergreifen (Kauffeld et al., 2016). Techniken auf der Ebene der Organisation Die Techniken auf der Ebene der Organisation (Kühlmann, 1994) bestehen zunächst in einer Bestandsaufnahme. Bei einer Statusdiagnose erfolgt eine Momentaufnahme des Status quo, während die Verlaufsdiagnose das Ziel hat, mögliche Veränderungen von bestimmten Merkmalen im Zeitverlauf zu erfassen, indem diese wiederholt zu verschiedenen Zeitpunkten über einen längeren Zeitraum hinweg erhoben werden. Weiterhin wird in objektive und in subjektive Erhebungsverfahren unterschieden. Eine objektive Erhebung bezieht sich auf Dokumente, z. B. Stellenbeschreibungen und Statistiken sowie auf Befragungen. Die subjektiven Erhebungsmethoden erfragen Merkmale der Organisation über die Wahrnehmung der Mitglieder. Auf der Ebene der Organisation kommen die Methoden der Organisationsentwicklung zum Einsatz.
5.7.7 Resümee Im wachsenden Beratungsmarkt ist ein wirtschaftspsychologisch fundiertes Beratungsangebot eine Gelegenheit, psychologisches Wissen, beispielsweise über Kooperation und Konflikte, oder das Verfahren der Gesprächspsychotherapie gezielt einzusetzen. Neben einem systemischen Ansatz kann eine feldtheoretische Betrachtungsweise, die sich um die konkrete Analyse aller Randbedingungen im Prozessgeschehen bemüht, dazu beitragen, eine von wissenschaftlichen Prinzipien geleitete Praxisberatung zu betreiben.
5.8 Prozesse des Verkaufens und Kaufens Wenn sich Menschen als Kaufende und Verkaufende begegnen, möchten die Kaufenden ein bestimmtes Gut erwerben, die Verkaufenden hingegen für ihre zu veräußernde Ware oder Dienstleistung einen bestimmten Geldbetrag. Beide befinden sich also in unterschiedlichen Rollen, wobei sie auch in Konflikt miteinander geraten können, wenn sie sich z. B. über den Preis der Ware oder Dienstleistung nicht einigen
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können. Sie bewegen sich im Kontext des Marktes, die Vermittlung ihrer Beziehung erfolgt über ein Tauschmittel. In der modernen Welt sind alle Menschen irgendwann Kaufende, jeder ist gezwungen, Güter zu erwerben, sei es, um die Grundbedürfnisse wie Essen und Schlafen zu befriedigen, sei es, um sich Luxusgüter zu leisten. Doch auch Unternehmen kaufen weltweit ein, Investitionsgüter, Rohstoffe, Arbeitskräfte. Verkaufen hingegen ist zumindest als Beruf eher wenigen Menschen vorbehalten, die dafür Sorge tragen, dass die verschiedensten Waren an ihren Bestimmungsort gelangen (Spieß, 2013). Doch ebenso gibt es Lebensbereiche, die explizit von den Prozessen des Kaufens und Verkaufens ausgenommen sind: Die Familie und der Freundeskreis gelten als Bereiche, in denen kaufmännisches Handeln unangebracht erscheint, zumindest solange man nicht im Streit miteinander lebt. Die Sorge um die Familienmitglieder und die Zuneigung gegenüber befreundeten Personen sollten diesen Bereich bestimmen. Ebenso gibt es Personen, die sich bewusst dem Prozess des Kaufens aus unterschiedlichsten Gründen, z. B. aus Protest, entziehen, indem sie Güter ohne Bezahlung an sich nehmen, durch Diebstahl und Raub. Sie verstoßen damit gegen gesellschaftlich festgelegte Normen und Regeln und werden entsprechend strafrechtlich verfolgt. Ebenso können ungewollt durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit Menschen aus dem gewohnten Wirtschaftskreislauf herausfallen (Sandel, 2012). Im Folgenden sollen Verkaufen und Kaufen als Prozesse und als wechselseitige Interaktionen betrachtet werden. Innerhalb der Betriebswirtschaftslehre sind das Marketing und die Verkaufsförderung mit diesen Prozessen befasst. Zwar sind viele Modelle im Marketing von der Psychologie inspiriert, jedoch nehmen sie einen verengten Blickwinkel ein, denn sie gehen einseitig vom Standpunkt des Verkaufens aus. Es geht aus wirtschaftspsychologischer Sicht darum, den Verkauf nicht nur unter dem Blickwinkel oder dem Interesse der Verkaufenden bzw. der Anbietenden zu untersuchen, sondern die Kundschaft und die Beziehung zu ihr zu berücksichtigen (Nerdinger, 2001). Im Folgenden soll zunächst die Rolle der Werbung dargestellt werden, die klassischerweise vor allem im Dienste der Anbietenden steht. Der Marke kommt auch eine psychologische Bedeutung zu. Der Verkauf soll im Sinne Nerdingers (2001) als „persönlicher Verkauf“ verstanden werden. Die Rolle der Kundinnen und Kunden wird als Interaktion mit den Verkaufenden verstanden. Die Kaufsucht ist eine pathologische Variante des Kaufverhaltens. Der Verbraucherschutz versucht, Kaufende vor Missbrauch zu schützen.
5.8.1 Die Rolle der Werbung Werbung ist beeinflussende Kommunikation, die das Erleben und Verhalten des Menschen als Konsumierenden zum Gegenstand hat (von Rosenstiel & Neumann, 2002). Werbeziele sind z. B. die Erhöhung des Umsatzes, eine positive Einstellung gegenüber
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dem Produkt oder eine erhöhte Kaufbereitschaft (Kirchler, 2011). Werbung dient jedoch nicht nur den Absatzbemühungen der Wirtschaftsunternehmen, sondern auch gemeinnützigen Organisationen, Kirchen oder Parteien (Neuere Entwicklungen siehe auch Moser et al., 2020). Im Zuge der Digitalisierung werden neue Themen aufgeworfen, wie z. B. die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Kundschaft, die Potenziale der Künstlichen Intelligenz im Marketing oder die Besonderheiten der Zielgruppe 50 + (Lucas & Schuster, 2023). Zielgruppenorientierte Werbung im Internet bedeutet z. B. auch, dass sowohl die Sicht der Internetnutzer/-innen berücksichtigt werden muss, für die die Frage des Datenschutzes im Vordergrund steht, als auch die Perspektive der Werbetreibenden (Heß & Kneuper, 2023). Digitaler Werbung (z. B. Tuna & Ejder, 2019) kommt zunehmend Bedeutung zu. Definition: „Online-Werbung (auch Internetwerbung genannt) ist das Schalten von Werbeanzeigen im Internet in Form von Text, Videos oder Bildern. Das Format hängt dabei stark vom jeweiligen Online-Kanal ab. Zu den wichtigsten Arten der Online-Werbung zählen Bannerwerbung, InStream Video Ads, Amazon Advertising sowie E-Mail-, Suchmaschinen-, Affiliate- und Social Media-Marketing“. https://blog.hubspot.de/marketing/kurze-geschichte-der-online-werbung.
„Die wachsende Bedeutung des Online-Shoppings zeigt, dass man zu den konsumentenpsychologischen Folgen der Neuen Medien mehr Fragen aufwerfen als beantworten kann“ (Felser, 2015, S. 20). Die Psychologie hat das Thema Werbung erst kurz nach der Jahrhundertwende aufgegriffen (Wiendieck, 1999). Walter Dill Scott hat 1908 ein Buch über „The Psychology of Advertising: A Simple Exposition of the Principles of Psychology in Their Relation to Successful Advertising“ veröffentlicht und gilt neben Hugo Münsterberg als Vorbild einer ganzheitlichen werbepsychologischen Perspektive. Die wissenschaftliche Werbepsychologie hat sich in Deutschland später als in den USA entwickelt. Man hielt sich aus akademischer Perspektive gegenüber den ökonomischen Anwendungsfeldern zurück. Dies bezog sich besonders auf die Konsumentenpsychologie. Eine Wissenschaft im Dienste der Arbeitsleistung konnte noch eher mit dem Ideal einer protestantischen Berufsethik vereinbart werden, während die Befassung mit Werbepsychologie als „unehrenhafte Förderung von Müßiggang und Verschwendung“ aufgefasst wurde (Wiendieck, 1999, 276). Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Beginn des Wirtschaftswunders und dem Übergang vom Verkäufer- zum Käufermarkt, wurde die Wirtschaftswerbung wiederentdeckt. Es entwickelte sich zum einen eine Motivforschung und zum anderen eine wirtschaftswissenschaftliche Werbelehre. Erst in den 1960er Jahren entstand eine wissenschaftlich fundierte, methodisch anspruchsvolle Werbepsychologie. Felser (2015) unterscheidet fünf mögliche Funktionen von Werbung: – Informieren und Aufklären, z. B. über neue Technologien – Motivieren, z. B. durch Aktivation und emotionale Konsumerlebnisse
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Kundinnen und Kunden auf bestimmte Normen für ihr Konsumverhalten erziehen (Sozialisation), wobei auch die Kultur eine zunehmende Rolle spielt Verstärken durch den Aufbau und die Aufrechterhaltung angenehmer Assoziationen zum Produkt Unterhalten, als Zeitvertreib und als Kunstwerk
Dies bedeutet, dass Werbung zunächst informieren möchte und Kaufinteressierte tatsächlich zum Kauf motivieren will. Sozialisation heißt, dass die Kundinnen und Kunden auf bestimmte Normen für ihr Konsumverhalten erzogen werden. Werbung tritt als Verstärker auf und will unterhalten. Ein früher Vorwurf an die Werbung war, dass sie die Bedürfnisse der Menschen manipuliere, ein „heiles Bild der Welt“ zeichne und die Konsumierenden dazu treibe, ungewünschte und überflüssige Produkte zu kaufen. So wurde in der populären Schrift von Vance Packard „Die geheimen Verführer“ (1957) die Macht der Manipulation durch Werbung sehr betont (Wiendieck, 1999). Von Rosenstiel und Neumann (2002, S. 66) definieren Manipulation wie folgt: Definition: „Der Beeinflusste durchschaut die Technik nicht oder nur teilweise. Der Beeinflussende übt das entsprechende Verhalten bewusst aus. Der Beeinflussende versucht einen eigenen Vorteil zu erreichen. Nachteile des Beeinflussten interessieren den Beeinflussenden nicht“ (siehe auch: Moser, 2015, S. 369).
Eine Studie über das Bild der Frauen in der Werbung zeigt, wie Werbung immer noch Vorurteile bedient (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2013, S. 735). Frauen werden – „häufiger in einer abhängigen und weniger autonomen Rolle gezeigt als Männer, – häufiger im häuslichen Umfeld gezeigt, – häufiger als stumme Presenter gezeigt, – sind seltener Experten, meistens nur Verwendende, – werben für Produkte der Körperpflege und Kosmetik, weniger für technische Produkte, – und werben seltener mit wissenschaftlichen Argumenten (dies gilt besonders für ältere Frauen)“. Der Begriff des Greenwashing (Seele, 2022) besagt, dass Unternehmen versucht sind, ihre Kommunikation so zu gestalten, dass sie im möglichst „besten Licht“ erscheinen. Ein positives Erscheinungsbild des Unternehmens dient letztlich auch den Gewinninteressen des Unternehmens, da es Kunden zu Kaufimpulsen veranlasst oder die Öffentlichkeit wohlwollend gegenüber der eigenen Unternehmenspolitik stimmt. Deshalb ist es zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, dass Menschen wie Unternehmen in ihrer Kommunikation die Botschaft so verpacken, dass sie „gut ankommt“. Nach Gatti et al. (2019) begünstigt der ausschließlich freiwillige CSR-Ansatz (Corporate Social Responsibility) die Verbreitung von Greenwashing. Dies scheint eine Grauzone zu sein, die Raum für irreführende „grüne“ Kommunikation schafft. Gatti
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et al. (2019) schlagen vor, dass Greenwashing durch eine Kombination aus freiwilligen und obligatorischen Aspekten besser verhindert werden könnte. Das neue Paradigma sollte kreative und wirksame CSR-Initiativen von Unternehmen fördern, gleichzeitig aber auch die Grenzen und Regeln für deren Durchführung und Kommunikation festlegen, da die Unternehmen bei einer Überdehnung der CSR-Botschaften Gefahr laufen, gegen Rechtsvorschriften zu verstoßen. Die Aufmerksamkeit gilt als Grundvoraussetzung für jegliche Form der Informationsaufnahme (vgl. Kapitel 3.1.5) und ist auch für die Werbung wichtig. Eine weitere Voraussetzung zur Wahrnehmung von Werbeinformation ist die Aktivierung. Hier wird unterschieden in eine allgemeine und in eine spezifische Aktivierung. Für die allgemeine Aktivierung sind die physiologischen Grundlagen ausschlaggebend wie z. B. das retikulare Aktivierungssystem im Stammhirn. In Versuchslabors wurde festgestellt, dass stärker aktivierende Anzeigen länger fixiert (gemessen über Blickregistrierungsgeräte) und auch besser erinnert werden. Die spezifische Aktivierung bezieht sich auf die Motivation: Primäre Motive wie Hunger, Durst und Sexualität und sekundäre Motive wie die Suche nach Prestige, Geltung oder Geborgenheit setzen Verhalten in Gang und steuern es in eine bestimmte Richtung (von Rosenstiel & Neumann, 2002; Spieß, 2013). In der Werbung kommen verschiedene Mittel zum Einsatz, um Aufmerksamkeit und Aktivierung zu erzielen. Zu den am häufigsten benutzten und untersuchten zählen Furchtappelle, Humor und Erotik. Humor ohne Bezug zum Produkt bzw. der Marke ist eher schädlich. Erotik in der Werbung führt zu stärkerer Aktivierung, aber nur, wenn die Erotik zum Produkt passt, z. B. bei Unterwäsche wird die Werbung besser erinnert. Furchtappelle, Humor und Erotik haben jedoch auch einen sogenannten „Vampireffekt“: Hier zieht der Reiz die gesamte Aufmerksamkeit auf sich und lenkt somit von der eigentlichen Produktbotschaft ab (Felser, 2015). Auch Lernprozesse spielen in der Werbung eine große Rolle (vgl. Kapitel 3.1.3). Für die Werbung ist die Konditionierung von positiven Gefühlen wichtig, z. B. wird ein zunächst neutraler Markenname häufig mit einer bestimmten Musik dargeboten, die positive Emotionen auslöst. Diese übertragen sich auf das Produkt im Sinne eines konditionierten Reizes, der dann gleichfalls bei der Kundschaft positive Gefühle auslöst. Aber auch das Lernen am Modell ist bedeutsam, gibt doch die Werbung Modelle vor, für die bestimmtes Verhalten belohnt wird (in einer Werbung für Haarshampoo wird die Nutzerin des Produkts beispielsweise mit Aufmerksamkeit belohnt). Entscheidend für die Werbung ist, inwieweit sie wieder erinnert wird. Es besteht ein großes Interesse der Werbung im Gedächtnis zu bleiben. Die Anschaulichkeit und Konkretheit der Werbebotschaft, die Lebendigkeit der Darbietung, die Vertrautheit mit dem dargebotenen Reiz sowie die räumliche und zeitliche Nähe der Information tragen mit dazu bei, dass Werbung besser im Gedächtnis haftet (Wiswede, 2000). Ebenso trägt die Bildhaftigkeit der Darstellung dazu bei, dass sie – im Unterschied zu verbalen Reizen – besser erinnert wird. Die Vorrangstellung des Bildes steht auch in Zusammenhang mit einer zunehmenden Informationsüberlastung: Da Bilder schnel-
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ler aufgenommen werden können als Texte, drängt die Kommunikation über Bilder die Texte zurück (Kirchler, 2011). Die Geschwindigkeit erhöht sich noch, wenn anstelle von Sachinformationen emotionale Appelle vermittelt werden. Ebenso kann die Bildinformation auch besser bei eher geringer Aufmerksamkeit wahrgenommen werden. Auch die Einstellung ist ein wichtiger Faktor (vgl. Kapitel 3.1.2): Für die Werbung wird ein enger Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten angenommen (von Rosenstiel & Neumann, 2002), d. h., wenn die Marktforschung mit ihren unterschiedlichen Befragungsmethoden die Einstellungen der Kundschaft zu bestimmten Produkten erhebt, verspricht man sich einen korrekten Rückschluss auf das mögliche Kaufverhalten. Allerdings ist hier auf den „Intention-behavior gap“ zu verweisen (Sheeran & Webb, 2016), nach dem es einen Graben zwischen der Absicht zu handeln und dem wirklichen Verhalten gibt. Zur Wirkung von Werbung Werbung wirkt, darüber sind sich die Fachleute der Werbung einig. Doch wie genau sie wirkt, dafür gibt es sehr unterschiedliche Annahmen in der Literatur (Felser, 2015; Moser, 2015; von Rosenstiel & Neumann, 2002; Wiswede, 2000; Hörner, 2022). Die Beeinflussung des Kaufverhaltens der Konsumierenden durch Werbung hängt auch von verschiedenen weiteren Faktoren ab wie z. B. dem Preis und der Qualität des Produkts. Es gibt sehr viele Werbewirkungsmodelle, d. h. Annahmen darüber, wie Werbung wirkt (Moser, 2002; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2019; Felser, 2015). Eine klassische Gestaltungsregel für die Werbung, die sich auf psychologische Grundlagen beruft, ist die sogenannte AIDA-Formel (von Rosenstiel & Neumann, 2002). Demnach verläuft der Prozess der Aufmerksamkeitserregung in vier Stufen ab: – „Attention“ (Aufmerksamkeit erregen) – „Interest“ (Interesse wecken) – „Desire“ (den Wunsch wecken, etwas haben zu wollen) – „Action“ (eine Handlung auslösen) Kritisiert wurde an dieser Formel, dass allzu simplizistisch die Werbewirkung aus einzelnen Elementen der Werbegestaltung vorhergesagt werden sollte. Konsumierende sind jedoch eingebunden in ein soziales und gesellschaftliches Umfeld, sie sind geprägt durch Sozialisationsprozesse, sodass eine derartig geradlinige Beeinflussung unmöglich scheint. Gleichzeitig drückt dies aber auch den Wunsch der Werbetreibenden nach einer schlüssigen und einfachen Formel aus, mit der man Konsumierende „in den Griff“ bekommt (Felser, 2015). Ein weiteres sehr bekanntes Modell der Werbewirkung ist das ElaborationsWahrscheinlichkeitsmodell (ELM, elaboration likelihood model) nach Petty und Cacioppo (1986; vgl. Kapitel 3.1.2) Dieses Modell nimmt zwei verschiedene Wege der Informationsverarbeitung an: Es gibt eine zentrale Route, bei der eine intensive Auseinandersetzung mit den Argumenten der Werbebotschaft erfolgt. Dies führt
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dann zu stabilen Veränderungen der Einstellungen. Wenn die Argumente für ein Produkt überzeugend sind, sind Werbeinhalte, die sich direkt auf das Produkt beziehen, wirksamer. Bei der peripheren Route besteht ein minimales Interesse an der Botschaft. Wenn die Argumente für ein Produkt eher schwach sind, sollte die periphere Route der Beeinflussung gewählt werden. Das in Abb. 22 skizzierte Werbewirkungsmodell nach Wiswede (2000) unterscheidet zwei Formen der Aufmerksamkeit bei Kundinnen und Kunden: Die Aufmerksamkeit kann hoch oder niedrig ausgeprägt sein. Bei geringer Aufmerksamkeit spielen kognitive Vorgänge kaum eine Rolle, lediglich die emotionalen Reize können die Aufmerksamkeit erregen. Ist die Aufmerksamkeit hingegen hoch ausgeprägt, kann z. B. informative Werbung besser wahrgenommen werden. Werbekontakt
schwache Aufmerksamkeit
starke Aufmerksamkeit
kognitive Vorgänge
emotionale Vorgänge
Einstellung Kaufabsicht
Verhalten Abb. 22: Modell der Werbewirkung nach Wiswede (2000).
Die Intensität der Aufmerksamkeit wird auch als „Involvement“ bezeichnet (Moser, 2002), d. h., Menschen widmen der Werbung unterschiedliche Grade an Interesse und Konzentration. Die meiste Werbung, insbesondere die von Konsumgütern, trifft auf Menschen, die eher niedrig involviert sind, d. h., sie richten ihre Aufmerksamkeit nicht gezielt auf die Werbespots, sondern treffen diese eher im Vorübergehen, sehr flüchtig, und fühlen sich unter Umständen auch belästigt. Dies bedeutet für Werbetreibende ein gewisses Dilemma, denn bei geringem Involvement ist der Kunde oder die Kundin kaum durch Argumente zu überzeugen, bei hohem Involvement hingegen bedarf es sehr guter Argumente. Bei geringem Involvement wirken somit Werbebotschaften am ehesten noch über ständige Wiederholungen und Konditionierungsprozesse, während bei hohem Involvement die Aussagen über die Produktqualität die Wirkung positiv beeinflussen können.
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Das Werbewirkungsmodell des Content-Marketings zeigt, dass die Erzielung einer Werbewirkung zum einen auf einem direkten Wirkungsweg möglich ist, z. B. durch Schaffung von Bekanntheit, Vertrauen etc. Zum anderen gibt es eine indirekte Wirkung, wonach Content-Marketing die Wirkung werblicher Werbemittel verstärken kann. Diese Wirkungen lassen dann auch eine verbesserte Definition und klare Abgrenzung des Content-Marketings zu anderen Disziplinen (wie Werbung, Journalismus etc.) zu (Hörner, 2022). Eine Inhaltsanalyse der amerikanischen Werbung von 1910 bis 1980 (Leiss et al., 1986; Leiss et al., 2005) unterscheidet vier unterschiedliche Werbemethoden, deren Verbreitung sich im Laufe der Zeit geändert hat. Zu Anfang des Jahrhunderts dominierte die Methode, mit rationalen Argumenten zu werben. Darunter werden Aussagen zur Qualität des Produkts und seiner Nützlichkeit subsumiert. Die rationalen Aussagen sollten aber nicht mit wahren Aussagen verwechselt werden: Werbung darf zwar keine expliziten Lügen über ihre Produkte verbreiten, die negativen Seiten und Probleme des Produkts stellt sie jedoch meistens nicht dar. Die „permissible lie“, die Halbwahrheit, gilt als der Kern von Werbeaussagen (Nerdinger, 1996). Die Methode der Verunsicherung durch Werbung ist nach einem kurzen Anstieg in den 1930er Jahren zurückgegangen. Aus lernpsychologischer Sicht ist dies auch verständlich, da somit Angst und Unsicherheit, d. h. eher negative Gefühle, konditioniert werden. Allerdings kann diese Art von Werbung mitunter eine maximale Aufmerksamkeit erzielen, gerade weil sie aus der ansonsten so heilen Welt der Werbung herausfällt. Ein Beispiel wäre die umstrittene Werbekampagne der Firma Benetton, die durch provozierende Bilder wie ölverschmierte Vögel, Gefangene oder Aids-Kranke auf sich aufmerksam machte. Am stärksten zugenommen hat die Werbung mit der Gefühlsaufladung (sensual). Da inzwischen die Märkte gesättigt und die Konsumenten von Informationen überlastet sind, wird versucht, mit Bildern, die positive Emotionen auslösen, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ein Merkmal der gesättigten Märkte ist, dass die Qualitätsunterschiede zwischen den angebotenen Waren gering sind und diese somit austauschbar erscheinen. Umso mehr muss dann dieses Produkt durch den „emotionalen Zusatznutzen“ aufgewertet werden, um sich von den anderen Produkten zu differenzieren. Sehr zugenommen hat auch die Verwendung von sogenannten Testimonials, d. h. Fachleute, Stars oder auch Laien und Laiinnen legen Zeugnis ab für ein bestimmtes Produkt (z. B. Boris Becker, Dr. Best, Clementine). Dies entspricht dem Lernen am Modell: Weil der Star das Produkt empfiehlt, traut man der Qualität (Nerdinger, 1996). Im Zuge der Digitalisierung der Werbung werden immer mehr Produkte von sogenannten Influencerinnen und Influencern beworben. Jede/-r kann Influencer/-in werden, wenn er oder sie einen Social-Media-Account mit einer Mindestanzahl aktiver Follower hat. Das Rezept ist „einfaches Empfehlungsmarketing“ (Ternès & Hagemes, 2018). Die Wirkung der Influencer/-innen kann auch mit dem „Lernen am Modell“ erklärt werden, denn viele sind für ihre Follower/-innen Vorbild (Lou & Yuan, 2019) (Kapitel 3.1.3). Influencer/-innen sind Social-Media-Nutzende, die eine Fangemeinde auf
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sozialen Medien aufbauen, sich mit ihr auf digitaler Weise auseinandersetzen und durch die Integration von Werbeanzeigen in ihren Social-Media-Posts monetarisieren wollen. Die Werbeanzeigen, die die Influencer/-innen gegen eine Gebühr empfehlen, sind dabei hochgradig personalisiert. Social-Media-Influencer/-innen, die für eine Lifestyle-Marke werben, sind am erfolgreichsten in der Interaktion mit Verbraucherinnen und Verbrauchern, wenn sie authentisch, selbstbewusst und interaktiv in ihren Inhalten sind. Unternehmen nutzen dieses Werbemedium, um ihre Markenbekanntheit zu steigern, Produktplatzierungen vorzunehmen und Produkte auf ihren persönlichen Social-Media-Seiten zu empfehlen, um die Kaufabsichten der Verbraucher/-innen oder Follower/-innen der Stars zu erhöhen (Lou & Yuan, 2019).
5.8.2 Die Bedeutung der Marke Bei der Definition dessen, was eine Marke beinhaltet, gibt es drei Sichtweisen: Aus rechtlicher Sicht ist die Marke ein geschütztes Zeichen, die betriebswirtschaftliche Definition betont die Qualitätsgarantie und den Verbreitungsgrad der Marke, die sozialwissenschaftliche Definition konzentriert sich auf die Wirkungsweisen. Aus einer sozialpsychologischen Sicht können Marken als Mittel der symbolischen Selbstergänzung dienen (vgl. Kapitel 3.1.10; Wicklund & Gollwitzer, 1982). Die Markenforschung entwickelt sich zunehmend als eigenständiger Bereich der Markt- bzw. Marketingforschung. Die Markt- bzw. Marketingforschung ist definiert als die systematische Sammlung, Aufbereitung, Analyse und Interpretation von Daten über Märkte und Marktbeeinflussungsmöglichkeiten. Ziel ist die Gewinnung von Informationen für Marketingentscheidungen. Die Markenforschung ist für die Betriebswirtschaft und das Marketing in Hinblick auf die Absatzförderung von Interesse. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis wird ein verstärktes Interesse an der Marke beobachtet. In immer unübersichtlicher werdenden dynamisierten Märkten werden Marken zu einer wichtigen Orientierungsgröße. Die Marke ist ein Instrument des Marketings, über das das Unternehmen mit den Konsumierenden kommuniziert. Wänke und Florak (2015) sehen Marken als ein Bündel von produktbezogenen Vorstellungen, Assoziationen und Erwartungen an. Sie beeinflussen die Informationsaufnahme über entsprechende Markenprodukte. Konsumierende greifen vor allem dann nach Markenprodukten, wenn sie wenig motiviert sind oder wenn sie die Komplexität der Produktinformationen reduzieren müssen. Die Beurteilung von Markenprodukten hängt nicht nur von deren Qualität ab, sondern auch inwieweit das Selbst der Kundinnen und Kunden hervorgehoben wird bzw. das Idealselbst ergänzt wird. Eigenschaften von Produkten, die in einer Passung zu menschlichen Aspekten des Selbst oder im weiteren Sinn zur menschlichen Persönlichkeit stehen können, werden als Eigenschaften der Markenpersönlichkeit bezeichnet. Das Konzept der Markenpersönlichkeit wird in der Marketingpraxis häufig verwendet und dient der Positionie-
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rung von Marken und der Ausrichtung von Marketingkampagnen auf spezifische Charakteristika der relevanten Zielgruppen (Wänke & Florak, 2015). Maehle und Supphellen (2011) identifizierten 14 Faktoren, die eine Quelle der Markenpersönlichkeit sein können: die Mitarbeitenden des Unternehmens, Unternehmensleitung, Endorser (bisheriger Inhaber eines Orderpapiers), typische Markennutzende, Produktattribute, eigene Erfahrung bei der Verwendung des Produkts, Produktkategorie, Markenname, Markenlogo, Werbestil, Preis, Einzelhandelsgeschäfte, Herkunftsland und Moralvorstellungen des Unternehmens. Konsumierende bewerten Marken positiver, wenn diese zu ihrem Selbstimage passen (Malär et al., 2011), und sind der Marke gegenüber loyaler, wenn das Markenimage, das durch das vom Management entwickelte Werbekonzept vermittelt wird, dem realen Markenimage, d. h., so wie die Kundschaft es wahrnimmt, nahekommt (Malär et al., 2012). Dies entspricht auch der Theorie des Selbstkonzepts (vgl. Kapitel 3.1.10), nach dem Konsumierende eher Marken bevorzugen, die mit ihrem Selbstkonzept übereinstimmen (Aguirre-Rodriguez et al., 2012). In einer Studie zur Markenpositionierung durch Werbung in Asien, Nordamerika und Europa wird die Rolle einer globalen Konsumentenkultur untersucht (Alden et al., 1999). Dabei wird ein neues Konstrukt, das „global consumer culture positioning (GCCP)“ operationalisiert und getestet. Dieses Konstrukt assoziiert die Marke mit einem Set von Symbolen, von dem angenommen wird, dass es die auftretende globale Konsumentenkultur darstellt. Es wird davon ausgegangen, dass ein globales Image einer Marke mehr Kraft und Wert verleiht. Zudem wird diese globale Positionierung der Konsumentenkultur im Kontrast zu lokalen („local consumer culture positioning“) und fremden („foreign consumer culture positioning“) Positionierungen untersucht. Es wurden sieben Länder ausgewählt – Indien, Thailand, Korea, (West-)Deutschland, Niederlande, Frankreich, USA –, die sich in ihren demografischen und ökonomischen Charakteristiken als auch in den Kulturdimensionen nach Hofstede (1980) deutlich unterscheiden. Während drei oder vier aufeinanderfolgenden Tagen wurde das Programm eines zufällig gewählten Fernsehsenders aufgezeichnet und anschließend von muttersprachlichen Teilnehmenden u. a. den Kategorien lokal, ausländisch und global zugeordnet. Die Ergebnisse der Studien unterstützen die Validität des neuen Konstrukts und weisen auf den bedeutenden Prozentsatz an Werbungen hin, die die globale Positionierung einsetzen, im Gegensatz zur Positionierung der Marke als ein Mitglied der lokalen Konsumentenkultur oder einer spezifischen ausländischen Konsumentenkultur. Die Identifikation der globalen Positionierung als ein Positionierungsinstrument legt einen Weg nahe, wodurch bestimmte Marken von den Konsumenten als „global“ angesehen werden, und liefert Managern strategische Orientierung auf den globalisierten Märkten. Zugleich wird die Bedeutung der Rolle von Kultur deutlich (vgl. Kapitel 2.3). In den letzten Jahrzehnten hat sich die globale Konsumentenkultur (GCC, global consumer culture) zu einer wichtigen Kraft auf dem Markt entwickelt. Doch in den letzten Jahren deuten starke politische und wirtschaftliche Kräfte darauf hin, dass die
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Globalisierung ins Stocken geraten ist, was zu einem neuen Interesse an lokaler Verbraucherkultur (LCC, local consumer culture) führt (Steenkamp, 2019). Die internationale Marketingforschung zu GCC und LCC stützt sich stark auf die Theorie der Verbraucherkultur (die Domäne der Anthropologie und ethnografischer Verbraucherforschung), die kulturelle Globalisierungstheorie (untersucht von der Politikwissenschaft und Soziologie) und die Akkulturationstheorie (entwickelt in der Psychologie; vgl. Berry, 2919). Nach Überprüfung der theoretischen Grundlagen von GCC und LCC lassen sich vier Idealtypen von Verbraucherreaktionen auf die Kräfte des Globalismus und des Lokalismus festmachen (Abb. 23): 1. „Globalisierung/Homogenisierung/Assimilation 2. Lokalisierung/Trennung/Polarisierung 3. Glokalisierung/Integration/Hybridisierung/Kreolisierung/Fusion 4. Glalienation /Marginalisierung“ (Steenkamp, 2019, S. 5). Einstellung gegenüber GCC negativ positiv negativ
Glalienation
Globalisierung
Einstellung gegenüber LCC positiv
Lokalisation
Glokalisation
Abb. 23: Eine Typologie der Reaktionen der Verbraucher/-innen auf globale und lokale Konsumkultur (nach Steenkamp, 2019, S. 5).
Beispiele für die jeweiligen Idealtypen: 1. Ich genieße Unterhaltung, die meiner Meinung nach in vielen Ländern der Welt populär ist, mehr als die traditionelle Unterhaltung, die in meinem eigenen Land populär ist. 2. Ich mag traditionelle Unterhaltung, die in meinem Land beliebt ist, mehr als die Unterhaltung, die meiner Meinung nach in vielen Ländern der Welt beliebt ist. 3. Ich mag traditionelle Unterhaltung, die in meinem Land beliebt ist, als auch Unterhaltung, die meiner Meinung nach in vielen Ländern der Welt beliebt ist. 4. Ich mag die meisten Unterhaltungsangebote nicht, egal ob sie traditionell in meinem eigenen Land oder in vielen Ländern der Welt beliebt sind (Steenkamp, 2019, S. 5). Gegenwärtig wird die GCC von westlichen kulturellen Symbolen und Werten beherrscht. Steenkamp (2019) wirft die Frage auf, wie sich die GCC verändern wird,
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wenn mehr Menschen aus anderen Ländern, wie Indien, China oder Brasilien, mit der GCC in Berührung kommen und an ihr teilnehmen. Zur Marke gibt es aber auch nichtpsychologische Zugänge. So hat RonnebergerSibold (2008) Markennamen als Spiegel eines gesellschaftlichen Wertewandels analysiert. Nach ihrer Hypothese erfordert die werbende Funktion der Markennamen einen Bezug auf die aktuellen gesellschaftlichen Werte. Untersucht wird neben sprachwissenschaftlichen Aspekten der Zusammenhang von Markennamen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie gibt folgendes Beispiel: 1907 ließ sich die Firma Henkel den Namen für das Waschmittel „Persil“ amtlich sichern. 1994 wurde ein neues Produkt aus dem Waschmittelsektor „Megaperls“ benannt. „Persil“ ist ein lateinisch-gelehrt wirkendes Kunstwort, aus Wasserstoffperoxyd und Silikat. „Megaperls“ erweckt hingegen internationale Assoziationen, verweist auf das Produkt (Perle) und bedient sich des Jargons der Jugendlichkeit (Mega). Dies interpretiert sie als ein Beispiel für den sich in den Markennamen widerspiegelnden Zeitgeist. Gries (2003) stellt aus historischer Sicht eine Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR vor. In den verschiedenen Produkten kommt der vergangene Systemunterschied von Ost und West zum Ausdruck, im Sinne einer Konsumdemokratie (West) im Vergleich zur Mangelgesellschaft (Ost). In der jeweiligen Produktpräsentation erscheint so die Geschichte der beiden Staaten. Dies wird auch an einzelnen Produktbiografien nachgezeichnet. So wird z. B. die Entstehungs- und Firmengeschichte der Hautcreme Nivea von ihren Anfängen bis zur Gegenwart nachgezeichnet. Die Marke Nivea blieb über die Zeit das Produkt mit dem stärksten psychologischen Potenzial. In Befragungen wurde sie als „universell, traditionell, originär und emotional tief verwurzelt“ eingestuft. In der Artikelgruppe „Hautcreme“ fiel die Kundenbindung für diese Marke in den 1960er Jahren sehr hoch aus (80 %). Die in Ostdeutschland verbreitete „Florena-Creme“ stand im Schatten der „Nivea-Creme“, die als Symbol westlichen Lebensstils und somit als Prestigeprodukt galt (Gries, 2003). Der Markenname ist inzwischen mehr denn je das Fundament für eine erfolgreiche Markenführung. Gleichzeitig sind die Ansprüche sehr hoch: Namen müssen sprachlich, juristisch und digital weltweit funktionieren. Darüber hinaus gilt es, glaubwürdige Namen zu entwickeln, die sich schnell und kostensparend am Markt etablieren lassen und die den Verbraucher nachhaltig überzeugen. Qualität statt Quantität lautet daher die Devise. Neben der Markenentwicklung ist die Einbindung in ein stimmiges Gesamtkonzept wichtig, in dem Markenname und Markensprache sich gegenseitig ergänzen und stützen. Nur so schaffen es insbesondere virtuelle Marken, sich durchzusetzen und langfristig zu etablieren (Kircher, 2011).
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5.8.3 Verkaufspsychologie Verkaufen ist auch eine Dienstleistung. Die Besonderheit von Dienstleistungstätigkeiten im Gegensatz zu Tätigkeiten in der (industriellen) Produktion, mit denen sich die Arbeitspsychologie bevorzugt beschäftigt hat, besteht nach Nerdinger (2019e) darin, dass sie im mehr oder weniger direkten Kontakt mit der Kundschaft produziert. Dieses spezifische Merkmal der Tätigkeit wirft besondere Probleme für die Arbeits- und Organisationspsychologie auf, da die wahrgenommene Qualität der Leistung in hohem Maße von der Einschätzung der Person und des Verhaltens des Dienstleistungsgebers durch den Kunden bzw. die Kundin abhängt. Definition Dienstleistung: „Eine Dienstleistung besteht aus der Interaktion zwischen Anbieter und Kunde, zwischen Dienstleistungsgeber und Dienstleistungsnehmer“ (Nerdinger, 2019e, S. 630).
Dienstleistungen sind selbstständige, marktfähige Leistungen, die mit der Bereitstellung (z. B. Versicherungsleistungen) und/oder dem Einsatz von Leistungsfähigkeiten (z. B. Friseurleistungen) verbunden sind. Interne (vor allem Personal) und externe Faktoren (vor allem Kundschaft) werden im Rahmen des Erstellungsprozesses einer Dienstleistung kombiniert. Die Faktorkombination der Dienstleistungsanbietenden (die Verbindung von Arbeit, Werkstoffen und Betriebsmitteln) wird mit dem Ziel eingesetzt, an den externen Faktoren, an Menschen (Kundinnen und Kunden) und deren Objekten (z. B. deren Auto) nutzenstiftende Wirkungen zu erzielen (Nerdinger, 2019e). Den Ausgangspunkt der Dienstleistungserstellung bildet ein Problem des Kunden bzw. der Kundin und das Vertrauen darauf, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die gegen Bezahlung bereit sind, ihre Fähigkeiten zur Lösung des Problems bereitzustellen. Die entsprechenden Fähigkeiten zeigen sich als instrumentelle (technische) Handlungen. Darunter werden hier alle auf die Lösung der Probleme der Kundschaft gerichteten Handlungen gefasst (Nerdinger, 2019e). Soziale Handlungen sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in bestimmter Weise auf Subjekte richten (Nerdinger, 2019d). Zu den sozialen Handlungen in Dienstleistungen zählt zum einen der rituelle Austausch von Höflichkeiten und Achtungsbezeugungen. Zum anderen gehört dazu die Form der kommunikativen Abstimmung bei der Lösung der Probleme des Kunden oder der Kundin. Wie die sozialen Handlungen ausgeführt werden, d. h. über die dabei eingesetzte verbale und nonverbale Kommunikation, entfaltet sich die Beziehungsebene der Akteure, „da in jeder Mitteilung immer auch eine Stellungnahme zum Interaktionspartner enthalten ist“ (Nerdinger, 2019e, S. 636). Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich zeichnet u. a. das Prinzip der Koproduktion aus. Dieses Prinzip bedeutet, dass beispielsweise die Kundin bei der Erstellung der Leistung mehr oder weniger stark beteiligt ist, z. B. beim Friseur (Nerdinger, 2019e). Böhle und Weihrich (2020) haben das Konzept der Interaktionsarbeit entwickelt, das sie mit einem Paradigmenwechsel im Verständnis von Arbeit verbinden: An die
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Stelle der einseitigen Beherrschung und Bearbeitung eines Gegenstands tritt die Interaktion mit den Dienstleistungsempfängerinnen und -empfängern bei der Erbringung der Dienstleistung. Bei der Interaktionsarbeit erscheinen damit die Empfangenden nicht als bzw. wie ein Objekt, sondern grundsätzlich als ein Subjekt – Subjektivität ist also nicht primär ein Störfaktor, sondern eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der Dienstleistung. Die dienstleistungsempfangende Person ist Kooperationspartner/-in, die zum Gelingen der Dienstleistung beiträgt bzw. beitragen muss. Die Merkmale der Interaktionsarbeit sind die Herstellung einer Kooperationsbeziehung zwischen Dienstleistenden und Dienstleistungsempfangenden, der Umgang mit den eigenen Emotionen, die Beeinflussung der Gefühle der dienstleistungsempfangenden Person und das subjektivierende Arbeitshandeln. Definition Gefühlsarbeit: „Gefühlsarbeit ist der Aufwand, den die Planung und Kontrolle des von der Organisation erwünschten Gefühlsausdruckes in beruflichen Interaktionen erfordert“ (Nerdinger, 2019e, S. 637; vgl. auch Kapitel 3.1.4).
Die Wirkung von Gefühlsarbeit auf die Dienstleistungsgebenden – speziell die Wirkung von emotionaler Dissonanz auf Burn-out – wird durch eine Reihe von Moderatorvariablen beeinflusst. Dazu zählt u. a. die Einstellung zur Tätigkeit bzw. zu den Kundinnen und Kunden (Gefühlsarbeit und Überzeugung) (Nerdinger, 2019e, S. 638). Im Dienstleistungsbereich tauchen zunehmend Konflikte auf, die sich mit dem Konzept der Ambidextrie beschreiben lassen: In immer mehr Bereichen werden gleichzeitig möglichst hohe Verkaufserfolge und ein optimaler Service gefordert. Dies wird als „Service-Verkaufs-Ambidextrie“ bezeichnet (Yu et al., 2012). Definition: Ambidextrie (vom lat. „ambo“ = beide und „dexter“ = rechte Hand) bezeichnet die simultane Verfolgung von zwei, häufig offensichtlich konfligierenden Zielen.
Eine solche Strategie kann zu ambivalenten Ergebnissen führen, in Abhängigkeit davon, wie die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen darauf reagieren. Dies ist wiederum von deren Einstellung zur Tätigkeit abhängig (Nerdinger, 2019e). So zeigen Gabler et al. (2017) in ihrer Studie, dass kundenorientierte Mitarbeitende gute Servicequalität liefern bei eher geringem Verkaufserfolg. Dagegen haben verkaufsorientierte Mitarbeitende gute Verkaufserfolge bei eher geringer Servicequalität. Die Psychologie des persönlichen Verkaufs beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten von Verkaufenden und Kundinnen bzw. Kunden (Nerdinger, 2001). Nerdinger grenzt diese Form der Psychologie von der gängigen Verkaufspsychologie (z. B. Bänsch, 2013) ab. Diese beschäftigt sich vorzugsweise mit Einflusstechniken, die es den Verkaufenden ermöglichen, einen erfolgreichen Vertragsabschluss zu erzielen. So lautet ein Titel „Umsatzsteigerung durch Verkaufspsychologie“ (Thiele, 2014). Diese Psychologie interessiert sich aber nicht für die Folgen dieser Techniken für die Kundschaft oder für die Beziehung zwischen Verkaufenden und Kaufenden. Nerdinger geht es darum, die Psychologie des persönlichen Verkaufs ohne normativen Anspruch nur auf der empirischen Ebene des Erlebens und Verhaltens der betei-
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ligten Akteure zu untersuchen und nach Lösungen für die praktischen Probleme des persönlichen Verkaufs zu suchen, die allen Beteiligten gerecht werden. Felser (2015a, S. 140) geht auf den Unterschied zwischen Marketing und Psychologie ein: Zum Marketing gehört ein umfassendes Konzept und eine abgestimmte Strategie, die nicht auf ihre Einzelmaßnahmen reduzierbar ist. Aus diesem breiteren Blickwinkel heraus werden im Marketing Maßnahmen oder Instrumente kombiniert, um Effekte zu erzielen. Die Psychologie konzentriert sich im Vergleich hierzu eher auf das Individuum als auf den Markt, sie richtet sich weniger auf das Ganze als auf einzelne Mechanismen und Mikroprozesse. Das in weiten Teilen der Psychologie dominierende experimentelle Paradigma ist zudem im Marketing nur begrenzt umsetzbar (vgl. Kapitel 4). In der Psychologie des persönlichen Verkaufs setzt sich Nerdinger (2001) mit den Vorurteilen und Stereotypen gegenüber dem Verkaufen auseinander. So lauten einige gängige Vorurteile, dass Verkäufer/-innen andere Menschen täuschen, um erfolgreich zu sein, oder dass das Verkaufen nur der verkaufenden Person nutzt. Dabei stellt sich die psychologisch interessante Frage, wie eine solche negative Sicht auf den Verkäuferberuf zustande kommt und welche Veränderungen sich hier ableiten lassen. So wird Verkäufer/-innen schon aufgrund ihrer Aufgabe unterstellt, dass sie nur ihr Eigeninteresse verfolgen. Es ist keine Übereinstimmung mit den Kundeninteressen anzunehmen. Verkaufende müssen das Misstrauen der Kundinnen und Kunden vorwegnehmen und damit umzugehen lernen. Es liegt eine Personalisierung vor, wonach die Person der Verkäufer/-innen unmoralische Absichten hat. Die historische Entwicklung des Verkaufs wird in drei Phasen unterteilt (Nerdinger, 2001): – In der Ära der Produktion dominierte der Verkäufermarkt: Der Konkurrenzdruck ist gering und die Nachfrage höher als das Angebot. Die Verkäufer/-innen müssen nur die kurzfristigen Bedürfnisse der Firma zufriedenstellen, ihre Hauptaufgabe besteht in der Information der Kundinnen und Kunden über das Produkt. Vonseiten des Unternehmens besteht kaum Interesse an der Qualifikation der Verkaufenden. – Die Ära des Verkaufs bedeutet den Übergang von Verkäufer- zu Käufermärkten: Hier können die Käufer/-innen zwischen vielen Anbietern wählen. Die Unternehmen stehen unter einem zunehmenden Verkaufsdruck. Die Verkaufenden müssen eher die Nachfrage nach den Produkten anheizen als Kundenbedürfnisse befriedigen. Besonders hier wurde das negative Image des Verkaufs geprägt, da Verkäufer/-innen versuchten, durch aggressive Verkaufstechniken Kundschaft zu gewinnen. – In der Phase des Marketings ist der Verkäufer bzw. die Verkäuferin Teil des Marketings: Die Verkäufer/-innen müssen bei der Entwicklung von Verkaufsstrategien sowohl die Bedürfnisse der Kundschaft als auch die der Firma berücksichtigen, sie sind die Problemlösenden. Es geht darum, bei den Verkäuferinnen und Verkäufern kundenorientiertes Verhalten zu entwickeln. Damit werden sie eine wichtige Zielgruppe für Trainingsmaßnahmen.
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Ansatzweise wird auch von einer vierten Ära gesprochen, in der es um die Entwicklung langfristiger Beziehungen zur Kundschaft geht. Inhaltsanalysen von Verkaufsliteratur für Praktiker/-innen zeigen die Entwicklung: In den 1950er Jahren wurden Leitbilder verbreitet mit dem Ziel „Kaufwiderstände brechen“ bzw. „Kunden überreden“, in den 1980er Jahren ging es vielmehr darum, den Kundinnen und Kunden bei der Entscheidung zu helfen und sie zu beraten. Emotionen (vgl. Kapitel 3.1.4) spielen auch im persönlichen Verkauf eine große Rolle: So hat die Stimmung der Käufer/-innen Auswirkungen darauf, ob Argumente, die Verkäufer/-innen vorbringen, kritisch oder unkritisch gesehen werden. Menschen in schlechter Stimmung lassen sich kaum von schwachen Argumenten beeinflussen, während Menschen in guter Stimmung weniger Informationen verarbeiten, Argumente weniger intensiv analysieren und sich auch leichter überzeugen lassen. Nerdinger (2020) thematisiert auch die Kundenorientierung im persönlichen Verkauf. Im Mittelpunkt stehen dabei die Wirkungen der Kundenorientierung, Möglichkeiten der Beeinflussung durch Mitarbeiterselektion und -training sowie kundenorientierte Führung unter besonderer Berücksichtigung der intrinsischen Motivation kundenorientierten Verhaltens.
Interesse am Kunden
1/9 menschlich orientiert
9/9 problemorientiert
5/5 verkaufstechnisch orientiert
1/1 desinteressiert
9/1 umsatzorientiert
Interesse am Verkauf Abb. 24: Das Verhaltensgitter für Verkäufer/-innen nach Blake und Mouton (1968 in Kirchler, 2011).
Abbildung 24 zeigt noch einmal in Anlehnung an das Verhaltensgitter, das Blake und Mouton (1968) für Führungsstile entwickelt haben, die verschiedenen Facetten in der Beziehung zwischen Kaufenden und Verkaufenden. Es gibt zwei Dimensionen: Das Interesse an der Kundschaft kann stark oder wenig ausgeprägt sein, ebenso das Interesse am Verkauf. Daraus ergeben sich fünf Konstellationen: Ist das Interesse am Verkauf hoch ausgeprägt und das an der Kundschaft gering, ist die verkaufende Person umsatzorientiert, neigt aber häufig dazu, die kaufinteressierte Person zu „überfahren“. Umgekehrt, ist das Interesse am Verkauf niedrig ausgeprägt und das an der Kundschaft hoch, ist der/die Verkäufer/-in menschlich orientiert. Bei gleich hoher Ausprägung von Interesse an der Kundschaft und am Verkauf, ist die verkaufende Person problemorientiert,
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d. h., sie berät sich mit der Kundschaft, um deren Bedürfnisse zu erfahren und ihr das passende Produkt anzubieten. Umgekehrt, bei gleich niedriger Ausprägung der beiden Dimensionen, ist es der Verkaufskraft egal, ob der Kunde bzw. die Kundin kauft oder nicht. Wenn der Verkäufer etwas vom Produkt und etwas von seiner Persönlichkeit verkauft, wird der Stil verkaufstechnisch bezeichnet (Kirchler, 2011). In empirischen Studien wird ein positiver Zusammenhang zwischen Verkaufserfolg und Alter, Ausbildung, Fachkenntnissen, Erfahrung, Intelligenz, Neigung zur Extraversion, Dominanz und Einfühlungsvermögen von im Verkauf Tätigen belegt (Kirchler, 2011). Klassische Techniken der Kundenbeeinflussung sind die „foot-in-the-door“-, die „door-in-the-face“-, „that’s not all“- und die „low-ball“-Technik. – Die „foot-in-the-door“-Technik bedeutet, dass die verkaufende Person einen Kunden oder eine Kundin durch eine moderate Aufforderung (z. B. ein Glas Wein an einem Weinprobierstand) zu einem geringfügigen Entgegenkommen bringt, das ihn oder sie dann zum eigentlichen Kauf (z. B. der Weinflasche) führt. Da Menschen zu einem konsistenten Verhalten neigen, fällt es dem Kunden oder der Kundin zunehmend schwerer, weitere Angebote auszuschlagen. – Die „door-in-the-face“-Technik verfährt umgekehrt, d. h., eine kaufinteressierte Person wird mit einer hohen Ausgangsforderung, z. B. einem stark überhöhten Preis, konfrontiert, die sie meist ablehnt. Im nächsten Schritt gibt die verkaufende Person nach und gewährt einen Preisnachlass. Dies wird von der Kundschaft als Entgegenkommen gewertet. – Die „that’s not all“-Technik ist eine Variante der „door-in-the-face“-Technik, bei der der Verkäufer bzw. die Verkäuferin schon zu Beginn des Gesprächs den Preis nennt, der dann reduziert wird, noch bevor die kaufinteressierte Person sich äußern kann. Diese versteht dies als besonderes Angebot, da Preise nicht absolut als hoch oder niedrig wahrgenommen werden, sondern im Vergleich zu anderen. So setzt das Angebot eines sehr teuren Produkts einen Anker, im Vergleich zu diesem erscheint dann das billigere Angebot sehr günstig. – Die „low-ball“ Technik schließlich will den Käufer bzw. die Käuferin auf eine Entscheidung festlegen. Hat diese/-r sich dann zum Kauf entschlossen, fällt der Verkaufskraft ein, dass bestimmte Teile des Produkts nicht im Preis inbegriffen sind. Die kaufinteressierte Person fühlt sich jedoch verpflichtet und es fällt ihr schwer, den Kauf rückgängig zu machen. In diesen Beispielen sind Reziprozität und Kontrast wichtig: Käufer/-innen fühlen sich den Verkaufenden durch deren Entgegenkommen verpflichtet. Das zweite Preisangebot erscheint wegen der Kontrastwirkung vor dem Erstangebot günstig. Reaktanz ist die Motivation, eine bedrohte Freiheit wiederherzustellen. Ein Beispiel aus dem Verkauf kann dies erläutern: Häufig wird eine Ware damit angepriesen, dass nur noch wenig Exemplare von ihr auf Lager ist. Die Verkäufer/-innen nutzen hier das Prinzip der Knappheit, das auch zu Reaktanz führen kann. Die Käufer/-
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innen fühlt sich in ihrer Wahlfreiheit eingeschränkt und zum Kauf gedrängt (Cialdini, 2007, vgl. Kapitel 3.2.7).
5.8.4 Kaufverhalten Kundschaft und ihr Verhalten sind für die Anbieter/-innen von größtem Interesse, auf sie richten sich alle Marketingbemühungen (z. B. Antonides & van Raaij, 1998; Felser, 2015a; Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2013). In der Literatur gibt es eine Vielzahl von Modellen über das Käuferverhalten, die ebenso wie die Modelle zum Verkäuferverhalten, häufig in der Tradition von S-O-RModellen stehen. Der Input besteht aus kaufrelevanten Informationen, im Organismus laufen Informationsverarbeitungsprozesse ab und der Output besteht dann im Produktkauf (Nerdinger, 2001). Ebenso verbreitet sind in der Literatur Typologien, die versuchen, Käufer/-innen bestimmten Typen zuzuordnen (Papastefanou, 2007). Dimensionen der Konsumententypologien sind: – die sozioökonomische Lage, – Persönlichkeitsmerkmale – Lebens- und Konsumstile. Unter die Lebens- und Konsumstile fallen z. B. der Activities, Interests und Options (AIO)-Ansatz, der Values and Life Styles(VALS)-Ansatz, die Sinus-Milieu-Typologie und Männer- und Frauen-Lebensstile des Burda-Verlags. Eine Problematik der Konsumententypologien ist, dass sie Produkte der kommerziellen Marktforschung sind und damit nur bedingt Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens erfüllen wie z. B. Transparenz oder Aussagen zur Validität. Es besteht die Gefahr der willkürlichen „Etikettierungen“, es liegen keine externen, theoretisch geleiteten Kriterien vor (Papastefanou, 2007). Der Kaufprozess ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass Menschen sich beeinflussen lassen. Personen in Gesellschaft bzw. in Gruppen bleiben z. B. länger im Supermarkt und kaufen größere Mengen ein. Die Familie spielt bei Konsumentscheidungen ebenfalls eine wichtige Rolle: Kinder möchten die Kaufentscheidungen der Eltern zu ihren Gunsten lenken, Paare beeinflussen sich gegenseitig in ihren Entscheidungen (Felser, 2015). Sozialer Druck zeigt sich insbesondere bei jugendlichen Konsumierenden (Tully, 2013). Der Kauf selbst kann wiederum in verschiedene Formen unterteilt werden (Felser, 2015): – Beim extensiven Kauf verarbeitet der bzw. die Konsumierende die verfügbaren Informationen ausgiebig und ist in der Regel hoch involviert. Dies gilt besonders beim Kauf langlebiger Gebrauchsgüter, der sich wiederum in vier Phasen unterteilen lassen kann: Am Anfang steht das Kaufinteresse, dann folgt die Wunschphase, gefolgt von der eigentlichen Entscheidungsphase, die dann in einer Bestätigung mündet. – Der impulsive Kauf ist wesentlich von äußeren und inneren Bedingungen bestimmt, hat evtl. eine stimmungsregulierende Funktion und ist stimmungsabhän-
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gig. Impulskäufe treten häufiger bei geringerwertigen Produkten auf als bei teuren (z. B. Schokolade vs. Hauskauf), ebenso eher bei emotional aktivierenden Produkten wie Kleidung als bei emotionslosen (z. B. Versicherungspolicen) und beim Zweit- als beim Erstkauf. Die Bereitschaft zu impulsiven Kaufentscheidungen steigt bei schwindenden Selbstkontrollressourcen. Der limitierte Kauf unterliegt Urteilsheuristiken und Faustregeln, da in der Kaufsituation nicht alle Informationen verfügbar sind. Der Gewohnheitskauf (habitualisierter Kauf) entspricht längerfristigen und stabilen (änderungsresistenten) Verhaltensgewohnheiten und hat Entlastungsfunktion. Ein Gewohnheitsschema bildet sich im Laufe des Sozialisierungsprozesses heraus und kann nach einer anfänglich extensiven Entscheidung wiederholt werden. Gewohnheitskäufe gibt es häufig beim Erwerb von Gütern des alltäglichen Bedarfs. Aus der Sicht der Werbung ist Markentreue ein Indikator für Gewohnheitskäufe.
Es gibt aber auch Kaufentscheidungen gegen ein Produkt. Gründe dafür können ein Missfallen gegenüber der Werbung sein oder auch moralische Erwägungen, die z. B. mit der Unternehmensphilosophie nicht vereinbar sind (Felser, 2015). Auch kulturelle Faktoren spielen für das Konsumentenverhalten eine Rolle. Die Metaanalyse von Verlegh und Steenkamp (1999) unterscheidet in Industrie- und Entwicklungsländer, wobei Konsumierende glauben, dass die Produkte aus weniger entwickelten Ländern auch schlechtere Qualität haben. Dieser starke Effekt des Herkunftslands gilt sowohl für industrielle als auch für Konsumgüter (vgl. Kapitel 2.3). Dieses Ergebnis wurde in einer weiteren Metaanalyse von De Nisco und Oduro (2022) bestätigt, die zeigte, dass z. B. die Herkunft der Marke einen signifikanten, positiven Einfluss auf das Konsumentenverhalten hat, wobei der Einfluss auf die Kaufabsicht signifikant größer ist als die Produkt- und die Markenbewertung. Ein weiteres Forschungsthema ist die Sozialisation von Konsumierenden: Studien in diesem Bereich konzentrieren sich hauptsächlich auf die Fähigkeiten von Kindern in einer Geldökonomie, z. B. Kinder als Einkäufer und Konsumierende, ihr Wissen über den Markt und ihre Einstellung gegenüber Markennamen (Cram & Ng, 1999; Wittau, 2019). Innerhalb der psychologischen Literatur wurde vor allen Dingen die kognitiventwicklungspsychologische Perspektive oder die soziale Lerntheorie als Erklärung für Sozialisationsprozesse angenommen. In Anlehnung an die kognitive Theorie von Piaget (2015) hat man für die ökonomische Sozialisation beschreibende Informationen über die verschiedenen Entwicklungsstufen der Kinder im Verständnis von ökonomischen Konzepten gewonnen (John, 2008). Die kindliche ökonomische Realität wird als ein soziales Konstrukt angenommen, das politische, soziale und kulturelle Werte der sie umgebenden Gemeinschaft widerspiegelt. Cram und Ng (1999) haben die kindliche Sozialisation in Hinblick auf das Verständnis von Eigentum, Geld und Preis untersucht. Diese Entwicklung beginnt bereits im Babyalter, wenn den Kindern Spielzeug gegeben wird, und findet sich auch in der Sprache wieder. Kinder im Alter von vier bis elf Jahren wurden zu ihrem Verständnis vom Preis
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gefragt, welches Produkt mehr kostet und warum. Jüngere Kinder (4–5 Jahre) dachten, dass der Preis von der physischen Größe abhängt, während ältere Kinder (7–11 Jahre) sahen, dass er von der Funktion und auch von den Produktionskosten abhängt. Kinder haben einen wachsenden Einfluss auf die Käufe von Familien. Dies hat verschiedene Ursachen: Die Familien haben weniger Kinder, sodass das einzelne Kind mehr erhält und auch besser mitsprechen kann bei Kaufentscheidungen; Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden sind mehr in die Entscheidungsfindung einbezogen; die Eltern sind im Schnitt etwas älter, wenn sie Kinder bekommen, sodass sie den Kindern mehr Aufmerksamkeit schenken, und Kinder übernehmen mehr Verantwortung für Kaufentscheidungen, wenn die Eltern beide berufstätig sind. Ein großer Teil der Konsumentensozialisationsforschung wurde in den USA und Europa durchgeführt, dies schränkt in gewisser Weise die Verallgemeinerung der Befunde etwas ein (Kirchler, 2011). Abbildung 25 zeigt, dass sich je nach sozioökonomischem Status der Umgang mit und das Verhältnis zu Konsumgütern unterscheiden. Einkommen, Bildung – im Bourdieu’schen Sinne ökonomisches und kulturelles Kapital (Kapitel 2.5) – sowie die Subkultur beeinflussen die Eltern und die Peergruppe. Hinzu kommen die Einflüsse über die Massenmedien. Alles dies trägt dazu bei, welche Konsumgüter gekauft werden, die wiederum auch das Kind und den Jugendlichen prägen. Oerter (2007) plädiert dafür, dass das Individuum als Gestalter seiner Konsumwelt und Umwelt angesehen werden sollte. Je nach Entwicklungsstand eines Kindes werden unterschiedliche Grenzen und Freiheiten bezüglich des Konsums erlaubt (Tully, 2013). Setting, (sub-)kulturelle Umwelt AGENTEN Medien: TV, Radio, Magazine, Plakate etc.
Einkommen Bildung Subkultur (Schicht)
Eltern und andere Bezugspersonen
GEGENSTÄNDE
SOZIALISAND
Geschlecht Konsumgüter, „persönliche Objekte“: Spielzeug Fahrzeuge Accessoires Tonträger Computer TV Radio
Kind Jugendlicher
Alter ethnische Herkunft
Peers
Abb. 25: Sozialisation, Enkulturation und Konsum nach Oerter (2007) und Spieß (2013, S. 59).
Bei der Generation Y ist zwar ein Bewusstsein über soziale Probleme vorhanden, die die Gesellschaft betreffen sowie eine hohe Bereitschaft, mehr Geld für sozial verantwortliche Produkte zu bezahlen. In der 18. Shell Jugendstudie „Eine Generation meldet sich zu Wort“ von Albert, Hurrelmann und Quenzel (2019) wird eine Veränderung
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im Wertekanon von Jugendlichen konstatiert: Im Jahr 2002 haben 60 % Umweltbewusstsein als wichtigen Wert benannt, 2019 sind es fast 75 %. Diese Einstellungen konfligieren jedoch mit den tatsächlichen Verhaltensweisen der Generation Y. Sie gilt als sehr konsumorientiert und als der größte Verbraucher von Fast-Fashion-Produkten (Pauluzzo & Mason, 2021). Bernardes et al. (2018) zeigen in ihrem Review, dass es bei Jugendlichen ein „Attitude-Behavior Gap“ gibt, d. h., sie haben zwar eine nachhaltige Einstellung, kaufen aber „Fast Fashion“. Als wichtigste Einflussfaktoren für den Kauf nachhaltiger Kleidung werden Marke, Stil, Preis und soziale Identität gesehen. Werbung, die über soziale Medien vermittelt wird, ist bei Jugendlichen am effektivsten (Bernardes et al., 2018). Bernardes et al. (2018) sehen bei den Jugendlichen eine Koexistenz von nachhaltigen und weniger nachhaltigen Verhaltensweisen. Es wird eine Vielzahl von Konsumaktivitäten als wichtig erachtet, darunter umweltfreundliche Verhaltensweisen, aber auch Praktiken und Verhaltensweisen, die der Umwelt eher schaden. Jugendliche befinden sich in der Rolle als potenzielle Veränderer/-innen und gleichzeitig auf der Suche nach Stabilität innerhalb des kommerziellen Status quo (Ziesemer et al., 2021).
5.8.5 Kaufsucht Ein Stereotyp der modernen Konsumierenden ist die Aussage: „Ich kaufe, also bin ich“. Daten zeigen, dass extremes Kaufen zunimmt, besonders bei Jugendlichen in den westlichen Ländern (Dittmar & Drury, 2000; Müller et al., 2019; Ehrhardt et al., 2019). Dittmar und Drury (2000) haben Interviews durchgeführt, die sich mit dem Verständnis von impulsivem und geplantem Kaufen auseinandersetzen. Dabei wurden „normale“ Konsumierende und „exzessive“ Käufer/-innen unterschieden. Die Ergebnisse zeigen, dass impulsives Kaufen und das darauffolgende schlechte Gewissen aufgrund der extensiven Käufe komplexe Bedeutungen hat. Besonders für Frauen sind der Selbstwert und das Kaufen von Konsumgütern sehr eng miteinander verbunden. Das impulsive Kaufen ist durch Wünsche und den „Thrill“ gekennzeichnet, wobei besonders Frauen die emotionalen Aspekte betonen. Die finanziellen Konsequenzen werden häufig nicht berücksichtigt oder treten während des Kaufaktes in den Hintergrund. Exzessive Käufer/-innen haben einen unwiderstehlichen Drang zu kaufen. Die Erfahrung des Bedauerns über einen Fehlkauf enthält viele Dimensionen, z. B. bedauert man auf der einen Seite, das Geld ausgegeben zu haben, auf der anderen Seite gefällt das Produkt. Die Ergebnisse der Studie von Dittmar und Drury (2000) zeigen, dass einige Güter stärker zum impulsiven Kaufen anregen als andere, z. B. Kleidung und Schmuck. Für die Güter, die impulsive Käufer/-innen ansprechen, spielten die psychologischen Motive die größte Rolle, Preis und Nützlichkeit waren weniger wichtig. Der Kunde bzw.
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die Kundin kauft, um sich in eine bessere Stimmung zu versetzen oder um vor sich selbst besser dazustehen. Eine große Diskrepanz zwischen Selbst- und Idealbild und die Relevanz von materialistischen Werten kennzeichnen diese Kaufenden. Die Forschungsgeschichte über krankhaftes Kaufen (Müller & de Zwaan, 2004; Black, 2001; Faber & O’Guinn, 2008) beginnt 1909 mit Emil Kraepelin, der von „Oniomanie“ bzw. „krankhafter Kauflust“ spricht. Oniomanie ist impulsiv gesteuertes Kaufen, das in einer sinnlosen Schuldenmenge resultiert. 1924 prägt der Psychiater Eugen Bleuler den Begriff der „compulsiveness“, d. h., Patienten können die sinnlosen Konsequenzen ihres Handelns nicht erkennen. Mitte der 1980er Jahre kommt es zur Wiederaufnahme der Forschung. Es werden quantitative Erhebungsinstrumente entwickelt, Kasuistiken psychodynamischer Therapien erstellt und Publikationen zu Phänomenologie, Ätiologie und Komorbidität. Inzwischen findet die Erkrankung allgemeine Anerkennung in der klinischen Praxis. Aktuelle klinische und experimentelle Studien legen aufgrund der Ähnlichkeiten von pathologischem Kaufen und Substanzkonsumstörungen sowie der Glücksspielstörung die Klassifikation als „Störung in Zusammenhang mit suchtartigem Verhalten“ (ICD-11: „disorder due to addictive behaviours“) nahe (Laskowski et al., 2018). Eine Definition des krankhaften Kaufens „Compulsive buying“ lautet, dass es sich um ein wiederholendes Kaufen handelt, es eine erste Antwort auf negative Ereignisse oder Gefühle ist und sofortige Belohnung gewährt, jedoch langfristig dem bzw. der Einzelnen oder auch anderen Schaden zufügt (Faber & O’Guinn, 2008). Eine weitere Definition bezeichnet es als chronische, abnormale Art des Kaufens und Geldausgebens, der ein unkontrollierter und sich wiederholender Kaufdrang zugrunde liegt (Edwards, 1992). Diagnostische Kriterien nach McElroy et al. (1994) sind eine fehlangepasste starke Beschäftigung mit Erwerben oder Kaufen und fehlangepasste Erwerbs- oder Kaufimpulse bzw. Kaufverhaltensweisen, auf die mindestens eine der folgenden Beschreibungen zutrifft: – Die starke Beschäftigung mit Kaufen oder mit Kaufimpulsen erfolgt häufig, diese werden als unwiderstehlich, sich aufdrängend, intrusiv und/oder sinnlos wahrgenommen. – Es wird häufig gekauft, mehr als man sich leisten kann, und Dinge werden gekauft, die nicht benötigt werden. – Das Kaufen verläuft über längere Zeitperioden als geplant. – Der Kaufdrang, die Kaufimpulse oder Kaufverhaltensweisen verursachen erhebliches Leiden. – Sie sind zeitaufwendig, beeinträchtigen deutlich die sozialen und beruflichen Funktionen oder haben finanzielle Probleme zur Folge (Verschuldung oder Konkurs). Die exzessiven Erwerbs- oder Kaufverhaltensweisen treten nicht ausschließlich in Phasen einer Manie oder Hypomanie auf. Alle diagnostischen Kriterien müssen erfüllt sein, bevor man die Störung diagnostiziert.
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Es handelt sich bei der Kaufsucht um eine Abhängigkeit (nicht stoffgebundene Sucht). Symptome sind Kaufdrang, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung/Dosissteigerung, Entzugssymptome, Vernachlässigung beruflicher Pflichten, Fortführen des Verhaltens trotz eindeutiger negativer Folgen (Faber & O’Guinn, 2008; Grüsser & Thalemann, 2006; Müller et al., 2008). Ist „Kaufsucht“ überhaupt eine psychische Störung oder nur das Ende eines Kontinuums aller Konsumentinnen und Konsumenten? Es gibt zwar Hinweise auf biologische oder genetische Komponenten, doch wird Kaufsucht als eigenständige Krankheit angesehen und nicht als Extremform „normalen“ exzessiven Kaufverhaltens (Faber & O’Guinn, 2008). Der Hohenheimer Kaufsucht-Indikator (German Compulsive Buying Scale) wurde von der Hohenheimer Forschungsgruppe entwickelt, erstmals im Jahr 1990 bei einer qualitativen Studie mit 26 Probanden eingesetzt (Tiefeninterviews) und 1991 mit 1.500 Probandinnen und Probanden weitergeführt. Ebenso eingesetzt wird z. B. das Screeningverfahren zur Erhebung von kompensatorischem und süchtigem Kaufverhalten (SKSK) (Reisch et al., 2004; Müller et al., 2008). Beispielitems aus einem Instrument zur Messung der Kaufsucht zitieren Laskowski et al. (2018): Wie oft kommt es vor – dass Sie ständig ans Kaufen denken müssen? – dass es Ihnen unangenehm ist, wenn andere Sie auf Ihr Kaufverhalten ansprechen? – dass Sie durch Ihr Kaufverhalten unter finanziellen Problemen leiden? – dass Sie länger einkaufen? Der Beginn der Störung liegt bei 18 bis 30 Jahren. Die Personen weisen mittlere bis gute Bildung auf und haben ein eher geringeres Einkommen. Weltweit sind hauptsächlich industrialisierte Nationen betroffen, 80 bis 95 % der Kaufsüchtigen sind Frauen. Das Kaufmuster verhält sich meist rollenstereotyp: Frauen kaufen eher Schmuck, Kosmetik, Schuhe oder Kleidung, Männer eher technische Geräte, Autozubehör oder Sportartikel (Black, 2001, 2004; Müller & de Zwaan, 2004; Grüsser & Thalemann, 2006; Müller et al., 2008). Das Verhalten äußert sich so, dass etwa zwei- bis dreimal wöchentlich exzessiv eingekauft wird, was eine Anhäufung von unbezahlten Rechnungen und Schulden nach sich zieht. Die Rolle der gekauften Gegenstände ist unbedeutend, denn häufig wird mehrfach der gleiche Gegenstand gekauft und bleibt unbenutzt. Das Verhalten ist nicht durch Verlangen nach Besitz motiviert, der Kaufakt steht im Vordergrund, nicht der Besitz von Gegenständen (Laskowski et al., 2018). Es gibt verschiedene Behandlungsformen: Bei der medikamentösen Therapie kommt es zur Behandlung mit Antidepressiva. Vorteile sind die leichte Behandelbarkeit und die schnelle Linderung der Symptomatik. Nachteile sind die Nebenwirkungen sowie eine lediglich symptombezogene Behandlung, die nicht auf die Ursachen
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eingeht. Ebenso wenig werden Verhaltensweisen zur Bewältigung gelernt (Müller et al., 2008; Laskowski et al., 2018). Wird eine Psychotherapie angeordnet, bietet sich zunächst eine Verhaltenstherapie an. Der Fokus liegt bei dieser Behandlungsform auf der Erkennung und Veränderung der symptomatischen Verhaltensweisen. Vorteile sind, dass Verhaltensweisen zur Bewältigung gelernt werden, es keine körperlichen Nebenwirkungen gibt und die Ursache des Problems bearbeitet wird. Nachteile liegen darin, dass vonseiten des Patienten eine hohe Compliance/Aufgeschlossenheit für eine Therapie erforderlich ist sowie eine verzögerte Wirkung der Therapie eintritt (Müller et al., 2008; Laskowski et al., 2018). Die kognitiv-behaviorale Therapie ist eine Verknüpfung aus verhaltenstherapeutischen und kognitiven Behandlungsansätzen. Der Einsatz der kognitiv-behavioralen Technik hat den Aufbau von Selbstkontrolle und Alternativverhalten zum Ziel sowie die Modifikation dysfunktionaler Gedankenmuster. Behandlungsschwerpunkte liegen bei der Selbstbeobachtung und täglichen Kaufprotokollen. Es kommt zum Aufbau von Änderungsmotivation durch Verhaltensanalysen, Stimuluskontrolle, Aufbau von Alternativverhalten und kognitiver Umstrukturierung. Es finden Expositionsübungen statt und Hinweise zum Geldmanagement werden gegeben (Müller et al., 2008; Laskowski et al., 2018). Durch das Internet gewinnt die Kaufsucht eine neue Dimension. So erhöhte in einer Studie von Liu et al. (2022) das Einkaufen im Internet die Kaufsucht, wobei es keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern gab. Darüber hinaus moderierte der Besitz einer Kreditkarte die Auswirkung des Geschlechts auf die Kaufsucht, wobei Frauen hierbei eine höhere Neigung zur Kaufsucht zeigten. Mit der zunehmenden Digitalisierung des Alltagslebens ist eine Verlagerung traditioneller Kaufsucht ins Internet zu beobachten. Die analoge und die digitale Variante von Kaufsucht unterscheiden sich hinsichtlich wesentlicher Merkmale nicht voneinander. Dies betrifft die starke gedankliche Beschäftigung mit kaufbezogenen Themen und Konsumgütern, das intensive Kaufverlangen, den wiederholten Kontrollverlust über den Warenkonsum und die resultierenden negativen Folgen. Allerdings geschieht Online-Shopping simultaner, schneller und unterliegt wesentlich weniger körperlichen und zeitlichen Begrenzungen als traditionelles Einkaufen. Bei Online-Kaufsucht sind spezifische Internetnutzungserwartungen relevant, z. B. die Erwartung von Anonymität, Produktvielfalt und prompter Induktion positiver Gefühle. Generell ist die Kaufsucht beim Online-Shopping bei jüngeren Personen ausgeprägter. Internetspezifische Aspekte sind die personalisierte Kundenwerbung, die Anonymität, die Geschwindigkeit und Bequemlichkeit sowie Kreditzahlungsmöglichkeiten (Müller et al., 2019). Dennoch sollte auch in der Betrachtung der Kaufsucht der Bezug zur Gesellschaft nicht vergessen werden, die das Konsumieren nahelegt und vielfach belohnt. Es ist nicht nur das Individuum, das Fehlverhalten zeigt, sondern es befindet sich in einem Spannungsfeld verlockender Angebote und eigener Triebimpulse (Spieß, 2013).
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5.8.6 Verbraucherschutz Mit der Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationsmedien hat sich die Art und Weise zu konsumieren verändert. Dies betrifft sowohl das Beschaffen von Produktinformationen und die Möglichkeiten der gezielten Sichtung von Angeboten als auch den Kaufakt selbst. Konsumentinnen und Konsumenten konfigurieren vielfach Produkte im Hinblick auf individuelle Bedürfnisse und bestellen sie dann online. Offerten der Warenwelt basieren auf Informationen aus dem Nutzungsverhalten der Vergangenheit oder spiegeln „typische“ Konsummuster anderer. Heute werden sie aufgrund von Konsuminformationen durch Algorithmen sichtbar. Anders gesagt: Konsum wird in den Präferenzen der Konsumierenden berechenbar (Tully, 2018; Di Fabio, 2019). Muss der Verbraucher geschützt werden oder gibt es die sogenannte „Konsumentensouveränität“? Letztere wird von Kroeber-Riel und Gröppel-Klein (2013) in Abrede gestellt. Sie gehen davon aus, dass der Konsument einer Verhaltenssteuerung ausgesetzt ist. Die Werbung versucht, das Verhalten der Verbraucher/-innen auch mit psychologischer Hilfe zu beeinflussen. Hübner und Schmon (2019) fragen sich angesichts der Veränderungen von Konsumpraktiken durch Digitalisierung, wie „souverän“ die Konsumentin und der Konsument tatsächlich sind. Scherhorn (2007) verweist auf eine Asymmetrie im Marktgeschehen: Konsumierende müssen ihre geringen Ressourcen auf eine große Anzahl von Optionen aufteilen, während Unternehmen ihre wesentlich größeren Mittel auf weniger Optionen konzentrieren können. Deshalb gibt es einen Schutzbedarf der Konsumentinnen und Konsumenten, besonders vor Intransparenz und individueller Übervorteilung. Angesichts dieser Asymmetrie der modernen Märkte gibt es für Verbraucher/-innen relativ wenige Möglichkeiten, sich z. B. gegen Übervorteilung zur Wehr zu setzen: Vielfach bleibt nur der sogenannte „Exit“, d. h. eine Abwanderung, womit jede Form des Nichtkaufs gemeint ist. Es besteht bei den Konsumierenden häufig ein Informationsdefizit und das Wissen über den Verbraucherschutz ist oft lückenhaft. Vermehrte Kaufoptionen führen zur sprichwörtlichen „Qual der Wahl“. Der Widerspruch („voice“) besteht in Beschwerden, Reklamationen, Boykottaktionen etc., bedeutet aber auch zusätzlichen Energieaufwand und stellt für viele Verbraucher/-innen eine Hemmschwelle dar (Scherhorn, 2007). Der deutsche Verbraucherschutz legt den Hauptschwerpunkt auf Ernährung und Nahrungsmittel Es geht um die Verbraucheraufklärung und -information mit dem Anliegen einer „humanen Produktion“. In den 1970er Jahren stieg der Bedarf an Produktprüfung an bzw. diese wurde von den Konsumentinnen und Konsumenten immer mehr gefordert. In den 1990er Jahren lag der Fokus auf technologischen Geräten. Die Stiftung Warentest wurde im Jahr 1964 gegründet mit dem Ziel, die Öffentlichkeit über objektivierbare Merkmale des Nutz- und Gebrauchwertes von Waren und Leistungen zu unterrichten, ein Organ ist die Zeitschrift „test“. Die Einrichtung von sogenannten Verbraucherzentralen, die die Beratung auf örtlicher Ebene in allen Bundesländern be-
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treiben, erfolgte ab 1953 (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2013; Tully, 2013). Inzwischen gibt es im Internet zahlreiche Vergleichstools, Testseiten etc. Der Preis stellt für Verbraucher oft den ersten Qualitätsfaktor dar, Preise und objektive Qualitätsmerkmalen sind jedoch nur gering miteinander korreliert. Konsumierende schließen häufig vom Preis auf die Qualität, bei einem teuren Produkt erwarten sie hohe Qualität. Die Preis-Qualitäts-Regel ist eine Heuristik, eine Faustregel, die angewandt wird, wenn keine besseren Informationen verfügbar sind. Unter zwei Bedingungen wird die Preis-Qualitäts-Regel eher angewendet: bei geringem Involvement und mangelnder Expertise (Felser, 2015, S. 393). Die Marke ist ein weiterer Anhaltspunkt für viele Verbraucher/-innen, die sich vom Kauf Sicherheit und Qualität erhoffen. Das Markenrecht schützt zwar das Markenzeichen, garantiert aber nicht unbedingt hohe Qualität. Vielfach erfolgt ein zweigleisiger Vertrieb von Markenfirmen. Dies bedeutet, dass die Markenartikel teuer verkauft werden, während dieselbe Ware ohne Markenbezeichnung billiger verkauft wird. Konsumgüter dienen nicht nur der Befriedigung von Grundbedürfnissen, sondern auch der symbolischen Selbstergänzung (Wicklund & Gollwitzer, 1982), das Image der Marke wird wichtig (Scherhorn, 2007). Felser (2015) bringt ein aktuelles Beispiel für den „Geltungskonsum“: Menschen zahlen einen Aufpreis, um zu demonstrieren, dass ihnen die Umwelt nicht egal ist. Felser interpretiert dies als eine besondere Spielart eines Prestige- oder Veblen-Effekts (vgl. Kapitel 2.2). Grün und umweltbewusst zu konsumieren, ist inzwischen ein Statussymbol geworden. Reisch und Scherhorn (2005) plädieren für ein nachhaltiges Konsumentenverhalten, wonach ein neues Leitbild entsteht: Konsum ist nicht mehr nur privat, sondern Teil einer Gemeinschaftsaufgabe (Tully, 2013). Kroeber-Riel und Gröppel-Klein (2013) konstatieren, dass die Verbraucherpolitik, sofern sie die Konsumierenden nicht überfordern will, sich an deren faktisches Verhalten halten muss und sie so sehen sollte, wie sie sind. Daraus leiten Kroeber-Riel und Gröppel-Klein (2013) die folgenden Schlussfolgerungen für die Verbraucherpolitik ab: – Aufklärung, aber nicht Überfrachtung mit Informationen – Befähigung von Konsumentinnen und Konsumenten – Schutz vor schädlichen Einwirkungen des Marketings Es geht um die Stärkung der Marktposition der Verbraucher/-innen, insbesondere durch Förderung des Wettbewerbs zwischen den Anbietern sowie die Stärkung der Rechtsposition der Verbraucher/-innen. Dazu bedarf es der Beratung und Information. Der Verbraucher bzw. die Verbraucherin soll gegen unlautere Verkaufspraktiken und vor gesundheitlichen Schäden durch den Konsum von schädlichen Gütern geschützt werden. Auch geht es um die Verbesserung der organisatorischen Vertretung der Verbraucherinteressen (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2013). Der Kauf umweltverträglicher Produkte und Dienstleistungen bereitet den Konsumierenden nach wie vor Schwierigkeiten. Zwar helfen Öko-Label oder der Grüne
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Punkt, und chemische Substanzen, die als umweltschädlich gelten, sind inzwischen bekannt. Aber es gibt immer noch zahlreiche Einkäufe, bei denen Konsumentinnen und Konsumenten ein ökologisches Risiko empfinden, vor allem dann, wenn zusätzliche gesundheitliche Unsicherheiten ausgelöst werden. Dafür sind Strategien vorgesehen, die gleichermaßen bei Konsumierenden und dem Marketing ansetzen sollten: Für die Konsumierenden ist die Entwicklung von nachhaltigen und reflexiven Konsumleitbildern wichtig (Tully, 2013). Für das Marketing sollte darauf gedrungen werden, konsumentenfreundlicher zu werden und schädliche Aktivitäten zu beschränken. Hierfür erscheint der Deutsche Werberat als ein Organ der Selbstkontrolle der Wirtschaft, um Auswüchse der Werbung zu verhindern, geeignet (Kroeber-Riel & Gröppel-Klein, 2013). Allerdings gehen Maßnahmen, die auf gesetzlichen Regeln beruhen, von einem eher passiven Individuum aus. Es gilt jedoch, dieses selbst zu stärken und zu befähigen, unlautere Praktiken zu erkennen, die Kompetenz des Verbrauchers und der Verbraucherin ist gefragt (Spieß, 2013). Der Begriff der Nachhaltigkeit erweitert die Perspektive über den unmittelbaren Konsumierenden hinaus auf andere aktuell und zukünftig lebende Konsumentengruppen. Definitionselemente von Nachhaltigkeit sind: Umwelt, Soziales und Ökonomie. Umwelt beinhaltet umweltverträgliche Leistungen und Strategien, z. B. verminderten Energieverbrauch, die soziale Dimension bedeutet, dass Personen Verantwortung für ihr eigenes Handeln und für andere übernehmen, und Ökonomie bedeutet, ökonomisch erfolgreich zu sein, ohne der Umwelt zu schaden. Nachhaltigkeitsbezogene Werte sind Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Toleranz, Respekt vor der Natur und geteilte Verantwortung (Spörrle & Bekk, 2015).
5.8.7 Resümee Werbung bedient sich psychologischer Strategien und Techniken. Werbetreibende greifen darauf zurück, denn es gilt, die Aufmerksamkeit der Kundschaft auf ein Produkt zu lenken. Dazu werden die Einstellungen und Gewohnheiten der Kundinnen und Kunden erforscht. Studiert man die Werbung und ihre Aussagen, so drückt sich in diesen auch der jeweils vorherrschende Zeitgeist aus: Werbetreibende appellieren mit ihren Methoden an bestimmte Werthaltungen und Einstellungen der Menschen, z. B. an ihren Wunsch nach einem glücklichen Familienleben, nach Gesundheit und Erfolg. Andererseits lässt Werbung zugleich einen indirekten Rückschluss auf das Menschenbild der Werbetreibenden zu: Es sind ihre Annahmen darüber, was bei den Konsumentinnen und Konsumenten ankommt und wie diese denken. Dabei legen die Werbetreibenden unfreiwillig Zeugnis ab vom jeweiligen Zeitgeist und den Werten, die die Gesellschaft prägen. Verkaufspsychologie lässt sich auch als eine Form von Dienstleistung interpretieren. Eine Psychologie des persönlichen Verkaufs sollte auf der empirischen Ebene des
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Erlebens und Verhaltens die Akteure untersuchen und nach Lösungen für deren Probleme zu suchen, die allen Beteiligten gerecht werden. Dies gilt gleichfalls für die Rolle des Kunden bzw. der Kundin und für die Konsumentenforschung. Die Kaufsucht ist eine pathologische Variante des Kaufverhaltens. Der Verbraucherschutz versucht, Käufer/-innen vor Missbrauch zu schützen.
5.9 Finanzpsychologie Jutta Gallenmüller-Roschmann und David Maus Das folgende Kapitel stellt eine Überarbeitung und Ergänzung der Kapitel „Psychologie des Geldes“ (Spieß, 2005a) und „Finanzpsychologie“ (Gallenmüller-Roschmann & Maus, 2005) der Erstauflage des Bandes „Wirtschaftspsychologie“ (Spieß, 2005) dar. Auf eine Kennzeichnung inhaltlicher und wörtlicher Übernahmen aus dem Kapitel „Finanzpsychologie“ der Erstauflage wurde in der aktualisierten Fassung verzichtet, Übernahmen aus dem Kapitel „Psychologie des Geldes“ sind gekennzeichnet.
5.9.1 Fragestellungen und Themen Finanzpsychologische Arbeiten befassen sich grundlagen- und anwendungsorientiert mit der Erklärung, Prognose und Veränderung finanzbezogenen Verhaltens und Erlebens. Im Mittelpunkt stehen die Analyse finanzieller, aber auch finanznaher und finanzpolitischer Entscheidungsprozesse und die Veränderung von Entscheidungen und Verhalten in diesen Kontexten. Der Praxistransfer psychologischer Forschungsbefunde betrifft daher ein weites Spektrum, das neben der subjektiven Bedeutsamkeit von Geld mikroökonomische (z. B. Haushaltsentscheidung), organisationale (z. B. Finanzdienstleistungen, Angebote zur Entwicklung von Finanzkompetenz) und makroökonomische Fragen (z. B. Besteuerung, Lohnpolitik, Marktregulation) umfasst. Die Auseinandersetzung mit psychologischen Prozessen in den Finanzmärkten hat Tradition. Schmölders (1951) führt mit seinen Werken „Psychologie des Geldes“ (Schmölders, 1966) und „Einführung in die Finanzpsychologie“ (Schmölders, 1975) den Begriff Finanzpsychologie in den Wirtschaftswissenschaften ein, um ökonomische Theorien mit psychologischen Erkenntnissen zu verbinden. Er gilt bis heute als Begründer der wissenschaftlichen Finanzpsychologie (Schulz-Hardt et al., 2015). Als besonders bedeutsam für die Entwicklung des Forschungszweigs Behavioral Finance in der Ökonomie und der Finanzpsychologie in der Psychologie gelten zudem die Arbeiten von Kahneman zur Formulierung der Prospect Theory (Tversky & Kahneman, 1979) und zur Entscheidungsfindung unter Unsicherheit (Kahneman, Slovic & Tversky, 1982; Kahnemann, 2012; Thaler, 2015).
5.9 Finanzpsychologie
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Was leistet die zeitgenössische Finanzpsychologie? Empirische Arbeiten der Finanzpsychologie stehen häufig in der Tradition der Social-Cognition-Forschung und der Austauschtheorien und richten sich inhaltlich auf die soziale Koordination konkreter oder abstrakter Finanztransaktionen (Fischer & Mörsch, 1999). Psychologische Modellannahmen zum Erleben und Verhalten in finanziellen oder finanznahen Situationen stützen sich heute aber auch auf weitere psychologische Theorien, um die Verhaltensrelevanz von Kognitionen, persönlichen Merkmalen, Sozialisationseffekten oder organisationalen Prozessen zu klären und deren Möglichkeiten zur Einflussnahme auf finanzielles und finanznahes Verhalten zu diskutieren. Zentrale Themen sind hierbei: – die subjektive Wahrnehmung und Bedeutung von Geld, Währung und Zahlungssystemen, ökonomische und kulturelle Sozialisationseffekte, – Finanzentscheidungen und Informationsverarbeitungsprozesse, Gewinn-VerlustErwartungen, Kontrollillusion und Handlungskontrolle, – Spar-, Anlage-, Vorsorge- und Investitionsverhalten, Börse, Risikobereitschaft, Finanzdienstleistung, – Interaktions- und Austauschprozesse, Emotionen und erlebte Gerechtigkeit in finanziellen und finanznahen Kontexten, – Wahrnehmung und Bedeutung von Lohn im Marktgeschehen, – Überschuldung privater Haushalte, – Steuerverhalten, Steuerwahrnehmung und Steuerwiderstand, – psychologische Aspekte der Finanzmarktregulation (z. B. Regulation durch Preisbildung, soziale Normierung), Verantwortung, Ethik und Moral, – sowie individuelle Finanzkompetenz und Kompetenzentwicklung. Obwohl die Finanzpsychologie in wissenschaftlichen Studiengängen noch immer selten als eigenständiges Studienfach vertreten ist, trägt doch einiges zu ihrer Institutionalisierung in Forschung und Praxis bei: Finanzpsychologische Fragen werden regelmäßig von Verbänden wie der International Association for Research in Economic Psychology (IAREP) oder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) im Rahmen der Fachgruppenarbeit und der Fachkongresse aufgegriffen. Das Bemühen der IAREP um finanzpsychologische Forschung, um die Förderung wissenschaftlicher Standards in der interdisziplinären Forschung und um Praxistransfer zeigt sich in regelmäßigen Tagungen, Workshops, Summer Schools, Wettbewerben, im „Journal of Economic Psychology“ (IAREP, 2018a) und nicht zuletzt in der regelmäßig organisierten „Kahneman Lecture“ (IAREP, 2018b). Im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) trägt seit 2007 die Fachgruppe „Finanzpsychologie“ in der Sektion Wirtschaftspsychologie zum interdisziplinären Austausch und zur Etablierung des Berufsfelds der Finanzpsychologie in Deutschland bei (BDP, o. D.). Die Fachzeitschrift „Wirtschaftspsychologie“ widmet in den vergangenen 20 Jahren einige Themenhefte der Finanzpsychologie (Stephan & Christandl, 2019): In den Jahren 2002 und 2003 wenden sich zwei Themenhefte finanz-
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psychologischen Fragen der Zeit zu (Fischer, 2002). Nach der Einführung des Euro erscheint ein Heft zur Akzeptanz des Euro (Heft 4/2002). Ein zweites Heft greift 2003 nach dem Scheitern der sogenannten „Dotcom-Blase“ am Neuen Markt die Bedeutung affektiver und sozialer Merkmale für Investitionsentscheidungen auf und stellt Finanzmärkte als psychologische und soziale Organisationen dar (Heft 4/2003). Ein weiteres Themenheft (Heft 1/2011) richtet sich auf Fragen der Steuerwahrnehmung und Steuerehrlichkeit (Kirchler & Witte, 2011). Im selben Jahr wird in Heft 2/ 2011 eine wirtschaftspsychologische Analyse der Finanzkrise und der schwer zu kontrollierenden, sozialen Einflüsse von Fischer und Fischer (2011, S. 5–23) veröffentlicht. Das vierte Themenheft zur Finanzpsychologie (Heft 4/2019) umfasst unter anderem Beiträge zum Einfluss von Commitment und Verschwörungstheorien auf Finanzentscheidungen, zu neuen Ansprüchen von Investoren und zum Zusammenhang von Persönlichkeit und Finanzentscheidung. Inzwischen zeigen mehrere wirtschafts- und finanzpsychologische Überblickswerke, wie vielfältig die heute meist anwendungsbezogenen, finanzpsychologischen Beiträge sind (Fischer et al., 2017/1999; Goldberg & Nitzsch, 1999; Nitzsch & Friedrich, 1999; Wiswede, 2021; Kirchler, 1999; Kirchler, 2011; Landes & Steiner, 2013; Moser, 2015; Pfister, Jungermann & Fischer, 2017; Schläpfer & Fichter, 2018a,b; Wienkamp, 2019). So stellen bereits Fischer et al. (2017/1999) in ihrem Lehrbuch der Finanzpsychologie u. a. Beiträge zur Geldsozialisation, zur monetären Größenwahrnehmung, zu Urteilsheuristiken bei Finanzentscheidungen, zu Risikoneigung und Anlagemotiven, zu Steuermoral, Steuerverhalten und Steuerzufriedenheit vor. Finanzpsychologische Fragen wie die Einstellung zum Geld, finanzielle Unehrlichkeit, Investitionsentscheidung oder Kauf- und Konsumverhalten greifen auch Frey et al. (2005) in ihrem Lehrbuch der Wirtschaftspsychologie auf. Bereits Schilke und Reimann (2007) plädierten für eine neuroökonomische Betrachtung negativer und positiver Stimuli auf ökonomisches Verhalten, allerdings lassen die von ihnen zitierten Forschungsergebnisse aufgrund des explizit grundlagenorientierten Untersuchungsdesigns nur sehr eingeschränkt Praxistransfer zu. Dennoch finden Beiträge, die den Versuch unternehmen, den Einfluss von Emotionen auf Finanzentscheidungen aus neurowissenschaftlicher Perspektive zu erklären, in der Praxis durchaus Interesse (Elger, 2009). Als zentrale finanzpsychologische Themen führt Kirchler (1999, 2011) ökonomisches Entscheidungsverhalten und Erleben und auch das Verhalten an der Börse an. SchulzHardt et al. (2015) empfehlen, neue Forschungsdesigns zu tradierten finanzpsychologischen Fragestellungen der Geld- und Preiswahrnehmung, der finanzbezogenen Entscheidungsprozesse, der Verschuldung oder des Anlage- und Sparverhaltens zu formulieren. Schläpfer und Fichter (2018a,b) stellen die Finanzpsychologie als ein Teilgebiet der Wirtschaftspsychologie vor, deren Gegenstand mikro- und makroökonomische Fragestellungen umfasst wie Aspekte der Geldsozialisation und Finanzentscheidung, Spar-, Vorsorgeund Anlageverhalten, Besteuerung und Steuerverhalten, die Bedeutung des Lohnsystems
5.9 Finanzpsychologie
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und Instrumente der Finanzmarktregulation. Wienkamp (2019) erläutert praxisnah Motive und Risikoverhalten im Kontext der Finanzentscheidung. Finanzpsychologische Beiträge zur Veränderung finanznaher Verhaltensweisen und zur Gestaltung des Marktgeschehens stützen sich in der Regel auf „empirische Erkenntnisgenerierung [...], [...] lösungsorientierten Praxistransfer“ (Häßlich, 2019) und psychologische Ethik. Mit Blick auf die individuelle Handlungskompetenz im Marktgeschehen verweist daher auch Müller (2017; 2021) darauf, dass in künftigen finanzpsychologischen Arbeiten Fragen der Finanzkompetenz mehr Bedeutung zukommen sollte. Einige der oben genannten finanzpsychologischen Fragestellungen werden im Folgenden ausführlicher aufgegriffen: – Verhaltensrelevanz von Geld und Währung – Subjektivierung der Finanzentscheidung – Erleben und Verhalten an der Börse – Spekulationsblasen, Börsencrashs, Informationskomplexität – globale Einflüsse auf das Börsengeschehen – Sparen und Altersvorsorge
5.9.2 Verhaltensrelevanz von Geld und Währung „Alle Welt spricht von Geld, es ist das universelle Tauschmittel, gegen das (fast) alles zu haben ist“ (Spieß, 2005a, S. 161). Bei näherer Betrachtung wird jedoch rasch deutlich, dass nicht alles im Tausch gegen Geld erreicht werden kann (Schläpfer & Fichter, 2018b, S. 213): So können monetäre Anreize intrinsische Motivation verringern (Frey & Jegen, 2001). Zahlreiche ehrenamtliche Tätigkeiten werden ohne monetäre Entlohnung geleistet (Spieß, 2005a, S. 161). Zum Umgang mit Geld, Währung und Zahlungssystemen werden verschiedene Motive, Kognitionen und Zielsetzungen diskutiert (Spieß, 2005a; Jonas et al., 2005; Wiswede, 2021): – Transaktionsmotiv: Geld wird als universelles Tauschmittel erfahren und eingesetzt. – Sicherheitsmotiv: Monetäre Ersparnisse können der Vorsorge für nicht vorhersehbare Ereignisse dienen, die der sparenden Person selbst oder ihr nahestehenden Personen drohen. – Spekulationsmotiv: Die Lust am Risiko geht oftmals mit dem Bemühen um monetäre Gewinne in Wettspielen oder in Spekulationsgeschäften einher. – Leistungsmotiv: Das Erzielen von hohen Sparerträgen kann als individueller Leistungserfolg wahrgenommen werden. – Kontrollmotiv: Der Erwerb und die Verfügbarkeit von Geld dienen dem subjektiven Kontrollerleben sowie dem Streben nach Unabhängigkeit und ermöglichen Einflussnahme. – Prestigemotiv: Nicht zuletzt wird Geld häufig als Indikator für beruflichen Erfolg und sozialen Status wahrgenommen.
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Assoziiert mit sozialem Einfluss wird Geld auch identitätsstiftend als „Ausdruck des Selbst“ erlebt (Spieß, 2005a, S. 161–162).
Wenn Geld als universelles Tauschmittel fungiert, wie wird der Geldwert wahrgenommen? Die subjektive Wahrnehmung des Geldwerts weicht häufig von der tatsächlichen Kaufkraft des Geldes ab. In der Psychologie werden diese Abweichungen als Geldillusion bezeichnet. Besonders deutlich zeigt sich dieses Phänomen bei Währungsumstellungen oder starker Inflation (Schläpfer & Fichter, 2018b, S. 214). Ein historisches Beispiel mag dies verdeutlichen: Durch den Maastricht-Vertrag (1992) wurde der Grundstein für eine europäische Währungsunion gelegt. Für viele Bürger gewann die neue gemeinsame europäische Währung aber erst mit der Einführung der Scheine und Münzen subjektive Realität im eigenen ökonomischen Verhalten. Experimentelle Analysen zeigen einschlägige Geldillusionen: Im Zuge der Einführung des Euro meinten Betroffene auch dann Preissteigerungen wahrzunehmen, wenn sich die Preise objektiv nicht verändert hatten (u. a. Greitemeyer et al., 2002, 2005; Fischer et al., 2002). Der numerische Wert der DM-Preise wirkte augenscheinlich über den Zeitpunkt der Währungsumstellung hinaus als Anker zur Einschätzung von Preisen und führte so zur Unterschätzung oder zur Überschätzung des Euro-Wertes (Traut-Mattausch et al., 2003). Individuelle Wahrnehmungen zur Preisentwicklung unterliegen aber auch grundsätzlichen Effekten: So sind nominale Preise kognitiv stärker repräsentiert und daher rascher abrufbar als teuerungsbereinigte, reale Preise und führen zu individuellen Fehleinschätzungen (Schläpfer & Fichter, 2018b, S. 213). Die wahrgenommene Funktionalität des Geldes ist wesentlich von Sozialisationserfahrungen geprägt, sodass sich im Umgang mit Geld spezifische Sozialisations- und Kultureffekte zeigen (Spieß, 2005a; Wiswede, 2021): Bereits die klassische Studie von Bruner und Goodman (1947) deutet auf spezifische Sozialisationseffekte im Umgang mit Geld hin (Spieß, 2005a, S. 161). Kinder schätzen die Größe von Münzen umso größer ein, je ärmer sie sind (Müller-Peters, 2001). Geldbezogenes Verhalten zeigt auch Gender- und Diversitätseffekte (Weber, 2013b). So beobachtet z. B. Wimbauer (2003) in einer qualitativen Untersuchung, dass Männer im Vergleich zu ihren Partnerinnen Geld als wertvoller beurteilten (Spieß, 2005a, S. 165). Kulturelle Unterschiede zeigen sich auch in der Bedeutung von Geldgeschenken, die kontext- und kulturabhängig eher akzeptiert oder abgelehnt werden (Spieß, 2005a). Auf kulturelle Effekte im Anlageverhalten deutet eine interkulturelle Studie von Hens (2012) hin. Hens (2012) untersucht, ob das Anlageverhalten der Schweizer/-innen von „Swissness“ geprägt ist, und findet Hinweise dafür, dass das Anlageverhalten im Tessin anders ist als das in der Ost- und Westschweiz und Ähnlichkeiten zum Anlageverhalten im angrenzenden Italien zeigt. Müller-Peters (2001) zeigt in einer ländervergleichenden Analyse zur Reaktion auf die europäische Währungsumstellung, dass Geld nicht nur als materieller Wert wahrgenommen wird, sondern auch identitätsstiftend wirkt. Noch in der Phase der Währungsumstellung wird die D-Mark im Gegensatz zum neu eingeführten Euro
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von den Befragten als Symbol und Garant für Wohlstand und Sicherheit wahrgenommen (Müller-Peters, 2001). Die Einstellung zu Geld und materialistische Wertorientierungen beeinflussen Konsumentscheidungen, Zahlungs-, Spar- und Anlageverhalten (Spieß, 2005a, S. 163–164). Als Beispiel für Sozialisations- und Kontexteffekte können auch Verhaltensänderungen im Zuge der Covid-Pandemie seit 2020 dienen. Im Laufe der Pandemie ist eine rasche Zunahme im Einsatz digitaler Zahlungsvarianten zu beobachten. Eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zeigt im Mai 2021, dass immer häufiger kontaktlose Zahlungen mit dem Smartphone erfolgten (GfK, 2021). Eine offene Frage ist in diesem Zusammenhang, ob die Verfügbarkeit bargeld- und kontaktloser Zahlungssysteme (Kreditkarte, digitale Girocard bzw. Debitkarte, kontaktloses Zahlen mit Smartphone) in anderer Weise als Bargeld Konsumentscheidungen und Konsumverhalten beeinflusst. Die Wahrnehmung von Geld und der Umgang mit Geld unterliegen ökonomischen, sozialen, situativen und kulturellen Bedingungen. Mit Blick auf den Praxistransfer sollten Forschungsarbeiten zur Psychologie des Geldes daher feldtheoretisch ausgerichtet sein (Spieß, 2005a, S. 165) und Kontextvariablen und Sozialisationsmerkmale berücksichtigen.
5.9.3 Subjektivierung der Finanzentscheidung Mit dem Modell des Homo oeconomicus war für die ökonomische Forschung ein präskriptives Modell geschaffen worden, das Finanzentscheidungen ausschließlich auf der Grundlage des Rationalitätsprinzips und der Nutzenmaximierung erklärt (Berlemann, 2005; Kirchgässner, 2008). Um allgemeines ökonomisches Verhalten prognostizieren zu können, wird von der Prämisse ausgegangen, dass Verhaltensunterschiede zufällig verteilt sind und im Gesetz der großen Zahl (Bernoulli) aufgehen, sodass interindividuelle Verhaltensvariabilität auf der Aggregatebene an Bedeutung verliert. Den Modellannahmen zum homo oeconomicus entsprechend strebt jedes Individuum grundsätzlich nach maximalem Gewinn, es handelt zweckrational (vgl. Kapitel 1). Verhaltensweisen, die dem Rationalitätsprinzip nicht entsprechen, werden im Modell als Verhaltensanomalien bezeichnet. Dies betrifft Widersprüche zwischen kollektiv-rationalem und individuell-rationalem Handeln ebenso wie wert-rationales Handeln. Auf diese Weise werden systematische, kollektive Reaktionen auf situative Merkmale des Marktgeschehens erklär- und prognostizierbar. Individuelle Abweichungen und psychologische Gesetzmäßigkeiten der Entscheidungsfindung werden im Modell weitgehend vernachlässigt (Simon, 1955; Schmölders, 1978): – Informationsverarbeitung: Die Informationsverarbeitungskapazität des Menschen ist begrenzt. Das Individuum kann nie alle Handlungsalternativen, Handlungsfolgen, Zielalternativen und Mittelalternativen erfassen, stattdessen werden relevante Umweltmerkmale selektiv wahrgenommen und nur wenige Handlungshypothesen
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generiert. Im Sinne des Rationalitätsprinzips werden sowohl Informationswahrnehmung als auch Informationsverarbeitung als nicht realitätsadäquat betrachtet. Entscheidungs- und Handlungspräferenzen: Individuelle Entscheidungsprozesse erfolgen nicht immer reflektiert und entsprechen nur selten dem Ideal des Rationalitätsprinzips. Sie unterliegen vielmehr individuellen Motiv- und Zielkonflikten und damit auch individuellen Ergebnis- und Handlungspräferenzen. Markttransparenz: Nur selten sind alle Informationen wie beispielsweise Güterpreise, Güterqualitäten, Nachfrage oder Zahlungsbedingungen individuell zugänglich. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Heute beobachtet und analysiert die Markttransparenzstelle des Bundeskartellamts zum Großhandel mit Elektrizität und Erdgas oder Kraftstoffen Fundamentaldaten des Handels, um Marktmanipulationen zur missbräuchlichen Marktbeherrschung entgegenzuwirken. So reicht die „Markttransparenzstelle für Kraftstoffe [...] diese Daten an Anbieter von Verbraucher-Informationsdiensten weiter. Diese informieren in der Folge die Verbraucher“ (Bundeskartellamt, 2022). Die so geschaffene Markttransparenz soll zu besseren Marktergebnissen beitragen. Dennoch erschließt sich diese aufgrund individuell unterschiedlicher Ressourcen, Interessen und Präferenzen nicht allen, auch wenn einschlägige Preisinformationen auf diese Weise individuell abrufbar wären. Gruppeneffekte: Interaktionsprozesse befördern gleiche oder ähnliche individuelle Situationsdeutungen und Lerneffekte. Sowohl in Kleingruppen als auch in der sozialen Masse kann sich gemeinsames Verhalten auf spezifische Weise entgegen dem Gesetz der großen Zahl ausrichten (Wiswede, 2021).
Bis heute ist das Rationalitätsprinzip in den Wirtschaftswissenschaften Bestandteil des neoklassischen Ansatzes, obgleich bereits das von Simon (1957) vorgestellte Konzept der Bounded Rationality verhaltensnähere Modellannahmen formuliert und zur Subjektivierung des ökonomischen Prinzips beiträgt. Entscheidungen gelten hier als rational, solange sie mit den Werten und Informationen zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung konsistent sind. Menschliche Informationsverarbeitungsprozesse sind von Vereinfachungen und kognitiver Entlastung geprägt. Subjektiv erwartete Handlungs- bzw. Entscheidungsfolgen werden weniger rational, sondern subjektiv als mehr oder weniger zufriedenstellend beurteilt. Neue Informationssuche erfolgt vor allem dann, wenn die erkannten Handlungsalternativen als nicht zufriedenstellend betrachtet werden. So wird in der Regel die weitere Informationssuche abgebrochen, sobald eine Handlungsalternative und das mit ihr assoziierte Handlungsergebnis zum gegebenen Zeitpunkt Zufriedenheit verspricht. In der psychologischen Entscheidungsforschung werden Abweichungen vom Rationalprinzip als systematische Fehler der individuellen Informationsverarbeitung empirisch untersucht und beschrieben: – Representativeness: Die tatsächliche Grundwahrscheinlichkeit eines Ereignisses wird im Urteilsprozess vernachlässigt (Repräsentativitätsheuristik), weil verfügbare Informationen nur selektiv beispielsweise zur Einschätzung von Gewinn-
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bzw. Verlustwahrscheinlichkeiten genutzt werden (Leong et al., 2002). Zudem werden auffällige Ereignismerkmale bevorzugt wahrgenommen. Die grundsätzlich vorhandene Informationsvielfalt wird reduziert verarbeitet, eine ClusteringIllusion entsteht (Hefti & Benkert, 2019). Subjektive Repräsentationsmaße und Clustering-Illusion führen zu systematischen Urteilsverzerrungen. Selbst wenn das formal-rationale Erwartungswert-Prinzip eine Finanzentscheidung mit der größten (objektiven) Gewinnwahrscheinlichkeit nahelegt, führen individuelle Präferenzen zu Finanzentscheidungen, die gegen das formal-rationale Erwartungsprinzip verstoßen. Overconfidence bias: Subjektive Schätzungen zur Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses weichen umso stärker von objektivierten Schätzungen ab, je unsicherer die Situation ist (Kiehling, 2001). Dazu trägt bei, dass positive Erfahrungen mit früheren Entscheidungen dazu führen, das eigene Wissen und die eigene Prognosefähigkeit zu überschätzen. Im wiederholten Entscheidungskontext wirken zudem systematische Rückschaufehler. Nachträglich wird ein Ereignis subjektiv als zwangsläufig und daher vorhersehbar erinnert (Blank et al., 2003). In Finanzentscheidungen zeigt sich dies, wenn ein subjektives Urteil über eine Gewinnwahrscheinlichkeit einer vorab getroffenen Einschätzung angeglichen wird. Availability: Subjektive Urteilsprozesse stützen sich häufig auf bereits verfügbare und rasch aus dem Gedächtnis abrufbare Informationen (Verfügbarkeitsheuristiken), objektiv relevante Informationen werden dagegen vernachlässigt (Kahneman & Tversky, 1973). Anchoring: Entscheidungen unter Unsicherheit orientieren sich tendenziell an Richtwerten wie vorab erhaltenen Informationen oder vorab getroffenen Entscheidungen (Ankerheuristik). Dieser Richtwert beeinflusst aktuelle Einschätzungen, selbst wenn die betreffenden Vorinformationen aus rationaler Sicht nicht relevant sind. Der Anker führt zu verhaltensstabilisierenden Urteilsverzerrungen (Block & Harper, 1991). „So werden z. B. reale, gebrochene Preise mit vermeintlich erinnerten Glattpreisen verglichen, der gebrochene Preis bewirkt eine Sparillusion und erleichtert das Festhalten am gewohnten Kaufverhalten“ (El Sehity et al., 2005, S. 292). Diese Tendenz, an vertrauten Verhaltensweisen festzuhalten und so neue Entscheidungen zu umgehen, wird auch als Default-Effekt beschrieben (Hefti & Benkert, 2019). Framing: Situative Darstellungseffekte sind für die subjektive Risikowahrnehmung und für individuelle ökonomische Entscheidungen besonders bedeutsam (Stocké, 2002, S. 10). Berücksichtigt man, dass gleiche, aber anders formulierte Inhalte unterschiedliches Verhalten befördern, ist es in Finanzdienstleistungen und Kundenaufklärung besonders wichtig, ob reale Verluste als Verlust oder als entgangener Gewinn dargestellt werden. Herding: Subjektive Unsicherheit unterstützt die Bereitschaft, sich in der eigenen Urteilsfindung am Konsens mit anderen zu orientieren. An Kapitalmärkten gilt dieses Imitationsverhalten vor allem in extremen Situationen als wichtiges Phä-
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nomen (Kiehling, 2001) und ist immer wieder Gegenstand ökonomischer, psychologischer und neurowissenschaftlicher Erklärungsansätze. „Finanzentscheidungen sind meistens Entscheidungen unter Unsicherheit“ (Schläpfer & Fichter, 2018b, S. 214). Folgt man der Logik der normativen Erwartungsnutzentheorie, werden finanzielle Entscheidungen im Sinne des subjektiv zu erwartenden Gesamtnutzens unabhängig von Situationsdarstellung oder Emotionen getroffen. Dennoch sind beispielsweise Framing-Effekte und individuelle Präferenzeffekte empirisch gut belegt. Kahneman und Tversky (1979) untersuchen experimentell Entscheidungsprozesse unter subjektiv unsicheren Bedingungen. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich nicht auf ein ideales, sondern auf das tatsächliche Entscheidungsverhalten. In der von ihnen formulierten Prospect Theory gehen sie davon aus, dass ein finanzielles Entscheidungsproblem zunächst subjektiv vereinfacht und erst dann individuell nach subjektivem Nutzen und individuellen Präferenzen evaluiert wird (Schläpfer & Fichter, 2018b, S. 216). Ihre Untersuchungsergebnisse zur individuellen Nutzenkalkulation ordnen Kahneman und Tversky (1979) auf der Grundlage einer Wertfunktion und einer Entscheidungsgewichtungsfunktion an: Die Wertfunktion zeigt, dass die Bewertung von Gewinn und Verlust in Relation zu einem individuellen Referenzpunkt (z. B. zum aktuellen Besitz) erfolgt. Verluste werden dabei subjektiv höher bewertet als objektiv vergleichbar hohe Gewinne. Die Entscheidungsgewichtungsfunktion zeigt systematisch Fehler in der Gewichtung von Wahrscheinlichkeiten auf. Für Entscheidungen unter Unsicherheit zeigen Kahneman und Tversky, dass hohe Wahrscheinlichkeiten eher untergewichtet und geringe Wahrscheinlichkeiten eher übergewichtet werden. Schläpfer und Fichter (2018b) veranschaulichen dies an einem einfachen Beispiel: Wir sind eher bereit „für eine Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Verlusts von 0,5 % auf 0 % höhere Versicherungsprämien zu zahlen [...] als für die Verringerung der Wahrscheinlichkeit von 1 % auf 0,5 % [...].“ (Schläpfer & Fichter, 2018b, S. 217). Ausgehend von den Prinzipien der Erwartungsnutzentheorie und der Prospect Theory lassen sich noch einige weitere Verhaltensanomalien aufzeigen: – Ambiguitätsaversion: Tendenziell werden eher Entscheidungen zugunsten subjektiv bekannter Risiken als zugunsten unbekannter Risiken getroffen (Orgeldinger, 2022, S. 111–113; S. 160). – Dissonanzvermeidung: Um kognitive Dissonanz zu vermeiden, werden Misserfolge tendenziell ignoriert und eher im Sinne der Kontrollillusion entschieden (Raab et al., 2022, S. 47–72). – Zeitinkonsistentes Verhalten: Auch wenn wir davon ausgehen, zu einem zukünftigen Zeitpunkt ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, verhalten wir uns häufig anders als ursprünglich angenommen (Hefti & Benkert, 2019, S. 16). Beispiele für zeitinkonsistentes Verhalten lassen sich für Wettspiele, aber auch für die Altersvorsorge anführen. Je näher der Zeitpunkt eines Gewinns liegt, desto attraktiver
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wird er wahrgenommen. Zeitinkonsistentes Verhalten und spezifische Zeitpräferenz zeigen sich im eher geringen Beitrag vieler Erwerbstätiger zur freiwilligen Altersvorsorge. Sparen würde es erforderlich machen, auf die Erfüllung unmittelbarer Konsumwünsche zu verzichten. Die Annahme, man sei in naher oder ferner Zukunft eher zum Vorsorgesparen bereit als gegenwärtig, lässt die Entscheidung zur Vorsorge aufschieben (Hefti & Benkert, 2019, S. 16). Emotionen und Vorlieben: Kaufentscheidungen für Mode- und Markenartikel sind häufig stark von Emotionen beeinflusst. Werbebotschaften unterstützen oder verändern individuelle Produktpräferenzen insbesondere durch emotionale Konditionierung. Emotionen unterstützen Kaufentscheidungen: Selbst nach dem Kauf werden für die Kaufentscheidung beispielsweise Bestätigungen und selektiv passende Informationen gesucht, um widersprüchliche Informationen und kognitive Dissonanz zu verringern und die eigene Kaufentscheidung zu bestätigen (Spindler, 2020, S. 113), sodass es auch weiterhin möglich ist, sich mit der einmal getroffenen Entscheidung „wohlzufühlen“.
Aktuelle Forschungsarbeiten in finanznahen Kontexten zeigen deutlich die Grenzen des ökonomischen Rationalitätsprinzips und der Erwartungsnutzentheorie auf. Sie führen Finanzentscheidungen daher nicht mehr nur auf (Pseudo-)Rationalität und Eigeninteressen zurück, sondern gehen von einem Motivpluralismus aus (Kals, 1999). Zur Erklärung der Motivation in finanziellen und finanznahen Handlungsfeldern verweist so auch Sirrenberg (2013, S. 32–35) auf die notwendige Integration verschiedener psychologischer Theorien und empfiehlt, folgende Variablen in finanzpsychologische Untersuchungen einzubeziehen: – subjektive Normen und wahrgenommene Handlungskontrolle bzw. Kontrollüberzeugungen als Verhaltensprädiktoren (Theorie des geplanten Verhaltens) – die subjektiv wahrgenommene, situative Notwendigkeit zur Handlung und Verantwortungsübernahme, volitionale Prozesse wie beispielsweise die Aktivierung zielkonformer Normen, individuell-situative Kosten-Nutzen-Analysen und die Entscheidung für ein konkretes Verhalten (Norm-Aktivations-Modell) – dispositionelle Verhaltensbereitschaften (Eigenschaftsmodell) – erlebte Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit und Emotionen Mit diesem Ansatz sind sowohl individuelle Abweichungen vom Rationalitätsprinzip als auch spezifische Markteffekte nicht mehr als vernachlässigbare Anomalien interpretierbar. „Entscheidungsanomalien“ entsprechen vielmehr psychologisch grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten und individueller Verhaltensvariabilität. Sollten „Entscheidungsanomalien“ in Finanzsituationen vermieden oder zumindest reduziert werden? Die geschilderten systematischen Abweichungen vom Rationalitätsprinzip liefern auch Hinweise dafür, wie individuelle Entscheidungen beeinflusst werden können. Für die Ausgestaltung komplexer Entscheidungssituationen wird unter anderem das „Nudging“ und seine Bedeutung für die gezielte Einflussnahme auf Entschei-
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dungssituationen (Sunstein & Thaler, 2008) diskutiert. Lassen sich Entscheidungsfehler durch einen situationsangemessenen „Schubs“, der die Interessen der betroffenen Person dennoch berücksichtigt, beeinflussen? Hefti und Benkert (2019) verweisen auf das Beispiel einer „Nudge-Unit“ in Großbritannien: „Die ‚Nudge Unit‘ [...] veränderte den Text des Briefes, der Personen mit ausstehenden Steuerzahlungen zugestellt wurde, und konnte damit ohne Zwang die Zahlungsmoral signifikant erhöhen“ (Hefti & Benkert, 2019, S. 19). Lässt sich ein solches Nudging rechtfertigen? Nudging setzt an den gängigen Entscheidungsfehlern an und verändert gezielt die Entscheidungssituation so, dass eine erwünschte Handlungsintention verstärkt wird. Im Beratungs- oder Verkaufsgespräch wäre Nudging eine mögliche Technik, das Entscheidungsverhalten der Kundinnen und Kunden gezielt zu beeinflussen. Doch auch Nudging kann das Problem der Entscheidungsqualität nicht lösen: Wie stark sollen rationale Abwägung und Analyse gegenüber individuellen Vorlieben und Präferenzen in der Konstruktion der Entscheidungssituation berücksichtigt werden? Was ist zu berücksichtigen, damit Nudging tragfähige, „nützliche“ Entscheidungen unterstützt, ohne Individuen oder Wettbewerb zu manipulieren? Was sollen die Kriterien „nützlicher“ Einflussnahme sein? Deutlich wird, dass die Vermittlung individueller Finanzkompetenz, die Entwicklung aufrichtiger und ziel- und personenorientierter Finanzberatung und die Unterstützung selbstreflektierter, authentischer Entscheidungsfindung der ratsuchenden Person für den Praxistransfer finanzpsychologischer Erkenntnisse zunehmend an Bedeutung gewinnen dürften.
5.9.4 Erleben und Verhalten an der Börse Der Geld- bzw. Kapitalmarkt ist im Gegensatz zum Gütermarkt kein Markt, an dem manifeste Waren angeboten oder nachgefragt werden. Als Geldmarkt wird im weiteren Sinn der Markt für alle kurz- und mittelfristigen, als Kapitalmarkt der Markt für langfristige Finanzmittelbeschaffungen und Finanzmittelanlagen (Kredite und Geldanlagen) verstanden. Es gibt einen nicht organisierten Kapitalmarkt und einen organisierten Kapitalmarkt. Unter den nicht organisierten Kapitalmarkt fällt der graue Kapitalmarkt, auf dem beispielsweise der Handel mit Immobilienfonds, Genussrechten oder auch Kryptowährungen stattfindet. Neben dem grauen Kapitalmarkt zählt der schwarze Kapitalmarkt zum nicht organisierten Kapitalmarkt. Dieser ist ein unregulierter Markt für hochspekulative Finanzprodukte wie z. B. Differenzverträge (Contract for difference [CFD]). Der organisierte Kapitalmarkt (auch weißer Kapitalmarkt genannt) unterliegt einer staatlichen Aufsicht und findet an der Börse statt. Dem Wortsinn entsprechend wird auf dem Geld- und Kapitalmarkt also im weitesten Sinne mit Geld gehandelt. Tatsächlich vollzieht sich dieser Handel mit „Produkten“, die Geld bringen sollen, es wird beispielsweise mit Anleihen (Gläubigerpapieren) oder mit Aktien (Teilhaberpapieren) gehandelt. Ein Beispiel kann dies illustrieren: Ein Unternehmen braucht zusätzliches
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Eigenkapital und geht als Aktiengesellschaft an die Börse. Das „emittierende“ Unternehmen „gibt Aktien aus“, die nach Einführung auf dem Markt zu kaufen sind. In der Erwartung einer Wertsteigerung erwerben private oder institutionelle Anleger/-innen (z. B. Banken, Fondsgesellschaften, Investmentgesellschaften) die Aktien. Sie erwarten Kapitalgewinn, sie „spekulieren“ auf Wertzuwachs. Das Unternehmen erhält auf diese Weise zusätzliches Eigenkapital. Verschiedene populärwissenschaftliche Artikel und Beiträge in Fachzeitschriften wie „WirtschaftsWoche“ oder „Manager Magazin“ beschreiben die Funktionsweise der Börse vor allem unter Zuhilfenahme der Psychologie. Noch weiter ging André Kostolany (2000), dem eigenen Selbstverständnis zufolge Spekulant und Börsenprofi. Er schreibt in einem seiner populärwissenschaftlichen Werke zur Börsenpsychologie „die Börse ist Psychologie“ und weist damit ebenso wie viele andere auf den zentralen Stellenwert subjektiver Prozesse im Börsengeschehen hin, selbst wenn der Begriff der Psychologie hier missverständlich Anwendung findet. Obwohl die Börse größtes Interesse weckt, ist ihre Funktionsweise nach wie vor selten oder nur in sehr engen Ausschnitten einer systematischen, wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen worden. Konzepte zur Beschreibung oder Erklärung der Funktionsweise der Börse entstammen vor allem zwei Disziplinen und gehen von spezifischeren Prämissen als „Börse ist Psychologie“ aus: – Aus ökonomischer Perspektive regulieren das Angebot an monetären Mitteln und die Nachfrage nach diesen Mitteln den Geld- und Kapitalmarkt. Ist das Angebot gering, wird der Preis für die zur Verfügung gestellte Finanzkraft steigen. Ist das Angebot groß, wird der Preis sinken. Die computergesteuerte Börse soll dazu beitragen, der großen Nachfrage nach Kapital ein ebensolches Angebot gegenüberzustellen. Da das Entscheidungsverhalten von wirtschaftlich handelnden Personen wie in der klassischen Ökonomie auf der Grundlage des Rationalitätsprinzips erklärt wird, streben diese auf dem Geld- und Kapitalmarkt danach, die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel zu maximieren. – Aus psychologischer Perspektive besteht jedoch eine komplexe, mehr oder weniger assymmetrische Interaktion zwischen Kapitalsuchenden (z. B. privatwirtschaftliche Unternehmen oder Staat) und Kapitalgebenden, sprich Anlegenden. Tatsächlich haben alle am Markt agierenden Personen eigene Interessen, Zielsetzungen, Verhaltensintentionen und Motivlagen. Kapitalsuchende sind bestrebt, Geld für eine Investition gestellt zu bekommen, im Falle eines Kredits jedoch möglichst wenig Zinsen zu zahlen. Im Sinne des Rationalitätsprinzips wird wiederum von der Prämisse ausgegangen, dass Kapitalgebende bestrebt sind, für das zur Verfügung gestellte Kapital möglichst hohe Gewinne, also eine möglichst hohe „Entlohnung“ zu erzielen (z. B. Zinsen oder Rechte). Die Psychologie kann die an der Börse beobachtbaren Wahrnehmungs-, Informationsverarbeitungs- und Entscheidungsprozesse sehr gut einordnen und erklären. Dies gelingt vor allem auch, weil die Börse heute vor allem eine virtuelle Handelsplattform ist und Datenmenge und Beobachtungspunkte transparent und umfangreich zu erfassen sind.
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Übereinstimmend wird in ökonomischen und insbesondere in psychologischen Forschungsbeiträgen (vgl. z. B. Fenzl & Scharf, 2019; Maas & Weibler, 1990; Mattern, 2013; Schulz-Hardt et al., 2015) davon ausgegangen, dass auch zur Erklärung der sozialen Organisation monetären Verhaltens den in Kapitel 5.9.3 beschriebenen Entscheidungsanomalien, Effekten von Emotionen und verschiedenen Urteilsheuristiken wesentliche Bedeutung zukommt (Jiranek, 2018; Müller, 2017). Verhaltensweisen, die in klassischen Modellannahmen zur Verhaltensprognose auf der Aggregatebene als „Fehlervarianz“ nicht weiter berücksichtigt sind, werden in aktuellen Arbeiten als reguläre Merkmale des Individual- und Gruppenverhaltens aufgefasst. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Auf lange Sicht wird die Entwicklung an der Börse von den wirtschaftlichen Faktoren der Unternehmen gesteuert. Die Wahrscheinlichkeit fehlerhafter Prognosen ist daher aufgrund der relevanten Datenaggregate hinsichtlich langfristiger Entwicklungen tendenziell geringer. Kurzfristige Entwicklungen, wie sie vor allem private Anleger/-innen und Spekulierende interessieren, sind weniger exakt zu prognostizieren, weil sich aufgrund der geringeren Datenmenge Entscheidungsanomalien in stärkerem Maße auswirken. Da rationale wie nicht rationale Entscheidungen in jedem Fall als gewinnorientierte Entscheidungen wahrgenommen werden, liegt es nahe, dass die Erwartung der Gewinnmaximierung von dem größten Teil der am Markt agierenden Personen geteilt wird. Verschiedene Mechanismen sorgen hierbei jedoch dafür, dass das Marktgeschehen von den handelnden Personen nicht korrekt oder unzutreffend eingeschätzt wird. Hierzu zählen beispielsweise die in der Prospect Theory von Kahneman und Tveryksy (1979) beschriebenen Urteilsheuristiken, wie die Repräsentativitäts-, Ankerund Verfügbarkeitsheuristik (vgl. Kapitel 5.9.3; Mattern, 2013) sowie die Selbstüberschätzung von Anlegenden (Schulz-Hardt et al., 2015). Das Auftreten der Selbstüberschätzung von Anlegerinnen und Anlegern kann folgendermaßen beschrieben werden: Die Interaktionspartner/-innen überschätzen zum Beispiel die eigene Fähigkeit, das Marktgeschehen zu beurteilen, sie unterliegen einem klassischen Attributionsfehler bzw. einer Kontrollillusion. Die eigene Möglichkeit und Kompetenz, Gewinne bzw. Erfolge zu erzielen, wird überschätzt, die Möglichkeit, Verluste zu erzielen, wird dagegen unterschätzt. Ebenso können Überoptimismus und Overconfidence zur Selbstüberschätzung der Interaktionspartner/-innen führen. Bei einem Überoptimismus besteht der Glaube, dass negative Ereignisse andere Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit treffen werden, während aber das Eintreten positiver Ereignisse für die eigene Person wiederum als wahrscheinlicher angesehen wird. Von Overconfidence spricht man hingegen, wenn die subjektive Sicherheit über die Richtigkeit eigener Einschätzungen die tatsächliche Richtigkeit der Einschätzungen übersteigt (u. a. Schulz-Hardt et al., 2015). Viele an der Börse agierende Personen sind sich des Risikos ihres Interaktionsbeitrags („Spekulation“) nicht bewusst. Personen, die ein höheres Risikobewusstsein zeigen, tendieren erwartungsgemäß weniger dazu, sich an der Börse zu engagieren und neigen eher zur Risikomeidung (u. a. Schläpfer & Fichter, 2018b). Risikobereitschaft bzw. Risikomeidung und Risikosuche lassen sich kontrolltheoretisch erklären. Perso-
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nen mit stärker ausgeprägtem Kontrollbedürfnis erleben rascher Kontrolldefizite als Personen mit geringer ausgeprägtem Kontrollbedürfnis. Das Erleben eines Kontrolldefizits wird auf drei Faktoren zurückgeführt: die individuelle Risikotoleranz, das subjektive Kompetenzerleben und die subjektiv verfügbare Information. Personen mit hoher internaler Kontrollüberzeugung überschätzen tendenziell die Kontrollier- und Prognostizierbarkeit des Börsengeschehens. Sie unterliegen einer Kontrollillusion und überschätzen die Möglichkeiten, die eigenen Gewinne und Verluste zu beeinflussen. Das Ausmaß der Risikomeidung zeigt sich in einigen empirischen Studien für deutsche höher als für amerikanische Anleger/-innen (Molz, Maas genannt Bermpohl & Stiller, 2019; Müller-Peters, 1999). Es scheint vor diesem Hintergrund fast paradox, dass seit den Jahren 2000 und 2001 für die meisten Bevölkerungsgruppen ein besonderes Interesse an der Börse zu beobachten ist. In der Medienberichterstattung wurde dieses Interesse damals rasch mit den Begriffen der Faszination und Begeisterung belegt. Selbst die Fachpresse berichtet seitdem oftmals vom „Aktienfieber“ der Bevölkerung und einem immer wieder zu beobachtenden Ansturm auf die Börse. Sozialpsychologische Erkenntnisse legen die Annahme psychologischer Ansteckungseffekte unter jeweils „Alt- und Neubörsianern“ nahe. Immer wieder kommt es an der Börse zu sogenannten Spekulationsblasen (Schläpfer & Fichter, 2018b). Sie stellen ein wiederkehrendes Muster dar, bei dem durch immer stärkere aktive Beteiligung von vielen Personen am Markt die Umsätze von Vermögensgegenständen immer stärker steigen und ab einem gewissen Punkt über dem tatsächlichen Wert des Vermögensgegenstands zu liegen beginnen, um dann irgendwann zusammenzubrechen, was bis hin zu einem Börsencrash führen kann.
5.9.5 Spekulationsblasen, Börsencrashs, Informationskomplexität Während einer Spekulationsblase unterschätzen investierende Personen in einem gewissen Zeitraum das Risiko häufiger als in der vorangegangenen Zeit. Entscheidungsrisiken werden in der Folge gegenüber den subjektiv erwarteten Gewinnen weniger beachtet. In den vergangenen 20 bis 25 Jahren gab es mehrere kleine, aber auch umfangreiche Börsencrashs. Der Börsencrash der New Economy, das Platzen der Dotcom-Blase, das sich im Frühjahr 2000 abzeichnete, kann hier als ein erstes Beispiel dienen, an dem sich viele verschiedene Schritte von Euphorie, fehlender Problemrepräsentation, Entscheidungsheuristiken und selektiver Wahrnehmung darstellen lassen: Trotz der zum Teil erheblichen Risiken beteiligten sich mehr und mehr Anleger/-innen am Marktgeschehen. Sie hofften, durch den prognostizierten Erfolg zukunftsorientierter Unternehmen persönliche Gewinne zu erzielen. Diese Aktientitel waren u. a. in den Bereichen Biotechnologie, Gentechnik oder Internet angesiedelt. Vor allem „Unternehmen des E-Business“ bzw. Werte des Sektors Internet erfreuten sich gegen Ende der 1990er Jahre und Anfang des neuen Jahrtausends größter Beliebtheit. Euphorisch wurden
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immer mehr Privatleute zu Anlegenden und beteiligten sich an Unternehmen, die zumeist sehr jung waren (New Economy). Die vertrauten, weiter oben beschriebenen Urteilsparameter erschienen zunehmend weniger geeignet, da die Geschäftsideen oft ungewöhnlich und neu waren (Schläpfer & Fichter, 2018b). Individuelle Problemrepräsentationen waren kaum verfügbar. Viele Anleger/-innen schrieben den Unternehmen der New Economy daher trotz relativ geringer Sachinformation großes Potenzial zu. So kam es, dass der Börsenwert solcher Unternehmen bald um ein Vielfaches über dem Börsenwert anderer, bereits etablierter Unternehmen lag (z. B. DAX Werte). Die tatsächlichen, betriebswirtschaftlichen Zahlen, die diese Unternehmen vorlegten, fanden weniger Beachtung als Euphorie und Kursfantasien, die zu immer höheren Einsätzen bewegten. Private Börsenspekulantinnen und -spekulanten konnten die Risiken ihrer Anlagen auf der Grundlage der verfügbaren Entscheidungsheuristiken kaum noch beurteilen. Es mehrten sich Stimmen, die den Markt als „überhitzt“ bezeichneten. Der Umstand, dass diese warnenden Informationen individuell kaum mehr verarbeitet wurden, kann mit Prinzipien der selektiven Wahrnehmung und der Dissonanzminderung erklärt werden (vgl. Kapitel 3.1.2 und 3.1.5). Die „euphorische“ Überzeugung bzw. das rasch gefasste Vorurteil, an der Börse reich zu werden, verringerte die individuelle Bereitschaft, kontroverse bzw. dissonante Informationen zu verarbeiten (vgl. z. B. Mattern, 2013). Schließlich wurde der Versuch unternommen, institutionell steuernd in das Marktgeschehen einzugreifen. Mit Hilfe von Zinserhöhungen sollte der Markt beruhigt werden. Doch als viele Anleger/-innen ihre Aktienpakete daraufhin verkauften, um ihre Gewinne sicherzustellen, sanken die Kurse deutlich. In der Medienberichterstattung wurden nun emotionsgeladene Begriffe wie „Crash auf Raten“ oder „Salami Crash“ befördert. Insgesamt lässt sich die Reaktion vieler Anleger/-innen einer Panikreaktion vergleichbar beschreiben. An der Börse war ein regelrechter „Ausverkauf“ zu beobachten, während die Kurse weiterhin fielen. Zahlreiche Anleger/-innen haben in dieser Zeit einen großen Teil der investierten, zum Teil über Kredit aufgebrachten Geldbeträge verloren. Augenscheinlich waren nun andere Urteilsparameter handlungsrelevant bzw. subjektive Parameter handlungsauslösend. Subjektive Kosten-Nutzen-Analysen wurden in stärkerem Maße von Risikomeidung und Verlusterwartungen beeinflusst: Die Mehrzahl der Anleger/-innen wollte die eingesetzten Mittel zurück. Ähnlich verlief das Platzen der Bitcoin-Blase ab Ende des Jahres 2017. Auch wenn sich einige Rahmenbedingungen seit dem Börsencrash der New Economy Anfang der 2000er Jahre geändert haben, wie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Informationen (über das Internet) oder die Zunahme an verfügbarer Geldmenge, die zu einer anderen Bewertungslogik von Unternehmen am Markt führte, zeigen sich auf der Verhaltensund Erlebensebene deutliche Parallelen zwischen Platzen der Bitcoin-Blase und Börsencrash der New Economy. Vormals sehr gefragte und umsatzstarke Kryptowährungen und zugehörige Technologieunternehmen haben nach langem, beträchtlichem Aufstieg in dieser Zeit (seit 2017) zwischen 50 und 90 % an Wert verloren. Nicht nur die Krypto-
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Branche musste seitdem deutliche Kurskorrekturen hinnehmen, auch außerhalb dieser Branche sind viele Unternehmen massiv unter Druck geraten. Gründe, die hierfür immer wieder angeführt wurden, sind unter anderem eine erhebliche Rezessionsangst und ein sehr hohes, fast zu hohes Bewertungsniveau der agierenden Unternehmen im Vergleich zu anderen etablierten Unternehmen bzw. Waren und Dienstleistungen. Auch in der Bitcoin-Blase lässt sich wie bei der Dotcom-Blase zunächst eine Phase von Euphorie und fehlenden Problemrepräsentationen entdecken, dann folgt die Anwendung von bekannten Entscheidungsheuristiken für die Risikobewertung und selektive Wahrnehmung in der Informationsaufnahme und -verarbeitung. Das Börsengeschehen insgesamt bietet Anlegenden die Möglichkeit, Geld zu verdienen, ist aber in seiner Informationskomplexität individuell nicht überschaubar. Gemessen am Gesamtaktienbesitz sind allerdings nur relativ wenige Anleger/-innen Privatpersonen, d. h., die Entscheidungen nur weniger Personen lassen sich als individuelle Entscheidungen beschreiben. Privatpersonen sind Informationen aus verschiedenen Quellen zugänglich. Sie erhalten Informationen und Einschätzungen zu Unternehmen über Analysen, die häufig medial vermittelt werden (Zeitungen, Magazinen, Internet usw.). Analystinnen und Analysten, Fachleute der Banken und Investmentgesellschaften, die gewisse Sektoren (z. B. Biotechnologie-, Bau-, Automobilbranche usw.) professionell beobachten, erstellen Entwicklungsprognosen aufgrund von wirtschaftlichen Fakten eines Unternehmens oder einiger Unternehmen einer Branche. Da diese Prognosen primär auf wirtschaftlichen Faktoren (Cashflow etc.) basieren, ist ihr prognostischer Informationsgehalt zwar mehrdeutig, jedoch weniger mehrdeutig als die Informationsfülle, die Anlegenden aus anderen Quellen zugänglich ist. Für individuelle Interpretationen und sogenannte Kursfantasien besteht auf der Seite der privaten Anleger/-innen relativ großer Spielraum. Der „wahre“ Wert einer Aktie bzw. der „wahre“ Wert eines Unternehmens hat spezifische Bedeutung sowohl für die Einschätzung durch Analystinnen und Analysten als auch für die Einschätzung durch Anleger/-innen. Es geschieht häufig, dass der wahre Wert entweder weit unter dem Börsenwert eines Unternehmens liegt (vor allem am ehemals so bekannten Neuen Markt oder Unternehmen aus der BitcoinBlase) oder weit über dem Börsenwert dieses Unternehmens (z. B. Unternehmen im DAX – Deutscher Aktien Index). Hinzu kommt, dass der „wahre“ Wert eines Unternehmens in der Regel nur annähernd zu bestimmen ist. Dies liegt nicht nur an fehlenden Informationen oder Zahlen zur gegenwärtigen Entwicklung am Markt, sondern auch daran, dass es vor allem für Dienstleistungen keinen exakt bestimmbaren Wert gibt. Dies trifft insbesondere für innovative Dienstleistungen zu wie beispielsweise damals neue Suchmaschinen im Internet, neuartige Therapiemethoden oder heute Unternehmen aus dem Blockchain-Umfeld, die Anteile der Infrastruktur für den Wertetransfer anbieten, oder für Unternehmen, die erlebnisorientiertes Lernen in Augmented- Reality-Umgebungen möglich machen. Unternehmen, die Dienstleistungen anbieten, können daher nicht nur aufgrund von ökonomischen Fakten und Daten eingeschätzt werden. Sie können im Erfolgsfall ein Marktpotenzial ökonomisch realisieren, das
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deutlich über den Einschätzungen liegt. Entscheidender Faktor für diesen Erfolg ist die Frage, ob es für die angebotene Dienstleistung eine Käufergruppe gibt bzw. ob der Markt die Dienstleistung „braucht“, d. h., ob genügend Kaufinteressierte das Dienstleistungsangebot annehmen.
5.9.6 Globale Einflüsse auf das Börsengeschehen Seit geraumer Zeit kann eine anhaltende globale, gesamtwirtschaftliche Entwicklung als maßgeblich für weitere Veränderungen im Erleben und Verhalten in den Finanzmärkten betrachtet werden, die ein umfangreiches Umdenken zur Folge hatte. Im Herbst 2007 platzte die US-Immobilienblase. Dies war der Beginn einer weltweiten Finanzkrise und kann als Startschuss für eine sehr lang anhaltende Niedrigzinsphase benannt werden. Die großen Zentralbanken wie die amerikanische Notenbank FED und auch die europäische Zentralbank EZB senkten bedingt durch die Krise die Leitzinsen. Im Laufe der Jahre mündete dies mitunter in Minuszinsen für Kredite und Strafzinsen bei höheren Einlagen. Diese Niedrigzinsphase sorgte dafür, dass sichere Spareinlagen praktisch keine Zinsen mehr einbrachten und Anleger für mögliche Umsätze an der Börse höhere Risiken eingehen mussten. Für Zeiten, in denen mit sicheren (z. B. festverzinslichen) Anlagen Gewinne erzielt werden konnten, erscheint rückblickend eine Risikoaversion gegenüber Anlagen wie Aktien und anderen Produkten ohne Gewinngarantie durchaus nachvollziehbar (Müller, 2017). In der Zeit der Niedrigzinsen fallen jedoch Gewinne aus nicht spekulativen Formen der Anlage viel geringer aus. Zum Teil liegen diese Gewinne sogar unter der Inflationsrate, fallen vollständig weg oder erzeugen sogar Negativzinsen. So schreiben Molz et al. (2019), dass es fast irrational anmutet, sich in einer solchen Situation gegen Aktien oder andere mit Unsicherheit verbundene Finanzprodukte zu entscheiden (vgl. auch Schläpfer & Fichter, 2018b). Neben der aktuellen Corona-Pandemie seit März 2020 hat auch die derzeitige geopolitische Lage bzw. der Krieg, den Russland Ende Februar 2022 gegen die Ukraine begonnen hat, großen Einfluss auf die Marktteilnehmer/-innen und die Marktentwicklung. Die Inflation, also Teuerungsrate von Produkten und Waren, ist seit Mitte 2021 stark gestiegen und lag im Juni 2022 auf einem ungeahnten Rekordniveau von 8,6 % gegenüber dem Vorjahr. Seit der Einführung des Euro im Jahr 1999 lag die Inflation noch nie so hoch. Als einer der Hauptgründe hierfür werden die vermeintlich unaufhaltsam steigenden Energiepreise betrachtet. Im Anschluss an das Zurückfahren und Beenden der Gas-Importe aus Russland und die Teuerung des Gases waren regelrechte Kapriolen auf dem Energie- und Strommarkt zu beobachten. Diese Umstände sorgen für ungeahnte Unsicherheit und Volatilität an den Märkten. Angesichts einer kaum oder nicht zu verarbeitenden Informationsfülle suchen viele Anleger/-innen nach Möglichkeiten, mehr oder weniger handlungsfähig zu bleiben. In dieser Situation unterstützen selektive Wahrnehmungsprozesse und Urteilsheuristiken in beson-
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derem Maße Entscheidungen und Handlungsfähigkeit. Erwartungsgemäß werden nur Informationsausschnitte für Entscheidungen genutzt, man verlässt sich vermehrt auf „Börsenwahrheiten“ wie z. B. „Verluste begrenzen, Gewinne laufen lassen“ (Fenzl & Scharf, 2019). Anlageentscheidungen werden einerseits durch Empfehlungen von Analystinnen und Analysten beeinflusst, sie entlasten das Individuum im Sinne der Komplexitätsreduktion. Andererseits werden kollektive Kursfantasien durch unterschiedliche, oft auch gegensätzliche medial vermittelte Analysen beflügelt. Es entsteht neue Komplexität, die zu individuellem Ambiguitätserleben oder kognitiver Dissonanz beitragen kann. Das Börsengeschehen gerät im Erleben der Interaktionspartner/-innen gewissermaßen zum Glücksspiel. Spekulationen im Sinne individueller impliziter Prognosen zur Entwicklung eines Unternehmens, einer Branche oder einer bestimmten geografischen Region (vor allem bei mittelständischen Unternehmen) begünstigen in diesem Falle individuelle Kursfantasien und Fehlentscheidungen. Beiträge zur Analyse individueller Anlageentscheidungen sind insbesondere in den neueren Beiträgen der Rational-Choice-Forschung und der Behavioral-Finance-Forschung zu finden. Jenseits rationaler Kosten-Nutzen -Überlegungen werden kognitive Prozesse zur Dissonanzreduktion, individuelle Präferenzen, Einstellungen und emotionale Merkmale als entscheidungsbedingende Größen untersucht. Empirische Untersuchungsergebnisse weisen bislang insbesondere für Einstellungen, individuelle Präferenzen und Entscheidungsgewohnheiten signifikante Beiträge zur Anlageentscheidung privater Anleger/-innen aus (Fenzl & Scharf, 2019; Molz et al., 2019; Müller-Peters, 1999; Ziegler et al., 2019). So untersucht Hafenstein (2016) den Einfluss von Affekten und Framing auf die Entscheidung für Investitionen in nachhaltige Unternehmen. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass sich neben Merkmalen der subjektiven Informationsverarbeitung die vor der Informationssuche vorhandene, grundsätzliche Nachhaltigkeitsorientierung, die Sympathie für das nachhaltige Unternehmen und die Bereitschaft auf Gewinnverzicht positiv auf die Anlageentscheidung auswirken (Hafenstein, 2016, S. 157). Die Entwicklung an der Börse in Deutschland, in den USA und anderen Ländern hat gezeigt, dass Warnungen vor einem erheblichen Verlustrisiko an der Börse zwar Gehör finden, dass angemessenes Handeln jedoch meist mit erheblicher Verzögerung, in vielen Fällen viel zu spät, einsetzt. Die individuellen Entscheidungen der Anleger/-innen sind stark von deren Gewinnerwartung beeinflusst, weniger von Kosten-Nutzen-Analysen hinsichtlich des zu erwartenden Risikos. Die angeführten Beispiele zeigen deutlich, dass unser Entscheidungsverhalten nur in sehr begrenztem Maße rational bedingt ist. Anders als dies klassische, ökonomische Theorien nahelegen, handeln Menschen entsprechend der vorhandenen subjektiv wahrgenommenen Chancenstruktur eher irrational als rational (Mattern, 2013; Schulz-Hardt et al., 2015). Die Vorhersage solcher Entscheidungsergebnisse oder Verhaltensintentionen ist ungleich schwieriger, Modelle zur Erklärung individueller Investitions- bzw. Anlageentscheidungen berücksichtigen daher eine Vielzahl von Prädiktoren. Neben der subjektiven Gewinnerwartung werden die in-
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dividuelle Leistungsmotivation, die individuelle Neigung zur Reizsuche bzw. Reizmeidung und individuelle Entscheidungsstile diskutiert (vgl. u. a. Jiranek, 2018). Psychologisch begründete Modelle zum Verhalten an der Börse müssen psychologische Variablen und Prozesse auf der Ebene des Individuums (private Anleger/-innen, Analystinnen und Analysten, Kundenberater/-innen), auf der Ebene der Interaktion und auf der Ebene von Organisationen und sozialen Systemen (Unternehmen, staatliche Organisationen, Finanzdienstleistungsunternehmen, Medien) berücksichtigen: – Die individuelle Informationswahrnehmung unterliegt in komplexen Situationen wie dem Börsengeschehen besonderen Selektionsmechanismen. Widersprüchliche (dissonante) Informationen werden gemieden, Fehlentscheidungen werden als dissonante Ereignisse subjektiv gerechtfertigt, um kognitive Dissonanz zu reduzieren bzw. zu vermeiden. Verlustaktien werden nicht verkauft, sondern nachgekauft, um die Illusion der „guten“ Entscheidung aufrechterhalten zu können. Emotionale Bindungen und Identifikationen unterstützen dieses Verhalten. Gewinne werden demgegenüber tendenziell individuell schneller realisiert, sodass der Dispositionseffekt insgesamt schwer zu beurteilen ist. Die an der Börse besonders rasch erforderlichen individuellen Entscheidungen orientieren sich in besonderem Maße an individuellen Repräsentativitäts-, Verankerungs- und Verfügbarkeitsheuristiken (vgl. Kapitel 5.9.3): Im Rahmen des Börsengeschehens kann die tatsächliche Wahrscheinlichkeit eigener Verluste überschätzt werden, kumulierende Effekte tragen zum Kursverfall bei. Für private Anleger/-innen stellen die Aussagen der professionellen Analystinnen und Analysten einen Anker dar, die auf diese Weise mittelfristig zu bestimmten Markttendenzen beitragen können. Stereotype Schemata beeinflussen die individuelle Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Kurseffekte ergeben sich, weil viele Individuen an die Wahrscheinlichkeit des Effekts „glauben“, d. h. sich am gleichen stereotypen Schema orientieren. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn Analystinnen und Analysten individuell verfügbare Informationen zugunsten allgemein zugänglicher Information geringer gewichten. Der Untersuchung von Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozessen kommt daher nach wie vor in Untersuchungen der Börsenpsychologie große Bedeutung zu. Interindividuelle Unterschiede im Kontrollbedürfnis tragen dazu bei, dass Anleger/-innen mit hohem Kontrollbedürfnis Informationsunsicherheit vermeiden und subjektiv besser bekannte Werte z. B. aus dem eigenen Land bevorzugen (Home Bias). Werte und Unternehmen, über die weniger berichtet wird, werden auf Grund der Informationsdefizite und des subjektiven Kontrolldefizits vernachlässigt (Neglect Bias) (Mattern, 2013; Schläpfer & Fichter, 2018b; SchulzHardt et al., 2015). – Die Interaktionspartner/-innen im Börsengeschehen sind häufig mit Situationen konfrontiert, in denen subjektiv unzureichende Informationen und subjektiv Unsicherheit besteht. In diesen Situationen tendieren Individuen dazu, konformes Verhalten zu zeigen und sich im eigenen Verhalten dem Verhalten individuell bedeutsamer Gruppen anzuschließen. Analystinnen und Analysten, die die eigenen
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Prognosen vorrangig auf die Prognose „erfahrenerer“ Analysten stützen, verhalten sich konform. Prozesse der Erwartungsbildung und -veränderung zählen daher zu den zentralen Untersuchungsfragen der Börsenpsychologie. Die Situation an der Börse wird häufig als „Stimmung“ an der Börse umschrieben und mit Begriffen belegt, die auch auf der Ebene der Person emotionale Korrelate nahelegen. Psychologische Theorien und Forschungsergebnisse zur Interaktion von Emotion und Kognition wurden zur Erklärung spezifischer Prozesse der Entscheidungsfindung an der Börse bislang allerdings kaum berücksichtigt. Die Klärung dieser Fragen erscheint aber besonders aufschlussreich, da Prozesse der Entscheidungsfindung nachhaltig von der Stimmung einer Person beeinflusst werden können. Dramatische Kursausschläge an den Börsen werden als extreme Stresssituationen erlebt. Stressreaktionen müssen in der Börsenpsychologie daher als wichtige Modellvariablen gelten, weil allgemeine Copingstrategien z. B. zur Bewältigung von Kontrollverlusten in der börsenspezifischen Situation häufig versagen (vgl. Kapitel 2.4). Für die Anlageberatung ergeben sich daraus einige Konsequenzen: Das Verhalten von an der Börse agierenden Personen ist offensichtlich von vielen Faktoren beeinflusst. Der Trend an der Börse insgesamt lässt sich daher nur schwer bzw. „fehlerbehaftet“ prognostizieren. Unabhängig von den diskutierten Entscheidungsanomalien und intraindividuell sowie interindividuell differenten Entscheidungsprozessen erhöht die Tatsache, dass sich nicht nur ein oder wenige, sondern viele Unternehmen am Marktgeschehen beteiligen, die Wahrscheinlichkeit der Fehleinschätzung möglicher Entwicklungen. Banken und Beratungsgesellschaften als Mittler zwischen den privaten Personen, die kaufen und/oder verkaufen, sind daher angehalten bzw. verpflichtet (Wertpapierhandelsgesetz, WpHG, 1998, zuletzt geändert 2022), über die bestehenden Risiken aufzuklären. Je nach Anlagebetrag, Zinsniveau, Risikoneigung bzw. Risikobereitschaft der Anleger/-innen werden meistens zwischen 20 und 60 % Aktienanteil am Anlagevermögen empfohlen. Grundsätzlich gilt es auch in der Anlageberatung zu berücksichtigen, dass die Kursfantasien von einzelnen Personen, von Gruppen und von Analystinnen und Analysten auch von Faktoren beeinflusst werden, deren kognitive und/oder emotionale Verarbeitung nur auf der Basis psychologischer Modelle beschrieben und erklärt werden kann.
5.9.7 Sparen und Altersvorsorge Um Versorgungslücken im Alter zu vermeiden, wird auch in Deutschland seit Längerem das „Drei-Säulen-Modell“ aus gesetzlicher Rentenversicherung, betrieblicher und privater Altersvorsorge zur Altersversorgung empfohlen (Bäcker, 2018; Deutsche Rentenversicherung, 2023). Junge Erwachsene leisten allerdings nur wenig Beiträge zur freiwilligen Altersvorsorge, obgleich sie durchaus Sorge um die eigenen Altersbezüge
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äußern (Hurrelmann et al., 2019; 2022). Interessieren sich junge Menschen zu wenig für ihre finanzielle Situation im Alter? In der Finanzpsychologie lässt sich das Vorsorgesparen als spezifische Variante des Sparverhaltens betrachten. Während das Sparen zur Vermögensbildung zu den klassischen finanzpsychologischen Themen zählt (Kirchler, 2011; Ranyard, 2018), berücksichtigt die Forschung bislang kaum Fragen der finanziellen Altersvorsorge (Psyndex, 2022). Die klassischen Erklärungsansätze zum Sparverhalten folgen unterschiedlichen motivationstheoretischen Annahmen: Zur Erklärung der Sparmotivation werden insbesondere Motive, Verhaltensgewohnheiten, Informationsverarbeitungsprozesse, verstärkende Verhaltensergebnisse und situative Bedingungen, persönliche Merkmale, Handlungskontrolle und Selbstwirksamkeit diskutiert. Was aber schafft Bereitschaft zur finanziellen Altersvorsorge? Welche Hinweise können hier die Erklärungsansätze im Kontext anderer Sparformen liefern? Motivation und Gewohnheit Zweifellos liegt es nahe, auch zur Erklärung des Vorsorgesparens von der Annahme eines Motivpluralismus auszugehen. Katona (1975) unterscheidet in der von ihm formulierten Theorie des Sparens zwischen der Bereitschaft und der Fähigkeit zum Sparen. Er leitet daraus drei Formen des Sparens ab: – Diskretionäres Sparen beschreibt ein Sparverhalten, das auf unregelmäßigen, jederzeit abrufbaren Sparrücklagen basiert. – Residuales Sparen oder Konsumsparen beschreibt das kurzfristige, auf konkrete Konsumgüter gerichtete Ansparen des für den Erwerb erforderlichen Betrags. – Kontraktuelles Sparen meint ein Sparen, das auf einer vertraglichen Verpflichtung zur Bildung regelmäßiger Rücklagen basiert, die für die sparende Person erst in mehr oder weniger ferner Zukunft wieder abrufbar sind (z. B. Lebensversicherung, Bausparvertrag, private Rentenversicherung). Während das diskretionäre Sparen immer wieder für jede einzelne Sparaktion eine bewusste Sparentscheidung fordert, kann kontraktuelles Sparen auch als Verhaltensgewohnheit erklärt werden, die aus einer einmal getroffenen Entscheidung für eine vertragliche Sparverpflichtung resultiert (Wiswede, 2021). Wiswede (2021, S. 173–181) führt individuelles Sparverhalten auf grundlegende Motive zurück: Im Sinne des Kontroll- und Machtmotivs könne Sparvermögen zu Autonomie, Unabhängigkeit und Einfluss beitragen, das Leistungsmotiv wiederum könne das Bemühen um immer höhere Sparerträge erklären (Wiswede, 2021). Der Wunsch, die Einkommenssituation im Alter prospektiv zu kontrollieren, führt in Verbindung mit dem Sicherheitsmotiv zur Bereitschaft, individuell Altersvorsorge zu leisten (Rothermund & Eder, 2011). Wärneryd (1999) verweist neben anderen Motiven auf das Vorsorgemotiv und das Vermächtnismotiv. Vorsorgemotivation ist darauf gerichtet, sich gegen
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unvorhersehbare Einkommensverluste oder Versorgungslücken abzusichern, die Vermächtnismotivation richtet sich auf die Versorgung nahestehender Hinterbliebener. Wird Sparen als Verhaltensgewohnheit erklärt, sind Voraussetzungen der Gewohnheitsbildung zu bedenken wie die Notwendigkeit der Aufmerksamkeitsminimierung (Bargh & Gollwitzer, 1994) und der kognitiven Entlastung (Wegner & Bargh, 1998; Wood & Rünger, 2016) oder der spezifische, auslösende Kontext, im Sinne eines gewohnten Verhaltensmusters zu agieren (Shiffrin & Dumais, 1981; Wood & Neal, 2007). In der Erwartung, dass auch Finanzentscheidungen kontextabhängig im Sinne der kognitiven Entlastung wiederholt werden, lässt sich ein Phasenmodell der Gewohnheitsbildung (Becker, 2019; 2022) auch zur Erklärung des gewohnheitsmäßigen Vorsorgesparens heranziehen: – Die Initierungsphase betrifft die Entscheidung zum Vertragsabschluss in einem zielkonformen Kontext: Eine Person erhält zum Beispiel zu Beginn ihrer Erwerbstätigkeit ein Angebot zur privaten Altersvorsorge. Die professionelle Beratung erfolgt durch eine eng befreundete Person. Nach kurzem Überlegen fällt die emotional positiv belegte und bewusste Entscheidung zum Vertragsabschluss. – Nun folgt eine Phase der Verhaltensstabilisierung: Die vertragliche Verpflichtung begrenzt den individuellen Entscheidungsspielraum, eine Auflösung des Vertrags wäre mit monetären und sozialen Kosten verbunden. Die Person im Beispiel sucht und findet im Freundeskreis immer wieder Bestätigung für ihren Entschluss zur Altersvorsorge. Sie identifiziert sich mit all denen, die langfristig Verantwortung für die eigene Zukunft übernehmen. Ihr Vorsorgeverhalten vermittelt subjektive Sicherheit, aber auch soziale Zugehörigkeit und Selbstaufwertung. – In der Phase der Automatisierung wird die Person zunehmend im Sinne der Verhaltensgewohnheit kognitiv entlastet. Ohne dass die anfängliche Entscheidung regelmäßig bestätigt werden muss, werden die Beiträge zur Altersvorsorge vertragsgemäß regelmäßig eingezogen. Wiederholtes bewusstes Entscheiden zur Vorsorge ist nun nicht mehr erforderlich. Auch Aufmerksamkeit muss nur noch begrenzt geleistet werden. Die Person berücksichtigt die regelmäßige Vorsorgeleistung gewohnheitsmäßig mit Blick auf den monatlichen Kontostand. Der auslösende Kontext verliert im Laufe der Zeit an Verhaltensrelevanz, solange keine besonderen Krisensituationen Änderungen der bestehenden vertraglichen Festlegungen erfordern. In der Entscheidungsforschung wird dieses Verhalten häufig mit Default-Effekt und Statusquo-Bias erklärt. Personen erhalten eine einmal gewählte Option aufrecht, weil diese „keine aktive Entscheidung erfordert“ (Hefti & Benkert, 2019, S. 17). Dies zeigt sich etwa auch darin, wenn an bestehenden Verträgen ohne aktuelle Nutzenüberlegungen festgehalten wird. Es kann erwartet werden, dass Gewohnheit, Profitorientierung, Vorsorgemotiv (Wärneryd, 1999) oder auch das Bedürfnis nach Selbstbestätigung (Canova et al., 2005) nicht nur zum Sparverhalten allgemein beitragen, sondern auch spezifisch zum Vorsorgesparen. Allerdings richtet sich Vorsorgesparen als kontraktuelles Sparen auf die langfristig
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angelegte, idealerweise in ferner Zukunft liegende Verfügbarkeit finanzieller Mittel und dürfte daher anderen Verhaltensintentionen unterliegen als diskretionäres Sparen oder auf in näherer Zukunft liegende Konsumwünsche gerichtetes residuales Sparen. Individuelle Erwartungen an das Vorsorgesparen dürften sich daher von den Erwartungen an andere Sparformen unterscheiden. Die psychologischen Erwartungs-Wert-Modelle (Atkinson, 1957; Vroom, 1964) können weitere Aspekte der Vorsorgebereitschaft aufklären. Das Vorsorgesparen richtet sich auf die Absicherung wenig vorhersehbarer Ereignisse in subjektiv ferner Zukunft (Wiswede, 2021). Das erwartete positive Handlungsergebnis finanzieller Bezüge im Alter tritt stark verzögert am Ende eines langen Erwerbslebens ein. Instrumentalisierungserwartungen an das angestrebte Alterseinkommen sind daher mit hoher Unsicherheit verbunden. Zudem liegen Konflikte zwischen Instrumentalisierungserwartungen an Alterseinkünfte und an aktuell verfügbare Einkünfte nahe und müssten zugunsten des Vorsorgesparens volitional bewältigt werden. Fuhrmann (2019) schreibt dem Belohnungsaufschub bei Finanzentscheidungen eine besondere Bedeutung zu. Weil sich Ergebniserwartungen und Instrumentalisierungserwartungen an die freiwillige Altersvorsorge in der Regel auf eine eher weit entfernte Zukunft richten, trägt die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub signifikant zur Vorsorgebereitschaft bei (Derr, 2019). Zum Belohnungsaufschub werden auch Arbeiten berichtet, die sich der Frage neuronaler Korrelate des Belohnungsaufschubs widmen. Sie argumentieren mit Ergebnissen, deren Datenbasis in empirischen Untersuchungen mit apparativen Methoden wie z. B. der funktionellen Magnetresonanztomografie (Ersner-Hershfield et al., 2009) ermittelt wurde. Die Generalisierung und der Transfer dieser Ergebnisse auf Gesetzmäßigkeiten des Erlebens und Verhaltens in konkreten finanziellen Kontexten wirft jedoch angesichts des aktuellen Forschungsstands zahlreiche offene Fragen auf. Handlungskontrolle und geplantes Verhalten Für die Bedeutung des geplanten Verhaltens in finanziellen Entscheidungen sprechen u. a. die negativen Korrelationen zwischen finanzieller Planung und Überschuldung, die Barry (2014) berichtet. Auf das Bemühen um planvolles Handeln und Risikokontrolle geht bereits Kuhl (1983) ein. Er nimmt an, dass handlungsorientierte Personen in Motivationskonflikten eher volitionale Strategien zur subjektiven Handlungskontrolle entwickeln können als lageorientierte Personen (vgl. Kapitel 3.1.6). Volitionale Strategien ermöglichen es, in motivationalen Konflikten situativ angepasst zu handeln und langfristig einmal gefasste Ziele zu verfolgen (Kuhl, 1983): – Aufmerksamkeits- und Enkodierungskontrolle ermöglichen eine Fokussierung auf zielkonforme Situationsaspekte und die bevorzugte Speicherung zielkonformer Reize. – Motivationskontrolle kann die bevorzugte, kognitive Repräsentation zielkonformer Anreize und die Vernachlässigung konkurrierender Anreize unterstützen.
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Umweltkontrolle richtet sich darauf, nicht zielkonforme Umweltreize im Informations- und Entscheidungsprozess zu vernachlässigen. Emotionskontrolle ermöglicht es, zielförderliche Emotionen herbeizuführen und besonders intensiv zu erleben.
Die genannten volitionalen Bemühungen unterstützen den Prozess von der Handlungsintention bis zur Durchführung der geplanten Handlung. Zielkonforme Handlungskontrolle gelingt, wenn zielkonforme Handlungsalternativen entwickelt und verfolgt werden und Misserfolge handlungsorientiert bewältigt werden. Für die Praxis der (Selbst-)Motivierung lassen sich daraus einige Empfehlungen ableiten: Als zielführende volitionale Methode wird beispielsweise das Ausformulieren vergangener zielkonformer Handlungen und konkreter Pläne empfohlen (FaudeKovisto & Gollwitzer, 2009; Wosnitza et al., 2009; Achtziger & Gollwitzer, 2018). Handlungsbereitschaft und Zielausdauer können aber auch durch Beratungsinterventionen unterstützt werden, die die Bewältigung vorhandener und potenzieller Motivkonflikte kontextorientiert unterstützen. Vorsorgesparen erfordert besondere individuelle Handlungskontrolle. Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung müssen bevorzugt auf individuelle Möglichkeiten zur Vorsorge gelenkt und verarbeitet werden. Ist anfängliche Motivation zur privaten Altersvorsorge geschaffen, gilt es, sowohl die angestrebte Altersversorgung und entsprechende Handlungsstrategien kognitiv zu verankern als auch konkurrierende Konsumbedürfnisse zurückzustellen. Erwartungsgemäß könnte das Erleben von Handlungskontrolle und die emotional positive Erfahrung, verantwortungsvoll in eine „gute“ Zukunft zu investieren, bewusstes und vertragskonformes Handeln unterstützen. Selbstwirksamkeit, Risikobereitschaft und Finanzkompetenz Als potenzielle Prädiktoren der Vorsorgebereitschaft sind auch individuelle Kontrollüberzeugung und Selbstwirksamkeit zu diskutieren. Menschen, die zu internaler Kontrollüberzeugung (Rotter, 1966) neigen, gehen davon aus, dass Geschehnisse, die ihnen widerfahren, von ihnen selbst verursacht werden (vgl. auch Kapitel 3.1.7). Personen mit internaler Kontrollüberzeugung zeigen sich in empirischen Untersuchungen zudem eher handlungsorientiert, gesund (Strudler Wallston & Wallston, 1978) und erfolgreich am Arbeitsplatz (Ng et al., 2006). Cobb-Clark et al. (2016) referieren internale Kontrollüberzeugung als Prädiktor für Sparverhalten und ökonomischen Wohlstand. In der Forschung zur Selbstwirksamkeitserwartung (Lippke, 2020) werden Korrelationen zu Gesundheit und Wohlbefinden, Selbstregulation, positiver Lebensführung sowie Erfolg in Karriere und Beruf referiert (Trusz & Bąbel, 2016). Es sprechen einige Untersuchungen dafür, dass individuelle Selbstwirksamkeit auch für Anlage- und Vorsorgebereitschaft bedeutsam ist: Lown et al. (2015) identifizieren hohe Selbstwirksamkeitserwartung als Prädiktor für Sparvermögen in Haushalten mit niedrigem oder
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mittlerem Einkommen. Dietz et al. (2003) referieren Selbstwirksamkeitserwartung als signifikanten Prädiktor für Altersvorsorge. Aufschlussreich ist zudem, dass Interaktionseffekte zwischen Selbstwirksamkeit und finanziellem Wissen (Danes & Haberman, 2007) sowie Handlungsorientierung (Wosnitza et al., 2009) berichtet werden. Sowohl Selbstwirksamkeit als auch Kontrollüberzeugung werden in frühen Lernerfahrungen angelegt und unterliegen lebenslangen Veränderungen. Soll Vorsorgebereitschaft bzw. Vorsorgeverhalten gelernt werden, bedarf es wirkungsvoller Erfolgserfahrungen und angstfreier Erfahrungsräume, die Erfolgs- und Misserfolgserfahrungen mit unterschiedlichen Finanzprodukten zulassen (Fey & Di Dio, 2020). Internale Kontrollüberzeugung kann beispielsweise gestärkt werden, wenn junge Menschen in höherem Maße eigene Kontrolle über ihr Spar-, Anlage- und Vorsorgeverhalten unmittelbar im realen Kontext oder in Simulationen üben und reflektieren. Unterstützen können diesen Lernprozess beispielsweise digitale Möglichkeiten, die in Echtzeit überprüfen lassen, wie sich angesparte Beträge entwickeln, und unterschiedliche Prognosen zur Entwicklung des Sparvermögens in Abhängigkeit vom jeweiligen Investitionsverhalten abrufen lassen (Derr, 2019). Als Finanz- und Anlageentscheidungen in Unsicherheit unterliegen individuelle vermögensbildende Maßnahmen zur Altersversorgung je nach Anlageform und Investition in vergleichbarer Weise den bekannten Entscheidungsfehlern. Hier kommt neben den Entscheidungsheuristiken (Kahnemann & Tversky, 1979) auch der individuellen finanziellen Risikobereitschaft besondere Bedeutung zu. Unter finanzieller Risikobereitschaft kann die „Einstellung [...], ein bestimmtes Maß an Risiko in Geldangelegenheiten zu akzeptieren“, verstanden werden, die in unterschiedlichen Entscheidungsbereichen unterschiedlich ausgeprägt ist (Wahl & Kirchler, 2011, S. 386). Entscheidungsverhalten unter Risiko kann so auf der Grundlage von Risikobereitschaft, handlungsrelevantem Wissen über Risiken und individueller finanzieller Belastbarkeit erklärt werden. Wahl und Kirchler (2011) schlagen daher auch vor, Anlageinteressierten noch vor der Anlageberatung ein Instrument zur Messung der eigenen finanziellen Risikobereitschaft zur Verfügung zu stellen (Wahl & Kirchler, 2011, S. 389). Dem Konstrukt der Finanzkompetenz wendet sich die Forschung erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu (Wolf, 2018). Inzwischen zeigen Praxiserfahrung und empirische Ergebnisse, dass Menschen mit geringer Finanzkompetenz eher verschuldet sind, vermehrt dazu neigen, Finanzprodukte mit höheren Gebühren auszuwählen und weniger Ersparnisse für das Alter vorweisen können (Lusardi & Mitchelli, 2007). Trainings und Schulungsprogrammen, die Finanzkompetenz vermitteln, wird ein Einfluss auf das langfristige Sparverhalten zugeschrieben (Batty et al., 2020). Wenig eindeutige Hinweise finden sich zum Zusammenhang von Vorsorgebereitschaft und Alter. Unstrittig ist jedoch, dass Besitz und Entscheidungsautonomie Alterseffekten unterliegen und die Notwendigkeit von Alterseinkünften im jüngeren Lebensalter weniger salient wahrgenommen wird als dies bei mittleren und höheren Altersgruppen der Fall ist (Ersner-Hershfield et al., 2009). Auch dies spricht dafür, in Unterricht und Training unterschiedlichen Altersgruppen Finanzkompetenz zu vermitteln. Dennoch
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wird hier auch die Bedeutung der individuellen Vermögens- und Einkommenssituation für die Bereitschaft zur Altersvorsorge noch einmal deutlich: Vorsorgesparen setzt voraus, dass aktuelle Lebenshaltungskosten gedeckt sind und weitere monetäre Mittel frei zur Verfügung stehen. Zu bedenken ist zudem, dass sich das individuelle Bemühen um Altersvorsorge nicht nur auf Vermögensbildung und Sicherung eines Alterseinkommens richtet, sondern auch auf gesundheitsorientiertes Verhalten, den langfristigen Erhalt der Erwerbsfähigkeit und lebenslange Kompetenzentwicklung. Erklärungen für die Bereitschaft junger Menschen zur Altersvorsorge und Empfehlungen zur Gestaltung erfolgversprechender Beratungsdienstleistungen müssen daher neben ökonomischen Eckdaten, situativen Bedingungen, individuellen Motiven und Zielsetzungen auch Entscheidungsund Präferenzanomalien, Emotionen und volitionale Bemühungen berücksichtigen. Auch Nudges (vgl. Kapitel 5.9.3) können dazu beitragen, Entscheidungen für Investitionen in die private Altersvorsorge zu unterstützen. Haupt et al. (2018) untersuchen am Beispiel des schwedischen Systems der Alterssicherung die Wirksamkeit von Nudges. Das schwedische Alterssicherungssystem umfasst (1) das staatliche Basisprodukt aus umlagefinanzierter Komponente, Prämienrente und bedürftigkeitsbasierter Garantierente, (2) die betriebliche Altersvorsorge und (3) private Rentenfonds. Haupt et al. (2018, S. 26–27) beschreiben insbesondere die individuellen Wahlmöglichkeiten und die Kommunikation zwischen Rentenbehörde und Versicherten als wirksame Nudges. Zwei Beispiele sollen dies veranschaulichen: Zur obligatorischen Auszahlung der Prämienrente können die Versicherten ab dem 61. Lebensjahr zwischen verschiedenen Auszahlungsformen wählen. Haupt et al. (2018, S. 27) berichten, dass die Antragsformulare der Rentenbehörde sich als Nudges auf die Entscheidung der Versicherten für eine Auszahlungsform auswirken. Dass die betriebliche Altersversorgung mit Eintritt des Rentenalters automatisch und ohne individuelle Antragstellung zur Verrentung führe, wirke zudem als Nudge für den Rückzug aus dem Erwerbsleben: „Die Abschaffung dieses Nudge wäre wahrscheinlich ein effektiver Weg, um das Rentenalter zu erhöhen“ (Haupt et al., 2018, S. 27). Das heißt, durch Nudges lassen sich die Rahmenbedingungen der Altersvorsorge wie etwa die Wahl des Renteneintrittalters oder die Art der Rentenauszahlung, aber auch die Entscheidung über den Umfang der Erwerbstätigkeit oder Unterbrechungen der Erwerbsbiografie gezielt beeinflussen (Haupt et al., 2018, S. 28). Doch auch mit Blick auf die Altersvorsorge ist kritisch zu fragen, inwiefern Nudging tatsächlich zur Systemstabilisierung und Lösung der Probleme der Altersvorsorge beitragen und zugleich individuelle Entscheidungssouveränität und eigenverantwortliches Handeln stärken kann.
5.9.8 Resümee Finanzpsychologische Untersuchungen sind bislang vor allem den Theorien der (sozialen) Kognition, den situativen Theorien und den Handlungstheorien verpflichtet. Wahrnehmungs-, Vergleichs-, Kategorisierungs- und Urteilsprozesse beeinflussen individuelle Handlungsintentionen und Handlungen. Zudem unterliegen finanzielle Transaktionen
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5 Anwendungsfelder
in unterschiedlichem Ausmaß sozialen Normen, Emotionen, gruppendynamischen und massenpsychologischen Einflüssen. Dies ist im Finanz- und Kapitalmarkt umso mehr zu erwarten, als finanzielle Transaktionen häufig abstrakte Operationen voraussetzen und als mehr oder weniger abstrakte Transaktionen ablaufen. Die finanzpsychologische Forschung verfügt heute über differenzierte Methoden, empirisch abgesicherte Konzepte und Theorien zur Analyse des Verhaltens in finanziellen und in finanznahen Transaktionen. Einschlägige empirische Untersuchungen formulieren zunehmend multikausale Modelle, die über die Erklärung (pseudo-)rationaler Prozesse hinausgehen. Aus den Forschungsbeiträgen der Finanzpsychologie lassen sich Handlungsempfehlungen ableiten, die dem zunehmenden Ruf nach Wissensund Praxistransfers Rechnung tragen können. In der Alltagskultur der Finanzmärkte steht meist der Wunsch im Vordergrund, psychologische Prozesse zu steuern. Vor allem das Beispiel der Börse zeigt jedoch, dass es die hohe Umweltdynamik und komplexität in Finanz- und Kapitalmärkten nur bedingt zulässt, prognostisch valide, einfache Entscheidungsempfehlungen zu formulieren. Für den Praxistransfer finanzpsychologischer Erkenntnisse ist es daher zunehmend wichtiger, valide Empfehlungen zur Kompetenzentwicklung der Finanzdienstleistenden und für ausgewogene, transparente Beratungsleistungen und Entscheidungshilfen zu formulieren, die der individuellen Finanzkompetenz der Beratenen gerecht werden.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25
Prozessstufen in der sozialen Informationsverarbeitung nach Abele und Gendolla (1998) 10 Ein marktpsychologisches S-O-R-Modell (nach von Rosenstiel & Neumann, 2002) 15 Das Marktmodell von Spiegel (1961) nach von Rosenstiel und Neumann (2002) 17 Drei Ebenen der Einzigartigkeit in der mentalen Programmierung des Menschen nach Hofstede et al. (2017) 19 Ein kognitives Modell der Stressbewältigung nach Lazarus und Folkman (1984) 24 Effekte von sozialer Unterstützung (nach Viswesvaran et al., 1999, siehe auch Stadler & Spieß, 2003) 28 Ein wirtschaftspsychologischer Rahmen 34 Das Verhältnis von Werten und Einstellungen zum Verhalten 38 Wertestruktur nach Schwartz (2012) 38 Theorie des geplanten Verhaltens nach Ajzen und Madden (1986) in Spieß (2005) 43 Die Maslowsche Bedürfnispyramide nach Zimbardo et al. (2015) 54 Das Rubikonmodell der Handlungsphasen nach Heckhausen (1989) und Nerdinger (2019c) 56 Das klassische Kausalschema der Attribution nach Weiner (1972) und Spieß und von Rosenstiel (2010) 57 Eskalationsstufen eines Konflikts nach Glasl (2013) 71 Strategien des Konfliktmanagements in Solga (2019, S. 141) 73 Typische Kommunikationsmuster nach Shaw (1964) 79 Das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun (1999) 80 Beispiel für ein Polaritätenprofil 90 Bereiche der interkulturellen Irritationen (Grosch et al., 2000) 135 Komponenten internationaler Management-Kompetenz nach Bolten (1999) 144 Die Ebenen der Unternehmenskultur nach Schein (1980) in Spieß und von Rosenstiel (2010, S. 174) 151 Modell der Werbewirkung nach Wiswede (2000) 169 Eine Typologie der Reaktionen der Verbraucher/-innen auf globale und lokale Konsumkultur (nach Steenkamp, 2019, S. 5) 173 Das Verhaltensgitter für Verkäufer/-innen nach Blake und Mouton (1968 in Kirchler, 2011) 178 Sozialisation, Enkulturation und Konsum nach Oerter (2007) und Spieß (2013, S. 59) 182
https://doi.org/10.1515/9783110778410-007
Tabellenverzeichnis Tab. 1 Typologie von Menschenbildern und Managementstrategien nach Schein (1980), Spieß & von Rosenstiel (2010) und Brinkmann (2018) 6 Tab. 2 Emisches und etisches Vorgehen im Vergleich nach Helfrich (1993, S. 85) 21 Tab. 3 Beispiele für Beanspruchungsfolgen bzw. Stressreaktionen (Sonnentag & Frese, 2003; Bamberg et al., 2012; Reif et al., 2021) 25 Tab. 4 Grundlegende Elemente der Kommunikation (Lasswell, 1948, S. 48) 77 Tab. 5 Motive für eine Auslandsentsendung (nach Bittner, 1996) 138 Tab. 6 Indikatoren für eine Unternehmenskultur (nach Scholz, 2014) 152
https://doi.org/10.1515/9783110778410-008
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Autorenverzeichnis Dr. Jutta Gallenmüller-Roschmann ist Akademische Direktorin a.D. an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Dort wurde sie promoviert und hat im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- und Organisationspsychologie gelehrt und geforscht. Heute ist sie freiberuflich als Diplom-Psychologin und Autorin tätig. Dr. David Maus ist Diplom Psychologe und doktorierte an der Universität St. Gallen im Bereich Strategie and Management. Er ist aktuell Programm Direktor bei der thyssenkrupp Academy und begleitet Transformationsprojekte und Top-Führungskräfteentwicklungsprogramme. Nebenberuflich ist er als Coach und Organisationsentwickler zu verschiedenen Themen aktiv. Dr. Katharina Pfaffinger ist promovierte Psychologin und forschte und lehrte am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Organisationspsychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München insbesondere zu den Themen Digitalisierung und Wohlbefinden. Im Anschluss arbeitete sie als Unternehmensberaterin und aktuell ist sie in der Versicherungsbranche tätig. Prof. Dr. Julia A. M. Reif ist Professorin für Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Betriebswirtschaft der Universität der Bundeswehr München. Sie promovierte und habilitierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht, lehrt und publiziert unter Anderem zu Wohlbefinden und Motivation am Arbeitsplatz. Prof. Dr. Erika Spieß ist außerplanmäßige Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Dort wurde sie promoviert und habilitiert. Sie hat verschiedene Lehraufträge und forscht, lehrt und publiziert u.a. zu Kooperation in Organisationen, Stress am Arbeitsplatz und Muße.
https://doi.org/10.1515/9783110778410-010
Register Akkulturation 145 Aktionsforschung 93 Altersvorsorge 36, 193, 198, 209–215 Ambidextrie 176 Ambiguitätsaversion 198 Anchoring 197 Anlageberatung 209 Anlageentscheidungen 207 Arbeit 4.0 V, VII, 4, 35–36, 107 Arbeit V, VII, 4, 26, 35–36, 96–98, 103, 105–106, 111, 113, 122, 124, 128, 175 Arbeitgeberattraktivität 98 Arbeitsethik 5, 104, 118 Arbeitslosenforschung 61, 112–113 Arbeitslosigkeit 111 Arbeitsmotivation 113, 135–136 Arbeitszufriedenheit 86, 88 Attributionstheorie 57 Aufmerksamkeit 3, 10, 34, 37, 45, 50, 78–79, 91, 104, 167–170, 189, 211, 213 Auslandsaufenthalt 141–142 Autopoiesis 32 Availability 197 Befragung 50, 89, 95, 137 Behaviorismus 5, 9–10, 12 Beratung V, VII, 4, 11, 36, 72, 116, 153–161, 187–188, 211 Börse 200 Börsencrash 203 Bounded Rationality 196 Coaching 162 Commitment 60, 105, 131, 135, 139–140, 192 Coping 23, 75 Crowdwork 121–122 Denken 45 Dienstleistung 175 Digitalisierung VII, 5, 22, 25, 47, 107–111, 125–126, 165, 170, 186–187 Digitalisierungsangst 109 Dual-Concern-Modell 73, 75–76 Einstellungen 11, 26, 34, 37–40, 42–43, 59, 69, 86, 89, 92, 98, 141, 161, 168–169, 183, 189, 207
https://doi.org/10.1515/9783110778410-011
Emotionen 3, 21, 23, 34, 37, 47–50, 59, 74, 92, 102, 163, 167, 170, 176, 178, 191–192, 198–199, 202, 213, 215–216 Empathie 59, 62, 76, 143 Encountergruppen 162 Entrepreneurship 35, 117, 126 Entscheidungsheuristiken 203–205, 214 Entscheidungsprozesse 34, 37, 48, 59, 86, 190, 192, 196, 198, 201 Entscheidungstheorien 59 Ethik 97, 191, 193 Evaluation 94 Expatriates 133 Experiment 90–91, 95 Feldtheorie 8, 11–13, 31, 34, 36 Femininität 129 Finanzentscheidung 35, 192–193, 195, 197 Finanzpsychologie V, VII, 4, 35–36, 190–192, 210, 216 Flow 49 Framing 197 Freizeit V, VII, IX, 4, 14, 22, 35–36, 63, 96–106, 124, 137 Führungsdimensionen 132 Führungsforschung 27, 128, 131 Gedächtnis 45 Gefangenendilemma 67 Gefühle 34, 37, 47, 50, 59, 69, 72, 79–80, 83–84, 109, 148, 152, 161, 167, 170, 176, 184, 186 Geld VII, IX, 27, 29, 35, 61, 63, 68, 118, 181–183, 190–195, 200–201, 205 Geldillusionen 194 Geldsozialisation 192 Gerechtigkeit 35, 50, 64, 84–85, 130, 148, 191, 199 Geschlechtsstereotype 49 Gigworker 122–123 Globalisierung 18, 22, 33, 35, 127, 146, 153, 173 Gruppendenken 60 Gruppenprozesse 11, 65 Habitus 29–30 Handlungskompetenz 58, 141, 143, 193 Handwerk 119, 124–126 Hawthorne-Effekt 6 Herding 197
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Register
Homo oeconomicus 3, 6, 16, 195 Humanorientierung 132 Identität 24, 34, 37, 61–64, 66, 82, 84, 96, 111, 137, 140, 146, 150, 183 Impression-Management 62, 82 Individualismus 21, 128–131 Inhaltsanalyse 92 Integration 27, 35, 58, 110, 133, 143–146, 149–150, 152, 154, 171, 173 Interaktionsarbeit 175 Interkulturelle Trainings 141 interkulturelles Handeln V, VII, 4, 36 Internationalisierung 127, 134, 146, 153 Intrapreneurship 35, 117, 126 Kapitalia 34, 36 Kapitalmarkt 200 Kategorisierung 44 Kaufprozess 180 Kaufsucht 183 Kaufsucht-Indikator 185 Kaufverhalten 180 klassische Konditionierung 9, 46 kognitive Dissonanz 44, 85, 198–199, 208 Kollektivismus 21, 128–131 Kommunikation 31, 35, 44, 48, 64, 68, 77–81, 107–108, 110, 126, 134, 141, 143, 146, 148–150, 164, 166–168, 175, 215 Kommunikationsmodell 80 Kommunikationsmuster 78–79 Kompetenz 31, 34–35, 37, 39, 44, 55, 58–59, 62, 82, 94, 96, 111, 114–115, 117, 133, 138–140, 143–144, 146, 154, 159, 189, 202 Kompetenzentwicklung 59, 153, 191, 215–216 Konflikt 8, 35, 39, 64–65, 67, 70, 75, 77, 109, 163 Konfliktbewältigung 72 Konkurrenz 35, 64, 67–71, 128, 159 Konsumentenverhalten 8, 14, 22, 59, 64, 181, 188 Kooperation 35, 64–65, 67–70, 74, 80, 96, 134, 141–142, 163 Kultur IX, 8, 15, 18–22, 24, 30–31, 39, 49, 99–100, 127, 129, 131, 133, 136–137, 139, 141, 143, 145–146, 148–150, 152, 157, 166, 172 Kulturdimensionen 128 Kulturvergleich 20–21, 141 Kundenbeeinflussung 179 Kundenorientierung 178 Kurzzeitorientierung 129
Langzeitorientierung 129 Lebens- und Konsumstile 180 Lernen 9, 34, 37, 45–47, 65, 100, 108, 156, 167, 170, 205 M&A-Prozess 154 Macht 35, 39, 64, 72, 82–84, 94, 118, 128, 166 Machtdistanz 128 Marke 171 Markenname 174 Markenpersönlichkeit 171 Markenpositionierung 172 Marktforschung 88–89, 95, 168, 180 Marktmodell 15–18 Marktpsychologie 2, 8–9, 14, 16, 18, 34, 36, 92 Markttransparenz 33 Maskulinität 129 Mediation 64, 72, 74 Menschenbild 5, 10, 12, 15, 59, 134, 189 Menschenbilder 5–7, 13 Metaanalyse 22, 26, 76, 91, 181 Methoden 88 Migration 145 Mikropolitik 24, 83 Motivation 6, 14, 26, 32, 34, 37, 44, 48, 51, 53, 55–56, 86, 93, 135, 137–138, 167, 178–179, 193, 199, 210, 213 Muße V, VII, 4, 35–36, 96–97, 101–103, 105–106 Narzissmus 64 neue Technologien V, 4, 35–36, 107–108, 110, 125, 165 Nudges 215 Nudging 199 Objektivität 92 Organisationsentwicklung 156 Overconfidence bias 197 Personalmanagement 134 Plattformökonomie 121 Polaritätenprofil 90 Prospect Theory 190, 198, 202 Psychoanalyse 5, 8–10 Rekognitionsheuristik 46 Reliabilität 91 Ressourcen 2, 22–23, 26–27, 29, 33, 39, 57, 83, 85, 105, 107, 111, 114, 116, 120–121, 125, 127, 137, 140, 146, 148, 187, 196
Register
Reziprozität 67, 83, 85, 179 Risikobereitschaft 60, 191, 202, 209, 213–214 Risky-shift-Phänomen 60 Rubikonmodell 56 Rückkehr und Reintegration 143 Selbst 10, 34, 39, 61–62, 64, 85, 97, 103, 105, 110–111, 114, 131, 171, 184, 194, 197, 199, 203, 213 Selbstbestimmungstheorie 55 Selbstkonzept 61–63, 130–131, 172 Selbstmanagement 59, 62, 162 Selbstständigkeit 4–5, 36–37, 117, 120–121 Selbstüberschätzung 202 Selbstwertgefühl 42, 61–62, 67, 77, 96, 114, 137 Selbstwirksamkeit 111, 115, 136, 210, 213–214 Sensitivity-Training 161 soziale Unterstützung 26–27, 62, 124, 140, 142 Spar-, Vorsorge- und Anlageverhalten 192 Sparen 36, 89, 193, 199, 209–211 Spekulationsblase 203 Stereotyp 45 Steuerverhalten 191–192 Stimmungskongruenzeffekt 49 Stress 2, 22–27, 34, 36, 47, 49, 60, 101, 103, 107–109, 113, 116, 146, 148 Systemkompetenz 31–32 Systemtheorie 8, 11, 31, 156 Tagebuchmethode 93 Teamentwicklung 162
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Technostress 107 Test 91–92 Unsicherheitsvermeidung 128 Unternehmenskultur 150 Unternehmenszusammenschlüsse 147 unternehmerisches Handeln 4, 35–36, 120 Validität 91 Verbraucherschutz 187 Verhaltenstherapie 186 Verhandlungsstile 135–136 Verkaufspsychologie 175 Vertrauen 27, 64, 68, 72, 76, 81, 148, 150, 162, 170, 175 Vorurteil 45 Wahrnehmung 3, 9–10, 16, 19, 33–34, 37, 45, 47, 50–53, 61–62, 76, 78, 85, 100, 115, 123, 134, 143, 157, 163, 167, 191, 194–195, 203–205 Währung 35, 191, 193–194 Werbewirkung 11, 88, 168–170 Werbung 1–2, 9, 22, 35, 37, 43, 45–47, 50, 52–53, 83, 86, 160, 164–170, 172, 181, 183, 187, 189 Werte 5, 14, 18, 21, 34, 37–41, 64, 70, 72, 76–77, 82, 86, 98, 116, 124, 129–130, 132–134, 150, 152–153, 174, 181, 184, 189, 203, 208 Wertestruktur 38 Wertewandel 33, 40–41, 86 Zielsetzung 55, 62–63, 115–116